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Plenarprotokoll 14/114

Deutscher Bundestag
Stenographischer Bericht

114. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Inhalt:

Benennung der Abgeordneten Horst – Zweite und dritte Beratung des von
Schmidtbauer (Nürnberg) und Gerhard der Bundesregierung eingebrachten
Scheu als Mitglieder für den Stiftungsrat „Hu- Entwurfs eines Gesetzes zur Er-
manitäre Hilfe“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10749 A richtung einer Stiftung „Erinne-
rung, Verantwortung und Zu-
Erweiterung der Tagesordnung . . . . . . . . . . . 10749 B
kunft“
Absetzung der Tagesordnungspunkte 19 sowie (Drucksachen 14/3459, 14/3758,
21 a und b . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10750 C 14/3759) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10751 B
Änderung der Tagesordnung . . . . . . . . . . . . . 10750 C b) Beschlussempfehlung und Bericht des
Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . 10750 D Innenausschusses zu dem Antrag der
Abgeordneten Wolfgang Gehrcke,
Begrüßung ausländischer Gäste, unter anderem Dr. Heinrich Fink, weiterer Abgeordne-
Abgeordnete des polnischen Parlamentes des ter und der Fraktion PDS: Zügige Ent-
Sejm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10752 A schädigung für Zwangsarbeiterinnen
und Zwangsarbeiter und Errichtung
einer Bundesstiftung
Tagesordnungspunkt 7:
(Drucksachen 14/1694, 14/3758) . . . . 10751 C
a) – Zweite und dritte Beratung des von
c) Zweite und dritte Beratung des von den
den Abgeordneten Bernd Reuter,
Abgeordneten Dr. Christa Luft,
Dieter Wiefelspütz, Dr. Peter Struck
Heidemarie Ehlert, weiteren Abgeord-
und der Fraktion SPD, den Abgeord-
neten und der Fraktion PDS eingebrach-
neten Wolfgang Bosbach, Friedrich
ten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
Merz, Michael Glos und der Fraktion
rung des Einkommensteuergesetzes
CDU/CSU, den Abgeordneten
(Drucksachen 14/472, 14/3731, 14/3737) 10751 C
Volker Beck (Köln), Kerstin Müller
(Köln), Rezzo Schlauch und der Otto Graf Lambsdorff, Beauftragter des Bun-
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- deskanzlers für die Stiftungsinitiative Deut-
NEN, den Abgeordneten Jürgen scher Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10752 A
W. Möllemann, Dr. Max Stadler,
Wolfgang Bosbach CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 10754 C
Dr. Wolfgang Gerhardt und der Frak-
tion F.D.P. sowie den Abgeordneten Bernd Reuter SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10758 A
Ulla Jelpke, Dr. Gregor Gysi und der
Dr. Max Stadler F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10759 D
Fraktion PDS eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Errich- Volker Beck (Köln) BÜNDNIS 90/DIE
tung einer Stiftung „Erinnerung, GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10761 A
Verantwortung und Zukunft“
Dr. Peter Eckardt SPD . . . . . . . . . . . . . . . . 10762 C
(Drucksachen 14/3206, 14/3758,
14/3759) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10751 A Albert Deß CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 10762 D
II Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Ulla Jelpke PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10763 D Ausbildungsförderung für Studie-


rende
Dietmar Nietan SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10765 C
Dr. Hans-Peter Uhl CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 10767 A – zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Dr. Gerhard Friedrich (Erlangen),
Christian Simmert BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 10768 D Angelika Volquartz, weiterer Abgeord-
Hans Eichel, Bundesminister BMF . . . . . . . . 10769 B neter und der Fraktion CDU/CSU: Eck-
punkte für eine BAföG-Reform
Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . 10771 A – zu dem Antrag der Abgeordneten
Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10773 D Maritta Böttcher, Dr. Heinrich Fink,
Dr. Ilja Seifert und der Fraktion PDS:
Strukturelle Erneuerung der Ausbil-
Zusatztagesordnungspunkt 3: dungsförderung

Vereinbarte Debatte zur Steuerpolitik . . . 10771 C – zu der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung: Dreizehnter Bericht nach
Joachim Poß SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10771 C § 35 des Bundesausbildungsförde-
Gerda Hasselfeldt CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 10776 B rungsgesetzes zur Überprüfung der
Bedarfssätze, Freibeträge sowie Vom-
Kerstin Müller (Köln) BÜNDNIS 90/DIE hundertsätze und Höchstbeträge nach
GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10778 D § 21 Abs. 2
Carl-Ludwig Thiele F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . 10781 A (Drucksachen 14/2905, 14/2031, 14/2789,
14/1927, 14/2811 Nr. 1, 14/3730) . . . . 10797 A
Oswald Metzger BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 10783 C
Stephan Hilsberg SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10797 C
Carl-Ludwig Thiele F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . 10784 A
Cornelia Pieper F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . 10798 C
Roland Claus PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10785 A
Dr. Gerhard Friedrich (Erlangen) CDU/CSU . 10802 B
Hans Eichel, Bundesminister BMF . . . . . . . . 10786 C
Matthias Berninger BÜNDNIS 90/DIE
Friedrich Merz CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 10791 D GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10804 C
Hans Eichel, Bundesminister BMF . . . . . . . . 10795 B Cornelia Pieper F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10806 C
Peter Rauen CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . 10796 A Maritta Böttcher PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10808 A
Matthias Berninger BÜNDNIS 90/DIE
Zusatztagesordnungspunkt 4: GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10808 C

Beschlussempfehlung des Ausschusses Edelgard Bulmahn, Bundesministerin BMBF 10809 A


nach Artikel 77 des Grundgesetzes zu dem Cornelia Pieper F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . 10810 D
Gesetz zur Senkung der Steuersätze und
Angelika Volquartz CDU/CSU . . . . . . . . . . . 10813 A
zur Reform der Unternehmensbesteuerung
(Steuersenkungsgesetz)
(Drucksachen 14/2683, 14/3074, 14/3366,
Tagesordnungspunkt 27:
14/3640, 14/3760) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10796 D
Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . 10797 A
Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10800 A a) Erste Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung von Vor-
Tagesordnungspunkt 8: schriften über die Tätigkeit der Wirt-
schaftsprüfer (Wirtschaftsprüferord-
Beschlussempfehlung des Ausschusses für nungs-Änderungsgesetz)
Bildung, Forschung und Technik- (Drucksache 14/3649) . . . . . . . . . . . . . 10815 A
folgenabschätzung
b) Erste Beratung des von der Bundesregie-
– zu dem Antrag der Abgeordneten rung eingebrachten Entwurfs eines Ge-
Stephan Hilsberg, Brigitte Wimmer setzes zu dem Protokoll vom 22. März
(Karlsruhe), weiterer Abgeordneter und 2000 zur Änderung des Überein-
der Fraktion SPD sowie der Abgeord- kommens vom 9. Februar 1994 über
neten Matthias Berninger, Hans-Josef die Erhebung von Gebühren für die
Fell, weiterer Abgeordneter und der Benutzung bestimmter Straßen mit
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schweren Nutzfahrzeugen
NEN: Für eine Modernisierung der (Drucksache 14/3651) . . . . . . . . . . . . . 10815 A
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 III

d) Erste Beratung des von den Fraktionen Tagesordnungspunkt 28:


SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Abschließende Beratungen ohne Aus-
eingebrachten Entwurfs eines Fünf-
sprache
zehnten Gesetzes zur Änderung des
Bundeswahlgesetzes a) – Zweite und dritte Beratung des von
(Drucksache 14/3764) . . . . . . . . . . . . . 10815 D den Fraktionen SPD und BÜND-
e) Antrag der Abgeordneten Rita Streb- NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrach-
Hesse, Dr. Margrit Wetzel, weiterer ten Entwurfs eines Gesetzes zur
Abgeordneter und der Fraktion SPD so- Änderung des Schornsteinfeger-
wie der Abgeordneten Albert Schmidt gesetzes und anderer schornstein-
(Hitzhofen), Kerstin Müller (Köln), fegerrechtlicher Vorschriften
Rezzo Schlauch und der Fraktion (Drucksachen 14/3333, 14/3753) . 10816 A
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Rege- – Zweite und dritte Beratung des von
lung des Anwohnerparkens durch der Bundesregierung eingebrachten
Städte und Gemeinden Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
(Drucksache 14/1258) . . . . . . . . . . . . . 10815 D rung des Schornsteinfegergesetzes
f) Antrag der Abgeordneten Dr. Evelyn und anderer schornsteinfegerecht-
Kenzler, Ulla Jelpke, weiterer Abgeord- licher Vorschriften
neter und der Fraktion PDS: Änderung (Drucksachen 14/3650, 14/3753) . 10816 A
des Ausländergesetzes b) Zweite und dritte Beratung des von der
(Drucksache 14/668) . . . . . . . . . . . . . . 10815 C Bundesregierung eingebrachten Ent-
g) Antrag der Abgeordneten Dr. Helmut wurfs eines Fünften Gesetzes zur Än-
Haussmann, Ulrich Irmer, weiterer Ab- derung des Aufenthaltsgesetzes/EWG
geordneter und der Fraktion F.D.P.: (Drucksachen 14/3274, 14/3788) . . . . 10816 B
Keine ersatzlosen Schließungen von c) Zweite und dritte Beratung des von den
Auslandsvertretungen Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE
(Drucksache 14/1751) . . . . . . . . . . . . . 10815 C GRÜNEN eingebrachten Entwurfs ei-
h) Antrag der Abgeordneten Angelika nes Gesetzes zur Änderung produkt-
Mertens, Angelika Graf (Rosenheim), haftungsrechtlicher Vorschriften
weiterer Abgeordneter und der Fraktion (Drucksachen 14/3371, 14/3756) . . . . 10816 C
SPD sowie der Abgeordneten d) Zweite und dritte Beratung des von der
Franziska Eichstädt-Bohlig, Kerstin Bundesregierung eingebrachten Ent-
Müller (Köln), weiterer Abgeordneter wurfs eines Gesetzes zur Änderung
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE des Gerätesicherheitsgesetzes und
GRÜNEN: Bekämpfung der illegalen des Chemikaliengesetzes
Kabotage und des Sozialdumpings (Drucksachen 14/3491, 14/3798) . . . . 10816 D
im Transportgewerbe
(Drucksache 14/3702) . . . . . . . . . . . . . 10815 C e) Zweite Beratung und Schlussabstim-
mung des von der Bundesregierung
in Verbindung mit eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Abkommen vom 21. Mai
1999 zwischen der Bundesrepublik
Zusatztagesordnungspunkt 5: Deutschland und dem Königreich
Weitere Überweisung im vereinfachten der Niederlande über die gegensei-
Verfahren tige Amtshilfe bei der Beitreibung
(Ergänzung zu TOP 27) von Steueransprüchen und der Be-
kanntgabe von Schriftstücken
Antrag der Abgeordneten Brunhilde Irber, (Drucksachen 14/3077, 14/3698) . . . . 10817 A
Dr. Eberhard Brecht, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion SPD, der Abgeordne- f) Beschlussempfehlung und Bericht des
ten Sylvia Voß, Matthias Berninger, weite- Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- und Reaktorsicherheit zu der Verord-
NIS 90/DIE GRÜNEN, der Abgeordneten nung der Bundesregierung: Verord-
Ernst Burgbacher, Hildebrecht Braun nung über die Erzeugung von Strom
(Augsburg), weiterer Abgeordneter und der aus Biomasse (Biomasseverordnung)
Fraktion F.D.P. sowie der Abgeordneten (Drucksachen 14/3489, 14/3574 Nr. 2.1,
Rosel Neuhäuser, Dr. Heinrich Fink, weite- 14/3801) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10817 B
rer Abgeordneter und der Fraktion PDS: Si- g) – m)
cherung der Volksfeste, des Markthan-
dels und des Schaustellergewerbes Beschlussempfehlungen des Petitions-
(Drucksache 14/3786) . . . . . . . . . . . . . . . 10815 D ausschusses
IV Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Sammelübersichten 175, 176, 177, Karl-Josef Laumann CDU/CSU . . . . . . . . . . . 10837 D


178, 179, 180, 181 zu Petitionen
Dr. Thea Dückert BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 10839 A
(Drucksachen 14/3687, 14/3688, 14/3689,
Dr. Irmgard Schwaetzer F.D.P. . . . . . . . . . . . . 10840 C
14/3690, 14/3691, 14/3692, 14/3693) . 10817 C
Dr. Heidi Knake-Werner PDS . . . . . . . . . . . . 10841 C
in Verbindung mit
Johannes Singhammer CDU/CSU . . . . . . . . . 10842 C

Zusatztagesordnungspunkt 6:
Tagesordnungspunkt 10:
Weitere abschließende Beratungen ohne
Aussprache Antrag der Fraktion der CDU/CSU: Wissen-
(Ergänzung zu TOP 28) schafts- und Hochschulzusammenarbeit
mit den Entwicklungs- und Transformati-
a) – e) onsländern stärken
Beschlussempfehlungen des Petitions- (Drucksache 14/3376) . . . . . . . . . . . . . . . 10843 D
ausschusses Klaus-Jürgen Hedrich CDU/CSU . . . . . . . . . 10843 D
Sammelübersichten 182, 183, 184, Frank Hempel SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10845 B
185, 186 zu Petitionen
Ulrike Flach F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10847 B
(Drucksachen 14/3793, 14/3794,
14/3795, 14/3796, 14/3797) . . . . . . . . 10818 A Dr. Uschi Eid, Parl. Staatssekretärin BMZ . . . 10848 B
Carsten Hübner PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10849 B

Zusatztagesordnungspunkt 7:
Tagesordnungspunkt 11:
Aktuelle Stunde betr. Absenkung der
Beiträge für die Bezieher von Arbeits- Zweite und dritte Beratung des von der
losenhilfe und die Folgen für die gesetz- Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
lichen Krankenkassen . . . . . . . . . . . . . . 10818 C eines Gesetzes über die Berufe in der Al-
tenpflege (Altenpflegegesetz)
Wolfgang Lohmann (Lüdenscheid) (CDU/CSU 10818 D
(Drucksachen 14/1578, 14/3736) . . . . . . . 10850 B
Regina Schmidt-Zadel SPD . . . . . . . . . . . . . . 10820 A
Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin
Detlef Parr F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10821 A BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10850 C
Katrin Dagmar Göring-Eckardt BÜNDNIS 90/ Maria Eichhorn CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 10852 A
DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10822 D
Irmingard Schewe-Gerigk BÜNDNIS 90/DIE
Dr. Ruth Fuchs PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10824 A GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10853 C
Ulrike Mascher, Parl. Staatssekretärin BMA . 10825 A Klaus Haupt F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10854 C
Dr. Heinrich Fink PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10826 B Monika Balt PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10855 B
Andrea Fischer, Bundesministerin BMG . . . . 10827 A Christa Lörcher SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10856 B
Rainer Eppelmann CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 10828 D
Eike Hovermann SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10829 B Tagesordnungspunkt 12:
Dr. Sabine Bergmann-Pohl CDU/CSU . . . . . 10830 D Antrag der Fraktionen SPD, CDU/CSU,
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P.:
Horst Schmidbauer (Nürnberg) SPD . . . . . . . 10832 A
Diskriminierung von Frauen bei den
Matthäus Strebl CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 10832 D Olympischen Spielen
(Drucksache 14/3769) . . . . . . . . . . . . . . . 10857 C
Maritta Böttcher PDS (Erklärung zur GO) . . 10822 D
Angelika Graf (Rosenheim) SPD . . . . . . . . . . 10857 C
Monika Brudlewsky CDU/CSU . . . . . . . . . . . 10858 D
Tagesordnungspunkt 9:
Winfried Hermann BÜNDNIS 90/DIE
Antrag der Fraktionen SPD und BÜND-
GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10860 A
NIS 90/DIE GRÜNEN: Stärkung des so-
zialen Zusammenhalts der Gesellschaft Sabine Leutheusser-Schnarrenberger F.D.P. . 10861A
durch Weiterentwicklung des Sozial-
Petra Bläss PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10861 D
staats und mehr Gerechtigkeit
(Drucksache 14/3787) . . . . . . . . . . . . . . . 10833 D Christine Lehder SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10862 B
Rudolf Dreßen SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10834 A Irmgard Karwatzki CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 10863 B
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 V

Tagesordnungspunkt 13: Joachim Tappe SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10864 D


Antrag der Abgeordneten Dr. R. Werner Rudolf Kraus CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 10867 A
Schuster, Joachim Tappe, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion SPD sowie der Joseph Fischer, Bundesminister AA . . . . . . . . 10868 C
Abgeordneten Dr. Angelika Köster- Joachim Günther (Plauen) F.D.P. . . . . . . . . . . 10871 D
Loßack, Hans-Christian Ströbele, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Carsten Hübner PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10872 B
NIS 90/DIE GRÜNEN: Afrikas Entwick- Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin
lung unterstützen BMZ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10873 C
(Drucksache 14/3701) . . . . . . . . . . . . . . . 10864 B
Dr. Karl-Heinz Hornhues CDU/CSU . . . . . . . 10875 B
in Verbindung mit
Dr. Uschi Eid BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . 10877 B

Zusatztagesordnungspunkt 8:
Tagesordnungspunkt 14:
Antrag der Abgeordneten Joachim Tappe,
Dr. Werner Schuster, weiterer Abgeordne- Antrag der Abgeordneten Birgit
ter und der Fraktion SPD sowie der Homburger, Dr. Hermann Otto Solms, wei-
Abgeordneten Angelika Köster-Loßack, terer Abgeordneter und der Fraktion F.D.P.:
Christian Ströbele, weiterer Abgeordneter Ökosteuer zurücknehmen
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Drucksache 14/3519) . . . . . . . . . . . . . . . 10877 D
NEN: Friedensbemühungen am Horn Rainer Brüderle F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10878 A
von Afrika verstärken
(Drucksache 14/3767) . . . . . . . . . . . . . . . 10864 B Wolfgang Grotthaus SPD . . . . . . . . . . . . . . . . 10879 B
in Verbindung mit Heinz Seiffert CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 10881 A
Peter Dreßen SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10881 C
Zusatztagesordnungspunkt 9: Dr. Reinhard Loske BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10883 C
Antrag der Abgeordneten Dr. Werner
Schuster, Joachim Tappe, weiterer Abge- Dr. Gregor Gysi PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10885 A
ordneter und der Fraktion SPD sowie der
Reinhard Schultz (Everswinkel) SPD . . . . . . 10887 D
Abgeordneten Dr. Angelika Köster-
Loßack, Hans-Christian Ströbele, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN: Demokratische Tagesordnungspunkt 15:
und friedliche Kräfte im Sudan unter- a) Zweite und dritte Beratung des von den
stützen Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/
(Drucksache 14/3768) . . . . . . . . . . . . . . . 10864 C DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
in Verbindung mit eines Gesetzes zur Ächtung der Ge-
walt in der Erziehung
(Drucksachen 14/1247, 14/3781) . . . . 10888 A
Zusatztagesordnungspunkt 10:
b) Beschlussempfehlung und Bericht des
Antrag der Abgeordneten Joachim Tappe, Ausschusses für Familie, Senioren,
Dr. Werner Schuster, weiterer Abgeordne- Frauen und Jugend zu dem Antrag der
ter und der Fraktion SPD sowie der Abge- Abgeordneten Sabine Jünger, Rosel
ordneten Dr. Angelika Köster-Loßack, Neuhäuser, weiterer Abgeordneter und
Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch der Fraktion PDS: Ächtung der Ge-
und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜ- walt in der Erziehung wirkungsvoll
NEN: Konflikt in der Region der Großen flankieren
Seen eingedämmt – nicht gelöst (Drucksachen 14/2720, 14/3761) . . . . 10888 A
(Drucksache 14/3791) . . . . . . . . . . . . . . . 10864 C
Margot von Renesse SPD . . . . . . . . . . . . . . . . 10888 B
in Verbindung mit
Ingrid Fischbach CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 10889 B
Ekin Deligöz BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . 10890 B
Zusatztagesordnungspunkt 11:
Klaus Haupt F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10891 C
Antrag der Abgeordneten Carsten Hübner,
Fred Gebhardt, weiterer Abgeordneter und Sabine Jünger PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10892 C
der Fraktion PDS: Abschiebestopp für
Rolf Stöckel SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10893 B
Flüchtlinge aus Äthiopien und Eritrea
(Drucksache 14/3547) . . . . . . . . . . . . . . . 10864 C Ronald Pofalla CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 10894 C
VI Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Ekin Deligöz BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . 10896 C f) Beschlussempfehlung des Petitionsaus-


