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2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21.

Mai 1954 1373

Beratung der Großen Anfrage der Frak-


tion der SPD betr. Sozialreform (Druck-
sache 314) 1402 A
Dr. Preller (SPD),
Anfragender 1402 A, 1429 B
Storch, Bundesminister für
Arbeit 1408 A, 1418 A, B
Dr. Schellenberg (SPD) 1411 D, 1418 A, 1427 B
Dr. Atzenroth (FDP) 1419 C
Dr. Elbrächter (DP) 1421 D
Frau Finselberger (GB/BHE) . . . 1422 D

30. Sitzung Arndgen (CDU/CSU)


Frau Korspeter (SPD)
1424 C
1426 A
Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954. Schüttler (CDU/CSU) 1428 C

Absetzung der zweiten Beratung des Ent-


wurfs eines Gesetzes über die Beauf-
Geschäftliche Mitteilungen 1374 A tragung von Einrichtungen der freien
Wohlfahrtspflege mit der nichtgewerbs-
Mitteilung und Beschlußfassung über Ver- mäßigen Arbeitsvermittlung zur Wieder-
zicht auf erneute erste Beratung der Ge- gutmachung nationalsozialistischen Un-
setzentwürfe betr. Regelung von Fragen rechts (Drucksachen 223, 419) von der
der Staatsangehörigkeit (zu Drucksache 44), Tagesordnung 1430 B
Einkommensgrenze für das Erlöschen der
Versicherungsberechtigung in der gesetz-
Erste Beratung des Entwurfs eines Gesetzes
lichen Krankenversicherung (zu Druck-
zur Änderung von Vorschriften des Ge-
sache 67) und Verwaltungsverfahren der
Kriegsopferversorgung (zu Drucksache 68) 1374 B setzes betr. die Erwerbs- und Wirtschafts-
genossenschaften und des Rabattgesetzes
(Drucksache 475) 1430 C
Mündliche Berichterstattung des Ausschusses
für Petitionen gemäß § 113 Abs. 1 Satz 2
der Geschäftsordnung in Verbindung mit Überweisung an die Ausschüsse für Wirt-
der schaftspolitik, für Geld und Kredit, für
Rechtswesen und Verfassungsrecht und
Beratung der Übersicht 5 über Anträge von für Sonderfragen des Mittelstandes . . 1430 C-
Ausschüssen des Deutschen Bundestages
betr. Petitionen nach dem Stand vom Zweite und dritte Beratung des Entwurfs
7. Mai 1954 (Drucksache 508) 1374 B eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
3. Juni 1953 über den Freundschafts
Frau Albertz (SPD), Bericht Handels- und Konsularvertrag zwischen
erstatterin 1374 B Deutschland und den Vereinigten Staaten
von Amerika vom 8. Dezember 1923 mit
Beschlußfassung 1378 B seinen Abänderungen (Drucksache 71);
Mündlicher Bericht des Ausschusses für
Beratung der Großen Anfrage der Fraktion auswärtige Angelegenheiten (Drucksache
der SPD betr. Pressepolitische Pläne der Nr. 218) 1430 C
Bundesregierung (Drucksache 313; Antrag
Umdruck 18) 1378 B Dr. Siemer (CDU/CSU), Bericht-
erstatter 1430 D
Kalbitzer (SPD), Anfragender . . . 1378 B
Dr. Lütkens (SPD) 1431 C
Dr. Schröder, Bundesminister des
Dr. Hammer (FDP) (zur Geschäfts-
Innern . . 1380 D, 1396 D, 1400 B, 1401 D
ordnung) 1433 C
Dr. Dresbach (CDU/CSU) 1381 C
Abstimmung 1431 C
Dr. Dr. h. c. Prinz zu Löwenstein Weiterberatung vertagt 1433 D
(FDP) 1385 B

Brandt (Berlin) (SPD) 1388 D Erste Beratung des von der Fraktion des
GB/BHE eingebrachten Entwurfs eines
Feller (GB/BHE) 1392 C Gesetzes zur Behebung der Berufsnot der
älteren Angestellten (Drucksache 346) . . 1433 D
Becker (Hamburg) (DP) 1394 D
Horn (CDU/CSU) (zur Geschäfts-
Kühn (Köln) (SPD) 1399 B, 1400 B ordnung) 1434 A
1374 2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954