schusses
Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin
BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10897 A Sammelübersicht 130 zu Petitionen
(Aufhebung der Urteile der „politischen
Sonderkammern“)
Tagesordnungspunkt 16:
(Drucksache 14/2718) . . . . . . . . . . . . . 10907 B
Beschlussempfehlung und Bericht des In-
nenausschusses zu dem Antrag der Abge-
g) Antrag der Fraktion PDS: Beendigung
ordneten Norbert Hauser (Bonn), Norbert
der Strafverfolgung für hoheitliches
Röttgen, weiterer Abgeordneter und der
Handeln in der DDR
Fraktion CDU/CSU: „Wort halten“ Um-
setzung der Bonn/Berlin-Beschlüsse (Drucksache 14/3067) . . . . . . . . . . . . . 10907 B
(Drucksachen 14/1004, 14/2699) . . . . . . . 10899 B Vera Lengsfeld CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 10907 C
Norbert Hauser (Bonn) CDU/CSU . . . . . . . . 10899 C Wolfgang Gehrcke PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 10909 C
Hans-Peter Kemper SPD . . . . . . . . . . . . . . . . 10900 C
Dr. Guido Westerwelle F.D.P. . . . . . . . . . . . . . 10902 C Tagesordnungspunkt 18:
Franziska Eichstädt-Bohlig BÜNDNIS 90/DIE Antrag des Abgeordneten Dr. Christian
GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10903 D Schwarz-Schilling und weiteren Abgeord-
Petra Pau PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10904 D neten der Fraktion CDU/CSU, der Abge-
ordneten Heide Mattischeck und weiteren
Norbert Röttgen CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 10905 B Abgeordneten der Fraktion SPD, der Abge-
ordneten Claudia Roth (Augsburg) und wei-
teren Abgeordneten der Fraktion BÜND-
Tagesordnungspunkt 17: NIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abgeord-
neten Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
a) Antrag der Fraktion PDS: Straffreiheit und weiteren Abgeordneten der Fraktion
für Spionage zugunsten der Deut- F.D.P.: Humanitäre Grundsätze in der
schen Demokratischen Republik Flüchtlingspolitik beachten
(Drucksache 14/3065) . . . . . . . . . . . . . 10907 A (Drucksache 14/3729) . . . . . . . . . . . . . . . 10912 B
b) Beschlussempfehlung des Petitionsaus- Dr. Christian Schwarz-Schilling CDU/CSU . 10912 C
schusses Heide Mattischeck SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 10915 A
Sammelübersicht 144 zu Petitionen Sabine Leutheusser-Schnarrenberger F.D.P. . 10916 A
(Amnestie für Bundesbürger, die für die Claudia Roth (Augsburg) BÜNDNIS 90/DIE
Auslandsnachrichtendienste der DDR GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10916 D
tätig waren)
Ulla Jelpke PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10917 D
(Drucksache 14/3002) . . . . . . . . . . . . . 10907 A
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast SPD . . . . . . . . 10918 B
c) Antrag der Fraktion PDS: Bereinigung
von politischen Ungerechtigkeiten im
Kalten Krieg Tagesordnungspunkt 27:
(Drucksache 14/3066) . . . . . . . . . . . . . 10907 A c) Erste Beratung des von den Fraktionen
SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
d) Beschlussempfehlung des Petitionsaus- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
schusses zur Verbesserung der Zusammenar-
Sammelübersichten 128 zu Petitio- beit von Arbeitsämtern und Trägern
nen der Sozialhilfe
(Drucksache 14/3765) . . . . . . . . . . . . . 10919 C
(Das vom Bundesverfassungsgericht
verfügte Verbot der KPD aufheben)
Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10919 D
(Drucksache 14/2716) . . . . . . . . . . . . . 10907 B

e) Beschlussempfehlung des Petitionsaus- Anlage 1


schusses
Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 10921 A
Sammelübersicht 129 zu Petitionen
(Novellierung des Bundesverfassungs-
gerichtsgesetzes) Anlage 2
(Drucksache 14/2717) . . . . . . . . . . . . . 10907 B Gleichgewichtige Verteilung der reduzierten
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 VII

Zahl der Wehrpflichtigen und Panzer auf die Thomas Dörflinger, Marie-Luise Dött,
einzelnen Standorte Hansjürgen Doss, Maria Eichhorn, Rainer
MdlAnfr 56, 57 Eppelmann, Anke Eymer (Lübeck), Ilse Falk,
Helmut Heiderich CDU/CSU Dr. Hans Georg Faust, Ulf Fink, Ingrid
Fischbach, Dirk Fischer (Hamburg),
Antw PStSekr’in Brigitte Schulte BMVg . . . . 10921 D Dr. Gerhard Friedrich (Erlangen), Erich G.
Fritz, Jochen-Konrad Fromme, Dr. Jürgen
Gehb, Michael Glos, Dr. Reinhard Göhner,
Anlage 3 Kurt-Dieter Grill, Hermann Gröhe, Manfred
Auswirkungen der Umstrukturierungsmaß- Grund, Horst Günther (Duisburg), Carl-Detlev
nahmen bei der Bundeswehr auf das Bundes- Freiherr von Hammerstein, Gottfried Haschke
amt für Wehrtechnik und Beschaffung und auf (Großhennersdorf), Gerda Hasselfeldt,
die rheinland-pfälzischen Standorte, insbeson- Norbert Hauser (Bonn), Klaus-Jürgen
dere Koblenz Hedrich, Helmut Heiderich, Ursula Heinen,
Manfred Heise, Siegfried Helias, Peter Hintze,
MdlAnfr 58, 59 Klaus Hofbauer, Klaus Holetschek, Dr. Karl-
Karl-Heinz Scherhag CDU/CSU Heinz Hornhues, Susanne Jaffke, Georg
Antw PStSekr’in Brigitte Schulte BMVg . . . . 10922 A Janovsky, Dr.-Ing. Rainer Jork, Irmgard
Karwatzki, Eckart von Klaeden, Ulrich
Klinkert, Norbert Königshofen, Manfred
Anlage 4 Kolbe, Eva-Maria Kors, Thomas Kossendey,
Dr. Martina Krogmann, Dr.-Ing. Paul Krüger,
Auflösung von Wehrbereichsverwaltungen in Karl Lamers, Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg),
Baden-Württemberg Dr. Norbert Lammert, Dr. Paul Laufs, Karl-
MdlAnfr 60 Josef Laumann, Vera Lengsfeld, Werner
Dirk Niebel F.D.P. Lensing, Ursula Lietz, Walter Link (Diepholz),
Eduard Lintner, Dr. Klaus W. Lippold (Offen-
Antw PStSekr’in Brigitte Schulte BMVg . . . . 10922C bach), Dr. Michael Luther, Dieter Maaß
(Herne), Wolfgang Meckelburg, Dr. Michael
Meister, Dr. Angela Merkel, Friedrich Merz,
Anlage 5 Hans Michelbach, Bernward Müller (Jena),
Öffnung der Bundeswehr für Frauen; Einstel- Bernd Neumann (Bremen), Claudia Nolte,
lungsstandorte, Vorbereitung der Bundeswehr- Günter Nooke, Friedhelm Ost, Eduard
angehörigen; finanzielle Auswirkungen Oswald, Dr. Peter Paziorek, Anton Pfeifer,
Ruprecht Polenz, Dr. Bernd Protzner, Thomas
MdlAnfr 61, 62 Rachel, Dr. Peter Ramsauer, Helmut Rauber,
Werner Siemann CDU/CSU Christa Reichard (Dresden), Katherina Reiche,
Antw PStSekr’in Brigitte Schulte BMVg . . . . 10922 C Erika Reinhardt, Hans-Peter Repnik, Dr. Heinz
Riesenhuber, Adolf Roth (Gießen),
Dr. Christian Ruck, Volker Rühe, Heinz
Anlage 6 Schemken, Gerhard Scheu, Dietmar Schlee,
Bernd Schmidbauer, Christian Schmidt
Fortbestand der Kreiswehrersatzämter im
(Fürth), Dr.-Ing. Joachim Schmidt (Hals-
Rahmen der Bundeswehrreform
brücke), Andreas Schmidt (Mülheim), Hans
MdlAnfr 63, 64 Peter Schmitz (Baesweiler), Birgit Schnieber-
Dr. Klaus Rose CDU/CSU Jastram, Dr. Andreas Schockenhoff, Dr. Rupert
Antw PStSekr’in Brigitte Schulte BMVg . . . . 10923 B Scholz, Dr. Erika Schuchardt, Dr. Christian
Schwarz-Schilling, Horst Seehofer, Rudolf
Seiters, Bernd Siebert, Werner Siemann,
Anlage 7 Johannes Singhammer, Bärbel Sothmann,
Margarete Späte, Erika Steinbach, Dorothea
Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Störr-Ritter, Andreas Storm, Thomas Strobl,
Ulrich Adam, Ilse Aigner, Peter Altmaier, Edeltraut Töpfer, Dr. Hans-Peter Uhl, Gunnar
Norbert Barthle, Günter Baumann, Brigitte Uldall, Angelika Volquartz, Andrea Voßhoff,
Baumeister, Meinrad Belle, Dr. Sabine Peter Weiß (Emmendingen), Gerald Weiß
Bergmann-Pohl, Otto Bernhardt, Renate (Groß-Gerau), Annette Widmann-Mauz, Elke
Blank, Dr. Maria Böhmer, Wolfgang Börnsen Wülfing, Wolfgang Zeitlmann (alle CDU/CSU)
(Bönstrup), Dr. Wolfgang Bötsch, Friedrich zur Abstimmung über den Entwurf eines
Bohl, Jochen Borchert, Wolfgang Bosbach, Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Erin-
Dr. Ralf Brauksiepe, Paul Breuer, Klaus nerung, Verantwortung und Zukunft“
Bühler (Bruchsal), Cajus Caesar, Wolfgang (Drucksachen 14/3206 und 14/3459) (Tages-
Dehnel, Hubert Deittert, Renate Diemers, ordnungspunkt 7 a ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10923 C
VIII Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Anlage 8 zur Abstimmung über den Entwurf eines Ge-


setzes zur Errichtung einer Stiftung „Erinne-
Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten
Max Straubinger, Albert Deß, Josef Hollerith, rung, Verantwortung und Zukunft“
Franz Obermeier, Dr. Wolfgang Götzer, (Drucksachen 14/3206 und 14/3459) (Tages-
Wolfgang Zöller, Ernst Hinsken und Georg ordnungspunkt 7 a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10928 C
Girisch (alle CDU/CSU) zur Abstimmung über
den Entwurf eines Gesetzes zur Errichtung ei-
ner Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Anlage 14
Zukunft“ Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten
(Drucksachen 14/3206 und 14/3459) (Tages- Hans-Joachim Fuchtel (CDU/CSU) zur Ab-
ordnungspunkt 7 a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10925 C stimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur
Errichtung einer Stiftung „Erinnerung, Verant-
wortung und Zukunft“
Anlage 9 (Drucksachen 14/3206 und 14/3459) (Tages-
Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten ordnungspunkt 7 a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10929 A
Martin Hohmann, Kurt Rossmanith, Benno
Zierer, Werner Wittlich, Hans-Otto Willhelm
(Mainz), Wilhelm-Josef Sebastian, Peter Anlage 15
Bleser, Norbert Schindler, Anita Schäfer, Klaus Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten
Brähmig und Norbert Geis (alle CDU/CSU) Volker Kauder (CDU/CSU) zur Abstimmung
zur Abstimmung über den Entwurf eines
über den Entwurf eines Gesetzes zur Errich-
Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Erin-
tung einer Stiftung „Erinnerung, Verantwor-
nerung, Verantwortung und Zukunft“
tung und Zukunft“
(Drucksachen 14/3206 und 14/3459) (Tages-
ordnungspunkt 7 a ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10926 A (Drucksachen 14/3206 und 14/3459) (Tages-
ordnungspunkt 7 a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10929 C

Anlage 10
Anlage 16
Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Eva
Bulling-Schröter, Carsten Hübner, Dr. Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten
Winfried Wolf und Christina Schenk (alle Julius Louven (CDU/CSU) zur Abstimmung
PDS) zur Abstimmung über den Entwurf eines über den Entwurf eines Gesetzes zur Errich-
Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Erin- tung einer Stiftung „Erinnerung, Verantwor-
nerung, Verantwortung und Zukunft“ tung und Zukunft“
(Drucksachen 14/3206 und 14/3459) (Tages- (Drucksachen 14/3206 und 14/3459) (Tages-
ordnungspunkt 7 a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10926 C ordnungspunkt 7 a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10929 D

Anlage 11 Anlage 17
Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten
Sylvia Bonitz (CDU/CSU) zur Abstimmung Clemens Schwalbe (CDU/CSU) zur Abstim-
über den Entwurf eines Gesetzes zur Errich- mung über den Entwurf eines Gesetzes zur Er-
tung einer Stiftung „Erinnerung, Verantwor- richtung einer Stiftung „Erinnerung, Verant-
tung und Zukunft“ wortung und Zukunft“
(Drucksachen 14/3206 und 14/3459) (Tages- (Drucksachen 14/3206 und 14/3459) (Tages-
ordnungspunkt 7 a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10927 C ordnungspunkt 7 a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10930 B

Anlage 12 Anlage 18
Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten
Georg Brunnhuber (CDU/CSU) zur Abstim- Heinz Seiffert (CDU/CSU) zur Abstimmung
mung über den Entwurf eines Gesetzes zur Er- über den Entwurf eines Gesetzes zur Errich-
richtung einer Stiftung „Erinnerung, Verant- tung einer Stiftung „Erinnerung, Verantwor-
wortung und Zukunft“ tung und Zukunft“
(Drucksachen 14/3206 und 14/3459) (Tages- (Drucksachen 14/3206 und 14/3459) (Tages-
ordnungspunkt 7 a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10928 A ordnungspunkt 7 a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10930 C

Anlage 13 Anlage 19
Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten
Hartmut Büttner (Schönebeck) (CDU/CSU) Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten (CDU/
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 IX

CSU) zur Abstimmung über den Entwurf eines (Drucksachen 14/2683, 14/3074, 14/3366,
Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Erin- 14/3640 und 14/3760) (Zusatztagesordnungs-
nerung, Verantwortung und Zukunft“ punkt 4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10932 C
(Drucksachen 14/3206 und 14/3459) (Tages-
ordnungspunkt 7 a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10931 A
Anlage 24
Anlage 20 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten
Eva-Maria Bulling-Schröter (PDS) zur Ab-
Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten
stimmung über die Verordnung der Bundesre-
Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU) zur Abstim-
mung über den Entwurf eines Gesetzes zur Er- gierung: Verordnung über die Erzeugung von
richtung einer Stiftung „Erinnerung, Verant- Strom aus Biomasse (Biomasseverordnung –
wortung und Zukunft“ BiomasseV)
(Drucksachen 14/3206 und 14/3459) (Tages- (Tagesordnungspunkt 27 f) . . . . . . . . . . . . . . . 10932 D
ordnungspunkt 7 a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10931 D

Anlage 25
Anlage 21
Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des
Erklärung des Abgeordneten Volker Beck Antrags: Straffreiheit für Spionage zugunsten
(Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur der Deutschen Demokratischen Republik
Aussprache über den Entwurf eines Gesetzes (Tagesordnungspunkt 17) . . . . . . . . . . . . . . . . 10933 A
zur Errichtung einer Stiftung „Erinnerung,
Verantwortung und Zukunft“ Winfried Mante SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10933 B
(Drucksachen 14/3206 und 14/3459) (Tages- Volker Beck (Köln) BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
ordnungspunkt 7 a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10932 A NEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10934 C
Jörg van Essen F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10935 A
Anlage 22
Erklärung der Abgeordneten Monika Griefahn
(SPD) zur Abstimmung über den Entwurf ei- Anlage 26
nes Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Er- Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des
innerung, Verantwortung und Zukunft“ Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der
(Drucksachen 14/3206 und 14/3459) (Tages- Zusammenarbeit von Arbeitsämtern und Trägern
ordnungspunkt 7 a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10932 C
der Sozialhilfe
(Tagesordnungspunkt 27 c) . . . . . . . . . . . . . . . 10935 B
Anlage 23 Brigitte Lange SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10935 B
Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Peter Weiß (Emmendingen) CDU/CSU . . . . . 10936 A
Jörg Tauss (SPD) zur Abstimmung über die
Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Dr. Thea Dückert BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 10937 B
Artikel 77 des Grundgesetzes zu dem Gesetz Dr. Irmgard Schwaetzer F.D.P. . . . . . . . . . . . . 10938 A
zur Senkung der Steuersätze und zur Reform
der Unternehmensbesteuerung Dr. Klaus Grehn PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10938 C
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10749

(A) (C)

114. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Wolfgang Thierse: Guten Morgen, liebe der Fraktion der SPD, der Abgeordneten Sylvia Voß, Matthias
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Berninger, Thea Dückert, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der Abgeordneten Ernst
Zunächst müssen wir eine Wahl der Mitglieder im Stif- Burgbacher, Hildebrecht Braun (Augsburg), Rainer Brüderle,
tungsrat der Stiftung „Humanitäre Hilfe für durch Blut- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. sowie der
Abgeordneten Rosel Neuhäuser, Dr. Heinrich Fink, Rolf
produkte HIV-infizierte Personen“ vornehmen, da ihre Kutzmutz, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS: Siche-
Amtszeit am 30. Juli dieses Jahres endet. Gemäß § 8 rung der Volksfeste, des Markthandels und des Schaustel-
Abs. 1 des HIV-Hilfegesetzes werden zwei Mitglieder lergewerbes – Drucksache 14/3786 –
für den Stiftungsrat vom Deutschen Bundestag benannt. Überweisungsvorschlag:
Die Fraktion der SPD schlägt den Kollegen Horst Ausschuss für Tourismus (f)
Finanzausschuss
Schmidbauer (Nürnberg) und die Fraktion der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
CDU/CSU den Kollegen Gerhard Scheu vor. Sind Sie Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
damit einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
(B) Dann sind die beiden Kollegen als Mitglieder für den Stif- Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- (D)
tungsrat „Humanitäre Hilfe“ benannt. abschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
verbundene Tagesordnung dieser Woche um weitere Zu-
satzpunkte erweitert werden. Die Punkte entnehmen Sie 6. Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
bitte der folgenden Zusatzpunktliste: (Ergänzung zu TOP 28.)
a) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschus-
1. Beratung des Antrags der Abgeordneten Carsten Hübner, Fred ses (2. Ausschuss): Sammelübersicht 182 zu Petitionen
Gebhardt, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der – Drucksache 14/3793 –
Fraktion der PDS: Eine nachhaltige demokratische und so-
ziale Entwicklung in Kolumbien unterstützen – Drucksache b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschus-
14/3782 – (siehe 113. Sitzung) ses (2. Ausschuss): Sammelübersicht 183 zu Petitionen
– Drucksache 14/3794 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschus-
wicklung (f) ses (2. Ausschuss): Sammelübersicht 184 zu Petitionen
Auswärtiger Ausschuss – Drucksache 14/3795 –
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschus-
ses (2. Ausschuss): Sammelübersicht 185 zu Petitionen
2. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der PDS: Haltung
– Drucksache 14/3796 –
der Bundesregierung zur öffentlichen Kritik am Bericht
der Bundesregierung über die Wirkungen der Nutzungs- e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschus-
entgeltverordnung (siehe 113. Sitzung) ses (2. Ausschuss): Sammelübersicht 186 zu Petitionen
– Drucksache 14/3797 –
3. Vereinbarte Debatte zur Steuerpolitik
7. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU:
4. Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Ar- Absenkung der Beiträge für die Bezieher von Arbeitslosen-
tikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuss) zu dem hilfe und die Folgen für die gesetzlichen Krankenkassen
Gesetz zur Senkung der Steuersätze und zur Reform der Unter-
nehmensbesteuerung (Steuersenkungsgesetz – StSenkG) – 8. Beratung des Antrags der Abgeordneten Joachim Tappe,
Drucksache 14/2683, 14/3074, 14/3366, 14/3640, 14/3760 – Dr. Werner Schuster, Wilhelm Schmidt (Salzgitter), Dr. Peter
Struck und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Berichterstattung: Dr. Angelika Köster-Loßack, Hans-Christian Ströbele, Kerstin
Abgeordneter Joachim Poß Müller (Köln), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜND-
5. Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren (Ergän- NIS 90/DIE GRÜNEN: Friedensbemühungen am Horn von
zung zu TOP 27.) Afrika verstärken – Drucksache 14/3767 –
Beratung des Antrags der Abgeordneten Brunhilde Irber, 9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Werner Schuster,
Dr. Eberhard Brecht, Annette Faße, weiterer Abgeordneter und Joachim Tappe, Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und der
10750 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Präsident Wolfgang Thierse

(A) Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Angelika Köster- 15. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung ein- (C)
Loßack, Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller (Köln), gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung und Ergän-
Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zung vermögensrechtlicher und anderer Vorschriften (Vermö-
NEN: Demokratische und friedliche Kräfte im Sudan un- gensrechtsergänzungsgesetz – VermRErgG) – Drucksache
terstützen – Drucksache 14/3768 – 14/1932 – (Erste Beratung 69. Sitzung)
10. Beratung des Antrags der Abgeordneten Joachim Tappe, Dr. aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses
Werner Schuster, Wilhelm Schmidt (Salzgitter), Dr. Peter (7. Ausschuss)
Struck und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten – Drucksache 14/3802
Dr. Angelika Köster-Loßack, Kerstin Müller (Köln), Rezzo Berichterstattung:
Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Abgeordnete Dr. Michael Luther
Konflikt in der Region der Großen Seen eingedämmt – Reinhard Schultz (Everswinckel)
nicht gelöst – Drucksache 14/3791 –
bb) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß
11. Beratung des Antrags der Abgeordneten Carsten Hübner, Fred § 96 der Geschäftsordnung
Gebhardt, Heidi Lippmann, weiterer Abgeordneter und der – Drucksache 14/3803
Fraktion der PDS: Abschiebestopp für Flüchtlinge aus
Äthiopien und Eritrea – Drucksache 14/3547 – Berichterstattung:
Abgeordnete Susanne Jaffke
Überweisungsvorschlag: Hans Georg Wagner
Innenausschuss (f) Oswald Metzger
Auswärtiger Ausschuss Dr. Günter Rexrodt
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Dr. Uwe-Jens Rössel
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung Von der Frist für den Beginn der Beratung soll – soweit
12. Erste Beratung des von den Abgeordneten Alfred Hartenbach, es bei einigen Tagesordnungspunkten erforderlich ist –
Hermann Bachmaier, Bernhard Brinkmann (Hildesheim), wei- abgewichen werden.
teren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Ab-
geordneten Volker Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen),
Des Weiteren wurde vereinbart, die Tagesordnungs-
Claudia Roth (Augsburg), weiteren Abgeordneten und der punkte 19 „Keine Hermesbürgschaften für den Ilisu-Stau-
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- damm“ und 21 a und b „Änderung des Grundgesetzes –
wurfs eines Gesetzes zur Beendigung der Diskriminierung Artikel 16“ abzusetzen.
gleichgeschlechtlicher Gemeinschaften: Lebenspartnerschaf-
ten (Lebenspartnerschaftsgesetz – LpartG) – Drucksache Der Gesetzentwurf „Verbesserung der Zusammenar-
14/3751 – beit von Arbeitsämtern und Trägern der Sozialhilfe“, der
Überweisungsvorschlag: bisher als Tagesordnungspunkt 27 c ohne Debatte über-
Rechtsausschuss (f) wiesen werden sollte, soll heute mit 30 Minuten als letz-
Auswärtiger Ausschuss ter Tagesordnungspunkt beraten werden.
Innenausschuss
(B) Finanzausschuss Außerdem mache ich auf nachträgliche Ausschuss- (D)
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten überweisungen im Anhang zur Zusatzpunkteliste auf-
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Verteidigungsausschuss merksam:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Der in der 64. Sitzung des Deutschen Bundestages
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- dem Ausschuss für Tourismus zur Mitberatung über-
abschätzung wiesen werden.
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung Gesetzentwurf von den Abgeordneten Dr. Guido
Haushaltsausschuss Westerwelle, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Rainer
Funke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
13. Beratung des Antrags der Abgeordneten Alfred Hartenbach,
Margot von Renesse, Hans-Joachim Hacker, weiterer Abge- der F.D.P. zur Aufhebung des Ladenschlussge-
ordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten setzes – Drucksache 14/1671 –
Volker Beck (Köln), Hans-Christian Ströbele, Marieluise Beck überwiesen:
(Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f)
NIS 90/DIE GRÜNEN: Einbeziehung von eingetragenen Rechtsausschuss
Lebenspartnerschaften in die Hinterbliebenenversorgung Finanzausschuss
– Drucksache 14/3792 – Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Rechtsausschuss (f) Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Innenausschuss Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Verteidigungsausschuss Der in der 106. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
14. Erste Beratung des von den Abgeordneten Alfred Hartenbach,
Hermann Bachmaier, Bernhard Brinkmann (Hildesheim), wei-
Auswärtiger Ausschuss zur Mitberatung überwiesen
teren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Ab- werden.
geordneten Volker Beck (Köln), Hans-Christian Ströbele, Antrag der Abgeordneten Adelheid Tröscher,
Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines
Friedhelm-Julius Beucher, Lothar Mark, weiterer
Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses (Zivilprozessreform- Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der
gesetz – ZPO-RG) – Drucksache 14/3750 – Abgeordneten Dr. Angelika Köster-Loßack, Hans-
Überweisungsvorschlag: Christian Ströbele, Kerstin Müller (Köln), Rezzo
Rechtsausschuss Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10751
Präsident Wolfgang Thierse

(A) GRÜNEN: Entwicklungszusammenarbeit mit Dr. Max Stadler (C)


Kuba – Drucksache 14/3128 – Ulla Jelpke
überwiesen: bb) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus-
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
lung (f)
Auswärtiger Ausschuss – Drucksache 14/3759 –
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Berichterstattung:
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss Abgeordnete Hans Georg Wagner
Hans Jochen Henke
Der in der 111. Sitzung des Deutschen Bundestages Oswald Metzger
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Fi- Dr. Günter Rexrodt
nanzausschuss zur Mitberatung überwiesen werden. Dr. Uwe-Jens Rössel
Antrag der Abgeordneten Horst Friedrich (Bay- b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
reuth), Hans-Michael Goldmann, Dr. Karlheinz richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu dem
Guttmacher, weiterer Abgeordneter und der Frak- Antrag der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Dr.
tion der F.D.P.: Wohngeld erhöhen, Bürokratie Heinrich Fink, Dr. Barbara Höll, weiterer Abge-
abbauen, Länderkompetenz stärken: Reform- ordneter und der Fraktion der PDS
chancen beim sozialen Wohnungsbau konse-
quent nutzen – Drucksache 14/3676 – Zügige Entschädigung für Zwangsarbeiterin-
nen und Zwangsarbeiter und Errichtung einer
überwiesen:
Bundesstiftung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)
Rechtsausschuss – Drucksachen 14/1694, 14/3758 –
Finanzausschuss Berichterstattung:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Abgeordnete Bernd Reuter
Haushaltsausschuss Martin Hohmann
Volker Beck (Köln)
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? – Dr. Max Stadler
Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos- Ulla Jelpke
sen.
c) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
Ich rufe auf die Tagesordnungspunkte 7 a bis c: neten Dr. Christa Luft, Heidemarie Ehlert,
Dr. Barbara Höll, weiteren Abgeordneten und der
(B) a) – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines (D)
neten Bernd Reuter, Dieter Wiefelspütz, Gesetzes zur Änderung des Einkommensteuer-
Dr. Peter Struck und der Fraktion der SPD, den gesetzes
Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Friedrich Merz,
– Drucksache 14/472 –
Michael Glos und der Fraktion der CDU/CSU, den
Abgeordneten Volker Beck (Köln), Kerstin Müller (Erste Beratung 30. Sitzung)
(Köln), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜND- aa) Beschlussempfehlung und Bericht des
NIS 90/DIE GRÜNEN, den Abgeordneten Jürgen Finanzausschusses (7. Ausschuss)
W. Möllemann, Dr. Max Stadler, Dr. Wolfgang – Drucksache 14/3731 –
Gerhardt und der Fraktion der F.D.P. sowie den
Abgeordneten Ulla Jelpke, Dr. Gregor Gysi und Berichterstattung:
der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs ei- Abgeordnete Dr. Barbara Höll
nes Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Er- bb) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus-
innerung, Verantwortung und Zukunft“ schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
– Drucksache 14/3206 – – Drucksache 14/3737 –
(Erste Beratung 100. Sitzung) Berichterstattung:
– Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Abgeordnete Hans Jochen Henke
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Hans Georg Wagner
zur Errichtung einer Stiftung „Erinnerung, Oswald Metzger
Verantwortung und Zukunft“ Dr. Günter Rexrodt
Dr. Christa Luft
– Drucksache 14/3459 –
(Erste Beratung 108. Sitzung) Ich weise darauf hin, dass wir über den Gesetzentwurf
zur Errichtung einer Stiftung namentlich abstimmen wer-
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des den.
Innenausschusses (4. Ausschuss)
Zu diesem Gesetzentwurf liegt ein gemeinsamer Ent-
– Drucksache 14/3758 – schließungsantrag der Fraktionen der SPD, BÜND-
Berichterstattung: NIS 90/DIE GRÜNEN, F.D.P. und der PDS vor. Nach ei-
Abgeordnete Bernd Reuter ner interfraktionellen Vereinbarung sind für die Ausspra-
Martin Hohmann che eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Wi-
Volker Beck (Köln) derspruch. Dann ist es so beschlossen.
10752 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Präsident Wolfgang Thierse

(A) Ich begrüße zu diesem Tagesordnungspunkt einige Advisor, Sandy Berger, und der Rechtsberaterin des ame- (C)
ausländische Gäste, darunter Abgeordnete des polni- rikanischen Präsidenten, Frau Nolan, festgehalten ist.
schen Parlamentes, des Sejm, sehr herzlich. Seien Sie
Erst unsere Intervention, die die Angelegenheit auf die
uns willkommen!
Ebene Bundeskanzleramt-Weißes Haus brachte, ermög-
(Beifall) lichte es, in einer äußerst schwierigen Verhandlungsphase
die Bedenken des amerikanischen Justizministers zu
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Beauf-
überwinden. Der so erzielte Rechtsfrieden wird auch dort
tragte des Bundeskanzlers, Graf Lambsdorff.
greifen, wo anhängige Klagen etwa nicht zurückgenom-
men oder neue Klagen erhoben werden.
Dr. Otto Graf Lambsdorff, Beauftragter des Bundes-
Wir befinden uns jetzt in der Endphase der Redaktion
kanzlers für die Stiftungsinitiative Deutscher Unterneh-
des deutsch-amerikanischen Regierungsabkommens
men: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen!
zur Rechtssicherheit und der Abschlusserklärung der
Meine Herren! Am 14. April hat der Deutsche Bundestag
Konferenzteilnehmer – jeweils mit einer Reihe von Anla-
den von allen Fraktionen eingebrachten Entwurf eines
gen. Diese Texte werden voraussichtlich am 17. Juli 2000
Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Erinnerung, Ver-
anlässlich eines feierlichen Abschlussplenums unter-
antwortung und Zukunft“ in erster Lesung behandelt.
schrieben werden: von der deutschen und der amerikani-
Heute – knapp drei Monate später – stehen Sie vor der
schen Regierung, den fünf mittel- und osteuropäischen
zweiten und dritten Lesung. Kaum ein Wort, kaum ein
Staaten Polen, Russland, Tschechische Republik, Ukraine
Satzzeichen ist unverändert geblieben.
und Weißrussland, von Israel und der Claims Conference,
Die Berichterstatter und der Bundesminister der Fi- von der Stiftungsinitiative Deutscher Unternehmen und
nanzen haben eine wahrlich eindrucksvolle Arbeit geleis- von den an den Plenarsitzungen beteiligten US-Anwälten.
tet, um im Gesetzentwurf mit dem Rhythmus deutsch-
Mit diesem Gesetz und diesen begleitenden Texten ist
amerikanischer Verhandlungsrunden, aber auch mit den
von deutscher Seite alles getan, damit die Auszahlungen
Absprachen mit deutschen Unternehmen, Osteuropäern
an die Partnerorganisationen in diesem Jahr beginnen
und vielen Opfergruppen Schritt zu halten. Herr Bosbach,
können. Über eine Million ältere und alte Menschen ha-
Sie haben die Papierflut, die dadurch entstanden ist, zu
ben darauf 55 Jahre oder zumindest seit Beginn der Ge-
Recht beklagt. Im Arbeitskreis war sie noch viel größer.
spräche vor eineinhalb Jahren gewartet. Die meisten leben
Wir haben volles Verständnis für Ihre Klagen.
in Osteuropa und die Sterberate scheint nach jüngeren In-
Dass es gelungen ist, die Allparteienkoalition zusam- formationen aus Russland noch viel höher zu sein, als wir
menzuhalten, ist in meinen Augen eine große politische es bisher angenommen haben.
(B) Leistung, für die Frau Jelpke, Herr Beck, Herr Bosbach, (D)
Bei den Diskussionen über viele juristische Details
Herr Reuter und Herr Stadler und nicht zuletzt Herr
sind die Bilder der ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und
Wiefelspütz gemeinsam verantwortlich zeichnen.
Zwangsarbeiter häufig verblasst. Heute haben wir allen
(Beifall im ganzen Hause) Anlass, wieder an sie zu denken.
Meine Damen und Herren, am 14. April 2000 habe ich (Beifall im ganzen Hause)
Ihnen die vorausgegangenen Etappen unseres Verhand-
Bundespräsident Rau hat uns am 17. Dezember 1999 da-
lungsprozesses vorgestellt. Es sind zwei wesentliche
rauf verpflichtet, das Leid der Zwangsarbeiter als Leid an-
Schritte hinzugekommen. Am 22. Mai 2000, nach langen,
zuerkennen und das Unrecht, das ihnen angetan worden
zum Teil öffentlich geführten Debatten, hat ein amerika-
ist, Unrecht zu nennen.
nischer Reparationsverzicht den Weg zum Abschluss
frei gemacht. Im deutsch-amerikanischen Regierungsab- Wie ich schon am 14. April 2000 hervorheben konnte,
kommen wird dazu ausgeführt werden: unterstützten die meisten der fast 2 000 Zuschriften, die
ich in diesen Monaten erhielt, das Vorhaben der Bundes-
The United States will not raise any reparation claims
stiftung. Vor einigen Wochen hatte ich ein persönliches
against Germany.
Erlebnis in Berlin. Bei der Hauptversammlung der Deut-
Auf Deutsch: Die Vereinigten Staaten werden keine Re- schen Lufthansa standen Aktionäre auf und fragten nach
parationsansprüche gegen Deutschland geltend machen. dem Beitrag der Gesellschaft zur Stiftungsinitiative. Ich
hatte eigentlich angenommen, sie würden ihn eher kriti-
Es ist leicht zu behaupten, dass die US-Regierung hier
sieren. Aber ausnahmslos alle fragten, ob die Lufthansa
nur Evidentes bestätigt. Das Thema Reparationen hat
nicht mehr tun könne, als 40 Millionen DM zu zahlen.
komplizierte Diskussionen erfordert. Die Beratung durch
Eine erstaunliche und erfreuliche Erfahrung!
Professor Frowein, Direktor des Max-Planck-Instituts für
ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, war (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
dabei besonders hilfreich. GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS)
Am vergangenen Pfingstmontag haben wir uns endlich Es erreichten mich aber auch fragende Briefe, viele
nach weiteren dramatischen Diskussionen auf den von ehemaligen deutschen Zwangsarbeitern der unmittel-
Rechtsfrieden geeinigt, der in einem Briefwechsel zwi- baren Nachkriegszeit in Polen, in Russland, in der Tsche-
schen dem außen- und sicherheitspolitischen Berater des chischen Republik, aber auch im Westen. In vielen Brie-
Bundeskanzlers, Michael Steiner, dem National Security fen war das Anliegen nicht Entschädigung, sondern das
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10753
Dr. Otto Graf Lambsdorff

(A) Bedürfnis, das eigene durchaus vergleichbare Leid nicht Ich habe meinen baltischen Gesprächspartnern vorge- (C)
vergessen zu lassen. Dafür habe ich tiefes Verständnis. schlagen, in ihren Staaten Annahmeorganisationen einzu-
richten, deren Vertreter die Anträge in der Landessprache
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem
entgegennehmen und nach Moskau bzw. Minsk weiterlei-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)
ten. Auch die Auszahlung sollte vor Ort erfolgen. Aber ei-
Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir, drei Fra- gene Plafonds für die baltischen Staaten sind nicht mög-
gen des Gesetzentwurfes anzusprechen. lich, weil sie die im Dezember abgeschlossene Auftei-
lungsdiskussion erneut eröffnen und außerdem einen
Erstens. Der Bundestag wird in seiner Entschließung
Präzedenzfall schaffen würden, auf den sich alle anderen
dazu auffordern, dass wir auch für die ehemaligen
Staaten zu Recht berufen könnten.
Zwangsarbeiter aus jenen Ländern Sorge tragen, die nicht
mit am Verhandlungstisch saßen: etwa aus der Slowakei, Ich betone, dass ich für das politische Anliegen durch-
aus Slowenien, aus Ex-Jugoslawien. Viele sind als „dis- aus Verständnis habe, und zwar umso mehr, als jetzt Mos-
placed persons“ nach Frankreich, England, Amerika aus- kau erneut das Märchen verbreitet, das Baltikum sei der
gewandert oder leben in anderen Staaten in der Diaspora. Sowjetunion freiwillig beigetreten.
Wir wissen, dass sich die 540 Millionen DM, die dafür im
Gesetz vorgesehen sind, als zu knapp erweisen könnten. Herr von Stetten und ich, wir haben inzwischen unse-
Genau weiß es niemand. Wir haben uns gemeinsam mit ren Wettstreit, wer denn von uns beiden baltischer sei,
Deputy Secretary Eizenstat darüber Gedanken gemacht, friedlich beigelegt.
wie wir eine annähernd vergleichbare Entschädigung si- (Heiterkeit bei der SPD und der CDU/CSU)
cherstellen können. Es geht dabei um nicht ausgeschöpfte
Plafonds, Gelder aus dem US-Fonds, Mittel aus dem Erst in dem Moment, in dem der Deutsche Bundestag
Schweizer Bankenvergleich und Zinsen aus dem Stif- festgestellt hat, dass mit der Abweisung der in den USA
tungskapital. Es wird eine zentrale Aufgabe des Stif- anhängigen Klagen der Rechtsfrieden hergestellt ist, wird
tungskuratoriums sein, die materielle Gerechtigkeit zu die Stiftung berechtigt und verpflichtet, ihre Auszahlun-
überwachen. gen zu beginnen. Das Wort „Konsens“, Herr Bundes-
kanzler, habe ich, wie Sie wissen, bewusst vermieden.
Der Innenausschuss schlägt Ihnen vor, die Internatio-
nal Organization for Migration als siebte Partnerorga- (Heiterkeit des Bundeskanzlers Gerhard
nisation mit der Aufgabe zu betrauen, den so genannten Schröder)
„Rest der Welt“ zu betreuen, und ihr dafür von Anfang an Ich halte fest: Die vor einem US-Richter zusammen-
einen Platz im Kuratorium einzuräumen. Ich begrüße geführten Sammel- und Einzelklagen müssen vom Tisch.
dies. Ob dies auch für die letzte Klage etwa vor einem Einzel-
(B) staatsgericht in Kentucky gilt, mag der Bundestag zu ge- (D)
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und der F.D.P.) gebener Zeit entscheiden. Er hat sich das im Gesetz zu
Recht vorbehalten.
Mit dem In-Kraft-Treten des Gesetzes, also in weniger
als einem Monat, beginnt die höchstens einjährige An- Auch ich hätte mir eine mutigere erneute Verpflich-
tragsfrist für die Zahlungen. Dann müssen die 80 IOM- tung der deutschen Wirtschaft vorstellen können. Aber
Büros weltweit in der Lage sein, die Anträge entgegenzu- ich vertraue auf die von der deutschen Wirtschaft gege-
nehmen und ihre Prüfung einzuleiten. Die anderen Part- bene Zusage, der Stiftung insgesamt 5 Milliarden DM zur
nerorganisationen, die über Datenbanken und Personal Verfügung zu stellen. Es ist ein öffentliches Ärgernis, dass
verfügen, sind gegenüber der IOM im zeitlichen Ablauf die Mehrzahl der Unternehmen noch immer nicht der Stif-
im Vorteil. Ich meine, dass wir der IOM mit einer ange- tungsinitiative beigetreten ist.
messenen Anschubfinanzierung helfen müssen, den Ab- (Beifall im ganzen Hause)
stand zu anderen Partnerorganisationen im Interesse der
Opfer zu verringern. Die Gründungsunternehmen der Stiftungsinitiative
waren sicherlich zu optimistisch und fangen erst jetzt an,
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des Klartext zu sprechen. Ich sage auch hier ganz deutlich:
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der F.D.P. Kein deutsches Unternehmen, auch wenn es erst nach
und der PDS) dem Kriege gegründet wurde, darf sich von der Stiftungs-
Zweitens. Die baltischen Staaten fordern, eigene Pla- initiative ausschließen. Es gibt keinen Grund, sich der Ge-
fonds und die Verteilung durch eigene Opferorganisatio- samtverantwortung der deutschen Wirtschaft zu entzie-
nen vorzusehen. Ähnliches gilt für eine Reihe anderer hen.
Staaten und Organisationen. Ich erwähne nur Slowenien, (Beifall im ganzen Hause)
die Slowakei oder die Polen in Amerika. Bundeskanzler
Schröder hatte mich eingeladen, ihn in der vergangenen Diejenigen, die sich nicht durch die Vergangenheit be-
ersten Juniwoche auf eine Reise in das Baltikum zu be- lastet fühlen, sollten sich mit den Aufgaben des Zukunfts-
gleiten, eine Region, die, wie manche von Ihnen wissen, fonds identifizieren können, der in der Stiftung eine
mir und meiner Familie nicht völlig unvertraut ist. Umso zentrale Bedeutung hat. Denen, die aus verständlichen
mehr kann ich daher die Zurückhaltung der baltischen Be- Gründen den einen oder anderen Einwand gegen das Stif-
troffenen gegenüber dem Vorschlag verstehen, die Zah- tungsgesetz haben, möchte ich mit aller Deutlichkeit zu
lungen über die Partnerstiftungen in Minsk und Moskau verstehen geben, dass Moral und Geschäft selten so nahe
zu erhalten. beieinander lagen wie bei diesen Verhandlungen. Die
10754 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Dr. Otto Graf Lambsdorff