Beratung vertagt 1434 C Vizepräsident Dr. Schmid: Ich bitte sehr um Ent-
schuldigung. Die Technik scheint uns heute nicht
Nächste Sitzung 1433 D, 1434 C hold zu sein. Das grüne Licht bleibt dunkel.
(Heiterkeit.)
Anlage: Antrag der Fraktion der SPD zur Selbst wenn ich den Knopf nach rechts drehe: es
Beratung der Großen Anfrage betr. bleibt dunkel.
pressepolitische Pläne der Bundes- (Erneute Heiterkeit.)
regierung (Umdruck 18) 1435 — Jetzt funktioniert die Technik wieder.
Frau Albertz (SPD), Berichterstatterin: Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Leider be-
Die Sitzung wird um 9 Uhr 9 Minuten durch den
standen infolge der Haushaltsberatungen Termin-
Vizepräsidenten Dr. Schmid eröffnet. schwierigkeiten, so daß es dem Petitionsausschuß
erst jetzt möglich ist, seine ersten mündlichen Dar-
Vizepräsident Dr. Schmid: Meine Damen und legungen in dieser Wahlperiode gemäß § 113 der
Herren! Ich eröffne die 30. Sitzung des Deutschen Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages zu
Bundestages. machen. Ich bitte Sie daher um Verständnis da-
Vor Eintritt in die Tagesordnung bitte ich Frau für, wenn die Ihnen vorliegenden statistischen
Kollegin Rösch, die Namen der erkrankten und be- Übersichten bereits mit dem Ende des ersten Ka-
urlaubten Abgeordneten zu verlesen. lendervierteljahres, nämlich mit dem 31. März 1954
abschließen. Wenn ich im Laufe meines Berichtes
Frau Rösch, Schriftführerin: Der Präsident hat auf diese Übersichten verweise, so wollen Sie bitte
für die heutige Sitzung Urlaub erteilt den Abge- berücksichtigen, daß inzwischen nach einem weite-
ordneten Dr. Graf Henckel, Frau Niggemeyer, Iller- ren Ablauf von zwei Monaten sich die End-
haus, Dr. Willeke, Ohlig, Dr. Horlacher, Fass- summe der beim Bundestag eingegangenen Peti-
bender, Lücke, Kurlbaum, Frühwald, Frau Friese- tionen in der zweiten Wahlperiode auf 5927 er-
höht hat.
Korn, Stahl, Dr. Will, Dr. Gille, Rasch, Blachstein,
Dr. Schild (Düsseldorf), Bazille, Dr. Bucerius und Erlauben Sie mir, meine Damen und Herren, daß
Gockeln. ich zunächst noch einmal in meinen Darlegun-
gen auf die Rechtsnatur der Petitionen eingehe,
Vizepräsident Dr. Schmid: Ich danke der Frau insbesondere darum, weil sich die Zusammen-
Schriftführerin. setzung des Plenums in der zweiten Wahlperiode
geändert hat und zahlreiche Damen und Herren
Der Bundesrat hat in seiner Sitzung vom 19. März über das Petitionsrecht in Kenntnis gesetzt wer-
1954 gemäß Art. 76 Abs. 2 des Grundgesetzes den sollten. Aus der Formulierung des Art. 17 des
wiederholt zu einigen Vorlagen Stellung genom- Grundgesetzes ergibt sich, daß „jedermann das Recht
men, deren erster Durchgang beim Bundesrat vor hat, sich mit Bitten und Beschwerden an die zu-
September 1953 lag. Ich darf dazu auf den von der
Bundesregierung zwischenzeitlich eingegangenen ständigen Stellen und an die Volksvertretung zu
wenden". Damit wird deutlich, daß das Petitions-
Entwurf eines Gesetzes zur Regelung von recht eines der wichtigsten Grundrechte des
Fragen der Staatsangehörigkeit — zu Staatsbürgers ist, das erhalten und ausgebaut wer-
Drucksache 44 —, auf den den sollte; denn in sehr vielen Fällen können
Entwurf eines Gesetzes über die Einkom- Petitionen eine wertvolle Unterstützung der Legis-
mensgrenze für das Erlöschen der Versiche- lative bei der Ausübung ihres Kontrollrechts ge-
rungsberechtigung in der gesetzlichen Kran- genüber der Exekutive sein.
kenversicherung — zu Drucksache 67 — und Der Wortlaut des Art. 17 des Grundgesetzes
auf den allein genügt aber nicht, um das Wesen des Peti-
Entwurf eines Gesetzes über das Verwal- tionsrechtes zu erfassen. Ergänzend müssen für die
tungsverfahren der Kriegsopferversorgung Frage der Behandlung der Petitionen auch die
— zu Drucksache 68 — Bestimmungen der §§ 112 und 113 der Geschäfts-
ordnung herangezogen werden. Auf Grund der
verweisen. Entsprechend einer interfraktionellen Praxis des Petitionsausschusses sind diese Bestim-
Vereinbarung wird von einer erneuten ersten mungen der Geschäftsordnung schon insoweit ge-
Lesung dieser Gesetzentwürfe im 2. Bundestag Ab- ändert worden, als Petitionen durch die Erklärung
stand genommen. der Bundesregierung als erledigt angesehen wer-
Ich rufe auf Punkt 1 der Tagesordnung: den können, als der Petitionsausschuß das Recht
hat, sich laufend über die Erledigung der den
a) Mündliche Berichterstattung des Ausschus- Fachausschüssen überwiesenen Petitionen zu unter-
ses für Petitionen (3. Ausschuß) gemäß § 113 richten, als der Petitionsausschuß vierteljährlich
Abs. 1 Satz 2 der Geschäftsordnung; dem Plenum einen mündlichen Bericht über seine
b) Beratung der Übersicht 5 über Anträge von Tätigkeit zu erstatten hat und die Mitteilung über
Ausschüssen des Deutschen Bundestages be- die Art der Erledigung einer Petition möglichst
treffend Petitionen nach dem Stand vom mit Gründen versehen sein soll. Mit dieser Ände-
7. Mai 1954 (Drucksache 508). rung in der Geschäftsordnung ist zweifellos eine
Straffung des Geschäftsgangs erreicht worden.
Das Wort zur Berichterstattung hat Frau Abge-
ordnete Albertz. Der Bericht über die Petitionen im Plenum muß
nach § 113 der Geschäftsordnung mit einem An-
Frau Albertz (SPD), Berichterstatterin: Herr Prä- trag schließen, der in der Regel so lautet, wie es
sident! Meine Damen und Herren! Leider — — in der Geschäftsordnung vorgesehen ist. Der An-
(Zurufe: Mikrophon!) trag kann aber auch einen andern Wortlaut haben;
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(Frau Albertz)
er ist nicht an diese Formulierung gebunden. Dies Abschließend kann also festgestellt werden, daß
ergibt sich schon aus der Fassung „in der Regel". das Petitionsverfahren im Bundestag der beson-
deren Aufgabe des Petitionsrechts nicht ganz
Darüber hinaus stehen dem Petitionsausschuß gerecht wird. Es sollte daher eine Änderung der
besondere Befugnisse zu, um die Petitionen be- geltenden Bestimmung der Geschäftsordnung des
handlungsreif zu machen und dem Bundestag einen Bundestages vorgesehen werden, wonach erstens
Entscheidungsvorschlag unterbreiten zu können. eine Aussprache über Petitionen im Bundestag
Hierzu gehört das Recht, unmittelbar Stellung- dann stattfinden soll, wenn es vom Petitionsaus-
nahmen einzuholen, wenn die Würdigung einer schuß oder von 30 Mitgliedern beantragt wird, und
Eingabe besondere Anfragen zur Ergänzung des wonach zweitens — und das scheint dem Petitions-
Tatbestandes erfordert. ausschuß besonders wichtig — dem Petenten mit
Die im Hause gelegentlich vertretene Auffassung, dem Beschluß des Bundestages eine kurze Begrün-
nur dem Untersuchungsausschuß stünde gemäß dung mitzuteilen ist.
Art. 44 des Grundgesetzes die Befugnis zu, durch
besondere Beweiserhebung Feststellungen über den Meine Damen und Herren, der Petitionsausschuß
Tatbestand zu treffen, erscheint zu eng. In diesen hat Ihnen heute wiederum einige Übersichten
vorgelegt, aus denen Sie zunächst entnehmen
Fällen können solche Anfragen, die doch etwas wollen, daß den Ausschüssen des Deutschen Bun-
ganz anderes sind als die Beweiserhebungen nach destages in der 1. Wahlperiode in der Zeit vom
Art. 44 des Grundgesetzes, erst das Problem der 1. September 1949 bis zum 5. September 1953
Zuständigkeit bzw. Unzuständigkeit des Bundes 27 200 Petitionen zugeleitet worden sind. Hiervon
klären. Die Entscheidung dieser Frage kann aber konnten bis zum Abschluß der 1. Wahlperiode
nicht nur auf den Ausführungen des Petenten und 99,9 % erledigt werden, so daß praktisch keine
allgemeinen Vermutungen basieren. Rückstände mehr vorhanden waren. Nach dieser
Die vom Petitionsausschuß gestellten Anträge Ubersicht, die immerhin vier Jahre umfaßt, war
werden vom Plenum im allgemeinen ohne Aus- der Petitionsausschuß mit 13 615 Eingaben, das sind
sprache zum Beschluß erhoben. Eine Aussprache 50%, beteiligt, während die insgesamt 43 Fachaus-
über Petitionen im Plenum konnte nach der vor- schüsse mit 8177 Eingaben, das sind 30,04 %, die
läufigen Geschäftsordnung vom 20. September 1949 Bundesregierung und andere Behörden mit 3417
von einer Gruppe von 30 Abgeordneten oder vom Eingaben, das sind 12,7%, und die Landtage der
Petitionsausschuß beantragt werden. Diese Möglich- Bundesrepublik mit 1711 Eingaben, das sind 6,2%,
keit ist in der neuen Geschäftsordnung leider nicht beteiligt waren.
vorgesehen. Es heißt jetzt, daß über die Über- Daneben liegt Ihnen eine statistische Übersicht
sichten nur beraten wird, „wenn es beschlossen über das erste halbe Jahr der 2. Wahlperiode mit
wird"; das heißt, daß die Mehrheit darüber be- einer Gegenüberstellung des ersten halben Jahres
schließt. Es fragt sich, meine Damen und Herren, der 1. Wahlperiode vor. Hieraus ersehen Sie, daß
ob diese Regelung in der Geschäftsordnung unter im ersten halben Jahr der 2. Wahlperiode 4876
Berücksichtigung der Parlamentspraxis der beson- Eingaben eingegangen sind, während im ersten
deren gegenwärtigen Bedeutung des Petitionsrechts halben Jahr der 1. Wahlperiode rund 1000 Ein-
entspricht. Die moderne Bedeutung der Petitionen gaben weniger eingingen, nämlich 3926. Obwohl
sollte darin liegen, daß sie die einzige Möglichkeit sich hiernach die Zahl der Petitionen im gleichen
für den einzelnen bieten, Einfluß auf die Legislative Zeitraum gegenüber der 1. Wahlperiode um 10,24 %
zu nehmen, daß sie der einzige Weg sind, auf dem erhöht hat und eine verwaltungstechnische Mehr-
Bitten und Beschwerden aus dem Volk in das arbeit für das Personal des Petitionsbüros um
Parlament als Ganzes dringen können. 13,57% entstanden ist, ist eine Personalvermeh-
Der Schwerpunkt des Petitionsverfahrens liegt rung nicht vorgenommen worden. Wenn die Mehr-
beim Petitionsausschuß, der in seiner vierteljähr- arbeit im Petitionsbüro anhält, müßte unbedingt
lichen mündlichen Berichterstattung die Möglich- eine Personalvermehrung ins Auge gefaßt werden.
keit hat, dem Plenum einen Gesamtüberblick zu Die Mehrarbeit ergibt sich auch daraus, daß es in
geben, wie es heute geschieht. Es müßte erreicht der 2. Wahlperiode möglich war, 90% zu erledigen,
werden, daß vor allem diejenigen Petitionen, die während es in der 1. Wahlperiode im gleichen
ernste Anliegen und wertvolle Vorschläge enthal- Zeitraum nur 46 % waren. Auffallend ist, daß die
ten, dem Plenum des Bundestages Bekanntwerden 35 Fachausschüsse in der 2. Wahlperiode nur noch
und daß darüber diskutiert werden könnte. mit 6,4 % beteiligt sind, während es in der 1. Wahl-
periode noch 45 % waren. Hieraus ergibt sich deut-
(Sehr gut! bei der SPD.) lich eine Entlastung der Fachausschüsse. Diese
Ferner sollte die Geschäftsordnung dahin ergänzt Entlastung ist beabsichtigt und hat dazu geführt,
werden, daß der Bescheid des Parlaments nicht nur daß die Bundesregierung und die Landtage mehr
„möglichst mit einer Begründung versehen sein und mehr unmittelbar eingeschaltet werden konn-
soll", sondern mit einer Begründung zu versehen ten. So wurden an die Landtage im ersten halben
ist. Dadurch würde der Petent einmal ersehen Jahr 22 % zur Behandlung überwiesen und 31%
können, daß sich das Parlament sachlich mit seinem an die Bundesregierung bzw. an die zuständigen
Petitum beschäftigt hat; zum andern würde er Fachministerien. Von den Fachausschüssen des
durch den Bescheid des Parlaments in den meisten Deutschen Bundestags wurden in der zweiten
Fällen den Beschluß überhaupt erst verstehen Wahlperiode nur der Ausschuß für Sozialpolitik
können. und der Ausschuß für Besatzungsfolgen an der
(Abg. Dr. Menzel: Sehr richtig!) Bearbeitung von Petitionen nennenswert beteiligt.
Es würde dadurch auch keine Mehrarbeit entstehen, Daneben liegen Ihnen noch zwei Strukturen
da die Berichterstatter ihren Entscheidungsvor- vor, die den wesentlichen Inhalt der im Ausschuß
schlag für die Ausschußsitzung bereits mit einer für Petitionen behandelten Eingaben betreffen.
kurzen Begründung versehen müssen, die in den Während der vier Jahre der ersten Wahlperiode
meisten Fällen verwendbar sein dürfte. standen unter den 13 605 im Petitionsausschuß be-
1376 2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954
(Frau Albertz)
handelten Eingaben an erster Stelle Petitionen, die Die folgende kurze Schilderung meines Ein-
sich mit Ansprüchen aus dem Gesetz zu Art. 131 des zelschicksals hat den Zweck, die Aufmerksam-
Grundgesetzes, Pensionen und den übrigen Be- keit des Bundestages auf ein Unrecht zu len-
amtenrechtsansprüchen befaßten. Anschließend ken, unter welchem ich nicht nur allein zu
kamen die Geltendmachung von Renten, die An- leiden habe, sondern gleich mir noch viele aus
sprüche nach dem Bundesversorgungsgesetz und dem deutschen Osten stammende Mitbürger
im Rahmen der Kriegsopferversorgung, Bitten um in der Bundesrepublik. Ein Unrecht, das in
Beschleunigung eines eingeleiteten Verfahrens der Geschichte des zeitnahen Weltgeschehens
usw. Relativ viele Petitionen befaßten sich mit Ge- wohl ohne Beispiel dasteht, begangen von
richtsentscheidungen der Zivil-, Straf-, Verwal- einer Nation, die als ganz besonders „ritter-
tungs-, Sozial- und Arbeitsgerichtsbarkeit. In die- lich" unter den Völkern zu gelten für sich in
sen Fällen konnten die Petenten nur ganz allge- Anspruch nimmt.
mein auf die im Grundgesetz garantierte Unab- Der Petent führt weiter aus, daß seine Familie
hängigkeit der Rechtspflege hingewiesen werden; in denkbar dürftigsten Verhältnissen von dem
eine materielle Prüfung konnte in diesen Fällen kümmerlichen Verdienst seiner schwerste Män-
nicht vorgenommen werden. nerarbeit verrichtenden Frau leben müsse. Seit
Die Struktur hat sich im ersten halben Jahr der neun Jahren flehten seine Frau und seine Kinder
zweiten Wahlperiode wesentlich verschoben. An in herzerschütternden Briefen ihn an, ihrem
erster Stelle stehen jetzt die Ansprüche aus dem traurigen Schicksal ein Ende zu bereiten.
Bundesversorgungsgesetz und der Kriegsopferver- Der Petent meint, und mit ihm auch viele an-
sorgung, an zweiter Stelle die Ansprüche aus der dere, wenn nun das zweifellos traurige Schicksal
Sozialversicherungsgesetzgebung, Altersversor- der Kriegsgefangenen die deutsche Öffentlichkeit,
gung und Arbeitslosenversicherung, an dritter die Volksvertretung und maßgebende Regierungs-
Stelle folgen die Ansprüche aus dem Lastenaus- stellen veranlassen konnte, ihre Stimme mahnend
gleich, die sich in der Hauptsache mit der Haus- und fordernd zu erheben, müßte dies im Falle
ratsentschädigung, Unterhaltshilfe und den Auf- der bedauernswerten Frauen und unschuldigen
baudarlehen befassen. Auffallend ist, daß bereits Kinder in den polnisch besetzten Ostgebieten auch
an vierter Stelle die Eingaben folgen, die Besat- geschehen.
zungsschäden, Kriegsfolgelasten und die Wieder- Da die Bundesrepublik keine diplomatischen Be-
gutmachung nationalsozialistischen Unrechts zum ziehungen zur polnischen Regierung unterhält,
Inhalt haben. Die Eingaben zum BEG aus dem In- bleibt nur die Möglichkeit, die Weltöffentlichkeit
und Ausland haben ihre Ursache wohl in den noch auf dieses Problem aufmerksam zu machen. In
immer fehlenden Ausführungsbestimmungen zu diesem Zusammenhang darf auf die erneute Be-
diesem Gesetz. Ferner wird deutlich, daß weite handlung der Gefangenenfrage durch die General-
Kreise des deutschen Volkes auf die Verabschie- versammlung der Vereinten Nationen im Dezem-
dung des Kriegsfolgeschlußgesetzes warten. Die ber 1953 hingewiesen werden.
Fälle der Geltendmachung von Ansprüchen nach
dem Gesetz zu Art. 131 des Grundgesetzes sind In einem anderen Fall wurde inzwischen ein
erheblich zurückgegangen. Den wesentlichen In- polnischer Rechtsanwalt mit der Wahrnehmung
halt der übrigen Petitionen bitte ich Sie aus der der Interessen eines zu zwölf Jahren verurteilten
vorliegenden Struktur entnehmen zu wollen. Ministerialbeamten beauftragt. Der Rechtsanwalt
wird versuchen, entweder die Wiederaufnahme
Gestatten Sie mir, daß ich Ihnen noch einige des Verfahrens wegen neuer Tatsachen oder eine
Ausführungen darüber mache, was be der Durch- außerordentliche Revision im Hinblick auf die un-
sicht der Vielzahl der Petitionen besonders auffiel. gerechte und zu strenge Strafe zu betreiben.
Zunächst möchte ich an das anknüpfen, was Herr Auffallend ist auch das verstärkte Drängen der
Kollege Sassnick bereits in seiner Bericht- Saar-Evakuierten, die eine Einbeziehung von im
erstattung vom März 1953 herausgestellt hat. Er Saargebiet entstandenen Kriegssachschäden in die
sagte, aus der Fülle der Eingaben verdiene her- Lastenausgleichsregelung fordern. Der für diese
vorgehoben zu werden, daß sich in letzter Zeit An- Fragen federführende Bundesminister der Finan-
fragen wegen einer Rückkehr aus den unter pol- zen hat sich zu dem Problem bisher dahin ge-
nischer Verwaltung stehenden Gebieten gehäuft äußert, daß die Frage zur Zeit von den beteiligten
haben. Diese Feststellung trifft auch heute noch, Ressorts geprüft werde. Wenn auch die Monats-
und zwar in erhöhtem Maße, zu. Die zwangsweise zeitschrift „Der Evakuierte" in einer Veröffentli-
Zurückhaltung von Familienangehörigen deut- chung eine gewisse Polemik gegen den Bundestag
scher Staatsangehörigkeit in Ostpreußen bzw. den und den Petitionsausschuß des Bundestags an den
unter polnischer Verwaltung stehenden deutschen Tag legt, so wäre es im Interesse aller Betroffenen
Ostgebieten ist ein Problem, das mehr als bisher doch wünschenswert, wenn die angedeutete Über-
sowohl in der öffentlichen Diskussion als auch bei prüfung bald zu einem erfolgreichen Abschluß ge-
den Verhandlungen auf internationaler Ebene an- bracht werden könnte.
gesprochen werden sollte. Hierfür hat sich in Fast in jeder Berichterstattung des Petitionsaus-
einem Brief an den Ausschuß auch die Kollegin schusses ist auf das Problem der älteren Angestell-
Frau Dr. Probst eingesetzt. ten hingewiesen worden. Die von der Bundes-
Kürzlich schrieb uns ein Petent — er ist einer regierung vertretene Auffassung, daß der Staat
unter vielen —, daß er im Laufe der vergangenen bewußt auf eine Lenkung des Arbeitsmarktes ver-
neun Jahre alle möglichen Mittel und Wege er- zichtet habe, weil sich nach den bisherigen Erfah-
folglos erschöpft habe, um seine 31jährige Frau rungen Zwangsmaßnahmen auf dem Gebiet der
mit ihren drei Kindern im Alter von 9 bis 14 Jah- Arbeitsvermittlung für den Personenkreis, der
ren, die nunmehr neun Jahre nach Beendigung durch diese Maßnahmen begünstigt sei, oft nach-
des Krieges wider ihren Willen in Polen zurück- teilig ausgewirkt hätten, ist vom Petitionsaus-
gehalten werden, in die Heimat zurückzuführen. schuß nicht geteilt worden. Wenn man die Bemü-
Wörtlich schreibt der Petent: hungen einzelner dieses Personenkreises liest,
2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954 1377
(Frau Albertz)
muß man es für fast unglaublich halten, daß um eine Petition auf dem Gebiet der Krankenver-
immer noch keine Regelung gefunden worden ist, sicherung der Rentner und der Besteuerung der
die das Los der älteren Angestellten erleichtert. Kriegsbeschädigtenrenten in den unter niederlän-
Darum begrüßt es der Petitionsausschuß, daß sich dische Verwaltung gestellten deutschen Gebieten
das Hohe Haus in der heutigen Tagesordnung mit von Elken, Selfkant sowie in den Ortschaften
der Beratung eines Gesetzes zur Behebung der Suderwyk und Weyler. Der Bund Deutscher Kriegs-
Berufsnot der älteren Angestellten befassen wird. und Arbeitsopfer in Elken hatte auf einer Protest-
versammlung eine Resolution angenommen, in der
Es kann heute zu einem anderen Problem fest-
gestellt werden, daß auf Grund der Vielzahl von er sich gegen den Zustand, daß die Krankenver-
Fällen, die dem Bundesminister für Arbeit vom sicherung der Rentner immer noch nicht geregelt
Petitionsausschuß überwiesen worden waren, die ist, und gegen die von holländischer Seite in Aus-
Nachuntersuchungen von Kriegsbeschädigten des sicht genommene Besteuerung deutscher Kriegsbe-
ersten Weltkrieges, die das 65. Lebensjahr voll- schädigtenrenten der dort wohnenden Kriegsbe-
schädigten wendet.
endet haben — diese Nachuntersuchungen führten
vielfach zum Entzug der Kriegsbeschädigtenrente Der Bundesminister für Arbeit sagt in seiner
—, nur dann noch vorgenommen werden, wenn Stellungnahme, daß auf Grund der erheblichen
nach dem versorgungsärztlichen Urteil die festge- Unterschiede beider Länder in der Gesetzgebung
setzte Minderung der Erwerbsfähigkeit in einem mit einer zwischenstaatlichen Regelung in naher
offensichtlichen Mißverhältnis zu den tatsächlichen Zukunft nicht gerechnet werden könne. Er hat des-
Verhältnissen steht. halb eine vorläufige Lösung veranlaßt, die darin
In einem dieser Fälle, der ein klassisches Beispiel besteht, daß die Betroffenen in diesen Gebieten
darstellt, lag es so, daß einem 86jährigen Invaliden, unmittelbar durch die deutschen Krankenkassen
der 1890 auf SMS „Deutschland" einen Unfall er- betreut werden.
litten und auf Grund seiner 40%igen Dienstbe- Hinsichtlich der Heranziehung der Empfänger
schädigung zunächst eine Rente erhalten hatte, der Versorgungsrenten mit ihren Einkünften, den
diese Rente nach der Kapitulation nicht mehr ge- aus deutschen öffentlichen Kassen gezahlten KB-
zahlt wurde. Seine Bemühungen vom Jahre 1947 Renten, die nach deutschem Steuerrecht steuerfrei
an, seine Rente wiederzuerhalten, waren erfolglos. sind, zur niederländischen Einkommensteuer, ist
Nun wurde ihm ein Zugunstenbescheid erteilt und zur Vermeidung von Härten durch Vorstellungen
die Kriegsbeschädigtenrente vom 1. August 1947 bei der niederländischen Regierung erreicht wor-
an wieder gewährt. den, daß bis zum Abschluß eines Doppelbesteue-
Auch in einem anderen Fall wurde erreicht, daß rungsabkommens zwischen Deutschland und den
einem Petenten, der 35 Jahre lang auf Grund einer Niederlanden die fälligen Steuerbeträge gestundet
Verwundung im ersten Weltkrieg seine Rente er- werden.
halten und bei dem dann eine Nachuntersuchung Ich darf im Auftrage des Petitionsausschusses
zum Entzug der Rente geführt hatte, diese Rente darauf hinweisen, daß sich die Fälle häufen, in
belassen wurde. denen von den Hinterbliebenen die Fristen ver-
Trotz dieser vom Bundesminister für Arbeit ge- säumt wurden, die mit § 2 des Gesetzes über den
troffenen Regelung sind dem Ausschuß aber doch Ablauf der durch Kriegsvorschriften gehemmten
noch Fälle bekanntgeworden, die im Widerspruch Fristen in der Sozial- und Arbeitslosenversiche-
zu den Äußerungen des Ministers stehen, welche er rung vom 13. November 1952 zusammenhängen.
in seiner Antwort vom 26. Februar 1954 auf die Ein weiterer Fall, der die Mitglieder des Peti-
Kleine Anfrage 32 der Fraktion der SPD — Bun- tionsausschusses zum Nachdenken veranlaßt hat,
destagsdrucksache 297 — und in der Plenarsitzung betrifft die Beschwerde eines Petenten darüber,
vom 11. März 1954 gemacht hat. Der Ausschuß wird daß die Flugzeuge der Alliierten im Tiefflug über
diese Fälle zusammenstellen und in Kürze nochmals Häuser und Ortschaften fliegen. Dies habe dazu
dem Bundesminister für Arbeit zur Prüfung und geführt, daß seine Frau, eine Mutter von drei
Stellungnahme vorlegen. kleinen Kindern, einen Schock erlitten habe, kör-
Meine Damen und Herren! Ich könnte die Reihe perlich zusammengebrochen sei und ein Arzt habe
von wirklich erfreulichen Erfolgen, die durch die hinzugezogen werden müssen.
Bearbeitung von Petitionen erreicht wurden, be- Der Herr Bundesminister für Verkehr hat sich
liebig fortsetzen. Kürzlich noch schrieb ein Petent: hierzu dahin geäußert, daß die alliierten militä-
Der Menschen sind es wohl viele, die Ihre Hilfe rischen Dienststellen sich bereit erklärt hätten,
suchen und auch wohl finden so wie wir. Denn Verstöße gegen die Luftverkehrsregeln zu unter-
schon einmal in diesem Jahre beanspruchten binden. Es sei aber erklärt worden, daß die Schul-
wir Ihre Hilfe und fanden diese überraschend digen nur dann zur Verantwortung gezogen wer-
schnell. Mein schwerkranker Mann und ich den könnten, wenn die Meldung über Verstöße un-
danken für Ihre Bemühungen von ganzem mittelbar im Anschluß an das Ereignis erstattet
Herzen. würde.
Eine andere Petentin schreibt launig: (Hört! Hört! bei der SPD.)
. . . . so, jetzt habe ich mir meinen Ärger vom Die Angaben müßten neben Ort und Zeit des
Herzen geschrieben, wenigstens teilweise, nun Überflugs die Nationalität, das Kennzeichen des
kann ich ruhiger leben, wenn ich meine Ge- Flugzeugs, seine Flugrichtung und zusätzlich auch
danken einmal zu Papier gebracht habe. Und noch die geschätzte Flughöhe enthalten.
man meint dann wenigstens, die Wartezeit (Abg. Dr. Menzel: Und den Namen
wäre kürzer. des Piloten! — Heiterkeit.)
(Zuruf von der SPD: Sehr schön!) Meine Damen und Herren, ich glaube, daß niemand
Lassen Sie mich noch kurz zu einem weiteren hier im Hause ist, der, wenn er wie diese Petentin
bedeutsamen Fall folgendes sagen. Es handelt sich einen körperlichen Zusammenbruch erleiden würde,
1378 2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954
(Frau Albertz)
in der Lage wäre, auch noch diese Feststellungen Parlament und freie Presse siamesische Zwillinge
zu treffen. sind, die nur in Freiheit gedeihen und die ohne
Abschließend darf ich noch sagen: Die Aufgabe einander nicht leben können. Wird die Freiheit der
dieser Berichterstattung kann nur sein, die Pro- Presse bedroht, so ist auch die Freiheit eines Par-
bleme aufzuzeigen, damit der Gesetzgeber hieraus laments in Gefahr. Kurz, für unsere parlamenta-
seine Schlüsse ziehen kann, um initiativ zu wer- rische Demokratie ist die Pressefreiheit eine
den. Jedenfalls steht fest, daß das Material, das Existenzfrage, wobei wir uns alle darüber einig
dem Petitionsausschuß zur Verfügung steht, eine sein werden, daß es nicht um grenzenlose Anarchie
Fundgrube ist. Es lohnt sich für den Gesetzgeber geht, sondern daß bei der Freiheit der Presse die
wirklich, dieses Material noch mehr als bisher Eingrenzung durch die allgemeinen Strafgesetze
auszuwerten und nutzbar zu machen. zum Schutz gegen Verleumdungen privater und
Trotz aller Bitten, Nöte und Beschwerden, die öffentlicher Art notwendig ist.
aus der Flut von Petitionen zu entnehmen sind, Dieser speziellen Anfrage liegen eine ganze
kann angenommen werden, daß das Verhältnis des Reihe von Vorfällen der letzten Monate zugrunde,
einzelnen zum Parlament und zur Verwaltung die die Befürchtung aufkommen ließen, daß in eini-
zwar in etwa normalisiert, aber damit noch nicht gen Teilen der heutigen Bundesregierung Akzente
zu einer persönlichen Beziehung gekommen ist. spürbar werden, die eine Gleichschaltung der
Die Bürokratie ist noch immer für die meisten Presse langsam, aber sicher vermuten lassen. Dabei
unserer Staatsbürger eine anonyme Macht, handelt es sich nicht darum, daß die Politik der
(Sehr richtig! bei der SPD) Pressegleichschaltung so, wie wir das von den
Nazirabauken her kennen, hier praktiziert wird,
welcher man im Notfall über Paragraphen zu Leibe sondern daß ein schleichendes Gift in die Presse
rücken kann. Es sollte uns allen darauf ankommen, eingeträufelt wird, das durch Geldzuwendungen und
die Verwaltung ihrer Anonymität gegenüber dem leider auch durch Bespitzelung gekennzeichnet ist.
Staatsbürger zu entkleiden
(Beifall bei der SPD) Meine Damen und Herren, diese Debatte hat das
Schicksal, schon zweimal vertagt worden zu sein,
und damit auch Verantwortlichkeiten im Einzelnen und so ist in der Öffentlichkeit bereits ein Groß-
und im Kleinen sichtbar zu machen. Das fest- teil einzelner Vorgänge diskutiert worden. Ich sel-
gemauerte Gehäuse des Regierungsapparats, das ber habe eine ganze Reihe von Einzelmaßnahmen
in seinem Innern dem harmlosen Bürger ein Irr- bekanntgemacht, und zwar habe ich über die Her-
garten von Zuständigkeiten scheint, sollte zu einem gabe von Geldern aus Reptilienfonds gesprochen.
Glashaus werden, Ich hatte Beispiele genannt. So wurde regelmäßig
(Sehr gut! bei der SPD) der Informationsdienst einer Arbeitsgemeinschaft
durchsichtig, überschaubar und damit auch begreif- katholischer Frauen finanziert. Der Verlag Union-
bar für den, der sich nur die Mühe des ernsthaften Press, der eine Wahlbroschüre des Herrn Bundes-
Betrachtens macht. Die Verwirklichung solcher kanzlers herausbrachte, wurde subventioniert. An
Maßnahmen könnte sehr wohl dazu dienen, ein den Michael-Verlag wurde aus Geldern des Presse-
echtes demokratisches Staatsgefühl zu wecken, das und Informationsamtes ein Zuschuß gegeben, wo-
heute nur allzuoft von der Vorstellung nieder- mit eine Sonderbeilage für junge Arbeiter gedruckt
gehalten wird, daß Staat und Verwaltung für den wurde. Schließlich stellte man zum Bundestags-
einzelnen ja doch unfaßbare Größen seien. wahlkampf für den Herrn Bundeskanzler — also
(Beifall im ganzen Hause.) in seiner Eigenschaft als CDU-Parteivorsitzender —
einen Lautsprecherwagen zur Verfügung.
Vizepräsident Dr. Schmid: Ich danke der Frau Wie zu erwarten war, sind alle diese meine Fest-
Berichterstatterin. stellungen von der Regierung dementiert worden.
Wir haben nun noch 'Beschluß zu fassen über die Aber interessanter noch als die Tatsachen selbst
Anträge des Petitionsausschusses, die Sie in der erscheint mir die Art der Dementis, weil diese an
Ubersicht 5, Drucksache 508, verzeichnet finden. den von mir festgestellten Dingen haarscharf vor-
Das Haus wird mich wohl von der Pflicht dispen- beigingen. Ich habe z. B. festgestellt, daß auch der
sieren, diese Übersicht 5 zu verlesen. „Rheinische Merkur" Gratisabonnements mit einem
(Zustimmung.) Anschreiben versendet, wozu ihn das Presse- und
Meldet sich jemand zum Wort? — Das ist nicht der Informationsamt aufgefordert hat. Ich habe die
Fall. Dann schließe ich die Aussprache über diese Dokumente — die Photokopien der betreffenden
Anträge und lasse abstimmen. Wer sie annehmen Briefe — vorgelegt. Darauf hat man dann geant-
will, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegen- wortet, daß man garantiert ;keine Tageszeitungen
probe! — Enthaltungen? — Ich stelle einstimmige unterstützt habe. Nun, gerade das war von mir
Annahme fest. auch nicht behauptet worden; es ist ja darum ge-
Ich rufe auf Punkt 2 der Tagesordnung: gangen, daß hier ganz speziell einzeln genannte Pu-
blikationen und Propagandamittel bezahlt wurden.
Beratung der Großen Anfrage der Fraktion Ich habe dann darauf hingewiesen, daß das Presse-
der SPD betreffend Pressepolitische Pläne und Informationsamt enge Beziehungen zu einer
der Bundesregierung (Drucksache 313, Um- sogenannten Bundeskorrespondenz pflege, die es
druck 18*)) sich zur Aufgabe mache, kleinere Zeitungen zu be-
Das Wort zur Begründung hat der Abgeordnete dienen, und daß diese Bundeskorrespondenz ganz
Kalbitzer. oder nahezu umsonst an diese Zeitungen abgegeben
Kalbitzer (SPD), Anfragender: Herr Präsident! werde und man dadurch gegenüber freien Korre-
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die spondenzen einen unlauteren Wettbewerb betreibe;
Frage der pressepolitischen Pläne der Bundesregie- dadurch mache man die Empfänger dieser Gratis-
rung, mit der wir uns heute befassen, stellt ein oder beinahe Gratisinformationen von der Finanzie-
sehr ernstes Anliegen des Parlaments dar, weil rung des Presse- und Informationsamtes abhängig.
Der Chef des Presse- und Informationsamtes, Herr
*) Siehe Anlage Seite 1435 von Eckardt, hat versucht, diese Feststellung zu
2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954 1379
(Kalbitzer)
dementieren. Aber ich muß sagen, daß sein De- sächlich berichtigen; aber die Berichtigung bestätigt
menti eine Bestätigung war; er hat nämlich selber wiederum nur die Tatsache. Es handelte sich da-
erklärt, daß er diese Absicht inzwischen fallenge- mals tatsächlich nicht, wie ich irrtümlich gesagt
lassen habe. So kann man erfreulicherweise sagen, hatte, um das Finanzministerium, sondern um das
daß in der Frage der Bundeskorrespondenz sowohl Wirtschaftsministerium. Es handelte sich
der Protest der Presse als auch die Einbringung auch nicht um einen Kredit, sondern um eine Bürg-
dieser Anfrage vor etlichen Wochen die Bundes- schaft. Die Frage der Umsiedlung der Deutschen
regierung beizeiten dazu gebracht hat, von ihren Presseagentur von Hamburg nach Bonn hat des-
dunklen Absichten zu lassen. halb besondere Verwunderung erregt, weil die
Deutsche Presseagentur selbst bisher in dieser
(Zurufe von der Mitte: „Dunkle Absichten"?)
Hinsicht keinerlei Anträge an die Bundesregierung
Ich habe weiterhin eine Reihe von Belegen vor- gestellt hatte. Man sieht natürlich darin eine Ge-
gelegt, nach denen Herr Staatssekretär Globke die fahr, daß die dpa gegen ihren eigenen Willen in
bekannten verlorenen Verleumdungsprozesse des finanzielle Verflechtungen eingespannt wird, die
CDU-Parteivorsitzenden, also des Herrn Dr. Ade- sie zu tragen gar nicht in der Lage ist. Wie Sie
nauer, bezahlt habe. Herr Staatssekretär Globke wissen, ist die Deutsche Presseagentur ein unab-
hat das daraufhin sofort dementiert. Er hat ge- hängiges Unternehmen von Zeitungen aller Partei-
sagt, das habe er nicht getan, das Geld sei von der richtungen und -schattierungen. Die deutsche
CDU gezahlt worden. Ich muß offen sagen, wir Presse war vor wenigen Jahren noch finanziell
wünschten, daß diese Darstellung der Wahrheit derart geschwächt, da sie 1945 aus dem Nichts
entspräche. aufbauen mußte. 15 Millionen DM an GARIOA-
(Lachen in der Mitte.) Krediten wurden ihr zu billigen und günstigen
— Darüber brauchen Sie nicht voreilig zu lachen! Bedingungen zur Verfügung gestellt. Jetzt, vier
Die Belege, nach denen Herr Globke gezahlt hat, Jahre nachher, soll einem Unternehmen dieser
liegen mir vor und sind allgemein bekannt. Presse, die also noch vor wenigen Jahren eine
in Höhe von 15 Millionen DM in Anspruch nahm, die
(Hört! Hört! bei der SPD.) sie selber nicht beschaffen konnte, zugemutet wer-
Es wäre Aufgabe des Herrn Präsidenten des Bun- den, selbst einen Umzug zu finanzieren, der
desrechnungshofes, diese Frage schnellstens zu prü- schätzungsweise 4 Millionen DM kosten wird. Ich
fen und darüber öffentlich zu berichten, da der bitte Sie, daran zu denken, daß dieser Umzug ja in
Verdacht nicht von der Hand zu weisen ist, daß die kleinem Maßstab etwa dieselbe Situation herbei-
verlorenen Prozesse des Parteivorsitzenden der führen würde, wie sie beim Aufbau dieser provi-
CDU aus geheimen Fonds der Bundesregierung be- sorischen Bundeshauptstadt bestand. 1949 sagte
zahlt worden sind. man, daß der Umzug bzw. Aufbau 3,8 Millionen DM
(Hört! Hört! bei der SPD. — Zurufe von kosten würde, und die niedrigsten Schätzungen
der Mitte.) der Kosten beliefen sich im Jahre 1954 auf min-
destens 200 Millionen DM.
Wir haben noch weitere Subventionen zu ver- Wir halten es für außerordentlich bedenklich,
zeichnen. Die „Deutsche Soldatenzeitung" existiert die Deutsche Presseagentur in eine Situation zu
offenbar nicht aus eigenen Geldern, sondern erhält bringen, in der ihr Verpflichtungen auferlegt wer-
regelmäßig etliche tausend DM monatlich aus den, denen sie nachher nicht aus Eigenem nach--
Bundeskassen. Ebenso ist es bei der Zeitschrift kommen kann, womit sie in finanzielle Abhängig-
„Der Frontsoldat erzählt", der außerdem durch die keit kommt. Das voreilige Angebot einer Bürg-
Arbeitsgemeinschaft Demokratischer Kreise des schaft von seiten der Bundesregierung läßt Be-
Herrn Kollegen Dr. Lenz Freiabonnements zu- fürchtungen in dieser Richtung als berechtigt er-
geschanzt werden. Diese Arbeitsgemeinschaft scheinen.
Demokratischer Kreise bezweckt offenbar nichts
anderes als eben diese Art von Finanzierungen, Wir haben dann in unserer Großen Anfrage — die
Subventionierungen, Beeinflussungen mit Hilfe ja schon Anfang März an die Bundesregierung ge-
öffentlicher Gelder. richtet wurde, also über zwei Monate alt ist — eine
Reihe spezieller Fragen behandelt. Es handelt sich
Angesichts dieser langen Liste von Tatsachen, zunächst darum, ob die Bundesregierung künftig
die man fortführen könnte, ist es natürlich ein Presseinformationen aus den Regierungsbehörden
Hohn — worauf wir in der Etatdebatte bereits n u r über das Presse- und Informationsamt lenken
hingewiesen haben —, daß die geheimen Fonds will. Der Bundespressechef hat diese Befürchtung
der Bundesregierung auf 10 Millionen DM erhöht, verneint, aber mit einer Einschränkung, indem er
also verdoppelt worden sind. Dabei möchte ich ganz gesagt hat: Nein, man wolle das Informationsrecht
klarstellen, daß wir durchaus Verständnis dafür der einzelnen Ministerien keinesfalls beschränken,
haben und daß auch nichts dagegen einzuwenden wenn es sich nicht um wichtige und um außen-
wäre, daß die Bundesregierung einen Fonds zur politische Fragen handle. Aber die Presse hat ja
freien Verfügung hat. Nur kommt es darauf an, gerade ein Interesse daran, sich bei wichtigen
daß die Bundesregierung — jede Bundesregierung, Fragen frei informieren zu können, weil unwich-
die solche Fonds zur freien und Geheimverfügung tige Fragen bekanntlich auch für die Presse nicht
hat — ehrliches Spiel mit ihm treibt. In der Ver- von großem Nutzen sind. Man hat deshalb daran
fügung über einen solchen Fonds darf kein Miß- die Frage geknüpft, ob man damit etwa die
brauch der Staatsgewalt zu erblicken sein. Unsere Disziplin innerhalb der Regierung, innerhalb des
Befürchtungen gehen aber in dieser Richtung. Kabinetts künstlich stützen müsse und ob man da-
Nun lassen Sie mich noch auf etwas anderes zu mit etwa eine Zensur der Minister verfolge.
sprechen kommen, nämlich auf die Deutsche Punkt 1 b der Großen Anfrage habe ich schon
Presseagentur. Ich hatte festgestellt, daß man der kurz behandelt. Er betrifft die Frage der Presse
dpa von seiten des Bundesfinanzministeriums Korrespondenz. Ich kann hierzu mit Freude sagen,
einen Kredit angeboten habe, ohne daß er erbeten daß die bloße Anfrage die Bundesregierung zu
worden sei. Ich muß mich in diesem Punkt tat einer Berichtigung ihrer Haltung geführt hat.
1380 2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954
(Kalbitzer)
Wir kommen dann zu der Frage 1 c, die sich auf Inland und Ausland über die Ziele der Maß-
das Verhältnis des Presse- und Informationsamts nahmen der Bundesregierung. Es ist selbstver-
zum Verfassungsschutzamt bzw. zu anderen Ge- ständlich, daß es dabei die immer nur schmalen
heimdiensten bezieht. Auch diese Frage wurde Grenzen zwischen staatspolitischer und partei-
dem Bundespressechef vor längerer Zeit, am politischer Aufklärung sorgsam zu achten und
25. Februar, vorgelegt. Er wurde gefragt, ob sich insbesondere von einseitiger Propaganda
Spitzelei eines Geheimdienstes durch das Presse- fernzuhalten hat. Parteipolitik zu vertreten,
amt erfolgt sei. Darauf hat Herr von Eckardt, der ist Aufgabe der Parteien selbst.
zunächst versuchte, die Sache in Bausch und Diese schmale Grenze, von der das Gutachten
Bogen abzutun, dann doch ins einzelne gehend fest- spricht, zwischen staatspolitischen Aufgaben und
gestellt, daß auch seine Telephonate, also die Parteipropaganda ist von einer kleinen Gruppe,
Telephongespräche des deutschen Bundespresse- wie mir scheint, innerhalb der Bundesregierung
und Informationsamtschefs, abgehört werden. längst überschritten worden.
(Hört! Hört! bei der SPD.) (Abg. Dr. Menzel: Sehr richtig!)
Aber er schlug vor, daß man sich um dieses Ab Wenn nicht endlich auch von Ihrer Seite, meine
hören der Telephongespräche gar nicht kümmern Damen und Herren von der Koalition, hiergegen
sollte. Nun frage ich Sie: wie soll es den einzelnen energisch protestiert wird, wird uns die Freiheit
Journalisten und den einzelnen Bürgern in und Unabhängigkeit der Presse auf leisen Sohlen
Deutschland gehen, wenn schon der Presse- und abhanden kommen.
Informationschef der Bundesregierung selber zu
geben muß, daß er auf diese Art bespitzelt wird?! (Beifall bei der SPD.)
(Sehr gut! bei der SPD.) Den fälligen Dementis der Bundesregierung zu
meinen Feststellungen sehe ich mit Interesse ent-
Man darf daran wohl die Frage knüpfen, ob der in gegen. Aber wichtiger, als Dementis zu fabrizieren,
der Beamtenhierarchie Herrn von Eckardt vor- ist es, den guten Willen aufzubringen, diese Miß-
gesetzte Staatssekretär Globke, dem in seiner stände zu beenden; denn sonst quälen wir die
Eigenschaft als Staatssekretär auch ein Geheim- Pressefreiheit und damit schließlich das freie Par-
dienst untersteht, etwa darüber Auskunft geben lament eines Tages zu Tode.
könnte, wer Herrn von Eckardt bespitzelt.
(Abg. Dr. Menzel: Und wer ihn selber Ich bitte deshalb, in diesem Sinne auch dem Um-
bespitzelt!) druck 18*) Ihre Zustimmung zu geben und sich von
der Seite der Bundesregierung nicht darauf zu
— Das kann man wie bei Geheimdiensten immer beschränken, die über zwei Monate alte Große An-
ad infinitum fortsetzen, und so ergibt sich das frage der Form nach zu beantworten, sondern zu
„spaßige" Spiel des Kampfs der Geheimdienste den hier getroffenen Feststellungen freimütig und
unter- und gegeneinander, von dem wir in den offen Rede und Antwort zu stehen.
letzten Wochen in der deutschen Presse etliches
lesen mußten. (Beifall bei der SPD.)
(Abg. Dr. Menzel: Wir haben ja das Geld Vizepräsident Dr. Schmid: Das Wort zur Beant-
dazu!) wortung der Großen Anfrage hat der Bundes-
Die Arbeit des Presse- und Informationsamts minister des Innern.
zeigt sich auch in einem anderen Fall, den ich kurz -
zur Sprache bringen möchte. Zur Bundestagswahl Dr. Schröder, Bundesminister des Innern: Herr
wurde ein französischer Journalist, der hier in Präsident! Meine Damen und Herren! Ich muß
Bonn arbeitet, eingeladen, im Zuge des Bundes- Herrn Kollegen Kalbitzer in einem recht geben,
kanzlers die Wahlkampfreise mitzumachen. Der nämlich in der Feststellung, daß die Große Anfrage
Journalist hat dieses Angebot selbstverständlich seiner Fraktion im Datum schon etwas zurück-
gern angenommen, hat aber dabei gefragt, ob er liegt. Sie ist in der Tat schon über zwei Monate
die Fahrkarte für diese Reise beim Presse- und In- alt. Wir kommen so in die merkwürdige Lage,
formationsamt oder bei der CDU zu bezahlen habe. daß wir zu einer Großen Anfrage Stellung nehmen
Er mußte erleben, daß das Presse- und Informa- müssen, die in der Zwischenzeit in der Öffentlich-
tionsamt auf diese berechtigte Frage des Journa- keit schon sehr behandelt worden ist, so daß die
listen gar keine Antwort wußte, weil man gar nicht Antworten, die hier gegeben werden, nicht mehr
im Sinn hatte, daß es eine selbstverständliche den Anspruch auf Neuigkeit und Originalität er-
Grundanschauung der freien Journalisten ist, daß heben können. Trotzdem muß ich mich der Ord-
sie sich zwar Gefälligkeiten zur Vereinfachung nung halber der Pflicht unterziehen, die Anfragen
ihrer schweren Arbeit gerne bieten lassen, daß sie so zu beantworten, wie sie gestellt sind. Was Herr
aber auf ihre finanzielle Unabhängigkeit in jedem Kollege Kalbitzer darüber hinaus ausgeführt hat,
Falle aufs schärfste bedacht sind. werde ich dann im Laufe der Debatte, soweit sich
Lassen Sie mich zu dieser Frage der Unabhängig die Notwendigkeit dazu ergibt, beantworten.
keit der Presse und der Unabhängigkeit von aller Ich folge also zunächst den Fragen, so wie sie
Einflußnahme durch die Bundesregierung zum gestellt sind:
Abschluß ein Zitat bringen, welches der Beauf Trifft es zu, daß Pläne bestehen, künftig die
tragte für Wirtschaftlichkeit in der Verwaltung, Presse über sämtliche Angelegenheiten der
der wohl in Personalunion mit dem Präsidenten Bundesregierung und ihrer Ministerien nur
des Bundesrechnungshofs vereinigt ist, bei einer noch durch das Presse- und Informationsamt
Prüfung in einem Gutachten über das Presse- und der Bundesregierung zu unterrichten?
Informationsamt vor etwa zwei Jahren gesagt hat.
Ich darf mit Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident, aus Die Antwort darauf lautet, wie folgt: Es trifft
diesem Gutachten zitieren. Das Gutachten heißt: nicht zu, daß derartige Pläne bestehen. Offensicht-
lich liegen diesem Teil der Anfrage Pressemeldungen
Als weitere Aufgabe des Bundespresseamts ist zugrunde, die sich mit der in Vorbereitung be-
die staatspolitische Aufklärung anzuerkennen,
d. h. die Unterrichtung der Öffentlichkeit im *) Siehe Anlage Seite 1435
2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954 1381
(Bundesminister Dr. Schröder)
findlichen neuen gemeinsamen Geschäftsordnung Die Antwort darauf ist einfach, da die Antwort
der Ministerien der Bundesregierung beschäftigen. zu den vorgestellten Fragen verneinend ausgefal-
Bereits die jetzige, seit dem Jahre 1951 in Kraft len ist. Diese voraufgegangenen Fragen gehen von
befindliche gemeinsame Geschäftsordnung, welche unzutreffenden Voraussetzungen aus. Damit ist die
die Regelung der Geschäftsordnung der Reichs- Frage 2 gegenstandslos geworden.
regierung aus dem Jahre 1926 übernimmt, legt in Ich habe bereits eingangs gesagt, daß ich auf
ihrem § 137 die Unterrichtung von Presse und einige der anderen Dinge, die Herr Kollege Kal-
Rundfunk in folgender Form fest: bitzer über den Rahmen der Großen Anfrage hin-
Alle Veröffentlichungen und alle Mitteilungen aus angeschnitten hat, im Laufe der Debatte ein-
an die Presse und den Rundfunk, die über gehen werde.
fachliche Mitteilungen hinausgehen, nament- (Beifall bei den Regierungsparteien.)
lich solche, die politischen Charakter haben
oder politische Wirkungen auslösen können, Vizepräsident Dr. Schmid: Besteht der Wunsch
sind über das Presse- und Informationsamt der nach einer Besprechung der Großen Anfrage?
Bundesregierung zu leiten. Wenn ja, bitte ich um ein Handzeichen. — Es
Die in Vorbereitung befindliche neue gemeinsame waren mehr als 50 Abgeordnete. Ich eröffne die
Geschäftsordnung der Bundesministerien wird an allgemeine Aussprache. Das Wort hat der Abge-
dieser Fassung dem Inhalt nach nichts ändern. ordnete Dr. Dresbach.
Auch in Zukunft werden daher die verschiedenen
Ressorts über ihr jeweiliges Arbeitsgebiet fachliche Dr. Dresbach (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine
Mitteilungen und Auskünfte an Presse und Rund- Damen und Herren! Ich halte es nicht für meine
funk im bisherigen Rahmen geben. Soweit aller- Aufgabe, den einzelnen Angaben nachzugehen, die
dings Nachrichten und Auskünfte einen politischen Herr Kollege Kalbitzer vorgetragen hat. Sozusagen
Charakter im Sinne des § 137 der gemeinsamen die Dessous der Bundesregierung zu studieren,
Geschäftsordnung haben, muß es bei der seit jeher scheint mir auch mehr Aufgabe der Opposition zu
üblichen Regelung schon deshalb bleiben, weil das sein.
Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Heiterkeit.)
die Aufgabe hat, den Publikationsorganen alle Im übrigen bin ich auch der Meinung, daß ein so
wesentlichen politischen Informationen zu über- jugendschöner und eleganter Fechter wie der gegen-
mitteln. wärtige Bundesinnenminister das Sekundantentum
Die Frage 1 b lautet: eines verfetteten Sechzigjährigen nicht benötigt.
Trifft es zu, daß beabsichtigt ist, eine „Bundes (Große Heiterkeit.)
Korrespondenz" kostenlos oder stark verbilligt
herauszugeben? Aber ich halte es für eine ernsthafte Aufgabe, im
Anschluß an diese Dinge etwas über das gesell-
Herr Kollege Kalbitzer hat sich bereits im voraus schaftliche Verhältnis von Presse, Parlament, Re-
von der Antwort befriedigt erklärt. Ich darf sie gierung und Verwaltung zu sagen.
trotzdem verlesen:
Die Bundesregierung hat nicht die Absicht, eine Meine Damen und Herren, noch immer geistert
„Bundes-Korrespondenz" kostenlos oder stark ver- das Wort über die Presseleute von den „verfehlten
billigt herauszugeben. Die Fragestellung bezieht Existenzen" in der Welt herum. Hat sich was mit
-
sich offenbar auf die „Bundes-Korrespondenz und verfehlten Existenzen! Nach zwei Demobilmachun-
Verlags-GmbH." Diese ist ein rein privates Frank- gen, drei politischen Umwälzungen und zwei Wäh-
furter Verlagsunternehmen, rungsentwertungen! Da geht es mitunter nicht
mehr mit dem großen Befähigungsnachweis, son-
(Zuruf des Abg. Kalbitzer) dern da muß man Unterkunft finden.
das seit mehr als vier Jahren besteht. Während (Sehr richtig! in der Mitte.)
der Berliner Konferenz hatte das Bundespresseamt
von einem der Dienste der „Bundes-Korrespondenz Übrigens: das Wort von den verfehlten Existenzen
und Verlags-GmbH." eine größere Anzahl von stammt von dem Herrn Großvater unseres Kol-
Abonnements zur Verteilung vornehmlich an Or- legen Fürsten Bismarck. Er ist ja nicht hier. Die
ganisationen und Verbände bestellt. Seit dem Ende vornehmen Leute sind ja wohl alle in Straßburg.
der Berliner Konferenz ist das Lieferabkommen (Schallende Heiterkeit und Beifall.)
mit dem Frankfurter Verlag ausgelaufen. Es wurde In Bonn ist nur die Dorfbevölkerung zurückgeblie-
und wird nicht erneuert. ben.
Die Frage 1 c lautet: (Anhaltende Heiterkeit.)
Trifft es zu, daß eine Unterrichtung der Presse Nun war dieser Fürst Bismarck ja selber im Zeit-
und die Auswahl der zu unterrichtenden alter des Assessorismus kein Vollendeter, ich will
Presse von einer Mitwirkung des Bundesamtes nicht gerade sagen: eine verfehlte Existenz. Er ist
für Verfassungsschutz abhängig gemacht wer- als preußischer Auskultator abgegangen. Das war
den sollen? damals die Bezeichnung für den späteren preußi-
Die Antwort lautet: Die Bundesregierung hat keine schen Regierungsreferendar. Im übrigen aber war
derartigen Pläne. Von einer Mitwirkung des Bun- er ein trefflicher Schreiber von Artikeln und hätte
desamtes für Verfassungsschutz ist im Zusammen- nach seinem Abgang als Reichskanzler eigentlich
hang mit der Unterrichtung von Presse und Rund- Chefredakteur bei den „Hamburger Nachrichten"
funk niemals die Rede gewesen. werden können.
Ich komme zur Frage 2: (Heiterkeit.)
Ist die Bundesregierung der Auffassung, daß Aber dieses Wort hat er seinerzeit — so habe ich
eine Verwirklichung solcher Pläne mit den es in Erinnerung — wohl im Zorn gesprochen, als
von der Verfassung geschützten Grundrechten er wieder einmal böse war auf seinen Standesge-
der freien Meinungsäußerung und der Presse- nossen, den Freiherrn von Hammerstein, den Chef-
freiheit vereinbar wäre? redakteur der „Kreuzzeitung".
1382 2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954
(Dr. Dresbach)
Wie gesagt, dieses Wort geistert noch immer in Deshalb sollte jedenfalls zwischen Presse und Poli-
der Welt herum und erregt bei den Presseleuten tikern gar keine Feindschaft sein, im Gegenteil
diese üblen Minderwertigkeitskomplexe, die Über- Solidarität.
empfindlichkeiten. Die Presseleute ziehen sich dann (Lebhafter Beifall.)
förmlich in das zurück, was man im letzten Welt- Und nun etwas über das Niveau der Presse. Da
krieg eine Igelstellung nannte. ist neulich mal aus Anlaß der Haushaltsdebatte
(Erneute Heiterkeit.) vom Herrn Kollegen Dr. Schild das Wort von
Ich war im letzten Krieg Nichtkombattant; aber ein der Nivellierung in den Jahren 1918 bis 1933 ge-
Igel, das ist mir als Dorfjunge ein Begriff. Ich fallen. Ich habe ihm damals zugerufen: „Das klingt
habe mir als kleiner Junge bei dem Versuch, eine schon fast wieder wie „Systemzeit!" Aber der Herr
solche Igelstellung aufzubrechen, einmal eine Blut- Kollege Dr. Schild hat diese Dinge wohl vornehm-
vergiftung zugezogen. lich unter dem Gesichtspunkt gesehen, daß damals
(Anhaltende Heiterkeit.) der große Befähigungsnachweis für das Handwerk
Damit will ich aber nicht sagen, daß jede Berüh- noch nicht wieder eingeführt worden war.
rung mit der Presse, also beispielsweise des Herrn (Große Heiterkeit.)
Bundestagspräsidenten Dr. Ehlers mit einem ge- In geistiger Hinsicht kann ich doch nur sagen —
wissen Herrn Rapp ich will nicht gerade wie Ulrich von Hutten sagen:
(große Heiterkeit) Es war eine Lust zu leben —: Wenn ich an diese
Geistesfülle, an diese bunte Mannigfaltigkeit denke
und des Herrn Bundesministers Wuermeling mit vom „Vorwärts" über „Berliner Tageblatt", „Vos-
einem gewissen Herrn Friedländer, gleich eine sische Zeitung", „Germania", „Frankfurter Zei
Blutvergiftung zur Folge hat. tung", „Kölnische Zeitung", „Kölnische Volkszei-
(Anhaltende Heiterkeit.) tung" bis zur „Deutschen Tageszeitung" und zur
Aber sehen Sie, bei dem westgermanischen Nor- „Berliner Börsenzeitung", — meine Damen und
maltypus stellt sich im Anschluß an dieses Wort Herren, ganz ernsthaft gesprochen, wer will dort
gleich eine hochmütige Haltung ein. Zu dem west- sagen, daß das eine Nivellierung geistiger Art ge-
germanischen Normaltypus rechne ich so etwa den wesen sei?!
Herrn Generaldirektor, den Herrn Kolonialwaren- (Lebhafter Beifall.)
händler, den Herrn Regierungsrat und den Herrn Diese Nivellierung ist erst mit der üblen Gleich-
Buchhalter. Ich habe nur einige Typen herausge- schaltung im „Dritten Reich" begonnen worden,
griffen. (erneuter lebhafter Beifall)
(Heiterkeit.)
an der sich ja einige Mitglieder dieses Hohen Hau-
Sie sehen dann in dem Journalisten so etwas wie ses seinerzeit beteiligt haben sollen.
ein leichtgeschürztes Mägdelein. (Große Heiterkeit und Beifall.)
(Anhaltende große Heiterkeit.) Aber da ich ein wahrer Christ bin, bin ich geneigt,
Ja, meine Damen und Herren, wer es in Germa- ihre Sünden zu verzeihen.
nien unternimmt, Dinge, dazu noch schwierige (Erneute Heiterkeit.)
Dinge, in kurzweiliger Form darzustellen, der ist In jene Zeit fällt aber auch die Standessenkung
eben nicht seriös. -
der Presse, obschon man sie öffentlich-rechtlich
(Erneute Heiterkeit.) machte. Damals hat sich der Brauch der Befehls-
„Er läßt doch den rechten E rn st vermissen", wie empfänge, Pressekonferenzen genannt, eingebür-
es in einem Gelegenheitsgedicht des verstorbenen gert, Waschzettel-Entgegennehmen usw. Und es
Kollegen Theodor Fontane hieß. Dieses Gedicht en- soll ja so sein, daß sich auch heute manche Men-
det übrigens mit der resignierenden Feststellung: schen die Presse nur noch bei Pressekonferenzen
„Man bringt es nicht weit bei fehlendem Sinn für und ähnlichen kollektiven Veranstaltungen vor-
Feierlichkeit". stellen können. Da sitzen dann die „Pressebengels",
nicht wahr, den Füllfederhalter gezückt,
Nun darf ich etwas aus der eigenen Erfahrung (große Heiterkeit)
sagen. Ich hatte zum Schlusse meines Lebens, das
trotz Kreislaufstörungen doch noch etwas dauern um dem zu lauschen, was dem Zahngehege von
möge, die Absicht, eine feste Stellung zu beziehen. Wirtschaftskapitänen, Bundesministern und sol-