(A) Stiftung schützt unmittelbar deutsche Interessen in den Präsident Wolfgang Thierse: Lieber Kollege (C)
USA, nämlich unsere Exporte und Investitionen. Sie si- Lambsdorff, ich darf Ihnen im Namen des ganzen Hauses
chert damit auch Arbeitsplätze in Deutschland. Sie fördert unseren herzlichen Dank für Ihre Arbeit aussprechen.
den Handelsaustausch zwischen den Ländern und das (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem
Vertrauen in die Märkte. Damit trägt sie entscheidend zur BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.
Erhaltung der guten deutsch-amerikanischen Beziehun- sowie bei Abgeordneten der PDS)
gen bei. Eine Fortsetzung der Gerichtsverfahren in Ame-
rika mit aller öffentlichen Begleitmusik hätte das Nun erteile ich dem Kollegen Wolfgang Bosbach,
deutsch-amerikanische Verhältnis schwer belastet. CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Meine Damen und Herren, ich stehe heute sicherlich
das letzte Mal vor Ihnen im Bundestag, der, wie Sie wis- Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): Herr Präsident!
sen, einen großen Teil meines Lebens ausgemacht hat. Ich Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine große Mehrheit
hätte mir allerdings nie träumen lassen, den letzten Auf- der Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen
tritt von der rot-grünen Regierungsbank aus zu bestreiten; Bundestag wird dem Gesetzentwurf zur Errichtung der
Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ heute
aber so ist die Welt.
zustimmen.
(Heiterkeit im ganzen Hause – Beifall bei der
(Dr. Peter Struck [SPD]: Was heißt „eine große
SPD, der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE Mehrheit“?)
GRÜNEN und der F.D.P. – Rezzo Schlauch
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So kann es Dies geschieht allerdings nicht deshalb, weil sie der Auf-
kommen! – Dr. Peter Struck [SPD]: So schlimm fassung ist, dass im Verlaufe der Beratungen über diesen
ist es auch nicht!) Gesetzentwurf alle offenen Fragen beantwortet, alle Pro-
bleme gelöst, ein Höchstmaß an Gerechtigkeit gegenüber
Herr Bundeskanzler, ich werden Ihnen in Kürze Voll- allen Opfern und eine hundertprozentige Rechtssicherheit
zug melden. Ich hoffe, dass ich Ihnen allen mit dieser Auf- erzielt worden seien, sondern in der Überzeugung, dass
gabe, die ich in vollem Bewusstsein der damit verbunde- durch dieses Gesetz eine entscheidende Voraussetzung
nen Verantwortung übernommen habe, einen Dienst er- dafür geschaffen wird, dass 55 Jahre nach dem Ende des
weisen konnte. Zweiten Weltkrieges und damit auch der Naziherrschaft
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem den ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangarbei-
tern, die verschleppt, entrechtet, misshandelt und ausge-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.
beutet wurden, spät – für viele leider zu spät – in Form ei-
sowie bei Abgeordneten der PDS)
(B) ner humanitären Geste ein Stück Gerechtigkeit und Wie- (D)
Ich will nicht schließen, ohne denjenigen Dank zu sa- dergutmachung für erlittenes Leid widerfährt. Dies gilt
gen, deren Mithilfe für das Gelingen unerlässlich war. insbesondere für jene Opfer, die bis heute die umfangrei-
Mein Dank geht zuerst an Deputy Secretary Stuart chen Entschädigungs- und Wiedergutmachungsleistun-
Eizenstat, an seinen unermüdlichen Mitstreiter Botschaf- gen der Bundesrepublik nicht in Anspruch nehmen konn-
ter J. D. Bindenagel und an Dr. Manfred Gentz, den Spre- ten.
cher der Stiftungsinitiative Deutscher Unternehmen. Dieses Gesetz ist nicht zuletzt – in Verbindung mit den
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem Begleitabkommen und mit den völkerrechtlich verbindli-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. chen Erklärungen der Verhandlungspartner – eine ent-
sowie bei Abgeordneten der PDS) scheidende Voraussetzung dafür, dass deutschen Firmen
im In- und Ausland und insbesondere in den USA ein ho-
Nicht zuletzt geht mein Dank an Otto Löffler vom Bun- hes Maß an Rechtssicherheit und Rechtsfrieden und ein
desfinanzministerium und an die hochmotivierten Mitar- weitgehender Schutz vor administrativen Schikanen ga-
beiter meines kleinen Arbeitsstabes, vor allem an dessen rantiert wird.
Leiter Michael Geier.
Wer will bestreiten – darauf hat Graf Lambsdorff zu
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem Recht hingewiesen –, dass auf diesem ebenso wichtigen
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. wie sensiblen Gebiet der Entschädigung für nationalsozi-
sowie bei Abgeordneten der PDS) alistische Zwangsarbeit Geschäft und Moral eng beiein-
ander liegen?
Meine Damen und Herren, Ihre heutige Entscheidung
wird helfen, die Vergangenheit nicht zu vergessen und den Angesichts der Klagen, insbesondere der Sammelkla-
Weg in eine Zukunft zu stärken, in der sich solche Unta- gen und der Droh- und Boykottkulisse in den USA, haben
ten nicht wiederholen werden. Bitte, stimmen Sie dem die deutschen Unternehmen ein berechtigtes und nach-
Gesetzentwurf zur Errichtung der Stiftung „Erinnerung, vollziehbares Interesse daran, dass die schwierigen und
Verantwortung und Zukunft“ zu. komplexen humanitären, aber auch rechtlichen Fragen
und Anliegen möglichst rasch zur Zufriedenheit aller Be-
Vielen Dank. teiligten auf Dauer, endgültig geklärt werden.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem Wenn einige Kolleginnen und Kollegen unserer Frak-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. tion dem Gesetzentwurf dennoch nicht zustimmen kön-
sowie bei Abgeordneten der PDS) nen, dann bedeutet das weder, dass diese Kolleginnen und
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10755
Wolfgang Bosbach

(A) Kollegen für das humanitäre Anliegen der Stiftung oder fentlichungen, in denen darauf hingewiesen wurde, dass (C)
für die berechtigten Interessen der deutschen Wirtschaft die Bundesrepublik in den vergangenen Jahrzehnten be-
kein Verständnis hätten, noch, dass sie dem Leid und dem reits über 104 Milliarden DM an Wiedergutmachungsleis-
Unrecht, das den ehemaligen Zwangsarbeitern zugefügt tungen erbracht hat. Auf den Wert der D-Mark von heute
wurde, gar gleichgültig gegenüberstehen. Bei ihnen über- umgerechnet ergibt dies einen Betrag von 200 Milliar-
wiegt die Sorge, dass durch diese Stiftung zwar Unrecht den DM. Auch zukünftig werden wir auf der Grundlage
zumindest teilweise wieder gutgemacht werden soll, des schon jetzt geltenden Rechts und ohne Berücksichti-
gleichzeitig aber neue Ungerechtigkeiten entstehen könn- gung des hier in Rede stehenden Stiftungsvermögens
ten, dass zwar formal von einer abschließenden Rege- noch weitere 20 Milliarden DM als Entschädigungsleis-
lung zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Un- tungen zu zahlen haben.
rechts gesprochen wird, dass aber tatsächlich schon bald
neue Forderungen gestellt und akzeptiert werden könnten Es muss erlaubt sein, auch im Deutschen Bundestag
und dass sich auch der vereinbarte Rechtsfrieden mögli- einmal darauf hinzuweisen, dass sich unser Land in den
cherweise als trügerische Hoffnung erweisen könnte. vergangenen Jahrzehnten, wenn auch manchmal quälend,
so doch redlich darum bemüht hat, die dunklen Kapitel
Auch wenn ich selber mit der großen Mehrheit meiner seiner Geschichte nicht zu verdrängen oder gar zu ver-
Fraktion bei Abwägung aller Argumente zu dem Ergebnis gessen, sondern aufzuarbeiten und aus ihnen für die Zu-
komme, dass ich dem Gesetzentwurf trotz der auch hier kunft notwendige Konsequenzen zu ziehen. Wir haben
schon angesprochenen Probleme in einzelnen Detailfra- den Worten stets auch Taten folgen lassen. In diesem Zu-
gen, die nicht verschwiegen, sondern offen angesprochen sammenhang darf ich ausdrücklich darauf hinweisen,
werden sollten, aus Überzeugung zustimme, so darf ich dass für die Unionsfraktion das Kapitel Reparationen spä-
dennoch darum bitten, die Argumente derjenigen Kolle- testens seit dem Abschluss des Zwei-plus-Vier-Vertra-
ginnen und Kollegen, die eine andere Auffassung vertre- ges vom 12. September 1990 endgültig abgeschlossen ist,
ten, nicht als schlichtweg unbegründet abzulehnen oder
ihrem Nein eine Motivlage zu unterstellen, die tatsächlich (Beifall bei der CDU/CSU)
nicht vorhanden ist. dass für uns auch heute im Zusammenhang mit diesem
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion dankt Ihnen, lieber Gesetzentwurf keinerlei Veranlassung besteht, mit ande-
Graf Lambsdorff, für Ihre umsichtige und kluge Verhand- ren Staaten über Reparationsforderungen zu sprechen
lungsführung. Gerne wiederhole ich das, was ich bereits oder gar zu verhandeln, und dass sich an dieser Haltung
bei Einbringung des Gesetzentwurfes gesagt habe: Sie auch zukünftig nichts ändern wird.
waren zur richtigen Zeit der richtige Mann am richtigen Bislang haben alle Bundesregierungen, auch diese, aus
Ort. Ohne Ihr unermüdliches Engagement in dem lang- guten Gründen folgenden Rechtsstandpunkt vertreten: (D)
(B) wierigen und schwierigen Verhandlungsprozess wäre die
Soweit ausländische Zwangsarbeiter außerhalb des Bun-
Einigung nicht zu erzielen gewesen. Die Opfer und unser desentschädigungsgesetzes, einschließlich Art. 6 des
Land haben Ihnen viel zu verdanken. BEG-Schlussgesetzes, Schadensersatzansprüche geltend
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie machen, stehe dem das Londoner Schuldenabkommen
bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNIS- aus dem Jahre 1953 entgegen. Bei Forderungen nach Ent-
SES 90/DIE GRÜNEN) schädigung wegen Zwangsarbeit handele es sich um
Reparationszahlungen im Zusammenhang mit dem Zwei-
Unser aller Dank gebührt aber auch den Mitarbeiterin- ten Weltkrieg. Dies gelte auch für Forderungen ehemali-
nen und Mitarbeitern Ihres Arbeitsstabes. Auch sie haben ger Zwangsarbeiter gegenüber privaten Unternehmen.
viel mehr als nur ihre Pflicht getan und einen wichtigen
Beitrag dazu geleistet, dass wir diesen Gesetzentwurf Eine völlig andere Frage ist es jedoch, ob man das
heute abschließend beraten und verabschieden können. Thema Entschädigung für Zwangsarbeit wegen der be-
sonderen historischen Verantwortung insbesondere ge-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) genüber den noch lebenden Opfern nicht eher unter hu-
Die Haltung der Unionsfraktion zu einigen besonders manitären als unter rechtlichen Aspekten betrachten
wichtigen Punkten des gemeinsamen Gesetzentwurfes muss. Gerade aufgrund dieser Überlegung wurden in der
aller im Bundestag vertretenen Fraktionen haben wir in Vergangenheit zunächst mit elf westlichen Staaten Glo-
einer gesonderten Erklärung zur Abstimmung zusammen- balabkommen zur Wiedergutmachung abgeschlossen.
gefasst. Lassen Sie mich zu einigen Punkten Stellung Darüber hinaus hat die Bundesrepublik nach dem Ab-
nehmen: schluss des Zwei-plus-Vier-Vertrages als humanitäre Ges-
te für die Errichtung von Stiftungen in Warschau, Mos-
Die gelegentlich geäußerte Kritik, es werde aber auch kau, Kiew und Minsk sowie für die Einrichtung des
allerhöchste Zeit, dass sich die Bundesrepublik Deutsch- deutsch-tschechischen Zukunftsfonds Beträge in Höhe
land 55 Jahre nach dem Ende der Nazi-Barbarei endlich von insgesamt 1,5 Milliarden DM zur Verfügung gestellt.
einmal des Themas Entschädigung für NS-Unrecht an- Diese Beträge sollten auch ehemaligen Zwangsarbeitern
nehme, ist zumindest in dieser Form nicht nachvollzieh- zugute kommen.
bar. Diese Stiftungsinitiative zur Entschädigung von NS-
Zwangsarbeitern knüpft an das Entschädigungs- und Mit der neu zu gründenden Bundesstiftung soll nun
Versöhnungswerk an, das schon Anfang der 50er-Jahre eine umfassende und abschließende Regelung erreicht
unter Bundeskanzler Konrad Adenauer begründet wurde. werden, die insbesondere auch jenen alten, kranken und
Leider gab es in den letzten Monaten nur wenige Veröf- gebrechlichen Opfern zugute kommen soll, die bislang
10756 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Wolfgang Bosbach

(A) aus unterschiedlichsten Gründen noch keine Chance hat- 14. Juli, damit das Gesetz möglichst rasch in Kraft tritt. (C)
ten, aus den umfangreichen Wiedergutmachungspro- Angesichts des Umstandes, dass pro Jahr etwa 10 Prozent
grammen eine finanzielle Leistung zu erhalten. Gerade der ehemaligen Zwangsarbeiter sterben, muss es unser ge-
weil es ein wichtiges Ziel und Anliegen dieser Stiftung ist, meinsames Anliegen sein, dass schon in wenigen Mona-
das Kapitel Wiedergutmachung nationalsozialistischen ten mit den ersten Akontozahlungen an die Opfer begon-
Unrechts umfassend und abschließend zu regeln, muss nen werden kann.
dafür gesorgt werden, dass die zur Verfügung stehenden
(Beifall im ganzen Hause)
Mittel die Leistungsberechtigten und insbesondere die
noch lebenden Opfer auch tatsächlich so rasch wie mög- Wir alle wollen die jetzt noch lebenden Opfer erreichen,
lich und in voller Höhe erreichen. nicht deren Hinterbliebene.
Diese Stiftungsinitiative soll keine institutionelle För- Zu den Problemen, über die wir im Zuge der Verhand-
derung betreiben, keine Sachinvestitionen tätigen oder lungen und Beratungen über diesen Gesetzentwurf in den
gar den Aufbau neuer Bürokratien finanzieren. Sie soll ge- vergangenen Wochen sehr intensiv gesprochen haben,
genüber den Opfern, gegenüber jedem einzelnen ehema- gehörte auch der Wunsch der Opfer in den baltischen
ligen Zwangsarbeiter, durch eine Entschädigung in Form Staaten, mit der Geltendmachung ihrer Ansprüche nicht an
einer humanitären Geste ein Stück Wiedergutmachung die Stiftungen in Moskau und Minsk verwiesen zu werden.
leisten. Die Verantwortung dafür, dass die Stiftungsmittel Das Anliegen ist verständlich; in dem gewünschten Um-
nicht in irgendwelchen Administrationen versickern oder fange konnten wir ihm leider nicht entsprechen, denn im
gar zweckwidrig verwendet werden, tragen die Partneror- Ergebnis hätte auch das bedeutet, dass zumindest der Allo-
ganisationen, das noch zu bildende Kuratorium und der kationsbeschluss infrage gestellt worden wäre – mit mögli-
Stiftungsvorstand – nicht allein gegenüber dem deutschen cherweise unabsehbaren Folgen. Jedenfalls hätten wir un-
Steuerzahler, der mit circa 7,5 Milliarden DM belastet ser Ziel, das Gesetzgebungsverfahren noch vor der parla-
wird, sondern auch und in erster Linie gegenüber den Op- mentarischen Sommerpause abzuschließen, um möglichst
fern der Nazi-Diktatur. bald mit Zahlungen zu beginnen, nicht erreichen können.
Die Unionsfraktion – ich glaube, dies auch im Namen Wir sind froh, dass wir dieses Ziel erreicht haben. Das
der anderen Fraktionen des Hauses sagen zu können – ist verdanken wir auch meinem Freund Bernd Reuter. Ich darf
mit Ihnen, Graf Lambsdorff, über die drohende Unterfi- mich im Namen der Fraktionen herzlich für deine gute
nanzierung der so genannten sechsten Partnerorganisa- Verhandlungsführung bedanken. Du warst ein guter Mo-
tion, der International Organization for Migration, be- derator und hast uns sehr geholfen.
sorgt. Sie soll jene Opfer nicht jüdischen Glaubens be-
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem
treuen und entschädigen, die in den Ländern leben, die
(B) über keine eigene Partnerorganisation verfügen. Für die BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.) (D)
Frage, ob überhaupt ein Leistungsanspruch geltend ge- Und ob zu einem späteren Zeitpunkt mit den übrigen Ver-
macht werden kann und, wenn ja, in welcher Höhe, kön- handlungspartnern ein Einvernehmen auch in dieser Frage
nen nach übereinstimmender Auffassung aller Berichter- hätte erzielt werden können, ist höchst ungewiss.
statter nur das Lebensschicksal des Opfers, also dessen
Wichtig wird es jetzt sein, dass im Gesetzesvollzug, in
Leid und das an ihm begangene Unrecht, maßgeblich
der praktischen Abwicklung durch die zuständigen Part-
sein, nicht jedoch die Frage, welcher Glaubensgemein-
nerorganisationen in Moskau und Minsk die berechtigten
schaft das Opfer angehört und in welchem Land das Op-
Interessen der baltischen Staaten unter Berücksichtigung
fer heute lebt.
der Auffassungen des Deutschen Bundestages, die sich in
(Beifall im ganzen Hause) der Begründung des Gesetzestextes wiederfinden, ausrei-
chend berücksichtigt werden. Dies gilt insbesondere für
Es darf im Ergebnis nicht so sein, dass ein heute in
etwaige Widerspruchsverfahren.
Frankreich oder in England lebender ehemaliger polni-
scher Zwangsarbeiter nicht jüdischen Glaubens nur des- Für die Unionsfraktion ist dieser Gesetzentwurf auch
halb eine geringe oder möglicherweise überhaupt keine deshalb von Bedeutung, weil wir mit ihm den Blick nicht
Entschädigung erhält, weil er nach dem Kriege – aus wel- nur zurück, sondern auch nach vorne richten. Die Idee der
chen Gründen auch immer – aus Polen nach Frankreich Gründungsunternehmen der Stiftungsinitiative der deut-
oder England ausgewandert ist. Diese Stiftungsinitiative schen Wirtschaft war es, das Stiftungsvermögen jeweils
soll zumindest ein Stück Wiedergutmachung leisten und zur Hälfte für individuelle Entschädigungsleistungen ei-
damit der Gerechtigkeit dienen. Sie darf keine neuen Un- nerseits und für zukunftsbezogene Projekte andererseits
gerechtigkeiten schaffen. zur Verfügung zu stellen.
Angesichts des zur Verfügung stehenden Datenmateri- Ich persönlich und mit mir viele Kolleginnen und Kol-
als hätte es nahe gelegen, an eine andere Verteilung und legen bedauern es sehr, dass der Gedanke eines großzügig
damit gleichzeitig an eine Revision des Allokationsbe- ausgestatteten Zukunftsfonds, der ja aus seinen Erträg-
schlusses zu denken. Damit wäre jedoch der gesamte – nissen auf Dauer tätig sein soll, in den vergangenen Mo-
ich betone: der gesamte – Verhandlungsprozess mit einem naten immer mehr an Strahlkraft verloren hat. Im Zuge
völlig ungewissen Ausgang neu eröffnet worden. Unser der Verhandlungen sank sein Anteil am Stiftungsvermö-
gemeinsames Ziel war es jedoch, den Gesetzgebungsvor- gen von zunächst 10 Prozent auf nunmehr 7 Prozent. Und
gang noch vor der parlamentarischen Sommerpause ab- wenn von diesem Betrag auch noch 100 Millionen DM für
zuschließen, das heißt vor der Sitzung des Bundesrates am Forderungen aus Versicherungsansprüchen bereitgestellt
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10757
Wolfgang Bosbach