Aber die Katze läßt das Mausen nicht und der Jour- chen, die es noch werden wollen,
nalist das Artikelschreiben nicht. Da meinten meine (stürmische Heiterkeit)
Arbeitgeber, ich hätte mit diesen Artikeln vorbei entfleuchen könnte.
gefochten; da bin ich als unbrauchbar abgegeben (Anhaltende Heiterkeit.)
worden.
(Heiterkeit.) Die Presse zu belehren gilt auch als gesellschaftlich
höherstehend denn selber zu schreiben. Ich bin von
Dann beschloß ich, ein Politiker zu werden. einem guten Freund in diesem Hause mal gewarnt
(Schallende Heiterkeit und Beifall.) worden, ja hin und wieder mal zu schreiben, aber
Aber, meine Damen und Herren, der Politiker ge- nicht zu viel. „Das erniedrigt Sie!"
hört auch nicht zum westgermanischen Normal- (Große Heiterkeit.)
typus. Sehen Sie, das Presse-Belehren ist auch einfacher;
(Anhaltende Heiterkeit.) denn man kann sich nachher immer damit zurück-
Der Herr Kollege Kalbitzer hat von den siame- ziehen, man sei mißverstanden worden.
sischen Zwillingen gesprochen. Ich bin der Mei- (Erneute Heiterkeit und Beifall.)
nung, daß wir alle draußen als Abnormitäten be- Aber bei dem, der selber schreibt, da gilt das Wort
trachtet werden. meiner Heimat: „Wer schrievt, der blievt".
(Große Heiterkeit.) (Anhaltende Heiterkeit.)
2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954 1383
(Dr. Dresbach)
Dabei ist natürlich in erster Linie an die Ausstel- unter Umständen mal klüger sein als Diplomaten.
lung von Wechseln gedacht; aber man kann es auch Lassen Sie mich dazu ein Beispiel nennen. Der
hier nehmen. seinerzeitige Vertreter der „Kölnischen Zeitung"
(Fortgesetzte Heiterkeit.) in St. Petersburg, Dr. Ullrich, meldete — es war
Zum Thema Schematisierung der Presse. Ich vor dem ersten Weltkrieg — von den Aufmärschen
stelle mir manchmal vor, ein Mann wie Theodor der Russen. Der damalige kaiserliche Botschafter
Wolff hätte seine geistige Nahrung nur in Presse- in Petersburg, Graf Pourtalès, war darob be-
konferenzen bezogen. Für die jüngeren Mitglieder stürzt und berichtete nach Berlin zum Auswärtigen
des Hauses: er war wohl einer der potentesten Amt: „Stimmt nicht, und der Kerl muß in Strafe
Leute des deutschen Journalismus nach der Jahr- genommen werden!" — Gestimmt hat's doch! Das
hundertwende und Chefredakteur des „Berliner Auswärtige Amt sollte die Zeitung und den Redak-
Tageblatts". Meine Damen und Herren, es mag sein, teur belangen; aber das Auswärtige Amt lehnte
daß gleichmäßige Behandlung der Presse in der dieses Ansinnen ab, weil wir ein Rechtsstaat
Demokratie naheliegt. Aber man sollte es nicht zu waren. Meine Damen und Herren, der Herr Abge-
weit treiben. Man sollte den Verkehr — und das ordnete Carlo Schmid hat neulich aus Anlaß der
hat ja auch der Herr Bundesinnenminister dankens- Saardebatte etwas diffamierend über die konstitu-
werterweise anerkannt — nicht nur auf den Be- tionelle Monarchie gesprochen. Aber es waren da-
such der amtlichen Pressestelle der Bundesregie- mals doch noch sehr nette Zeiten in dieser konsti-
tutionellen Monarchie.
rung beschränken.
(Sehr gut! bei der SPD.) (Heiterkeit.)
Ich meine, wir sind uns alle darüber klar: die
Gestern haben wir über den Finanzausgleich ge- eigentliche Schweinerei hat doch erst 1933 ange-
sprochen, ein Thema, das mir nun seit Jahrzehn- fangen!
ten nahe liegt. Sehen Sie, was hätte es denn für
einen Zweck gehabt, wenn ich in solchen Dingen (Erneute Heiterkeit und Beifall in der
— es sind auch politische Dinge, denn sie reichen Mitte und links.)
ins Verfassungspolitische hinein, wie wir gestern — Verzeihen Sie, die ehemaligen Mitglieder der
aus der Kontroverse zwischen meinen bayerischen NSDAP dieses Hohen Hauses, wenn ich Ihr ein-
Freunden und mir gehört haben —, wenn ich stiges Idol
wegen dieser Dinge nun zur Pressestelle gegangen (lebhafter Beifall bei der SPD — große
wäre und hätte dort einen Waschzettel in die Hand Heiterkeit)
bekommen?! Nein, meine Damen und Herren! In so kurzerhand als Schweinerei bezeichnet habe.
früheren Jahren bin ich in solchen Fällen zu den
Finanzausgleichs-Referenten im Reichsfinanzmini- Ich bin der Meinung, daß wir heutzutage in der
sterium gegangen, zu dem Herrn Markull, zu dem gleichen rechtsstaatlichen Situation sind. Oder
Herrn Augustin. Ich würde mir auch heute, wenn können Sie sich vielleicht vorstellen, daß der Herr
ich noch Redaktor wäre, den Weg zu Herrn Fischer- Bundeskanzler den ihm ja manchmal nicht gerade
Menshausen nicht versperren lassen, und der Herr angenehmen Redakteur Sethe von der „Frank-
Bundesfinanzminister würde sich sicherlich in furter Allgemeinen Zeitung" belangen lassen
diesen Weg auch nicht einschalten. wollte, unter Umständen sogar über den Verleger?
Ich möchte nun noch etwas zur Presse sagen. (Zurufe von der SPD: Wollte er!)
Gestern ist von den Gemeinden als dritter Kraft — Nein, das kann ich mir bei dem ausgesprochenen
gesprochen worden. Ich möchte diese Presse als Rechtssinn meines verehrten Herrn Bundeskanzlers
selbständige dritte Kraft wissen. Sie ist nicht nur nicht vorstellen.
dazu da, Paraphrasen zu schreiben zu den Reden (Lachen bei der SPD.)
von Politikern, Wirtschaftskapitänen, Syndici, Ge- Meine Damen und Herren! Man soll tunlichst —
werkschaftsfunktionären und anderen erleuchteten weil ich schon vom Verlag gesprochen habe — den
Geistern. Sie soll natürlich auch nicht nur Weg- Einfluß auf die Zeitungen nicht über die Verleger
weiserin auf dem Markt der Eitelkeiten sein, auch und deren heiligsten Gefühle, die ja meist im Geld-
nicht auf dem Markt der Bosheiten. beutel, Abonnement und Anzeigenteil einbeschlos-
(Heiterkeit.) sen liegen, nehmen.
Zum Recht der Information! Ich darf hier eine (Beifall und Heiterkeit.)
Erinnerung aus meiner Zeit als Redakteur der Das stört den Redakteur; das beleidigt ihn
„Kölnischen Zeitung" auffrischen, an meine Be- wiederum in gesellschaftlicher Hinsicht. Gewiß,
suche bei dem ja wohl noch lebenden Kommerzien- auch die Verleger gehören zur Presse, und es gibt
rat Hermann Röchling, einem der besten Informa so'ne und solche — solche, die auch jedes andere
Gewerbe ausüben könnten, und solche, die be- -toren,dichmLbenkglrt
habe. Er pflegte zu sagen: „Bis hierhin zur Ver- stimmt mit großer Passion dabei sind und sogar
öffentlichung; aber Sie sollen über alles unter- im redaktionellen Teil der Zeitung eine produk-
richtet sein, Sie sollen wissen, was in der Welt tive Angelegenheit sehen, nicht nur im Anzeigen-
vorgeht, und ich habe das Vertrauen zu Ihnen, daß teil.
Sie dieses Vertrauen, das ich Ihnen schenke, wah- (Heiterkeit.)
ren werden." Meine Damen und Herren, ins Ver- Das Recht zur Information steht aber auch der
trauen gezogen werden, ist eine größere gesell- Bundesregierung, der Regierung, der Verwaltung
schaftliche Anerkennung als die Veranstaltung zu. Das Volk hat das Recht darauf, die Meinung
eines Presseballs oder sonstigen Juxes! seiner Regierung zu hören, auch ohne Kommentar,
(Heiterkeit und Beifall im ganzen Hause.) rein nachrichtenmäßig.
So ein Pressemann kann doch auch mal Ratschläge (Sehr gut! in der Mitte.)
geben. Es ist doch nicht nur das Recht ausschließ- Da müssen die Herren von der Presse mit den
lich der Beamten, Syndici und Gewerkschaftsfunk- Kommentaren mal etwas zurückstehen, und der
tionäre, Rat zu geben. So ein Pressemann kann Chronist, der Mann der Dokumentation, der der
1384 2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954
(Dr. Dresbach)
Journalist ja auch ist, muß in den Vordergrund Meine Damen und Herren, gerade in diesem
treten. Beruf, der doch erst durch den Durchbruch des
Zu den Informationen der Bundesregierung darf Liberalismus möglich geworden ist, will mir eine
ich nun schließlich doch sagen, daß sie gar nicht so ständische Verfassung kurios erscheinen. — Ich
schlecht sind. Ich erinnere daran, daß Herr Kollege darf hier meine politischen Freunde bitten, nicht
Gülich beispielsweise die finanzpolitischen Infor- Anstoß daran zu nehmen, wenn ich das Wort „Li-
mationen im Bulletin immer als wohltuend infor- beralismus" gebraucht habe, ohne direkt Anstoß
mierend recht gut herausgestrichen hat. Für solche daran zu nehmen.
Zwecke — das hat der Kollege Kalbitzer aner- (Heiterkeit. — Beifall bei der FDP und
kannt —, für Informationszwecke muß eine Regie- der SPD.)
rung eigene Mittel haben. Ich denke ja auch nicht an unser etwas gespanntes
In der kaiserlichen Zeit ist einmal ein Fall pas- Verhältnis zu der liberalen Partei, sondern ich
siert: da wollte das Reichsamt des Innern unter denke an die Ursprünge des Liberalismus, wo
Leitung des Staatssekretärs Graf Posadowsky- selbst die Gebrüder Reichensperger — das wird
Wehner — der Mann mit dem langen Barte — die meine katholischen Freunde sicher beruhigen —
Presse beeinflussen, hatte aber keinen Titel im sich zum rheinischen Liberalismus gerechnet
Haushalt und ließ sich vom Zentralverband der haben.
Industrie etwas schenken; ich glaube, 20 000 Mark. (Heiterkeit und Beifall.)
Das kam heraus; ich habe es so in der Erinnerung, Aber, meine Damen und Herren, nochmals: die-
daß die „Leipziger Volkszeitung" es aufgedeckt hat. ses Presseproblem will mir nicht als ein Rechts-
Nun ja, der Herr verantwortliche Mann, der Mini- problem erscheinen, sondern als ein gesellschaft-
sterialdirektor von Woodtke, wurde in die Wüste liches. Man braucht nicht immer von der gleichen
geschickt; der Chef blieb. Das soll ja mehr vor- politischen Couleur wie die Regierung und die Ver-
kommen, daß der Chef bleibt und der Diener ab- waltung zu sein. Man braucht auch nicht immer ein
treten muß! Offiziosus zu sein. Sehen Sie, ein Mann wie August
(Große Heiterkeit.) Stein, der seinerzeitige Vertreter der „Frankfurter
Aber ich bitte, hier keine „Lettres persanes" aus Zeitung" in Berlin, war nie ein Offiziosus der kai-
meinen historischen Erinnerungen herauslesen serlichen Regierung; aber er war ein Vertrauens-
zu wollen, also etwa eine Relation Adenauer-Lenz. mann, und das gründete sich auf die gesellschaft-
(Stürmische Heiterkeit.) liche und intellektuelle Qualität.
Ich stelle fest, daß mein Kollege Lenz nicht in die Deshalb, meine Damen ,und Herren: Fort in der
Wüste geschickt, sondern freigestellt worden ist Presse mit den Minderwertigkeitskomplexen! Ich
für wahrhaft freies geistiges Schaffen als Parla- habe Ihnen eben eine Reihe von Namen genannt,
mentarier. auf die die Presse durchaus stolz sein kann. Sie
(Erneute große Heiterkeit und Beifall.) braucht diese Minderwertigkeitskomplexe nicht
zu haben. Sie soll aber auch einmal den Mut
Zum Thema Pressegesetz — ja, meine Damen haben, dies und jenes in den eigenen Reihen als
und Herren, ich muß ehrlich gestehen, ich habe dreckig zu bezeichnen.
noch nie eines gelesen. Brauchen wir wirklich ein
Pressegesetz? (Sehr gut! in der Mitte.)
(Zuruf von der Mitte: Ja!) Selbstbewußtsein gegenüber allen Anfechtungen
Wenn schon, bitte, Herr Bundesinnenminister, — Herr Kalbitzer, nicht nur gegenüber der Bun-
möge Ihnen doch der Lapsus linguae Ihres ver- desregierung und dem Ausgehaltenwerden, son-
ehrten Herrn Vorgängers nicht passieren! Er leitete dern auch gegenüber der Wirtschaft und ein-
dieses Pressegesetz damals mit den Worten ein, es schließlich der Gewerkschaften. Der Kollege Gü-
werde nicht liberalistischen Geistes sein. lich und ich haben uns neulich einmal in Rede und
(Hört! Hört! und Lachen bei der SPD.) Zwischenruf über das Allzuviel von Einladungen
und Frühstücken unterhalten. Ich warne die
Das Wort „liberalistisch" ist, glaube ich, so eine Presseleute, allzu viele Einladungen anzunehmen.
Art Superlativ; erfunden ist es in der Zeit des Nun wollen Sie aber in mir nicht etwa einen Feind
Nationalsozialismus. Wir schleppen sowieso, auch von Küche und Keller sehen!
in unseren Worten, noch viel zu viel Ballast aus (Heiterkeit.)
jener Zeit mit; deshalb bitte ich Sie, diesen Pas-
sus nicht wieder aufgreifen zu wollen. In dieser Beziehung habe ich den Puritanismus
meines bergischen Heimatdorfes längst aufgege-
Meine Damen und Herren! Ich habe eben ge- ben, schon bevor ich bei der CDU aktiv wurde,
sagt: wir haben im Nationalsozialismus die Presse
im öffentlich-rechtlichen Gewande der Organisa- (erneute Heiterkeit)
tion erlebt. Jetzt sollen auch wieder solche Be- und habe mich mehr den lebensfreudigen Ge-
strebungen umgehen: eine Körperschaft des wohnheiten meiner rheinischen katholischen
öffentlichen Rechts für die Presseorganisation. Freunde angeschlossen.
Meine Damen und Herren, das Korrelat jeder (Große Heiterkeit.)
Körperschaft öffentlichen Rechts ist die Staats-
aufsicht! Also, meine Herren Propagandisten für Meine Damen und Herren, die Unkosten des Re-
diese Idee, wollen Sie wieder ein Propagandamini- dakteurs trägt der Verlag. Ich darf Ihnen ver-
sterium? Und, meine Damen und Herren, müssen sichern, daß ich in der Beziehung nie eine billige
wir denn nun für jede Tätigkeit ein Berufs- und Arbeitskraft gewesen und nie zimperlich verfah-
Berufsordnungsgesetz haben? ren bin. Ich habe nach dem Bismarckschen Wort
(Lebhafte Zustimmung bei der SPD, der gehandelt: ..Wenn sich der Deutsche seiner Kraft
FDP und Abgeordneten der CDU.) recht bewußt werden soll, dann muß er erst eine
halbe Flasche Wein im Leibe haben, oder besser
Heinrich Heine: „Und teile wieder ein das Volk noch eine ganze."
nach Ständen, Gilden und Zünften!" (Heiterkeit.)
2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954 1385
(Dr. Dresbach)
Und die ist auch auf die Rechnung gekommen. alle, die ganze Regierungsbank eingeschlossen, wenn
(Große Heiterkeit.) sie besetzt wäre — „Freie Demokraten". Ein solches
Bekenntnis wird allerdings nicht genügen. Es erin-
Der Kollege Eckhardt hat neulich etwas zaghaft nert zu sehr an die bekannte Geschichte vom Präsi-
angefragt, ob man den Alten Fritz zitieren dürfe, denten Calvin Coolidge und der Sünde. Sie kennen
und da habe ich zwischengerufen: „Ist couleur- die Geschichte wohl. Als er berichten sollte, was ein
fähig!" Nun möchte ich einen Mann zitieren, dem bekannter Geistlicher gepredigt hatte, sagte er:
man doch nach 1945 auch wieder etwas die Couleur „Über die Sünde." — „Was hat er nun gesagt?" —
entzogen hat und den man in den Schwarzwald „Er war dagegen." Das ist trefflich zusammen-
geschickt hat. Verzeihen Sie, meine Herren, mit gefaßt. Welcher ehrenwerte Mann wäre nicht gegen
dem Begriff „Schwarzwald" verbinde ich keinen die Sünde, wäre nicht gegen die Unfreiheit? Die
politischen Begriff, Frage ist nur, wo der Pfad der Tugend verlassen
(Heiterkeit) wird und wo die Freiheit endet.
sondern ich falle immer wieder in die reaktionäre Bekanntlich haben selbst die totalitären Staaten,
Sprache der alten Korporationsstudenten zurück; gleich welcher Richtung, immer von einer freien
ich bitte, das zu entschuldigen. — Also, meine Presse gesprochen, von einer Presse nämlich, die
Damen und Herren, einige Worte Bismarcks zum von allen schädlichen Einflüssen — schädlich für
Abschluß. Eines fand ich neulich noch zitiert bei das entsprechende Regime — befreit worden sei.
Heinrich Mann in dem Buch: „Ein Zeitalter wird Man muß also schon etwas genauer definieren,
besichtigt". Es ist das berühmte Wort: „Wo ich sonst erhält das Wort „ehrenwerter Mann" jene
sitze, ist immer oben." Es ist an die Presse gerich- ominöse Bedeutung, die es in der Shakespeareschen
tet. Ich meine nicht oben auf der Pressetribüne, Rede des Marcus Antonius besitzt.
sondern auch anderswo, auch bei den imitierten
Hofgesellschaften dieser republikanischen Welt. Man kann es ganz schlicht und einfach aus-
drücken: die Presse ist dann wirklich frei, wenn sie
(Große Heiterkeit und Beifall.) wahrheitsgemäß berichten kann und wenn Jour-
Und ein weiteres Bismarckwort, das er einmal nalisten und Redakteure nur ihrem Gewissen ver-
gebrauchte, als er die preußischen höheren Beamten antwortlich sind, nicht aber der Lenkung durch
gegen die süddeutschen herausstrich. Ich bitte aber politische oder materielle Einflüsse unterliegen.
die Freunde aus Bayern, nicht wieder Anstoß zu Eine solche Presse und n u r eine solche ist ein
nehmen; ich gebrauche es ganz allgemein, ohne die integraler Bestandteil des demokratischen Ver-
Mainlinien-Demarkierung. Er spricht einmal davon fassungslebens.
— und ich darf es ergänzen —: Wir brauchen Men- In diesem Sinne hat ein kluger Mann, der ehe-
schen, „deren Gerechtigkeitsgefühl durch ihren malige italienische Ministerpräsident Alcide de
Bildungsgrad geschärft wird." Möge die Presse im- Gasperi, von den zwei Säulen der parlamenta-
mer mit solchen Menschen in der Regierung, in der rischen Demokratie gesprochen. Die eine dieser
Verwaltung, in der Wirtschaft usw. zu tun haben; Säulen, meinte er, sei das Parlament mit seinen
dann kann es nicht fehlen. Abgeordneten, die andere Säule die Presse, ge-
Meine Damen und Herren! Ich denke nicht an tragen von freien Jou rn alisten. Ich möchte diesen
den Zustand ewigen. Sonnenscheins und brüder- Gedanken ergänzen. Zum Schutz des Verfassungs-
licher Umarmung oder an die schönen Trinksprüche lebens gibt es zwei Kontrollen. Die eine dieser
zwischen Suppe und Fisch bei Festessen und an- Kontrollen ist die Opposition, die andere die öffent-
deren festlichen Gelegenheiten. Ich darf zum Schluß liche Meinung. Beide gehören zusammen. Die
ein Wort aus den Sprüchen Salomonis zitieren, das öffentliche Meinung ist von zusätzlicher Bedeu-
mein hoher Lehrmeister Wilhelm Raabe einmal als tung, wenn eine Partei die absolute Mehrheit be-
Motto einem Roman vorangestellt hat, und so sitzt und damit die parlamentarische Opposition
denke ich mir das Zusammenleben: „Ein Messer eingeschränkt ist. Dabei handelt es sich sowohl um
wetzet das andere und ein Mann den anderen." die Opposition im eigentlichen Sinne wie auch um
(Langanhaltender lebhafter Beifall das, was ich die Opposition innerhalb der Koali-
im ganzen Hause.) tion nennen möchte, die für eine lebendige Demo-
kratie ebenfalls wesentlich ist. Selbst bei allem
Vizepräsident Dr. Schmid: Das Wort hat nun- guten Willen, den wir voraussetzen wollen, er-
mehr der Abgeordnete Hubertus Prinz zu Löwen- geben sich aus unserer heutigen Lage daher ernst-
stein. hafte Gefahren. Sie liegen in der menschlichen
Natur, in der Dehnbarkeit des Freiheitsbegriffes.
Wenn eine Partei die absolute Mehrheit besitzt —
Dr. Dr. h. c. Hubertus Prinz zu Löwenstein (FDP): und diese Partei besteht wie alle Parteien aus
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist Menschen —, wie leicht kann da der Gedanke auf-
nicht leicht, nach einer so hervorragenden Rede, kommen, ein altes Sprichwort ein wenig zu vari-
die gleichzeitig einer der brillantesten Leitartikel ieren: „Und die Presse absolut, wenn sie unsern
gewesen ist, die ich je vortragen gehört habe, zu Willen tut."
diesem Thema zu sprechen. Ich darf vielleicht da-
mit beginnen, daß meine politischen Freunde der Die Kritik an der Presse ist ja ziemlich weit ver-
Meinung sind, daß wir uns füglich nicht Freie breitet. Kollege Dr. Dresbach sprach darüber. Er
Demokraten nennen dürften, wenn wir nicht stets erwähnte jene Empfindsamkeit, die man heute
für eine wirklich freie Presse eintreten und recht- beobachten kann. Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt
zeitig alles abwehren wollten, das diese Freiheit in er auch Empfindsamkeit, und je höher das Amt,
irgendeiner Weise bedrohen könnte. Nun ist es desto höher manchmal auch diese Empfindsamkeit.
freilich so: würde die Frage gestellt werden, wer (Beifall bei der FDP.)
etwa für die Unfreiheit der Presse ist, dann würde Es wird nun darauf ankommen, auch innerhalb
dies ein jeder mit Empörung von sich weisen. der Journalistenkreise — ich selber bin Journalist
Darüber besteht ja volle Einmütigkeit. So sind wir — das Bewußtsein zu verstärken, daß der Journa-
wenigstens in diesem einen Punkte alle — ich sage: lismus verantwortlich handeln muß, wenn er selber
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(Dr. Dr. h. c. P rinz zu Löwenstein)
die Gefahren abwehren will, die seinem Berufs- tung. Wir geben zu, daß es sich hier um ein schwie
stande drohen. Aber eines muß gleich hinzugefügt riges Problem handelt. Denn andererseits hat es
werden. Die deutsche Presse hat aus dem Nichts auch bedauerliche Fehlleitungen von Informationen
aufgebaut, nachdem durch die nazistische Diktatur gegeben, etwa in der Dienststelle Blank, wobei ich
die große Tradition, von der auch Kollege Dresbach z. B. an die Schocktherapie der Fragebogen denke.
gesprochen hat, zerschlagen worden war. Heute ge- Ein wenig mehr public relations wäre angebrach-
nießen doch deutsche Blätter wieder Achtung in ter als dieser neuentstandene Stab von Presse-
der ganzen Welt, und ein verantwortungsbewußter abwehrbeamten in den Ministerien.
Stand von Verlegern, Redakteuren und Journalisten Es hat doch zweifellos den Versuch gegeben,
ist neu entstanden. Der Takt verbietet uns, die Le- eine Monopolstellung zu schaffen. Ich freue
benden zu nennen unter den großen Journalisten, mich wiederum, daß Kollege Dresbach auf
die wir auch heute wieder haben, die sich vielleicht diese andere heikle Frage einging, die ich auch
schon wieder würdig an die Seite eines Theodor stellen wollte: ob es stimmt, daß man durch Druck
Wolf f und der anderen stellen können, die wir, auf die Geldgeber und Verleger versuchen wollte,
die Älteren, noch gekannt haben. Aber wenn die oder immer noch versucht, unliebsame Korrespon-
Lebenden nicht genannt werden sollen, gebietet es denten und Redakteure loszuwerden.
die Pflicht, heute an dieser Stelle und in diesem Selbstverständlich ist es das gute Recht jeder
Rahmen eines Verstorbenen zu gedenken, nämlich Regierung, ihren Standpunkt klarzumachen. Aber
Erik Regers , der so unendlich viel für den Auf- bedenklich wird das, wenn hier eine allzu bewußte
bau der deutschen Presse und für eine wahrhafte und einseitige Lenkung einsetzt. Siehe all das, was
Freiheit des Geistes in Berlin und in ganz Deutsch- wir während der Filmdebatte gehört haben! Es ist
land getan hat. zwar legitim, daß eine Regierung ihr eigenes Nach-
Meine Damen und Herren, auf die Gefahren, die richtenorgan hat. Doch wenn ich so an manche
in der heutigen Lage begründet sind, wurde neu- Äußerungen des Moniteur bzw. des Bulletins
lich schon anläßlich der Filmdebatte hingewiesen. — wie der deutsche Name dieses Blattes heißt —
Unser Freund und Kollege Dr. Erich Mende hat denke, dann werde ich doch ein wenig mit Sorgen
diese Gefahren sehr prägnant herausgestellt. Das erfüllt. Etwa bei der Art der Berichterstattung
starke Echo, das er in der Öffentlichkeit gefunden nach der Debatte vom 29. April und was die Aus-
hat, hat bewiesen, daß das Richtige getroffen legung betrifft, die dem Art. 24 des Grundgesetzes
wurde. Denn wo setzt die Unfreiheit denn ein? Wie im „Bulletin" gegeben wurde! Wir wollen nicht
ist die Freiheit zu definieren? Kollege Dresbach hoffen, daß es zu den pressepolitischen Plänen der
ermutigt mich, einen Pleonasmus zu verwenden. Bundesregierung gehört, aus dem „Bulletin" ein
Die Freiheit, meine Damen und Herren — pleona- weiteres, im Grundgesetz nicht vorgesehenes Organ
stisch ausgedrückt—, muß eine liberale Freiheit sein. der authentischen Interpretation dieses Grund-
(Beifall bei der FDP.) gesetzes zu machen.
Dabei möchte ich insbesondere den Herrn Bundes- Pressefreiheit ist Teil der allgemeinen Meinungs-
familienminister um Vergebung bitten, nicht so freiheit. Sie kann nur gedeihen in einer Atmo-
sehr wegen des unschönen Pleonasmus als vielmehr sphäre innerer, lebendiger Freiheit, in einer Atmo-
wegen des Wortes „liberal". sphäre, wo es keinen, vielleicht gar noch geschürten
Unfreiheit setzt nicht erst bei physischem Zwang Haß zwischen den Konfessionen gibt, in einer
ein. Er steht selten am Anfang. Auch die Bücher- Atmosphäre, wo nicht der eine oder der andere -
verbrennungen im „Dritten Reich", die Gleichschal- Volksteil diskriminiert wird. Meine politischen
tung der Presse, die Austreibung aller freiheitlichen Freunde hätten sicherlich ein weit größeres Ver-
Journalisten waren nicht der Anfang, sondern es trauen in die Auskünfte über die pressepolitischen
ging allen diesen Maßnahmen eine jahrzehntelange Pläne der Bundesregierung, wenn sie immer sicher
Hetze gegen den angeblich „volks- und sitten- sein könnten, daß in dieser Pressepolitik stets die
verderbenden Liberalismus" voraus. richtigen, die freiheitlichen Kräfte zum Tragen
(Sehr richtig! bei der FDP.) kommen.
Unfrei sind Verleger und Journalisten nicht erst Da hat es aber nun schon mancherlei Verwirrung
dann, wenn unmittelbare Gewalt sie zum Werk- gegeben. Es gibt eben mancherlei Redner. Die Be-
zeug der herrschenden politischen Richtung macht; einflussung der Öffentlichkeit in einem ganz be-
unfrei sind sie nicht erst dann, wenn, wie ein bit- stimmten, nicht unbedingt als freiheitlich zu be-
terer Scherz im „Dritten Reich" lautete, das Pro- zeichnenden Sinn ist dann trotz aller Dementis
pagandaministerium für die offenherzigste und eben doch sehr stark. Ich will gar nicht noch einmal
wahrheitsgemäßeste Berichterstattung drei Preise auf die Angelegenheit mit der „liberalen Meute"
aussetzt, nämlich zwei, fünf und zehn Jahre Kon- eingehen. Offen gesagt, ich habe diese Sache nie
zentrationslager. allzu ernst genommen. Ich habe vielmehr ange-
Von entscheidender Bedeutung für die Freiheit nommen, daß so, wie neulich „Don Carlos" zitiert
der Presse ist der freie Strom der Nachrichten. Wir wurde, jetzt vielleicht Wilhelm Busch zitiert wer-
haben mit Befriedigung gehört, daß kein Über- den sollte, obwohl es besser gewesen wäre, wenn
ministerium geplant sei. Wir wollen hoffen, daß man die Anführungszeichen deutlicher gesetzt
dies als absolut betrachtet werden kann und daß hätte. Vielleicht dachte der Herr Bundesfamilien-
es sich nicht bloß um eine Verzögerung handelt, minister an jene Einleitungsverse zur „Frommen
wie eben in diesem Jahr überall der Lenz mit Ver- Helene" von Wilhelm Busch, die ich etwa so para-
spätung, aber dann doch ins Land kommt. Geplant phrasieren möchte:
war es ja doch wohl; dieser Planung nach sollten Schweigen will ich von Lokalen,
alle Nachrichten über das Bundespresse- und Infor- Wo der Böse nächtlich praßt,
mationsamt geschleust werden. Das würde übrigens — das ist dann wahrscheinlich der Presseklub in
dem Art. 65 des Grundgesetzes nicht entsprechen. der Koblenzer Straße beim wöchentlichen Bier-
Wenn auch der Bundeskanzler die Richtlinien der abend der FDP —
Politik bestimmt, leitet doch jeder Minister sein Wo im Kreis der Liberalen
Ressort selbständig und unter eigener Verantwor Man die Volkszensura haßt.
2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954 1387
(Dr. Dr. h. c. Prinz zu Löwenstein)
Im Ausland freilich hat das keinen sehr günsti- hat. Bemerkenswert ist nur, daß gerade das Aus-
gen Eindruck hervorgerufen; denn das Wort „libe- wärtige Amt in seiner Pressestelle unterbesetzt
ral" ist dort ein Ehrentitel, den auch jeder Kon- ist, soviel ich weiß, mit einem einzigen Beamten.
servative mit Stolz trägt. Aber lassen wir das! Im Ausland ist es ähnlich. Die Pressestellen der
Botschaften und Gesandtschaften sind unterbesetzt;
Nur auf eines sei noch hingewiesen, wie es unser man kann sie gar nicht vergleichen mit den Presse-
Freund Mende neulich auch bei der Filmdebatte stellen der Botschaften und Gesandtschaften der
tat. Es ist etwas sehr Wichtiges. Eine solche Beein- anderen Länder.
flussung der Öffentlichkeit fügt auch dem Christen
tum Schaden zu, weil nämlich dieses, das doch Es wird in der letzten Zeit viel von der Selbst-
Himmel und Erde und alle Menschenseelen um- kontrolle gesprochen. Es ist noch nicht ausgegoren,
faßt, damit zu einer Parteiangelegenheit herab- auch in Journalistenkreisen noch nicht. Ich darf
gewürdigt wird. Es könnte dann so aussehen, als vielleicht ein Wort der Warnung einfügen. Richard
ob man die Grenzen des Christentums in Deutsch- Tüngel hat wohl nicht mit Unrecht in der „Zeit"
land sozusagen an den Bankreihen dieses Hauses vom 8. April gesagt, daß hier ein Weg beschritten
ablesen könnte. würde, der zu einer unzulässigen Einschränkung
der verbrieften Grundrechte führen könnte und
(Zuruf von der Mitte: Sehr geistreich! —
Unruhe und weitere Zurufe.) schließlich zu einer neu-Goebbelsschen Schriftstel-
lerliste und zu einer ebensolchen Pressekammer.
Meine Damen und Herren, kehren wir zu den Ich würde also doch den Rat geben, daß dieser
Nachrichten zurück. Viele, korrekte Nachrichten Punkt gerade in Kreisen der Journalisten und Kol-
sollen ausgegeben werden. Staatliche Stellen sollen legen noch sehr eingehend diskutiert wird, bevor
nicht die Kinderfrau spielen, die die Nachrichten man zu Endgültigem kommt.
an die Kleinen tropfenweise ausgibt, so à la Chri-
stian Morgenstern „ein halber Eßl- und ein Teel-" Schwere Gefahren, meine Damen und Herren,
voll von Nachrichten. Das verärgert. Die Jour- auf die wir hinweisen müssen, liegen in der Be-
nalisten sind eben auch Menschen, und es gilt auch schlagnahme von Zeitschriften auf Grund des § 94
für sie das Wort Nietzsches: „Was du von einem der Strafprozeßordnung" Ich denke hier an die Be-
Menschen denkst, das entzündest du in ihm"! Ver- schlagnahme der „Post" in Stuttgart im Falle Klett,
trauen und mehr Vertrauen und Nachrichten und an dessen Aufklärung doch wirklich ein öffent-
mehr Nachrichten, und das Verhältnis zwischen liches Interesse bestand,
Parlament und Regierung wird ein ganz anderes (Sehr richtig! bei der FDP)
werden! Die Presse muß ein Zwiegespräch sein, an die Beschlagnahme der „Revue" in München
und wenn es der Regierung nicht gelingt, zu über- und an die Beschlagnahmung des „Spiegel" unter
zeugen, was sie versuchen soll, dann braucht ja Anwendung desselben Paragraphen, in dem es
nicht notwendigerweise immer die Presse daran heißt:
schuld zu sein. Auch die oppositionelle Presse ist Gegenstände, die als Beweismittel für die Un-
Sprachrohr des demokratischen Staates und not- tersuchung von Bedeutung sein können oder
wendig für diesen, sonst erfährt das Volk vielleicht der Einziehung unterliegen, sind in Verwah-
gar nicht, wie klug oder daß es überhaupt regiert rung zu nehmen oder in anderer Weise sicher-
wird. zustellen.
Bevorzugungen wird es immer geben. Denn auch -
„Einziehung" auf Grund der §§ 40 ff. des Strafgesetz-
jede Regierung besteht aus Menschen, und das hat buchs erfolgt nur auf Grund eines rechtskräftigen
sie nun eben mit den Journalisten gemein. Aber Urteils. Hier scheint mir eine große Gefahr gege-
die Unfreiheit beginnt, wenn objektive Maßstäbe ben zu sein, nämlich daß wir in eine präventive
ausgelassen werden, wenn dieses de Hondtsche Justiz hineingeraten, sozusagen in eine Schutzhaft
System etwa bei Reisen und anderen Anlässen, bei für die Presse. Wenn man Presseerzeugnisse als
Eskorten in den USA oder in der Türkei allzu Beweismittel beschlagnahmt, dann genügen ja —
strikt angewandt wird, wenn man aus den Journa- ich will ganz large sein —, 12 Stück, man braucht
listen sozusagen Hofrangklassen bildet nicht 100 000 Exemplare zu beschlagnahmen. Wir
(Sehr wahr! bei der SPD) können sehr gespannt sein, wie die Feststellungs-
mit Zirkeln: die guten, die mittelguten und die klage in Karlsruhe ausgehen wird. Von diesem
bösen. Urteil wird sehr viel abhängen. Die Pressefreiheit
(Ausgezeichnet! bei der SPD.) ist ja gegeben nicht nur, damit wir unsere Meinung
äußern können, sondern damit sich die öffentliche
Da ich Alcide de Gasperi zitierte, darf ich viel- Meinung bilden kann. Zum Schutze der Bildung
leicht noch einmal auf das italienische Beispiel hin- dieser öffentlichen Meinung muß daher davor ge-
weisen. In Italien haben alle Journalisten ohne warnt werden, den § 94 in so extensiver Weise an-
Unterschied der Partei von Staats wegen freie Büros, zuwenden.
Telephone, Sekretärinnen und praktisch freie Fahrt.
Sie werden praktisch behandelt wie die Abgeord- Wir haben mit Befriedigung davon gehört, daß
neten. Natürlich, bei uns vollzieht sich der demo- das Verfassungsschutzamt nicht eingeschaltet ist.
kratische Ausgleich in anderer Weise, dadurch Meine Damen und Herren, wir haben einen Bundes-
nämlich, daß auch die Abgeordneten streng genom- staat mit großen föderalen Rechten, und so haben
men keine Büros haben. wir auch viele, viele Verfassungsschutzämter in
deutschen Landen, so viele, daß schon der Seufzer
(Sehr richtig! bei der FDP.) laut wurde: Wer schützt die Verfassung vor den
Der Apparat zur Nachrichtenversorgung, der Verfassungsschutzämtern? Da ist der Fall des Jour-
heute da ist, sollte ausreichen: das Bundespresse- nalisten Heinrich David in Wiesbaden, auf den ich
und Informationsamt mit 31 Beamten, 313 Ange- kurz hinweisen möchte, eines ausgezeichneten und
stellten und 33 Arbeitern, dazu die Pressestellen verantwortungsbewußten, durch und durch demo-
der Ministerien plus Pressestellen, die uns der kratischen Journalisten, der, wie auch Ihnen all-
Föderalismus, der gesegnete und so teure, beschert gemein bekannt sein dürfte, sehr unmittelbar unter
1388 2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954
(Dr. Dr. h. c. Prinz zu Löwenstein)
Druck gesetzt wurde, um von ihm Schriftstücke, Bundesfinanzminister selbst im Stollfuß-Verlag in
die er durchaus legitim erhalten hatte, herauszu- Bonn herausgegeben wurde. Es handelt sich um die
bekommen, und der dann vom Innenministerium Lohnsteuerrichtlinien 1954 über die Werbungs-
für die Wahlnacht, in der die Ergebnisse bekannt- kosten und Pauschalsätze verschiedener Berufs-
gemacht wurden, ein Hausverbot erhielt. Das sind gruppen, die gegenüber den Journalisten höchst
Dinge, die zu denken geben. Oder ich nehme einen begünstigt erscheinen. 25 % ohne Höchstsatz ge-
anderen Fall, der so am Rande auch hereingehört. nießen z. B. Bauchredner und Imitatoren,
Erst vor wenigen Tagen erfuhr ich, daß die Kri- (Heiterkeit)
minalpolizei bei einem Stuttgarter Journalisten,
einem absolut demokratisch gesinnten Mann, vor- ebenfalls 25 % Komiker, Humoristen und Ansager.
sprach, um auf Ersuchen der französischen Besat- Akrobaten, in Klammern steht „Parterre-Akroba-
zungsmacht aus ihm herauszukriegen, woher er ten", — das gilt also wohl nicht für politische Wahl-
bestimmte Informationen über französisch-sowje redner, sondern nur für die Zuhörer —
tische Geheimbesprechungen bekommen habe. (erneute Heiterkeit)
(Hört! Hört! in der Mitte.) genießen 30%, und . am schönsten finde ich das mit
Das sind wiederum Dinge, die nicht in das Jahr den „Zauberkünstlern in Solo"; sie haben 40%
1954 hineinpassen. ohne Höchstsatz. Ich nehme an, daß die Hasen, die
sie aus dem Hut herausziehen müssen, sehr teuer
Meine Damen und Herren, ich habe bewußt das geworden sind. Ja, was ist denn da mit den „Enten"
Materielle nicht in den Vordergrund gestellt, aber der Journalisten, die kosten doch auch einiges?
auch dazu ist noch einiges kurz zu sagen: Presse- Diese Journalisten haben nur 20 % als freie Jour-
fonds — um keinen härteren Ausdruck zu ge- nalisten mit 200 DM Höchstsatz und die fest ange-
brauchen — wird es immer geben. Aber wir kön- stellten 15, ebenfalls mit 200 DM. Man dürfte hier
nen die Anfälligkeit der schwachen menschlichen also doch zwischen den Zauberkünstlern in Solo,
Natur vielleicht ein wenig mindern, wenn wir die- den Bauchrednern, Humoristen oder Akrobaten
sen Stand besserstellen; denn kaum ein anderer und den Redakteuren und Journalisten zu einem
Berufsstand ist in seiner Existenz so ungesichert arithmetischen Mittel, zu einem wahrhaft demo-
wie der Journalistenstand, und zwar auf allen sei- kratischen Ausgleich kommen.
nen Stufen. Da ist die Not der jungen Journalisten: (Vizepräsident Dr. Jaeger übernimmt
Honorare! Sie müssen nehmen, was sie bekommen, den Vorsitz.)
und wann bekommen sie es denn?! Und da ist die Ich darf zusammenfassen. Der Aufbau unserer
Sorge bei den älteren Journalisten und Redakteu- Presse nach 1945 ist ein Werk, auf das wir nicht
ren. Es liegen nun ganz konkrete Vorschläge zur
Altersversorgung vor, zur Gleichstellung des „Ver- minder stolz sein können als auf den Aufbau unse-
rer Städte und unserer materiellen Existenz.
sorgungswerks der Presse" in Stuttgart mit der Geschichtlich gesehen mag es sogar von noch grö-
gesetzlichen Sozialversicherung und zur Umstel- ßerer Bedeutung sein; denn die Flamme des Gei-
lung der Versicherung bei der ehemaligen Versor- stes, die hier neu entzündet wurde, kann durch keine
gungsanstalt der deutschen Presse im Verhältnis
eins zu eins. äußerliche Gewalt mehr zerstört werden, wenn wir
sie nicht selber preisgeben. Diese Gefahren abzu-
Ich meine, der Deutsche Bundestag wird sich zur wehren, ist die vordringlichste Aufgabe, an der die
'gegebenen Zeit damit befassen müssen. Ich darf Presse und die verfassungsmäßigen Organe der
vielleicht auf die Sozialenquete hinweisen, die die -
Bundesrepublik zusammen arbeiten müssen. Man
moralische Unterstützung des Herrn Bundespräsi- darf wohl, und das erscheint mir von besonderer
denten gefunden hat. Im Augenblick wird eine Bedeutung, folgendes sagen: Es handelt sich hier
Presseenquete zur Untersuchung der Gesamtlage um ein gesamtdeutsches Anliegen. An der Freiheit
durch einen parlamentarischen Untersuchungs- unserer Presse wird man uns erkennen. Diese Frei-
ausschuß nach dem Beispiel der britischen Royal heit wird für uns überall in der Welt Vertrauen
Commission von 1949 vorgeschlagen. Ich würde werben, besonders dort, wo deutsche Menschen
mir auch die Einsetzung eines parlamentarischen leben, die ihrer demokratischen Meinungs- und
Gremiums zur Kontrolle der Pressefonds vorzu- Gewissensfreiheit auch heute noch beraubt sind.
schlagen erlauben. (Beifall in der Mitte und rechts.)
Nun darf ich vielleicht trotz seiner Abwesenheit
noch ein Wort an den Herrn Bundesfinanzminister
richten. Ich tue das als ganz freier Demokrat, als Vizepräsident Dr. Jaeger: Das Wort hat der Ab-
Journalist sogar, also nahezu als vogelfreier Demo- geordnete Brandt.
krat.
(Heiterkeit.) Brandt (Berlin) (SPD): Herr Präsident! Meine
Das Wort betrifft die Umsatzsteuer, die unethisch Damen und Herren! Meine politischen Freunde und
und unberechtigt ist; denn Geist ist keine Ware. ich haben gern zur Kenntnis genommen, daß die
(Beifall in der Mitte und rechts.) Bundesregierung keine Pläne verfolgt, die ihrer
Meinung nach geeignet sind, die Freiheit und die
Hier liegt auch ein Denkfehler vor; denn Ware, Unabhängigkeit der Presse zu beeinträchtigen. Nun
wenn man überhaupt so sagen will, entsteht erst könnte man vielleicht fragen, ob es dann so sei, daß
durch den Druck. Eine völlige Befreiung müßte an- manche von uns in diesem Hause auf der einen
gestrebt werden, und das gleiche müßte natürlich Seite und auf der andern Seite und manche in der
auch für die anderen freien Berufe gelten. Mitte Gespenster sähen. Ja, vielleicht ist es wirk-
Ein zweites Anliegen an den Herrn Bundesfinanz- lich so. Vielleicht meint der eine und der andere
minister — ich hoffe, er erfährt es durch die von uns, daß aus der deutschen Wirklichkeit des
Presse — betrifft die Pauschalsätze für Werbungs- Jahres 1954 manche Gespenster verscheucht wer-
kosten der Journalisten, freie und fest angestellte. den müßten. Im übrigen ist sich, wie auch aus den
Ich darf dazu, nicht wörtlich, nur paraphrasierend, Ausführungen des Herrn Kollegen Prinz zu Löwen-
aus einem kleinen Werk zitieren, das vom Herrn stein zu erkennen war, ja wohl nicht die ganze
2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954 1389
(Brandt [Berlin])
Regierung darin einig — so habe ich es verstan- Ich denke an Fälle, in denen sich Amtsrichter ziem-
den —, daß im Zusammenhang mit der Pressefrei- lich forsch zur Ausübung einer Zensur berufen
heit kein akutes Problem vorliege. fühlten.
(Abg. Dr. Menzel: Sehr gut!)
In einem Bulletin der Freien Demokratischen
Partei, Bundesgeschäftsstelle Bonn, vom 31. März Ich denke an den Fall eines Oberstadtdirektors, der
dieses Jahres war — ich zitiere — zu lesen: die Journalisten aufforderte, sich bei der Bericht-
erstattung über bestimmte Sitzungen nur auf die
Der Generalangriff auf die Freiheit der Mei- Mitteilungen der Stadtverwaltung zu beschränken.
nung hat überall dort begonnen, wo diese über Ich denke an andere Fälle, in denen Journalisten
ihre entscheidenden Bastionen verfügt: in der von städtischen Informationsmöglichkeiten ausge-
Presse, dem Film und am Ende dem Rund- schlossen worden sind, weil ihre Berichterstattung
funk. Der Bestand der Meinungsfreiheit den Stadtgewaltigen nicht behagte. Ich denke an
— so hieß es an jener Stelle weiter — den sogenannten Maulkorb-Erlaß des Innen- und
ist in seinem Kern bedroht. Es ist höchste Zeit, Sozialministers von Rheinland-Pfalz, der seinen
sich zur Wehr zu setzen. Beamten die Auskunftserteilung an die Presse
untersagte. Ich lasse den etwaigen Einwand nicht
Vielleicht sind solche Worte nicht immer so ernst gelten, daß diese Dinge hier nicht hergehörten.
gemeint, wie sie geschrieben werden. Wir haben Hier gehört alles her, was die Grundlagen und die
heute bemerkenswerte Worte in der Aussprache Grundfragen der Demokratie betrifft!
gehört, so auch das Wort von der Opposition in der (Beifall bei der SPD.)
Koalition. Aber es kam in dieser Debatte unab-
hängig von den Parteigrenzen doch wohl auch eine Es geht darum, meine Damen und Herren, ob
Sorge zum Ausdruck, die beträchtliche und, wie ich der Bund ein gutes oder ein schlechtes Beispiel gibt,
meine, nicht die schlechtesten Kreise unserer Be- ob in Bonn gute oder schlechte Normen gesetzt
völkerung erfaßt hat. Wir sollten darüber in aller werden. Es war, wenn ich das sagen darf, gewiß
Ruhe miteinander reden, zumal es um Dinge geht, kein gutes Vorbild, als draußen der Eindruck ent-
die bei weitem nicht immer nur mit dem guten stehen konnte, als wollte sich ein ohne jeden Zwei-
oder bösen Willen der Beteiligten, sondern auch und fel überaus wohlmeinender, aber in dieser Sache
vielfach primär mit gesellschaftlichen Entwicklun- doch wohl übereifriger Kollege zum Zensor über
gen zu tun haben, die nicht ganz leicht zu meistern die von uns zu erwerbende Literatur aufschwingen.
sind und dennoch gemeistert werden müssen. (Sehr wahr! bei der SPD.)
Es war keine gute Sache, als der Innenminister der
Worauf ist denn die berechtigte Sorge zurückzu-
vorigen Bundesregierung den Versuch unternahm,
führen, von der ich gesprochen habe? Darauf, daß
einen der bekannteren Rundfunkkommentatoren
sich in unserer Gesellschaft die Tendenz zu büro-
kratischer Bevormundung verstärkt hat, daß die abzuservieren. Und man muß, ohne die Reden des
Herrn Familienministers wichtiger zu nehmen, als
Neigung zur Unduldsamkeit zunimmt, daß obrig-
keitsstaatlich vorgedacht wird, wo zu staatsbürger- die Auslassungen irgendeines Mitgliedes der Bun-
desregierung zu nehmen sind, sagen: es war gewis-
lichem Nachdenken angeregt werden sollte. sermaßen doch ein Schlag unter den Gürtel — ich
Meine Damen und Herren, ich möchte Ihre ge- muß hier in der Sache meinem Vorredner bei-
schätzte Aufmerksamkeit auf eine Entschließung pflichten —, als Herr W u e r m e l i n g seine sicher-
lenken, die die dritte Generalversammlung des lich nicht immer sehr rücksichtsvollen Kritiker
Internationalen Presseinstituts in Wien vor etwa mit dem Kennwort „die ganze liberale Meute" ab-
einer Woche angenommen hat und in der es heißt: stempeln wollte, die angeblich ihren ,,Monopolan-
spruch auf Beherrschung der öffentlichen Meinung"
Die Generalversammlung stellt mit ernster bedroht fühle.
Sorge fest, daß auch in Ländern, die sich zur
Demokratie bekennen und deren Regierun- (Zuruf von der SPD: Der sitzt da und
gen den Gedanken, diktatorische Gewalt anzu- lacht! — Abg. Dr. Menzel: Der spielt den
wenden, weit von sich weisen würden, Ten- Märtyrer!)
denzen bestehen, die Freiheit der Presse durch Der Herr Bundeskanzler hat sich vor wenigen
neue oder durch die Auslegung bestehender Wochen auf der Jahreshauptversammlung des
Gesetze einzuschränken. Deutschen Journalistenverbandes zum Recht der
Presse auf Kritik bekannt. Ich folge dabei einem
Es geht hier gar nicht allein um eine Ausein- Bericht im Mitteilungsblatt der im DGB zusam-
andersetzung mit der Regierung. Es geht um be- mengeschlossenen Journalisten. Der Bundeskanzler
denkliche Tendenzen in unserem gesamten öffent- erklärte, Kritik sei absolut notwendig, und er bat
lichen Leben. Es geht nicht zuletzt auch um das um gegenseitiges Vertrauen. Das sind Worte, die
vielfach anmaßende und wenig geistvolle Verhalten nicht stark genug unterstrichen werden können.
derer, die Schlüsselpositionen in den Zusammen- Aber ich frage mich: berichtet denn niemand dem
ballungen wirtschaftlicher und politischer Macht Herrn Bundeskanzler über Vorgänge, die das von
ausüben und die nicht immer besonders- geneigt ihm proklamierte und im Grundgesetz verbriefte
sind, sich einer öffentlichen oder gar demokrati- Recht auf Kritik, auf freie Meinungsäußerung in
schen Kontrolle zu unterwerfen. Frage stellen? Weiß der Herr Bundeskanzler denn
nicht und weiß der Herr Bundesminister des Innern
Manche Einzelvorgänge in unserem Land soll- nicht, daß sich hier in Bonn Vertreter der Presse
ten uns zu denken geben und sollten von uns in in einer Mehrzahl von Fällen einem peinlichen und,
ihrer weitreichenden grundsätzlichen Bedeutung wie ich sage, unstatthaften Druck ausgesetzt gefühlt
richtig gewertet werden. Ich denke dabei wie mein haben? Ist es nicht so, daß sich untadelige Journa-
Herr Vorredner an die Beschlagnahme von Zeitun- listen auf peinliche Weise überwacht, beschattet ge-
gen und Zeitschriften auf Grund reichlich rasch fühlt haben und fühlen? Ist es nicht so, daß manche
erwirkter einstweiliger Verfügungen. dieser Vertreter der Presse in Bonn eigenartigen
(Abg. Dr. Menzel: Sehr gut!) Einflüssen ausgesetzt sein müssen, wenn von ihrer
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(Brandt [Berlin])
ursprünglich geäußerten Kritik in den unter ihrem lichungen und alle Mitteilungen, die über fachliche
Namen veröffentlichten Berichten so gut wie nichts Mitteilungen aus dem besonderen Arbeitsgebiet
mehr zu spüren ist? Ist es nicht so, daß Journa- eines Ministeriums hinausgehen, namentlich solche,
listen mit Drohungen bedacht werden, wenn sie die politischen Charakter haben oder politische
schreiben oder zu schreiben beabsichtigten, was Wirkungen auslösen können, über das Presse- und
dieser oder jener Stelle der Bundesregierung nicht Informationsamt der Bundesregierung zu leiten
behagt? sind. -
(Hört! Hört! bei der SPD.) Nun ist kaum etwas dagegen einzuwenden, daß
Da gab es einen Berichterstatter, der etwas über das Presse- und Informationsamt als ein Sammel-
die geplante und gestern hier erörterte Steuer- punkt für Mitteilungen der Bundesregierung dient.
reform erfahren hatte und sein Wissen zu einer Ich habe aber sehr schwere Bedenken gegen die
Meldung verarbeitet hatte, wie es seiner journa- noch immer bestehende Tendenz, das Presse- und
listischen Aufgabe entsprach. Durch einen zunächst Informationsamt zu einer Nachrichtenschleuse zu
freundlichen Anruf, wenn ich recht informiert bin, machen, von einer Nachrichtenbörse ganz zu
nicht aus dem Finanzministerium, wurde ihm nahe- schweigen; denn das, was auf dem Gebiet der
gelegt, sich diesem Thema zunächst nicht mehr zu Nachrichtenbörse bei der Boulettenbar des Presse-
nähern. Der Berichterstatter erfuhr jedoch mehr und Informationsamtes während der Berliner Kon-
und er schrieb mehr, und was er schrieb, war nicht ferenz herausgekommen ist, das sollte doch wohl
falsch. Daraufhin ein neuer Anruf: man wolle ihn trotz des erheblichen materiellen Aufwandes nicht
darauf aufmerksam machen, daß er sich in bedenk- all zu hoch eingeschätzt werden können.
liche Nähe gewisser Paragraphen des Strafgesetz-
buchs begebe. Bin ich ganz auf dem Holzweg, wenn ich die
Frage aufwerfe, ob es wahr ist, daß der Herr Bun-
(Zurufe von der SPD: Unerhört! — Hört! deswirtschaftsminister, und ich füge hinzu: der
Hört! — Abg. Dr. Menzel: Das ist ja toll! pressefreundliche Herr Bundeswirtschaftsminister
Das ist ja Nötigung!) — Ehre, wem Ehre gebührt —, durch den Herrn
Sollte man nicht sehr, sehr vorsichtig sein mit der Bundesminister des Innern korrigiert wurde, als er,
schwerwiegenden Beschuldigung des Geheimnis- der Bundesminister für Wirtschaft, kürzlich seinen
verrats? Und steht der Bürokratie überhaupt das Beamten die Anweisung gegeben hatte oder geben
Recht einer solchen Drohung zu? wollte, auf vernünftige Fragen vernünftig zu ant-
(Sehr gut! bei der SPD.) worten?
(Hört! Hört! bei der SPD. — Abg. Kalbitzer:
Ich will gern anerkennen, daß die Antwort, die
der Herr Bundesminister des Innern heute früh Sehr gut!)
hier erteilt hat, einige Zweifelsfragen geklärt hat. Im übrigen kommt es vom Standpunkt der
Wir haben zur Kenntnis genommen — schon durch Presse und vom Standpunkt der durch die Presse
die Erklärungen, die vor dieser Debatte abgegeben vertretenen und zu unterrichtenden Öffentlichkeit
worden sind, und wir haben es heute bestätigt ge- — ich beziehe mich noch einmal auf die Geschäfts-
hört —, daß gegenwärtig keine regierungsoffizielle ordnung — natürlich mehr auf wichtige als auf
Bundeskorrespondenz geplant ist und daß der so- unwichtige Angelegenheiten an, und das sind meist
genannten Bundeskorrespondenz, die als privates solche, die politischen Charakter haben und politi-
Unternehmen besteht, keine finanziellen Mittel des sche Wirkungen auslösen können. -
Bundespresse- und -informationsamts mehr zu- Hierbei ergibt sich nun die Frage: Wer entschei-
fließen sollen. Ich darf unterstellen — auch wenn det, was wichtig und was politisch ist, und was
sich der Herr Bundesminister des Innern dazu geschieht, wenn die Ministerialbeamten über Art,
heute morgen nicht ausdrücklich geäußert hat —, Inhalt und Umfang dieser oder jener Information
daß eine regierungsamtliche Auslese von Journa- wesentlich anders denken als diejenigen, die die
listen für bestimmte Nachrichtenquellen nicht be- Öffentlichkeit zu unterrichten haben? Wir können
absichtigt ist. doch nicht einfach vom Anspruch der Ministerial-
Vielleicht überprüft man aber doch einmal, Herr beamten oder auch der Herren Minister auf eine
Bundesminister, die angebliche Bevorzugung, von in jedem Fall bessere Einsicht ausgehen. Wir
der in Journalistenkreisen die Rede gewesen ist, müssen doch wohl vom gesunden Wechselspiel der
von Journalisten, die keine bestimmte Zeitung ver- politischen und geistigen Kräfte ausgehen. Dieses
treten, gegenüber anderen, die für große Blätter Wechselspiel ist unmöglich ohne das Recht der
tätig sind. Vielleicht prüft man auch, ob die Bevor- Presse auf Auskunft, jenes Recht, dem auf der an-
zugung dieser und die Hintansetzung jener aus- deren Seite die Pflicht der Presse zur Information
ländischen Korrespondenten den Erfordernissen entspricht; und ich wünschte, daß sich auch die
der deutschen Politik und der deutschen Außen- ganze deutsche Presse dieser Pflicht zur Infor-
politik entspricht. mation bewußt wäre.
Wir haben gehört, daß es nicht geplant sei, die Meine politischen Freunde und ich teilen nicht
Presse künftig über sämtliche Angelegenheiten der die Meinung, daß es Sache des Bundeskanzleramtes
Bundesregierung und ihrer Ministerien nur noch oder irgendeiner anderen Bundesbehörde sei,
durch das Presse- und Informationsamt zu unter- darüber zu befinden, was der Bundesbürger wissen,
richten. Der Herr Bundesminister des Innern hat was die Öffentlichkeit erfahren darf. Falls darüber
auf die Vorbereitungen hingewiesen, die zur Aus- einseitig auf der Behördenebene entschieden
arbeitung einer neuen Geschäftsordnung des Kabi- würde, dann wollte man sicherlich auch bald die
netts eingeleitet worden sind. Er hat sich auch auf andere Seite regeln, nämlich bestimmen, was den
die Grundsätze der Geschäftsordnung der Reichs- Bundesbürger sozusagen positiv zu interessieren
regierung aus dem Jahre 1926 berufen und hat auf hat. Gewiß, es gibt vertrauliche Dinge — Herr
die gegenwärtige Geschäftsordnung verwiesen, die Kollege Dresbach hat schon darauf verwiesen —,
in diesem Punkt nicht verändert werden sollte und über die man vertraulich informieren kann und
in der es sinngemäß heißt, daß alle Veröffent vertraulich informieren sollte, und ich glaube, die
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(Brandt [Berlin])
Damen und Herren der Presse werden selber die- gen hat. Damals hatten es die Regierungen im all-
jenigen aus ihren Reihen auszuschalten wissen, die gemeinen nicht nötig, der Aufnahme ihrer Politik
sich an eine solche Vertraulichkeit nicht halten beim Volk den Weg zu bereiten. Heute haben die
würden. Aber wir billigen nicht und können nicht Regierungen zum Unterrichten und zum Beein-
billigen die Neigung zu übertriebener Geheim- flussen der öffentlichen Meinung mächtige Mittel
haltung. Zu übertriebener Geheimhaltung! zur Hand. Der Verfasser des von mir erwähnten
Durch die Geheimniskrämerei erschwert man ge- Buches, R. M. McIver, sagt, solange die Regierun-
radezu die vertrauliche Behandlung solcher Dinge, gen nicht versuchten, andere Propagandastellen
die zu Recht mit einem entsprechenden Stempel gleichzuschalten, könne sich hinsichtlich dieser
versehen sind. Funktion, von der ich eben sprach, keine Frage
erheben. Er verweist darauf, daß zahlreiche Orga-
Und, Herr Bundesminister des Innern, wir haben nisationen im modernen Staat damit beschäftigt
auch kein Verständnis für Dementis, die keine sind, die neuen Techniken der Nachrichtenüber-
sind. Im Ton der Empörung ist kürzlich dementiert mittlung und die neue Kunst der Meinungsfor-
worden, daß ein uns allen bekannter Universitäts- schung auszuüben, und er schreibt weiter — und
lehrer aus seiner Position im Auswärtigen Amt dem könnten wir doch hoffentlich auch alle zu-
ausscheiden werde und daß der Chef der Organi- stimmen — folgendes. Ich zitiere:
sationsabteilung in der Dienststelle Blank abgelöst
werden solle. Und dann kam es genau so, wie Die Regierungen müssen sich der gleichen
berichtet worden war, und man lachte über die Kunst bedienen; ob zum Guten oder zum
unbeholfenen amtlichen Zwischenmeldungen, und Schlechten, hängt von ihrer Art ab. Soweit
man lachte zu Recht, Herr Bundesminister. sie sich ihrer bedienen, um das Volk zu einem
besseren Verständnis der Fragen, mit denen
(Sehr gut! bei der SPD.) sie sich befassen, zu bringen und ein Gefühl
Im übrigen: für die Propagierung parteipoliti- der gemeinsamen Einheit über die Gruppen-
scher Ziele und gruppenmäßiger Interessen sind verschiedenheiten hinaus zu schaffen, dürfen
nicht die Organe des Staates da, die Partei mag wir es wagen, diese Aktivität der Liste der
noch so groß, die Gruppe mag noch so mächtig sein. kulturellen Aufgaben beizufügen.
Für diese durchaus legitimen Aufgaben sind auch Meine Damen und Herren, Sie sehen schon durch
nicht die Gelder der Steuerzahler da. diesen Hinweis: ich bin kein Gegner amtlicher
(Sehr richtig! bei der SPD.) Pressestellen. Solche Stellen können nützliche Auf-
In anderen demokratischen Ländern sind Gelder gaben erfüllen. Aber man fragt sich gelegentlich,
des Steuerzahlers auch nicht dazu da — ich muß ob nicht hier und da des Guten zuviel geschieht,
den Punkt noch etwas verdeutlichen, den mein ob nicht manche Überschneidungen vermieden
Freund Kalbitzer in seiner Begründung heute mor- werden können und ob nicht der Berufsstand der
gen schon angeschnitten hat —, daß Journalisten Zeitungsausschneider über Gebühr anwächst. Man
den Regierungschef auf seinen Reisen begleiten. verwechsle übrigens bitte nicht das Anliegen der
Presse mit dem Interesse staatlicher Pressepolitik.
Die Träger der Presse sollten selbst darauf
achten, daß sie nicht Mißdeutungen ausgesetzt Um in diesem Zusammenhang ein Wort Kurt
Schumachers zu zitieren: Ein Kater, der einen
werden. Kanarienvogel verspeist hat, kann darum noch
(Sehr richtig! bei der SPD.) lange nicht schön singen. Ich glaube, das gilt auch-
Die Unabhängigkeit der Presse beginnt bei der für manche staatliche Pressestellen.
Haltung und der Würde der Presse selbst. (Heiterkeit bei der SPD.)
(Beifall bei der SPD.) Aus Pressestellen dürfen keine Abwehrorgane,
Niemand erwartet, daß eine Regierung ihr Licht keine Büros zur Verhinderung der Information
unter den Scheffel stellt. Niemand wird es ver- werden.
übeln, wenn die Regierung von ihrem Tun und Ich wende mich noch einmal an den Herrn Bun-
ihren Plänen durch das rednerische und womöglich desminister des Innern, der sich von vornherein
schriftstellerische Talent ihrer Minister Zeugnis freundlicherweise bereit erklärt hat, in diese De-
ablegt. Eins sollte die Regierung dabei nicht batte einzusteigen. Herr Bundesminister, schauen
vergessen. Das Urteil über ihr Tun ist von den Sie sich doch bitte einmal in Ihrem eigenen Hause
Bürgern unseres Staates zu fällen, und es sollte um! Ein Pressemann, der sich an Ihre Pressestelle
wahrlich unser gemeinsames Bestreben sein, daß im Bundesministerium des Innern wendet, be-
eine immer größere Zahl unserer Mitbürger zur kommt zur Antwort — woraus dieser Stelle natür-
gestaltenden Mitwirkung am öffentlichen Leben lich kein Vorwurf zu machen ist; ich denke nicht
ermuntert und auch wirklich befähigt wird, und daran, ihr einen Vorwurf zu machen —, daß man
zur Befähigung gehört die ausreichende Unter- dort nichts wisse. Der zuständige Sachbearbeiter
richtung. Dazu bedarf es einer deutlichen Tren- erklärt, er dürfe nichts sagen, sondern könne sich
nung notwendiger Information von einseitiger nur über die Pressestelle äußern. Dann bekommt
Propaganda. Dazu bedarf es eines unverrückbar schließlich der Pressemann über die Pressestelle,
positiven Verhältnisses zur Meinungs- und Presse- die zunächst nichts wußte, seine Antwort. Aber da
freiheit, die wir unter so schmerzvollen Umständen er mit dem Sachbearbeiter nicht selbst sprechen
wiedererlangt haben. konnte, kann er keine Zusatzfragen stellen, wie
Der Kollege Dresbach hat hier zu Beginn der wir es hier in unseren Fragestunden nennen
Debatte einige vorzügliche Worte über das Verhält- würden,
nis zwischen Presse und Parlament, zwischen (Zuruf von der SPD: Manchmal doch! —
Presse und Politikern gesagt. Mir kam dieser Tage weitere Zurufe)
ein englisches Buch „Regierung im Kräftefeld der und er kann nicht so lebendig und genau berichten,
Gesellschaft" in die Hände. Darin ist von der ge- wie er es vielleicht möchte und wie es ihm lieb
waltigen Wandlung die Rede, die sich seit den sein müßte. Und was ergibt sich daraus, Herr
Tagen der klassenbestimmten Oligarchien vollzo Bundesminister? Dieser Journalist schnappt dann
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(Brandt [Berlin])
diese oder jene Andeutung auf — in der Not frißt Vizepräsident Dr. Jaeger: Das Wort hat der Ab-
der Teufel Fliegen —, und schon sind wir unter geordnete Feller.
Umständen bei einer falschen Meldung.
Feller (GB/BHE): Herr Präsident! Meine Damen
Vor allem aber sollte streng darauf geachtet
und Herren! Die Große Anfrage, die uns heute in
werden, daß Organe staatlicher Informationspolitik
für den Staat da sind, für alle seine Teile, für so lebhafter — teils humorvoller, aber auch ins
die Gesamtheit seiner Bürger, Grundsätzliche gehender — Weise beschäftigt, geht
von Vermutungen aus, die in der Antwort der
(Sehr gut! bei der SPD) Regierung als unzutreffend bezeichnet wurden.
das heißt, es gehört zu den Aufgaben solcher Or- Wir als Partei verfügen leider nicht über die per-
gane, objektiv über beide Seiten zu berichten, sonellen Querverbindungen, um zu wissen oder
wenn die Dinge im Staat unter den Trägern des feststellen zu können, ob für die Vermutungen der
Staates umstritten sind, und die Opposition ist Anfrage berechtigte Anlässe bestehen oder bestan-
einer der Träger, ja einer der Pfeiler eines demo- den haben. Wir konnten uns unsere Meinung zu-
kratischen Staatswesens. nächst nur aus dem bilden, was die hier gerade
besonders interessierte Presse an Mitteilungen und
(Sehr richtig! bei der SPD.) Stellungnahmen in den letzten Wochen und Mo-
Gewiß, die Demokratie ist keine sehr bequeme naten geliefert hat. Aber wir hatten keine Ursache,
Sache. Im Obrigkeitsstaat, in der Diktatur, ist es nicht gutgläubig zu sein, und mußten ihr zumindest
bequemer — für die oben. Aber zu deren Bequem- zubilligen, daß sie wenigstens in dieser Sache nicht
lichkeit kommt dann neben vielem anderen, daß falsch informiert worden ist. Wir freuen uns aber,
die Giftpflanzen der Gerüchte emporschießen über daß die Bundesregierung in ihrer Antwort durch
den Gräbern einer freien Presse. den Herrn Bundesminister des Innern so eindeutig
hat erkennen lassen, daß sie nicht beabsichtigt, den
Es ist heute bei weitem nicht alles erfreulich in geäußerten Befürchtungen eine nachträgliche Be-
unserer deutschen Presse. Es gibt Entartungs- rechtigung zu erteilen. Wir meinen auch, daß die
erscheinungen, es gibt Gangstermethoden, von bisher nach unserer Kenntnis — die allerdings, wie
denen sich jeder verantwortungsbewußte Journalist ich schon sagte, recht unvollkommen ist — von
abgrenzt. Bei einem Teil der Presse gibt es leider der Bundesregierung angewandten Methoden, For-
auch eine Reaktion auf Tendenzen unserer Zeit, men und gehegten Absichten der Unterrichtung der
eine Reaktion, die einer stillen Gleichschaltung Presse noch keine Veranlassung geben, zu befürch-
recht nahekommt. Es ist keine erfreuliche Sache, ten, daß die Freiheit der Meinungsäußerung und
wenn ein beträchtlicher Teil unserer Presse der der Berichterstattung in einer grundgesetzwidrigen
Behandlung mancher lebenswichtiger Themen aus- Weise beeinträchtigt werden könnte. Wir sind der
weicht, weil man gewissermaßen glaubt, spüren zu Meinung, daß auch dann noch keine Gefahr in die-
können, daß eine Erörterung dieser Fragen oben ser Richtung gesehen werden müßte, wenn es sich
nicht erwünscht sei. aus rein technischen Gründen als notwendig erwei-
sen würde, daß die Bundesregierung in ihrer publi-
Aber es gibt auch einen echten Beitrag der Presse zistischen Apparatur einmal organisatorische Ver-
zum deutschen Aufbau und zur Sache der deut- änderungen vornehmen müßte, sei es aus Gründen
schen Demokratie. Die Presse hat wiederholt in der Rationalisierung, der Zusammenfassung oder -
den letzten Jahren und Monaten gegen Versuche der Vereinfachung. Man kann sich auch durchaus
und Versuchungen Front gemacht, aus denen eine vorstellen, daß in den vergangenen Jahren Erfah-
Knebelung der freien Meinungsäußerung hätte rungen gesammelt wurden und daß sich vielleicht
erwachsen können. Auch der erste Entwurf des auch aus dieser Debatte Anregungen ergeben, die
Bundespressegesetzes mußte nach leidenschaftlicher das Kabinett zu Maßnahmen auf diesem Gebiet
Kritik zurückgezogen werden, und wir sind sehr veranlassen könnten, die der freien Meinungs-
gespannt, Herr Bundesminister, ob der neue Ent- bildung geradezu förderlich wären und von uns
wurf, wenn er kommt, einen neuen Geist erkennen allen gutgeheißen werden könnten. Wir sind auch
lassen wird. Diskussionen in den Organen und Or- bereit, der jeweiligen Bundesregierung — und
ganisationen der Presse, der Journalisten haben in wenn sie einmal von der heutigen Opposition ge-
der letzten Zeit gezeigt, daß es dort einen Willen bildet werden sollte, würde sie dasselbe Recht für
gibt einerseits zur Unabhängigkeit und anderer- sich in Anspruch nehmen — zuzubilligen, daß sie
seits zur Abgrenzung von Mißständen. Dieser Wille ihre Meinung in der ihr zweckmäßig erscheinenden
ist da, ihn sollte die Bundesregierung respektieren, Form in den allgemeinen Meinungsstreit hinein-
ihn fördern, denn es geht um einen der Grund- ruft.
werte unserer staatlichen Ordnung.
Wenn wir also insoweit keine konkrete Veran-
Meine Damen und Herren, ich habe auf manch lassung sehen, zu tadeln oder Befürchtungen zu
kritisches Wort nicht verzichten können. Aber ich äußern, so sind wir doch — und darin stimme ich
hoffe, deutlich gemacht zu haben, daß es mir—wie mit dem Kollegen Brandt völlig überein — der
den anderen Herren, die sich geäußert haben—um Ansicht, daß hier ein stets akutes Problem vor-
eine Sache geht, die uns alle aufhorchen lassen liegt. Diese Debatte gibt uns eine erwünschte Ge-
sollte, alle, die auf dem Boden der Demokratie legenheit, ein Bekenntnis zur unbedingten Wah-
stehen, mögen die Meinungsverschiedenheiten un- rung der Freiheit von Presse und Berichterstattung
ter ihnen sonst noch so groß sein. Die ehrlich Be- abzulegen. Daß dies auch unabhängig von konkre-
sorgten im Volke aber sollen wissen, daß sie in ten Veranlassungen durch etwa vorhandene oder
diesem Hause auf Bundesgenossen und Fürspre- vermutete Absichten notwendig ist, erweist sich
cher rechnen können, wenn es gilt, bedrohlichen gerade aus dem Vorliegen einer Resolution wie der,
Entwicklungen zu begegnen und gefahrvollen An- aus der der Kollege Brandt einige Sätze zitiert hat.
fängen zu wehren. Ich meine die auf der Tagung des Internationalen
(Beifall bei der SPD und bei Abge Presseinstituts in Wien gefaßte Resolution. Mit
ordneten in der Mitte.) Genehmigung des Herrn Präsidenten und des
2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954 1393
(Feller)
Herrn Kollegen Brandt darf ich seinem Zitat noch deutschen Presse schlechthin keinen Journalisten
ein paar Sätze aus dieser Resolution hinzufügen. gäbe, dem nicht der Staat und die Allgemeinheit
Da heißt es nämlich: uneingeschränktes Vertrauen schenken könnten.
Die im Internationalen Presseinstitut zusam- Das wäre möglich, wenn sich alle die freiwillige —
mengeschlossenen führenden Redaktoren der die freiwillige! — Beschränkung auferlegten, das
freien Presse stellen fest, daß die Beschränkung und nur das mitzuteilen, was im Interesse der All-
der Freiheit der Presse immer und überall den gemeinheit mitgeteilt werden darf oder zur Er-
Weg ebnete zur Errichtung einer Herrschaft von leichterung der öffentlichen Meinungsbildung mit-
Willkür und Ungerechtigkeit, auch wenn diese geteilt werden muß. Das schließt vor allen Dingen
jegliche Neigung zur Sensationsmacherei aus. Viel-
Beschränkungen oft aus achtbaren Überlegungen
leicht trägt auch die heutige Debatte in dieser
angestrebt werden. Sie warnen die Behörden
Hinsicht zu einer gewissen Besinnung und Uber-
aller freien Länder vor allen Versuchen, die
prüfung bei.
Freiheit der Presse zu untergraben, da sie damit
die Grundlage ihrer eigenen Existenz, ihrer Wir wissen, daß die deutsche Presse es unge-
eigenen Freiheit und der Gerechtigkeit zerstören. heuer schwer gehabt hat, nach den Zeiten der Kne-
belung und der Entartung und aus dem Zusammen-
Angesichts eines so ernsten Mahnrufes an alle bruch das zu werden, was sie heute erfreulicher-
Staaten erscheint es doch geboten, daß auch wir weise wieder ist. Die Eingriffe des „Dritten Reichs"
unserer Meinung dahingehend Ausdruck verleihen, in die freie Entwicklung der deutschen Presse
daß es in unserer Zeit, in unserer Lage keine ver- waren um so tragischer, als die in den Jahren nach
antwortungsvollere politische Aufgabe gibt, als der dem ersten Weltkrieg eben im Begriff war, eine
Idee und der Erhaltung der Freiheit, insbesondere Entwicklung zur politischen Mitarbeit und Mitver-
der Freiheit der Meinungsbildung, zu dienen. Wo antwortung nachzuholen, die ihr im Gegensatz zu
immer etwas geplant, gesagt oder getan werden anderen Ländern im kaiserlichen Deutschland nicht
sollte, was ihr Abbruch tun könnte, muß dies un- möglich gewesen war. Ich weiß nicht, ob der Kol-
seren leidenschaftlichen Widerstand entfachen. lege Dr. Dresbach mit mir in diesem Punkt über-
Denn die Idee der Freiheit ist die beste und viel- einstimmt. Er muß es ja besser wissen, er hat es
leicht die einzig wirksame Waffe, die wir im Kampf miterlebt; ich kann es nur lesen. Aber ich kann
gegen totalitäre Staatsformen besitzen. Sie hat mich auf einen wenigstens in diesem Punkt unver-
überdies den ungeheuren Vorzug, daß sie nicht erst dächtigen Zeugen berufen, von dem ich allerdings
ad hoc erfunden zu werden braucht. Wenn in nicht weiß, ob er wieder vollkommen couleurfähig
irgendeiner Form gegen die Prinzipien der mensch- ist. Das ist Oswald Spengler mit seinem be-
lichen und geistigen Freiheit, wie wir sie im rühmten Aufsatz „Zur Entwicklung des deutschen
Grundgesetz garantiert haben, verstoßen würde, Pressewesens". Er führt dort allerdings an - das
dann wäre das gleichbedeutend mit einem Verrat möchte ich hier auch erwähnen —, daß die Stärke
an der freien Welt zugunsten der Absichten der der deutschen Presse vor dem ersten Weltkrieg
bolschewistischen Politik. dafür auf dem Gebiet der geistigen Bildungsfunk-
tion gelegen habe, einer Funktion, die ihr während
Aber wir dürfen uns nicht damit begnügen, von des Dritten Reiches auch verlorengegangen ist. Der
der Freiheit zu reden und zu deklamieren. Wir deutschen Presse fehlen also heute zwangsläufig
müssen sie auch handhaben, und zwar unserer manche Elemente der Tradition, die der Presse
Lage entsprechend. Das gilt für die Repräsentanten anderer Länder noch Gesetz und Richtung geben.
und Vertreter des Staates vor allem; es gilt aber
auch für die Vertreter der öffentlichen Meinung. Es muß aber Sache der Presse sein, sich ihre
Deshalb sei mir an dieser Stelle auch ein Wort an innergesetzliche Ordnung selbst zu schaffen. Es ist
die zuletzt Genannten gestattet. Ich bin zwar selbst berufs- und standespolitische Aufgabe der in der
nicht Journalist; aber ich bin es gewesen. Ich bin Presse Tätigen, gegen Auswüchse und Entartungen
dann später allerdings zur Schulmeisterei über- selber vorzugehen, Auswüchse und Entartungen,
gegangen. Deshalb habe ich aber doch nicht die die niemals Maßstab für die Beurteilung der Presse
Absicht, hier eine Belehrung zu erteilen; denn ich im allgemeinen sein dürfen. Aber nur dann, wenn
weiß aus Erfahrung, daß die, die sich belehren die Presse sich selbst davon freihält, hat es für
lassen, ohnehin immer des besten Willens sind. Der uns als politisch Verantwortliche einen Sinn, für
Herr Kollege Dresbach hat ja auch schon einige die unabdingbare Erhaltung ihrer Freiheit einzu-
Bemerkungen zu dieser Frage gemacht, denen ich treten.
noch einige weitere hinzufügen möchte. Die in Dann scheint mir auch eine Frage müßig, wie sie
Presse und Publizistik Tätigen haben für die Wah- unter 1 c der Großen Anfrage gestellt ist. Denn
rung der allgemeinen Freiheit, die auch die ihre wenn es von der Mehrheit der in der Presse Täti-
umfaßt, genau so viel Verantwortung wie Parla- gen als eine selbstverständliche Verpflichtung er-
ment und Regierung, und sie werden ihr nicht n u r achtet wird, sich in einer Art freiwilliger Selbst-
dadurch gerecht, daß sie, wo immer diese bedroht kontrolle von solchen Berufsgenossen zu distanzie-
erscheint, nach der Freiheit rufen. Sie erhalten sie ren, welche gegen die verfassungsmäßige Ordnung
dadurch am besten, daß sie von den ihnen gege- verstoßen oder nicht für sie einzutreten gewillt
benen Freiheiten den richtigen Gebrauch machen sind, dann braucht sich auch kein Verfassungs-
und damit allen Staatsbürgern ein Beispiel für die schutzamt mit der Presse zu befassen. Man darf
staatsbürgerliche Verantwortung zur Erhaltung der doch wohl aus der Anfrage nicht entnehmen, in
Freiheit geben. diesem Hause bestünden Divergenzen darüber, daß
die verfassungsmäßige Ordnung mit allen rechts-
Es gibt auch heute wieder — Gott sei Dank — staatlichen Mitteln gewahrt werden muß. Die Stel-
in den Reihen unserer Publizisten hervorragende len, die dazu tätig werden können, unterstehen
Vorbilder, die unsere ganz besondere Hochachtung doch auch der parlamentarischen Kontrolle in
verdienen. Aber wir wünschten, daß sie gar nicht Bund und Ländern. Wir haben ja hier im Hause
so sehr hervorragten, sondern als der herrschende sogar einen besonderen Ausschuß, der unter dem
Typus angesehen werden könnten, daß es in der Vorsitz eines Mitglieds der Opposition steht.
1394 2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954
(Feller)
Wir haben auch einen Ausschuß für Fragen der oder Nichthandeln zu kritisieren. Wir tun besser
Presse, des Rundfunks und des Films, dem ich per- daran, sie durch unsere Haltung zwar nicht gerade
sönlich nicht angehöre, dessen Vorsitzender aber zu ermuntern, aber doch zu veranlassen, so objek-
meines Wissens ein Mitglied der Regierungskoali- tiv wie möglich zu sein.
tion ist. Er wird sicher mit mir übereinstimmen, Objektivität aber ist nur in Freiheit möglich! Ab-
wenn ich sage, daß seine Aufgabe weniger darin solute Objektivität ist ebensowenig möglich wie
besteht, der Publizistik Zensuren oder Richtlinien absolute Freiheit. Beide unterliegen Bindungen, die
für ihr Wohlverhalten zu erteilen, als darin, der nur dann eingehalten werden, wenn sie freiwillig
Regierung Vorschläge zu machen, wie sie dem öf- gewählt und anerkannt sind. Das muß die Presse
fentlichen Anliegen der freien Meinungsbildung ge- wissen, das müssen aber auch Staat, Regierung und
recht werden kann. Parlament wissen. Wir werden gemeinsam darüber
Wir glauben, daß es hier tatsächlich noch einiges zu wachen haben, daß dieses Wissen auch beachtet
zu tun gibt, weniger, um das Pressewesen zu be- wird. Geben wir der Regierung Anregungen, Mittel
einflussen — das seine Entwicklung, wie ich schon und Möglichkeiten, eine ausreichende Informations-
sagte, selber nach außerparlamentarischen Gesetzen tätigkeit für die in- und ausländische Presse zu ent-
vornehmen muß —, als vielmehr das Verhältnis von falten und ein gutes Verhältnis zu allen Pressever-
Regierung und Presse für die Allgemeinheit frucht- tretern zu unterhalten, die sich im Rahmen der de-
barer zu gestalten. Das liegt wohl mehr auf dem mokratischen Ordnung halten! Dann wird sie sich
Gebiet des Taktischen — und das Taktische hat ja hoffentlich auch nicht einfallen lassen, eine eigene
zumindest sprachlich auch etwas mit „Takt" zu tun Pressekorrespondenz herauszugeben oder gar einen
– als auf dem Gebiet des Organisatorisch-Techni- Teil der Presse anderen gegenüber zu bevorzugen.
schen, dessen Zweckmäßigkeit zu beurteilen der Es liegt aber an uns, wachsam zu sein, vor allem
Regierung selber obliegen muß. Wir glauben aber, dafür zu sorgen, daß das Parlament seine Aufgabe
daß es dazu nicht eines besonderen Ministeriums, als Hüter der demokratischen Rechte und in der
schon gar nicht nach berühmten Mustern, oder eines Kontrolle des Staatsapparates in vollem Umfange
großen bürokratischen Apparates bedarf. Dafür wahrnimmt. Dann braucht uns um die Freiheit der
scheint uns eine kleine Schar sehr befähigter und Bildung der öffentlichen Meinung, die noch von
geeigneter Mitarbeiter aus alle n politischen und ganz anderen Mächten als der des Staates bedroht
weltanschaulichen Richtungen und eine echte par- ist, nicht weiter bange zu sein. Insoweit, meine
lamentarische Kontrolle ihrer Tätigkeit, wie sie Damen und Herren, hielten wir es für durchaus
auch Kollege Prinz zu Löwenstein vorhin schon angebracht, erfreulich und fruchtbar, daß dieses
gefordert hat, zu genügen. Thema hier einmal diskutiert werden konnte und
Noch ein Wort zu den Mitteln, die für diese auch wir Gelegenheit hatten, unserer Meinung da-
Arbeit zur Verfügung stehen. Ihre Höhe war in zu Ausdruck zu verleihen.
den Haushaltsberatungen umstritten, es ist auch (Beifall beim GB/BHE.)
heute wieder darauf Bezug genommen worden. Ich
bedauere das eigentlich, weil es a priori den Ver- Vizepräsident Dr. Jaeger: Das Wort hat der Ab-
dacht aufkommen lassen könnte, daß ihre Verwen- geordnete Becker (Hamburg).
dung nicht im Interesse der Allgemeinheit, sondern
nur unter speziellen Interessengesichtspunkten be- Becker (Hamburg) (DP): Meine Damen und
absichtigt ist. Wenn wir aber einmal überlegen, Herren! Die heutige Diskussion hätte sehr explosiv
welcher Arbeit es noch bedarf, um die Teilnahme sein können. Man mußte es sogar vermuten, denn
des einzelnen Bürgers an Staat und Politik zu er- sie beschäftigt sich mit einem Gegenstand, der viel-
wecken, vor allem aber auch um das Ansehen des leicht der explosivste ist, den es überhaupt auf der
deutschen Staates und Volkes in der Welt wieder- Erde gibt, nämlich mit der Freiheit, mit der
herzustellen — nicht nur im amerikanischen Mittel- Geistesfreiheit und mit der Pressefreiheit, die mit
westen, wie Herr Kollege Professor Gülich vor eini- ihr eng verbunden ist. Der Kollege Dr esbach
gen Tagen gesagt hat —, dann sind acht oder zehn hat es verstanden, die Spannung, die hier herrschte,
oder zwanzig Millionen DM ein Pappenstiel, vor durch rechtzeitig eingeführten Humor zu mildern.
allem wenn man die Mittel mit denen vergleicht, die Leider hat er die Atmosphäre so weit entspannt,
von anderen Ländern gewissermaßen in Konkurrenz daß das Haus sich nun im Laufe der Debatte wieder
mit uns auf dem Weltmarkt der öffentlichen Mei- ziemlich entleert hat, vielleicht weil das eigentliche,
nung eingesetzt werden. Die ausländische Presse was gesagt werden mußte, sehr schnell und so
hat uns ja gerade in den letzten Wochen und Mona- treffend gesagt wurde, daß den nachfolgenden
ten Beweise dafür geliefert, wie wenig sie noch Rednern in gewisser Weise die Lust vergangen ist,
über unsere wahrhaften Ansichten und Anliegen dazu noch allzuviel auszuführen. Aber gerade der
im Bilde ist. Hier sollte es uns also weniger darauf Ausführungen des Kollegen Dresbach wegen ist es,
ankommen, zu kritisieren und zu kontrollieren, als glaube ich, notwendig, daß wir von der Deutschen
darauf, anzuregen und zu fördern. Sollten wir nicht Partei noch ein Wort dazu sagen. Es war ja sehr
in der Lage sein, den staatlichen Stellen wirksame interessant, welche Begriffe Herr Dresbach in die
Impulse zu geben, dann wäre es allerdings zweck- Debatte einführte. Er bezog sich z. B. auf Äuße-
mäßiger, wir diskutierten zunächst einmal über rungen, die mein Kollege Dr. Schild vor einiger
das Parlament und seine Funktionen. Die Presse Zeit einmal über die Zeitspanne von 1918 bis 1933
scheint sich ebenfalls in letzter Zeit sehr dafür zu gemacht hat, von der er sagte, daß sie zur
interessieren und sich kritischer mit uns zu be- Nivellierung geführt hätte. Wenn wir das heutige
schäftigen, als wir es mit ihr zu tun überhaupt be- Verhältnis von Regierung zur Presse beobachten
absichtigen. Ich stehe nicht an, ihr zuzugestehen, und beurteilen wollen, ist es bestimmt notwendig,
daß sie damit eine durchaus berechtigte Aufgabe die damalige Zeit, die sogenannte Weimarer Zeit,
erfüllt und ihre Freiheit richtig handhabt. Wir zum Vergleich heranzuziehen. Man muß auch fol-
würden ebenso wie die Regierung eine schlechte gendes feststellen: Ein anderer Redner, ich glaube,
Haltung einnehmen, wenn wir Maßnahmen zulie- es war der Abgeordnete Prinz zu Löwenstein,
ßen, die sie daran hindern könnten, unser Handeln führte die großen meistens liberalen Blätter der
2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954 1395
(Becker [Hamburg])
damaligen Zeit an und schilderte die Vielfältigkeit, wir bestimmte Berufsgesetze haben, auch auf dem
die geistige Regsamkeit und das lebendige Bild des Gebiete des Journalismus. Ich glaube, daß wir noch
Pressewesens dieser Epoche. im Laufe der Legislaturperiode dazu kommen
Interessant ist nun folgendes. Auch in den Jahren werden. Man sollte nicht so einfach über ,die
1931/32 hatten diese großen sogenannten liberalen Wünsche der einzelnen Berufsstände hinweggehen
Zeitungen, „Berliner Tageblatt", „Frankfurter Zei- und sagen: Namens des Liberalismus wünschen wir
tung" usw., nach wie vor ihren großen Leserkreis keine Berufsordnungsgesetze. Mit Zünftlertum und
und ihre ganz anständigen Auflagen. Auch die ähnlichen Begriffen, die verwandt wurden, hat das
Generalanzeiger-Presse hatte ja nach wie vor ihre nichts zu tun, sondern damit, daß die Freiheit, die
Millionenauflage im gesamten Deutschland. Ob- wir alle zu erhalten wünschen, wirklich nur dann
wohl also die Pressefreiheit bis in das Jahr 1932 gedeihen kann, wenn von allen Seiten bestimmte
hinein gewahrt geblieben war, mußte man doch Ordnungsprinzipien anerkannt werden.
feststellen, daß dennoch die Parteien, die ein totali- Der eigentliche Anlaß der heutigen Debatte war
täres Staatsbild haben, die Kommunistische Partei die Große Anfrage der SPD, der dann ein Antrag
und die Nationalsozialistische Partei, das Ohr und der SPD nachgereicht wurde. Als wir vor einigen
die Herzen der Bevölkerung gewannen. Ich er- Wochen über die Filmpolitik der Bundesregierung
wähne das hier absichtlich, weil ich darauf hin- debattierten, war, wie man sagen muß, wirklich
deuten will, daß die Ausführungen des Abgeord- ein ernster Grund zu der damaligen Anfrage der
neten Dr. Schild bei anderer Gelegenheit zutreffen, SPD gegeben, namentlich wegen der bekannten
nämlich daß eine zügellose Freiheit zu einem Äußerung, über die wir seinerzeit ausgiebig dis-
Kampf aller gegen alle und zur Nivellierung wirt- kutiert haben. Diesmal kommt es mir allerdings so
schaftlicher und geistiger Art führt, wenn gleich- vor, als wenn von der SPD mit etwas schweren Ge-
zeitig keine Ordnungsprinzipien sichtbar und fühl- schützen geschossen würde. Man kann es auch
bar sind, und daß dann die gewahrte Pressefreiheit anders ausdrücken. Diesen anderen Ausdruck werde
gar nichts nützt, weil trotz Riesenauflage die Be- ich vielleicht nachher noch bringen.
völkerung, die Glieder unseres Volkes, von anderen Der Abgeordnete Kalbitzer hat vom „schlei-
Wertvorstellungen geleitet werden, als es in dieser chenden Gift", vom „Reptilienfonds" und von der
freiheitlich gestalteten Presse zum Ausdruck kommt. drohenden „Gleichschaltung" gesprochen. Wie ist
Im Zusammenhang damit möchte ich etwas zu denn die Lage wirklich? Die Bundesregierung hat
den sogenannten berufsständischen Gesetzen und bei der Bevölkerung eine sehr gute Autorität,
gerade auch zu dem Journalistengesetz sagen, das möchte ich sagen, eine Autorität, die nicht durch
heute von den Journalisten selbst angestrebt wird. geheimnisvolle Maßnahmen der Pressebeeinflussung
Nicht etwa in erster Linie die Bundesregierung und dergleichen, sondern einfach darin begründet
oder dieses Hohe Haus will ja jetzt noch unbedingt ist, daß die Leistungen der vorigen und der
ein Pressegesetz, sondern die Journalisten selbst jetzigen Bundesregierung gut gewesen sind. Wenn
wünschen ein berufsständisches Gesetz, ein Berufs- Sie aber die Presse lesen — ich meine hier in
ordnungsgesetz, und das aus gutem Grund. Die erster Linie die Tageszeitungen —, so können Sie
anderen Berufe heutzutage, die Handwerker, stehen doch feststellen, daß in den politischen Aufsätzen
hier als gutes Beispiel an der Spitze, fordern von die kritischen Äußerungen der Leitartikler weit-
sich aus auch solche berufsordnenden Gesetze. Wenn aus häufiger sind als die anerkennenden Worte.
Sie an den Konsumenten denken, z. B. gerade auf Man kann also doch im großen und ganzen nicht
dem Gebiet des Handwerks, so muß man doch behaupten, daß in der Bundesrepublik eine sehr
sagen: Seit dem Bestehen der Handwerksordnung große Gefahr der Eindämmung der Pressefreiheit
— sie besteht nur kurz — ist der Konsument gut vorhanden sei. Ganz im Gegenteil! Ich wundere
bedient und hat auch alle Aussicht, in der Zukunft mich, muß ich sagen, häufig über die Langmut,
gut bedient zu werden, und dem freien, großen Be- mit der die immer wiederkehrende Kritik in so
rufsstand des Handwerks selbst ist auch gedient. vielen an sich gut geleiteten Zeitungen von der
Das gilt auch auf dem Gebiet des Journalismus, so- Bundesregierung hingenommen wird und wie
wohl für den Journalisten wie für seinen Kun- wenig an wirklich durchschlagender Dokumentation
den, nämlich den Leser. Die Zeitung hat doch von der Bundesregierung geschieht. Ich möchte da-
ein Interesse daran, daß der Beruf des Journalisten her der Bundesregierung eigentlich den gegen-
gewissen Ordnungsprinzipien unterworfen wird, teiligen Vorwurf machen, daß sie nicht deutlich und
Prinzipien, die diese Journalisten selbst fordern. klar genug ihre Absichten und ihren Willen der
Der Gesetzgeber, also wir, sollten diesem Wunsch, Bevölkerung zu vermitteln versteht.
der da vom Berufsstand geäußert wird, entsprechen.
Der Staat hat insofern Hilfestellung zu leisten und Ich will das an einem Beispiel erläutern, das
gesetzlich in allgemein verbindlicher und gültiger nicht direkt etwas mit der Presse zu tun hat, aber
Form festzulegen, was diese Berufsstände selbst parallel dazu liegt, nämlich an dem Beispiel des
wünschen. Rundfunks. Im Rundfunk haben alle nennens-
Meine Damen und Herren, ich will damit nur werten, größeren Gruppen der Bevölkerung die
folgendes bekräftigen. Nicht alles, was unter der Möglichkeit, in den Sendeprogrammen zu Wort zu
Flagge der Geistesfreiheit segelt, ist Geistesfreiheit, kommen, z. B. die Kirchen mit ihren Gottesdiensten
es ist auch oft eine Freiheit des Ungeistes. Mit dem und weit darüber hinaus mit verschiedenen Bei-
Begriff der liberalen Freiheit, den der Abgeordnete trägen, womit ihnen die Gelegenheit gegeben ist,
Prinz zu Löwenstein geprägt hat, kann ich da regelmäßig zu den Mitgliedern ihrer Gemeinschaf-
nichts mehr anfangen. Liberale Freiheit heißt ja ten zu sprechen und sich über einschlägige Fragen
freie Freiheit. Das erinnert mich sehr an den Be- zu unterhalten. Auch den Gewerkschaften ist es
griff der Volksdemokratie. Eine doppelte Bejahung vorbehalten, innerhalb des Sendeprogramms in
bedeutet da eine Verneinung. einem bestimmten Rahmen zu Worte zu kommen.
Selbst Minderheiten wie das Judentum haben diese
Gerade wenn wir die Presse- und Geistesfreiheit Möglichkeit. Ich erinnere daran, daß wir im NWDR
in Deutschland haben und behalten wollen, müssen regelmäßig die Stunde des Judentums haben.
1396 2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954
(Becker [Hamburg])
Auch die Landwirte haben ihre bestimmte Stunde. der SPD als schwarzer Knabe hingestellt, und es
Es betrifft also alle Berufsgruppen und alle welt- wird gesagt: Die Bundesregierung wird ersucht, zu
anschaulichen Gruppen. Die politischen Parteien erklären, daß sie von allen Plänen Abstand nimmt,
haben innerhalb der einzelnen Sendeprogramme die geeignet sind, die Unabhängigkeit und die
ebenfalls ein, wenn auch häufig sehr enges Feld Freiheit der Presse zu beeinträchtigen. Meine
und können darin mit ihren Meinungen zu Worte Damen und Herren, wir alle gehören einer politi-
kommen. schen Partei an, und wir haben in der Nachkriegs-
Die Bundesregierung selbst hat bei diesen zeit mit den verschiedenen Länderregierungen un-
Rundfunkprogrammen bisher nicht die Möglich- sere Erfahrungen gemacht. Wir haben Länderregie-
keit, etwa jede Woche einmal eine Stunde der rungen gehabt, die sich nach meinem Dafürhalten
Regierung zu senden. Also ich will damit zeigen: weitaus weniger fair und objektiv verhalten
es gibt die Einrichtung des Rundfunks und die haben, als es die Bundesregierung bisher in dieser
Frage getan hat.
oberste Instanz unseres Staates. Die oberste Spitze
unseres Staates, vom Bundespräsidenten abge- (Sehr richtig! rechts.)
sehen, der ja nur das Repräsentative unseres Darum wäre meiner Ansicht nach dieser Antrag
Staates bedeutet, der oberste Willensträger, möchte der SPD nur dann richtig, wenn er etwa hieße:
ich . fast sagen, oder Beauftragte des Willensträgers Der Bundestag erklärt, daß er von sich aus in
des Parlaments, die Regierung, hat nicht die Mög- jeder Situation die Geistes- und Pressefreiheit
lichkeit, im Rundfunk eine halbe Stunde oder schützen und bewahren will, und ist der Über-
eine Stunde in der Woche einmal ihre Meinung zeugung, daß die Bundesregierung das gleiche auch
und ihre Absichten zum Ausdruck zu bringen. Sie tun wird, oder ähnlich. So, da es nur einseitig auf
hat diese Möglichkeit im großen und ganzen in der die Bundesregierung abgeladen wird, scheint mir
Presse ja auch nicht, es sei denn in den direkt der Antrag irgendwie falsch zu sein. Vielleicht sehe
herausgegebenen Organen wie dem „Bulletin" ich die Dinge nicht richtig; aber meiner Ansicht
und dem „Bundesanzeiger", der ja an sich die Ge- nach ist das so.
setze nur im Wortlaut bringt, oder dergleichen. (Abg. Kalbitzer: Das letztere ist richtig!)
Sie ist also, wenn sie klar und deutlich zur Be- — Ja, Herr Kalbitzer, zu Ihnen wollte ich sowieso
völkerung sprechen will, als Regierung darauf an- noch ein persönliches Wort sagen. Ich bin, wo ich
gewiesen, Informationen zu erteilen, also den Sie hier wieder in Bonn treffe, einigermaßen dar-
indirekten Weg zu gehen. über erfreut, daß Sie anscheinend hier so den
Nun besteht natürlich die Gefahr, daß bei der Kriminalisten des Bundestages machen, den De-
indirekten Meinungsäußerung ein falscher Weg tektiv, denn immer enthüllen Sie hier so irgend-
eingeschlagen wird. Ich sehe die Gefahr darin — welche dunklen Affären, die irgendwie halb
und da stimme ich mit der vorgebrachten Kritik stimmen.
vollkommen überein --, daß etwa bestimmte Zei- (Zurufe von der SPD.)
tungen oder sonstige Korrespondenzunternehmun- Ich glaube aber, daß diese etwas negative Tätig-
gen durch direkte finanzielle Unterstützung dem keit wertloser ist, als wenn Sie einmal in offener
Wunsche der Regierung hörig oder willfährig ge- Art und Weise darlegen würden, wie es nun wirk-
macht werden. Der Weg ist ganz bestimmt falsch. lich gemacht werden sollte. Denn diese halben
Aber es sollte doch ein Weg gefunden werden, der Enthüllungen, ich weiß nicht, kommen mir immer
es der Bundesregierung erlaubt, z. B. den großen so vor, als wenn aus Entgleisungen, die überall
Tageszeitungen gegenüber in aller Offenheit in vorkommen, eine große Verdächtigung aufgebaut
festen Vereinbarungen, in festen Blocks — bei werden soll, der eigentlich der Hintergrund fehlt.
kleinen Zeitungen kann man das meinetwegen
z. B. im Materndienst machen — oder wie auch Ich möchte zum Schluß kommen und nur noch
immer ihren Willen kundzutun. Das ist ein viel folgendes sagen. Man braucht ja nicht immer neue
besserer und wirksamerer Weg als dieser indirekte Worte zu wählen. Für uns, für die Deutsche
Weg über die indirekte Abhängigmachung von Partei, gilt es als eigene Haltung, und es gilt auch
irgendwelchen Verlagen oder Korrespondenzen. als Bitte an die Bundesregierung das einfache
Das gebe ich offen zu. Im großen und ganzen, Wort: „Gazetten sollen nicht genieret werden!"
glaube ich, kann man aber feststellen — ich habe (Beifall bei der DP.)
vorhin darauf hingedeutet —, daß dieser schlechte Vizepräsident Dr. Jaeger: Das Wort hat der
Weg doch nur in Einzelfällen und in geringfügigem Herr Bundesminister des Innern.
Maße gegangen worden ist. Ich habe so den Ein-
druck, die SPD steht an der Klagemauer und er- Dr. Schröder, Bundesminister des Innern: Herr
hebt hier Klagen, und der eigentliche Grund der Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege
Klagen ist im großen und ganzen nicht gegeben. Dr e s b a c h hat, wenn ich es richtig aufgefaßt
Etwas anderes ist das, was der Kollege Brandt habe, mit der Feststellung begonnen, alle vorneh-
vorhinausgefüt,dmraieBuns- men Leute seien heute eigentlich in Straßburg. Ich
regierung wird ja darum hier angeführt, weil sie will nicht untersuchen, ob es zutrifft, daß alle vor-
als gutes Beispiel vorangehen soll und man sich nehmen Leute aus diesem Hause heute in Straß-
da, wo die Bürokratie oder andere Stellen Fehler burg sind;
machen, auf die Bundesregierung als leuchtendes (Zurufe von der Mitte)
Vorbild berufen können soll. Dem stimme ich zu. aber ich möchte sagen, selbst wenn das zuträfe,
Aber meiner Ansicht nach hätte der Kollege Brandt haben wir doch einen Teil der anregendsten und
von der SPD die langen Ausführungen, die er hier amüsantesten Leute auf jeden Fall hierbehalten.
gemacht hat, viel besser an gewisse sozialdemo-
kratisch geführte Landesregierungen richten sol- (Heiterkeit.)
len. Denn, meine Damen und Herren, wir wollen Mit diesem Kompliment an meine Vorredner wollte
uns doch alle nicht weißer machen, als wir sind. ich beginnen. Danach aber möchte ich folgendes
Die Bundesregierung wird hier in dem Antrag mit allem Ernst sagen.
2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954 1397
(Bundesminister Dr. Schröder)
Die Bundesregierung hat keine Pläne, die geeig- Ich möchte aber ein Weiteres dazu sagen. Ich
net sind, die Unabhängigkeit und die Freiheit der folge der Diskussion, die außerhalb dieses Hohen
Presse zu beeinträchtigen. Die Pressefreiheit ist Hauses und in der Presse selbst über Umfang, Not-
ein durch das Grundgesetz gewährleistetes Grund- wendigkeit oder Wünschbarkeit eines Pressegeset-
recht, und die Bundesregierung muß sich auf das zes betrieben wird, mit äußerstem Interesse, und
ernsteste dagegen verwahren, daß ihr Pläne unter- ich begleite diese Diskussion mit vielen guten
stellt werden könnten, die das Grundgesetz und die Wünschen für ein fruchtbares Ergebnis, ein Ergeb-
Grundrechte verletzen würden. nis, auf dem vielleicht einmal die Regierung auf-
(Sehr gut! in der Mitte.) bauen könnte, wenn Sie das nicht für allzu opti-
mistisch ansehen möchten.
Deswegen glaube ich, daß Sie diese Erklärung als
eine Erklärung der Politik der Bundesregierung Von zwei oder drei Seiten ist in der Diskussion
hinnehmen und den von Ihnen auf Umdruck 18 auf Beschlagnahmen hingewiesen worden, die auf
vorgelegten Antrag damit als erledigt erklären soll- Grund des § 94 der Strafprozeßordnung vorgenom-
ten. men worden sind. Meine Damen und Herren, nie-
(Zurufe von der SPD.) mand von Ihnen wird glauben, daß das Dinge
Jedenfalls möchte ich namens der Bundesregierung sind, die zur Zuständigkeit der Bundesregierung
gehören. Es sind in der Tat Vorgänge, die sich im
diese Bitte an das Hohe Haus richten.
Rahmen der Justiz abgespielt haben, und ich habe
Ein Teil der Ausführungen, die schon Herr Kol- den Wunsch, daß dieses Problem, das ja ein reines
lege Kalbitzer gemacht hat, laufen darauf hin- Rechtsproblem ist, durch entsprechende gerichtliche
aus, daß die Mittel, deren Bewirtschaftung der Entscheidungen weiter gefördert werden möchte.
alleinigen Prüfung durch den Herrn Präsidenten Sollte sich dann aus anderer Praxis oder anderer
des Bundesrechnungshofes unterliegt, hier noch Beurteilung durch die Gerichte ergeben, daß hier
einmal in die Debatte gezogen werden sollten. Wir etwa Anlaß bestünde, auf diesem Gebiet gesetz-
haben das bereits bei der Haushaltsdebatte erlebt, geberische Vorschläge zu machen, so stehen sie dem
und dies ist insoweit eigentlich nur ein kleiner Hause frei und können von der Regierung in Er-
Nachklang der Haushaltsdebatte. Ich möchte dazu wägung gezogen werden.
sagen, daß es in allen Regierungen von - wenn wir
mal in Deutschland bleiben — Otto von Bismarck Ich darf mich dann dem Herrn Kollegen Brandt
bis Otto Braun Mittel gegeben hat, die in dieser zuwend.ErhatilbswüdgeW,möcht
Weise behandelt worden sind. Der einzige Punkt ich sagen, auf ein Stichwort angespielt, das ihm vor-
der Debatte kann der sein, ob über diese Mittel mit her von dem verehrten Kollegen von der Freien
der genügenden staatspolitischen Verantwortung Demokratischen Fraktion zugespielt worden ist,
verfügt wird. Zu diesem Punkt möchte ich sagen, nämlich von der Opposition innerhalb der Regie-
daß diese Regierung eine hohe Meinung von der rungskoalition. Wenn ich den Prinzen Löwen-
Trennung zwischen dem, was man vielleicht ein stein richtig verstanden habe, hat er die Opposi-
Parteigeschäft nennen könnte, und den Funktionen tion innerhalb der Regierungskoalition als ein be-
einer Regierung hat. Auf jeden Fall nehme ich das lebendes und ein mitkontrollierendes Element auf-
für mich in Anspruch, und ich werde an keiner gefaßt und dargestellt. Da gleichzeitig von allen
Stelle anders als diesem Grundsatz entsprechend Seiten des Hauses der Appell zur Duldsamkeit ge-
handeln. Das ist die Grenzlinie, die eingehalten kommen ist, wird, glaube ich, auch das niemand un-
werden muß. Das ist die Grenzlinie, die nicht nur duldsam auffassen wollen. Wenn nun der Kollege
in Deutschland, sondern auch in den ausländischen, Brandt eine Stelle aus der Korrespondenz unserer
zum Vergleich geeigneten, nicht totalitären Staaten verehrten Freunde von der Freien Demokratischen
unter allen Umständen beachtet werden muß. Fraktion zitieren konnte, die von einem General-
Man darf darüber hinaus nicht übersehen, daß angriff auf Güter der Freiheit gesprochen haben
diese Regierung einen sehr, sehr großen Teil der soll - ich habe die Sache selbst nicht gelesen —,
Wählerschaft vertritt und daß allein schon deswe- so würde ich glauben, daß das Wendungen sind,
gen — weil sie einen so großen Teil der Wähler- die sich nicht auf konkrete Regierungspolitik be-
schaft vertritt — mindestens die Wahrscheinlich- ziehen, sondern die in irgend etwas anderem, aber
keit dafür sprechen wird, daß sie sich in ihrem Ver- sicher nicht in der Politik dieser Regierung begrün-
halten von staatspolitischen und nicht von partei- det sein können.
politischen Gesichtspunkten leiten lassen wird.
Der Kollege Brandt hat noch etwas anderes an-
Ich darf nun auf einzelne Punkte eingehen, die gesprochen, nämlich, wenn ich ihn richtig verstehe,
in der Debatte erwähnt worden sind. Es ist auf den einen in dieser Zeit allgemein zu bemerkenden ge-
früheren Pressegesetzentwurf hingewiesen worden sellschaftlich-staatlichen Zug zur Unduldsamkeit.
- er war ja nicht einmal bis zur Kabinettsreife ge-
Er hat das, jedenfalls für mein Gefühl, nicht im
diehen, wenn ich nicht irre —, für den ich nun in
einzelnen belegt. Ich neige eigentlich eher dazu, das
der Tat keinerlei Verantwortung trage und zu dem für richtig zu halten, was der letzte Vorredner,
ich mich deswegen auch gar nicht äußern möchte.
Herr Kollege Becker, ausgeführt hat, der auf seiten
Wenn in der Debatte aber die Frage durchge- der Regierung — ich will mich nicht zu den übrigen
klungen ist, wie die Regierung denn jetzt über ein gesellschaftlich-staatlichen Vorgängen äußern —
Pressegesetz denkt, so würde ich sagen: eine end- doch eher ein großes Maß von Duldsamkeit ver-
gültige Meinung darüber hat sie noch nicht formu- zeichnen zu können glaubte.
liert, aber sie nähert sich diesem Problem mit
großer Bedächtigkeit und sieht es nicht als eine Meine Damen und Herren! Die Regierung erhebt
Priorität hohen Ranges an; wenigstens kann ich keinen Anspruch darauf, als besonders duldsam
das aus der Perspektive meines Ressorts sagen. Ich gefeiert zu werden. Sie braucht dabei nicht weiter
habe leider, so darf ich hinzufügen, sehr viel grö- zu gehen und wird dabei nicht weiter gehen, als
ßere Sorgen als das beschleunigte Einbringen eines sich innerhalb der durch die Verfassung gezogenen
Pressegesetzes in diesem Hohen Hause. Schranken zu halten. Das gilt aber für alle Deut-
(Sehr gut! bei der SPD.) schen und nicht nur für die Regierung.
1398 2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954
(Bundesminister Dr. Schröder)
Ich habe allerdings sehr bedauert — das gilt so- keine seien. Nun, das mag vorkommen. Es gibt in
wohl für das, was der Herr Kollege Kalbitzer an allen Staaten Dementis, und vielleicht irrt man sich
einigen Stellen gesagt hat, wie auch für einiges von auch einmal in einem Augenblick. Aber er hat Pech
dem, was Herr Kollege Brandt gesagt hat —, daß gehabt. Das Beispiel, das er aus dem Auswärtigen
nicht doch Roß und Reiter bei beanstandeten Vor- Amt nannte, paßt nun in der Tat gar nicht. Ich
gängen genauer bezeichnet worden sind. Sehen Sie, weiß nicht, ob wir denselben Professor meinen;
meine Damen und Herren, ich habe ja leider neu- aber wenn Sie den Professor meinen, den ich jetzt
lich hier schon einmal einen anderen Fall dieser auch meine
Art aufgreifen müssen. Es dient nicht der Aufhel- (Heiterkeit)
lung von Vorgängen, an der uns allen liegen sollte, und auf den sich möglicherweise — —
wenn wir bei gewissen Vorgängen uns allzusehr (Abg. Kalbitzer: Werden Sie doch
nur auf Andeutungen beschränken. Das war z. B. deutlicher!)
— um nur den einen Fall zu nennen — die Be-
handlung der Steuerreformvorlage damals. Es — Na, Herr Brandt hat sich sehr diskret ausge-
scheint mir besser zu sein, wenn wir wirklich klipp drückt, und ich möchte sein Maß von Diskretion
und klar die Vorgänge nennen, sie zur Kenntnis nicht unterbieten.
der verantwortlichen Minister bringen oder sie (Abg. Heiland: Es handelt sich um Außen-
sonst in irgendeiner anderen Form hier behandeln. politik!)
Je klarer wir uns dabei verhalten und je mehr Außerdem — Herr Heiland gibt mir das richtige
wir uns mit den Tatsachen und nicht mit den Ver- Stichwort — spreche ich hier sozusagen für den
mutungen beschäftigen, desto besser wird es, Bundesminister des Auswärtigen, den zu vertreten
glaube ich, für die Bereinigung der Atmosphäre ich weiter keinen Anlaß habe. Aber ich nehme es
sein. nur als ein Beispiel für meine Argumentation. Ich
Herr Kollege Brandt hat dann etwas anderes sage noch einmal: Wenn Sie den Professor meinen,
gesagt. Er hat geglaubt, bemerken zu können, daß den ich jetzt meine und über den es möglicher-
gewisse Journalisten bevorzugt würden. Er hat das, weise ein Dementi gegeben hat, dann kann ich
glaube ich, für in- und ausländische gesagt, und Ihnen nur sagen: dieses Dementi stimmt außer-
zwar solche, die Zeitungen, vielleicht große Zeitun- ordentlich; denn das betreffende Amt macht in der
gen, vertreten, und andere, die nicht das Glück — Tat sehr starke Versuche, vielleicht sogar erfolg-
oder das Unglück, ich weiß nicht, wie man das reiche Versuche, diesen Mann zu halten. Ich glaube
nennen muß — haben, eine große Zeitung zu ver- also, daß, wenn ein Dementi einmal gestimmt hat,
treten. Ich möchte sagen, daß mir jedenfalls aus dies ein Dementi ist, das tatsächlich stimmt.
meiner eigenen Praxis und soweit ich die Praxis (Heiterkeit bei der SPD.)
meiner Kollegen beurteilen kann, das nicht gegen-
wärtig ist. Ich glaube, daß alle Informationsmittel Nachdem die Sache hier so diskret behandelt wor-
den ist, bin ich gern bereit, sie mit Herrn Brandt
— ich sehe hier von persönlichen Nettigkeiten des
einen oder anderen ab — ohne Ansehen der Person anschließend noch einmal durchzugehen, um
a 11e n Journalisten zur Verfügung gestellt werden. weiterhin auf demselben Niveau von Diskretion
zu bleiben.
Und dann ist das Presse- und Informationsamt (Erneute Heiterkeit.)
auch nicht etwa als eine Nachrichtenschleuse ge-
Dann hat sich Herr Brandt mit der Pressestelle
dacht, in der das von den anderen Ministerien für meines Hauses beschäftigt. Ich gebe ihm zu, daß
die Veröffentlichung gedachte Material eigentlich
es mir bisher — gestern waren ziemlich genau
erst durchgesiebt und möglichst vielleicht sogar sieben Monate meiner Amtsführung vergangen —
festgehalten werden könnte. Ich würde doch an- noch nicht gelungen ist, die ideale Pressestelle zu-
nehmen, daß Sie, wenn Sie die Tatsachen — gehen
sammenzubringen, und ich beneide jeden, der es
wir ruhig zurück in die ganzen vergangenen vier bereits geschafft hat, darum, eine ideale Presse-
Jahre — würdigen, sagen müssen, daß es nicht die stelle zu haben. Aber die Sache ist im Werden.
Praxis der Ressortchefs gewesen ist, diesen Weg Beschäftigen wir uns also einmal mit der Presse-
über das Presse- und Informationsamt etwa in stelle, so wie sie jetzt ist.
sklavischer Weise zu befolgen. Sie alle hier sind
doch Zeugen dafür, daß es eine sehr, sehr unmittel- Herr Brandt hat ganz richtigerweise und kolle-
bare Information eigentlich über alle wichtigen gialerweise, wenn ich mich so ausdrücken darf,
Dinge gegeben hat. zugegeben, daß man jemandem, der in einer Presse-
stelle sitzt, nicht die Kenntnis aller Gegenstände
Herr Brandt hat gemeint, ich hätte mich einmal eines so großen, so weit verzweigten und so schwie-
„quergelegt", als mein Kollege, der Bundesminister rigen Ressorts zutrauen und zumuten kann und
für Wirtschaft, seinen Beamten empfohlen habe, daß die Pressestelle dann eigentlich nichts weiter
auf vernünftige Fragen vernünftige Antworten zu sein kann als ein guter Mittler zwischen dem Jour-
geben. Herr Brandt, ich kann allein diese Vermu- nalisten, der sie angeht, und dem betreffenden Re-
tung schon nicht als genügend liebenswürdig emp- ferenten, Unterabteilungsleiter, Abteilungsleiter,
finden. Denn was anders sollten Beamte sagen, als oder wer immer es sein mag. Aber, Herr Kollege
daß sie auf vernünftige Fragen vernünftig antwor- Brandt, ich würde gar nicht in Abrede stellen, daß
ten! Das gehört also auch zu den Vorwürfen, von vielleicht mal dieser und mal jener nicht ganz so
denen ich nicht das geringste weiß und bei denen bedient worden ist, wie er es vielleicht gern gehabt
ich Ihnen nur dankbar wäre, wenn Sie mich, wenn haben möchte. Vielleicht erstreckte sich sein Inter-
das irgendwie urkundlich oder sonstwie zu fassen esse auch auf ein Gebiet, das in bestimmten Zeiten
wäre, darauf aufmerksam machen würden. Von einmal ein größeres Maß von zurückhaltender Be-
diesem Vorwurf möchte ich mich allerdings dann in handlung braucht. Sie kennen die vielen heißen
aller Geschwindigkeit reinigen; ich sage schon Eisen, die in diesem Ressort zusammengefaßt sind,
jetzt: er trifft mich nicht. und sie können eben nicht zu jeder Zeit gleich-
Herr Brandt hat etwas Weiteres gesagt. Er hat mäßig angepackt werden. Trotzdem möchte ich
von Dementis der Bundesregierung gesprochen, die meinen, daß sich sowohl in diesem Hohen Hause
2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954 1399
(Bundesminister Dr. Schröder)
wie auf der Pressetribüne oder sonst im Hause das in einer recht charmanten Weise zugedeckt, was
zahlreiche Leute befinden, die als Zeugen aus der Kollege Dresbach doch zur Unterstützung der Oppo-
letzten Zeit dafür auftreten könnten, daß sie nicht sition mit zu enthüllen unternommen hatte.
nur etwa mit einer unvollkommenen Pressestelle, (Heiterkeit bei der SPD.)
sondern mit dem Referenten, Unterabteilungsleiter,
Abteilungsleiter, Staatssekretär gesprochen haben. Nun, die Bemerkungen des Herrn Bundes-
Ich bin zwar nicht in der Lage, eine komplette Sta- innenministers waren der Versuch, dieses
tistik darüber vorzulegen, aber es würde nicht Problem sehr zu bagatellisieren.
schwerfallen, da ich mich auch meinerseits als Zeu- (Sehr richtig! bei der SPD.)
gen für viele Dutzende von Unterhaltungen mit
Damen und Herren der Presse in der letzten Zeit Es ist ihm weitgehend gelungen. Ich will versuchen,
zur Verfügung stellen kann. Ich glaube also, daß auf einige seiner Bemerkungen etwas zu sagen. Ich
die Behandlung, die die Pressepolitik des Bundes- glaube, daß die aufmerksame Prüfung des Proto-
ministers des Innern erfahren hat, den Tatsachen kolls der heutigen Verhandlungen ihn davon über-
nicht ganz adäquat ist. zeugen wird, daß meine beiden Freunde Kalbitzer
und Brandt bei den beiden entscheidenden Fragen
Ich komme zum Schluß und möchte meinen, daß durchaus „Roß und Reiter" genannt haben; über
hier vieles gesagt worden ist — hinsichtlich § 94 andere Dinge wird noch zu reden sein. Nur glaube
der Strafprozeßordnung habe ich es z. B. ausge- ich, Herr Minister, das Entscheidende, um das wir
führt —, was sich hier nicht unmittelbar zur kon- heute hier diskutiert haben, war doch ein Symptom,
kreten Erledigung anbietet, weil es Fragen sind, das in der Entwicklung Ausdruck findet, und nicht
die zum Teil auch in den Länderjustizverwaltungen alle Einzelheiten sind immer dazu angetan, bis in
weiter behandelt werden müssen. Das Problem der die letzten Quellen namhaft gemacht zu werden.
Verfassungsschutzämter der Länder ist ebenfalls Denn Sie werden verstehen, gerade die Dinge, die
angesprochen worden. Ich werde vielleicht in der hier als Beeinflussungsmethoden der Presse an-
nächsten Woche die Ehre haben, mich vor diesem gesprochen worden sind, haben oft zur Folge, daß
Hohen Hause etwas näher mit diesem Gegenstand man Roß und Reiter Ihnen hier gewissermaßen auf
zu beschäftigen. den Tisch legen kann. Aber ich glaube, Sie haben
eine muntere Reiterei, die Sie sich mit Roß und
Es ist manches gesagt worden, was ein förder- Reiter aus dem Stenogramm des heutigen Tages
licher Beitrag zur Klärung der Atmosphäre und herauslesen können.
eigentlich zur Fundierung der Auffassung gewesen
ist, daß in der Tat bei uns eine freiheitliche Presse- Sie haben vieles verschwiegen, Herr Minister. Ich
politik betrieben wird und eine Presse existiert, die glaube, Sie haben nicht bloß verschwiegen, was Sie
sich einer sehr, sehr großen Freiheit erfreut. Meine nicht wissen, sondern, einem Worte Börnes zufolge,
Damen und Herren — ich sage das nun mit großem auch das, was Sie wissen. Viel deutlicher in bezug