(A) werden müssten, hätten wir eine Untergrenze erreicht, die (Beifall im ganzen Hause) (C)
nicht weiter unterschritten werden darf.
Diese Stiftungsinitiative kann und darf nicht ein Projekt
Wir sehen in dem Zukunftsfonds die besondere des Staates und relativ weniger Unternehmen bleiben.
Chance, nicht nur als Mahnung für kommende Genera- Hier geht es vielmehr, wie gerade die kommunalen Akti-
tionen die Erinnerung an das NS-Unrecht wach zu halten, vitäten zeigen, um eine gesamtstaatliche Initiative und um
sondern auch der Ausbreitung von extremistischem und eine gesamtstaatliche Verantwortung, der sich mehr als
rassistischem Gedankengut sowie totalitären Systemen nur 1,5 Prozent aller Unternehmen stellen müssen.
aller Art entgegenzuwirken. Es ist unbedingt notwendig,
Wenn man in diesem Zusammenhang berücksichtigt,
dass der Zukunftsfonds Schwerpunkte auf solche Projekte
dass die Wirtschaftsunternehmen ihre Beträge steuerlich
legt, die dem Jugendaustausch, der Versöhnung, der Völ-
absetzen können und dass infolgedessen der deutsche
kerverständigung, der Achtung von Menschenrechten,
Steuerzahler durch die Addition von direkten Zahlungen
aber auch der Pflege von Beziehungen zu den überleben-
und Steuermindereinnahmen wirtschaftlich betrachtet
den Opfern dienen.
drei Viertel aller Lasten trägt, dann sollte es eigentlich
Auch vor dem Hintergrund dieses wichtigen Projektes, eine Selbstverständlichkeit sein, dass die heute noch feh-
dessen Bedeutung nicht unterschätzt werden sollte, ist lenden 1,8 Milliarden DM aus den Kreisen der deutschen
die – nach wie vor zu beklagende – mangelnde Bereit- Wirtschaft bald aufgebracht werden.
schaft vieler Wirtschaftsunternehmen, sich an der Auf-
(Beifall im ganzen Hause)
bringung des Fondsvermögens zu beteiligen – milde
formuliert –, mehr als nur enttäuschend. Etwa Einig sind wir uns auch darin, dass die Auszahlung
200 000 Unternehmen aller Branchen wurden von den der Stiftungsmittel an die Partnerorganisationen und an
Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft aufgefordert, die Opfer grundsätzlich erst dann erfolgen kann, wenn die
der Initiative beizutreten, und wenn es stimmt, dass bis- vor den US-Gerichten anhängigen Klagen konsolidiert
lang nur gut 1,5 Prozent der Unternehmen der Aufforde- bzw. abgewiesen sind. Die Bereitschaft, diese Klagen –
rung gefolgt sind, dann ist das für die deutsche Wirtschaft umgangssprachlich formuliert – zu erledigen, wird nach
kein Ruhmesblatt. aller Lebenserfahrung nach Auszahlung des Geldes stark
nachlassen. Deshalb muss es bei folgender Reihenfolge
(Beifall im ganzen Hause)
bleiben: erst Konsolidierung und Abweisung der Klagen,
Dies muss insbesondere für diejenigen Unternehmen ent- dann die Auszahlung der Stiftungsmittel an die Partneror-
täuschend sein, die durch die Gründung der Stiftungsinitia- ganisationen und an die Opfer.
tive Verantwortung übernommen haben, und für solche Fir-
Abschließend darf ich noch einmal auf die Erklärung
men, die erst vor wenigen Jahren gegründet wurden, die
(B) also nie in das nationalsozialistische Unrechtssystem ver- unserer Fraktion hinweisen, insbesondere auf Ziffer 11: (D)
strickt waren und die sich trotzdem mit zum Teil erheb- Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion fordert die Bun-
lichen Beträgen engagieren. desregierung auf, mit denjenigen Staaten, die nach
dem Ende des Zweiten Weltkrieges Deutsche ver-
Von denjenigen Unternehmen, die sich bislang vor-
schleppt und unter unmenschlichen Bedingungen zur
nehm zurückhalten, wurde zunächst eingewandt, man
Arbeit gezwungen haben, oder mit deren Nachfolge-
müsse das Ergebnis der internationalen Verhandlungen
staaten Kontakt aufzunehmen mit dem Ziel, dass
abwarten. Die Verhandlungen sind seit vier Monaten ab-
auch die noch lebenden deutschen Opfer von diesen
geschlossen. Dann wurde vorgetragen, dass auch Rechts-
Staaten eine – der deutschen Regelung entspre-
sicherheit und dauerhafter Rechtsfrieden, vor allen Din-
chende – Entschädigung in Form einer humanitären
gen in den USA, gewährleistet sein müssten. Auch diese
Geste erhalten.
schwierige Problematik wurde in der Zwischenzeit zur
Zufriedenheit aller Beteiligten, nicht nur der Bundesre- (Beifall bei der CDU/CSU)
gierung, sondern auch der deutschen Wirtschaft, gelöst.
Viele Mitbürgerinnen und Mitbürger haben die Ver-
Wir alle wissen, dass es hundertprozentigen Rechts- handlungen in den vergangenen Monaten mit großem In-
schutz auch und gerade in den USA nicht geben kann. teresse verfolgt, insbesondere jene, die selber verschleppt,
Aber wenn nicht nur die Bundesregierung, sondern auch gequält und unter grausamen Bedingungen in Russland
führende Repräsentanten der deutschen Wirtschaft erklä- oder in anderen Staaten Zwangsarbeit verrichten mussten.
ren, dass das erzielte Verhandlungsergebnis für sie auch in Vermutlich ist es politisch nicht korrekt, wenn auch an de-
puncto Rechtssicherheit befriedigend sei, dann kann ein ren Schicksal erinnert wird. Es geht uns nicht um Auf-
Beitritt zur Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft rechnung, es geht uns auch nicht darum, den Eindruck zu
nicht mehr unter Hinweis auf angeblich fehlende Rechts- vermitteln, als habe es hüben und drüben in gleicher
garantien der USA verweigert werden. Weise Unrecht gegeben und daher sei man quitt, als müsse
ein Schlussstrich gezogen werden. Es wäre geradezu
Wenn heute dieser Gesetzentwurf – wie ich hoffe, mit
töricht, eine solche Auffassung zu vertreten. Aber es muss
einer breiten Mehrheit dieses Parlamentes – verabschie-
erlaubt sein, in dieser Debatte darauf hinzuweisen, dass
det wird, dann gibt es insbesondere für jene Firmen, die
auch viele Deutsche Opfer von Ausbeutung unter un-
im Dritten Reich Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbei-
menschlichen Bedingungen waren.
ter beschäftigt haben, keinen einzigen vernünftigen
Grund mehr dafür, sich nicht mit einem angemessenen Die heute noch lebenden deutschen Opfer werden nicht
Betrag am Stiftungsvermögen zu beteiligen. eine finanzielle Entschädigung erwarten oder diese gar
10758 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Wolfgang Bosbach

(A) einklagen. Aber zumindest auf eine humanitäre Geste ha- Die künftigen Generationen sollen in einer gesicherten (C)
ben sie am Ende dieses Jahrhunderts bzw. zu Beginn ei- Demokratie, frei von Repressionen und in freundschaftli-
nes neuen Jahrhunderts ebenso ein Recht wie alle anderen chem Einvernehmen mit anderen Staaten leben können.
Opfer von Unmenschlichkeit und Tyrannei auch.
Dabei möchte ich nicht versäumen, auch an die jünge-
Danke schön. ren Mitbürgerinnen und Mitbürger in unserem Lande zu
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) appellieren, die Erinnerung an die deutsche Vergangen-
heit wach zu halten und dafür Sorge zu tragen, dass sich
die Geschichte nicht wiederholt.
Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort
dem Kollegen Bernd Reuter, SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
PDS)
Bernd Reuter (SPD): Herr Präsident! Meine sehr ver-
ehrten Damen und Herren! Das Gesetz zur Errichtung der Mit der heutigen Verabschiedung des Gesetzentwurfes
Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“, das ist sichergestellt, dass die Stiftung mit ihrer Arbeit in
wir heute in zweiter und dritter Lesung behandeln und Kürze beginnen kann. Auch hierbei werden wir als Parla-
verabschieden wollen, ist ein Meilenstein in der Nach- mentarier im Kuratorium intensiv mitarbeiten. Ich unter-
kriegsgeschichte Deutschlands. Dieses Gesetz symboli- streiche, was mein Kollege Wolfgang Bosbach gesagt hat:
siert die historische und moralische Verantwortung des Noch in diesem Jahr sollte mit der Auszahlung an die
deutschen Volkes, auch hier für nationalsozialistisches meist hoch betagten Opfer begonnen werden.
Unrecht, dem dunkelsten Kapitel unserer Geschichte,
Verantwortung zu tragen. Menschen aus vielen Ländern Die Voraussetzungen dafür sind geschaffen. Der Bun-
Europas wurden von Deutschen verschleppt, misshandelt desfinanzminister wird sicherstellen, dass der Bund die
und durch Zwangsarbeit getötet. Die Sklaven- und Stiftung mit der vereinbarten Summe von 5 Milliar-
Zwangsarbeit hatte oft nur ein Ziel, nämlich Leben zu ver- den DM ausstattet, und zwar noch in diesem Jahr. In ei-
nichten. Ich habe wie viele andere Bundestagskolleginnen nem Brief an Bundesfinanzminister Hans Eichel hat die
und -kollegen erschütternde Berichte über die Leidens- Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft nochmals
wege von überlebenden Opfern gehört. versichert, dass sie in ihren Bemühungen, die vollen
5 Milliarden DM zu sammeln, nicht nachlassen wird und
Mit der Errichtung der Stiftung „Erinnerung, Verant-
dass das Geld rechtzeitig zur Auszahlung zur Verfügung
wortung und Zukunft“ setzen wir ein Zeichen der Ent-
steht. Herr Gibowski, der Sprecher dieser Initiative, hat
schuldigung und Versöhnung an alle Opfer, an „die Un-
heute Morgen im Deutschlandfunk erklärt, dass die heu-
(B) tergegangenen und die Geretteten“, wie sie Primo Levi (D)
nannte. Es ist nicht übertrieben, diese Stiftung 55 Jahre tige Verabschiedung des Gesetzentwurfes durch den
nach Ende des Krieges als einen historisch bedeutsamen Deutschen Bundestag helfen wird, den Druck auf die In-
Schritt zu bezeichnen. dustrie zu erhöhen, damit die Sammelaktion erfolgreich
abgeschlossen werden kann.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Wolfgang (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Gerhardt [F.D.P.]) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
F.D.P. und der PDS)
Mit aller Deutlichkeit möchte ich betonen, dass es sich
hier nur um eine humanitäre Geste handeln kann. Auch Durch dieses Gesetz, das deutsch-amerikanische Re-
mit noch so großem finanziellen Aufwand kann das un- gierungsabkommen und die gemeinsame Erklärung aller
endliche Leid der Zwangsarbeit nicht wirklich wieder an den Verhandlungen beteiligten Parteien haben wir ein
gutgemacht werden. ausreichendes Maß an Rechtssicherheit für die deut-
schen Unternehmen erreicht. Deshalb gibt es für deutsche
(Beifall bei der SPD)
Firmen keinen vernünftigen Grund mehr, sich der Stif-
Aber wir können dieses Leid anerkennen und unsere hi- tungsinitiative nicht anzuschließen.
storische Verantwortung annehmen. Dies ist die Grund-
lage unserer Gesetzesinitiative. Dass alle Fraktionen des (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Deutschen Bundestages gemeinsam diesen Gesetzent- der CDU/CSU)
wurf tragen, zeigt, dass sich der Deutsche Bundestag sei- Ich fordere alle Unternehmen nachdrücklich auf, sich ih-
ner Verantwortung bewusst ist. rer historischen Verantwortung bewusst zu werden. Die
Mit dieser Stiftung dürfen wir keinen Schlussstrich deutsche Wirtschaft muss ihren finanziellen Beitrag von
unter unsere Geschichte ziehen. Die Ungeheuerlichkei- 5 Milliarden DM umgehend leisten.
ten, die Menschen anderen Menschen angetan haben, (Beifall im ganzen Hause)
dürfen wir nicht vergessen. Denn nur so stellen wir sicher,
dass sich in der Zukunft ein System wie das NS-Regime Es ist überdies notwendig, dass alle Firmen, die Zwangs-
nicht wiederholt. arbeiter beschäftigt haben, ihre Firmenarchive für den
Nachweis der Leistungsberechtigung öffnen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
PDS) DIE GRÜNEN)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10759
Bernd Reuter

(A) Das Gleiche gilt auch für die Bundesländer und für die nisterien für die Zusammenarbeit herzlich danken. Mein (C)
Kommunen. Der Internationale Suchdienst des Roten besonderer Dank und meine Anerkennung gilt dem Beauf-
Kreuzes in Arolsen ist durch geeignete Maßnahmen und tragten des Bundeskanzlers, Graf Lambsdorff. Es ist nicht
Aufstockung des Personals in die Lage zu versetzen, den zuletzt sein bleibendes Verdienst, dass wir heute dieses Ge-
Opfern schnell und unbürokratisch den Nachweis der setz verabschieden können.
Leistungsberechtigung zu liefern. Das gilt vor allem für
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
jene sechste Partnerorganisation, die Internationale Orga-
GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)
nisation für Migration – sie wird manchmal auch siebte
Partnerorganisation genannt –, die für alle Opfer im „Rest Das Ergebnis vieler Beratungen liegt uns heute vor. Es
der Welt“ zuständig ist. geht nicht um theoretische und juristische Formulierun-
gen, gespickt mit Zahlen; es geht um menschliche Schick-
Eine Gleichbehandlung aller Opfer nach dem vorlie- sale. Wer noch immer Zweifel hat, diesem Gesetz zuzu-
genden Gesetz, unabhängig von ihrem jetzigen Wohnsitz stimmen, dem empfehle ich eindringlich, den Artikel über
und ihrer Nationalität, ist oberstes Gebot. Das gilt nicht einen ehemaligen polnischen Zwangsarbeiter zu lesen, der
nur für die Bearbeitung ihrer Anträge, sondern vor allem in der Zeitschrift „Publik-Forum“ abgedruckt war und den
für den Erhalt gleicher Leistungen. Ein ehemaliger ich allen Abgeordneten in die Fächer habe legen lassen.
Zwangsarbeiter, der heute in Slowenien wohnt, darf bei Dieser polnische Zwangsarbeiter ist der einzige Überle-
gleichem Schicksal der Verfolgung nicht weniger erhalten bende einer 23-köpfigen jüdischen Familie. Er hat in zwei-
als ein Opfer in einem anderen Land. dreiviertel Jahren sechs Konzentrationslager durchlitten
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und hat überlebt. Dieser Mann wartet nun auf unser Ge-
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der setz: Er möchte mit seiner Frau noch einmal in seinem Le-
F.D.P.) ben nach Israel fahren und möchte das Geld dafür nutzen.
Nach der Lektüre dieses Artikels dürfte eigentlich kein
Aufgrund der geschätzten Zahl dieser Opfer ist zu be- Mitglied dieses Hohen Hauses diesem Gesetz seine Zu-
fürchten – das ist auch bei Graf Lambsdorff und bei Herrn stimmung verweigern.
Bosbach angeklungen –, dass die vorgesehenen Mittel für
die sechste Partnerorganisation in Höhe von 540 Milli- Ich danke Ihnen.
onen DM vermutlich nicht ausreichen werden. Deshalb (Beifall im ganzen Hause)
muss sichergestellt werden, dass alle Mittel, die in ande-
ren Bereichen nicht in Anspruch genommen werden, an
die sechste Partnerorganisation fließen, damit keine Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile dem Kolle-
neuen Ungerechtigkeiten entstehen. gen Max Stadler, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
(B) (D)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Dr. Max Stadler (F.D.P.): Herr Präsident! Meine sehr
F.D.P. und der PDS) geehrten Damen und Herren! Wenn es nach einem so lan-
gen Verhandlungsprozess und nach so schwierigen Bera-
Die Stiftung ist auch berechtigt, Zuwendungen von Drit- tungen zu einem konkreten Ergebnis kommt, dann stellt
ten anzunehmen und sich um weitere Zuwendungen zu sich bei denen, die daran beteiligt waren, schon eine ge-
bemühen. Wer schon jetzt einen Beitrag leisten will, kann wisse Zufriedenheit ein. Für Selbstzufriedenheit ist den-
dies tun. Das Bundesfinanzministerium hat dafür ein noch kein Anlass: Uns ist bewusst, wie begrenzt unsere
Konto eingerichtet, auf dem bereits Beiträge eingegangen Möglichkeiten sind, mit einer humanitären Geste den Op-
sind. Bei der Aufteilung des Stiftungsvermögens ist si- fern der Zwangsarbeit im Nazistaat unsere Reverenz zu
chergestellt, dass 8,1 Milliarden DM den Opfern direkt erweisen, und uns ist bewusst, dass diese humanitäre Ges-
zugute kommen. 1 Milliarde Mark werden für Vermö- te für viele Opfer zu spät kommt. Den Opfern gilt daher
gensschäden bereitgestellt. der erste Gedanke in dieser Debatte.
Besondere Aufmerksamkeit gilt dem Fonds „Erinne- Ich bin froh, dass im Zuge dieses Verhandlungsprozes-
rung und Zukunft“. Er ist mit 700 Millionen DM aus- ses die rein juristische Betrachtungsweise verlassen wor-
gestattet; wir hätten allerdings gerne 1 Milliarde DM den ist, die uns in der Vergangenheit daran gehindert hat,
vorgesehen. Es geht darum, eine dauerhafte Aufgabe zu das Problem zu lösen. Eine weitere Debatte um die Fra-
bewerkstelligen, Projekte der Völkerverständigung und gen, ob Ansprüche juristisch oder nur moralisch gerecht-
Ver-söhnung zu finanzieren, Jugendaustausch und Zu- fertigt seien, ob Verjährung vorliege oder nicht und wer
sammenarbeit auf humanitärem Gebiet sowie die Aufar- denn der eigentliche Anspruchspartner sei, die öffentliche
beitung der Geschichte zu organisieren. Wir dürfen die Hand oder die Privatfirmen, hätte nicht weitergeführt. Mit
Zahlungen an die Opfer nicht gegen diesen Zukunftsfonds dem jetzt vorliegenden Stiftungsgesetz stellen sich der
ausspielen. Beide Dinge gehören gemeinsam in unsere Ini- Deutsche Bundestag und die Stiftungsinitiative der deut-
tiative. schen Wirtschaft der historischen Verantwortung.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten
DIE GRÜNEN) der SPD)
Es war ein ungewöhnliches Gesetzgebungsverfahren. Der Bundestag hat das getan, was seine Pflicht war und
Ich möchte an dieser Stelle den Beteiligten aus allen Frak- was er nach diesen vielen Jahren und Jahrzehnten wenig-
tionen des Deutschen Bundestages und den beteiligten Mi- stens tun konnte. Er hält das den Opfern gegebene
10760 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Dr. Max Stadler

(A) Versprechen, das Ergebnis der verdienstvollen Verhand- Meine Damen und Herren, wir haben intern vereinbart, (C)
lungen von Graf Lambsdorff noch vor der Sommerpause entgegen dem, was noch in der ersten Lesung üblich ge-
in ein konkretes Gesetz umzusetzen. Das waren wir den wesen ist, mit Dankesarien sparsam umzugehen, weil es
Opfern schuldig; das sind wir auch der Stiftungsinitiative vielleicht dem Ernst der Thematik nicht angemessen
der deutschen Industrie und ihren berechtigten Interessen wäre, wenn wir uns selber zu sehr auf die Schulter klopf-
schuldig gewesen. ten. Ich fand die Zusammenarbeit mit den Berichterstat-
tern der anderen Fraktionen jedoch so bemerkenswert,
(Beifall bei der F.D.P., der SPD und dem dass ich sie hier doch hervorheben und sagen möchte:
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Alle, die beteiligt waren – Ulla Jelpke, Dieter
Jetzt sind andere am Zuge. Die Stiftungsinitiative wird Wiefelspütz, Bernd Reuter, Volker Beck, Wolfgang
von uns nachdrücklich in ihrem Bemühen unterstützt, end- Bosbach und Martin Hohmann –, haben ihren Anteil da-
lich den zugesagten Gesamtbetrag von 5 Milliarden DM in ran. Diesen Dank möchte ich gern hier aussprechen.
die Stiftung einzubringen. Alle anderen Redner haben es (Beifall im ganzen Hause)
auch schon gesagt – ich wiederhole es für die F.D.P.-Frak-
tion –: Jetzt gibt es keine Ausreden mehr. Die so ungewöhnlich strukturierten Beratungen der
Berichterstatter und des Innenausschusses haben nach
(Beifall bei der F.D.P., der SPD und dem meinem Urteil auch deutliche Verbesserungen gegenüber
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) den Ursprungsentwürfen gebracht. Ich erinnere an einige
Am Zuge sind auch die Anwälte, die insbesondere in den Monita, die wir von der F.D.P. in der ersten Lesung vor-
Sammelklagen in den USA die Kläger vertreten und die getragen haben, aber vor allem an Anliegen, die sich aus
auf ihre Weise ja auch einen Beitrag geleistet haben, um die der äußerst interessanten Anhörung des Innenausschus-
Lösung der Problematik voranzutreiben. Aber diese Sam- ses ergeben haben. Ich nenne fünf Punkte:
melklagen müssen jetzt erledigt werden, damit – so ist es Es ist in den Verhandlungen seit dem Allokationsbe-
vereinbart – mit der Auszahlung an die Opfer begonnen schluss vom 23. März offen thematisiert worden, dass die
werden kann. finanzielle Ausstattung für die Opfer derjenigen Staaten,
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich kurz auf das die nicht am Verhandlungsprozess beteiligt waren, mögli-
Gesetzgebungsverfahren zurückblicken; denn es war cherweise nicht ausreichen wird. Genaues weiß man erst,
schon so ungewöhnlich, dass es noch einer Erwähnung wenn die Anträge gestellt und bewertet worden sind. In
wert ist. In letzter Zeit ist eine berechtigte Debatte über unseren Beratungen ist dieses Thema jedenfalls ganz of-
fen angesprochen worden. Lösungsmöglichkeiten sind
die Frage entstanden, ob denn Konsensrunden das ange-
aufgezeigt worden, und sofern diese nicht ausreichen soll-
(B) messene Mittel zur Lösung von Problemen seien. In der ten, bringt der Deutsche Bundestag heute mit einem Ent- (D)
Tat entspricht es dem traditionellen, vom Angelsächsi-
schließungsantrag deutlich zum Ausdruck, dass das Pro-
schen her geprägten Demokratiemodell, dass sich die kla-
blem, sollte es denn eines sein, gelöst werden wird. Das
ren Vorstellungen von Regierungsseite einerseits und Op-
sind wir dem Gedanken der Gleichbehandlung aller Op-
position andererseits deutlich gegenüberstehen und auch
fer schuldig, und deswegen ist der Entschließungsantrag
zueinander in Kontrast gebracht werden. In diesem Ge- neben dem Gesetz ebenfalls von großer Bedeutung.
setzgebungsverfahren haben wir uns eher am Schweizer
Konkordanzmodell orientiert. Das heißt, in völlig unge- (Beifall bei der F.D.P., der SPD, dem BÜND-
wöhnlicher Weise haben sich alle Fraktionen des Deut- NIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)
schen Bundestages in den Beratungen bemüht, die vorlie- Wir konnten erreichen, dass es eine Gleichbehandlung
genden Entwürfe, die von der Bundesregierung und den der Opfer hinsichtlich der von ihnen aufgewendeten Ver-
Fraktionen eingebracht wurden, gemeinsam zu verbes- fahrenskosten geben wird. Auch das ist für die einzelnen
sern. Betroffenen von größter Bedeutung.
Ein solches Verfahren, das man im Bundestag nur Die Zusammensetzung des Kuratoriums ist größer
höchst selten erlebt, fand seine Rechtfertigung darin, dass und nach unserer Meinung auch sinnvoller ausgestaltet
hier eben nicht die übliche Auseinandersetzung zwischen geworden. Endlich ist aus dem Gesetzentwurf der Absatz
Regierung und Opposition stattgefunden hat, sondern entfernt worden, der einige Vertreter bestimmter Staaten
dass der Deutsche Bundestag als Gesamtheit Partner in ei- von der weiteren Mitarbeit im Kuratorium nach der ersten
nem internationalen Verhandlungsprozess gewesen ist Amtszeit ausgegrenzt hätte. Dies war völlig unverständ-
und die Aufgabe hatte, die Ergebnisse dieses Verhand- lich, das konnten wir so nicht belassen.
lungsprozesses gemeinsam umzusetzen.
Schließlich haben wir Mechanismen gefunden, die es
Die Verhandlungen der Berichterstatter mit den Minis- ermöglichen, dass bei der Auszahlung der ersten Rate fle-
terien und dem Arbeitsstab von Graf Lambsdorff waren xibler vorgegangen wird, als dies der Ursprungsentwurf
außerordentlich konstruktiv. Ich will damit das Konsens- vorgesehen hatte; denn die Zielsetzung besteht nun ein-
modell nicht für weitere Fälle empfehlen, aber es ist doch mal darin, so rasch wie möglich so viel wie möglich von
festzuhalten, dass alle Seiten dieses Hauses in dem Ge- den zur Verfügung stehenden Mitteln an die Opfer auszu-
setzgebungsverfahren ihre Vorstellungen nicht nur vortra- zahlen. Die Einbeziehung nationaler Opferverbände ist
gen konnten, sondern dass für das bessere Argument die ein Ergebnis der schon von mir erwähnten Anhörung des
echte Chance bestanden hat, sich durchzusetzen. Innenausschusses.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10761
Dr. Max Stadler

(A) Meine Damen und Herren, es stellt sich die Frage: Er- stellvertretend für das deutsche Volk bei denen entschul- (C)
leben wir heute den Abschluss eines historischen Vor- digen, denen man so etwas angetan hat.
gangs? Man ist geneigt zu sagen: Wir sind nahe daran. (Beifall im ganzen Hause)
Hoffen wir, dass die letzten Hürden, die außerhalb dieses
Parlaments liegen, ebenfalls noch überwunden werden. Auch wenn unser Staat und die Gerichte es lange nicht
Erst dann, wenn das Ziel erreicht wird, noch in diesem wahrhaben wollten: Der Einsatz von Zwangsarbeitern
Jahr die ersten Auszahlungen an die Opfer tatsächlich war nationalsozialistisches Unrecht und dieses Gesetz ist
durchzuführen, können wir wirklich zufrieden sein. die späte Anerkenntnis dieses Tatbestandes.
Vielen Dank. Ich will Ihnen aus einer bemerkenswerten Lokalstudie
aus Goslar einige Briefe zitieren. Diese hat Friedhart
(Beifall im ganzen Hause) Knolle unter dem Titel „Gebt uns unsere Würde wieder“
zusammengestellt. Eine Frau aus der Ukraine, die als jun-
Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile dem Kolle- ges Mädchen im Frühjahr 1942 nach Grauhof im Harz
gen Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. verschleppt wurde, schreibt:
Nach langer Fahrt musste ich vom 30. April 1942 bis
zum 6./7. April 1945 in der Mineralwasserfabrik
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Harzer Grauhof-Brunnen in Goslar gemeinsam mit
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute bringen
11 weiteren jungen Frauen Zwangsarbeit leisten. Ich
wir ein Gesetzeswerk zum Abschluss, für das unsere Frak- war im dortigen Zwangsarbeiterlager unter gefäng-
tion seit 15 Jahren gekämpft hat: eine Bundesstiftung für nisartigen und schlimmen Bedingungen eingesperrt.
die ehemaligen Zwangsarbeiter unter Beteiligung der So gab es zum Beispiel kein Haarwaschmittel; wir
deutschen Wirtschaft. Angesichts des Unrechts, das die- mussten dafür die Soda benutzen, ... mit allen ge-
sen Menschen angetan wurde, war es für uns immer un- sundheitlichen Folgen wie zum Beispiel Haarausfall
verständlich und inakzeptabel, dass sie vom deutschen bei uns. Wir durften das Lager in der ersten Zeit bis
Entschädigungsrecht ausgeschlossen waren. auf die Produktionsräume und unsere Unterkunft
Der Holocaust an Juden, Sinti und Roma ist meiner nicht verlassen; erst viel später erhielten wir zwei bis
Generation aus dem Schulunterricht bekannt gewesen. Er drei Stunden Freigang täglich. Wir litten ständig
bedeutete millionenfache Deportation, Vernichtungsla- Hunger, es gab nur schlechtes Essen, das zudem häu-
ger, für die Sklavenarbeiter auch Vernichtung durch Ar- fig durch Kakerlaken und Glasscherben gefährlich
beit. Über das Schicksal der anderen deportierten zivilen verunreinigt war. ... Es herrschte uneingeschränkter
Arbeitszwang; wir wurden geschlagen und Tritte
Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen hingegen habe ich
(B) in der Schule nichts erfahren: nichts davon, dass unge- gehörten zu den Alltäglichkeiten. Unser Meister (D)
hat uns so häufig und intensiv schikaniert, dass ich
horsamen Zwangsarbeitern so genannte Arbeitserzie- seinerzeit mehrfach an Selbstmord gedacht habe.
hungslager angedroht wurden, nichts davon, dass die Be-
dingungen dort vielfach den Bedingungen von KZs ver- An die Autoren der Ausstellung schrieb Anastasia B. aus
gleichbar waren, nichts davon, dass in diesen Lagern Bogdanowka folgenden Brief, den ich auszugsweise zi-
Menschen zu Wracks gemacht wurden, nicht wenige tiere:
schon nach wenigen Wochen starben. Ich wurde am 25. Mai 1943 nach Deutschland ver-
Juden hatten einen Davidstern zu tragen. Wenig be- schleppt. Ich war damals 18 Jahre alt. Wir wurden
kannt ist, dass Polen ein „P“ und Russen und Ukrainer ein nach Goslar gebracht und dann in der Zinkhütte
„Ost“ auf ihrer Kleidung tragen mussten. Habe ich in der Oker/Harz eingesetzt. Wir haben im Lager gewohnt
Schule erfahren, dass diese Menschen vielfach um ihren und unsere Bewacher haben uns nicht wie Menschen
Lohn gebracht und am Arbeitsplatz geschlagen wurden, gehalten. Unser Arbeitstag war 11 Stunden lang, die
dass sie unterernährt und oftmals ohne medizinische Ver- Deutschen arbeiteten 6 Stunden. Am Tag haben wir
130 g Brot bekommen, nicht reines Brot, sondern mit
sorgung leben mussten, dass für sie als so genannte
Sägemehl. Unsere Arbeit war sehr schwer. ... Mein
Fremdvölkische der sexuelle Kontakt zu Deutschen mit
Bein wurde verletzt und zwei Wochen habe ich kein
der Todesstrafe bedroht war? Nein, diese Wahrheit war Brot bekommen. Dann habe ich gebetet, dass ich
weithin verschüttet geblieben. vielleicht irgendeine Arbeit bekomme im Sitzen,
Das ganze Ausmaß des nationalsozialistischen dass ich wenigstens meine Brotration bekomme. ...
Zwangsarbeitersystems ist uns erst durch die bahnbre- Die deutschen Mütter kamen zu unserem Lager mit
chenden Arbeiten von Ulrich Herbert bewusst geworden. Kindern; sie waren sehr gut angezogen. Sie haben
Erst in den letzen 15 Jahren sind erschütternde Doku- uns angespuckt. Und wir jungen schönen Mädchen
mentationen über die Lebens- und Leidensbedingungen mussten schweigend stehen und unter Tränen diese
dieser NS-Opfer erstellt worden. Sie machen auch deut- Spucke im Gesicht wegwischen. ... Die Erinnerung
lich, wie das Räderwerk des NS-Staates mit der Ausbeu- ist schmerzhaft und bitter. Ich habe keine Gesund-
tung durch die Privatwirtschaft verzahnt war. heit, das, was wir erlebt haben, wie wir als Menschen
gedemütigt wurden, so etwas wünsche ich keinem
Diese Dokumentationen und die vielen Briefe, die wir Menschen, nicht einmal meinen Feinden. ... Viel-
als Abgeordnete in den letzen Wochen von den überle- leicht werde ich auch nie Hilfe bekommen, aber ich
benden Opfern bekommen haben, zeigen mir vor allem: hoffe und warte, vielleicht kommt zu meiner kleinen
Wir als Deutscher Bundestag müssen und wollen uns Rente etwas dazu.
10762 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Volker Beck (Köln)

(A) Ich hoffe, die gute Nachricht für diese Frau – hoffentlich Präsident Wolfgang Thierse: Kollege Beck, gestat- (C)
lebt sie noch – ist heute, dass bald eine Zahlung, eine hu- ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Eckhardt?
manitäre Hilfe für sie erfolgt – als Versöhnungsgeste des
deutschen Volkes.
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ja.
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
PDS) Dr. Peter Eckardt (SPD): Herr Kollege Beck, Sie ha-
Dass diese zitierten Beispiele keine Einzelbeispiele ben mehrere Firmen aus meiner Heimatstadt genannt. Ich
waren, sondern der Regelfall, sieht man an der Vielzahl weiß nicht, wie gut Sie recherchiert haben. Ist Ihnen be-
von rechtlichen Sonderregelungen des NS-Regimes ge- kannt, dass die Firmen heute zu Konzernen gehören, die
rade für NS-Verfolgte und für die Opfer slawischer Ab- sich an der Initiative beteiligt haben, etwa die Firma
stammung. Borchers über Bayer Leverkusen?
Auch die geschilderten Lebensumstände der in Goslar (Erwin Marschewski [Recklinghausen]
eingesetzten Zwangsarbeiter, etwa bei den Firmen Che- [CDU/CSU]: Das ist schlimm! Damit treiben
mische Fabrik Borchers, Harzer Grauhof-Brunnen, Luthe Sie Leute zum Nein! – Weitere Zurufe von der
Bleiwerk oder dem Reichsbahnbetriebsamt Goslar, waren CDU/CSU)
sicherlich keine Sonderfälle. Wir könnten auch Hamburg,
Hannover, Stuttgart, München, Berlin oder Köln nehmen. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Aber ich frage beispielsweise: Gehört Harzer Grauhof- Das ist mir so nicht bekannt. Sollte es in Einzelfällen der
Brunnen zu denen, die sich nach 1945 bei den Opfern ent- Fall sein, würde ich das begrüßen. Ich habe versucht zu
schuldigt und ihnen einen finanziellen Ausgleich gezahlt recherchieren. Ich habe es bei den Goslarer Firmen sehr
haben? Nein. Gehören zum Beispiel Harzer Grauhof- bewusst als Frage formuliert. Bei den anderen Firmen
Brunnen oder die Chemische Fabrik Borchers aus Goslar weiß ich aber, dass sie nicht in der Liste auftauchen; da
oder ihre Rechtsnachfolger zu den Mitgliedern der Stif- gibt es eine Kontinuität.
tungsinitiative der deutschen Wirtschaft? Wie viel ha- (Zuruf von der CDU/CSU: Dann entschuldigen
ben sie gezahlt? Das wüssten wir gerne. In der veröffent- Sie sich doch einmal! – Gegenruf des Abg.
lichten Mitgliederliste der Stiftungsinitiative der deut- Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
schen Wirtschaft sind diese Betriebe nicht verzeichnet. NEN]: Ach, hören Sie doch auf!)
Gerade die Unternehmen, die oder deren Rechtsvor-
(B) gänger sich Sklaven und Zwangsarbeiter beschafft und (D)
Ich denke, wir sollten den Schwerpunkt hier vor allen
eingesetzt haben, sind aber in einer besonderen Pflicht. Dingen darauf legen, dass der Stiftungsinitiative der deut-
Ich frage zum Beispiel die Firma Haribo in Bonn, warum schen Wirtschaft nur eineinhalb Prozent, wie Kollege
sie nicht an der Stiftungsinitiative beteiligt ist. Ich frage Bosbach vorhin gesagt hat, beigetreten sind. Das ist der
die Firma Richard Hengstenberg, ich frage die Edeka- Skandal. Jeder, der dabei ist, ist okay und jeder, der fehlt,
Zentrale AG in Hamburg, muss aufgefordert werden, endlich mitzumachen.
(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
[CDU/CSU]: Prangerdarstellung!) und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
ich frage die Sektkellerei Henkel und Söhne, ich frage die CDU/CSU)
Stollwerck AG in meinem Wahlkreis in Köln, ich frage die
Bierbrauerei Warsteiner und ich frage die Südfleisch Hol- Präsident Wolfgang Thierse: Kollege Beck, gestat-
ding AG in München, warum sie sich bis heute ihrer ten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Deß,
historischen Verpflichtung entziehen. CDU/CSU-Fraktion?
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der SPD und der PDS – Dr. Wolfgang Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Die Pranger Bitte schön.
sind doch abgeschafft worden!)
Selbst wenn man nicht wie wir von Bündnis 90/Die Albert Deß (CDU/CSU): Herr Kollege Beck, ich
Grünen eine besondere rechtliche Verantwortung der Fir- möchte fragen: Haben Sie geprüft, ob die SPD für ihre
men für den Zwangsarbeitereinsatz bejaht und man sich Verlagsanteile bezahlt hat?
stattdessen das Paradigma der deutschen Wirtschaft zu Ei-
gen macht, es gehe heute allein um Verantwortung der ge-
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
samten deutschen Wirtschaft, muss man sich fragen: Wo
Ich finde diese Frage der Debatte nicht angemessen und
bleibt die angemessene finanzielle Bereitschaft des Trans-
beantworte Sie deshalb nicht.
portgewerbes, wo der Bauwirtschaft, wo schließlich des
Medienbereichs, der die mangelnde Zahlungsbereitschaft (Lachen bei der CDU/CSU – Beifall des Abg.
durch Zeitungen, Zeitschriften usw. hundertfach öffent- Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
lich dokumentiert und auch beklagt hat? NEN])
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10763
Volker Beck (Köln)