Ernst —, ich möchte mit einem doppelten Gedanken auf das, was man in gewissen Milieus der Regie-
schließen. Das eine ist der Gedanke, den ich von rung beabsichtigt, ist der Kollege Becker von der
Herrn Kollegen Dresbach übernehmen kann, der rechtsflügeligen Regierungspartei dieses Hauses ge-
gesagt hat, es sei wesentlich, sich ins Vertrauen zu worden in seinem Plädoyer für Materndienst und
ziehen. Es wird sicherlich ein hohes und wichtiges Regierungsautorität. Ich hoffe nur, daß der Herr
Anliegen der Bundesregierung sein, ständig den Ver- Kollege Becker das größere Maß an Regierungs-
such zu machen, mit der Presse auf gutem und ver- autorität, das er der Regierung auf dem Infor-
trautem Fuß zu stehen. Aber alle von Ihnen, meine mationswege anempfohlen hat, nicht aus jenem
Damen und Herren, die die Gelegenheit haben — Geiste heraus exerziert wissen möchte, der ihn
und das werden hoffentlich alle sein —, täglich eine nach Mitteilungen, die ich von meinen Hamburger
komplette Übersicht über die Publikationen in Freunden bekommen habe, dazu veranlaßt hat, in
Deutschland zu bekommen, werden doch, glaube Hamburg von der Bundesfahne als schwarz-rot-
ich, mit mir in der Auffassung übereinstimmen gelber Fahne zu reden.
müssen, daß wir in einem Lande leben, das uns (Empörte Zurufe von der SPD: Hört! Hört!
gerade auf diesem Gebiet ein sehr hohes Maß von — Raus! — Abg. Schröter [Wilmersdorf]: So,
Freiheit gibt. Wenn mich ein Gedanke während so! Die alte Sorte!)
dieser ganzen Debatte bewegt hat, dann ist es der,
daß ich den herzlichen Wunsch habe, daß uns und Worum es geht in der Auseinandersetzung, das sind
unserem Volke dieses Maß von Freiheit für lange doch die zensurlüsternen Tendenzen unserer Zeit,
Zeit erhalten bleiben möge. (Abg. Schröter [Wilmersdorf]: Das ist die
(Beifall bei den Regierungsparteien.) alte Marke!)
die sich in die große Macht der meinungsbildenden
Vizepräsident Dr. Jaeger: Das Wort hat der Ab- Mittel hineindrängen wollen. Das geschieht sehr
geordnete Kühn. viel mehr auf dem Wege über sehr subtile Methoden
als auf dem Wege über unmittelbare Zensur-
methoden.
Kühn (Köln) (SPD): Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Zu einigen abschließenden Bemerkun- Es war der Herr Bundestagspräsident und es war
gen haben mich zunächst Herr Kollege Dresbach — wenn ich mich der Pressenotiz recht entsinne —
und zum Schluß der Herr Bundesinnenminister ver- auch der Herr Bundeskanzler, die der Presse ein
anlaßt. Herr Kollege Dresbach ist in seiner char- größeres Maß an Zurückhaltung empfohlen haben.
manten Courtoisie so weit gegangen, daß er uns Herr Kollege Becker ging sogar so weit, es als ein
die Dessous der Bundesregierung freundlicherweise Übergebühr an Langmut zu empfinden, daß die
zur Untersuchung überlassen hat, gewissermaßen Regierung hier nicht häufiger dagegen einschreitet,
als Monopolaufgabe für die Opposition; eine wenig daß sie es hinnimmt, daß Leitartikel der Presse von
anreizende Ermunterung. Der Herr Bundesinnen- einem derartigen Geist der Kritik getragen sind.
minister hat dann seinerseits noch schamhaft alles (Hört! Hört! bei der SPD.)
1400 2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954
(Kühn [Köln])
Nun ist von der Regierung und von dem Herrn Pascal, der einmal gesagt hat: „Was diesseits der
Bundesinnenminister hier selbst gesagt worden, daß Pyrenäen Wahrheit ist, ist jenseits Irrtum". Viel-
diese Regierung am 6. September eine große Mehr- leicht, was diesseits der Regierungsbank vernünftig
heit bekommen hat. Ich glaube, wer rückwärts ist, könnte jenseits durchaus als unvernünftig emp-
schauend den Wahlkampf betrachtet, wird j eden- funden werden.
falls nicht den Eindruck gewinnen, daß die große (Heiterkeit und Beifall bei der SPD.)
Masse der Presse dieser Regierung unfreundlich
gegenübergestanden hat. Nun, worum geht es, und was war das Anliegen
unserer Anfrage? Es macht sich eine Tendenz be-
(Sehr richtig! bei der SPD.) merkbar, die heimlichen Methoden der Zensur zu
Wenn sich mittlerweile in der Haltung dieser praktizieren.
Presse etwas geändert haben sollte, dann dürfte (Widerspruch in der Mitte.)
das vielleicht nicht zuletzt daran liegen, daß sich Es macht sich eine Tendenz ganz allgemein in
das öffentliche Urteil über den Charakter und die dieser Zeit, die wir durchleben, bemerkbar, die
Chancen dieser Politik geändert hat. subtilen Formen der Meinungsbildung zu prakti-
(Beifall bei der SPD.) zieren, die sich ja nicht mehr der nun hinter uns
Nun hat der Herr Innenminister gesagt — und oder vorläufig jedenfalls hinter uns liegenden Pe-
das war, glaube ich, ein etwas falscher Zungen- riode der brutalen Gewalt der „Zensur" bedient.
schlag; ich will hoffen, daß er es auch nicht so ge- Sie wissen, daß die Skala der subtilen Beein-
flussungsmethoden — auf unserem Gebiet Favori-
meint hat, wie er es gesagt hat —, die Regierung
vertrete eine große Wählerschaft. Herr Minister, sierung gefügiger Journalisten usw. und alles mit
das ist nicht richtig. Die Regierung vertritt das Mitteln, die gar nicht in materieller Gestalt in Er-
Volk. scheinung zu treten brauchen — sehr weit reicht
(Sehr gut! bei der SPD.) und daß das außerordentlich gefährliche Methoden
sind. Wir möchten nach dem Grundsatz, daß be-
Ihre Koalitionsparteien vertreten eine vorläufig reits den Anfängen zu wehren ist, daß in diesem
noch — jedenfalls nach den bisher meßbaren Er- Hause eine Meinungserklärung vorliegt. Ich danke
gebnissen — größere Wählerschaft. dem Herrn Innenminister, daß er die Auffassung
(Lachen in der Mitte.) hier vertreten hat, daß die Regierung jedenfalls
— Meine Herren, gerade von Ihren Kreisen ist nicht den Willen hat — und ich nehme diese seine
immer so großer Wert darauf gelegt worden, zu Erklärung zunächst als bare Münze —, solche
sagen, die Regierung ist ein von den Koalitions- Methoden zu praktizieren.
parteien insoweit unabhängiges Institut, als sie Wir hätten deshalb gewünscht, daß sich auch be-
das ganze Volk vertritt. reits bei den Etatberatungen eine Mehrheit aus
den Regierungsparteien für die Auffassung ge-
Dr. Schröder, Bundesminister des Innern: Das funden hätte, die Subsidien- und Ermittlungsfonds,
habe ich auch gesagt. Ich habe ausgeführt, daß wir die der Regierung zur Verfügung stehen, durch
eine hohe Meinung davon hätten, daß zwischen einen parlamentarischen Ausschuß kontrollieren
Regierungs- und Parteigeschäften zu trennen sei. zu lassen.
(Beifall bei der SPD.)
Kühn (Köln) (SPD): Das haben Sie gesagt! Sie Der Sprecher der FDP, Prinz zu Löwenstein,-
haben nur, glaube ich — die Kontrolle des wört- hat darauf hingewiesen, daß die FDP diesen
lichen Stenogramms wird Sie davon überzeugen; Wunsch hat. Ich habe lebhaft bedauern müssen,
ich habe von vornherein unterstellt, daß Sie es daß die FDP das zu anderen Zeiten, als man ab-
nicht in diesem Sinne gemeint haben —, gesagt, die stimmungsmäßig diese Neigung in diesem Hause
Regierung vertrete eine große Wählerschaft. Es hätte bekunden müssen, nicht in der notwendigen
geht mir schon deshalb darum, diese Dinge klar- Form zum Ausdruck gebracht hat.
zustellen, weil der Kollege Becker gefordert hat, (Abg. Schröter [Wilmersdorf]: Da war es
daß beispielsweise der Rundfunk gerade der Re- ja für Minnesota! — Weitere Zurufe von
gierung ein größeres Maß an Verlautbarungsmög- der SPD.)
lichkeiten abseits von den Parteiquoten einrichten
sollte. Das stützt sich ja doch auf jene These, die Ich glaube, daß wir sehr daran interessiert sein
davon ausgeht und die wir für falsch halten, daß müßten, daß ein Ausschuß vorhanden ist, in dem
man die Regierung bei ihren Aktionen als Ver- eine absolute Offenherzigkeit herrscht und in dem
tretung des ganzen Volkes, aber nicht als die Ver- Menschen sitzen, denen das Vertrauen zuge-
tretung einer bestimmten Gruppe der Wählerschaft sprochen werden muß und die eben die Gewähr
empfinden könnte. — die einzige einem Parlament gegenüber zu prak-
tizierende Gewähr — bieten, daß diese Fonds nicht
(Sehr gut! bei der SPD.) — wie es der Herr Innenminister erklärt hat und,
Wir halten das für eine sehr theoretische Unter- ich wiederhole, wie ich es ihm zunächst glaube —
scheidung. Aber es war mir interessant, jedenfalls in bestimmtem Parteien-, Koalitions- oder Regie-
von dem Herrn Innenminister die Bestätigung, die rungsinteresse verwendet werden.
Interpretation seiner Ausführungen hier einzu- Aber ein demokratisches Parlament bedarf dazu
holen. eines Instruments, das über den Rahmen der Re-
Nun hat der Herr Innenminister auch noch ge- gierung und ihrer Koalitionsparteien hinausgeht.
sagt, der Kollege Brandt habe erklärt, er — der Prinz zu Löwenstein hat von der „Opposition in
Herr Innenminister — hätte Widerstand geleistet, der Koalition" gesprochen, und ich werte es als
daß man „auf vernünftige Fragen vernünftige Ant- einen Ausfluß seiner Absicht — er hat sich „einen
worten" geben sollte. Ich unterstelle der Intelligenz ganz freien Demokraten" genannt —, die FDP zu
des Herrn Innenministers gewiß nicht, daß er dies einer GFDP — zu einer ganz Freien Demo-
in dieser Form gemeint hat. Herr Minister, es gilt kratischen Partei — zu wandeln.
nur manchmal die Anlehnung an ein Wort von (Heiterkeit.)
2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954 1401.
(Kühn [Köln])
Wir würden es jedenfalls sehr lebhaft begrüßen, nen zu bringen; die große sittliche Funktion der
wenn die FDP unsere Absicht, für diese Fonds Presse ist doch, daß sie ein gesinnungsbildendes
einen Ausschuß zu schaffen, unterstützen würde. Instrument ist.
Nun hat Herr B e c k e r davon gesprochen, daß (Beifall bei der SPD.)
sich in der Presse auch Dinge täten, die eben nicht Diese Aufgabe kann sie nur aus der großen Ver-
zu tolerieren seien; daß die Freiheit auch miß- antwortung heraus erfüllen, die mit dem Beruf
braucht werde. Dazu liegen — und hier möchte ich des Journalisten verbunden ist. Sie kann sie aber
an die Adresse des Herrn Innenministers eine kon- auch nur erfüllen aus der ganzen Substanz des
krete Angabe machen — mittlerweile in der Tat Wissens um die Dinge, des Wissens, das ihr ver-
eine Fülle von Publikationen in der Bundes- mittelt werden muß von all denen, die es besitzen.
republik vor. Mir ist ein Organ vorgelegt worden, Hier hat die Regierung — von welchen Parteien
das unter dem aufreizenden Titel „Die Anklage" sie auch immer getragen ist — die große Funktion,
als Organ der Entnazifizierungsgeschädigten er- die Presse an dieses Wissen herankommen zu las-
scheint und in dem man beispielsweise Formulie- sen. Ich glaube, es ist eine Frage des inneren
rungen findet, in denen gegenüber allen Politikern, Ehrenkodex der wahrhaften Journalisten und
die nach 1945 in Erscheinung getreten sind, Worte gar nicht so sehr der Disziplinierung von außen,
geprägt werden wie: „Diese Garnitur der 1945er, die für den Beruf nicht geeigneten Elemente auf
die nicht Deutschland, sondern das Gangstertum ihre Art aus dem Gewerbe herauszubringen. Wir
und den Auswurf der Menschheit repräsentieren". wünschen keine Form der Zensur, keine Gänge-
lung der Meinungsbildung.
(Hört! Hört! bei der SPD.)
Ich möchte schließen mit einem Wort Hebbels :
Dieses Blatt erscheint immer noch, und ich könnte
Ihnen eine Fülle von ähnlichen Zitaten aus diesem Leicht ist ein Sumpf zu verhüten, doch
Blatt vorlesen. ist er einmal entstanden,
so verhütet kein Gott Schlangen und
Ich glaube, daß hier in der Tat die Grenze der Molche in ihm.
Freiheit liegt. Und was Gott — nach Hebbel — nicht möglich ist,
(Sehr richtig!) das würde auch — nun will ich keinen Namen
Um dies festzustellen, bedürfen wir keines Presse- nennen — nicht irgendeinem Informationsminister
gesetzes, ob es nun aus den Kreisen der Regierung möglich sein. Deshalb wünschen wir, daß die Re-
ursprünglich initiiert wurde oder ob gewisse Kreise gierung künftig nicht — auch nicht zögernd — an
der Presse — vielleicht mehr aus der Haltung die • Diskussion solcher Institute herangeht. Wir
heraus, eines Presse schut z gesetzes zu bedürfen danken dem Herrn Bundesinnenminister dafür, daß
— glaubten, es nunmehr selbst initiieren zu sollen. er in aller Form eine Erklärung abgegeben hat,
— Dazu genügen die gesetzlich gegebenen Bestim- die vollinhaltlich mit unserem Antrag überein-
mungen und die Bestimmungen des Bundesgrund- stimmt. Wir können unseren Antrag durch diese
gesetzes. positive Erklärung des Herrn Innenministers als
(Sehr richtig! bei der SPD.) erledigt ansehen.
Hier ist ein fundamentaler Angriff gegen die demo- (Beifall bei der SPD. — Bravo! in der
kratische Grundordnung gestartet. Ich glaube, daß Mitte.)
-
die Regierung hier eine mimosenhaftere Empfind-
lichkeit bekunden muß. Ich weiß nicht, ob die Re- Vizepräsident Dr. Jaeger: Das Wort hat der
gierung endgültig ihre Absichten, ein Informations- Herr Bundesminister des Innern.
ministerium zu schaffen, zu Grabe getragen hat,
Jedenfalls ist heute mehrfach der beziehungsreiche Dr. Schröder, Bundesminister des Innern: Herr
und bedeutungsvolle Name Lenz gefallen, der ge- Präsident! Meine Damen und Herren! Verzeihen
wissermaßen das Symbol für die Frühlingsgefühle Sie, wenn ich noch einige wenige Worte sagen
politischer Zensurabsichten bei manchen Leuten ge- muß. Herr Kollege Kühn hat an einer Stelle—zu
worden ist. meiner großen Freude und in Bestätigung dessen,
(Heiterkeit.) was ich gesagt habe —, sichtbar werden lassen,
was unsere gemeinsame Sorge werden sollte, näm-
Herr Kollege Dresbach hat gesagt, daß Herr Lenz lich, die Grenzen der Freiheit zu sehen und dort,
aus den Diensten des Kabinetts ausgeschieden sei, wo sie überschritten werden, rechtzeitig ihre Ein-
„um sich wahrhaft freiem geistigem Schaffen" zu haltung zu erzwingen. Herr Kollege Kühn, das ist
widmen. Ich hoffe, daß dies nicht etwa doch be- der entscheidende Punkt, auf den es eigentlich
deutet, daß er weiterhin am Gedanken des Infor- ankommt. Es ist nach meiner Meinung nicht so
mationsministeriums festhält. sehr die Sorge, ob heute innerhalb des Rahmens
Die heutige Debatte hat uns nicht vollends davon der verfassungsmäßigen Grundordnung dieses
überzeugt, daß die Regierungsabsichten völlig oder jenes vielleicht nicht hundertprozentig schön
harmlos seien. Wir wollen keine Zensur. Wir dan- aussieht und ob dieser oder jener kleinere oder
ken der Regierung, daß sie erklärt hat, auch sie größere Mißstand vorliegt; unsere eigentliche Sorge
wolle sie in keiner Form. Wir wünschen aber auch ist — das möchte ich mit allem Nachdruck wieder-
keinen irgendwie anders genannten Meinungslen- holen — die Erhaltung der Freiheit, die wir haben.
kungsapparat. Wir wünschen, daß die Presse nach Wir sollten uns dieser Freiheit ganz und gar be-
einem Wort Heinrich Heines der Sauerteig des wußt sein, sowohl um ihre Grenzen und ihre Ge-
widerstrebenden Geistes ist und bleibt. Das ist fährdung zu erkennen, als auch um uns zu vereinen
ihre große Funktion, eine Funktion, die sie zu in dem Willen, sie zu erhalten. Das ist das eine,
erfüllen hat aus einer tiefen Verantwortung her- was ich sagen muß.
aus. Die Aufgabe der Presse — und es gibt Presse- Das zweite ist dies: Ich möchte doch noch einmal
organe, die diese Grundaufgabe leider nicht immer ganz klarmachen, was ich meine, um mich nicht
mit aller Deutlichkeit empfinden — liegt ja nicht nachher in Protokollerklärungen einlassen zu müs-
so sehr darin, „Knüller" und Nachrichtensensatio sen. Diese Regierung ist nicht eine Regierung, die
1402 2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954
(Bundesminister Dr. Schröder)
von einer Fraktion dieses Hauses getragen wird, form der bestehenden Sozialversicherung gedacht.
sondern eine, die von allen Fraktionen mit Aus- Ich mache diese Feststellung, und wir werden zu
nahme der sozialdemokratischen Fraktion getra- der damit zusammenhängenden Frage, der Frage
gen wird. Daraus leite ich das Argument her, daß nach der Art der gedachten Sozialreform durch ge-
sich bereits aus ihrer Zusammensetzung — ich wisse Äußerungen des zuständigen Ressortministers
nehme damit noch einmal auf, was der Prinz zu und des Ministers Storch genötigt, wie er sie z. B.
Löwenstein zu diesem Punkte gesagt hat — ein kürzlich in der Haushaltsdebatte getan hat, die
hohes Maß von Wahrscheinlichkeit dafür ergibt, darauf schließen lassen, daß er offenbar die Reform
daß sie nicht den Kurs irgendeiner Parteipolitik, der Sozialversicherung vor den Beginn einer allge-
sondern einen durchaus übergeordneten Kurs ver- meinen Sozialreform gesetzt sehen möchte.
folgen muß und wird, sozusagen soziologisch be- Unsere erste grundsätzliche Frage auf Grund un-
trachtet. Aber ich habe im Eingang eins darüber serer Anfrage lautet deshalb: Wie soll die Sozial-
hinaus gesagt und lege großen Wert darauf, das reform aussehen und welchen Umfang soll sie
zu wiederholen: Wir haben eine hohe Meinung haben? Soll sie sich auf die gegenwärtig in der
von der Funktion einer Regierung, dem Ganz en Sozialversicherung Betreuten beziehen oder be-
zudien.NmasoltehMinug schränken? Soll sie in ihren Problemkreis die Selb-
Frage stellen dürfen. ständigen einbeziehen, von denen wir ja wissen,
(Beifall bei den Regierungsparteien.) daß sie heute insbesondere nach einer Altersver-
sorgung allenthalben rufen? Wird sie die Kranken-
Vizepräsident Dr. Jaeger: Wortmeldungen liegen versicherung und das Arztproblem erfassen? Wird
nicht mehr vor. Da die Fraktion der Sozialdemo- die Sozialreform sich auch auf die Kriegsopfer und
kratischen Partei ihren Antrag Umdruck 18 als eventuell auf die Vertriebenen erstrecken? Wie ist
erledigt erklärt hat, kann ich diesen Punkt der das Verhältnis einer Sozialreform dieser Art zur Für-
Tagesordnung abschließen. sorge gedacht? Endlich: Wie steht sie zu dem gro-
Ich rufe auf Punkt 3 der Tagesordnung: ßen Problem der Vorbeugung und Vorsorge gegen
Beratung der Großen Anfrage der Fraktion gesundheitliche Schädigung, d. h. zu der Verwirk-
der SPD betreffend Sozialreform (Druck- lichung jener großartigen Idee, die insbesondere
sache 314). die Weltgesundheitsorganisation immer wieder in
den Vordergrund gestellt hat, nämlich daß Gesund-
Wer soll den Antrag begründen? — Herr Abge- heit ein Gut sei, auf dessen Erhaltung und Förde-
ordneter Preller! rung nicht erst Bedacht genommen werden sollte,
Dr. Preller (SPD), Anfragender: Herr Präsident!
wenn der Mensch von Krankheit befallen ist, wenn
er Schaden an Leib und Seele nehmen muß?
Meine Damen und Herren! Ich habe die Ehre, die
Große Anfrage der sozialdemokratischen Fraktion Meine Damen und Herren, Sozialreform ist ein
über den Stand der Sozialreform zu begründen, großes Wort, das wissen wir alle. Sie mögen es uns
die wir am 10. März 1954 eingebracht haben. Die nicht übelnehmen, wenn wir ein wenig Skepsis in
sozialdemokratische Fraktion ist sich dabei be- oder gegen dieses Wort des Herrn Bundeskanzlers
wußt, daß auf die Debatte, die nun zu folgen hat, einfließen lassen, nachdem wir doch erleben muß-
draußen die Alten und die Gebrechlichen, die Wit- ten, daß die Parole des Bundeskanzlers im 1. Bun-
wen und die Waisen, die Invaliden, Kranken, destag, er wolle „so sozial wie möglich" sein, min-
Kriegsopfer und Vertriebenen hören, d. h. jene, die destens oder überhaupt von der Regierungskoali--
einen so überaus großen Teil unseres Volkes aus- tion offensichtlich mehr im einschränkenden Teile
machen, einen Teil, der in einer viel tieferen Weise verstanden worden ist.
von dem betroffen worden ist, was sich in den letz- (Abg. Horn: Das müssen Sie erst beweisen!)
ten acht Jahren ergeben hat, als etwa die Beschäf-
tigten oder auch die kleine Schicht derer, die recht — Das kann ich Ihnen sehr leicht beweisen, Herr
eigentlich die Früchte des Wiederaufbaus davon- Kollege Horn.
getragen haben. Aber wir wissen auch, daß weit (Abg. Horn: Nein, das können Sie gar nicht
über die Kreise der SPD hinaus eine sozialpolitisch beweisen!)
interessierte Öffentlichkeit — ich meine damit jene, — Ich denke etwa daran, daß Sie die 25%ige
die aktiv an einer positiven Sozialpolitik arbeiten Rentenzulage gefordert haben, daß aber entgegen
— nach diesem Plenarsaale sieht, eine Öffentlich- Ihrem Beschluß nur die Hälfte all derer, die in
keit, die ich nicht allein aus Wissenschaft oder Ver- Betracht kommen, eine 25%ige Rentenzulage be-
waltung, Zeitungen und Zeitschriften und der kommen haben. Oder ich denke an das unglück-
Presse, sondern aus Sozialpolitikern aller Parteien, selige Dreimarkgesetz, das wir selbst alle bedauern.
einschließlich der Regierungsparteien, zusammenge- (Abg. Winkelheide: Das haben Sie ja mit
setzt sehe; denn bis in die Regierungsparteien hin- beschlossen!)
ein ist, wenn ich recht sehe, das Wort des Bundes- - Nein, da sind wir damals an jenem Nachmittag
kanzlers in der Regierungserklärung von der not- unter Druck gesetzt worden, Herr Winkelheide.
wendigen umfassenden Sozialreform so verstanden Ich glaube, Sie waren noch gar nicht im Bundestag,
worden, daß mindestens nunmehr im 2. Bundestag
die bisher notwendig im Vorrang stehende Außen- (Lachen in der Mitte)
politik durch eine aktive Innenpolitik ergänzt wer- Sie sind ja erst später eingetreten, als wir damals
den solle, eine Innenpolitik, die dem tiefen Einbruch sozusagen binnen fünf Minuten ein solches Gesetz
in das soziale Gefüge, den Nazismus und Krieg be- beschließen sollten. Oder ich denke an die Erhö-
wirkt haben, eine positive Sozialpolitik gegenüber- hung der Grundrenten, wo ja auch von Ihnen zu-
stellen soll, die die Wunden heilt und darüber hin- nächst einmal diese Frage aufgegriffen wurde. Was
aus eine neue soziale Ordnung herbeiführt. Nicht herauskam, waren die fünf Mark, die der Herr
umsonst, glauben wir, hat der Herr Bundeskanzler Bundesfinanzminister dann trotz der Weihnachts-
am 20. Oktober das Wort „umfassend" vor die zeit nicht einmal ohne weiteres auszahlen wollte.
Sozialreform gestellt. Als er dieses Beiwort ver- Wir haben Beispiele genug.
wandte, hat er zweifellos nicht allein an eine Re (Sehr richtig! bei der SPD.)
2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954 1403
(Dr. Preller)
Die Zurückhaltung gegenüber diesem Bundes- parteien bestehen. Aber die Menschen draußen,
kanzlerwort beruht im übrigen auf mehreren Fest- die es angeht, wollen ja schließlich wissen, wohin
stellungen. Einmal hat der Bundeskanzler selbst diese sozialpolitische Reise gehen soll.
in der Regierungserklärung eine Beschränkung des Ein Drittes, was uns Sorge macht, das ist —
Sozialhaushalts auf den gegenwärtigen Anteil am gestatten Sie, daß ich es so ausdrücke — die durch-
Sozialprodukt vorgenommen, d. h. er erklärte, daß sichtige Undurchsichtigkeit der Äußerungen des
eine Ausweitung des Sozialhaushalts an das An- Arbeitsministers über die Arbeiten an der Sozial-
steigen des Sozialprodukts gebunden sei. Das ist reform. Wir wissen alle, daß unser Kollege Storch
ganz offenbar die These des Finanzministers, der nicht unberedt ist. Wir werden heute wohl noch
in seinem Bundeshaushalt, obwohl doch die Not- einige Proben davon bekommen. Bezüglich der
stände der Versicherten und Versorgten von uns Sozialreform haben wir aber seit Monaten nur
allen anerkannt sind, keinerlei Vorsorge für Worte, nur Redewendungen gehört. Ich habe nie-
irgendwelche Leistungserhöhungen getroffen hat, manden gefunden, auch nicht bei der Koalition,
im Gegenteil, wie wir wissen, diese halbe Milliarde der sich den rechten Vers aus diesen vielen Wor-
noch aus den Versicherungsträgern herausgeholt ten hätte machen können. Acht Tage nach der Re-
hat. Draußen sind Millionen von Menschen auf gierungserklärung, am 22. Oktober, hat Herr
das angewiesen, was sie von den Schaffenden aus Minister Storch vor Pressevertretern erklärt, daß
dem Sozialprodukt erhalten werden. Die Bundes- sein Plan der Altrentenerhöhung die erste Maß-
regierung hat darin offenbar bisher mehr ein nahme zur Sozialreform darstellte. Es folgten in
fiskalisch es Problem gesehen. Wir müssen fast regelmäßigen Abständen weitere Aussagen
Ihnen dazu sagen, daß das kein fiskalisches Pro- über die Altrentenerhöhung. Unterdessen konnte
blem ist. Es ist einmal eine volkswirtschaftliche der Eindruck entstehen, daß nach der Auffassung
Frage und zum andern — darauf legen wir beson- unseres Kollegen Storch die umfassende Sozial-
deren Wert — eine Frage menschlicher Gesinnung reform, die der Bundeskanzler angekündigt
in einer Zeit, in der wir doch in Deutschland alle hatte, sich in der Altrentenerhöhung, in Maßnah-
zusammenstehen sollten. men auf dem Gebiet des Arztrechts und vielleicht
Zum zweiten. Der Bundeskanzler sprach von noch der Rentenkrankenversicherung erschöpfen
einer Umschichtung innerhalb des Sozialhaushalts. könne. Gewisse Äußerungen von Ministerial-
Dieses reichlich undurchsichtige Wort mußte jeden direktor Eckert lassen darauf schließen — er ist
Sozialpolitiker aufhorchen lassen. ,Man kann sich ja der zuständige Ressortdirektor —, daß diese
natürlich vorstellen, daß in erster Linie die nied- drei Dinge gemeint sind, wenn von Sozialreform
rigsten Renten aufgebessert werden; aber das gesprochen wird.
wäre eine Art Phasenverschiebung, keine Um- Der Minister hat schließlich bei der Haushalts-
schichtung. Umschichtung heißt doch offenbar, um debatte erklärt, daß die Sozialreform seit langem
hier gewisse Presseäußerungen unter die Lupe zu angesagt sei. Ja, meine Damen und Herren, ange-
nehmen, daß dem einen etwas genommen werden sagt ist sie, weiß Gott, schon sehr lange. Aber wir
soll, um es dem andern zu geben. Das müßte man fragen, was über dieses Ansagen hinaus geschehen
darunter verstehen, wenn dieses Wort überhaupt ist, und ich glaube, da ist die andere Äußerung
einen Sinn haben soll. von Ihnen, Herr Minister, bei dieser Haushalts-
Ich möchte mich hier auf die „Hannoversche debatte aufschlußreicher, wo Sie präzis sagten,
Allgemeine Zeitung" beziehen, die am 14. April zunächst müßten die „größten Notstände" in der -
schrieb, daß derjenige, der eine Rente aus der Sozialversicherung beseitigt werden, und erst
Sozialversicherung bekomme, künftig Nebenrenten dann, so sagten Sie, könne man an grundsätzlichere
aller Art nicht mehr erhalten solle, so daß, wie Fragen herangehen.
die „Hannoversche Allgemeine Zeitung" weiter
schreibt, wahrscheinlich Hunderte von Millionen Soll das bedeuten, Herr Minister — und das
Mark eingespart werden könnten. möchten wir hier wiederum fragen —, daß Sie
zunächst eine Reform der Sozialversicherung
(Zuruf von der Mitte: Ist das ein durchführen und erst dann das Problem der
Regierungsorgan?) Sozialreform in Angriff nehmen wollen? Wenn
Entspricht das Ihren Absichten, Herr Minister? dies Ihre Absicht sein sollte, so trennen sich nicht
Das möchte ich in diesem Zusammenhang fragen. nur Ihre und unsere Auffassungen, sondern ich
(Weitere Zurufe von der Mitte.) fürchte, daß Sie sich auch in einem grundlegenden
Widerspruch zu den seit langem geäußerten Auf-
Weiter ist zu fragen: Wo soll gekürzt werden, um fassungen in der sozialpolitischen Wissenschaft und
anderweit aufstocken zu können? Sind es etwa auch in der sozialpolitischen Publizistik befinden.
die Mindestrenten, denen man zu Leibe rücken
will? Sollen die unglückseligen Anrechnungs- Ich möchte in diesem Zusammenhang mit Ge-
bestimmungen erneut vermehrt werden? Ist es nehmigung des Herrn Präsidenten den „Arbeit-
der in diesem Hause von dem Herrn Kollegen geber", die Zeitschrift der Arbeitgeberverbände,
Atzenroth, der von der FDP vorgetragene Ge- vom April dieses Jahres zitieren, wo ausgeführt
danke einer Umschichtung von der Arbeitslosen- wurde, daß der Herr Minister offenkundig — so
versicherung auf die Rentenversicherung? Steckt heißt es dort — sein Interesse an der Sozialreform
das etwa hinter diesen Worten des Bundeskanzlers? hartnäckig auf die Sozialversicherung begrenze.
Oder will man, worauf das Finanzministerium Schon sagt dieses Blatt — die Kriegsopferver-
offenbar abzielt, die Bedürftigkeitsprüfung ganz sorgung liege ihm fern, und mit Dingen der Für-
oder teilweise an die Stelle des heutigen Rechts- sorge wolle er gleich gar nichts zu tun haben. Und
anspruchs setzen? das Blatt fährt unter Hinweis auf die Mackenrodt-
schen Untersuchungen über die Rentenkumulation
Wir haben den Eindruck, daß in dieser doch fort:
wohl entscheidenden Frage außerordentliche Un-
klarheit, ja, ich glaube, sogar Meinungsverschieden- Soweit diese Verflechtungen von Sozial-
heiten innerhalb der Regierung und der Koalitions renten mit Sozialleistungen anderer Art nicht
1404 2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954
(Dr. Preller)
zur Kenntnis genommen werden, wird die In diesem Zusammenhang zwei Worte über die
große Aufgabe der Sozialreform nicht erkannt. Altrentenerhöhung. Ich darf vorweg bemerken, daß
meine Fraktion diesen Gedanken absolut bejaht,
Wir können uns dem weitgehend anschließen. weil er ja im Grunde eine Wiedergutmachung des
Ich verkenne im übrigen nicht, daß der Herr Unrechts an älteren Renten bedeutet oder bedeuten
Arbeitsminister mindestens einen Zusammenhang soll. Wir möchten mit unserer Großen Anfrage
zwischen der Reform der Sozialversicherung und eine genaue — ich betone: eine genaue — Antwort
dem, was er in jener Debatte im Zusammenhang des Herrn Bundesarbeitsministers erbitten, wie er
mit dem Problem der Invalidität Gesundheits- sich diese Altrentenerhöhung vorstellt und, vor
dienst — wahrscheinlich nach dem englischen Vor- allen Dingen, wann er mit dem entsprechenden
bild — genannt hat, gesehen hat. Aber, Herr Gesetzentwurf vor dieses Haus treten will. Der
Minister, läßt sich die Frage der gesundheitlichen Herr Bundesarbeitsminister hat in der Haushalts-
Vorbeugung überhaupt noch innerhalb der Sozial- debatte erwähnt — es ist kürzlich auch noch ein-
versicherung lösen? Müssen dann nicht auch die mal durch das Bulletin und die Presse wiederholt
vorbeugenden Maßnahmen der Kriegsopferversor- worden —, er habe der zuständigen Abteilung sei-
gung, der Fürsorge, des öffentlichen Gesundheits- nes Hauses, wie er sagte, Sperre für jede andere
wesens mit in diese Betrachtung einbezogen Arbeit auferlegt. Das bestärkt allerdings unsere
werden? Befürchtung, daß der Herr Minister über diese
Sache vorerst nur geredet, sich aber damals noch
Ich möchte hier erinnern an die Bestrebungen keine konkreten Vorstellungen über die Verwirk-
der Arbeitsgemeinschaft für Gesundheitswesen lichung erarbeitet hatte. Ich möchte in diesem Zu-
unter Prof. Coerper in Frankfurt, die doch ganz sammenhang noch einmal den „Arbeitgeber", die
deutlich gemacht haben, daß eine Verflechtung der Zeitschrift der Verbände der Arbeitgeber, zitieren,
Fragen der sozialen Sicherung, im engeren Sinne, die ausführte, daß „der Herr Bundesarbeitsminister
mit den Fragen der Gesundheitsförderung im unausgesetzt von der Altrentenerhöhung spricht,
weiteren Sinne besteht. obwohl, wie er zugibt, auch dafür die versicherungs-
mathematischen Grundlagen und alle davon ab-
Wir fragen also den Herrn Bundesarbeits- hängenden Details der Anspruchsberechtigung noch
minister, welche Vorarbeiten zur Sozialreform er nicht erarbeitet sind." Wir glauben, daß
bereits geleistet hat. Es ist uns durchaus bekannt, diese Aussage auch heute noch zu Recht be-
daß seit dem Tage unserer Großen Anfrage im steht. Aber, Herr Minister, sicher haben Sie
Hause Storch fieberhaft gearbeitet wird. Aber genau so wie wir Abgeordneten alle die Briefe
uns kommt es darauf an, was der Herr Bundes- von den alten Leuten bekommen, die nun
arbeitsminister aus eigener Initiative — nicht erst fragen, wann sie denn die 30 Mark erhalten, die
weil die SPD eine Initiative ergriffen hat —, also seinerzeit nach einer Rede von Ihnen als die Ren-
vor dem 10. März 1954, vorbereitet hatte, und tenerhöhung durch die Presse gegangen sind. Wir
zwar zur Sozialreform und nicht nur zur Reform wären selbstverständlich erfreut, wenn es zu diesen
der Sozialversicherung. Ich möchte gar keinen 30 Mark monatlich käme; aber Sie erlauben, daß
Zweifel daran lassen, daß wir Sozialdemokraten, wir nach den vorhin genannten Erfahrungen mit
wie ich sagte, zusammen mit einer weiten sozial- dem Rentenzulagengesetz es für außerordentlich
politischen Öffentlichkeit eine Trennung der Ar- bedenklich halten, daß Hoffnungen mit kon-
beiten an der Reform der Sozialversicherung und kreten Zahlenangaben in einer Zeit erweckt wor-
der Arbeiten an der Sozialreform für verhängnis- den sind, zu der Sie — notorisch — die erforder-
voll halten würden. Wir glauben, daß damit der lichen Unterlagen noch gar nicht in der Hand ge-
Weg zu der vom Bundeskanzler angekündigten halten haben. Uns sind die alten Leute jedenfalls
umfassenden Sozialreform praktisch verbaut würde. zu gut dazu, um ihre Angelegenheiten zum Spiel-
ball politischer Reden zu machen.
Wir möchten aber vor allem und entscheidend (Zurufe von der Mitte: Na! na!)
zum Ausdruck bringen, daß sofort jetzt mit der Ferner: wie steht es denn mit den entsprechen-
Durchleuchtung des gesamten schwierigen Stoffes
begonnen werden müßte, daß über die zweifellos den Aufwertungsklauseln für die Renten derjeni-
gen, die nach 1945 ihre Rente bekommen haben?
verdienstvolle sogenannte L-Enquete des Statisti- Wie steht es mit der so lange schon fälligen Gleich-
schen Bundesamtes dabei noch hinausgegangen stellung der sogenannten älteren Witwen, jenen,
werden muß und daß aus einer solchen freien, wir die also vor dem Juni 1949 verwitwet sind, mit den
betonen: freien Untersuchung eine Durchforstung jüngeren Witwen? Wie steht es mit der Vermeh-
dieses üppigen Gestrüpps von Paragraphen und rung der Mittel für die Gesundheitsvorsorge, die
Systemen der gegenwärtigen sozialen Sicherung in Sie, Herr Minister, erfreulicherweise ebenfalls für
Deutschland herauskommen müßte, damit die Leute erforderlich halten? Wie steht es mit der Anglei-
draußen endlich einmal ein übersichtliches System chung von Grundbetrag und Steigerungsbeträgen
vorfinden, etwas, wonach sie sich ihre Rente be- in der Arbeiter- und Angestelltenversicherung, also
rechnen können, damit sie nicht auf die Beamten mit der Erfüllung des Grundsatzes, daß für glei-
irgendwelcher Ämter angewiesen sind, sondern chen Beitrag auch eine gleiche Leistung gegeben
damit sie wissen, woran sie sind. werden soll?
(Zustimmung bei der SPD.) Wenn man in der Art, wie es bisher den Anschein
Das fordert man. Sie wissen, daß wir Sozialdemo- hat, Stück für Stück und ohne eine rechte Vorstel-
kraten eine eigene Vorstellung über ein solches lung von der Gesamtordnung vorgeht, hier mal
Sozialprogramm erarbeitet haben; aber davon wol- etwas gibt, dort etwas gibt, dann wird es allerdings
len wir hier und heute nicht sprechen. Uns kommt nicht ausbleiben, daß weitere Mittel im Haushalt
es heute darauf an, festzustellen, welche Vorarbei- benötigt werden. Gerade darum halten wir eine
ten geleistet worden sind und wie wir beschleunigt organische Sozialreform für so dringend notwendig,
zu der Sozialreform, die dringend erforderlich ist, weil nur durch eine solche Reform festgestellt wer-
kommen. den kann, was an Mitteln tatsächlich gebraucht
2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954 1405
(Dr. Preller)
wird und wie sie sinnvoll verteilt werden können. gen von Mackenroth sowie von den Professoren
Es geht uns, um ein Wort von Professor Nell- Achinger, Neundörfer und anderen haben doch
Breuning, der auch von uns hoch verehrt wird, zu mit Deutlichkeit gezeigt, daß wir auf dem Weg
gebrauchen, darum, daß eine soziale Strukturpolitik dieser Systeme, die zu solchen Zuständen geführt
betrieben wird und nicht eine Politik des Denkens haben, nicht weiterkommen. Diese Marschroute ist
in Stückchen und in Flicken. eben keine Konzeption, sondern sie ist praktisch
ein Hindernis für eine unbefangene Erkenntnis des
Will man aber eine solche umfassende Sozial- Notwendigen und des Möglichen.
reform, wie der Bundeskanzler sie angekündigt
hat, so wird auch der Weg ungangbar, den die Ganz offenbar sind auch andere Stellen als wir
Bundestagsmehrheit seinerzeit mit der Schaffung dafür, daß den untersuchenden Stellen eine solche
des sogenannten „Beirates für die Neuordnung der Bewegungsfreiheit gegeben werden müsse. Ich
sozialen Leistungen" im Februar 1952 gehen wollte. brauche hier nur an die Beschlüsse des Bundes-
Wir werden j a die Antwort des Herrn Bundes- ausschusses der CDU vom März dieses Jahres zu
arbeitsministers auf unsere Fragen hören. Herr erinnern, die nach eingehender Sitzung und, wie
Bundesarbeitsminister, wenn Sie diese Antwort mit man gelesen hat, auf Grund eines Referats des
einer letzten Aufrichtigkeit, und um die bitten wir Herrn Kollegen Horn wenigstens die Unabhängig-
Sie, geben, dann müßten Sie das Versagen dieser keit des Beirats vom Bundesarbeitsminister gefor-
Institution, dieses Beirates feststellen, ein Versagen dert haben, ein Wunsch, dem sich, soviel ich weiß,
— das möchte ich gleich sagen, und das wissen wir auch der Sozialpolitische Arbeitskreis der CDU-
alle —, das nicht etwa auf die unglückseligen Mit- Fraktion angeschlossen hat, der aber offensichtlich
glieder dieses Beirates zurückzuführen ist, sondern auf Einspruch des Bundesarbeitsministers Storch
auf den Deckel, der auf diese Medizinflasche auf- bisher nicht verwirklicht worden ist.
gepfropft worden ist durch die Bestimmung, daß Die sozialpolitische Publizistik ist noch viel weiter
der Minister oder sein Stellvertreter den Beirat gegangen, als es begreiflicherweise der Sozial-
leiten sollen. politische Ausschuß der CDU tun konnte. Professor
Wenn Sie wollen, kann ich das vielleicht auch in Achinger schrieb in der „Wirtschaftszeitung" vom
etwas freundlicherer Weise sagen. Mir kommt 12. Dezember 1953:
dieser Beirat vor wie ein Frühlingsbeet aus Blumen- Als der Bundestag den Antrag der SPD auf
zwiebeln, deren Keime durch einen Stein gehindert Schaffung einer sozialen Studienkommission
werden, nach oben zu kommen, nämlich durch den verwarf, um diesen Beirat an ihre Stelle zu
Stein des Anstoßes, den die Bürokratie des Mini- setzen, erschien dies vielen als ein Sieg der
steriums diesem Beirat bedeutet hat. Bürokratie des Bundesarbeitsministeriums, die
(Abg. Frau Korspeter: Sehr richtig!) ungestört zu bleiben wünschte.
Professor Achinger fährt in der „Wirtschafts-
Es ist uns bekannt — das möchte ich gleich be zeitung" fort:
merken, Herr Minister —, daß Verhandlungen im
Gange sind, wenigstens die Unterausschüsse dieses Dieser Erfolg scheint nach dem bisherigen Ver-
Beirats, die jetzt vor wenigen Wochen nach unserer lauf gesichert. Zwischen der Sozialverwaltung
Anfrage eingerichtet worden sind, ein wenig un- und der Wirklichkeit
abhängiger vom Ministerium zu machen. Aber, — sagt Achinger —
Herr Minister, wir wissen auch, welcher Kraft- ist eine Wand aus Milchglas errichtet. -
anstrengungen der Beiratsmitglieder, aber auch Aus der Fülle der überaus heftigen Kritik, die
zum Teil der Mitglieder der Koalitionsparteien es die faktische Lähmung dieses Beirats gefunden hat,
bedurfte, um die Bürokratie Ihres Ministeriums möchte ich nur noch das „Handelsblatt" vom
auf diesem Gebiet zu Zugeständnissen zu bewegen. 22. März dieses Jahres zitieren. Dort heißt es:
Wir wissen, daß erst die Sitzung vom 3. Juni, die
Dem beim Bundesarbeitsminister gebildeten
folgen wird, auf diesem Gebiet wirkliche Entschei-
dungen bringen kann. Wir möchten Sie also bitten, Beirat haben wir auf Grund seiner Konstruk-
Herr Minister, uns nicht etwa hier vorzutragen, tion eine große Chance nie gegeben. Was dieser
Beirat aber bisher an tatsächlicher Arbeit ge-
daß bereits alle Schwierigkeiten überwunden seien,
geschweige denn, daß die Unterausschüsse, wie das leistet hat, ist erschütternd. Das ist nicht die
Bulletin vom 30. April behauptete, ihre Aufgaben Schuld seiner Mitglieder, vielmehr
bereits aufgenommen hätten. Nein, nein, sie sind — sagt das „Handelsblatt" —
erst am Anfang ihres Beginns. hat der Bundesarbeitsminister offensichtlich
Das andere große Hemmnis dieses Beirats ist die nichts getan, um ihm Entfaltungsmöglichkeiten
zu geben. Wenn
Marschroute, die ihm bezüglich des Systems mit
auf den Weg gegeben worden ist. Professor Macken — so fährt das Blatt fort —
roth hat in seiner unterdessen ja bekanntgeworde- schon heute einige seiner Mitglieder die dem
nen Untersuchung festgestellt, daß höchstens die Beirat gewidmeten Stunden zu den verlorenen
Hälfte aller Sozialleistungsempfänger nur eine ihres Lebens zählen
Rente beziehen, daß aber alle anderen mehrere (Hört! Hört! bei der SPD)
solcher Leistungen aus Versicherung, Versorgung und sich ernsthaft überlegen, ob sie sich als
oder Fürsorge erhalten. An Hand des begrenzten Aushängeschild des Bundesarbeitsministers
Materials, das er in Kiel hatte, mußte er bereits
feststellen, daß es 171 Möglichkeiten der Kombi- — das Blatt sagt: „man verzeihe diesen Aus-
nation von zwei Renten gibt druck" —
(Abg. Mellies: Hört! Hört!) verschleißen lassen wollen, — —
So das „Handelsblatt", das ja wohl nicht im Ge-
und daß es 83 Kombinationsmöglichkeiten von drei
Renten gibt, ferner, daß im Höchstfall für eine ruch steht, sozialdemokratisch zu sein.
Familie zwölf Renten nebeneinander legal gewährt Diese Lähmung, die seitens des Arbeits-
und bezogen werden können. Diese Untersuchun ministeriums über den Beirat gelegt worden ist
1406 2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954
(Dr. Preller)
und die nun auch nicht etwa durch die Galvani- die Notleidenden und hat auch das ganze Haus
sierungsversuche des Herrn Arbeitsministers in den auf dieses Gesetz gewartet.
letzten Wochen beseitigt werden kann, hat prak- (Sehr wahr! bei der SPD.)
tisch bereits dazu geführt, daß andere Ministerien Bei der Haushaltsdebatte vor wenigen Wochen
dieses Kabinetts sich unterdessen mit der Sozial- haben wir dagegen aus Ihrem Munde gehört, daß
reform befaßt haben. Der von mir schon mehrfach nun erst an die Neuordnung der Sozialversicherung
zitierte Referent des Bundesfinanzministeriums hat herangegangen werden solle. Herr Minister, stimmt
in seinem bekannten Artikel in der „Welt" im No- nun Ihre Aussage vor zwei Jahren, daß Sie die
vember am Schluß die Forderung erhoben nach der Sozialversicherungsreform in einem halben Jahre
sofortigen Einsetzung einer Regierungskommission vorlegen könnten, oder stimmt Ihre Aussage vor
für die Reform der sozialen Hilfe nach Art einer Ostern, daß Sie jetzt erst an die Reform der Sozial-
Royal Commission, und zwar beim Bundeskanzler- versicherung herantreten?
amt. Ich möchte dies als einen Ausweg aus der
Verzweiflung über das Nichtfunktionieren des (Hört! Hört! bei der SPD.)
Bundesarbeitsministers bezeichnen. Aber nicht einmal zur Prüfung der laufenden
Gesetzesvorlagen durch den Beirat ist es gekom-
Dieser Weg wurde wiederum vom „Arbeitgeber" men. Sie haben, Herr Minister, auf die Anfrage
dahin interpretiert, daß der Gedanke einer Studien- meines Freundes Schellenberg in der 261. Sitzung
kommission, den der „Arbeitgeber" ausdrücklich des Bundestages geantwortet, die Frage der Be-
als den Gedanken der sozialdemokratischen seitigung unterschiedlichen Rechtes in der Invali-
Fraktion Anfang 1952 bezeichnet, inzwischen den- und Angestelltenversicherung gehöre vor den
— wörtlich zitiert — Beirat. Sie haben die gleiche Antwort auf unsere
auch die Zustimmung besonders des Bundes- damaligen Anträge zur Verbesserung der Steige-
kanzleramtes, des Innen-, des Vertriebenen- rungsbeträge in der Angestelltenversicherung und
und des Wohnungsbauministeriums gefunden zur Erhöhung der Grundbeträge gegeben. Merk-
hat. Hier würdigerweise steht der Beirat ja unter Geheim-
— sagt das Arbeitgeberblatt — haltungspflicht. Warum, das weiß kein Mensch.
bekommt der Arbeitsminister den Weg vor- Aber neulich hat ein Mitglied, der Staatssekretär
getreten. Auerbach, auf eine Anzapfung der „Frankfurter
Allgemeinen Zeitung" mitgeteilt, daß dem Beirat
(Hört! Hört! bei der SPD.) bisher weder Gelegenheit gegeben wurde, das Pro-
Wir wissen, daß das stimmt, auch aus anderen blem der Kinderbeihilfen noch das der Aufwertung
Quellen. Sie besagen im Grunde nichts anderes, der sogenannten Altrenten auch nur zu erörtern.
und das ist das überaus Bedauerliche, als daß der (Hört! Hört! bei der SPD.)
zuständige Ressortminister sich die ihm zukom- Das heißt doch, Sie, Herr Kollege Storch, haben
mende Initiative hat aus der Hand nehmen lassen. Zusicherungen gegeben, und Ihr Ministerium hat
(Hört! Hört! bei der SPD.) sie nicht gehalten.
In diesem entscheidenden Augenblick, wo er seit Wenn wir heute erneut den Gedanken einer
zwei Jahren bereits diesem Hause Vorschläge sollte unabhängigen Sozialen Studienkommission auf-
unterbreiten können, steht er quasi mit ,leeren greifen, so wissen wir uns in dieser Forderung
Händen vor Volk und Parlament. Und selbst, Herr nicht nur mit sozialpolitisch maßgebenden Kreisen
Minister, wenn Sie sich, wie wir gl auben, unter- auch der Regierungspartei CDU einig, sondern
dessen eines Besseren besonnen haben, kann Sie auch mit der gesamten sozialpolitischen Wissen-
doch niemand — und ich bedauere das als erster — schaft und Presse. Der Verein für öffentliche und
von der Schuld dieser verlorenen zwei Jahre frei- private Fürsorge hat z. B. auf dem Deutschen
sprechen, zweier Jahre, die die Alten und die Ge- Fürsorgetag im Oktober 1953 einen unabhängigen
brechlichen ohne Notwendigkeit in Not gelassen Rat von Persönlichkeiten aus Wissenschaft, sozia-
haben. ler Praxis und Verwaltung gefordert. Der Verein
(Beifall bei der SPD.) hat diese Forderung dem Herrn Bundeskanzler bzw.
Herr Minister, ich möchte noch einmal — bei aller dem Bundeskanzleramt übermittelt, und wenige
Sympathie — betonen: wir sind die ersten, die Tage danach, im November, hat das Bundeskanz-
eine solche Entwicklung bedauern, weil wir glau- leramt bereits geantwortet, daß dieser Vorschlag
ben, daß damit die notwendige Autorität eines die besondere Aufmerksamkeit des Bundeskanz-
Bundesarbeitsministers in einem Kabinett ge- lers gefunden habe und deshalb einer genauen
schmälert wird. Aber, Herr Minister, Sie selbst Prüfung unterzogen werde. Die Verwirklichung
haben der SPD die neutrale Studienkommission, auch dieses Vorschlags des Vereins ist aber, wenn
die wir im Februar 1952 gefordert haben, damals wir richtig unterrichtet sind, wiederum am Bun-
mit folgenden Worten verweigert: desarbeitsministerium gescheitert. Herr Minister,
geben Sie dem Verein nun eine Zusage, einen sol-
Ich bin der Meinung, daß die Zusammenarbeit chen unabhängigen Rat der Studienkommission zu
zwischen diesem Beirat und dem zuständigen errichten! Sie haben diese Möglichkeit. Sie brau-
Ministerium viel schneller zu positiven Er- chen nicht einmal einen Beschluß des Bundestags
gebnissen führt, als wenn man eine Studien- dazu. Die Bundesminister für Wirtschaft, der
kommission einsetzt. Finanzen, für Wohnungsbau haben sich Beiräte
angegliedert, ohne daß irgendein Beschluß des
(Hört! Hört! bei der SPD.) Hauses vorlag. Geben Sie die Möglichkeit, einen
Das war vor zwei Jahren, Herr Minister. Sie wirklich unabhängigen Rat zu bilden, der Ihnen
haben damals prophezeit, daß in einem halben mit Rat und Tat zur Seite steht! Wir sind dabei
Jahre, wie sie sagten, in der zweiten Hälfte des auf Prioritätsrechte in keiner Weise erpicht. Ge-
Jahres 1952, eine Gesetzesvorlage über die Neu- ben Sie dem Verein diese Antwort! Uns kommt
ordnung der Sozialversicherung vorgelegt werden es darauf an, daß nun endlich einmal eine obiek-
würde. Tag für Tag in diesen zwei Jahren haben tive Untersuchung stattfindet und daß Vorschläge
2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954 1407
(Dr. Preller)
von Sachverständigen, die außerhalb der Sphäre aus um weitere Millionen von Menschen, deren
des Ministeriums stehen und die in einer freien Einkommen aus Rente oder Unterstützung so
Atmosphäre arbeiten, diesem Hause in Kürze vor- niedrig ist, daß sie häufig nicht einmal die Richt-
gelegt werden. Es sind bei der Debatte im Februar sätze der Fürsorge erreichen, so daß die Fürsorge
1952 Bedenken wegen unseres Vorschlags einer dann noch eingreifen muß. Dieser Block aus mate-
Royal Commission erhoben worden. Nun, unter- rieller und aus seelischer Not ist außerdem poli-
dessen hat der Abgeordnete Vogel von der CDU in tisch gefährdet durch den Kalten Krieg zwischen
der Haushaltsdebatte eine solche Royal Commission Ost und West. Wir wissen, der Kommunismus ist
für das notwendige Instrument derartiger Unter- in der Bundesrepublik weitgehend zurückgedämmt.
suchungen angesprochen. Ich hoffe also, daß die Aber seine Ursache, die Verzweiflung, lebt doch
CDU nicht mehr gegen Royal Commissions ist. heute noch in Millionen deutscher Menschen. In
Außerdem hat der Bundesinnenminister Schröder der Hitlerzeit hat man davon gesprochen, diese
für die Wahlrechtsreform nach Pressemeldungen Menschen würden wegsterben, ja, man hat damals
ebenfalls solch ein Instrument vorgeschlagen. Da- das frivole Wort vom Friedhofsgemüse für die
her möchte ich Sie, meine Damen und Herren von Rentner geprägt. Meine Damen und Herren, heute
den Regierungsparteien, bitten, etwa begreifliche sollten wir doch darin einig sein, daß jeder Mensch,
Prestigeerwägungen zurückzustellen. Ich erkläre der unverdient in Not geraten ist, unserer sofor-
unsererseits, daß es uns nur darauf ankommt, eine tigen aktiven und bedingungslosen Hilfe bedarf,
unabhängige Studienkommission zu erhalten. Über weil der Mensch, der unsere Zeit bewußt durch-
deren Form sollten wir im einzelnen durchaus lebt hat, für uns ein unersetzlicher Wert ist, weil
miteinander reden, schon deshalb, weil wir keinen er eben nicht ein Almosenempfänger ist, sondern
King oder Roi haben, an den wir eine solche Kom- weil er ein Mensch ist, dem wir Dank für das
mission angliedern könnten. Aber, Herr Minister schulden, was er für uns geleistet hat.
und meine Damen und Herren von den Regierungs-
parteien, handeln Sie rasch und ergreifen Sie die Lord Pakenham hat im übrigen neulich in Bonn
von Ihnen in diesem Sinne so oft angesprochene geäußert, Waffengewalt allein genüge nicht, es
Hand der Opposition, die mit Ihnen zusammen müsse auch sozialer Einfluß in den Völkern leben-
eine gemeinsame Sorge beseitigen möchte! dig sein.
(Beifall bei der SPD.)
Das alles wollen Sie bitte bedenken, wenn hier
Wir hoffen, meine Damen und Herren, daß wir etwa davon gesprochen wird, daß die Sozialre-
mit dem ganzen Hause einig sind in der Forde- form noch eine gute Weile habe. Wir meinen, daß
rung auf eine baldmögliche Vorlage von Unter- zwar gründlich untersucht, aber dann rasch und
suchungen, die Aufschluß geben über die Verket- vor allem durchgreifend gehandelt werden muß.
tung und Verflechtung der heutigen sozialen Lei- Seit jenem Februar 1952, wo wir die Soziale Stu-
stungen, und zum anderen eine Ordnung der dienkommission und damals bereits auch die um-
sozialen Leistungen, die wenigstens — ich glaube, fassende Sozialreform forderten, sind zwei Jahre
da können Sie alle zustimmen — folgende Mindest- verstrichen.
erfordernisse bringt: 1. Klarheit und Übersichtlich-
keit der sozialen Leistungen, 2. kein Systemdog- Heute wollen wir nicht über diese zwei Jahre
matismus, wie er leider manchmal hier gepredigt im einzelnen rechten. Aber, Herr Minister, wir
worden ist, 3. Aufstockung vor allem der niedrigen dürfen Sie bitten — und wir vertrauen darauf,
Renten von langjährigen Beitragszahlern und daß Sie es tun —, Ihre Antwort auf unsere Große
deren Angehörigen, 4. Anpasung der rentenähn- Anfrage so zu geben, daß daraus die Erkenntnis
lichen Leistungen aller Art aneinander, 5. Erhal- dieser zwei Jahre spricht, daß sie verwertet wer-
tung erworbener Rechtsansprüche, 6. umfassende den kann und daß die berechtigten Erwartungen
Vorbeugung zur Erhaltung der Gesundheit der von nicht weniger als 12 Millionen Menschen er-
Bevölkerung und 7. Beseitigung langfristiger Ar- füllt werden, Erwartungen, die wir alle — und
beitslosigkeit. die sozialdemokratische Fraktion im besonderen —
in unseren Herzen tragen. Diese Erwartungen —
Meine Damen und Herren, draußen warten Mil- das darf ich zum Schluß sagen — bedeuten uns
lionen von Menschen darauf, daß sie endlich mehr mehr als nur den Wunsch nach einer Erhöhung
als Worte und Versprechungen hören, daß sie von Renten. Sie setzen uns, die wir doch als
nicht immer nur stückweise und damit letztlich Volksvertreter nicht nur eine Verantwortung vor
doch unzulängliche Verbesserungen erhalten. Ich der Gegenwart, sondern ebenso auch vor der Zu-
darf noch hinzufügen, es entspricht ja einem be- kunft haben, in die Gewissensaufgabe, eine Neu-
greiflichen Wunsch und einer begreiflichen Sehn- ordnung zu schaffen, die den großen Mahnungen
sucht der Menschen, von ihren bittersten Sorgen zweier Weltkriege und dem Umbruch eines Jahr-
befreit zu werden, und um diese Sehnsucht eines hunderts gemäß ist. Das heißt nicht, daß die Be-
notleidenden großen Teils deutscher Menschen wahrung bestehender Systeme unsere letzte Auf-
handelt es sich heute bei dem Gespräch über die richtigkeit befriedigen kann, sondern nur die
Sozialreform. Ich erinnere mich an eine der ent- mutige Erkenntnis eines neuen Zeitalters, dessen
scheidenden Szenen in dem bekannten Buche gesunde Lebensgrundlage im sittlichen wie im ma-
„Vom Winde verweht" von Margret Mithell. Dort teriellen Raum uns, den Volksvertretern, anver-
sagt dann eine Frau in der Verzweiflung: „Nie
traut ist. Die Vorsorge für diese Zukunft, die den
wieder hungern! Nie wieder frieren!" Nun, das ist seelischen und politischen Frieden begründen soll,
die Situation von vielen Menschen draußen. Ich sollte das Menetekel für uns bedeuten, um uns
möchte aber ausdrücklich hinzufügen, es geht die- über alle Parteirichtungen, über alle Gesellschafts-
sen Menschen und uns nicht nur um diese mate- ordnungen hinweg zusammenzufinden und eine
riellen Werte, sondern darum, daß hier ein echtes Ordnung zu schaffen, die den Menschen schlechthin
sittliches Anliegen an die Gemeinschaft vorliegt. wieder in seine Lebensrechte und in seine Men-
Es geht um einen Block von mindestens 6 Millio-
schenwürde einsetzt.
nen Menschen, die allein auf Renten und Unter-
stützungen angewiesen sind. Es geht darüber hin- (Beifall bei der SPD.)
1408 2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954