(A) Meine Damen und Herren, nun zum Medienbereich. Wirtschaft, zum Teil auch mit einigen Fachbeamten der (C)
Warum ist die Bertelsmann AG zum Beispiel dabei – was Bundesregierung bedeutet. Aber es war die Sache um der
zu begrüßen ist –, nicht aber die Holtzbrinck-Gruppe? Opfer willen wert.
Wichtig ist natürlich nicht nur, wer zahlt, sondern auch, Wir haben als Deutscher Bundestag trotz der Beson-
in welcher Höhe gezahlt wird. Wenn uns die Stiftungs- derheit des Beratungsverfahrens, das Herr Stadler betont
initiative berichtet, es gebe historisch belastete Firmen, hat, nicht nur einfach als Notar agiert. Wir haben im Sinne
die sich mit einmalig 50 000 DM an den Fonds freikaufen der Opfer und der maximalen Gerechtigkeit versucht, alle
wollten, während junge unbelastete IT-Firmen den x-fa- Spielräume zu nutzen, um unserer Verantwortung als Ge-
chen Betrag freiwillig bezahlten, dann ist das ein unmo- setzgeber bei dieser historischen Aufgabe gerecht zu wer-
ralisches Angebot und eine Beleidigung der Opfer. den.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die größte Gefahr, die dieser Gesetzgebungsprozess
sowie bei Abgeordneten der PDS) beinhaltet, ist, dass die Opfer, die von der IOM entschä-
digt werden sollen – also die nicht jüdischen Opfer außer-
Das Gesetz gewährt allen Unternehmen ausreichende
halb des Bereiches der osteuropäischen Versöhnungsstif-
Rechtssicherheit. Diese gibt es aber nur, wenn auch die
tungen – zum Teil gar nichts oder ungleich weniger er-
zugesagten 5 Milliarden DM möglichst bald eingezahlt
halten als die Opfer, die von anderen Organisationen
werden. Gefordert sind hier an erster Stelle die ehemali-
entschädigt werden sollen. Hier hat der Deutsche Bun-
gen Profiteure der Zwangsarbeit.
destag in seiner Entschließung der vier Fraktionen zum
Ich habe die Schreiben der Opfer gewählt, weil sie zei- Ausdruck gebracht, dass wir bei der Administration in der
gen, dass es angesichts des unermesslichen Leids unan- Stiftung, aber auch darüber hinaus, eine ganz besondere
gemessen wäre, davon zu sprechen, wir könnten mit die- Verantwortung sehen. Wir haben die Verantwortung
sem Stiftungsgesetz das an Sklaven- und Zwangsarbeitern dafür, dass alle Opfer für gleiches Leid auch gleiche Ent-
verübte Leid wieder gutmachen oder es auch nur ange- schädigungen bekommen.
messen entschädigen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
10 Milliarden DM sind eine beachtliche Summe. Aber bei der SPD und der PDS)
angesichts des Leids der Opfer ist dies eine Summe, die
Wir lösen heute das Versprechen an die Opfer ein, das
wir als Bundestag nur als humanitäre finanzielle Zuwen-
Gesetz noch vor der Sommerpause zu verabschieden. Wir
dung begreifen können. Gleichwohl hat sie für Zwangs-
haben damit auch die Voraussetzungen dafür geschaffen,
arbeit und Vermögensschäden abschließenden Charakter.
dass die Opfer noch in diesem Jahr eine erste Auszahlung
Den zumeist verarmten Opfern, die auf dieses Geld dring-
erhalten. Wir hoffen nun, dass die Rücknahme der Klagen
(B) lich warten, ist es aber vielleicht auch egal, welchen Na- in den USA eingeleitet wird. Die weiteren Geschicke wer- (D)
men wir dieser Zuwendung geben, wenn sie diese nur
den in die Hände des Kuratoriums und der Partnerorgani-
endlich bald erleben dürfen.
sationen gelegt. Wir wünschen uns und den Opfern, dass
Eine moralische Qualität bekommt diese Zahlung aber sie ihre schwierige Aufgabe verantwortungsbewusst und
erst dann, wenn wir uns zu dem Unrecht bekennen und zügig wahrnehmen.
uns dafür entschuldigen, was den Opfern im Namen
Lassen Sie mich zum Schluss für das gute Klima in den
Deutschlands angetan wurde. Nur so können wir den
Berichterstattergesprächen sowie für die vorzügliche Ar-
Menschen auch ihre verlorene Würde wiedergeben. Das
beit und Unterstützung durch den Arbeitsstab Lambsdorff
hat unser Bundespräsident Johannes Rau vor allen ande-
und für die Verhandlungsführung durch Graf Lambsdorff
ren in der Öffentlichkeit zu Recht herausgestellt.
danken. Ich möchte auch einen Dank an einen unserer
An der moralischen Qualität der Debatte hat es bei den Mitarbeiter, Herrn Saathoff, anschließen, der mit seiner
Auseinandersetzungen über die Höhe des Fonds, den Ver- Fachkompetenz in den Berichterstattergesprächen bei-
teilungsschlüssel und die Rechtssicherheit für Firmen in spiellos für alle Fraktionen hilfreiche Zuarbeit im Dienste
den letzten eineinhalb Jahren manchmal gefehlt. Das hat der Sache geleistet hat.
bei den Opfern zu Recht oft Bitterkeit hinterlassen. Frak-
Vielen Dank.
tionsübergreifend wollen wir Abgeordneten dazu beitra-
gen, dieser moralischen Qualität wieder ihren Platz zu ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
ben. bei der SPD und der PDS)
Wir stellen nun durch dieses Gesetz fest: Der national-
sozialistische Staat hat Sklaven- und Zwangsarbeitern Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort
durch Deportation, Inhaftierung, Ausbeutung bis hin zur der Kollegin Ulla Jelpke, PDS-Fraktion.
Vernichtung durch Arbeit und durch eine Vielzahl weite-
rer Menschenrechtsverletzungen schweres Unrecht zuge-
Ulla Jelpke (PDS): Herr Präsident! Meine Damen und
fügt. Deutsche Unternehmen, die an diesem Unrecht be-
Herren! Wie Sie in den Beiträgen heute Morgen schon
teiligt waren, tragen dafür historische Verantwortung und
vernommen haben, hat es bei der Vorbereitung des vorlie-
müssen ihr gerecht werden.
genden Gesetzesentwurfs weit auseinander liegende In-
Wir wollen bei der Gesetzgebung Regelungen finden, teressen gegeben. Unser Leitmotiv bei diesen Verhand-
die dem Schicksal der Opfer angemessen sind. Dies hat lungen und auch bei diesem Gesetz war und ist die Ent-
manches Mal auch öffentlich ausgetragenen Streit mit der schädigung der Opfer. Das Nürnberger Gericht hat nach
10764 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Ulla Jelpke

(A) 1945 die Zwangsarbeit für Millionen von Menschen, vor Hans Frankenthal hat wie viele andere jahrzehntelang (C)
allem aus Osteuropa, richtig als ein „Verbrechen gegen für die Entschädigung der NS-Zwangsarbeiter gekämpft,
die Menschlichkeit“ eingestuft. Für dieses Verbrechen zuletzt als Mitglied im Landesverband der Jüdischen Ge-
muss endlich gezahlt werden. meinden von Westfalen, im Zentralrat der Juden in
Deutschland und als stellvertretender Vorsitzender des
(Beifall bei Abgeordneten der PDS)
Auschwitz-Komitees.
Für die PDS-Fraktion will ich mich deshalb an dieser
Hans Frankenthal ist im Dezember vergangen Jahres
Stelle noch einmal bei allen noch lebenden NS-Opfern gestorben. Er gehört damit zu den NS-Opfern, die keine
und ihren Angehörigen ausdrücklich für diese Verbrechen Entschädigung mehr für die Zwangsarbeit bekommen.
und für das ihnen angetane Leid entschuldigen, auch Ich finde das auch an diesem Tag nach wie vor beschä-
dafür, dass erst 55 Jahre nach Kriegsende etwas für sie ge- mend.
tan wird.
Ein weiterer Punkt. In dem Gesetz findet sich ein klei-
(Beifall bei der PDS) ner Titel von 50 Millionen DM. Dieses Geld ist insbeson-
Wir werden auch in Zukunft mit diesen Opfern solidarisch dere für Opfer medizinischer Versuche und so genann-
sein und helfen, wo wir können. ter Kinderheimfälle vorgesehen. Tausende von Kindern,
vor allem so genannte schlechtrassische Kinder von Ost-
Wir werden dem Gesetz trotz vieler Bedenken und Kri- arbeiterinnen, starben in den mörderischen Kinderheimen
tik zustimmen. Die 10 Milliarden DM, die nun an ver- der NS-Zeit. Auch die Menschenversuche in den KZs, für
mutlich 1,6 Millionen noch lebende Opfer und ihre An- die nunmehr eine Entschädigung gezahlt werden soll, fan-
gehörigen gezahlt werden, sind nur ein Tropfen auf den den vielfach auf direkten Wunsch deutscher Pharmaun-
heißen Stein. Selbst die VW-Regelung, die eine Zahlung ternehmen statt. Dass für diese Opfer nur 50 Millionen
von immerhin 10 000 DM pro Person vorsah, hätte den DM bereitgestellt werden, liegt einzig und allein daran,
Opfern – wenn man alle entschädigt hätte – etwas mehr dass sie in den USA gegen Konzerne wie VW und Bayer
Gerechtigkeit gebracht. Das hatten wir auch mit unserem geklagt haben. Die 50 Millionen DM, mit denen die Kla-
ursprünglichen Antrag gefordert. Jetzt erhalten die gen abgewendet werden sollen, entsprechen gerade ein-
Zwangsarbeiter, die im KZ waren, wahrscheinlich etwas mal 5 Prozent eines Jahresgewinns von VW und Bayer.
mehr, aber die anderen leider nur halb so viel.
Diese Klagen abzuwenden und das Ansehen der Indu-
Trotzdem bestreiten wir nicht: Es gibt Verbesserungen strie wieder herzustellen ist in meinen Augen das domi-
gegenüber dem ersten Entwurf. Es sind Verbesserungen, nierende Motiv bei der Bundesregierung und vor allem
die vor allem dem Druck und den Protesten der Opfer, ih- bei der Industrie. Das soll hier nicht verschwiegen wer-
(B) rer Anwälte und der osteuropäischen Länder zu verdan- den. In der Erklärung, die das Presse- und Informations- (D)
ken sind. Ich möchte mich an dieser Stelle bei diesen be- amt der Bundesregierung am 16. Februar 1999 bei der
danken, da sie uns viele Vorschläge eingereicht haben, um Gründung der Stiftungsinitiative veröffentlicht hat, ist es
die Gesetzesarbeit zu verbessern und zu erleichtern. sehr deutlich ausgesprochen worden. Darin heißt es – ich
(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten zitiere –: Die Stiftungsinitiative wolle
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Klagen, insbesondere Sammelklagen in den USA, ...
Ich möchte mich auch dafür bedanken, was schon begegnen und Kampagnen gegen den Ruf unseres
meine Kolleginnen und Kollegen getan haben, dass die Landes und seiner Wirtschaft den Boden ... entzie-
Atmosphäre, in der diese Verhandlungen stattgefunden hen.
haben, ausgesprochen angenehm war. Ich brauche nicht Ich erinnere an den Schweizer Bankenvergleich, in
zu wiederholen, dass es in der Tat ein außergewöhnlicher dem sich Schweizer Banken zu Zahlungen von Milliar-
Prozess war. denhöhe verpflichtet haben. Für die deutsche Industrie,
Anlässlich des heutigen Tages ist es mir wichtig, stell- die ganz andere Verbrechen während der NS-Zeit began-
vertretend für viele von ihnen einen Menschen zu nennen. gen hat als die Schweizer Banken, drohen ganz andere Ur-
Er heißt Hans Frankenthal. teile und viel höhere Zahlungen. Das zu verhindern war
und ist das dominierende Motiv bei der Industrie und lei-
(Beifall bei der PDS) der auch bei der Bundesregierung. Es geht und ging ihnen,
Er war der Sohn eines jüdischen Viehhändlers und wurde wenn überhaupt, nur in zweiter Linie um die Opfer.
bereits 1940 mit 14 Jahren von den Nazis zu Straßenbau- Die Industrie zahlt laut Gesetz 5 Milliarden DM. In
arbeiten gezwungen. 1943 deportierten ihn die Nazis mit Wirklichkeit muss man davon 2,5 Milliarden DM abzie-
seiner Familie nach Auschwitz. In seinem Buch „Verwei- hen. Diese bekommt die Industrie vom Finanzamt zurück.
gerte Rückkehr“ schildert Hans Frankenthal sein Zwangs- Zieht man dann noch die 1 bis 1,2 Milliarden DM ab, die
arbeiterleben. Er schreibt – ich zitiere –: für die so genannten Arisierungsschäden vorgesehen sind,
also für Versicherungsbetrug und Arisierungsgewinne der
Wenn man nicht irgendwie einen Druckposten be-
Banken, dann bleiben nur 1,3 bis 1,5 Milliarden DM
kam, überlebte man keine acht Wochen.
übrig, die die Industrie für Zwangsarbeiterinnen und
Hans Frankenthal überlebte Auschwitz, die Zwangsarbeit Zwangsarbeiter zahlt – hoffentlich! Denn bis heute ist
im Lager Monowitz und das KZ Mittelbau-Dora. 1945 noch unklar, wann das Geld wirklich vorhanden sein wird.
wurde er in Theresienstadt befreit. Noch unsicherer ist es, wann das Geld wirklich bei den
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10765
Ulla Jelpke

(A) Opfern ankommt. Das Verhalten der Industrie ist und Dietmar Nietan (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolle- (C)
bleibt ein Skandal. ginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zu Beginn meiner
Ausführungen den Menschen Dank sagen, denen hier
(Beifall bei der PDS)
noch keiner gedankt hat. Ich möchte all denjenigen Dank
Wissenschaftler, wie Professor Kuczynski, haben sagen, die wie Lothar Evers und andere über viele Jahre
schon vor einiger Zeit ausgerechnet, dass die deutsche In- hinweg die Opfer von NS-Verbrechen beraten und ihnen
dustrie in der NS-Zeit den Zwangsarbeiterinnen und in all den Jahrzehnten Mut gemacht haben, nicht die
Zwangsarbeitern allein an Löhnen einen Betrag – umge- Hoffnung aufzugeben,
rechnet auf heutige Preise – von 180 Milliarden DM (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
vorenthalten hat. Verglichen damit sind die 1,5 Milliar- GRÜNEN und der PDS)
den DM, die die Industrie nun zuzahlt, einfach kläglich.
dass ihnen irgendwann doch noch Gerechtigkeit wider-
Wir haben – darauf habe ich schon hingewiesen – Ver- fährt. Auch diesen Menschen muss man heute Dank sa-
besserungen im Gesetz erreicht. Ich nenne jetzt einige, die gen.
für uns wichtig sind: Die zuerst vorgesehene Regelung,
Landarbeiter und Nichtdeportierte auszugrenzen, ist Ich möchte auch Deidre Berger und den anderen Kol-
durch eine Öffnungsklausel korrigiert werden. Die Opfer, leginnen und Kollegen vom American Jewish Committee
die gegen die deutsche Industrie geklagt haben, müssen Dank sagen, die mit ihrer mutigen Aktion, die Namen der
Firmen, die Zwangsarbeiter beschäftigt haben und die da-
jetzt nicht ihre eigenen Gerichts- und Anwaltskosten zah-
mals noch nicht der Stiftungsinitiative beigetreten waren,
len. Das Kuratorium ist durch Opfer und Vertreter von
ins Internet zu stellen, Öffentlichkeit hergestellt haben
Partnerorganisationen vergrößert worden, die nicht am
und auf dieses düstere Kapitel das Licht geworfen haben,
Verhandlungstisch gesessen haben. Auch die verharmlo-
das es verdient hat.
sende Sprache – das ist nicht ganz unwichtig; im ersten
Gesetzentwurf war noch von „Geschehnissen“ und „Ver- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
strickungen“ die Rede – ist weitgehend verschwunden. In GRÜNEN und der PDS)
der Präambel werden Täter und Opfer deutlich beim Na- Ich möchte an dieser Stelle auch meinen Fraktionskol-
men genannt. leginnen und -kollegen Andrea Nahles, Simone Violka,
Wichtig bleibt das Problem, dass der im Gesetz vorge- Michael Roth, Christoph Moosbauer und Christian
sehene Betrag für die Opfer, die nicht am Verhand- Simmert vom Bündnis 90/Die Grünen Dank sagen. Ge-
lungstisch gesessen haben, nicht ausreicht. Der Entschlie- meinsam mit diesen Kolleginnen und Kollegen haben
(B) ßungsantrag ist zwar ein Versuch, dafür den Bundestag auch gerade wir jungen Abgeordneten von Anfang an die (D)
bzw. die Bundesregierung in die Pflicht zu nehmen, aber Diskussion nicht nur in unserer Fraktion, sondern auch
ich sage: Papier ist geduldig. Uns wäre es lieber gewesen, mit vielen Vertretern der NGOs über das Stiftungsgesetz
wenn die Lösung dieses Problems im Gesetz geregelt und insbesondere über den Zukunftsfonds geführt, weil
wir dies als Verpflichtung auch unserer jungen Generation
worden wäre. Ich erkläre hier klipp und klar für meine
ansehen. Ich danke in diesem Zusammenhang auch mei-
Fraktion: Wenn das Geld am Ende nicht reicht, dann muss
ner Fraktion, dass sie mir als Vertreter der jungen Gene-
nachgezahlt werden. Darauf werden wir bestehen.
ration die Möglichkeit gibt, dies heute hier zu sagen.
(Beifall bei der PDS)
Es ist sehr oft gesagt worden, dass dies heute eine hi-
Die Industrie und auch die CDU/CSU – damit komme storische Stunde sei. Zwar teile ich diese Einschätzung –
ich zum Schluss – möchte dieses Gesetz gerne als Schluss- es ist ein historischer Moment, weil wir uns zu unserer
strichgesetz sehen. Für uns ist das Gesetz kein Schluss- Verantwortung bekennen –, aber ich empfinde diesen Mo-
strich, weder bezüglich der Entschädigung der Zwangs- ment auch als einen Moment, der mich beschämt. 55 Jahre
arbeiterinnen und Zwangsarbeiter noch der anderen haben die Opfer darauf warten müssen, dass das an ihnen
Opfer – für die schon gar nicht –, die bislang noch keine begangene Unrecht endlich anerkannt wird. 55 Jahre ha-
Entschädigung für ihr Leid und keine Rehabilitierung er- ben Menschen warten müssen, denen von Nazideutsch-
halten haben. Für sie werden wir uns auch in Zukunft ein- land unendlich großes Leid angetan wurde.
setzen, und zwar sowohl im Parlament als auch außerhalb Wir wissen nicht, wie viele von ihnen daran zerbrochen
des Parlaments. Einen Schlussstrich unter die NS-Zeit sind. Wir wissen nicht, wie viele von ihnen in dem Be-
und die in ihr begangenen Verbrechen wird es mit uns nie- wusstsein gestorben sind, dass ihnen auch die Nachfahren
mals geben. der Täter eine Entschädigung und damit die Anerkennung
Ich danke Ihnen. des an ihnen begangenen Unrechts letztlich versagt ha-
ben. Das ist, wie ich finde, schon etwas, was einem bei al-
(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten lem Frohsein darüber, dass wir weitergekommen sind, im-
der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- mer noch beschämen muss.
NEN)
Trotz dieses bitteren Beigeschmacks möchte ich dem
Bundeskanzler ausdrücklich dafür danken, dass er sich
Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort anders als sein Vorgänger intensiv für die zügige Reali-
dem Kollegen Dietmar Nietan, SPD-Fraktion. sierung der längst überfälligen Entschädigungsleistungen
10766 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Dietmar Nietan