Vizepräsident Dr. Jaeger: Das Wort zur Beant- auch noch etwas für ihre alten Eltern, die manch-
wortung der Großen Anfrage hat der Herr Bundes- mal ein ganzes Leben lang die Lebensgrundlagen
minister für Arbeit. für sie geschaffen haben, zu tun.
(Vizepräsident Dr. Schmid übernimmt
Storch, Bundesminister für Arbeit: Herr Präsi- wieder den Vorsitz.)
dent! Meine sehr geehrten Damen und Herren! b) Im Ministerium für Arbeit wird seit Monaten
Lassen Sie mich einmal die Große Anfrage so, wie
an einer versicherungsmathematischen Bilanz ge-
sie schriftlich vor mir liegt, beantworten, ohne auf
alle die Fragen, die der Herr Professor Preller im arbeitet.
Anschluß an die Begründung der Anfrage hier vor- (Zuruf von der SPD: Erst seit Monaten?)
getragen hat, einzugehen. Mit dem Abschluß dieser Arbeiten ist Mitte dieses
Zu Abs. I Ziffer 1 der Großen Anfrage habe ich Jahres zu rechnen. Eine versicherungsmathemati-
folgendes zu sagen. Die Arbeiten zu dem Entwurf sche Bilanz können wir doch letzten Endes nur
eines Gesetzes über die Rentenangleichung werden dann durchführen, wenn wir einen festen Jahres-
mit besonderem Nachdruck und in Zusammenarbeit abschluß der einzelnen Versicherungsträger haben.
mit den erfahrensten Praktikern der Rentenver- Ich kann damit nicht jederzeit beginnen.
sicherung durchgeführt. Sie stehen unmittelbar vor Zu den Arbeiten zur Sozialreform ist einleitend
dem Abschluß. Es kann damit gerechnet werden, noch folgendes zu sagen. Der Beirat für die Neu-
daß der Entwurf nach Durchsprache im Beirat und ordnung der sozialen Leistungen hat eine Reihe
nach Rücksprache mit den Sozialpartnern und den von Arbeitsausschüssen gebildet. Die Arbeiten
sonstigen Beteiligten im Juli dieses Jahres dem dieser Ausschüsse sind in vollem Gange. Die Zu-
Kabinett vorgelegt wird. sammenarbeit aller beteiligten Bundesressorts mit
dem Beirat und seinen Ausschüssen ist gewähr-
Zu Ziffer 2. Der Vorbereitung einer Großen So- leistet. Der Beirat hat kürzlich auf Grund einer
zialreform dienen folgende Maßnahmen: vorausgegangenen internen Besprechung der Bei-
a) Auf Grund der Verordnung über die Durchfüh- ratsmitglieder in der anschließenden offiziellen Bei-
rung einer einmaligen Statistik über die sozialen ratssitzung eine Entschließung über die künftige
Verhältnisse der Rentner und Unterstützungsemp- Arbeitsweise und Organisation gefaßt. Diese Ent-
fänger vom 12. August 1953 wird eine statistische schließung, die ich Ihnen nachher noch wörtlich vor-
Erhebung mit dem Ziel durchgeführt, Unterlagen lesen werde, hat sofort meine persönliche Zustim-
über die sozialen Verhältnisse der Renten- und Un- mung gefunden.
terstützungsempfänger zu gewinnen. Bei der tech- Ich möchte nun zunächst die in der Großen An-
nischen Durchführung sind zwei Abschnitte zu un- frage im einzelnen gestellten Fragen beantworten.
terscheiden: In dem ersten Abschnitt werden die
Unterlagen rein aktenmäßig erfaßt. In dem zweiten Der Beirat für die Neuordnung der sozialen
Abschnitt erfolgt eine persönliche Befragung. In- Leistungen hat eine Reihe von Sitzungen durch-
nerhalb des ersten Abschnitts sind von allen Stel- geführt. In Zusammenhang mit der ersten Sitzung
len, die im Rahmen der Unfallversicherung und In- am 3. März 1953 wurden den Beiratsmitgliedern
validenversicherung, der Angestelltenversicherung, folgende Unterlagen ausgehändigt: 1. eine von
der knappschaftlichen Rentenversicherung, der ver- meinem Ministerium herausgegebene statistische Auf-
sicherungsmäßigen Arbeitslosenunterstützung, der arbeitung über „Wohnbevölkerung mid Erwerbs-
Kriegsopferversorgung, der Unterhaltsbeihilfe für personen nach den Ergebnissen der Volks- und Be-
Angehörige von Kriegsgefangenen, des Lastenaus- rufszählung des Statistischen Bundesamts"; 2. eine
gleichs, der Arbeitslosenfürsorgeunterstützung und im Ministerium erarbeitete „Übersicht über die
der öffentlichen Fürsorge Renten oder laufende Leistungen der Sozialversicherung, der Arbeits-
Unterstützungen gewähren, für eine repräsenta- losenversicherung und der Arbeitslosenfürsorge";
tive Auswahl aller Empfänger solcher Leistungen 3. eine gleichfalls im Ministerium fertiggestellte
auf Grund der Akten Zählblätter anzufertigen. Das Darstellung über die Versorgung der Kriegsopfer.
heißt mit anderen Worten: Wir wollen alle die Lei- In der Sitzung am 13. April 1953 hielt das Mit-
stungen, die der einzelne oder der einzelne inner- glied des Beirats Professor Dr. Neundörfer ein
halb seiner Familiengemeinschaft aus diesen 10 Referat über das Thema: „Einige Tatbestände zur
Rechtssphären bekommt, zusammenstellen, um zu Bevölkerungsstruktur der Bundesrepublik". Viel-
sehen, wie groß der Kreis derjenigen Menschen ist, leicht mag der eine oder andere sagen, das seien
die eine einzelne Rente als Lebensgrundlage haben ausgefallene Dinge; aber wenn man eine Sozial-
oder die kombinierte Renten zu beanspruchen haben. reform durchführen will, muß man hierfür die
Diese Auswahl soll etwa auf 5 % der Soziallei- richtigen Grundbegriffe haben, und die Damen
stungsempfänger erstreckt werden. Die Zählblätter und Herren im Beirat hielten das geradezu für die
müssen Angaben über ihre Personalien sowie über erste Grunderkenntnis, die man haben müsse. Die
die Art und die monatliche Höhe der Soziallei- anschließende Beratung führte zu dem Ergebnis,
stungsansprüche und der Auszahlungsbeträge ent- daß das Referat den Ausgangspunkt für weitere
halten. Die ersten Ergebnisse dieses Teiles der Re- statistische Untersuchungen bilden und ergänzt
präsentativerhebungen sind im August dieses Jah- werden sollte.
res zu erwarten. Allein das Statistische Amt be- Diese Ergänzung erfolgte in der Sitzung am
nötigt also ein Jahr, um eine solche Statistik zu er- 6. Mai 1953 unter dem Thema: „Die Erwerbstätig-
stellen. keit von Jugendlichen unter 20 Jahren und Alten
Sodann soll bei 20 vom Hundert der erfaßten So- über 65 Jahren". Auf der gleichen Sitzung hielt der
zialrentenempfänger eine persönliche Befragung damalige Leiter der ärztlichen- Abteilung meines
mit dem Ziel durchgeführt werden, ein abgerun- Hauses, Herr Professor Dr. Dr. Bauer, ein Referat
detes Bild der sozialen Verhältnisse der Sozialren- über das Thema: „Die gesundheitliche Wiederher-
tenempfänger und der zum gleichen Haushalt ge- stellung als soziale Leistung". Dieses Referat wurde
hörenden Personen zu gewinnen. Es gibt ja Leute, ergänzt durch die Ausführungen von Ober-
deren Kinder ein sehr großes Einkommen haben, regierungsrat Dr. Scharmann über „Grundsätzliche
die sich aber nicht mehr dazu verpflichtet fühlen, und praktische Bedeutung der beruflichen und
2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954 1409
(Bundesarbeitsminister Storch)
sozialen Wiedereingliederung in das Arbeitsleben", seitigt werden? d) Wie soll das Recht der frei-
ein Problem, das ja vor allen Dingen für den willigen Versicherung und die Frage der Beitrags-
großen Kreis der Schwerbeschädigten eine eminente berechnung für die freiwillig Versicherten geregelt
Bedeutung hat. Der Beirat kam nach eingehender werden? 4. Welche Regelung ist hinsichtlich der
Aussprache überein, in Ergänzung zu den be- Voraussetzungen, der Höhe und der Dauer der
handelten Themen eine Untersuchung über die Hinterbliebenenrenten sozial gerechtfertigt? Soll
Vorbeugung, veranschaulicht durch einen Besuch Hinterbliebenenrente auch bei einer zweiten Ehe-
von Krankenhäusern und Heilstätten, folgen zu schließung gewährt werden? 5. Technik des Beitrags-
lassen. einzugs. 6. Versicherungsmathematische Auswer-
Dieser Aufgabe diente die nächste Sitzung des tungen der Bevölkerungsstatistiken.
Beirats, die in der Zeit vom 26. bis 28. September Der Arbeitsausschuß für Grundsatzfragen hat
1953 durchgeführt wurde. Auf ihr sprach Herr Pro- seine Arbeit am 6. April aufgenommen. Die Aus-
fessor Bauer über das Thema: „Vorbeugung als sprache über die zunächst vom Ausschuß zu erör-
soziale Leistung — Stand und Aufgaben der Vor- ternden Probleme führte zu folgendem Ergebnis:
beugung in der Bundesrepublik". Im Anschluß an 1. Zu dem jetzt eingegangenen Gutachten von
die Besichtigung des Versehrtenkrankenhauses in Prof. Dr. Bogs über das Thema „Untersuchung über
Bad Tölz und des Unfallkrankenhauses in Murnau die gegenwärtige Lage der Sozialversicherung und
sprachen die leitenden Ärzte über ihre Aufgaben, die Möglichkeit einer Reform des geltenden Rechts
Erfahrungen und Erfolge. über die soziale Sicherheit unter Beibehaltung der
In der Sitzung am 11. Februar 1954 hat der Bei- Unterscheidung von Versicherung, Versorgung und
Fürsorge" soll eine Grundsatzerörterung statt-
rat beschlossen, für die Fortführung der Unter-
suchungen Arbeitsausschüsse zu bilden. Es sind zu- finden.
nächst drei Arbeitsausschüsse errichtet worden, ein (Abg. Richter: Warum denn mit Bedingungen
Arbeitsausschuß für Grundsatzfragen, ein Arbeits- verknüpft? Warum denn „unter Bei-
ausschuß für Fragen der Rentenversicherung und behaltung"?)
ein Arbeitsausschuß für Fragen der Frühinvalidität. — „Unter Beibehaltung", das ist eben die grund-
sätzliche Frage, die auch hier in diesem Hause in
Dem Arbeitsausschuß für Grundsatzfragen ge- der nächsten Zeit wieder einmal erörtert werden
hören an Herr Professor Dr. Achinger, Herr Staats- wird, vielleicht heute schon. Wollen wir heute hin-
sekretär Dr. Auerbach, Herr Senatspräsident gehen und ein Gebäude, wie wir es in unserer
Dr. Brebeck, Dr. Geisler aus Kassel, Professor Sozialversicherung haben, das uns Gott sei Dank
Dr. Höffner aus Münster, Ministerialrat Dr. Imhof über die ersten Schwierigkeiten nach den beiden
aus München, Herr Professor Dr. Mackenroth aus Weltkriegen hinweggeholfen hat, einfach über Bord
Kiel, Herr Professor Dr. Muthesius aus Frankfurt, werfen?
Herr Professor Dr. Rohrbeck aus Köln und Herr
Direktor Dr. Lauterbach aus Bonn. (Abg. Dr. Schellenberg: Wer sagt denn
das?! — Abg. Dr. Preller: Wer hat denn
Dem Arbeitsausschuß für Fragen der Renten- das gesagt?!)
versicherung gehören folgende Personen an: Ich habe ja gar nicht gesagt, daß Sie das gesagt
Ministerialrat Brackmann aus Hannover, Dr. Coll- hätten. Herr Kollege Richter hat mich gefragt,
mer aus Stuttgart, Herr Regierungsdirektor Deneffe warum diese Einschränkung, unter Begrenzung der -
aus Wiesbaden, Herr Max Erhardt aus Stuttgart, drei Möglichkeiten —
Dr. Gaber aus Berlin, Frau Dr. Kiep-Altenloh aus (Zuruf des Abg. Richter. — Weitere Zurufe
Hamburg, Franz Lepinski aus Düsseldorf, Direktor von der SPD. — Glocke des Präsidenten.)
Liebing aus Frankfurt, Herr Professor Dr. Noack
aus Köln, Herr Dr. Oberwinster aus Köln und — Es handelt sich doch um die Abgrenzung der
Direktor Schein aus Bochum. drei Möglichkeiten und um sonst gar nichts. Wenn
ich hier etwas gesagt habe, dann geht es nicht
Dem Arbeitsausschuß für Fragen der Frühinvali- darum, daß ich Ihnen in Ihren Auffassungen irgend-
dität gehören folgende Personen an: Herr Pro- welche Vorschläge oder Ratschläge erteilen oder
fessor Dr. Dr. Bauer aus Bonn, Herr Debus aus überhaupt Belehrungen geben wollte. Jeder hat im
Kassel, Herr Professor Dr. Heyde aus Köln, Herr Bundestag und auch draußen im Leben des Volkes
Regierungsdirektor Dr. Horstmann aus Wiesbaden, das Recht, das, was er für das Günstigste hält,
Frau Kalinke aus Bonn bzw. Hannover, letzten Endes auch anzubieten. Darüber sind wir
(Lachen bei der SPD) uns doch wahrscheinlich einig, und wir brauchen
Herr Professor Dr. Neunhöfer aus Frankfurt und uns deshalb nicht gegenseitig irgendwelche Vor-
Herr Dr. med. Weirauch aus Düsseldorf. würfe zu machen.
Der Arbeitsausschuß für Fragen der Renten- 2. In Zusammenarbeit mit Mitgliedern des Aus-
versicherung hat seine Arbeit in der Sitzung vom schusses für Fragen der Rentenversicherung und
30. März aufgenommen. Der Arbeitsausschuß hat des noch zu bildenden Ausschusses für Krankheits-
beschlossen, von seinen Mitgliedern Gutachten über bekämpfung sowie weiteren Sachverständigen auf
folgende Fragen ausarbeiten zu lassen: 1. Wie ist den verschiedensten Gebieten sozialer Leistungen
der versicherungspflichtige Personenkreis abzu- soll folgendes Thema erörtert werden: „Das Ver-
grenzen? 2. Wie soll die Rentenformel gestaltet hältnis der produktiven zu den konsumtiven So-
werden, wie sind Vorschläge zur Einführung von zialleistungen".
Bedürftigkeits- und Einkommensprüfungen zu be- Als weitere Themen sind zunächst vorgesehen:
urteilen? 3. Wie sollen die Voraussetzungen für die 1. Abgrenzung der Fürsorge gegenüber den übri-
Rentengewährung gestaltet werden? Insbesondere: gen Zweigen der sozialen Sicherheit. 2. Vorbeu-
a) Sollen die Vorschriften über die Anwartschaft gende und wiederherstellende Gesundheitsfürsorge
und über die Wartezeit gestrichen werden? b) Sollen in der Sozialversicherung, ihr künftiger Ausbau
die Ruhensvorschriften gestrichen werden? c) Sollen und ihre Zusammenarbeit mit der Arbeitsverwal-
die Vorschriften über die Wanderversicherung be tung und der Gesundheitsverwaltung. 3. Beteili-
1410 2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954
(Bundesarbeitsminister Storch)
gung der Allgemeinheit an der Finanzierung der grundsätzlicher Themen eingetroffen und die Be-
Leistungen der Sozialversicherung unter Berück- teiligten mit größtem Eifer an die Arbeit ge-
sichtigung der Wirtschaftskraft des Volkes. 4. Das gangen sind. Die Arbeiten werden so beschleunigt
Verhältnis der Leistungen der Sozialversicherungs- durchgeführt, wie es bei der erforderlichen Gründ-
träger untereinander und der Sozialversicherung lichkeit vertretbar ist.
zu sonstigen Sozialleistungen unter Berücksichtigung Zu Punkt II 3 habe ich zu sagen: a) Die Er-
des Vorranges der Sozialversicherung. 5. Welche örterungen im Beirat haben zu dem Ergebnis ge-
Altersgrenze soll gewählt werden? a) Soll die führt, daß die Bekämpfung der Frühinvalidität von
Altersgrenze heraufgesetzt werden, wie es in Eng- entscheidender medizinischer, sozialer und finan-
land gemacht worden ist? b) Soll die Altersgrenze zieller Bedeutung ist. Aus diesem Grunde ist aus
herabgesetzt werden, wie es beispielsweise für den , Arbeiten des Beirates ein Forschungsauftrag
unsere alten Angestellten gefordert wird? c) Soll für Prof. Dr. Neundörfer über das Thema „Soziale
eine elastische Altersgrenze gewählt werden mit Analyse der Frühinvalidität" erwachsen. b) In den
der Möglichkeit der Weiterarbeit nach einem be- Arbeitsausschüssen des Beirats sind die vorhin ge-
stimmten Lebensalter zur Erzielung einer höheren nannten Grundsatzgutachten vergeben worden.
Altersrente für die Zukunft? d) Soll die Alters- c) Professor Dr. Bogs von der Hochschule für
grenze für Männer und Frauen verschieden sein? Arbeit, Politik und Wirtschaft in Wilhelmshaven-
Die nächste Sitzung dieses Arbeitsausschusses ist Rüstersiel hat vom Bundesministerium für Arbeit
am 3. Juni. den Auftrag erhalten, ein Gutachten über folgen-
Der Arbeitsausschuß für Fragen der Frühinvali- des Thema zu erstatten: „Untersuchung über die
dität hat seine Arbeiten in der Sitzung vom 7. April gegenwärtige Lage der Sozialversicherung und die
1954 aufgenommen. Er hat beschlossen, folgende Möglichkeit einer Reform des geltenden Rechts
Untersuchungen durchzuführen: 1. Soziale Analyse über die soziale Sicherung unter Beibehaltung der
der Frühinvalidität. 2. Gründe und Umfang der Unterscheidung von Versicherung, Versorgung und
Frühinvalidität bei weiblichen Arbeitnehmern. 3. Fürsorge". Dieses Thema entsprach dem Wortlaut
Durch welche Maßnahmen kann der Frühinvalidi- des Beschlusses des Deutschen Bundestages, durch
tät begegnet werden? 4. Erfahrungen bei der Durch- welchen der Beirat bei meinem Ministerium ge-
führung der vorbeugenden Gesundheitsfürsorge. bildet worden ist. Das Gutachten ist fertiggestellt.
5. In welcher Weise kann erreicht werden, daß für d) Die Gesellschaft für sozialen Fortschritt hat
Minderleistungsfähige geeignete Arbeitsplätze ge- bereits vor Zusammentritt des Beirats Mittel er-
schaffen werden? — Die nächste Sitzung dieses halten, um grundsätzliche Fragen der Reform der
Ausschusses ist am 23. Juni. Krankenversicherung zu untersuchen. Die Ergeb-
nisse dieser Untersuchungen liegen bereits vor
Wie ich schon gesagt habe, haben sich am 3. Mai und sind veröffentlicht.
dieses Jahres die Mitglieder des Beirates zu einer
internen Besprechung zusammengefunden. In der Zusammenfassend kann ich folgendes sagen:
sich anschließenden offiziellen Sitzung des Beirates, 1. Die Arbeiten der vom Beirat gebildeten Aus-
die unter meinem Vorsitz und in Anwesenheit von schüsse sind in vollem Gange.
Vertretern der beteiligten Ministerien stattfand,
hat der Sprecher des Beirates, Herr Professor Dr. 2. Die vom Beirat in seiner letzten Sitzung be-
Heyde, folgende einstimmige Auffassung der Bei- schlossene Organisation der Arbeitsweise gewähr-
ratsmitglieder vorgetragen: Es erscheint zweck- leistet im Rahmen des Bundestagsbeschlusses die
mäßig, daß die Federführung der Arbeit beim nötige Beweglichkeit und Freiheit für die Arbeiten.
Bundesministerium für Arbeit verbleibt, weil dort 3. Das Zusammenwirken der beteiligten Bundes-
rein sachlich das Schwergewicht liegt. Der Sprecher ministerien mit dem Beirat und seinen Arbeits-
des Beirates hat ausdrücklich hervorgehoben, daß ausschüssen sichert die Zusammenfassung aller
sich der Beirat damit in Übereinstimmung mit dem laufenden Gesetzgebungsarbeiten bei der Gesamt-
bekannten Beschluß des 1. Bundestages befindet, reform.
auf dem seine Arbeit beruht. Es ist weiter zum
Ausdruck gebracht worden, daß entsprechend die- Dies offiziell zur Beantwortung Ihrer schriftlich
sem Beschluß den Vorsitz im Beirat der Bundes- vorliegenden Fragen.
minister für Arbeit hat. Als weiteren Wunsch, dem Nun gestatten Sie mir, ganz kurz auf die Dinge
ich sofort meine Zustimmung gegeben habe, hat der einzugehen, die Herr Professor Preller hier vorge-
Sprecher des Beirats vorgebracht, daß sich die Ar- tragen hat. Er hat recht, wenn er sagt: Es ist viel
beitsausschüsse ihre Vorsitzenden selbst wählen Zeit vergangen, seitdem wir uns mit der Frage
wollen. Dieser Wunsch des Beirates ist in der Sit- einer sozialen Neuordnung beschäftigt haben. Aber
zung in Übereinstimmung mit meiner Auffassung wenn Sie gut hingehört haben, dann haben Sie
zum einstimmigen Beschluß erhoben worden. Im allein aus den Problemen, die die Unterausschüsse
Beirat wird die Auffassung vertreten, daß sich da- sich selbst gestellt haben, ersehen, welch eminent
mit weitere organisatorische Veränderungen er- unterschiedliche Fragen vorbehandelt werden müs-
übrigen. sen, wenn man zu einer Gesamtreform in dem
Zu Punkt II 2 der Großen Anfrage möchte ich Sinne kommen will, wie sie Herr Professor Preller
folgendes erklären. Wie sich aus dem bisher Ge- vorgeschlagen hat.
sagten ergibt, handelt es sich um sehr umfassende
und vielschichtige Untersuchungen. Es muß gründ- (Abg. Frau Korspeter: Herr Minister, wir
liche Arbeit geleistet werden. Eine genaue Be- haben gehört, daß sie erst vor kurzem
stimmung des Zeitpunktes für die Vorlage der angefangen haben!)
Ergebnisse kann bei Art und Umfang der Arbeiten — Ja, Sie haben doch gehört, Frau Abgeordnete,
naturgemäß nicht gegeben werden. Das hängt daß ich Ihnen gesagt habe, daß die ersten Sitzun-
wesentlich davon ab, wie die Arbeitsausschüsse gen im März des vergangenen Jahres stattgefunden
unter ihren selbstgewählten Vorsitzenden die haben; und Sie werden es wohl verstehen, daß die
Arbeiten durchführen. Ich kann Ihnen jetzt schon Leute, wenn sie in einen Beirat mit einer der-
sagen, daß die ersten Gutachten zu einer Reihe artigen Aufgabe berufen werden, sich vorher selbst
2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den' 21. Mai 1954 1411
(Bundesarbeitsminister Storch)
über die verschiedensten Grundlagen ein Bild den Menschen für die Wechselfälle des Lebens.
machen müssen. Ich habe niemals gesagt, man solle eine Reform
(Abg. Dr. Preller: Ganze fünf Sitzungen der Sozialversicherung vorziehen, aber ich habe
in einem Jahr!) immer die Priorität für die Sozialversicherung in
Anspruch genommen, weil diese Probleme in die
— Darauf kommt's ja in Wirklichkeit gar nicht an, nächsten Jahrzehnte hineinreichen. Wenn man eine
Herr Professor Pre ller. Es kommt darauf an, Sozialreform organisch durchführen will, muß man
welche Unterlagen den Leuten bei den Sitzungen doch irgendwo das Fundament setzen, und auf das
für ihre eigene Arbeit während der Zwischenzeit Fundament baut man dann die erste und die
bis zur nächsten Sitzung mitgegeben wurden. Und zweite Etage auf. Man kann doch nicht beim Dach
daß diese Sitzungen nicht dichter aufeinander ge- anfangen, und man kann auch nicht die Dinge
folgt sind, hat eben seinen Grund darin, daß die durcheinanderwürfeln.
Leute mit Recht gesagt haben: Ehe wir grundsätz-
lich zu den Dingen gemeinschaftlich Stellung neh- Ich habe mich an und für sich gewundert, daß
men, wollen wir uns selbst orientieren. Es hat sich Herr Professor Preller ausgerechnet das „Handels-
herausgestellt, daß die Leute in Wirklichkeit das blatt" und den „Arbeitgeber" so stark in den
Material, welches sie von uns bekommen oder Vordergrund gerückt hat. Jawohl, ich sage es hier
welches sie sich anderwärts erworben, das sie aber in aller Offenheit: diese Leute wünschen eine
gemeinschaftlich verwendet haben, sehr gut kann- Sozialreform von der Art, daß man alle die Mittel,
ten. Es brauchte nicht über jedes Teilproblem wer die momentan zur Verfügung stehen, in einen Topf
weiß wie lange diskutiert zu werden, so daß in den wirft, tüchtig rührt und jedem seine Kelle voll
eigentlichen Sitzungen eine sehr starke Konzen- gibt. Von dem sozialen Recht, das sich der Mann
tration der Arbeit festzustellen war. Das scheint durch seine Beitragszahlung in der Sozialversiche-
mir doch letzten Endes bei einer derartigen Arbeit rung erworben hat, ist dabei keine Rede mehr.
etwas sehr Wesentliches zu sein. (Hört! Hört! und Unruhe bei der SPD.)
(Abg. Frau Korspeter: Warum, Herr Wenn man das will, meine sehr verehrten Damen
Minister, erst jetzt die Unterausschüsse?) und Herren, dann muß man die gesamte soziale
— Aus dem einfachen Grunde, weil im Beirat Leistung aus den Steuermitteln des Staates
dieser Wunsch in bezug auf Unterausschüsse erst nehmen und darf nicht einen Teil der Beteiligten
in der letzten Zeit gereift ist. zu einer Beitragszahlung, d. h. zu einer Sonder-
steuer heranziehen!
(Abg. Dr. Preller: Ich nehme an, daß das
nicht stimmt!) (Beifall bei der CDU/CSU.)
— Herr Professor Preller, das ist ein Zuruf, den Ich sage Ihnen das in aller Offenheit, und ich will
ich eigentlich nicht behandeln möchte. Da müßte hoffen, daß unsere Aussprache heute dazu führt,
ich Ihnen schon eine sehr deutliche Antwort geben, daß wir uns gegenseitig verstehen und daß wir
und das will ich doch im Interesse des weiteren nicht irgendwelche Pressedarlegungen — kommen
guten Fortgangs unserer Besprechungen nicht tun. sie von dieser oder von jener Seite — dazu ge-
Ich kann Ihnen nur eines sagen. Sie können — brauchen, unser Einvernehmen stören zu lassen.
und nunmehr nehme ich die Vertraulichkeit hier (Erneuter Beifall bei der CDU/CSU.)
nicht in Anspruch - Ihre Freunde aus dem Aus-
schuß fragen, ob das, was ich hier gesagt habe, Vizepräsident Dr. Schmid: Die große Anfrage -
stimmt. Hoffentlich haben Sie dann den Mut, das ist seitens der Regierung beantwortet. Wird die
nächste Mal hier zu erklären, daß es, gelinde ge- Besprechung der Anfrage gewünscht? Wenn ja,
sagt, eine kleine Ungezogenheit war, mich der bitte ich um Handzeichen. — Es sind ohne jede
wissentlichen Lüge zu bezichtigen. Frage mehr als 50 Mitglieder des Hauses, die die
(Beifall bei der CDU/CSU.) Besprechung wünschen. Die allgemeine Aussprache
Wir wollen doch nicht Dinge zusammenbringen, ist eröffnet. Das Wort hat der Abgeordnete
die nicht zusammengehören. Bei der Frage der Dr. Schellenberg.
sozialen Neuordnung sollte in diesem Hause keine
politische Kampfstimmung bestehen. Hier sollten Dr. Schellenberg (SPD): Herr Präsident! Meine
wir, die doch letzten Endes alle guten Willen s Damen und Herren! Bei der Beratung der Großen
sind—uaprechlnMitgdec Anfrage der sozialdemokratischen Fraktion müssen
Hauses aus —, zu einer Atmosphäre des wirklich doch wohl drei Fragen im Vordergrund stehen:
guten Willens und des guten Zusammenarbeitens erstens die Frage bezüglich der von der Regierung
kommen. Es ist nicht gut, wenn dabei der eine bisher gegebenen Versprechungen und Zusagen,
dem anderen hier im Plenum vorwirft, er sage insbesondere hinsichtlich des Sozialbeirats; zweitens
wissentlich die Unwahrheit. Wir wollen also die die für die Reform der sozialen Leistungen in der
Dinge ruhig an uns herankommen lassen. Wir nächsten Zeit vorgesehenen Maßnahmen, also, kon-
wollen sie diskutieren, und wir wollen alles tun, kret gesagt, die Frage der Erhöhung der Altrenten;
damit die große Sozialreform so bald wie möglich Sozial-dritensGuäzrkomend
Wirklichkeit werden kann. reform.
Dabei möchte ich allerdings eines von mir aus Zu der ersten Frage, inwieweit die von der Re-
in aller Deutlichkeit sagen. Die große Sozialreform, gierung vertretenen Zielsetzungen über die Sozial-
wiersduchfünme,istKd reform bisher verwirklicht wurden, kann ich mich
unserer Zeit und eine Folge von zwei furchtbaren sehr kurz fassen. Die Antwort, die der Herr Bundes-
Weltkriegen, die wir hinter uns gebracht haben. arbeitsminister in dieser Hinsicht gegeben hat, hat
Aber bei der ganzen sozialen Aufgabe, die uns vor meine politischen Freunde in keiner Weise be-
Augen geführt wird, müssen wir immer und friedigt.
immer wieder daran denken, daß es eine soziale (Abg. Frau Korspeter: Sehr richtig!)
Verpflichtung gibt, die, wie man so sagt, ewig ist, Herr Bundesarbeitsminister, ich darf Sie daran
die nicht an die Zeitumstände gebunden ist. Das erinnern, daß Sie nahezu in jeder Rede, die Sie
ist die Frage der Sicherstellung unserer arbeiten seit Ihrer Amtsübernahme im Jahre 1949 über
1412 2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954
(Dr. Schellenberg)
soziale Probleme gehalten haben, von der Notwen- Sie in den letzten Monaten in der Öffentlichkeit
digkeit einer umfassenden Sozialreform gesprochen in der verschiedensten Weise über die Frage der
haben. Dabei haben Sie wiederholt erklärt, daß die Altrenten sehr konkret gesprochen und Erklärun-
Neuordnung spätestens zu Beginn des kommenden gen, um nicht zu sagen, Zusagen gemacht haben.
Jahres erfolgen müßte. Das kann man durch Zitate Wenn wir heute eine Debatte über die Frage der
beweisen. Ich möchte das hier nicht tun; ich habe Altrenten führen, dann müssen Sie die Auffassun-
einen ganzen Packen von etwa 40 verschiedenen gen, die Sie in der Öffentlichkeit vertreten haben
Reden, die Sie über diese Frage gehalten haben. und mit denen sich die überwiegende Mehrzahl
Wir geben zu: das spricht selbstverständlich für Ihr aller Rentner beschäftigt, weil es um die Erhöhung
großes Interesse an diesen Problemen und für Ihre der ihnen gewährten Leistungen geht, auch hier
Sorge um diese Fragen. Aber wir müssen erklären: vertreten und in klarer Weise hierzu Stellung neh-
Reden, Versprechungen, Zusagen und weitere Pro- men. Sie müssen hier vor dem Bundestag ver-
gnosen genügen nicht; entscheidend sind allein die treten, was Sie in der Öffentlichkeit gesagt haben.
Taten. (Sehr gut! bei der SPD.)
Zuerst will ich auf Ihre konkreten Maßnahmen Herr Bundesminister, was haben Sie alles über die
bezüglich des Sozialbeirats eingehen. Mein Freund Frage der Altrenten gesagt! Es begann etwa im
Preller hat hier bereits Ihre Rede, ich glaube, vom Oktober/November vergangenen Jahres. Sie haben
21. Februar 1952 zitiert, in der Sie sehr bestimmte am 6. November 1953 in Frankfurt erklärt:
Zusagen hinsichtlich zeitlicher Termine gemacht
haben. Herr Bundesarbeitsminister, Sie haben das Innerhalb des nächsten halben Jahres werde
nicht nur bei Schaffung des Beirates getan; es mag ich einen Gesetzentwurf über die Angleichung
sein, daß sich dann in der konkreten Arbeit gezeigt der alten Rentenansprüche an die gegen-
hat, daß es schwieriger war, als Sie ursprünglich wärtige Kaufkraft vorlegen.
annahmen. Sie haben aber auch bei den weiteren (Hört! Hört! bei der SPD.)
Sozialberatungen des Jahres 1953 auf die Arbeit Wir Sozialdemokraten haben dieser Auffassung
des Beirates hingewiesen, und es wurde damals von voll und ganz zugestimmt, und um unbedingte Ge-
den Herren der Regierungsparteien erklärt, man wißheit darüber zu haben, wie es mit diesen Ge-
solle doch nicht durch Anträge sozialpolitischer Art dankengängen und Plänen steht, habe ich Sie in
die nun begonnene Arbeit dieses Beirates stören der Fragestunde im Dezember hier im Hause
und beeinträchtigen. Das ist zu unseren Anträgen gefragt, ob Sie diese Frist von einem halben Jahr
auf Erhöhung der Grundbeträge usw. gesagt einhalten werden. Sie haben wörtlich erklärt: „Ja,
worden. wenn es irgendwie möglich ist,
Heute müssen wir nun von Ihnen hören — wir (Lachen bei der SPD)
stellen das mit großem Interesse fest —, daß Sie
die Arbeit des Beirates stark intensiviert haben. und ich glaube auch, daß es gelingt." Wir müssen
Aber wir müssen den Vorwurf erheben, daß die heute feststellen, daß Sie sich bezüglich des Ter-
Aktivierung der Arbeiten des Beirats mit großer mins — ein halbes Jahr seit November 1953, also
Wahrscheinlichkeit, soweit wir es beurteilen kön- praktisch Mai 1954! — geirrt haben. Das ist beson-
nen — wir sind nicht Mitglieder des Beirats, und ders bedauerlich, Herr Minister, weil solche Zeit-
bisher ist Vertraulichkeit geübt worden —, in einem angaben, die Sie in der Öffentlichkeit machen und
gewissen Kausalzusammenhang — ich möchte mich die die Presse natürlich verbreitet, bei Millionen
vorsichtig ausdrücken — mit unserer Großen An- von Rentnern Hoffnungen erwecken.
frage steht, in der wir von Ihnen Auskunft über (Sehr richtig! bei der SPD.)
die Arbeiten dieses Beirats fordern. Deshalb be- Wenn Sie, Herr Minister, als der führende Sozial-
friedigt es uns nicht, Herr Minister ich möchte politiker der Regierung im November in der Öffent-
Ihnen das auch ganz offen sagen —, daß Sie uns lichkeit sagen, in einem halben Jahre würden Sie
hier nun von den weiteren Plänen dieses Beirats einen Gesetzentwurf über Rentenerhöhungen vor-
berichten und uns hier die Zusammensetzung des legen, dann rechnen sich die Rentner schon aus,
Beirats darlegen. Das haben wir bereits am was sie im Mai mehr an Rente erhalten. Das wis-
30. April dieses Jahres im Bulletin gelesen; da ist sen wir doch alle; das ist doch die politische Praxis,
die Zusammensetzung der Arbeitsausschüsse unter die Praxis des täglichen Lebens!
Nennung der Persönlichkeiten aufgeführt. Uns (Beifall bei der SPD.)
interessieren hier neue, unbekannte Tatsachen und Deshalb müssen wir Ihnen den Vorwurf machen,
nicht Mitteilungen über Ihre weiteren Pläne und daß Sie über diese Dinge in einem Zeitpunkt ge-
das Vorhaben dieses und jenes Unterausschusses; sprochen und damit Hoffnungen erweckt haben,
das ist nicht entscheidend. Heute muß Rechenschaft als Ihre Vorbereitungen noch in den Kinderschuhen
über die zwei Jahre gegeben werden; gesteckt haben.
(Beifall bei der SPD) Jetzt sind Sie, Herr Minister, in eine schwierige
und, Herr Bundesarbeitsminister, über Ihre Tätig- Situation gekommen, nachdem Sie immer wieder
keit in den letzten zwei Jahren haben Sie sehr darüber gesprochen haben. So sind Sie gezwungen,
wenig Bestimmtes und Konkretes gesagt. in dieser Hinsicht vieles zu improvisieren, und das
(Zustimmung bei der SPD.) führt zu Gesetzen — das wissen wir ja von dem
Nun, Herr Bundesarbeitsminister, zur Frage der Teuerungszulagengesetz, um nur das Beispiel zu
nennen, das mein Freund Preller erwähnt hat, - -
Altrenten. Sie haben sich zu dieser Frage nur ganz
kurz geäußert. Sie haben gesagt, es werde daran (Abg. Arndgen: Dafür ist der Minister nicht
gearbeitet, und Sie haben einen Termin genannt, verantwortlich gewesen!)
von dem Sie glauben, daß der Gesetzentwurf dem — Aber selbstverständlich, das ganze Haus ist da-
Kabinett vorgelegt werden kann. Aber, Herr für verantwortlich gewesen! Wir wollen doch ge-
Bundesarbeitsminister, ich muß Ihnen sagen: auch rade aus der Vergangenheit lernen, und deshalb
das kann uns nicht befriedigen, und ich glaube, sage ich, daß genaue und gründliche Vorbereitun-
auch nicht die Öffentlichkeit; deshalb nicht, weil gen getroffen werden müssen. Wenn der Minister
2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954 1413
(Dr. Schellenberg)
in der Öffentlichkeit erklärt, daß in einem halben Sie haben den Begriff Altrente geprägt. Gut, das
Jahr eine Rentenerhöhung kommen werde, dann ist ein Ausdruck. Aber da er nicht klar erläutert
muß sein Ministerium praktisch schon so weit sein, wurde — in Ihrem Hause selbst bestanden sogar un-
daß er den Gesetzentwurf aus der Tasche zieht, terschiedliche Auffassungen darüber —, haben viele
(Beifall bei der SPD) Rentner angenommen und konnten es sehr leicht
annehmen, Altrenten seien vielleicht die Renten,
und das war doch nicht der Fall. die bei Erreichung der Altersgrenze von 65 Jahren
Herr Bundesarbeitsminister, Sie haben — und oder von 60 Jahren für Versicherte gewährt wer-
das bedauere ich sehr — über diesen Termin auch den. Herr Atzenroth, Sie sind ein Sachkenner, und
noch später, nach dem Dezember, nachdem ich Sie auch ich weiß, was der Herr Minister meint; aber
hier gefragt habe, in der Öffentlichkeit verschie- wenn der Herr Minister einmal von Kaufkraft-
dene Mitteilungen gemacht, die diese Hoffnung erhöhungen für Versicherungszeiten bis 1933 und
immer wieder genährt haben. Sie haben beispiels- ein andermal bis 1939 spricht, dann entsteht natür-
weise am 11. Februar 1954 erklärt, daß die Gesetz- lich in dieser Hinsicht eine bedauerliche Unklarheit,
entwürfe über die Erhöhung der Altrenten schon Deshalb hatten wir erwartet, Herr Minister, daß
im März dem Kabinett zur Entscheidung vorgelegt Sie von der Tribüne dieses Hauses einmal klar
würden. Vorhin haben Sie uns erklärt: im Juli. Das sagen, war darunter verstanden werden soll, damit
ist für die Rentner eine sehr entscheidende Ver- jetzt endlich bei den Rentnern und bei der Bevöl-
spätung; denn die Rentner rechnen im Hinblick kerung Klarheit über die Dinge erreicht wird.
auf die Sicherung ihres Lebensbedarfs mit diesen Im übrigen sind wir der Meinung, daß auch die
Erhöhungen. Vorstellungen, die Sie in bezug auf die Beträge
Herr Minister, ich darf Sie auch daran erinnern, haben, welche die Rentner in Gestalt von Erhö-
daß Sie im April 1954 erklärt haben, die mathema- hungen erhalten sollen, doch sehr unklar und sehr
tischen Arbeiten würden in vierzehn Tagen abge- mißverständlich sind. Mein Freund Preller hat be-
schlossen sein. Ich kann Ihnen nur sagen: Das ent- richtet, daß Sie erklärt haben — und das ist durch
spricht nicht den Tatsachen. Sie haben sich da ge- die ganze Presse gegangen —, die Rente würde um
täuscht. Sie haben Ihre Hoffnungen und Ihre Ziele durchschnittlich 30 DM erhöht. Sie haben weiter
für Wirklichkeit genommen; denn die mathema- davon gesprochen, daß für die Erhöhung der Alt-
tischen Arbeiten sind erst in den ersten Maitagen renten Mittel in Höhe von 750 bis 800 Millionen DM
hinsichtlich der Auswertung auf volle Touren an- jährlich aufgewendet würden. Wir, die wir in der
gelaufen, beispielsweise bei der Bundesversiche- Materie stehen, wissen, daß 6 1/2 Millionen Renten
rungsanstalt für Angestellte, bei der Sie eine große laufen, daß also nur etwa ein Drittel aller Rentner
Erhebung darüber anstellen lassen. eine Erhöhung dieser sogenannten Altrente erhal-
Es ist nach Auffassung meiner Fraktion nicht ten kann, wenn diese Erhöhung, wie Sie laut Presse
vertretbar, wenn Sie in der Öffentlichkeit erklären, erklärt haben, 30 DM monatlich betragen soll. Wir
daß die mathematischen Arbeiten in vierzehn Ta- wissen auch, daß noch nicht einmal alle über 65
gen abgeschlossen seien, während mit diesen Ar- Jahre alten Rentner bei diesem Aufwand und bei
beiten, die mit Hollerithmaschinen auf Lochkarten dieser Höhe in den Genuß der Altrentenerhöhung
gemacht werden müssen, zu diesem Zeitpunkt noch kommen können, denn nach den statistischen Fest-
nicht einmal begonnen worden ist. Wir sind der stellungen, die ich kenne, kommen etwa 31/2 Mil-
Auffassung, daß all dies sehr unbefriedigend ist. lionen Rentner in Frage, die das 65. Lebensjahr
überschritten haben. Ich bitte, mich in dieser Hin-
Im übrigen müssen wir Ihnen, Herr Minister, sicht gegebenenfalls zu berichtigen.
den Vorwurf machen, daß nicht nur Ihre zeitliche
Planung bezüglich der Gewährung von Rentener- Es ergeben sich also aus all dem, was Sie bisher
über die Altrenten gesagt haben, viele Unklar-
höhungen für die sogenannten Altrentner in Un-
heiten. Deshalb bitte ich Sie, heute dem Hause
ordnung geraten ist, sondern daß auch die Vorstel- und damit der Öffentlichkeit folgende Fragen zu
lungen darüber, wer eine Erhöhung wegen An- beantworten.
passung der Renten an die gestiegene Kaufkraft er-
halten soll, in Ihrem Hause sehr schwankend waren. 1. Wieviele Rentner sollen nach den Plänen Ihres
Das mag noch angehen. Aber Sie haben darüber in Ministeriums als Altrentner angesehen werden und
der Öffentlichkeit unterschiedliche Erklä- sollen nach Ihren Vorstellungen in den Genuß
rungen abgegeben, und das ist bedauerlich. Sie einer Erhöhung kommen?
haben beispielsweise manchmal davon gesprochen, 2. Wie hoch wird nach Ihren Plänen für den
daß die Rentenansprüche für Versicherungszeiten Durchschnitt für den Versicherten und auch für
bis 1933 aufgewertet werden sollen, dann haben den Durchschnitt der Witwen diese Erhöhung
Sie wieder davon gesprochen, daß Versicherungs- tatsächlich sein, 30 DM oder wie hoch?
zeiten bis zu Beginn des zweiten Weltkrieges, also 3. Von welchem Zeitpunkt an soll nach Ihren
bis 1939, aufgewertet werden sollen. Ferner bin ich Vorstellungen die Erhöhung der sogenannten Alt-
darüber unterrichtet, daß in anderem Zusammen- renten wirksam werden?
hang erwogen wurde, sogar Versicherungszeiten 4. Wann wird nach Ihren Auffassungen die
bis 1954 aufzuwerten. Das alles zeugt doch von überwiegende Zahl der Rentner praktisch diese
sehr starken Unklarheiten. Deshalb sind wir genö- Erhöhung ausgezahlt erhalten?
tigt, Ihnen den Vorwurf — ich muß das hier in
aller Offenheit sagen, denn wir wollen eine frei- Wie wir wissen, ist das Letzte sehr wichtig. Ich
mütige Aussprache — zu machen, daß Sie durch darf Sie nur an das Fremdrentengesetz erinnern,
öffentliche Reden über Dinge, die noch nicht ge- das am 1. April 1952 in Kraft trat, dessen praktische
klärt waren, die Rentner in eine Beunruhigung Durchführung wegen der Durchführungsbestim-
versetzt haben. Dieser Tatbestand hat zu einer Ver- mungen aber heute noch nicht überall erfolgt ist.
wirrung bei den Rentnern geführt, und das ist be- (Hört! Hört! bei der SPD.)
sonders bedauerlich. Ich habe noch eine weitere Frage an Sie, Herr
Mit diesem etwas unklaren Begriff „Altrenten" Minister, um deren Beantwortung ich bitte. Ist
ergbnsichvlFafürdeinzRt. nach Ihren Plänen eine Anrechnung dieser Erhö-
1414 2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954
(Dr. Schellenberg)
hung der Altrenten auf andere Sozialleistungen — halb jetzt alles rosarot erscheint. Sie haben nämlich
beispielsweise auf Ausgleichsrenten in der Kriegs- erklärt, daß sich die Bevölkerungspyramide, der
opferversorgung, Unfallrenten, Lastenausgleich Altersaufbau des deutschen Volkes doch wesentlich
usw. — in Aussicht genommen? verbessert habe, und zwar durch Eintritt junger
Ich stelle die Frage deshalb, Herr Minister, weil, Jahrgänge in das Berufsleben.
nachdem Sie in der Öffentlichkeit Erklärungen (Abg. Schmitt [Vockenhausen]: Durch die
abgegeben haben, unbedingt Klarheit geschaffen Ernennung von Wuermeling!)
werden muß. Ich bitte, sich nicht damit zu ent- Herr Minister, diese Begründung zieht nicht; denn
schuldigen, daß Sie sagen, das alles hängt erst jeder Bevölkerungsstatistiker wußte natürlich in-
von dem Gesetz und von dem Gang der Gesetz- folge des Aufbaus der Alterspyramide genau, wann
gebung ab. Wenn ein Minister über eine Frage in die Jahrgänge 1939 und 1940 in das Berufsleben
der Öffentlichkeit wiederholt spricht, dann inter- eintreten werden und wie sich das auswirkt. Wir
essieren den Bundestag mindestens die genauen wissen heute auch, wann die zahlenmäßig geringe-
Pläne des Ministers. Was nachher praktisch her- ren Jahrgänge, beispielsweise 1942, ins Berufsleben
auskommt, das werden wir erarbeiten müssen. Ich kommen werden, und wir wissen, daß sich der
glaube, die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf, jetzige Zustrom von jungen Jahrgängen auf Grund
von Ihnen jetzt zu erfahren, welche eigenen der Bevölkerungsentwicklung wieder ins Negative
Pläne und Vorstellungen Sie in dieser Sache haben. verkehren wird.
Nun zu einer weiteren Frage, der Frage der Herr Bundesarbeitsminister, Sie haben in diesem
Aufbringung der Mittel. Es muß doch zweifelsfrei Zusammenhang auch von dem Zustrom junger
geklärt sein, wie diese Mittel, nämlich die 750 bis Flüchtlinge aus der Sowjetzone gesprochen. Einer
800 Millionen DM beschafft werden. Ihre Erklä- meiner Freunde, Kollege Rasch, hat bereits bei der
rung, daß sie aus den Kassenüberschüssen der Debatte des Haushalts diese Frage angeschnitten.
Rentenversicherung aufgebracht werden sollen, Sie sind nicht darauf eingegangen. Ich muß gerade
hat in vielen Fachkreisen und auch in Kreisen der deshalb noch einmal um eine Auskunft darüber
Arbeitgeber, der Gewerkschaften usw. Beunruhi- bitten. Sie haben erklärt, der Zustrom junger
gung hervorgerufen. In diesem Zusammenhang ist Flüchtlinge aus der sowjetischen Besatzungszone
folgendes wichtig. schaffe in der Bundesrepublik einen günstigeren
Die von Ihnen vertretene Auffassung über die Altersaufbau. Wir sind der Auffassung, daß eine
Aufbringung der Mittel aus den Kassenüberschüs- derartige Äußerung im Hinblick auf die gesamt-
sen der Rentenversicherungsträger, die nach Ihren deutsche Verantwortung bedauerlich ist. Wir sind
Angaben im letzten Jahr 1,2 Milliarden DM betra- der Auffassung, daß wir gerade bei der Renten-
gen haben, steht doch in erstaunlichem Widerspruch versicherung, also bei Maßnahmen, die auf Jahre
zu den Ausführungen, die Sie vor diesem Hause und Jahrzehnte abgestellt sind, doch alle eine ge-
vor noch nicht einem Jahre, nämlich bei der meinsame Verantwortung auch für die alten Men-
Beratung des sozialdemokratischen Antrags auf schen tragen, die in der Sowjetzone zurückbleiben.
Erhöhung der Grundbeträge gemacht haben. Sie (Beifall bei der SPD.)
haben am 11. Juni 1953 hier vor dem Hause er- Für die Zukunft ergeben sich daraus für uns alle,
klärt, ein etwaiger jährlicher Überschuß werde wie ich hoffe, doch eher Verpflichtungen als Ent-
unbedingt für spätere Rentenzahlungen benötigt, lastungen, die heute bei Aufbringung zukünftiger
weil sich schon im Laufe der nächsten fünf Jahre Mittel in Betracht gezogen werden müssen. -
die Zahl der Beitragszahler verringere, aber die (Sehr gut! bei der SPD.)
der Rentner erhöhen werde. Sie haben erklärt,
Herr Minister, die Überschüsse der Rentenversiche- Im übrigen darf ich Ihnen sagen: Nach meinen
rung seien eine Bagatelle im Vergleich mit den Berechnungen — und ich bitte mich zu belehren,
zur wirtschaftlichen Sicherung der für spätere wenn ich irre — ist Ihre Auffassung bezüglich der
Rentenleistungen benötigten Mittel. Herr Kollege zahlenmäßigen Auswirkung des Zustroms der
Horn, Sie werden sich erinnern, daß Sie sich in der jungen Flüchtlinge aus der Sowjetzone auch irr-
Debatte vom 11. Juni vergangenen Jahres auf tümlich. Ich habe versucht, mit Unterstützung der
statistisches Material des Bundesarbeitsministe- verschiedenen Stellen genaue Berechnungen dar-
riums gestützt und erklärt haben, daß die im Le- über anzustellen. Ich habe errechnen können, daß
bensalter über 65 Jahre Stehenden in den nächsten sich durch den Zustrom der Sowjetzonenflüchtlinge
25 Jahren um 70 % — also über den Daumen ge- seit der letzten Statistik über den Altersaufbau der
rechnet pro Jahr um 3 % — anwachsen werden. Prozentsatz der Menschen im erwerbstätigen Alter
Herr Kollege Hammer hat in der Debatte erklärt, von 67,1% auf 67,3% verbessert hat und daß der
daß die Erhöhung der Rentenleistungen aus den Prozentsatz der Alten von 9,3% auf 9,2% zurück-
Mitteln der Rentenversicherung gewissermaßen un- gegangen ist.
verantwortlich gegenüber den gegenwärtig Ver- (Hört! Hört! bei der SPD)
sicherten sei. Die gleiche Auffassung haben Aber derartige Veränderungen haben für den
die Experten Ihres Ministeriums, haben die Sach- Altersaufbau unseres Volkes überhaupt keine ent-
verständigen des Verbandes der Rentenversiche- scheidende Bedeutung.
rungsträger in Reden und in wissenschaftlichen (Sehr richtig! bei der SPD.)
Abhandlungen vertreten. Im übrigen, Herr Minister, steht doch Ihre Auf-
Wir müssen deshalb mit Erstaunen feststellen, fassung über den günstigeren Altersaufbau in
daß sich die Auffassung des Bundesarbeitsministe- striktem Gegensatz zu allen Erklärungen der
riums über die Finanzlage der Rentenversicherung Bundesregierung. Ich darf auf das Bezug nehmen,
im Zeitraum noch nicht eines Jahres so fundamental was der Herr Bundeskanzler in seiner Regierungs-
geändert hat. Herr Bundesarbeitsminister, Sie erklärung über den Altersaufbau gesagt hat. Er hat
haben darüber — nach Pressemitteilungen — in ausgeführt, daß sich die Zusammensetzung der Be-
der Öffentlichkeit gewisse Erklärungen abgegeben, völkerung ständig zuungunsten der im produktiven
weshalb vor einem Jahr in bezug auf den Alters- Lebensalter Stehenden ändert. Herr Minister
aufbau noch grau in grau gemalt wurde und wes Wuermeling hat das noch vor zwei Monaten
2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954 1415
(Dr. Schellenberg)
genau statistisch bewiesen. Er gründet ja geradezu Darüber haben Sie nach unserer Auffassung viel
die Existenz seines Ministeriums auf diese Tat- zu wenig Genaues und Bestimmtes gesagt.
sachen des Altersaufbaues. Herr Minister, Sie haben auf die Sozialenquete
(Beifall bei der SPD.) verwiesen. Wir alle sind der Auffassung, daß die
Es ist nach Auffassung meiner Freunde ein sehr Sozialenquete von großer Bedeutung ist. Sie haben
unerfreulicher Zustand, wenn über so fundamentale von dem ersten und dem zweiten Teil dieser
Fragen wie den Altersaufbau unseres Volkes Enquete gesprochen. Herr Minister, ich habe mich
seitens der einzelnen Minister je nach Bedarf in den letzten Wochen eingehend mit der Sozial-
unterschiedliche Auffassungen in der Öf fentlichkeit enquete beschäftigt, und zwar nicht nur in Unter-
vertreten werden. haltungen mit Herren, die diese Dinge an der
Spitze durchführen, sondern ich bin dorthin gegan-
Die sozialdemokratische Fraktion steht auf dem
gen, wo diese Sozialenquete praktisch bearbeitet
Standpunkt, daß der Ausgleich der Kaufkraft- wird, um mir selbst einmal ein Bild zu machen, wie
veränderungen, also der Änderungen im Währungs– die Sache läuft und was man dabei erwarten kann.
gefüge, der hier durch die Altrentenerhöhung er-
reicht werden soll, nicht aus den laufenden Bei- Herr Minister, auch diesen Vorwurf muß ich
trägen, sondern grundsätzlich aus dem allgemeinen heute erheben — vielleicht sind die Pressestimmen
Steueraufkommen erfolgen muß. Für die sozial- darüber irrtümlich gewesen —: Sie haben bezüg-
demokratische Fraktion handelt es sich bei dieser lich der Enquete auch in zeitlicher Hinsicht falsche
Angelegenheit nicht nur um eine versicherungs- Prognosen gestellt. Ich berufe mich dabei auf eine
technische oder finanztheoretische Frage, sondern Mitteilung, die über dpa am 6. Oktober 1953 er-
vor allen Dingen um eine sozialpolitische Notwen- schienen ist:
digkeit, die für die Deckung des Lebensbedarfs der Die Untersuchung über die Repräsentativ-
alten Menschen von höchster Bedeutung ist. Des- auswahl
halb sind wir der Auffassung, daß es vor allen — das sind die bekannten 5 %, genau 620 000
Dingen darauf ankommt, die angekündigte Er- Leistungsfälle —
höhung der Altrenten schnellstens durchzuführen.
steht vor dem Abschluß, und man erwartet
(Beifall bei der SPD.) vom Sozialbeirat, daß er sich zu den erarbei-
Damit wir uns ein Urteil darüber bilden können, teten Ergebnissen äußert.
ob und wie weit die Rentenversicherung ganz oder
teilweise an der Aufbringung der Mittel für die Sie haben uns vorhin etwas ganz anderes gesagt.
Erhöhung beteiligt werden kann und inwieweit Sie haben nämlich erklärt: die Ergebnisse des
Bundesmittel dafür in Anspruch genommen werden ersten Teils der Erhebung werden im August dieses
müssen, bitte ich den Herrn Bundesarbeitsminister, Jahres vorliegen. Auch bezüglich des zweiten Teils
folgende Unterlagen unverzüglich vorzulegen: der Erhebung hieß es in der Pressemitteilung vom
1. einen Rechnungsabschluß der Rentenversiche- Oktober 1953:
rung mit Vermögensstand per 31. Dezember 1952; Nach Auskunft des Bundesministers für Arbeit
2. vorläufige Ergebnisse mit Stand vom 31. De- wird das Ergebnis dieses zweiten Teils der Er-
zember 1953; 3. Voranschlag der Rentenversiche- hebung im Frühjahr 1954 erwartet.
rung für das Rechnungsjahr 1954. Ich darf dazu Tatsächlich wird aber mit diesem zweiten Teil der
erklären, daß es uns dabei, wenn Sie sagen, die Erhebung erst im Herbst dieses Jahres begonnen,
Beschaffung der Unterlagen sei bis in die letzten und Sachverständige sagen, daß die Ergebnisse
Kommastellen noch nicht möglich, nicht auf die nicht vor Frühjahr nächsten Jahres vorliegen
Stellen nach dem Komma, sondern auf die Millio- können. Es ergibt sich also auch bezüglich der
nen- und Milliardenbeträge ankommt. Darüber Prognosen über die Sozialenquete gegenüber dem,
wollen wir Klarheit haben. Wir sind der Auffas- was Ihr Ministerium erklärt haben soll, ein Zeit-
sung, daß auch die deutsche Öffentlichkeit und die verlust von einem Jahr. Das beeinträchtigt natür-
Rentner einen Anspruch darauf haben, genau zu lich sehr die weiteren Arbeiten an der Sozial-
wissen, wie es um die Finanzlage der deutschen reform. Ich glaube, wir müssen darüber unsere
Rentenversicherung bestellt ist. Dann kann auch Mißbilligung aussprechen; denn wir alle haben von
eine Entscheidung darüber gefällt werden, wie die der Sozialenquete viel für die weiteren Maßnahmen
800 Millionen DM zu decken sind. Die Unterlagen erwartet. Es ist natürlich sehr bedauerlich, wenn
müssen vorliegen, und wir bitten Sie deshalb, sie es jetzt heißt, es wird ein Jahr später, als man
uns unverzüglich zur Verfügung zu stellen. Denn ursprünglich angenommen hat.
es darf auf keinen Fall wegen der Frage der Dek- Das erinnert mich — das muß ich sagen — an
kung zu einer Verzögerung in der Auszahlung der das, was bei der Schaffung des Beirates gesagt
Erhöhung für die alten Rentner kommen. wurde. Da wurde nämlich erklärt: Jetzt warten wir
(Beifall bei der SPD.) mal, der Beirat wird bald etwas Positives schaffen.
Herr Bundesarbeitsminister, ich muß nun noch Wir möchten deshalb nicht wieder auf das ver-
zu der Frage bezüglich der Grundsätze einer kom- tröstet werden, was aus dem zweiten, dem, wie wir
menden Sozialreform Stellung nehmen. Aus der alle wissen, wichtigsten Teil der Sozialenquete
Presse habe ich entnommen, daß Sie die Auffassung nächstes Jahr herauskommen wird. Wir Sozial-
vertreten, die Erhöhung der Altrenten habe nichts demokraten stehen auf dem Standpunkt, daß über
mit der von Ihnen angekündigten allgemeinen die Frage der Erhöhung der Altrenten hinaus und
Sozialreform zu tun, da es sich dabei um eine unabhängig von dem Ergebnis der Enquete schon
Milderung dringendster Notstände handle. Dieser jetzt gewisse weitere Maßnahmen zur Reform der
Auffassung stimmen wir voll und ganz zu. Aber sozialen Leistungen bearbeitet und vorwärtsgetrie-
in der Großen Anfrage, Herr Minister, haben wir ben werden müssen. Da bei der Erörterung der
Sie auch um Auskunft über weitere Maßnahmen Frage der Altrenten die Probleme der Sozial-
einer umfassenden Sozialreform gebeten, und zwar versicherung angeschnitten wurden, möchte ich mich
haben wir konkret gefragt, welche Maßnahmen die bezüglich der nächsten Schritte, die zu machen sind,
Bundesregierung in dieser Hinsicht vorbereitet auf die Fragen der Sozialversicherung beschränken,
1416 2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954
(Dr. Schellenberg)
die meiner Überzeugung nach, nach dem, was ich zu schaffen. Dazu gehört beispielsweise auch die
an den praktischen Arbeiten der Enquete gesehen Schaffung eines bundeseinheitlichen Knappschafts-
habe, nicht vom Ergebnis der Enquete abhängig rechtes. Die Industriegewerkschaft Bergbau hat
sind. Ich glaube, diese Schritte sollten und müssen dazu, wie mir von Freunden mitgeteilt wurde, in
jetzt getan werden. Deshalb möchte ich diese Dinge Ihrer Anwesenheit, Herr Minister, einen Beschluß
hier konkret ansprechen und Sie bitten, uns gefaßt. Soweit ich unterrichtet bin, sind auch die
darüber eine Auskunft zu geben. Arbeitgeber in dieser Beziehung der Auffassung
Ich stelle mir darunter vor: Erstens die Schaffung der Gewerkschaften. Ein bundeseinheitliches
eines bundeseinheitlichen Rechts in der Renten- Knappschaftsrecht ist bisher noch nicht ge-
schaffen. Wir sind der Überzeugung, daß die
versicherung. Mit dieser Frage hat sich der 1. Bun-
destag bereits im Jahre 1952 beschäftigt. Im Aus- Schaffung eines bundeseinheitlichen Sozialrechtes,
insbesondere in der Rentenversicherung, auch zur
schuß wurde bittere Klage darüber geführt, daß Vereinfachung der Sozialgesetzgebung beiträgt.
wir in dieser Hinsicht noch von einem Recht ab- Wir sehen nicht ein, weshalb diese Dinge immer
hängig sind, das in wesentlichen Grundlagen am wieder hinausgezögert werden.
17. März 1945 geschaffen und zonal unterschiedlich
geblieben ist. Es schafft deshalb in der praktischen (Abg. Horn: Und das Krankenversicherungs-
Auswirkung viele Unterschiede und manche Unge- recht?)
rechtigkeiten für Rentner, die bei Frühinvalidi- — Darüber können wir gern sprechen. Es ist ja
tät noch erwerbstätig sind, weil teilweise beispiels- ein Ausschuß eingesetzt, an dem das Bundes-
weise ein Arbeitgeberbeitrag angerechnet wird, arbeitsministerium beteiligt ist.
aber dafür keine Leistung gewährt wird. Auch die (Abg. Horn: Das ist mir bekannt!)
Versicherungspflicht von Lehrlingen ohne Entgelt Die zweite Forderung, die wir in bezug auf die
ist unterschiedlich. Wir haben diese Fachfragen im nächsten Maßnahmen einer Reform der Sozial-
Ausschuß sehr eingehend erörtert. Der Bundestag versicherung erheben müssen, ist die: Gleiche
hat am 26. November 1952 beschlossen, die Bundes- Leistungen für gleiche Beiträge.
regierung zu ersuchen, baldigst einen Gesetz- Es muß endlich der Zustand beseitigt werden,
entwurf über die Beseitigung des unterschiedlichen daß in der Sozialrentenversicherung bei gleichen
Länder- und Zonenrechts in der Invaliden- und Beitragssätzen von 10 % des Arbeitsentgelts unter-
Angestelltenversicherung vorzulegen. schiedliche Leistungen . gewährt werden. Das
(Abg. Horn: Beziehen Sie das auch auf schlägt dem Grundsatz der versicherungstech-
Berlin?) nischen Gerechtigkeit geradezu ins Gesicht. Sowohl
- Selbstverständlich auch in bezug auf Berlin. Ich gegenüber den Arbeitern als auch gegenüber den
spreche von den Fragen der Rentenversicherung, Angestellten gibt es da Ungerechtigkeiten.
und darüber gibt es gar keine Meinungsverschie- Ich möchte ein Beispiel dafür hinsichtlich der
denheit. Die Rentenversicherung ist, wie Sie Arbeiter anführen. Sie kennen es von vielen Rent-
wissen, Herr Kollege Horn, im Lastenausgleich nern her, soweit Sie in der sozialpolitischen Praxis
drin, und die Berliner Rentenversicherung beruht stehen. Es handelt sich um die Steigerungsbeträge
grundsätzlich zwar nicht auf dem Bundesrecht, weil des ersten Weltkriegs für die Arbeiter. Diese
es das nicht gibt, aber auf dem Recht der britischen Jahrgänge kommen jetzt zum Rentenbezug. Der
Zone mit der Abweichung der Regelungen für die Umstand, daß diese Jahrgänge nur die Klasse II
60jährigen Frauen, erhalten, führt zu einer Ungerechtigkeit.
(Abg. Horn: Also nur grundsätzlich!) (Sehr richtig! bei der SPD.)
über die aus sozialpolitischen Gründen gesprochen Diese wird noch vervielfacht, Herr Minister, wenn
wird. Das ist eine sozialpolitische Entscheidung in Sie jetzt die Steigerungsbeträge aufwerten, da Sie
bezug auf die besondere Situation Berlins. Aber die niedrige Klasse II, sagen wir mal, mit dem
grundsätzlich stehen wir selbstverständlich auf Multiplikator x, die höheren Klassen anders auf-
dem Standpunkt, daß der Beschluß des Bundes- werten.
tages über das bundeseinheitliche Recht der Ren- (Beifall bei der SPD.)
tenversicherung durchgeführt werden muß.
Wir richten deshalb an Sie die dringende Bitte,
Ich will auf die weiteren Fragen zur Schaffung bei der Altrentenerhöhung diese Ungerechtigkeit
des bundeseinheitlichen Rechts nur ganz kurz ein- zu beseitigen. Sie haben früher gesagt, daß es ver-
gehen. Wir haben hier wiederholt die Frage des waltungstechnisch schwierig sei. Jetzt müssen
§ 397 des Angestelltenversicherungsgesetzes er- irgendwie die Unterlagen in die Hand genommen
örtert, nämlich die Zahlung von Ruhegeldern an werden. Der Zeitpunkt ist gekommen, jene Un-
über 60 Jahre alte Angestellte, die länger als ein gerechtigkeit gegenüber den Arbeitern des ersten
Jahr arbeitslos sind. Das Haus hat dazu Beschlüsse Weltkriegs zu beseitigen.
gefaßt. Wir bedauern, daß die Angestellten der
britischen Zone in dieser Hinsicht noch heute Auch in bezug auf die Grund- und Steigerungs-
benachteiligt sind und die Bundesregierung bisher, beträge sind Reformen dringend notwendig. Wir
jedenfalls nach dem, was wir gehört haben, die wissen alle, wie hier der Arbeiter bei kurzer Ver-
Schaffung eines einheitlichen Rechts auf diesem sicherungszeit und niedrigem Arbeitsentgelt be-
Gebiet verweigert. So haben wir — ich kann es nachteiligt ist. Er kann, wenn er früh Invalide
nicht anders sagen — den tragikomischen Zustand, wird, bei seinem niedrigen Arbeitsentgelt über die
'daß innerhalb der Bundesversicherungsanstalt für Mindestrente von 55 DM praktisch nicht hinaus-
Angestellte ein Teil der Angestellten bei gleicher kommen, während der Angestellte mit dem glei-
Beitragszahlung im 60. Lebensjahr und bei einem chen sozialen Schicksal, mit dem gleichen Beitrag,
Jahr Arbeitslosigkeit Ruhegeld erhält und ein mit der gleichen Versicherungszeit von nur fünf
anderer Teil der Angestellten nicht. Der Ange- Jahren und bei gleichem Einkommen durch den
stellte in Bremen erhält sie und der Angestellte größeren Grundbetrag praktisch eine höhere Rente
in Hamburg nicht. Das ist doch ein unmöglicher erhält. Das ist eine Ungerechtigkeit.
Zustand, und wir meinen, es ist wirklich dringend Es gibt aber auch gegenüber den Angestellten
notwendig, hier bundeseinheitliche Vorschriften Ungerechtigkeiten. Ich habe schon im 1. Bundestag
2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954 1417
(Dr. Schellenberg)
darauf hingewiesen, daß der Steigerungsbetrag I Bundesregierung hat darüber einen Entwurf vor
von 0,7 zu einer Ungerechtigkeit führt. Nach einer gelegt, der von allen Seiten des Hauses als unbe-
Versicherungszeit von 16 Jahren erhält ein Ange- friedigend bezeichnet wurde. Wir müssen deshalb
stellter mit einem Durchschnittsgehalt von 300 DM von der Regierung verlangen, daß sie baldigst
wegen des Grundbetrags und Steigerungsbetrags einen Gesetzentwurf über die Reform der Hand-
eine niedrigere Rente als der Arbeiter. Bei werkerversicherung vorlegt.
einem Arbeitseinkommen von durchschnittlich
400 Mark tritt das schon nach zwölf Jahren ein. Und eine letzte Forderung haben wir: Im Rah-
Das weiß Ihre versicherungsmathematische Abtei- men der Reform der Sozialversicherung muß auch
lung ganz genau, Herr Minister. Aber es ist nichts Klarheit über die Grundsätze geschaffen werden,
geschehen, um diese Ungerechtigkeit zu beseitigen. nach denen die zukünftigen Rentenleistungen finan-
Ich befürchte, daß sich die Differenz noch ver- ziell gesichert werden sollen. Der Bundestag hat
größert, wenn jetzt die Aufwertung der Steige- darüber am 1. März 1951 Grundsätze aufgestellt,
rungsbeträge kommt. Allerdings weiß ich nicht, die, wie wir alle wissen, noch nicht verwirklicht
wie sie im einzelnen technisch aussehen wird. Wenn sind. Die lebhafte Debatte in der Öffentlichkeit
man nämlich den höheren Steigerungsbetrag auf- über die Finanzierung der Altrenten zeigt eine Un-
wertet, kommt ein Vielfaches von dem heraus, ruhe und eine Unsicherheit über die Grundsätze,
was sich bei der Aufwertung der niedrigeren Stei- die in dieser Hinsicht angewandt werden. Sach-
gerungsbeträge ergibt. Deshalb haben die Ange- kenner machen der Bundesregierung den Vorwurf,
stellten ein außerordentlich großes Interesse an daß sie in bezug auf die finanzwirtschaftlichen
der Klärung dieser Frage. Prinzipien einen Zickzackkurs verfolge. Wir müssen
deshalb darauf dringen, daß die versicherungstech-
Ich wiederhole, daß wir Sozialdemokraten im nische Bilanz, von der Sie, Herr Minister, gespro-
Rahmen der nächsten Schritte zu einer Reform der chen haben, an der gearbeitet wird, nun wirklich bald
Sozialversicherung die Verwirklichung des Grund- vorgelegt wird. Herr Minister, die Vorarbeiten, die
satzes fordern: Bei gleicher Beitragszahlung gleiche 1950 und 1951 dafür geleistet wurden, haben, so-
Leistungen. weit ich unterrichtet bin, nicht zur Veröffentlichung
Wir stehen weiter auf dem Standpunkt, daß es einer versicherungstechnischen Bilanz geführt.
schnellstens zu einer Vereinfachung in der Renten- Schon im Jahre 1951 haben manche Kollegen ge-
berechnung kommen muß. Heute besteht der Zu- sagt: Jetzt kommt die versicherungstechnische
stand, daß sich die Rente von sechs Millionen Men- Bilanz, und wir dürfen hoffen, daß sie nun wirk-
schen aus mindestens fünf Teilen zusammensetzt: lich vorgelegt wird, damit Klärung über die Grund-
Grundbetrag, Steigerungsbetrag, Zuschlag nach sätze erfolgen kann. Dieses Haus muß eine Ent-
dem Sozialversicherungs-Anpassungsgesetz, Zu- scheidung über die weiteren Grundsätze der Finanz-
lage nach dem Rentenzulagengesetz, Grundbetrags- politik in der deutschen Sozialversicherung treffen;
erhöhung. Für einen Teil der Rentner kommen denn wir wissen, die Vorschriften des § 1391 der
außer diesen fünf Teilen noch drei weitere Teile RVO stehen auf mehr schwankenden Füßen.
hinzu, nämlich Kinderzuschuß, Auffüllungsbetrag
und Teuerungszulage, so daß dann acht Teile Es gibt noch viele andere Fragen, deren Erörte-
entstehen. Und wenn Sie jetzt bezüglich der Alt- rung im Rahmen der nächsten Maßnahmen zur
renten etwas machen, ist es möglich — und ich be- Reform der Sozialversicherung notwendig ist. Ich
fürchte es —, daß zu dem fünften Teil noch ein will nur an die Rentnerkrankenversicherung -
sechster Teil und zu dem achten Teil noch ein erinnern — mein Kollege Traub hat das bereits
neunter Teil — Aufstockungsbetrag, wie er ge- in der Haushaltsdebatte angeschnitten —, Fragen
schaffen werden soll — hinzukommt. Das wird be- der Erhöhung der alten Unfallrenten usw. Diese
sonders kompliziert bei den Angestellten, die Wan- und viele andere Fragen der Reform der Sozial-
derversicherte sind und bei denen nun beide Ver- versicherung sind — das müssen wir der Re-
sicherungszweige zusammentreffen. gierung zum Vorwurf machen — nicht mit der
notwendigen Energie angepackt worden.
Heute kann praktisch kein Rentner übersehen,
wie seine Rente berechnet wird. Das ist ein unmög- Meine Fraktion muß deshalb an die Regierung
licher Zustand. Wir sind der Auffassung, daß es die dringende Bitte richten, daß diese Grundsätze
nicht vertreten werden kann, daß nahezu 20 Millio- — Schaffung eines bundeseinheitlichen Rechtes in
nen Menschen, die wöchentlich oder monatlich Ren- der Rentenversicherung, gleiche Leistungsgewäh-
tenversicherungsbeiträge in Höhe von 10% ihres rung bei gleichen Beiträgen, Vereinfachung der
Arbeitsentgeltes entrichten, nicht übersehen kön- Rentenberechnung, Reform der Altersversorgung
nen, sich überhaupt kein Bild davon machen kön- der Handwerker und Klarheit über die Finanz-
nen, wie hoch ihre Rente bei Erreichung der Alters- grundlagen der Rentenversicherung — durch-
grenze einmal sein wird. Das sind untragbare Zu- geführt werden. Das sind keine Fragen, meine
stände, und wir sind der Meinung, daß eine Ver- Damen und Herren der Regierungsparteien, bei
einfachung der Berechnungsgrundlage, die dem denen Sie uns sagen können: Das erfordert ja Auf-
Versicherten eine möglichst gerechte Gegenleistung wendungen von Hunderten von Millionen; die
für die gezahlten Beiträge gibt, ein dringendes Be- Sozialdemokraten stellen wieder Anträge, die wirt-
dürfnis sofortiger Maßnahmen für eine Reform der schaftlich nicht durchführbar sind. Diese Dinge
Sozialversicherung ist. können verwirklicht werden. Es bedarf da-
In diesem Zusammenhang muß ich auch die zu auch nicht vieler Jahre. Sie können durchgeführt
Regelung der Altersversorgung für Handwerker werden, und sie haben eine praktische Bedeutung
erwähnen. Alle Parteien waren sich im 1. Bundes- für die Versicherten. Durch diese Maßnahmen, die
tag darüber klar, daß die Altersversorgung refor- ich nur im Rahmen der Sozialversicherung ange-
miert werden muß. Alle Parteien waren der Mei- schnitten habe, wird eine größere soziale Ge-
nung, daß die jetzige Regelung sowohl für die rechtigkeit erreicht. Darauf kommt es aber bei
Handwerker wie für die Angestellten, in deren jeder Sozialreform, ob sie sich nun große oder
Versicherung die Handwerkerversicherung einge- kleine Sozialreform nennt, entscheidend an.
baut ist, Nachteile und Schwierigkeiten schafft. Die (Beifall bei der SPD.)
1418 2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954

Vizepräsident Dr. Schmid: Das Wort hat der annähernd auf die Kaufkraft unserer heutigen
Bundesarbeitsminister. Währung umgerechnet, in seiner Rente wieder-
findet. Das ist doch der Sinn. Wir haben dann nach
Storch, Bundesminister für Arbeit: Herr Präsi- der Goldmarkwährung die Reichsmarkwährung ge-
dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! habt, die sich in der Kaufkraft wiederum von
Herr Professor Schellenberg hat mir den unserer heutigen Mark unterscheidet. Das wissen
Vorwurf gemacht, daß ich bei der Beantwortung Sie doch alle ganz genau, und dann sollten Sie
der Großen Anfrage nichts über die Struktur der doch nicht hier im Hohen Hause es so darstellen,
von mir angestrebten Erhöhung der Altrenten vor- als ob hier eine unvollständige Auskunft gegeben
getragen habe. Herr Professor Schellenberg, ich worden wäre. Die Leute bei den Rentenversiche-
weiß nicht, ob von Ihnen zwei Anfragen vorliegen. rungsträgern haben mich sehr gut verstanden, wie
Die, die mir vorliegt, fragt mich folgendes: Wann ich nachher aus den Besprechungen mit den ein-
wird der entsprechende Gesetzentwurf über die zelnen Herren erfahren konnte.
Erhöhung der Altrenten dem Bundestag vor-
gelegt? In dieser Anfrage steht kein Wort darüber, Eines will ich Ihnen allerdings sagen: Wenn Sie
daß ich Auskunft geben sollte, wie die Struktur heute mit der Forderung herauskommen, daß diese
dieses Gesetzes sein solle. Gesetzesvorlage nur verwirklicht werden kann,
wenn der Bund aus Steuermitteln die hierfür not-
(Abg. Dr. Schellenberg: Ich habe eine wendigen Gelder zur Verfügung stellt, dann sabo-
Zwischenfrage, Herr Präsident!) tieren Sie die Vorlage von vornherein; denn daß
wir in absehbarer Zeit und vor allen Dingen in
Vizepräsident Dr. Schmid: Herr Minister, Herr kürzester Frist keine 800 Millionen DM vom Bun-
Abgeordneter Schellenberg möchte eine Zwischen- desfinanzminister bekommen können, das wissen
frage stellen. Sie genau so gut wie ich auch.
(Abg. Dr. Preller: Was sagen Sie denn da-
Dr. Schellenberg (SPD): Kann nach Ihrer Auf- zu, daß der Kölner Verein für Versiche-
fassung das Haus nicht erwarten, daß Sie, wenn Sie rungswissenschaft die Finanzierung dieser
über die Frage der Altrenten in der Öffentlichkeit Altrenten zu einer Staatsaufgabe erklärt
viele Reden halten, auch bei einer Erörterung über hat? — Weitere Zurufe von der SPD.)
die Frage der Sozialreform — das ist die Über-
schrift unseres Antrags — sich dem Hause gegen- Aber nun, meine sehr verehrten Damen und
über dazu äußern, was Sie in bezug auf die Alt- Herren, — —
renten beabsichtigen? Die Öffentlichkeit hat ein (Abg. Hansen [Köln] : Ihre eigenen Aus-
Recht darauf; denn Ihre Ausführungen haben in führungen aus dem Jahre 1952, Herr
der Öffentlichkeit Unruhe geschaffen! Minister! Kreisausschuß Beckum!)
(Beifall bei der SPD.) Viele Abgeordnete des heutigen Bundestages
waren nicht Mitglieder des Wirtschaftsrats in
Storch, Bundesminister für Arbeit: Ich darf Frankfurt. Im Wirtschaftsrat in Frankfurt haben
gleich darauf antworten, obwohl ich dieses Frage- wir, um die Leistungen für die Alten verbessern
und Antwortespiel nicht gerade für das Günstigste zu können, den Beitrag von 5,6 auf 10 % erhöht.
halte. Das bedeutet, daß wir heute auf Grund dieser Bei-
(Beifall in der Mitte.) tragsumstellung pro Jahr bei den Rentenversiche--
Herr Professor Schellenberg hätte mir sonst ge rungsträgern eine Mehreinnahme von 2,1 Milliar-
den DM haben. Im vergangenen Jahre hatten wir
nügend Gelegenheit gegeben, während seines Vor
trags ihm an meinem Lautsprecher Zwischenfragen einen Kassenüberschuß — glauben Sie nur nicht,
zu stellen; aber ich glaube, das stört unsere Arbeit. daß ich nicht weiß, was ein Kassenüberschuß und
ein Versicherungsüberschuß ist — von 1,2 Mil-
(Zustimmung in der Mitte. — Zurufe von liarden DM, wenn ich die Verpflichtungen des
der SPD.) Bundesministers auf Grund der Anleihe einrechne.
Ich bin der Meinung, die Beantwortung einer Im laufenden Jahr haben wir auf Grund der Um-
Frage hat in der Form zu geschehen, wie sie ge- stellung des Haushaltsplans für § 90 des Bundes-
stellt worden ist. versorgungsgesetzes mit einem Kassenüberschuß
(Sehr richtig! in der Mitte und rechts.) von 1,4 Milliarden DM zu rechnen. Der alte Rent-
Wenn Sie mir gesagt hätten: Bitte, Herr Bundes- ner, aber auch der heute in Lohn stehende Ar-
minister, sagen Sie uns, was Sie darunter ver- beiter sagt nun: „Was braucht ihr im Moment
stehen!, dann wäre das etwas ganz anderes ge- diese Gelder aufzuhäufen, wo unsere alten Leute
wesen. Sie durften mir aber nicht den Vorwurf auf der Straße Hunger leiden?" Das ist die Mei-
machen, ich hätte Ihre Frage nicht ausreichend be- nung der Arbeiterschaft draußen, und das ist vor
antwortet. Im übrigen sind Sie, Herr Professor allem die Meinung der Sozialrentner.
Schellenberg, einer der wenigen, die das, was ich (Beifall bei der CDU/CSU.)
darunter verstehe, alles sehr gut kennen. Sie Meine sehr verehrten Damen und Herren! Man
waren in Nauheim bei der Generalversammlung soll mir auch einmal sagen, ob wir versicherungs-
des Verbandes der Rentenversicherungsträger, mathematisch verpflichtet sind, im Jahre 1954
dem ich meine Auffassungen über diese Dinge 1,4 Milliarden DM als Deckungskapitalien für die
ganz klar dargelegt habe, zugegen! Die Unklarheit, heute Beitrag Leistenden zurückzulegen. Wer das
von der Sie gesprochen haben, kann also bei Ihnen kann, soll es getrost tun!
gar nicht vorhanden sein;
Ich habe vorhin davon gesprochen, daß wir drei
(Abg. Frau Korspeter: Aber die anderen Arten von sozialen Verpflichtungen haben; einmal
waren nicht da!) die Verpflichtung aus der Rentenversicherung,
denn Sie wissen, daß ich unter der Erhöhung der dann die aus der Kriegsopferversorgung, dann die
Altrenten, im Großen gesehen, verstehe, daß der für die Flüchtlinge und Vertriebenen und sogar
Mann, der um die Jahrhundertwende seine Bei- noch eine vierte Verpflichtung, nämlich die Lei-
träge in Goldmark bezahlt hat, diese Beiträge jetzt, stungen, die wir in der Wohlfahrt geben. Zwei
2. Deutscher B undestag — 80. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1054 1419
(Bundesminister Storch)
dieser Verpflichtungen sind doch bestimmt, in die um 18 Uhr zu schließen. Vielleicht können die
Zukunft gesehen, absterbende Dinge. Können wir Redner sich entsprechend einrichten.
es der heutigen Generation zumuten, daß sie aus
Beiträgen in kürzester Zeit eine vernichtete Dr. Atzenroth (FDP): Meine Damen und Herren!
Deckungssubstanz oder Reserve von 12 Milliar- Ich werde mich bemühen, nicht so lange zu reden
den DM wiederaufbauen soll? wie die beiden Herren Professoren, die vorher
(Sehr richtig! bei der CDU/CSU.) gesprochen haben.
Fordern wir doch nichts, was einfach gerechter- Wir haben zunächst die Große Anfrage der
weise von unserer Generation nicht gefordert wer- Sozialdemokratischen Partei außerordentlich be-
den kann! grüßt.
(Abg. Richter: Wer fordert denn so etwas, (Abg. Schmitt [Vockenhausen]: Der Minister hat
Herr Bundesarbeitsminister?) es sich sehr einfach gemacht mit der Antwort!)
- Es ist doch hier gesagt worden, — — Denn uns liegt sehr viel daran, die wirkliche Not
(Abg. Richter: Wer fordert denn so etwas?) möglichst schnell zu vermindern. Von der Form
— Na gut, wenn Sie sagen, Sie fordern es nicht, so allerdings, wie die Anfrage hier von den beiden
Herren Professoren begründet worden ist, müssen
distanzieren Sie sich ja von dem, was Herr Pro- wir uns ganz besonders absetzen. In diesem Ton
fessor Schellenberg sagte.
kommen wir nicht weiter.
(Abg. Richter: Was hat er gesagt?)
(Sehr richtig! rechts.)
— Er hat gesagt: Wenn das durchgeführt werden
Wir sind wie Sie der Meinung, daß ein Versäum-
soll, dann muß die Finanzierung aus dem Steuer-
aufkommen gesichert sein. nis der Bundesregierung vorliegt.
(Aha-Rufe bei der SPD.)
(Sehr richtig! rechts.)
Es hätte aber mehr im Interesse dieser Sache und
Das hat er gesagt; und wenn er es nicht mehr weiß, im Interesse der Versicherten gelegen, Herr. Pro-
kann er es nachher im Protokoll nachlesen. fessor Preller, wenn Sie uns hier an dieser Stelle
(Zurufe von der SPD.) I h r Programm für eine große, umfassende Sozial-
Also, ich bin der Meinung, meine sehr verehrten reform vorgetragen und zur Diskussion gestellt
Damen und Herren, es gibt Maßnahmen, die selbst- hätten, über das wir uns hätten sachlich unterhal-
verständlich von einer großen Zukunftsschau getra- ten können. Es ist nicht damit getan, daß dieses
gen sein müssen, und es gibt soziale Aufgaben, die Programm in gewissen Fachzeitschriften schon ein-
keinen Aufschub vertragen. mal veröffentlicht worden ist; hier vor der großen
(Abg. Frau Dr. Steinbiß: Sehr gut!) Öffentlichkeit soll es genau so vorgetragen werden,
Die Altrentenerhöhung ist eine dieser Maßnahmen, wie Sie Ihre Anfrage begründet haben oder wie
Sie es von dem Herrn Bundesarbeitsminister er-
weil den Leuten ihre Kaufkraft, die sie in der
Rentenberechtigung erworben haben, durch die warten.
Währungsumstellungen genommen worden ist. Das (Abg. Pohle [Eckernförde] : Aber Herr Atzen-
wollen wir doch ausgleichen, damit vor allen Din- roth, die Arbeit der Bundesregierung steht
gen der alte Mann, der vielleicht schon seit zehn doch hier zur Debatte!)
oder zwanzig Jahren seine Rente bezieht, nun nicht — Nein, die steht nicht zur Debatte. Wenn ich hier
mehr mit 68 oder 70 Mark nach Hause geht. eine Kritik an der Bundesregierung übe, dann habe
(Abg. Schmitt [Vockenhausen] : Wann wird es ich als Abgeordneter die Pflicht und Schuldigkeit,
denn, Herr Minister? — Weitere Zurufe von meine Gedanken hier vorzutragen.
der SPD.) (Abg. Dr. Preller: Vor zwei Jahren haben Sie
— Na ja, wenn Sie es genau so wollen wie ich, die Kommission angeregt!)
warum diese Aufregung hier im Hause? — Ja, Herr Professor Preller, wenn ich die Aus-
(Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Schmitt führungen und die Vorschläge, die Herr Professor
[Vockenhausen]: Aber schneller, Herr Minister!) Schellenberg gemacht hat, als Ihr Programm an-
sehen soll, dann kann ich dem aber weder die Be-
Warum werden hier derartige Vorträge gehalten? zeichnung „umfassend" noch „groß" noch sonst ir-
Wenn Sie verfolgt haben, was Herr Professor gendein Prädikat geben. Das sind einige Palliativ-
Schellenberg hier vorgetragen hat, dann wissen Sie, mittel am Rande, über die wir im Ausschuß
daß er mindestens zwanzig Probleme der sozialen sprechen können, über die wir uns auch verhält-
Versicherung angesprochen hat, und Sie können nismäßig schnell einigen werden, die aber an der
sich doch denken, daß, wenn diese Dinge in eine großen Sache nichts ändern. Sie zeigen keine
Einheitlichkeit gebracht werden sollen, es eine großen neuen Wege auf, die Sie von der Bundes-
Riesenarbeit ist, alle diese Dinge auszugleichen. regierung — mit Recht — erwarten.
(Abg. Frau Korspeter: Zwei Jahre sind Aber da wir nun — und jetzt muß ich mich an
verloren, Herr Minister!) den Herrn Bundesarbeitsminister wenden — leider
Also ich möchte Ihnen eines sagen: wir wissen seit fünf Jahren auf die angekündigte Sozialreform
in unserem Ministerium um unsere Verpflichtung, warten, müssen wir, Sie und wir, mindestens un-
und wir werden sie im Rahmen des Möglichen sere Gedanken vortragen, in der Grundlinie und
erfüllen. nicht in konkreten Einzelheiten. Ich habe das Ge-
(Beifall bei der CDU/CSU.) spräch, das hier zwischen dem Herrn Bundes-
arbeitsminister und den beiden Herren von der
Sozialdemokratischen Partei geführt worden ist
Vizepräsident Dr. Schmid: Das Wort hat der Ab- und das sich zum großen Teil auf die Arbeiten
geordnete Atzenroth. der Beiräte und technische Dinge beschränkt hat,
Meine Damen und Herren, es haben sich bisher mit Bedauern angehört. Denn uns bewegen nicht
sieben Redner gemeldet, deren Redezeit nicht diese Einzelfragen, mindestens nicht hier vor dem
beschränkt ist. Der Ältestenrat hat vorgeschlagen, Plenum; Sie sehen ja, wie groß das Interesse da-
1420 2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954
(Dr. Atzenroth)
für in allen Fraktionen des Hauses bedauerlicher- digen Aufgabe vornehmen wollen. Sie wollen aus
weise ist. den Kassenüberschüssen — Sie haben ganz klar
(Sehr richtig! bei der CDU/CSU.) und deutlich den Unterschied zwischen Kassen-
überschüssen und Versicherungsüberschüssen her-
Uns bewegen die großen Fragen, und da vermisse ausgestellt — einen Betrag von 700 bis 800 Mil-
ich von der Bundesregierung, nicht daß sie uns lionen jährlich herausnehmen, um diese alten
Einzelheiten vorgelegt hat, die in schwieriger Ar Renten anzuheben, auf die kein versicherungs
beit erst zu ermitteln wären, sondern daß sie uns mäßiger Rechtsanspruch besteht; darüber müssen
ihre großen Ziele für die Reform vorgetragen hat. wir uns einig sein. Das ist falsch. Wir können nicht
(Sehr richtig! bei der SPD.) Beitragsaufkommen für eine Fürsorgemaßnahme
Sie muß uns sagen, worin die große Reform be- verwenden. Denn es handelt sich hier um eine
stehen soll. Sie kann nicht darin bestehen, daß, wie Fürsorgemaßnahme, und das sind Angelegenheiten
Herr Professor Schellenberg sagt, gleiche Leistun- des Staates.
gen bei gleichen Beiträgen gewährt werden. Das Ich bin aber auch mit Ihnen der Meinung, Herr
ist eine so selbstverständliche Forderung, daß wir Bundesarbeitsminister, daß wir, die wir gestern
darüber hier nicht zu reden brauchen. Wir müssen gerade im ganzen Hause Steuersenkungen gefor-
vielmehr die entscheidenden Fragen diskutieren, dert haben, nicht heute hingehen und 800 Mil-
wie die Reform aussehen, was reformiert werden lionen aus dem Bundeshaushalt für diesen Zweck
soll. Ich bin mit Ihnen darin einig, daß sich die entnehmen können. Das wäre inkonsequent. Die
Reform nicht auf die Sozialversicherung beschrän- Parallelität ergibt sich ja auch schon aus folgen-
ken soll. Sie soll das gesamte Gebiet umfassen: dem. Wir haben keine große Finanzreform, wir
die Kriegsopferversorgung, Teile des Lastenaus- kriegen auch keine große Sozialreform, bedauer-
gleichs, Heimkehrer, und was alles dazu gehört. licherweise. Schöner wäre es, wenn beides groß
Aber wir müssen eine Konzeption haben und genannt werden könnte.
müssen wissen, nach welchen Gesichtspunkten wir
vorgehen wollen. Wir machen also einen anderen Vorschlag dafür,
einen Vorschlag, der aus der Notlage heraus ge-
Herr Preller hat nur in einem Falle so etwas boren ist, daß wir diese Summe zwar zur Be-
durchblicken lassen. Er hat bestritten, daß eine un- hebung der Not brauchen, aber nicht den Kassen-
trennbare Verbindung zwischen der Höhe des So- mitteln unseres Haushalts entnehmen können. Wir
zialprodukts und den Leistungen für den Sozial- wollen den Vorschlag unterbreiten, der Herr Bun-
haushalt bestünde. Wenn Sie das weiter bestrei- desfinanzminister, der ja der Zahlungsverpflichtete
ten, dann ist schon eine große Differenz zwischen wäre, möge Rentenanstalten Schuldverschrei-
unseren Auffassungen vorhanden. Sie haben es bungen in der erforderlichen Höhe geben und sie
eben nicht konkretisiert, und das ist ein Vorwurf, damit in die Lage versetzen, diese Erhöhungen zu
den ich Ihnen mache. Allerdings muß ich Ihnen bezahlen. Diese Schuldverschreibungen müßten —
zugeben, daß wir diesen Vorwurf in viel größerem das ist selbstverständlich, und das soll den ganzen
Umfange der Bundesregierung machen müssen. Charakter dieser Maßnahme unterstreichen und
Deren Pflicht wäre es an erster Stelle gewesen, unterstützen — verzinslich sein und in angemes-
Ihre (zur SPD) erst an zweiter Stelle, solche kon- sener Zeit getilgt werden. Natürlich entsteht durch
kreten Vorschläge zu machen. Verzinsung und Tilgung eine gewisse Belastung
(Zuruf von der SPD: Und Ihre!) des Haushalts, aber die muß tragbar sein bei der -
— Ich bin ja dabei. Warten Sie nur ab! Ich habe Schwere der Not, die es hier zu lindern gilt und
sie noch zuletzt bei der Beratung des Haushalts über die wir uns alle einig sind. Ich glaube, das
des Arbeitsministeriums vorgetragen. Also das ist immerhin ein konstruktiver Vorschlag, der
können Sie mir nicht vorwerfen. mindestens der Debatte in diesem Hause wert ist.
Ich möchte zunächst einmal zu der Frage Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen
sprechen, die in Ihrer Anfrage als Punkt 1 ange- auch über die Hauptfrage, die vor uns steht, einige
schnitten ist. Der Herr Bundesarbeitsminister hat Vorschläge unterbreiten, nicht nur, weil Sie mich
in der' Öffentlichkeit angekündigt, daß er die dazu aufgefordert haben. Dabei möchte ich mich
Altrenten erhöhen will. Dabei ist es selbstver- allerdings auf das Gebiet der Sozialversicherung
ständlich, was man nach der ganzen Lage unter beschränken, obwohl — ich wiederhole es — zur
Altrenten verstehen muß. Es handelt sich hier tat- gesamten Sozialreform nach meiner Meinung auch
sächlich um den Kreis von Menschen, deren Not die anderen Komplexe gehören. Wir fordern auf
am größten ist und für die in erster Linie „die dem Gebiet der Sozialversicherung eine klarere
soziale Frage" erhoben wird. Wir hätten uns Trennung zwischen echter Versicherung und Für-
manchmal viel mehr auf diesen Kreis konzentrie- sorgemaßnahmen, als es bisher der Fall gewesen
ren und das Wort sozial nicht immer bei anderen ist. Bei der Kranken- und Unfallversicherung sind
Momenten verwenden sollen, wo es sich eigentlich dafür keine großen Änderungen erforderlich. Was
nur um Interessen von gewissen, immerhin noch dort an Einzelwünschen vorzutragen wäre, kann
nicht so schlecht gestellten Gruppen handelte. Hier auf das Gebiet des Technischen beschränkt werden.
ist wirklich der Schwerpunkt in der sozialen Not, Aber diese klare Trennung von echter Versicherung
wo wir zuerst helfen müssen. Wir unterstützen und Fürsorge ist insbesondere bei der Rentenver-
den Herrn Bundesarbeitsminister durchaus darin, sicherung niemals vorhanden gewesen. Wir erin-
daß er uns demnächst geeignete Vorschläge — nern uns daran, daß die Rentenversicherung vor
konkretisiert sind sie auch hier noch nicht — 70 Jahren einen ganz anderen Zweck gehabt hat.
machen und eine Vorlage bringen will, wie eine Sie war keine Altersversorgung. Sie hatte nicht den
Anhebung der Renten vorgenommen werden Charakter der Altersversorgung, sondern es galt
soll, die wirklich nicht mehr ausreichen. Wir sind damals, gewisse zusätzliche Hilfsmaßnahmen für
allerdings nicht der Meinung, Herr Minister, daß den Fall der Invalidität und der Erreichung eines
es sich hier um einen Rechtsanspruch handelt. Des- bestimmten Alters zu treffen. Eine Vollversorgung
wegen können wir auch den Weg nicht billigen, als Altersversorgung war diese Rentenversicherung
auf dem Sie die Finanzierung dieser so notwen auch in der Bismarckschen Zeit nicht.
2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954 1421
(Dr. Atzenroth)
Wir wollen diese Versicherung zu einer echten in der Sozialversicherung tun? Will sie wirklich
Versicherung machen. Die Beiträge müssen also in wie wir den echten Versicherungscharakter auf der
eine echte Relation zu den Leistungen gebracht größtmöglichen Breite zum Durchbruch bringen, oder
werden. Gewisse Erhöhungen der Beiträge wer- will sie Methoden anwenden, die, wie ich glaube,
den sich dabei sicherlich nicht vermeiden lassen. auch auf dieser Seite des Hauses nicht mehr mit der
Allerdings, bei einer unmittelbaren Errechnung Intensität gefordert werden, wie das früher der
nach versicherungsmathematischen Grundsätzen Fall war und wie wir sie unter dem Namen
kämen wir zu einem schwindelerregend hohen „Staatsbürgerversorgung" kennengelernt haben,
Betrag, den wir gar nicht aufbringen könnten. vielleicht am allerdeutlichsten in den Berliner Ver-
Ausweiche in andere, günstigere Versicherungen hältnissen?
oder Doppelversicherungen müssen möglich sein. (Zuruf von der SPD: Wo bleiben denn die
Die festen Rentenbestandteile sollten nach Mög- Vorschläge, die Sie machen wollten?)
lichkeit nur insoweit gewährt werden, als sie wirk- — Ich habe doch einige Vorschläge entwickelt! Vor
lich erdient, d. h. durch vorhergegangene Beitrags- allem habe ich sehr deutlich herausgestellt, daß wir
entrichtung versicherungstechnisch belegt sind. Das überall dort, wo es überhaupt angängig ist, das
wären einige Ziele, die bei der Rentenversicherung Versicherungsprinzip an die erste Stelle stellen
anzustreben sind. wollen und daß wir die Sorge des einzelnen, seine
Wir möchten die Rentenversicherung in Zusam- Vorkehrung für die Fälle der Not fördern wollen.
menhang mit einem anderen Versicherungszweig Ihn wollen wir dabei unterstützen. Jeder einzelne
bringen, der auch dringend einer Änderung bedarf, Mensch soll in erster Linie selbst dafür sorgen.
nämlich der Arbeitslosenversicherung. Wir wer- Dazu wollen wir ihm helfen. Es gibt einen Kreis,
den versuchen, nachzuweisen, daß aus diesem der es aus eigenem nicht kann; das sehe ich ohne
Zweig gewisse Mittel freigemacht werden können, weiteres ein. Dieser Kreis ist aber gegenüber der
die dann bei der Rentenversicherung eingesetzt Zeit vor 70 Jahren wesentlich kleiner geworden. Er
werden könnten. Dadurch käme man eher zu dem ist heute verhältnismäßig gering. Der bei weitem
echten Versicherungsprinzip, das vorläufig nicht größte Teil ist durchaus in der Lage oder kann in
besteht. Bei der Arbeitslosenversicherung muß die Lage versetzt werden, die Vorsorge selber zu
man folgendes berücksichtigen. Man kann sich für treffen. Der dann noch übrigbleibende Kreis muß
die Gefahr der Krankheit, des Unfalls und des Al- allerdings mit Fürsorge vorliebnehmen. Dieser
ters einigermaßen versichern. Die Menschen sind Kreis kann keine Ansprüche erheben, wie es die
davon ziemlich gleichmäßig bedroht. Das gilt nicht können, die für ihr Alter, für ihren Krankheits-
für die Arbeitslosigkeit. Ein großer Teil derjenigen, fall vorgesorgt haben. Der, der doppelt sorgt —
die zur Beitragsleistung herangezogen werden, ist etwa durch doppelte Versicherung —, soll auch in
von dieser Gefahr gar nicht bedroht. Sie stehen in den ungeschmälerten und ungehinderten doppelten
so festen unkündbaren Arbeitsverhältnissen, daß Genuß kommen.
sie von vornherein wissen, daß sie nur Beiträge zu Das sind die Grundgedanken, die ich Ihnen vor-
zahlen haben. Damit wird der Charakter einer Ver- zutragen hatte. Ich glaube, wenn wir ihnen folgen,
sicherung schon völlig durchlöchert. Gegen eine lösen wir die soziale Frage viel schneller und viel
Massenarbeitslosigkeit wie in den Jahren nach 1930 leichter, als wenn wir uns damit begnügen, einige
hilft kein noch so hoher Beitragssatz. Dagegen ver- Verbesserungen — vielleicht sind es auch Ver-
mögen auch sicherlich die Mittel nichts, die in der schlechterungen, je nach dem Standpunkt, von dem
Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeits- aus ich sie betrachte — an dem vorhandenen
losenversicherung für 30 Jahre angelegt sind und System vorzunehmen. Diese grundsätzliche Frage
die in dem Augenblick, in dem eine wirtschaftliche muß als erste geklärt werden, und dann erst kön-
Krisis eintritt, ganz bestimmt nicht zurückgefordert nen die Beiräte und Kommissionen in Tätigkeit
werden können. Hier sind also Mängel und Fehler
treten.
im System, die beseitigt werden müssen. Auch die
Höhe des Beitragssatzes, den wir zur Zeit in der (Beifall bei der FDP.)
Arbeitslosenversicherung erheben, nämlich 4 °/o, die
Vizepräsident Dr. Schmid: Das Wort hat der Ab-
je zur Hälfte von Arbeitgeber und Arbeitnehmer
getragen werden, ist nicht notwendig, um für den geordnete Dr. Elbrächter.
Fall einer normalen oder auch schon starken Ar- Dr. Elbrächter (DP): Herr Präsident! Meine
beitslosigkeit die Mittel zu behalten, um die Ver- Damen und Herren! Im Namen meiner politischen
sicherung durchführen zu können. Wir werden in Freunde möchte ich sagen, daß wir der sozialdemo-
diesem Jahre voraussichtlich etwa 2 Milliarden DM kratischen Opposition dankbar dafür sind, daß sie
an Beiträgen einnehmen, während wir in dem uns durch ihre Anfrage Gelegenheit gegeben hat,
Jahre, in das der schnelle, vorübergehende Anstieg einmal ausführlicher über dieses wichtige Problem
auf über 2 Millionen Arbeitslose fiel, höchstens der Sozialpolitik zu sprechen. Auch meine Freunde
1 Milliarde DM ausgegeben haben. Sicherlich brau- sind der Auffassung, daß der Herr Bundesarbeits-
chen wir noch Verwaltungskosten; wir brauchen minister durch seine Äußerungen in der deutschen
noch Kosten für die Arbeitsvermittlung. Aber eine Öffentlichkeit Hoffnungen erweckt hat, die leider
Senkung des Beitragssatzes in der Arbeitslosenver- bislang noch nicht erfüllt werden konnten. Wir
sicherung von 4 auf 3 % ist meiner Ansicht nach wissen aus sehr vielen Zuschriften unserer Freunde
ohne weiteres möglich. Dieses 1 % könnte schon in — es ist schon wiederholt darauf hingewiesen wor-
die Rentenversicherung herübergenommen werden, den; aber ich glaube, wir müssen es so stark her-
um dort, wie ich schon sagte, zu einer Hilfe zu füh- ausstellen wie nur irgend möglich —, daß bei den
ren, die eine echte Versicherung ermöglicht. Rentnern eine tiefe Unzufriedenheit herrscht, die
Das sind natürlich bei einer solchen allgemeinen nun — sei es berechtigter- oder unberechtigter-
Aussprache nur flüchtig entwickelte Gedanken. weise — aus den Ausführungen des Herrn Bundes-
Aber das ist es, was ich von der Regierung ver- arbeitsministers entnommen haben, daß sie mit
misse. Sie sollte uns sagen, nach welchen Prinzipien einer baldigen Verbesserung ihrer wirklich miß-
sie die Sozialreform durchführen will. Was will sie lichen Lage rechnen können. Das ist der Sache
1422 2. Deutscher Bundestag - 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954
(Dr. Elbrächter)
wegen bedauerlich; denn ich stimme mit dem Herrn machen — aus der Wirtschaft oder aus Steuer-
Bundesarbeitsminister insofern überein, als eine mitteln aufgebracht werden und im gleichen Augen-
wirkliche Reform eine derartige Vorbereitung er- blick, in dem wir, um der Wirtschaft zu helfen,
fordert, daß wir in einer, sagen wir einmal, sehr Steuerermäßigungen beschließen, Lohnforderungen
kurzen Zeit nicht zu einer umfassenden Reform angemeldet werden. Diese Lohnforderungen sind
kommen können. Darüber sollten wir uns keinen nach meiner Meinung nicht gerechtfertigt. Es ist
Illusionen hingeben. sozialpolitisch besser gedacht, wenn wir die
Mit meinem Kollegen Atzenroth stimme ich in- Steuerermäßigungen, die wir der Wirtschaft zu-
sofern nicht ganz überein, als ich der Auffassung gute kommen lassen wollen, sich in einer Ver-
bin, daß durch die detaillierte Schilderung der besserung der Arbeitsmarktverhältnisse auswirken
Aufgaben der Arbeitskreise des Beirats doch schon lassen. Es war eines Ihrer Anliegen, Herr Professor
etwa eine Vorstellung gegeben ist, wie sich der Preller, die Arbeitslosigkeit zu beseitigen. Dann
Herr Bundesarbeitsminister diese Reform denkt. können wir aber nicht die Mittel, die zur Ver-
Ich glaube, daß es nicht möglich ist, über die Ziel- besserung des Wirtschaftsapparats zur Verfügung
setzung einer umfassenden Reform der Sozial- stehen, direkt über den bisherigen Umfang hinaus
politik zu sprechen, wenn nicht zuvor die statisti- in die Sozialpolitik stecken. Ich möchte Sie also
schen Daten vorliegen. Erst die Kenntnis dieser bitten, meine Kollegen von der SPD, auf Ihre
realen statistischen Daten gibt uns die Möglich- Freunde bei den Gewerkschaften dahin einzuwir-
keit, zu entscheiden, welchen Weg wir in der ken, daß in der Lohnpolitik eine gewisse Mäßigung
Sozialpolitik gehen wollen. Ich glaube, daß die gezeigt wird.
Erstellung solcher statistischen Unterlagen not- (Lachen bei der SPD.)
wendig ist. Denn wir sind überzeugt, daß wir wegen des engen
Nun möchte ich zum Ausdruck bringen, daß ich sozialpolitischen Zusammenhangs den Rentnern
mich außerordentlich über die Leidenschaft gefreut und den anderen Kreisen, die hier angesprochen
habe, mit der Herr Kollege Preller sein An worden sind, nur helfen können, wenn auf der
liegen vorgebracht hat. Sicherlich ist vieles richtig anderen Seite bei den Lohnforderungen eine ge-
gewesen, was er gesagt hat. Aber ich möchte doch wisse Mäßigung Platz greift. Das ist die Bitte, die
mit aller Deutlichkeit noch einmal darauf hin ich an Sie richte.
weisen, daß uns fromme Wünsche in der Sozial Im übrigen hoffe ich, daß die vielen Anregungen,
politik gar nichts nutzen. Vielmehr müssen wir die der Kollege Schellenberg gegeben hat, sich
dort immer damit rechnen, Herr Kollege Preller, verwirklichen lassen, glaube aber nicht, daß es
daß die Mittel vorhanden sind. Insofern begreife Sinn hat, sie jetzt im einzelnen zu diskutieren. Ich
ich nicht ganz — vielleicht habe
würde ich freuen,
mich jedoch Siewenn auch miß-
wir entsprechend
verstanden —, daß Sie den engen Zusammenhang den Vorschlägen, die auch Herr Kollege Atzenroth
zwischen Wirtschaftspolitik, Wirtschaftskraft un gemacht hat, über konkrete Anregungen im zu-
Sozialleistungen nicht so an ständigen Ausschuß beraten könnten, und hoffe, -ser Landesund e
erkennen, wie das eigentlich der Fall sein müßte. daß wir uns dann einig werden. Materiell bin ich
(Abg. Dr. Preller: Wann habe ich das mit vielem von dem, was Sie sagen, einig.
gesagt?)
Vizepräsident Dr. Schmid: Das Wort hat Frau
— Ich habe es eingeschränkt; vielleicht habe ich
Abgeordnete Finselberger. -
Sie mißverstanden. Ich freue mich, daß Sie es jetzt
herausstellen und daß Sie das doch anerkennen Frau Finselberger (GB/BHE): Herr Präsident!
wollen. Aber das ist eigentlich eine Selbstverständ- Meine Herren und Damen! An den Vorgefechten
lichkeit. der Debatte, die wir heute erleben, ist meine Frak-
Ich will mich so kurz fassen, wie es nur irgend- tion bisher nicht beteiligt gewesen. Aber ich möchte
wie geht, und deshalb nur noch auf einen Ge- deshalb um so stärker betonen, daß wir an der
sichtspunkt hinweisen. Eines scheint mir in der Problematik der heute aufgeworfenen Fragen
Tat eine Ungereimtheit zu sein: wenn wir wirklich schon immer sehr stark interessiert gewesen sind,
diesen Menschen, von denen Sie mit Recht gesagt weil es sich letzten Endes um ein Anliegen handelt,
haben, daß sie nicht Nutznießer des Wirtschafts- das zwar in erster Linie diejenigen betrifft, die
aufstiegs gewesen sind, bevorzugt helfen wollen, auf die Verbesserung ihrer mißlichen Lebenslage
dann müssen wir darauf verzichten, viele Wünsche hoffen, aber nicht nur diese; vielmehr geht es auch
anderer Gruppen zu erfüllen, die immer wieder alle diejenigen an, die seit 1945 in eine bessere
an uns herangetragen werden. Es ist eine Un- Lebenslage versetzt sind, und sie sollten ein ebenso
gereimtheit, wenn wir eine Steuerreform be- lebendiges Interesse an diesem Thema haben.
schließen wollen, von der wir überzeugt sind, daß Herr Bundesarbeitsminister, Sie wissen, daß ich
sie unbedingt notwendig ist, damit unser Wirt- in verschiedenen Gesprächen mit Ihnen sehr häu-
schaftsapparat Impulse bekommt, gleichzeitig aber fig darauf hingewiesen habe, wie sehr meine Frak-
mit Forderungen auftreten, die diese Wirkungen tion und meine Partei daran interessiert waren,
wieder zunichte machen können. Wir sind doch auch an der Arbeit des Beirats teilzunehmen. Im
alle davon überzeugt, daß das soziale Elend am Laufe der Monate, die inzwischen vergangen sind,
besten über eine gesunde Beschäftigungs- und habe ich drei verschiedene Einwendungen gehört,
Wirtschaftspolitik gelindert werden kann. Ich be- so daß leider noch immer kein Vertreter meiner
greife nicht, Herr Kollege Preller, wie Sie die Auf- Partei Mitglied dieses Beirats ist. Wir hätten sehr
fassung vertreten können, daß die Arbeiter nicht gern an dieser Vorarbeit teilgenommen, und ich
an den Früchten des Aufstiegs Anteil hätten; Sie meine, daß es auch das gute Recht meiner Partei-
haben es nicht wörtlich gesagt, aber es klang aus freunde gewesen wäre, zu einem früheren Zeit-
Ihren Ausführungen heraus. Wir können uns im punkt an dieser Arbeit beteiligt zu werden. Was
gegenwärtigen Augenblick nicht den Luxus leisten, uns aber von allem, was hier bisher besprochen
daß für sozialpolitische Forderungen wie etwa die worden ist, ganz besonders enttäuscht — das
Familienausgleichskassen Summen von 350 oder möchte ich Ihnen, Herr Minister, einmal sagen;
800 Millionen DM — je nachdem, wie wir es man kann es doch nun gar nicht verhindern, daß
2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954 1423
(Frau Finselberger)
dies in einer sehr starken Optik dabei hervor- machen, und ich bin jener Optik sehr abhold,
tritt —, ist die Tatsache, daß der Beirat in den irgendwelche Hoffnungen zu erzeugen, daß wir in
zwei Jahren, seit er besteht, so gut wie nichts wenigen Wochen oder Monaten eine Sozialreform
geleistet hat. haben, weil ich sehr genau weiß, daß das so schnell
(Beifall bei der SPD.) gar nicht möglich ist. Um so mehr ist zu bedauern,
daß zwei Jahre verstrichen sind, ohne daß prak-
Ich hätte mir vorstellen können, daß es die Auf- tisch etwas erreicht worden ist. Dieser Verlust an
gabe und der Beginn der Arbeit dieses Beirats Zeit geht auf Kosten derjenigen, die heute oftmals
gewesen wäre, zunächst einmal einen Grundsatz ohne eigenes Verschulden in eine sehr traurige
ausschuß zu bilden, um in ihm gewisse Grund- Lebenssituation hineingeraten sind. Das scheint
sätze und Leitthemen herauszuarbeiten, und daß mir das bedauerlichste Ergebnis dieser Debatte
nach diesen Leitthemen dann auch die Fach- überhaupt zu sein. Ich hätte deshalb auch den
ausschüsse gebildet worden wären. Ich kann nicht Wunsch an Sie, Herr Bundesarbeitsminister, zu
einsehen, weshalb man erst so eine gewisse the- richten, sich einmal zu überlegen, ob die Anregung
matische Ouvertüre in Gang gesetzt hat, um meiner Fraktion nicht richtig wäre, diesen Beirat
irgendwelche allgemeinbildenden Themen anzu- unabhängig arbeiten zu lassen, damit er so oft wie
reißen; denn in diesem Beirat sitzen doch Persön- möglich zusammentreten und das an Zeit nach-
lichkeiten, die über die fachlichen Aufgaben, über holen kann, was bisher versäumt worden ist.
den sittlichen Gehalt dieser fachlichen Aufgaben
aus ihrer Berufserfahrung, ihrem großen Wissen Was die Sozialreform und ganz besonders den
und Können und ihren Fähigkeiten durchaus im enger gezogenen Rahmen der Rentenreform
Bilde sind und sich nicht erst darüber allgemein angeht, so will ich trotz der vorgeschrittenen Zeit
bildend unterrichten zu lassen brauchen. und obwohl meine Vorredner vieles schon ange-
sprochen und erläutert haben, was auch das An-
Ich sage das auch um deswillen, weil wir doch liegen meiner politischen Freunde ist, doch noch
einmal feststellen müssen, daß es vielleicht besser auf einiges hinweisen. Es scheint mir doch not-
gewesen wäre, Herr Bundesarbeitsminister, wenn wendig zu sein, in etwa einen Rahmen abzustecken
dieser Beirat von Anfang an ein unabhängiger und gewisse Grundsätze aufzustellen, nach denen
Beirat gewesen wäre; mit „unabhängig" meine ich: man arbeiten sollte. Da nach meiner Auffassung
weil Sie als Bundesarbeitsminister doch außer- aus den Darlegungen des Herrn Bundesarbeits-
ordentlich stark an sehr viele Aufgaben gebunden ministers festzustellen war, daß man sich über
sind. Ich habe den Eindruck, daß die so geringen diese Grundsätze noch nicht geeinigt hat, und da
Zusammenkünfte dieses Beirates darunter gelitten der Grundsatzausschuß jetzt erst gebildet worden
haben, daß Sie als der Vorsitzende dieses Beirates ist, glaube ich, hier einige Anregungen geben zu
nicht so häufig zur Verfügung gestanden haben. müssen.
Aber es gibt auch noch eine sachliche Begründung, Die allererste Forderung sollte sein, unter allen
und ich bitte Sie, es nicht als eine persönliche Umständen eine Rechtsvereinheitlichung der
Unfreundlichkeit anzusehen, wenn ich das hier Sozialgesetzgebung anzustreben. Hier liegt eine
offen ausspreche. Sie als Bundesarbeitsminister, echte Aufgabe des Beirats vor. Die starke Streuung
als der zuständige Ressortminister, haben ja das der Erlasse und Verordnungen und die sonstigen
Ergebnis der Arbeit, die erledigten Aufgaben Flickschustereien, die wir in den letzten Jahren
dieses Beirates wieder in Empfang zu nehmen. Es erlebt haben, müssen vermieden werden. Das soll
steht Ihnen dann alleine zu, diese Aufgabe zu -
kein Vorwurf sein. Wir haben ja irgendwie
beurteilen, ganz oder teilweise abzulehnen oder arbeiten müssen, um dem Ansturm der sozialen
ganz oder teilweise dem Parlament zu empfehlen. Anliegen wenigstens einigermaßen entgegentreten
Es scheint mir nicht ganz richtig zu sein, daß Sie zu können. Diese Anliegen müssen einmal im
als Mitglied oder Vorsitzender dieses Beirates an Wege einer einheitlichen Gesetzgebung, in einer
dieser Vorarbeit mitbeteiligt sind und auf der Rechtsvereinheitlichung, d. h. durch Zusammen-
anderen Seite sich ein Urteil zu bilden und es fassung all dieser gesetzlichen Bestimmungen
auszusprechen haben. geordnet werden. Ich möchte einmal an das
Ich meine, es sei notwendig gewesen, gleich zu immerhin noch sehr gute Beispiel der Reichsver-
Beginn des Zusammenfindens dieses Beirates zu sicherungsordnung, die im damaligen Reich grund-
der Bildung der Ausschüsse zu kommen. Ich muß legend war, erinnern und daran, daß wir nach 1945
sagen, meine politischen Freunde sind ebenso wie mit den verschiedenen Ländern zu rechnen hatten.
ich außerordentlich enttäuscht, wenn wir fest- Dabei hat es sich eingeschlichen, daß bei gleichen
stellen, daß diese Gremien innerhalb des Beirates Beitragsleistungen verschiedene Leistungen von
erst vor wenigen Wochen oder Monaten gebildet den Sozialversicherungsträgern gegeben werden.
worden sind. Wenn man sich einmal den großen Das konnte kaum vermieden werden, und heute
Komplex einer Sozialreform vorstellt, wobei eine stehen wir vor der Tatsache einer außerordentlich
Rentenreform — diese ist heute in der Debatte starken Rechtsunsicherheit auf Grund dieser unter-
am stärksten angesprochen worden — einen wich- schiedlichen Leistungen.
tigen Teil im Rahmen dieser Sozialreform dar- Dasselbe Bild bietet sich auch schon in der
stellt, und wenn man sich einmal überlegt, welcher Krankenversicherung. Ich weise nur auf die unter-
große Arbeitsbereich zu einer Neubildung und schiedlichen Arzneigebühren und Zuschüsse hin
Umformung kommen und auf die heutige Lebens- sowie auf die verschiedensten Leistungen in der
lage unserer Menschen abgestellt werden soll, Familienhilfe selbst, die wir dabei auch zu beachten
dann müssen wir doch heute schon sagen: Wenn haben.
die Arbeit in dem Beirat und in den Ausschüssen
jetzt erst begonnen hat, können wir vielleicht erst Die Besserstellung gegenüber den Fürsorge-
nach einem oder eineinhalb Jahren damit rechnen, empfängern empfinden wir auch nicht mehr in
daß uns irgend etwas vorgelegt wird, und dann diesem Sozialversicherungssystem. Wenn man
haben wir im Parlament überhaupt erst die Mög- sich einmal die Durchschnittsleistungen der Inva-
lichkeit, zu diesem Arbeitsergebnis Stellung zu lidenversicherung oder der Angestelltenversiche-
nehmen. Wir wollen uns darüber gar nichts vor rung ansieht, muß man feststellen, daß das Ruhe-
1424 2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954
(Frau Finselberger)
geld im Durchnitt bei einem Angestellten über platz finden, die nun schon seit Jahr und Tag durch
65 Jahre etwa 118 DM beträgt. Die Invalidenrente Arbeitslosigkeit oder Verlust ihrer materiellen
eines 65jährigen Arbeiters beträgt etwa '76 DM. Existenz in eine hoffnungslose Lage gekommen
Bringt man das in Vergleich zu den Fürsorge- sind, aus der sie keinen Ausweg sehen. Auch diese
leistungen und berücksichtigt man ferner, daß der Menschen sollen wieder aus eigener Kraft ihr
Betreffende ebenso wie der Arbeitgeber seine Schicksal meistern können. Das Grundrecht auf
Leistungen bezahlt hat, so meinen wir, daß diese Arbeit müssen wir in den Mittelpunkt unserer
Unterschiede unter allen Umständen ausgeräumt Überlegungen stellen und daraus alles Weitere ent-
werden müßten, wenn man die Leistungen auf wickeln, was im Laufe dieser Debatte von den ver-
dem Versicherungsprinzip aufbauen will. schiedensten Seiten vorgetragen wurde.
Eine weitere Frage kann ich, nachdem Sie die Wenn ich das, was heute in diesen Stunden der
baldige Anhebung der Renten angekündigt haben, Aussprache gesagt worden ist, überschaue und über
freundlicher anschneiden. Dabei habe ich Ihnen das Ergebnis nachsinne, so muß ich doch folgendes
einmal ein Beispiel zu sagen. Ein Versicherter der sagen. Von den Rednern aller Fraktionen und
Klasse II erhält nach 40 Arbeitsjahren nur 25% mehr selbstverständlich auch von unserem Herrn Bundes-
als ein Versicherter, der in der gleichen Leistungs- arbeitsminister habe ich den erfreulichen Eindruck,
klasse nur fünf Jahre lang seine Beiträge gezahlt daß alle das gleiche Anliegen beseelt. Wir wollen
hat. Es sollte einmal geprüft werden, ob solche uns trotz aller zum Ausdruck gekommenen Leiden-
Unterschiede gerechtfertigt sind. Vielleicht könnte schaftlichkeit und der sehr offenen Worte, die, wie
man in der allgemeinen Rentenreform diese Dinge ich unterstreichen möchte, sicherlich notwendig
nach gerechteren Maßstäben ordnen. waren, zu gemeinsamer Arbeit zusammenfinden.
Wenn wir von der Sozialreform sprechen, müssen Wir wollen diese Verantwortung übernehmen, den
wir daran denken, daß auch eine Rechtsverbesse- Menschen zu helfen und dazu beizutragen, daß
rung notwendig ist. Eine der wichtigsten Forderun- unser deutsches Volk einen weiteren sozialen Auf-
gen ist die nach einer gerechteren Verteilung der stieg erlebt.
Lasten. Gerade das vorhin erwähnte Beispiel ist
(Beifall beim GB/BHE.)
dafür kennzeichnend.
Die Sozialreform muß außer der Rentenreform Vizepräsident Dr. Schmid: Das Wort hat der Ab-
einiges andere in sich schließen, wie hier schon geordnete Arndgen.
gesagt worden ist, zuletzt von dem Kollegen
Dr. Atzenroth. Wir müssen an all die Leistungen, Arndgen (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine
an die ganze soziale Betreuung und an die soziale sehr verehrten Damen und Herren! Beratungen um
Hilfestellung denken, die wir den Menschen zu Große Anfragen, die sich mit einem in Vorberei-
geben haben, die schuldlos in eine besonders tung befindlichen Gegenstand beschäftigen, sind
schwierige Lage geraten sind. Dazu gehören die und können Dynamik sein. Aber diese Dynamik
Vertriebenen ebenso wie die Kriegsopfer, die kann einen bitteren Geschmack hinterlassen, wenn
Heimkehrer und Spätheimkehrer, unsere alten In- man die Begleitmusik, mit der diese Beratungen
validen und auch die Körperbehinderten. Eine begonnen worden sind, auf sich wirken läßt. Nach
einheitliche Sozialverfassung ist notwendig, um meinem Dafürhalten ist es nicht tunlich, anderen
unter allen Umständen jedem deutschen Staats- bei den Beratungen sozialpolitische Gesinnung ab-
bürger das Gefühl der Rechtssicherheit wie der zusprechen. Es ist weiter nicht tunlich, anderen-
sozialen Sicherheit zu geben, denn jeder kann ein- vorzuwerfen, sie benutzten die Rentner als Spiel-
mal diesen Wechselfällen des Lebens ausgesetzt ball für politische Reden. Ich meine, bei einer der-
sein. artig ernsten Beratung wie der, in der wir heute
Ich darf dabei darauf hinweisen, daß diese um- stehen, sollte man diese Ausdrücke vermeiden.
fassende Aufgabe, die uns hiermit gestellt ist, nicht (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zuruf
nur von den Menschen getragen werden kann, die der Abg. Frau Korspeter.)
darauf angewiesen sind, einmal die Leistungen aus
— Ihr Hintermann, Frau Korspeter! — Auch,
der Sozialreform für sich selber in Anspruch zu
nehmen. Es sollte vielmehr von dieser Stelle aus glaube ich, sollte man keinem einen Vorwurf
machen — wie es Herr Professor Schellen-
ein starker Appell erfolgen, daß die Lösung dieser
Aufgabe eine Angelegenheit des gesamten Volkes berg getan hat —, wenn er von Sozialreform
spricht. Herr Professor Schellenberg, von Sozial-
sein muß. Alle müssen gemeinsam mit dem glei- reform ist gesprochen worden, da hatten wir noch
chen Interesse, mit gleicher Leidenschaftlichkeit an kein Bundesarbeitsministerium; und ich habe einen
dieser Aufgabe arbeiten. Das muß mit dem ganzen Professor Schellenberg erlebt, der — im Jahre
Herzen geschehen. Alle müssen sich auf ihre Ver- 1946, glaube ich, war es — auf Einladung des Herrn
pflichtung besinnen.
Ministerpräsidenten Geiler in Wiesbaden in der
Ich glaube auch, sagen zu müssen — und ich Staatskanzlei auch schon über Sozialreform
denke dabei an die Notstandsgebiete in Bayern, gesprochen hat, ohne daß er damals in der Lage
Niedersachsen, Schleswig-Holstein usw. —, daß am gewesen wäre, uns irgendeine Konstruktion für
Beginn einer gesunden Sozialpolitik das Streben diese Reform vorzutragen.
stehen muß, jedem Menschen das Recht auf Arbeit
zu sichern. Meine politischen Freunde und ich sind Man soll auch nicht jemanden den Vorwurf
nicht der Meinung, daß man den Menschen dazu machen, er trage Pläne vor, die die Rentner in Auf-
erziehen sollte, sich auf einen sogenannten Renten- regung brächten, und im gleichen Atemzug die
staat zu verlassen. Das entspricht auch gar nicht Kenntnisnahme dieser Pläne verlangen. Das ist
der Mentalität des deutschen Menschen, denn der auch nicht logisch. Ich meine den Vorwurf, Herr
will in eigener Verantwortlichkeit sein Leben für Professor Schellenberg, den Sie hier gemacht haben.
sich und seine Familienangehörigen selber meistern. (Abg. Dr. Schellenberg: Das verstehe ich
Es dürfte deshalb eine ganz besonders wichtige nicht!)
Aufgabe des Bundesarbeitsministers sein, dafür zu Sie haben in Ihren Ausführungen zu den Finan-
sorgen, daß die Menschen wieder einen Arbeits zierungsmöglichkeitaen und -notwendigkeiten bei
2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954 1425
(Arndgen)
der Altrentenaufbesserung kritisiert, daß die Mit- auf dem Gebiete der Sozialpolitik sind wir durch das
tel der Versicherungsträger in Anspruch genommen „Dritte Reich" in eine Situation hineingekommen,
werden sollen. Ich möchte doch darauf verweisen, die es sehr schwierig macht, die Dinge alle in Ord-
daß die SPD-Fraktion im 1. Bundestag bei Anträ- nung zu bringen. Die Verantwortung nun aber auf
gen auf Erhöhung der Renten immer und immer unseren Bundesarbeitsminister abwälzen zu wol-
wieder auf die Millionen verwiesen hat, die die len, das ist doch ein sehr starkes Stück!
Rentenversicherung noch zur Verfügung hat. (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu-
(Abg. Horn: Sehr richtig!) rufe von der SPD.)
Ich meine, wenn es all den Einrichtungen, die ich
Wenn man das getan hat und wenn man sogar vorhin genannt habe, in all den Jahren, die hinter
mehrfach eine Inanspruchnahme dieser Mittel ver- uns liegen, nicht gelungen ist, eine entsprechende
langt hat, dann glaube ich, sollte man sich jetzt Konstruktion zu finden und zu formen, dann sollte
nicht hier hinsteilen und den Herrn Minister kri- man es nicht tragisch nehmen, wenn der Beirat bis-
tisieren, wenn er die anfallenden Finanzen der her in den zwei Jahren erst bis zu dem gekommen
Rentenversicherungsträger für diese Dinge in An- ist, was der Herr Arbeitsminister hier vorgetragen
spruch nehmen wi ll. hat. Ich weiß nicht, meine sehr verehrten Kollegen
(Abg. Samwer: Richtig!) von der Opposition, ob Sie heute den Mund so voll
Nun noch ein ganz kurzes Wort zu der Großen genommen hätten, wenn einer Ihrer Herren an der
oder Kleinen, überhaupt zu der Sozialreform. So- Stelle des Herrn Arbeitsministers säße.
wohl von Herrn Professor Preller als auch von (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Pohle:
Herrn Professor Schellenberg sind dem Herrn Ar- Herr Arndgen, denken Sie an Ihren Ar-
beitsminister Vorwürfe gemacht worden. Es ist be- tikel in der „Ketteler-Wacht"!)
hauptet worden, der Beirat der hierfür eingesetzt Alle diejenigen, die sich in den hinter uns liegen-
ist, habe versagt. Wer sich seit dem Jahre 1945 mit den Jahren seit 1945 — dazu rechne ich Preller, da-
sozialpolitischen Fragen beschäftigt hat, der weiß, zu rechne ich Pohle, dazu rechne ich auch Schellen-
daß dieser Beirat nicht die einzige Institution ist, berg — eingehend mit all den Dingen auf sozial-
die sich mit diesen Fragen beschäftigt. Wir haben politischem Gebiet beschäftigt haben, die wissen um
außer diesem Beirat eine ganze Reihe Institutionen, die Schwierigkeit dieser Fragen. Daher soll man
die frei sind, die also nicht von einer Regierung ab- nicht Menschen, die sich in dieser Richtung mit
hängig sind, die sich mit diesen Fragen intensiv be- Ernst bemüht haben und weiter bemühen, mit
schäftigen. Ich nenne den Deutschen Verein für solchen Formulierungen anreden, wie es hier ge-
öffentliche und private Fürsorge, ich nenne die Ge- schehen ist.
sellschaft für sozialen Fortschritt, die dem Herrn (Zuruf der Abg. Frau Korspeter.)
Preller nicht unbekannt sein wird, ich nenne die Ich glaube, wenn wir die Diskussion um diese
Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und Dinge in einer etwas anderen Atmosphäre geführt
-gestaltung. Ich nenne weiter sonstige Institute, die hätten, wären wir weiter gekommen. Gestern habe
sich bei Universitäten befinden. Ich erinnere an den ich gehört, daß Herr Professor Schellenberg
Herrn Professor Mackenrodt, der hier schon ge- davon gesprochen hat, wir sollten weniger reden
nannt worden ist, ich erinnere an den Herrn Pro- und mehr arbeiten.
fessor Neuendörfer, ich erinnere an den Herrn Pro- (Abg. Winkelheide: Richtig, das hat er
fessor Achinger, — Menschen und Institute, die sich gestern gesagt!)
in Freiheit, also nicht einer Regierungsinstitution Wenn, meine ich, der Herr Professor Schellenberg
irgendwie verpflichtet oder unterstellt, mit allen von dieser seiner Auffassung heute Gebrauch ge-
diesen Fragen schon seit Jahren beschäftigen. Trotz macht hätte und wir hätten uns, statt hier zu
der Arbeiten, die in den hinter uns liegenden Jah- reden, im Ausschuß für Sozialpolitik auf den
ren von diesen Stellen dankenswerterweise ge- Hosenboden gesetzt und wären an die Arbeiten,
leistet worden sind, ist es bis heute noch nicht zu die wir im Ausschuß schon vorliegen haben, her-
einer Konstruktion gekommen, wie man die Sozial- angegangen,
reform durchführen soll. Wenn dem so ist, dann (Abg. Frau Korspeter: Das ist ja unerhört!)
geht daraus hervor, wie schwierig und wie außer-
ordentlich kompliziert die ganze Angelegenheit ist. dann, meine sehr verehrten Damen und Herren,
glaube ich, wären wir weiter gekommen!
Mir scheint, daß der Deutsche Gewerkschafts- (Beifall bei der CDU/CSU. — Lebhafte Zu-
bund deswegen sehr vorsichtig gewesen ist. rufe von der SPD. — Abg. Dr. Schellen-
(Abg. Albers: Sehr richtig!) berg: Dann wollen wir das Plenum ab-
Auf dem Kongreß des Deutschen Gewerkschafts- schaffen! — Abg. Frau Korspeter: Aber
Herr Arndgen!)
bundes — ich glaube, im Jahre 1952 — in Berlin
ist beschlossen worden, auch von dieser Organi- Wir hätten die Dinge, die heute hier im Inter-
sation aus eine Kommission zusammenzusetzen, die esse der Rentner und auch im Interesse der
sich mit all diesen Fragen beschäftigen sollte. Erst Öffentlichkeit besprochen worden sind, in einem
vor einigen Wochen hat der Deutsche Gewerk- kürzeren Zeitraum erledigen können; dann wären
schaftsbund diese Kommission gebildet, vielleicht wir mit unserer Arbeit hier zeitlich fertig gewe-
aus dem Gedanken heraus, wie schwierig es heute sen und hätten an die richtige Arbeit herangehen
ist, die Dinge in Ordnung zu bringen. Ich kann können, von der Herr Professor Schellenberg
mich noch daran erinnern, als Goebbels während gestern gesprochen hat.
des Krieges den totalen Krieg proklamiert und (Abg. Dr. Schellenberg: Wenn ein Ge-
über alle Lautsprecher damals ausgerufen hat: setzentwurf fristgemäß vorgelegt wor-
„Wenn wir einmal abtreten, dann schlagen wir die den wäre, wie es der Minister verspro-
Tür mit einem Krach zu, daß diejenigen, die das chen hat!)
in Ordnung bringen müssen, was dann übrigbleibt, Ich glaube, daß Frau Finselberger in ihren
in Gefahr geraten, von ihrer eigenen Bevölkerung Schlußausführungen den richtigen Ton gefunden
zur Verantwortung gezogen zu werden." Gerade hat, und zwar, daß wir, nachdem wir diese Dinge
1426 2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954
(Arndgen)
jetzt im einzelnen besprochen haben, nun gemein- stellten- und in der Invalidenversicherung grund-
sam an die Arbeit gehen sollen, die berechtigten sätzlich beseitigt hatte — jeder muß anerkennen,
Anliegen der Rentner so bald wie möglich in Ord- daß das eine dringend notwendige Regelung war,
nung zu bringen. Das ist auch meine Auffassung, da früher Unterschiede zuungunsten der Witwen
und ich bin der Meinung, daß der Herr Arbeits- der Invalidenversicherten bestanden —, blieb diese
minister mit seinen Mitarbeitern uns dabei zur ungerechte Regelung noch weiterhin für die Wit-
Seite stehen wird. wen bestehen, deren Ehemänner bereits vor dem
(Beifall bei der CDU/CSU.) 31. Mai 1949 verstorben sind. Sie erhalten nicht,
wie jetzt alle anderen Witwen sowohl aus der
Invaliden- wie aus der Angestelltenversicherung,
Vizepräsident Dr. Schmid: Das Wort hat Frau die unbedingte Witwenrente, d. h. sofort nach dem
Abgeordnete Korspeter. Tode des Ehemannes ohne jede Voraussetzung,
sondern sie müssen noch die besonderen Voraus-
Frau Korspeter (SPD): Herr Präsident! Meine setzungen erfüllen, die früher ganz allgemein für
Herren und Damen! Im Rahmen der heutigen die Witwen der Invalidenversicherung bestanden.
Debatte möchte ich noch zu einer Teilfrage Stel- Sie müssen also entweder selbst erwerbsunfähig
lung nehmen, die auch von der Regierungskoalition sein oder das 60. Lebensjahr vollendet haben oder
als eine sozialpolitische Ungerechtigkeit erklärt vier Kinder gehabt haben, ehe sie Anspruch auf
worden ist und von der wir einmal wissen möch- eine Witwenrente haben.
ten, wie sie einer Regelung zugeführt werden soll. Die Bestimmung, wonach diese Witwen, deren
Ich hätte das Wort nicht ergriffen, wenn der Herr Ehemänner vor dem 31. Mai 1949 verstorben sind,
Bundesarbeitsminister heute davon gesprochen schon vom 60., nicht erst vom 65. Lebensjahr ab
hätte oder wenn er überhaupt bei der Aufzählung die Witwenrente erhalten, beruht auf einem Kom-
der Probleme, die der Beirat bewältigen soll, promiß, der damals auf Grund eines Antrages der
etwas dazu gesagt hätte. SPD im Frankfurter Wirtschaftsrat bei der Verab-
Wir sind uns alle darin einig, daß sich eine schiedung des Sozialversicherungs-Anpassungs-
Sozialreform nicht in der Erhöhung der Alt- gesetzes angenommen wurde. Aber, meine Her-
renten erschöpfen kann, so wichtig diese Frage ren und Damen, es war ein mehr als bescheidener
auch ist. Wir stehen noch vor einer Reihe anderer Kompromiß. Wir stellten deshalb im Dezember
Regelungen auf diesem Gebiet, und da ist es ganz 1952 hier in diesem Hause noch einmal den Antrag,
besonders eine Frage, von der die Frauen betrof- wenigstens den Witwen, deren Männer vor dem
fen sind, die zweifellos einen Rechtsanspruch auf 31. Mai 1949 verstorben sind, das Witwengeld zu
Leistungen besitzen, der aber nach den heute be- geben und die Einschränkung dieses ungerechten
stehenden gesetzlichen Regelungen nicht realisiert Stichtages aufzuheben, sofern sie das 40. Lebens-
ist. Wir alle wissen, daß die augenblickliche Rege- jahr erreicht haben. Dieser Antrag wurde von der
lung draußen bei dem davon betroffenen Personen- Mehrheit des Hauses, und zwar aus finanziellen
kreis eine große Verbitterung ausgelöst hat. Des- Gründen, nicht etwa weil man die sozialpolitische
halb wären wir dem Herrn Bundesarbeitsminister Situation nicht anerkannt hätte, abgelehnt. Ich
sehr dankbar gewesen — ich nehme an, auch die glaube, diese Ablehnung ist kaum verständlich
Frauen, die darauf warten, daß sie endlich einmal für die davon betroffenen Witwen und auch für
von einer anderen Regelung etwas hören —, wenn diejenigen, meine Herren und Damen, deren
er uns im Laufe dieser Debatte hätte sagen kön- sozialpolitisches Gerechtigkeitsgefühl dadurch ver-
nen oder sagen wollen, wie er diese Frage einmal letzt wurde, zumal sich diese Regelung in vielen
zu regeln gedenkt und wie er dafür sorgen will, Fällen als geradezu widersinnig erwies.
daß dieser Rechtsanspruch realisiert wird. Erschwerend kommt noch hinzu — auch das
Es handelt sich um den § 21 Abs. 5 des Sozial- möchte ich in diesem Zusammenhang sagen —, daß
versicherungs-Anpassungsgesetzes, das im Frank- alle Kriegerwitwen, deren Ehemänner invaliden-
furter Wirtschaftsrat verabschiedet wurde und in versichert waren, unter diesen Stichtag fallen; sie
dem auf Grund einer finanziellen Zwangssituation bleiben nach der augenblicklichen Regelung ohne
eine Regelung getroffen wurde, die niemanden Witwenrentenanspruch aus der Sozialversicherung,
von uns befriedigen konnte. Wir stellten bereits bis sie selbst entweder das 60. Lebensjahr voll-
in der ersten Legislaturperiode einen entsprechen- endet haben oder erwerbsunfähig sind. Hinzu
den Antrag, der aber nicht zu der gewünschten kommt weiter, daß sie keinen Rechtsanspruch auf
Änderung führte, da sich die Mehrheit des Hauses Rentner-Krankenversicherung haben, so daß sie
dagegen entschied. Deshalb sehe ich mich ver- doppelt geschädigt sind.
anlaßt, heute im Auftrage meiner Fraktion ange- Wir stehen jedenfalls auf dem Standpunkt, daß
sichts dieser Debatte noch einmal zu dieser Ge- das völlig unmöglich ist. Wir werden in der kom-
setzesregelung Stellung zu nehmen und ihre menden Sozialreform darauf zu achten haben, daß
sozialpolitische Ungerechtigkeit darzustellen in der dieser Stichtag, der damals aus einer 'Zwangs-
Hoffnung, daß sich der Herr Bundesarbeitsminister situation heraus eingeführt wurde, für die Zu-
auch mit dieser Frage befaßt und Überlegungen kunft nicht bestehen bleiben kann. Es handelt sich
anstellt, wie sie einer gerechten Lösung entgegen- gewiß um einen Teilbereich innerhalb unserer
geführt werden kann ; Sozialleistungen: aber es ist eine bedeutsame
Beim § 21 Abs. 5 des Sozialversicherungs-Anpas- Frage und betrifft Hunderttausende von Frauen,
sungsgesetzes handelt es sich um die Witwenver- die auf eine Lösung warten.
sorgung der Invalidenversicherung und um den Außerdem entsteht aber auch noch die Frage,
bekannten Stichtag vom 31. Mai 1949. Dahinter ob man bereit ist. für gleiche Beiträge die gleichen
steckt für ungefähr 320 000 Witwen, deren Ehe- Leistungen zu sichern und zu gewähren. Herr
männer in der Invalidenversicherung versichert Kollege Atzenroth hat vorhin gesagt, es sei eine
waren, eine außerordentlich große Härte. Nachdem Selbstverständlichkeit, eine solche Regelung zu
das Sozialversicherungs-Anpassungsgesetz die treffen. Aber hier ist ein Schulbeispiel dafür, daß
unterschiedliche Witwenversorgung in der Ange- wir eben für gleiche Beiträge nicht die gleichen
2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954 1427
(Frau Korspeter)
Leistungen gewähren. Da muß eine gerechte Gestaltung der Erhöhung der Altrenten hier keine
Lösung gefunden werden. genaue Auskunft gegeben. Er hat sich darauf be-
Eine weitere Frage ist die des § 1279 der rufen, daß es in unserer Anfrage nur heißt: Wann
Reichsversicherungsordnung. Auch hier sind wir wird der entsprechende Gesetzentwurf vorgelegt?
im Bundestag bei einer Regelung, die die sozial- Ich bedauere eine solche formale Auffassung des
demokratische Fraktion beantragt hatte, auf hal- Herrn Bundesarbeitsministers. Nachdem der Herr
bem Wege steckengeblieben, so daß die Lösung Bundesarbeitsminister, wie ich bereits durch einen
in keiner Weise befriedigt. Zwischenruf zum Ausdruck gebracht habe, in der
Diese Frage hängt eng zusammen mit den Öffentlichkeit vielfach über Altrentenerhöhung ge-
gegenseitigen Anrechnungen beim Bezug mehre- sprochen hat, wäre es seine Verpflichtung ge-
rer Renten. Es ist vorhin schon von meinem Kol- wesen, heute hier Klarheit zu schaffen,
legen davon gesprochen worden, welche Verbit- (Beifall bei der SPD)
terung bei dem davon betroffenen Personenkreis weil Millionen von Rentnern über diese Dinge, wie
hervorgerufen wurde, wenn wir Rentenerhöhun- wir alle wissen, im unklaren sind. Ich muß sagen:
gen durchführten, dabei aber die zweite Rente, ich gehe von dieser Aussprache und nach der Aus-
die ein Rentner bezog, wieder anrechnen ließen. kunft, die der Herr Minister gegeben hat, unbe-
Wie oft wurde von den Betroffenen zum Ausdruck friedigt wieder an die laufende Arbeit, weil ich
gebracht, sie fühlten sich dadurch betrogen, daß den Menschen draußen keine Mitteilung machen
ihnen mit der einen Hand gegeben und mit der kann.
anderen wieder genommen werde. Auch hier
würden wir gern hören, welche Vorstellungen über Der Herr Bundesarbeitsminister hat erklärt, ich
diese Anrechnungsfragen bestehen. Man kann sei in der Sitzung des Verbandes der Rentenver-
diese Seite unserer Sozialleistungen nur dann sicherungsträger gewesen. Da habe er einen Vor-
regeln, wenn man bereit ist, Renten zu gewähren, trag gehalten, und die Rentenversicherungsträger
die dem Rentner wirklich eine Existenzsicherung hätten seine Konzeption erfahren. Ich darf dazu
bieten. Wir hoffen, daß bei der kommenden Sozial- folgendes feststellen. In dieser Sitzung fand auf
reform die genannten sozialpolitischen Ungerech- ausdrücklichen Wunsch der Veranstalter oder des
tigkeiten, von denen besonders die Frauen betrof- Vortragenden — das weiß ich nicht genau —
fen sind, beseitigt werden. Grundsatz und Ziel all (Zuruf von der SPD: Des Vortragenden!)
unserer sozialpolitischen Überlegungen und Maß-
keine Aussprache statt,
nahmen muß dabei das Wohlergehen der Menschen
sein. (Hört! Hört! bei der SPD)
(Beifall bei der SPD.) und es war noch nicht einmal die Möglichkeit ge-
geben, eine Frage an den Herrn Bundesarbeits-
Vizepräsident Dr. Schmid: Das Wort hat der Ab- minister oder die Beteiligten zu stellen.
geordnete Odenthal. — Er verzichtet. (Lebhafte Rufe bei der SPD: Hört! Hört!)
Dann hat das Wort der Abgeordnete Schellen- Das sind die Tatsachen.
berg.
(Abg. Sabel: Sie waren doch dabei! —
Dr. Schellenberg (SPD): Herr Präsident! Meine Weitere Zurufe von der CDU/CSU.)
Damen und Herren! Nur einige Klarstellungen, da- — Herr Sabel, ich glaube mich nicht zu täuschen.
mit keine Irrtümer entstehen. Der Herr Bundes- (Abg. Arndgen: Seien Sie vorsichtig!) -
arbeitsminister hat mich bezüglich der Finanzie- Auf Grund einer Vereinbarung — das muß man
rung der Rentenzulagen sehr mißverstanden. Ich im Protokoll dieser Veranstaltung nachlesen —
habe das Stenographische Protokoll hier vorliegen. bestand damals keine Fragemöglichkeit. Deshalb
Danach habe ich erklärt, daß Änderungen im Wäh- habe ich diese Fragen, die eine große praktische
rungsgefüge nach Auffassung unserer Fraktion Bedeutung für die Rentner haben, was niemand
grundsätzlich aus dem allgemeinen Steueraufkom- bestreiten kann, heute gestellt. Ich muß feststellen,
men zu decken sind, was dem einstimmigen Be- daß diese Fragen leider nicht beantwortet wor-
schluß des Hauses auf Grund des CDU-Antrages den sind.
vom 22. Februar 1951 entspricht. (Zuruf von der CDU/CSU: Dann müßt ihr
(Lachen bei der SPD.) die Fragen anders stellen!)
Ich habe aber weiter erklärt, daß wir uns ein Ur- Wir wissen nicht, ob man mit durchschnittlich
teil darüber bilden wollen, ob und inwieweit die 30 DM Erhöhung rechnet; wir wissen nicht, welcher
Rentenversicherung ganz oder teilweise an der Personenkreis nun wirklich in Frage kommt; wir
Aufbringung der Mittel für die Altrentenerhöhung wissen nicht, von welchem Zeitpunkt an nach Auf-
beteiligt werden kann, und ich habe deshalb den fassung des Ministers das praktisch durchgeführt
Herrn Bundesarbeitsminister um Vermögensüber- werden soll. Das ist außerordentlich bedauerlich.
sichten gebeten. Ich habe drittens erklärt: Nun noch ein Wort zu den Ausführungen des
Es darf durch diese Finanzfragen die tatsäch Herrn Kollegen Dr. Atzenroth. Herr Dr. Atzen-
liche Auszahlung der Erhöhungen nicht ver roth hat bedauert, daß ich so von konkreten Dingen
zögert werden; denn die schnelle Durchführung der Sozialversicherung gesprochen habe, die ge-
der Erhöhungen ist eine sozialpolitische Not wissermaßen Kleinigkeiten seien, und nicht über
wendigkeit. große Zielsetzungen. Ja, meine Damen und Her-
Ferner habe ich gesagt: ren, was sollen wir denn eigentlich tun? Wenn wir
Die sozialdemokratische Fraktion wird über die Sozialdemokraten hier im Bundestag Zielsetzungen
Finanzierung erst eine Entscheidung treffen, grundsätzlicher Art entwickeln, dann hält man uns
wenn wir die Vermögensunterlagen, die beim entgegen: Ach, ihr entwickelt eine Zukunftsmusik,
Bundesarbeitsministerium vorliegen müssen, Pläne für die nächsten Jahre und Jahrzehnte!
erhalten haben. Wenn wir dann konkrete Fragen aufwerfen, mit
Nun noch etwas anderes. Der Herr Bundes- denen sich das Haus beschäftigt hat und die, wie
arbeitsminister hat über die von ihm beabsichtigte wir wissen, leider noch nicht erledigt sind, dann
1428 2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954
(Dr. Schellenberg)
sagt man: Na, ihr sprecht ja bloß von solchen prak- (Abg. Arndgen: Das haben Sie ja gestern
tischen Kleinigkeiten! selbst gesagt!)
(Beifall bei der SPD.) — Herr Kollege Arndgen, Sie wissen genau so
Ich glaube, meine Herren, wir Sozialdemokraten gut wie wir alle, daß wir Sozialdemokraten uns
haben heute hier im Hause sowohl grundsätzliche sehr rege und tüchtig an den Ausschußarbeiten
Fragen aufgeworfen. Das war gewissermaßen beteiligen. Das werden Sie niemals bestreiten
die Arbeitsteilung zwischen meinem Freund Preller können. Aber grundsätzlich — grundsätzlich! —
und mir —; er hat die grundsätzlichen Fragen der sind Ausschußarbeiten nicht öffentlich. Nachdem
Sozialreform aufgeworfen, und ich habe die prak- der Herr Minister diese Fragen, insbesondere die
tischen nächsten Schritte für die Reform der Sozial- Frage der Erhöhung der Altrenten, in der Öffent-
versicherung aufgezeigt und den Minister gebeten, lichkeit angesprochen hat, darf darüber nicht nur
dazu Stellung zu nehmen. Er hat das leider nicht in Ausschüssen oder sonstwo vertraulich verhandelt
getan. werden,
(Zuruf von der SPD: Er ist gar nicht mehr (Beifall bei der SPD)
da! — Abg. Dr. Lütkens: Er ist hinaus sondern es muß vor der gesamten Öffentlichkeit
gegangen! — Gegenrufe von der CDU/ klargestellt werden, welche Maßnahmen geplant
CSU. — Abg. Winkelheide: Rücksichts sind und wann sie durchgeführt werden.
losigkeit! — Abg. Dr. Lütkens: Er ist doch (Lebhafter Beifall bei der SPD.)
Minister!)
Meine Damen und Herren, noch ein Wort zu den Vizepräsident Dr. Schmid: Das Wort hat der Ab-
Ausführungen des Herrn Kollegen Arndgen. geordnete Schüttler.
Herr Kollege Arndgen, Sie haben davon ge-
sprochen — ich möchte das ganz offen sagen —, Schüttler (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine
daß auch ich im Jahre 1946 gewisse Dinge über Damen und Herren! Nachdem eben Frau Kollegin
Sozialversicherung geäußert habe. Selbstverständ- Korspeter doch wieder ein Teilproblem vorgetra-
lich haben wir alle gelernt, der Herr Minister und gen hat, ist es fast unmöglich, dazu von unserer
auch ich. Ich habe heute nicht vorgetragen, was der Seite nichts zu sagen. Es könnte sonst der Anschein
Herr Minister im Jahre 1947 über die Gestaltung erweckt werden, als ob uns diese Frage, das Teil-
der Sozialversicherung gesagt hat; da waren un- problem der Witwenversorgung in der Invaliden-
sere Auffassungen einander wohl wesentlich näher, versicherung, kalt ließe und wir darüber zur Ta-
als sie es heute sind. gesordnung übergingen, ohne diese Menschen in
(Sehr richtig! bei der SPD.) unsere sozialpolitische Betrachtung einzubeziehen.
Wir haben die gleiche Frage schon im alten Bun-
Das habe ich nicht gesagt. Ich habe Stellung ge-
nommen zu den Dingen, die der Herr Minister in destag einmal behandelt. Es stimmt, daß von der
der letzten Zeit ausgesprochen hat. Darüber müs- SPD der Antrag vorlag, die Gleichschaltung, die
sen wir doch wohl hier im Hause Klarheit haben. im Anpassungsgesetz von 1949 nicht erfolgte, zu
Im übrigen, Herr Kollege Arndgen, haben Sie be- vollziehen. Ich habe damals von diesem Podium aus
anstandet, daß wir Sozialdemokraten zur Frage gegen diesen Antrag gesprochen. Das geschah nicht
aus dem Grunde, weil uns das Schicksal dieser
der Inanspruchnahme aus den Mitteln der Ren-
tenversicherung hier im einzelnen gesprochen Witwen nicht am Herzen liegt. Ich habe schon im
letzten Jahr bei allen Gelegenheiten immer wieder -
haben, und haben das gewissermaßen bedauert.
Herr Kollege Arndgen, ich darf Sie an folgendes in den Vordergrund gestellt, daß hier endlich
erinnern. Ich habe den Minister gefragt, wie sich etwas getan werden muß, weil wir das Gefühl
der Wandel in der Auffassung des Bundesarbeits- haben, daß hier sicherlich ein Unrecht vorliegt.
ministeriums seit dem 11. Juni 1953 bis jetzt er- Eine Terminsetzung schließt immer eine Härte in
klärt. Auch darüber hat der Herr Minister keine sich.
Aufklärung gegeben. Er hat dazu geschwiegen. Aber ganz so einfach, Frau Korspeter, liegen die
Das bedauere ich außerordentlich. Dinge nun doch nicht. Wir können auch darüber
Im übrigen, Herr Kollege Arndgen, hat niemand sprechen. Doch wird man uns immer wieder sagen,
von uns die Schwierigkeiten bei der Gestaltung das sei damals nicht aus finanziellen Erwägungen
sozialpolitischer Maßnahmen, die in den Jahren geschehen. Demgegenüber ist darauf hinzuweisen,
des Aufbaus überwunden werden mußten, be- daß 230 Millionen DM auf dem Spiele standen, die
stritten. Jeder von uns — auch wir Sozialdemo- wir damals im Etat einfach nicht unterbringen
kraten in den Ländern und Gemeinden — hat das konnten. So zwangen uns die Realitäten, diese Hal-
seine getan, um die sozialen Dinge damals mög- tung einzunehmen. Das besagt natürlich nicht, daß
lichst in Ordnung zu bringen. Wir kennen die es nun für alle Zukunft so bleiben muß. Schon in
Probleme und Schwierigkeiten. Was wir dem Herrn Frankfurt waren die gleichen finanziellen Beweg-
Minister zum Vorwurf machen, ist, daß er immer gründe für die damalige Gesetzesfassung maß-
wieder die Sozialreform als in naher Zukunft gebend. Wenn damals die Mittel zur Verfügung
durchführbar bezeichnet hat und daß dann in gestanden hätten, hätte sich der Gesetzgeber wahr-
dieser Hinsicht nichts Konkretes geschehen ist. scheinlich entschlossen, den Termin nicht auf den
Diese Tatsachen kann man doch nicht bestreiten. 31. Mai oder den 30. Juni festzulegen, sondern alle
Das wurde doch von vielen Seiten des Hauses heute Witwen, gleichgültig ob der für sie maßgebende
genau so wie von unserer, der sozialdemokratischen Stichtag vorher oder nachher liegt, einzubeziehen.
Seite kritisiert. Nun haben Sie, Frau Korspeter, eben gesagt: Für
Noch ein Letztes, Herr Kollege Arndgen. Sie gleiche Beiträge gleiche Leistungen. Eigentlich ist
haben beanstandet, daß wir Sozialdemokraten hier für diese sozialpolitische Maßnahme nie eine Bei-
im Plenum so lange über diese Dinge gesprochen tragsleistung erfolgt; sie ist auch nie erwogen wor-
haben; wir hätten statt dessen lieber in die Aus- den. Erst nach der Erhöhung der Beiträge von 5,6
schußarbeiten gehen sollen. Ich glaube, Herr Kol- auf 10 % sah man die Möglichkeit, daß es bei
lege Arndgen, das ist eine sehr falsche Auffassung. diesem Beitragsaufkommen denkbar sei, die
2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954 1429
(Schüttler)
Gleichschaltung mit der Angestelltenversicherung werden müssen. Vielleicht war Ihnen dies ent-
vorzunehmen. Es stimmt also nicht ganz, wenn nun gangen.
gesagt wird, daß für die gleiche Leistung der eine Zweitens. Sie hatten hinsichtlich der Altrenten
die Rente bekommt und der andere nicht. Auch ich ausgeführt, daß es sich nach Ihrer Auffassung um
und, wie ich glaube, fast durchweg die Freunde eine Art Fürsorge handle. Ich möchte das von
meiner Fraktion empfinden die Tatsache als unserer Seite nicht unwidersprochen lassen, und
drückend, daß eine Witwe mit 58 Jahren keine zwar deshalb, weil wir der Auffassung sind, daß
Rente bekommt, während eine Witwe mit 30 oder diese Altrentenerhöhung eine Art Wiedergut-
35 Jahren ihre Rente nach dem Anpassungsgesetz machung oder Aufwertung, wenn Sie wollen, dar-
erhält. Sicherlich streben wir genau wie Sie stellt. Diese Aufwertung ist allerdings immer ein
danach, die Mittel zu beschaffen, um wenigstens Rechtsanspruch gewesen. Das möchte ich nur kurz
den größten Härten entgegentreten zu können. herausstellen.
Gerade heute haben wir in einem engeren Kreis Nun aber zum Herrn Bundesarbeitsminister! Ich
darüber gesprochen, wenn auch dieses Thema bedauere — und das betone ich —, daß er nicht da
eigentlich nicht zum Thema unserer heutigen sein kann. Er hat sich bei uns entschuldigt, daß
Debatte gehört. Wir haben auch versucht, einen er jetzt zu irgendeiner Sitzung gehen müsse und
Weg zu finden, um wenigstens vorerst einmal die daß er diese Sitzung leider nicht mehr aufschieben
größten Härten zu beseitigen. Ich glaube, bei gutem könne. Dem Herrn Bundesarbeitsminister ist es
Willen läßt sich auch ein Weg finden. Ob wir aber beinahe in den falschen Hals gekommen, daß ich
gleich eine Gesamtlösung durchführen und die einen Zwischenruf gemacht habe. Ich möchte des-
230 Millionen DM aufbringen können, wird eine halb doch einmal aus dem Protokoll rekapitulieren.
Frage sein, die man ernstlich überlegen muß. Aber Er hatte gesagt, bei dem Beirat sei dieser
wenn wir einen Schritt weitergehen — Sie sind ja Wunsch — nämlich nach einem Arbeitsplan und
damals auch zu einer erneuten Terminstellung ge- nach Unterausschüssen — erst in letzter Zeit
kommen — und wenn wir eine Terminstellung gereift, und ich hatte dazwischengerufen: „Ich
finden, auf Grund deren wenigstens die drückend- nehme an, daß das nicht stimmt". Wenn der Herr
sten Härten beseitigt werden können, werden wir Bundesarbeitsminister sich dadurch beleidigt
gemeinsam auch das Ziel erreichen, nämlich die gefühlt hat, nehme ich das gern zurück. Aber ich
Gleichstellung der Witwen, und wir werden da- habe unterdessen von seiner sofort gegebenen
durch dieses draußen im Lande wirklich sehr stark Genehmigung Gebrauch gemacht, das Stillschwei-
empfundene Unrecht beseitigen. Wie gesagt, wir gen zu durchbrechen und mich zu erkundigen, wie
müssen vor allen Dingen die Mittel haben. Wenn die Dinge gewesen sind. Nun habe ich allerdings
wir große Ausgaben für andere Zwecke machen, festgestellt, daß ich recht gehabt habe: der Wunsch
bleibt eben für die sozialpolitischen Maßnahmen zu nach einem Arbeitsplan und nach Unterausschüssen
wenig übrig. ist bereits in der allerersten Sitzung des Beirats
vor über einem Jahr geäußert worden. Ich habe
(Zuruf von der SPD.) also mit meinem Zwischenruf absolut recht gehabt,
Wir sollten bei der Bewilligung des gesamten Haus- und der Bundesarbeitsminister hat sich offensicht-
halts — da möchte ich auch an Sie appellieren! — lich geirrt.
immer daran denken, daß wir dem Ärmsten zuerst Ferner möchte ich folgendes feststellen. Der
helfen wollen. Ich glaube, wenn diese Einstellung Beirat ist im Februar 1952 beschlossen worden. Er
überall vorhanden gewesen wäre, hätten wir noch ist zufällig ein Jahr später, im Februar 1953, ge-
manche Summe zur Verfügung gehabt, um auf bildet worden. Die Arbeitsausschüsse sind im
sozialpolitischem Gebiet etwas mehr zu tun. Februar 1954 gebildet worden. Ich habe mir dazu
Meine Fraktion ist ernstlich bemüht, dieses am Rand bemerkt — ich gebe zu, daß das etwas
Problem zu lösen, und wir glauben, daß wir zu übertrieben ist —: Das Ergebnis werden wir 1980
einem Ergebnis kommen werden, das brauchbar ist. haben, wenn wir in dieser Weise fortfahren.
(Beifall in der Mitte.) (Abg. Winkelheide: Das ist aber übertrieben!)
— Das ist ein bißchen übertrieben, das gebe ich
Vizepräsident Dr. Schmid: Das Wort hat der Ab- ohne weiteres zu. Aber immerhin, in diesem Tempo
geordnete Preller. können wir nicht fortfahren; ich glaube, da stim-
men wir alle überein. Wir sollten uns alle mit-
Dr. Preller (SPD): Herr Präsident! Meine Damen einander Mühe geben, das, was sich aus der ge-
und Herren! Ich will Sie gar nicht mehr lange auf- samten Disskussion als unser gemeinsames An-
halten, sehe mich jedoch genötigt, auf einige Aus- liegen ergeben hat, auch gemeinsam durchzu-
führungen insbesondere des Herrn Bundesarbeits- führen.
ministers näher einzugehen. Zunächst aber möchte Wenn ich die Debatte überschaue, dann scheint
ich Herrn Dr. Atzenroth erwidern. Er hat ja an es so, als ob tatsächlich die Altrentenerhöhung das
uns die Frage gestellt, weshalb wir keine positiven einzige Konkrete — wenn auch noch nicht sehr
Vorschläge gebracht hätten. Ich antworte kurz: konkret formuliert, aber immerhin doch das
Zunächst einmal war es der Sinn dieser Großen einzige in kürzerer Zeit Greifbare — ist, was man
Anfrage, aus der Regierung das herauszuholen, heute genannt hat. Diese Altrentenerhöhung ist
was Sie selbst auch herausholen wollen: Wie ist ein Teil der Gesamtsozialreform, und das sollten
der Standpunkt der Regierung zu dieser uns alle wir niemals vergessen.
bewegenden Frage? Im übrigen habe ich vor zwei
Jahren bei der Beratung des Antrags betreffend (Abg. Albers: Wir müssen aber einmal
die Soziale Studienkommission unsere Auffassung anfangen, Herr Professor!)
ungefähr entwickelt. Außerdem — und darauf — Sicher müssen wir anfangen, Herr Albers. Aber
mache ich Sie aufmerksam, Herr Atzenroth — ich glaube, auch einigermaßen das, was in Ihren
habe ich heute acht Punkte genannt, von denen Ausschüssen geschehen ist, überschauen zu können.
ich glaube, daß sie bei einer solchen Sozialreform Sie sind wie wir — und das wissen wir beide ganz
von Bedeutung sind, und ich glaube, daß die in genau — der Auffassung, daß man auch dadurch,
diesen Punkten genannten Anliegen durchgeführt daß man etwas präjudiziert, eine Gesamtreform
1430 2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954
(Dr. Preller)
fragwürdig machen kann, und das möchten wir mäßigen Arbeitsvermittlung zur Wiedergutmachung
allerdings gemeinsam vermeiden. Wir müssen nationalsozialistischen Unrechts (Drucksachen 223,
sehen, daß es sich um ein Gesamtproblem handelt 419) — abgesetzt werden soll.
und daß wir alle Teile in diese Gesamtheit einfügen. Ich rufe nunmehr, weil es sich um eine rein for-
Dazu gehört — und deswegen habe ich es hier male Sache handelt, Punkt 7 der Tagesordnung auf:
noch einmal gesagt — als erstes die Vorstellung,
wie die Gesamtreform auszusehen hat, damit der Erste Beratung des Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung von Vorschriften des Gesetzes
Teil, den wir vorwegnehmen müssen — da sind
wir ganz einer Meinung —, nicht etwa das Gesamte betreffend die Erwerbs- und Wirtschafts-
gefährdet. Ich hoffe, daß wir darin überein- genossenschaften und des Rabattgesetzes
stimmen. (Drucksache 475).
(Zustimmung bei der CDU/CSU.) Hier schlägt Ihnen der Ältestenrat vor, die Vor-
lage ohne Begründung und ohne Debatte unmittel-
Darum handelt es sich, und ich bitte doch, daß wir bar an eine Reihe von Ausschüssen zu überweisen.
alle Polemik beiseite lassen. Herr Arndgen, ich Es sind folgende Ausschüsse: Wirtschaftspolitik,
habe Verständnis, daß Sie als getreuer Paladin Geld und Kredit, Rechtswesen und Verfassungs-
vor Ihren Minister getreten sind; ich hätte es recht, Sonderfragen des Mittelstandes. Werden
genau so gemacht, wenn ich in der gleichen Lage noch weitere Ausschüsse gewünscht? —
gewesen wäre wie Sie; es war nicht sehr schön, (Heiterkeit und Rufe: Nein!)
was Sie gesagt haben, aber das ist Ihnen alles — Dann stelle ich fest, daß das Haus mit dieser
vergeben und infolgedessen erledigt. Doch Sie
können im Innersten Ihres sicher auch roten Regelung dieses Punktes der Tagesordnung einver-
Herzens standen ist.
(Abg. Arndgen: Schwarz-roten! — Heiterkeit) Nunmehr rufe ich auf Punkt 4 der Tages-
ordnung:
— schwarz-roten, aha! —, im Innern Ihres Herzens
sicher nicht verhehlen, daß auch Sie bedauern, nicht Zweite und dritte Beratung des Entwurfs
bereits vor zwei Jahren begonnen zu haben. Sie eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
brauchen mir nicht zu antworten; das will ich gar 3. Juni 1953 über den Freundschafts-, Han-
nicht. dels- und Konsularvertrag zwischen Deutsch-
(Abg. Winkelheide: Alles Große wächst land und den Vereinigten Staaten von
in der Stille!) Amerika vom 8. Dezember 1923 mit seinen
Abänderungen (Drucksache 71);
— Ja natürlich, Herr Winkelheide, wir machen
alles im stillen Kämmerlein; aber wir sind ja hier Mündlicher Bericht des Ausschusses für Aus-
imParlent.d Bvökrugacheinml wärtige Angelegenheiten (4. Ausschuß)
erfährt, was geschieht. (Drucksache 218).
(Erste Beratung: 7. Sitzung.)
Die Notwendigkeit einer sozialen Reform und
der Vorarbeiten dazu ist uns allen seit Jahren, Berichterstatter ist Herr Abgeordneter Dr. Sie-
nicht erst seit zwei Jahren, sondern seit vielen mer. Verzichtet das Haus auf mündliche Bericht-
Jahren bewußt. Seit dem Zusammenbruch wissen erstattung? —
wir, daß den Änderungen in der Sozialstruktur (Zustimmung.)
auch soziale Reformen folgen müssen, und um — Herr Berichterstatter, sind Sie einverstanden?
-
diese wirklich große Frage hat es sich hier gehan- (Abg. Dr. Siemer: Einverstanden! — Abg.
delt. Dr. Menzel: Nein, wir verzichten nicht!)
Abschließend würde ich hinsichtlich des Bei- — Sie verzichten nicht auf Berichterstattung? Dann
rates an den Arbeitsminister, wenn er da wäre, erteile ich dem Berichterstatter das Wort zur Be-
einmal die Bitte richten: Geben Sie Meinungsfrei- richterstattung.
heit! Das ist das erste. Nicht die Bürokratie, son-
dern die Sachverständigen sollen sprechen. Zwei- Dr. Siemer (CDU/CSU), Berichterstatter: Herr
tens: Arbeiten Sie systematisch! Das scheint mir Präsident! Meine Damen und Herren! Der Aus-
nach allem, was wir besprochen haben, ebenfalls schuß für auswärtige Angelegenheiten hatte in
erforderlich zu sein. Drittens: Handeln Sie rasch! seiner 4. Sitzung vom 11. Januar 1954 eine Aus-
Und viertens: Geben Sie Lösungen, die man drau- sprache über den Entwurf eines Gesetzes zu dem
ßen versteht; denn das ist es, was wir alle er- Abkommen vom 3. Juni 1953 über den Freund-
reichen sollten: daß dieses verworrene System schafts-, Handels- und Konsularvertrag zwischen
einer sozialen Sicherung, das wir in diesen 80 Jah- Deutschland und den Vereinigten Staaten von
ren in Gottes Namen bekommen haben, weil es so Amerika vom 8. Dezember 1923. Das Ergebnis der
gewachsen ist, endlich dem Mann und der Frau, Ausschußberatungen liegt Ihnen in Drucksache
die es angeht, auch verständlich erscheint. Das 218 vor. Zwischen Deutschland und den Vereinig-
sollte unser Anliegen sein. ten Staaten waren die politischen, wirtschaftlichen
(Beifall bei der SPD.) und kulturellen Beziehungen in einem Freund-
schafts-, Handels- und Konsularvertrag geregelt,
Vizepräsident Dr. Schmid: Meine Damen und der seit dem 8. Dezember des Jahres 1923 bis zum
Herren, es sind keine Redner mehr vorgemerkt. Ausbruch der Feindseligkeiten mit unwesentlichen
Wünscht noch jemand das Wort? — Das scheint Abänderungen aus den Jahren 1925 und 1935 Gel-
nicht der Fall zu sein. Dann erkläre ich, daß tung hatte. Dieser Vertrag war also sowohl vor
Punkt 3 der Tagesordnung erledigt ist. wie auch während der nazistischen Zeit in Geltung.
Wir haben noch vier, genauer: noch drei Punkte In den letzten Jahren nach der Kapitulation war
zu erledigen; ich kann mitteilen, daß eine inter- insbesondere der Wunsch beider Regierungen, den
fraktionelle Vereinbarung darüber abgeschlossen Vertrag baldmöglichst wieder in Kraft zu setzen,
worden ist, daß Punkt 6 der Tagesordnung — be- wiederholt bekundet worden. Einverständnis wurde
treffend Beauftragung von Einrichtungen der darüber während des Kanzlerbesuches im vorigen
freien Wohlfahrtspflege mit der nichtgewerbs Jahr in den USA erzielt. Durch ein Interims-
2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954 1431
(Dr. Siemer)
abkommen wurde nunmehr am 3. Juni des Jahres dem Hohen Hause die Annahme des Gesetzent-
1953 die Unterzeichnung in Bonn vorgenommen. wurfs — Drucksache 71 — unverändert nach der
Das Abkommen liegt Ihnen gleichzeitig vor. Vorlage zu empfehlen.
Nun bestimmt das Grundgesetz in Art. 59 Abs. 2,
daß Verträge, welche die politischen Beziehungen Vizepräisident Dr. Schmid: Ich danke dem Herrn
des Bundes regeln oder sich auf Gegenstände der Berichterstatter.
Bundesgesetzgebung beziehen, der Zustimmung Ich rufe auf zur zweiten Beratung des Gesetzes.
oder der Mitwirkung der jeweils für die Bundes- Art. I. — Keine Wortmeldungen. Art. II, —
gesetzgebung zuständigen Körperschaften in der Art. III, — Art. IV, — Einleitung und Überschrift.
Form eines Bundesgesetzes bedürfen. Mit dem Ab- — Wer für die Annahme dieser Bestimmungen ist,
kommen der Bundesregierung vom 3. Juni 1953 den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe!
wird der Freundschafts-, Handels- und Konsular- Enthaltungen? — Ich stelle einstimmige An-
vertrag zwischen Deutschland und den Vereinigten nahme fest. Damit ist die zweite Beratung abge-
Staaten von Amerika wieder in Kraft gesetzt. Der schlossen.
Status, den die Vereinigten Staaten in Deutsch- Ich rufe auf zur
land einerseits haben und der sich aus der beson-
deren Lage der Bundesrepublik ergibt, wurde dritten Beratung.
durch besondere Erklärungen, die diesem Abkom- Ich eröffne die allgemeine Aussprache und erteile
men beigelegt sind, ausgenommen bzw. festgelegt. das Wort dem Abgeordneten Dr. Lütkens.
In diesen Erklärungen wurde erstens zugesagt, daß
mit dem Tage des Inkrafttretens des Interims-
Dr. Lütkens (SPD): Herr Präsident! Meine Damen
abkommens weitere Beschlagnahmungen an deut-
schem Eigentum und Vermögen aufhören sollten. und Herren! Die sozialdemokratische Fraktion be-
Das gilt vom 17. April 1953 an. Andererseits ver- grüßt die Inkraftsetzung des alten Freunschafts-
pflichtete sich die Regierung der Bundesrepublik Handels- und Konsularvertrags mit den Vereinig-
Deutschland, sich nicht auf die Bestimmungen des ten Staaten von 1923. Sie glaubt, daß sie den nach-
Art. I Abs. 4 des Freundschafts-, Handels- und barlichen Beziehungen zu der großen Republik jen-
Konsularvertrages zwischen Deutschland und den seits des Wassers förderlich sein wird, die uns so-
Vereinigten Staaten vom Jahre 1923 zu berufen, wie allen Mitgliedern dieses Hohen Hauses, wie ich
um die Rückgabe der in der Zeit zwischen dem meine, am Herzen liegen.
11. Dezember 1941 und dem Inkrafttreten des nun Für die Verhandlungen über eine Neufassung des
unterzeichneten Abkommens oder dem Inkraft- Vertrags, die vorgesehen sind, sind von meiner
treten der Verträge vom 26. Mai 1952, also hier des Fraktion einige Wünsche vorzutragen. Das wird
in Bonn unterzeichneten Deutschland-Vertrages, je noch ein anderer Sprecher meiner Fraktion tun. Ich
nachdem, welcher Zeitpunkt früher liegt, von der beschränke mich auf einige Bemerkungen zu der
Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika Erklärung des Herrn Bundeskanzlers vom 3. Juni
) enteigneten deutschen Vermögenswerte zu erwir- 1953, die Sie auf Seite 7 der Drucksache '71 vor-
ken. Das war der erste Ausnahmefall. finden.
Zweitens wurde in dem Abkommen weiter zu- Mit der Erklärung des Herrn Bundeskanzlers
gesagt, daß die Bestimmungen des Art. VI des und damit wohl auch der Bundesregierung wird
Freundschaftsvertrages vom Jahre 1923 durch darauf verzichtet, die Rückgabe des in den Ver-
Kündigung außer Kraft gesetzt werden sollten. Im einigten Staaten beschlagnahmten deutschen Ver-
übrigen trat der Freundschaftsvertrag von 1923 mögens mit Berufung auf den alten Freundschafts-
wieder unverändert in Kraft. vertrag von 1923 zu erwirken. Ich darf Ihnen den
Der Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten Art. I Abs. 4 dieses alten Vertrages in abgekürzter
hält den Vertrag für sehr bedeutsam. Neben der Form vorlesen: „Die Staatsangehörigen . . . sollen
stärkeren Pflege politischer, wirtschaftlicher und Schutz und Sicherheit für Person und Eigentum
kultureller Beziehungen kommt die Wirkung dieses durchaus erhalten" — „most constant protection
Freundschaftsvertrages den deutschen wie den and security", wie es im englischen Text heißt —
amerikanischen Wirtschaftskreisen besonders zu- „und sollen ... in dem Umfange Schutz genießen,
gute. Die bisherigen Einreiseschwierigkeiten wer- I wie das Völkerrecht es vorschreibt." Das Völker-
den behoben. Eigentumserwerb deutscher Kauf- recht sieht, wie ich hinzufügen darf. nach seiner
leute in USA ist wieder möglich. Der längerfristige neueren Entwicklung auch das individuelle Klage-
Aufenthalt deutscher Kaufleute in USA ist durch recht von Staatsangehörigen der Unterzeichnerstaa-
das Treaty Merchant Visum nach dem Freund- ten vor. Der Artikel fährt dann fort: „Ihr Eigen-
schaftsvertrag bedeutend erleichtert worden. Dieser tum soll ihnen nicht ohne ordentliches Rechtsver-
Freundschaftsvertrag ist zwar nur eine Art Präli- fahren und nicht ohne angemessene Entschädigung
minarvertrag für einen neuen Freundschafts-, Han- genommen werden."
dels- und Konsularvertrag mit den Vereinigten Meine Damen und Herren, ich darf zunächst
Staaten von Amerika; denn beide Regierungen sind einige ergänzende Ausführungen zu dem soeben
übereingekommen, den alten Vertrag alsbald durch erstatteten Bericht über die Beratungen des Aus-
einen zeitgemäßen umfassenden neuen Vertrag zu wärtigen Ausschusses machen. Ich glaube, daß in
ersetzen. Wie uns mitgeteilt worden ist, haben die diesem Bericht unterlassen worden ist, wenn ich
Verhandlungen darüber bereits begonnen. mich so ausdrücken darf, Herr Kollege Dr. Siemer,
In USA hat der Senatsausschuß für auswärtige auf einen Teil dieser Beratungen hinzuweisen, der,
Angelegenheiten der Vereinigten Staaten das Ab- wie mir scheint, von einiger Bedeutung ist, weil
kommen bereits gebilligt. Der Bundesrat hat in aus ihm klar hervorgeht, daß die Erklärung des
seiner 113. Sitzung vom 17. Juli 1953 ebenfalls be- Herrn Bundeskanzlers vom 3. Juni 1953 nicht ein
schlossen, gegen die Vorlage keine Einwendungen Teil der den gesetzgeberischen Körperschaften jetzt
zu erheben. Der Ausschuß für auswärtige An- zur Ratifizierung unterbreiteten Vorlage ist. Auf
gelegenheiten, für den ich Bericht zu erstatten eine Intervention im Auswärtigen Ausschuß hat
habe, faßte ebenfalls den einstimmigen Beschluß, die Bundesregierung — ich bedauere, daß sie nicht
1432 2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954
(Dr. Lütkens)
vertreten ist, wieder einmal nicht, meine Damen -satzderUnvletzichktdesprivatenEgtums
und Herren! — — ausdrücklich in sich verankert hat, und sie waren
(Zuruf von der Mitte: Da ist ja der Herr darüber hinaus durch diesen zusätzlichen Rechtstitel
Staatssekretär!) geschützt, den der Freundschaftsvertrag von 1923
— Welcher Staatssekretär? Das ist der Staatssekre- deutschen Staatsangehörigen und insbesondere und
tär eines Ministeriums, aber nicht der des Auswär- in erster Linie der deutschen Regierung in dieser
tigen Amts, das federführend ist. Sie werden sich Hinsicht gab. Es handelt sich um einen Artikel, der
erinnern, daß vor sechs Wochen dieses Abkommen nach dem ersten Weltkrieg auf Grund der unerfreu-
schon einmal von der Tagesordnung abgesetzt wer- lichen Erfahrungen in dieser Eigentumsfrage, die
den mußte, weil kein Vertreter des Auswärtigen man im ersten Weltkrieg gemacht hatte, auf aus-
Amts in Bonn zu finden war, der die Angelegen- drücklichen Wunsch und auf Anregung der Ver-
heit hätte hier vertreten können. treter der amerikanischen Regierung in das Ab-
kommen von 1923 eingesetzt worden war.
(Hört! Hört! bei der SPD.)
Die endgültige Enteignung des deutschen Ver-
In dieser Woche ist auf Wunsch des Auswärtigen mögens in den Vereinigten Staaten ist nicht wäh-
Amts der Punkt trotz gewisser Schwierigkeiten in- rend, sondern nach dem Kriege erfolgt, und zwar
folge der Straßburger Verhandlungen auf der durch den War Claims Act. Neuerdings liegt der
Tagesordnung festgehalten worden. Heute stelle Öffentlichkeit ein Bericht eines Senatsausschusses
ich fest, daß das Interesse des Auswärtigen Amts unter dem Vorsitz des Senators Dirksen vor, der
so groß ist, daß es nicht vertreten ist. Ich verzichte sich mit den Vorgängen um das deutsche Privat-
bei der Hoffnungslosigkeit des Falles darauf, eigentum in den Vereinigten Staaten befaßt. In
(Lachen in der Mitte) diesem Bericht werden drei Männer, darunter der
einen Antrag dahin zu stellen, einen Vertreter des auch sonst wenig vorteilhaft bekannte Herr
Auswärtigen Amts vorzuladen, und überlasse es H. Dexter White, als die drei Männer dargestellt —
dem Urteil des Hohen Hauses in seiner Gänze, was und ich darf zitieren —, „die die verursachenden
für ein Verhalten von dieser Behörde in einem Kräfte dafür waren, daß die Politik der entschädi-
demokratischen Lande hier zur Schau getragen gungslosen Enteignung angenommen wurde, ob-
wird. wohl dies im Gegensatz zu der historischen Politik
(Beifall bei der SPD.) der Vereinigten Staaten stand". Der Bericht be-
zeichnet diese drei Männer als Agenten eines
Ich darf auf das vorhin Ausgeführte zurückkom- bolschewistischen Spionagerings.
men. Der Vertreter des Auswärtigen Amts hat in
jener Beratung im Auswärtigen Ausschuß aus- (Hört! Hört! bei der SPD.)
drücklich festgestellt, daß der Abdruck der Er- Das ist ein offizielles Senatsdokument, auf das ich
klärung vom 3. Juni 1953 nur dok um entari- mich beziehe. Ich darf wohl annehmen, daß der
schen Charakter habe, also nur zur Unterrich- Herr Bundeskanzler, als er die Erklärung unter-
tung dieses Hohen Hauses und der anderen gesetz- schrieb, über diese Zusammenhänge noch nicht
gebenden Körperschaften dienen solle und daß er orientiert war, da er sich sonst doch wohl kaum in
nicht gleichzeitig mit dem uns vorliegenden Ab- solch gefährliche Nachbarschaft begeben haben
kommen hier zur Ratifikation vorliege. würde.
Ich glaube, die Klarstellung hätte vielleicht in In der Tat, meine Damen und Herren, der Gegen-
den Bericht aufgenommen werden sollen, und ich satz zu den ehrwürdigen und tief verwurzelten
sehe, daß der Herr Berichterstatter mir durch Grundsätzen der amerikanischen Demokratie, der
Nicken zustimmt. Er wird also mit mir auch darin in dieser Behandlung des deutschen Eigentums
übereinstimmen, daß es zur Ergänzung dieses Be- nach dem letzten Kriege liegt, ist erschreckend. Es
richts von einiger Wichtigkeit ist, wenn die Erklä- ist ein altes Prinzip. Schon in dem Friedensvertrag
rungen, die ich Ihnen hier zu diesem Fall abgege- von 1783, den die eben befreiten Kolonien mit
ben habe, protokollarisch festgehalten werden. England schlossen, ist entsprechend diesen Grund-
Meine Damen und Herren, das deutsche Eigentum sätzen der amerikanischen Demokratie ausdrück-
in den Vereinigten Staaten ist nun entgegen dem lich dafür Vorsorge getroffen worden, daß die
Art. I Abs. 4, den ich hier verlesen habe, ohne ein Eigentumsverpflichtungen gegenüber Kriegführen-
ordentliches Rechtsverfahren, ohne das geheiligte den aufrechterhalten werden. Und wenige Jahre
due process of law, das es in den Vereinigten Staa- später, im Jahre 1794 schon, als die dann selbstän-
te gibt, und auch ohne eine angemessene Entschä- digen Vereinigten Staaten auf dem Höhepunkt der
digung fortgenommen worden. Unter diesem Ver- Krise mit England wegen der Neutralitätsver-
mögen befinden sich sehr viele kleine Vermögens- letzungen den sogenannten Jay-Vertrag abschlossen,
stücke, besonders Nachlässe, viele Verfügungen von gab der bekannte und berühmte Hamilton im
Erblassern, von amerikanischen Bürgern, zugunsten amerikanischen Senat folgende Erklärung ab —
deutscher Verwandter. Wenn der Herr Familien- ich darf sie Ihnen verlesen —:
minister damals schon eine Institution in diesem Keine Macht der Sprache, die mir zur Verfü-
Lande gewesen wäre, hätte er vielleicht mit Rück- gung steht, kann den Abscheu ausdrücken, den
sicht auf diese Verhältnisse einen Einspruch gegen ich bei dem Gedanken empfinde, daß das
die Erklärung vom 3. Juni erhoben, mit der ich Eigentum eines Individuums, welches in recht-
mich hier zu beschäftigen habe. Jedenfalls scheint mäßiger Weise in Friedenszeiten dem Schutz
es mir schwer verständlich, wie eine Regierung unserer Regierung und unserer Gesetze anver-
ohne zwingenden Grund auf solche rechtlich und traut wurde, wegen Streitfragen zwischen
moralisch wohlbegründeten Ansprüche verzichten Nationen verletzt wird. Nach meiner Ansicht
kann, nämlich auf Ansprüche auf deutsches privates vereinen sich Moral und politische Auffassung
Vermögen im Ausland. Solche Vermögensstücke sind in der Verurteilung solcher Maßnahmen.
durch allgemeine völkerrechtliche Regelungen ge- Ich glaube, wir alle können uns nur darüber
schützt. Sie sind in den Vereinigten Staaten durch die freuen, daß sich in den Vereinigten Staaten seit
amerikanische Verfassung geschützt, die den Grund Jahren in wachsendem Maße eine Einsicht in die
2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954 1433
(Dr. Lütkens)
moralische und rechtliche Bedeutung dieser Frage Meine Damen und Herren! Dem Abkommen als
durchsetzt, und zwar in der Bevölkerung und solchem wird meine Fraktion auch in dritter
neuerdings erfreulicherweise auch in den gesetz- Lesung zustimmen, da für das Abkommen und
gebenden Körperschaften, vor allen Dingen im seine sachliche Bedeutung die Erklärung des Herrn
amerikanischen Senat. Man kann nur hoffen, daß Bundeskanzlers vom 3. Juni 1953 unerheblich ist.
diese Tendenz sich durchsetzt, damit das Recht ge- (Beifall bei der SPD.)
heilt werde, das Recht, das das Herz der westlichen
Welt ist, deren Führerschaft die Vereinigten Staa-
ten als Vorkämpfer zu übernehmen glauben und Vizepräsident Dr. Schmid: Das Wort zur Ge-
übernehmen. schäftsordnung hat der Abgeordnete Dr. Hammer.

Meine Damen und Herren, die Begründung, die Dr. Hammer (FDP): Meine Damen und Herren!
der Vorlage beigegeben wird, will glauben machen, Den Freien Demokraten sind bei dem Vortrag des
es hätte der Inkraftsetzung des Vertrages von 1923 Herrn Kollegen L ü t k e n s im Augenblick einige
bedurft, und sie wäre nun als ein Erfolg der Reise Bedenken gekommen, und wir haben den Ein-
des Herrn Bundeskanzlers in die Vereinigten Staa- druck, daß man doch kaum ohne Anwesenheit von
ten Wirklichkeit geworden. Gegenüber solchen Vertretern des Auswärtigen Amts weiterverhan-
Behauptungen sind allerdings erhebliche Zweifel deln könnte.
am Platze. Es ist doch wohl so, daß das Oberste (Sehr richtig! bei der SPD.)
Gericht der Vereinigten Staaten, der Supreme
Court, in der Entscheidung Clark versus Allen Wir machen Ihnen deshalb den Vorschlag, die Be-
diesen Konsular- und Freundschaftsvertrag mit ratung so lange auszusetzen. Sollte es wegen der
Deutschland vom Jahre 1923 als weiter in Kraft zeitlichen Situation im Augenblick nicht möglich
befindlich bezeichnet hat, sein, das Erscheinen von Herren des Auswärtigen
Amts hier zu erreichen, dann muß die Konsequenz
(Abg. Dr. Menzel: Hört! Hört!) daraus gezogen und bis zur nächsten Tagung ge-
soweit nicht einzelne seiner Bestimmungen mit wartet werden.
dem Trading-with-the-enemy-Act in Konflikt
kämen. Der Trading-with-the-enemy-Act aus Vizepräsident Dr. Schmid: Wird das Wort zu
dem Kriege deckt aber nicht die Beschlagnahme- diesem Antrag gewünscht? — Der amtierende
maßnahmen, die nach dem Kriege durch den War Präsident kann über einen solchen Antrag nicht
Claims Act durchgeführt worden sind. Insofern bestimmen; das Haus muß beschließen. Ich formu-
steht nach diesem Urteil Clark versus Allen des liere den Antrag. Sie stellen den Antrag, die Be-
Supreme Court fest, daß der Vertrag von 1923 mit ratung auszusetzen, bis ein Vertreter des Auswär-
Deutschland noch in Kraft ist. Die Haltung des tigen Amts hier erscheint, der in der Lage ist, vor
State Department, das auf Grund dieses Vertrags dem Parlament dieses Gesetz zu vertreten.
schon im Jahre 1950, also vor der Erklärung über (Zustimmung bei der SPD.)
die Beendigung des Kriegszustandes, Konsularver-
tretungen der Bundesrepublik Deutschland zuge- Ich nehme an, daß Sie nicht damit sagen wollten,
lassen hat, beruht implizite auf dem gleichen daß wir so lange hier sitzen werden, bis ein be
Standpunkt. fugter Vertreter des Auswärtigen Amtes hier ist.
-
Ich habe zum Schluß nur noch eine Bemerkung (Heiterkeit.)
zu machen. Damit die Erklärung des Herrn Bundes- Ich nehme an, daß Sie, wie das übrige Haus, wohl
kanzlers vom 3. Juni 1953, wie sie auf Seite 7 ab- davon ausgehen werden, daß wir die Beratungen
gedruckt ist, Wirksamkeit hätte, hätte die in ihr um 18 Uhr abschließen.
enthaltene Änderung des alten Abkommens in dem (Abg. Albers: Lassen wir doch vertagen!)
uns vorgelegten Abkommen niedergelegt werden - Sie wollen vertagen?
müssen. Das ist nicht geschehen. Darüber besteht
zwischen der Regierung und allen Fraktionen dieses (Abg. Albers: Ich stelle Antrag auf Ver-
Hohen Hauses Einstimmigkeit. Die Regierung hat tagung!)
es vielleicht nicht gewagt, diesem Hohen Hause ein — Sie wechseln also diesen Antrag um in einen
zweites Mal offen einen rechtlich unbegründeten Antrag auf Absetzung von der heutigen Tages-
Verzicht auf rechtlich wohlbegründete Ansprüche ordnung.
auf deutsches Privateigentum im Ausland vorzu- (Abg. Mellies: Punkt 1 der nächsten
legen. Die Bundesregierung ist darüber hinaus aber Tagesordnung!)
nach Art. 14 Abs. 3 des Grundgesetzes zu einem — Gleichzeitig wird das Haus beschließen, diesen
solchen Rechtsverzicht nicht befugt. Denn dieser Punkt als Punkt 1 auf die nächste Tagesordnung
Artikel bestimmt, daß eine Enteignung nur durch zu setzen.
ein Gesetz erfolgen kann, das gleichzeitig die Ent- (Abg. Albers: Jawohl!)
schädigung regelt. Das wird in dem uns vorliegen-
den Fall im übrigen in keiner Weise getan. Die Än- Ist das Haus einverstanden? — Wer einverstanden
derung des Vertrags und dieser Verzicht bedürften ist, der möge ein Handzeichen geben. — Gegen-
staatsrechtlich der Ratifizierung durch den Bundes- probe! — Enthaltungen? — Bei einer Enthaltung
tag und die gesetzgebenden Körperschaften. Diesem einstimmig angenommen.
Hohen Hause liegt die Erklärung vom 3. Juni, wie (Abg. Dr. Menzel: Die Blamage ist ja doch
ich ausgeführt habe, nicht mehr vor. Unter diesen da! Vielleicht lernen sie daraus etwas!)
Umständen kann die amerikanische Regierung die
Erklärung vom 3. Juni nicht bona fide annehmen, Ich rufe Punkt 5 der Tagesordnung auf:
(Sehr gut! bei der SPD) Erste Beratung des von der Fraktion des
GB/BHE eingebrachten Entwurfs eines Ge-
und sie kann sich nicht darauf verlassen, daß sie setzes zur Behebung der Berufsnot der
etwa in verfassungsmäßiger Ordnung wäre. älteren Angestellten (Drucksache 346).
1434 2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954
(Vizepräsident Dr. Schmid)
Besteht die Meinung, daß dieser Punkt der — Ich beantrage jedenfalls, den Punkt von der
Tagesordnung bis 18 Uhr erledigt werden kann? heutigen Tagesordnung abzusetzen, weil wir bis
(Abg. Horn: Zur Geschäftsordnung!) 18 Uhr damit nicht fertig werden.
— Herr Horn zur Geschäftsordnung. Bitte!
Horn (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen Vizepräsident Dr. Schmid: Wird dazu das Wort
und Herren! Ich halte es für völlig unmöglich, daß gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Ich lasse ab-
wir die erste Beratung des vom GB/BHE einge- stimmen. Wer für diesen Antrag ist, den bitte ich,
brachten Gesetzentwurfs zur Behebung der die Hand zu erheben. — Gegenprobe! — Enthal-
Berufsnot der älteren Angestellten bis um 18 Uhr tungen? — Bei Enthaltung der Antragsteller an-
erledigen können. Wenn zuerst eine Begründung genommen.
erfolgt und dann die Fraktionen sich an der Debatte
beteiligen, ist es ausgeschlossen, daß wir damit bis Meine Damen und Herren, ich habe noch be-
18 Uhr fertig werden. Ich würde also beantragen, kanntzugeben, daß die für heute vorgesehene
auch diesen Punkt von der heutigen Tagesordnung Sitzung des Rechtsausschusses nach einer Mittei-
abzusetzen und ihn als Punkt 2 auf die Tagesord- lung des Herrn Vorsitzenden des Ausschusses aus-
nung der nächsten Sitzung zu setzen. fällt und morgen vormittag 9 Uhr 30 stattfinden
(Abg. Dr. Menzel: Nein, nicht Punkt 2!) soll.
Ich beantrage, diesen Punkt von der heutigen Damit ist die Tagesordnung erledigt.
Tagesordnung abzusetzen und auf die nächste
Woche zu vertagen. Ich berufe die nächste, die 31. Sitzung des Deut-
(Abg. Sabel: Ja, aber keine Reihenfolge!) schen Bundestages auf Mittwoch, den 26. Mai, vor-
— Ich habe auch zunächst nichts anderes gesagt mittags 9 Uhr, ein und schließe die 30. Sitzung
als dies. des Deutschen Bundestages.
(Abg. Sabel: Nur nicht als Punkt 2! Wir
wollen den Ältestenrat nicht binden!) (Schluß der Sitzung: 17 Uhr 35 Minuten.)
2. Deutscher Bundestag — 30. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Mai 1954 1435

Anlage

Antrag
der Fraktion der SPD
(Umdruck 18)
zur Beratung der Großen Anfrage der Fraktion der SPD betreffend

Pressepolitische Pläne der Bundesregierung

(Drucksache 313)

Der Bundestag wolle beschließen:

Die Bundesregierung wird ersucht, zu erklären, daß


sie von allen Plänen Abstand nimmt, die geeignet
sind, die Unabhängigkeit und die Freiheit der
Presse zu beeinträchtigen.

Bonn, den 31. März 1954

undFraktio Olenhaur

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