(A) eingesetzt hat. Herr Bundeskanzler, an dieser Stelle ge- einen Teil der Mittel der Stiftung den noch lebenden Op- (C)
bührt Ihnen unser Dank. fern nicht direkt zukommen zu lassen, sondern in den Zu-
kunftsfonds fließen zu lassen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Für mich ist der Zukunftsfonds der Teil der Stiftung,
PDS) der den Opfern gewidmet werden muss, die mittlerweile
schon verstorben sind. Ihnen kann man keine materielle
Mein Dank gilt aber auch den mittlerweile fast 3 000
Unternehmen, die sich in der Stiftungsinitiative zusam- Entschädigung mehr zukommen lassen. Aber indem man
mengeschlossen haben. Diese Unternehmen – ich betone: wegweisende, neue Projekte durch diesen Zukunftsfonds
nur diese 3 000 Unternehmen – bekennen sich zu der Ver- fördert, mit denen der Jugendaustausch und das Wachhal-
antwortung; aber es handelt sich gerade einmal um ganze ten bzw. die Erinnerung unterstützt werden, kann man ih-
1,4 Prozent der Gesamtzahl. Anders herum gesagt: 98,6 nen noch gerecht werden; darin liegt die wesentliche Be-
Prozent der deutschen Unternehmen denken bisher nicht rechtigung des Zukunftsfonds. Wenn man es so versteht,
daran, gesellschaftliche Mitverantwortung für diesen Be- dann muss jedem Versuch, den Zukunftsfonds als Stein-
reich zu übernehmen. bruch zu benutzen, um irgendwelche anderen Angelegen-
heiten, die man in den Verhandlungen nicht geregelt hat,
Ich halte es in diesem Zusammenhang für einen Skan- bezahlen zu können, widerstanden werden. Wir müssen
dal, dass es junge Menschen gibt, die gerade eine Firma jeden Schritt in diese Richtung zurückweisen.
gegründet haben und sich trotzdem, obwohl sie mit dieser
ganzen Sache persönlich nichts zu tun haben, an der Stif- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
tungsinitiative beteiligen, während es andere, saturierte DIE GRÜNEN)
große Unternehmen gibt, die es bis heute nicht für nötig Es geht bei diesem Zukunftsfonds nicht darum, Presti-
erachten, dabei mitzumachen. Man kann es nicht deutlich geprojekte zu fördern – bei einigen Vorschlägen der Wirt-
genug sagen: Das ist ein Skandal. schaft hatte ich diesen Eindruck –; vielmehr geht es da-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ rum, vielen jungen Menschen – gerade von unten – in
DIE GRÜNEN) Deutschland, in Israel und in den mittel- und osteuropä-
ischen Staaten die Möglichkeit zu geben, einander zu be-
Es ist schon höchst interessant, dass nun ins Felde ge- gegnen. Das sollte aber immer vor dem Hintergrund des
führt wird, dass zuerst die Rechtssicherheit – das ist der Sichvergegenwärtigens der Geschichte des Holocaust und
ausschlaggebende Punkt – zu 100 Prozent garantiert sein seiner Einmaligkeit geschehen. Es geht darum, die Erin-
müsse, bevor man sich beteiligen könne. In diesem Sinne nerung an die Unvergleichbarkeit wach zu halten und in
äußern sich gerade solche Personen, die sonst immer sa- die Zukunft zu retten. Dadurch können für junge Men-
gen, der Staat möge sich doch aus möglichst allen Dingen schen Brücken gebaut werden, damit sie durch das Lernen
(B) heraushalten. Von der amerikanischen Regierung verlan- aus der Vergangenheit in der Lage sind, eine menschli- (D)
gen sie jetzt, den unabhängigen Gerichten genau zu sagen,
chere Zukunft ohne Faschismus, ohne Rassismus und
wie man Rechtssicherheit herzustellen hat.
ohne Fremdenhass zu gestalten.
Auch wenn ich akzeptiere, dass Rechtssicherheit für
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
die deutschen Firmen zweifellos eine wichtige Frage ist,
muss ich ehrlich sagen: Wenn man die Frage der Rechts- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
sicherheit vor die Entschädigung der Opfer – unser PDS)
eigentliches Anliegen – stellt, dann offenbart man eine Ich glaube, das ist gerade auch für uns als junge Gene-
Geisteshaltung, die nicht nur eine Geringschätzung der ration sehr wichtig; denn es darf in keiner Weise einen
durch die Gewaltenteilung garantierten Unabhängigkeit Schlussstrich geben. Mich irritiert, in welcher Art und
der Gerichte darstellt, sondern auch die Opfer erneut als Weise jetzt einige davon reden, dass man den Gerichten
Mittel für einen ökonomischen Zweck missbraucht. Das vorschreiben kann, in Bezug auf finanzielle Fragen einen
darf man nicht durchgehen lassen. Wir als Bundestagsab- Schlussstrich zu akzeptieren. Wir sollten wirklich in aller
geordnete müssen ein deutliches Zeichen setzen, dass die Deutlichkeit sagen: Diesen Schlussstrich darf es nicht ge-
zügige Entschädigung aller Opfer, die noch leben, für uns ben.
weiterhin im Vordergrund aller Bemühungen stehen
muss. Erlauben Sie mir zum Schluss, etwas von dem zu zi-
tieren, was uns Elie Wiesel am 27. Januar dieses Jahres
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ hier an dieser Stelle gesagt hat:
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
PDS) Wer einen Schlussstrich ziehen will, hat es schon
längst getan. Er hat nicht nur das Blatt gewendet,
Im Zentrum unserer Anstrengungen muss ebenfalls sondern es aus seinem Bewusstsein gerissen. Wer
stehen – das sage ich auch als Vertreter der jungen Gene- sich dazu herbeilässt, die Erinnerung an die Opfer zu
ration –, den Opfern dadurch gerecht zu werden, dass wir verdunkeln, der tötet sie ein zweites Mal.
durch den Zukunftsfonds einen Beitrag dazu leisten, dass
die Erinnerung an das, was ihnen angetan wurde, nie ver- Das, meine Damen und Herren, darf in Deutschland nie
blasst. Allein dieser Auftrag – die Erinnerung an Verfol- passieren.
gung, Ausbeutung und Vernichtung der Opfer des Natio- Vielen Dank.
nalsozialismus auch dann noch bei den zukünftigen Ge-
nerationen wach zu halten, wenn die Opfer gestorben sind (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
und sie den jungen Menschen ihr Schicksal nicht mehr DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
selbst als Zeitzeugen berichten können – rechtfertigt es, PDS)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10767

(A) Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort ter viele Kinder und Halbwüchsige, wurden bloß (C)
dem Kollegen Hans-Peter Uhl, CDU/CSU-Fraktion. eingesperrt, weil sie Deutsche waren.
Er fährt fort:
Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU): Herr Präsident!
Nur weil sie Deutsche waren ...? Der Satz klingt
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Gestatten
Sie auch mir zu Anfang eine Bemerkung zur Arbeit erschreckend bekannt; man hatte bloß das Wort „Ju-
des Beauftragten der Bundesregierung, des Grafen den“ mit „Deutsche“ vertauscht. ... Die Menschen
Lambsdorff. Völlig unbestritten haben Sie, Herr Kollege wurden elend ernährt, misshandelt und es ist ihnen
Graf Lambsdorff, vor einem Jahr ein unglaublich schwe- um nichts besser gegangen, als man es von deutschen
res Erbe von Ihrem Vorgänger übernommen. Konzentrationslagern her gewohnt war.

(Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr wahr!) Wir stimmen der Zwangsarbeiterentschädigung zu.
Aber wir müssen auch an das Folgende erinnern: Allein
Ohne Rücksicht auf Ihre Gesundheit haben Sie sich einem in einem von 1 255 polnischen Arbeits- und Deportati-
nervenaufreibenden Verhandlungsmarathon zur Verfü- onslagern kamen beispielsweise von 8 064 Insas-
gung gestellt. Dabei waren Sie auch ungerechtfertigten sen 6 488 Deutsche ums Leben. Darunter waren auch
Angriffen ausgesetzt. Deswegen gebührt Ihnen heute 628 Kinder, die wirklich nichts für Hitlers Herrschaft
umso mehr der Respekt und der Dank des Hohen Hauses. konnten. Viele der Zwangsarbeiter ließ man verhungern,
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie prügelte sie zu Tode oder erschoss sie. Wer nicht arbeiten
bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNIS- konnte, wurde ermordet.
SES 90/DIE GRÜNEN) Wir stimmen heute der Zwangsarbeiterentschädi-
Zu Recht, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, gung zu. Aber wir müssen auch daran erinnern: In der
trägt die Stiftung den Titel „Erinnerung, Verantwortung Tschechoslowakei gab es 2 061 Arbeits-, Straf- und Inter-
und Zukunft“; denn ohne Erinnerung und Übernahme der nierungslager. In Jugoslawien gab es 1 562 Lager. Dort
Verantwortung für das Geschehene kann es keine gedeih- wurde zwischen Arbeitslagern und Lagern für Arbeitsun-
liche Zukunft geben, kein friedliches Miteinander unter fähige unterschieden. In diesen letzteren Lagern wurden
Nachbarn. Wir beweisen heute unsere Verantwortung vor die Menschen systematisch vernichtet. Im größten ju-
der historischen Wahrheit. Der deutsche Staat und die goslawischen Vernichtungslager, Rudolfsgnad, sind von
deutsche Wirtschaft wollen mit dieser Stiftung die bereits 33 000 deutschen Insassen 9 503 umgebracht worden,
geleisteten Wiedergutmachungszahlungen noch einmal darunter 491 Kinder unter 14 Jahren.
ergänzen und dadurch abermals ein Zeichen der Versöh-
Wir stimmen der Zwangsarbeiterentschädigung zu.
(B) nung setzen. Aber wir müssen auch an die 700 000 deutschen Zivilis- (D)
Das Wachhalten der Erinnerung an das vergangene ten erinnern, darunter viele Frauen und Kinder, die nach
Leid darf aber nicht dazu führen, dass das Erinnern zur al- 1945 zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert wur-
leinigen Verpflichtung der Deutschen wird. den.
Die richtige Erinnerung darf nicht bei unserer scho- (Beifall bei der CDU/CSU)
nungslosen Aufdeckung von Verbrechen durch die Nazi-
herrschaft stehen bleiben. Ohne jede Aufrechnungsab- Hunderttausende von deutschen Kriegsgefangenen
sicht muss festgestellt werden: Das Unrecht des Naziregi- mussten sich völkerrechtswidrig in Sibirien bis Mitte der
mes hat letztlich auch das Unrecht an vielen Deutschen 50er-Jahre zu Tode schuften. Weit über 2 Millionen Deut-
ausgelöst. Aber ebenso gilt, dass ein Unrecht das andere sche sind nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges durch
Unrecht niemals rechtfertigen kann. Vertreibung, Internierung und Zwangsarbeit zu Tode ge-
kommen. All dies geschah übrigens in demselben Zeit-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) raum, als in den Nürnberger Prozessen gegen Nazigrößen
Es kann kein Aufrechnen geben, weder für uns noch für Todesurteile wegen ebendieser Straftaten, also wegen De-
andere. Erinnern kann nicht teilbar sein. portation, Zwangsarbeit und Vernichtung, ausgesprochen
wurden.
Heute erinnern wir an die Opfer des Naziregimes und
übernehmen wieder Verantwortung. Gerade heute ist es Verantwortung beginnt mit der Wahrhaftigkeit und sie
deshalb aber auch eine Verpflichtung des Deutschen Bun- endet mit ihr. Ob Christ, Jude oder Atheist, ob Pole, Russe
destages, jener unschuldigen Deutschen zu gedenken, de- oder Deutscher: Was man ihnen in den Arbeitslagern des
nen als Zwangsarbeiter schweres Leid und grausamste Zweiten Weltkrieges und danach angetan hat, waren Ver-
Behandlung widerfahren sind. So müssen wir uns daran brechen gegen die Menschlichkeit. Der englische Be-
erinnern, wie der jüdische Deutsche Hans-Georg Adler, richterstatter Bashford schrieb bereits im Sommer 1945
der während des Zweiten Weltkriegs in Theresienstadt in- an das englische Außenamt:
haftiert war, die Verhältnisse im ehemaligen KZ The- Die Konzentrationslager sind nicht aufgehoben, son-
resienstadt im Jahre 1946, also nach dem Krieg, schil- dern von den neuen Besitzern übernommen worden.
derte: ... In Swientochlowice, einem Ort in Oberschlesien,
Bestimmt gab es unter ihnen welche, die sich müssen Gefangene, die nicht verhungern oder zu
während den Besatzungsjahren manches haben zu- Tode geprügelt werden, Nacht für Nacht bis zum
schulden kommen lassen, aber die Mehrzahl, darun- Hals im kalten Wasser stehen, bis sie sterben. In
10768 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Dr. Hans-Peter Uhl

(A) Breslau gibt es Keller, aus denen Tag und Nacht die zu immer neuen Nachforderungen kommen, als haltlos er- (C)
Schreie der Opfer dringen. weist. Wir sind aber umso mehr überrascht über den heute
vorgelegten gemeinsamen Entschließungsantrag der
In einem Bericht an den amerikanischen Senat vom
SPD, der F.D.P., der Grünen und der PDS. Darin wird
28. August 1945 heißt es:
nämlich unmissverständlich die Bereitschaft zu neuen fi-
Man hätte erwarten dürfen, dass nach der Ent- nanziellen Leistungen bereits jetzt in Aussicht gestellt.
deckung der Scheußlichkeiten, die sich in den Wir lehnen das ab.
Konzentrationslagern der Nazis ereigneten, niemals (Beifall bei der CDU/CSU)
wieder Derartiges geschehen würde; das aber scheint
leider nicht so zu sein. Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
„Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ – dieser Titel
So wie das Erinnern unteilbar und Leid nicht teilbar ist, der Stiftung ist Ausdruck des deutschen Bemühens um
so ist auch die Verantwortung für Verbrechen nicht teilbar. Versöhnung und materiellen Ausgleich für das von deut-
Willy Brandt kniete in Auschwitz nieder. Roman scher Seite verursachte Leid. Über ein halbes Jahrhundert
Herzog bat im Warschauer Getto um Vergebung. Deut- nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges muss es aber
sche haben sich zu Recht für deutsche Untaten immer auch für Deutsche eine historische Gerechtigkeit geben.
wieder entschuldigt und um Vergebung gebeten. Wir ver- Wir fordern nicht mehr und nicht weniger als diese Ge-
missen aber, dass sich auch die Gegner von einst ihrer rechtigkeit.
Verantwortung stellen. Eine wahre Aussöhnung kann es Wir Deutschen werden das Leid, das unsere Vorväter
aber nicht geben, wenn das Leid des einen anerkannt und anderen angetan haben, bestimmt nicht vergessen. Aber
das Leid des anderen geleugnet wird. nur mit Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit schaffen wir
(Beifall bei der CDU/CSU) Vertrauen und nur mit Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit
schaffen wir eine wahre Versöhnung zwischen den Völ-
Der Dichter sagt: kern im zusammenwachsenden Europa.
Wer sich nicht erinnert und damit die eigene Verant- (Beifall bei der CDU/CSU)
wortung leugnet, der sät die Blumen des Bösen: Auf
dieser Saat der Selbstgerechtigkeit blüht keine Zu-
kunft und gedeiht keine gute Nachbarschaft in Eu- Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile dem Kolle-
ropa. gen Christian Simmert, Bündnis 90/Die Grünen, das
Wort.
Wir stimmen der Stiftung zu, aber in unserer heutigen
(B) Fraktionserklärung fordern wir diejenigen Staaten auf,
„die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Deutsche Christian Simmert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (D)
verschleppt und unter unmenschlichen Bedingungen zur Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und
Arbeit gezwungen haben, den noch lebenden deutschen Herren! Ich bin froh und dankbar, hier im Deutschen Bun-
Opfern eine der deutschen Regelung zur Zwangsarbeiter- destag eine Entscheidung mit treffen zu können, die aller-
frage entsprechende Entschädigung in Form einer huma- dings schon längst hätte getroffen werden müssen.
nitären Geste zu gewähren“. Für uns alle ist das Gesetz zur Entschädigung der
Wer dies verweigert mit der Begründung, dass das Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter ein historischer
deutsche Leid auf das Konto der Nazis gehe, vergisst Schritt, vor allem für die Opfer, von denen nach so vielen
zweierlei: Zum einen war der Zweite Weltkrieg zu diesem Jahrzehnten leider nur noch zu wenige diesen Augenblick
Zeitpunkt bereits zu Ende. Zum anderen wurden diese erleben können.
Verbrechen zumeist an unschuldigen Zivilisten begangen. Dieser historische Schritt kann aber nicht der letzte
Wir wollen nur, dass die Prinzipien der Wahrhaftigkeit Schritt in der Auseinandersetzung um die deutsche Ver-
und Gerechtigkeit für alle Menschen, also auch für Deut- gangenheit sein – weder im politischen noch im gesell-
sche, gelten. Vaclav Havel hat Recht, wenn er fordert: Je- schaftlichen Raum. Vielmehr muss ein neues Kapitel in
des Volk sollte sich um einen ehrlichen Umgang mit sei- der Erinnerungsarbeit aufgeschlagen werden, ein Kapitel,
ner Geschichte bemühen. das gerade der jungen Generation eine Auseinanderset-
zung mit Naziterror, Holocaust und Zwangsarbeit ermög-
Die Geschichte kennt keinen Schlussstrich. Das wissen licht.
wir. Verantwortung für die Zukunft bedeutet deshalb, dass
wir die Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalso- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
zialismus fortführen werden. Wohl aber muss es für die SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)
Menschen in diesem Lande die Gewissheit geben, dass Das Gesetz zur Entschädigung von ehemaligen
die materiellen Wiedergutmachungsleistungen irgend- Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern ist kein
wann ein Ende haben. Denn über 70 Prozent der heute le- Schlussstrich und darf kein Schlussstrich sein. Ich denke,
benden Deutschen sind nach 1945 geboren. das haben die Beteiligten mit dem Titel der Stiftungs-
Als Opposition gehen wir davon aus, dass die Bundes- initiative „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ aus-
regierung, die die entscheidenden Gespräche geführt hat, drücken wollen.
den Gesamtkomplex der Entschädigung nun so geregelt Gerade der Zukunftsfonds hat in diesem Sinne eine
hat, dass sich die vielfältig geäußerte Besorgnis, es könne zentrale Bedeutung. Dieser kann mit dafür sorgen, dass
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10769
Christian Simmert

(A) nicht Schlussstrichgedanken vorherrschen, sondern die tungsinitiative zustande gekommen ist, für die Bundesre- (C)
Erinnerungsarbeit eine neue Dimension bekommt. Wenn gierung noch wenige Bemerkungen machen.
immer weniger Zeitzeuginnen und Zeitzeugen jungen
(Unruhe)
Menschen unmittelbar aus ihren Erfahrungen berichten
können, dann werden wir lernen müssen, neue Wege der Wir dürfen nie vergessen, welch unvergleichliche Ver-
Erinnerung zu gehen. Der Zukunftsfonds sollte deshalb brechen in der Zeit zwischen 1933 und 1945 von unse-
besonders für neue, innovative Projekte genutzt werden, rem Lande ausgegangen sind. 55 Millionen Tote und die
die sich gerade dieser Entwicklung stellen. systematische Ausrottung ganzer Völker und Ethnien mit
Was können zukünftige Generationen nicht nur über der unglaublichen Begründung, dass das eigentlich gar
die deutsche Vergangenheit erfahren, sondern vor allem keine Menschen seien, gehören in diese Phase. Sich daran
daraus lernen? Wie kann Erinnerungsarbeit in Schulen zu erinnern ist schmerzhaft. Die deutsche Nachkriegsge-
nicht verschult, sondern lebendig gestaltet werden, und schichte ist sehr schmerzhaft und auch sehr wider-
dies vor dem Hintergrund, dass sich Europa näher kommt sprüchlich verlaufen. Aus dieser Geschichte auszutreten
und sich unsere Gesellschaft verändert? Wie gehen junge ist niemandem erlaubt. Auch jetzt noch, da eine andere
Menschen in einem anderen kulturellen Kontext mit der Generation hier sitzt, haben wir Verantwortung.
deutschen Vergangenheit um und welche Verantwortung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
leiten sie für sich daraus ab? Neue und alte Fragen müs- DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Wolfgang
sen gerade für die junge Generation und die zukünftigen Gerhardt [F.D.P.] – Unruhe)
Generationen immer wieder beantwortet werden. Schon
deshalb kann es keinen Schlussstrich geben.
Präsident Wolfgang Thierse: Liebe Kolleginnen
Es wäre jedoch falsch, zu glauben, dass sich die Erin- und Kollegen, ich bitte doch wenigstens bei diesem
nerungsarbeit in Zukunft „nur“ auf den Zukunftsfonds der Thema um eine gewisse Ruhe, damit der Redner über-
Stiftungsinitiative beschränkt. So wichtig der Fonds an haupt noch zu verstehen ist.
sich ist, so wichtig ist es auch, dass die bisherige
Erinnerungsarbeit weiterhin geleistet und finanziert wird. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- sowie des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.])
SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der PDS)
Grundvoraussetzung für die Stiftungsinitiative gene- Hans Eichel, Bundesminister der Finanzen: Wir tra-
rell und damit auch für den Zukunftsfonds ist jedoch, dass gen Verantwortung, weil wir das Erbe nicht ausschlagen
die deutsche Wirtschaft endlich ihren Teil der Verant- können, das Gute nicht – das wollen wir auch nicht –, aber (D)
(B) wortung annimmt. Es kann nicht sein – auch ich finde das
das Schlechte ebenso wenig.
beschämend –, dass es noch immer Unternehmen gibt, die
Zwangsarbeiter beschäftigt haben und die sich jetzt ihrer Deswegen tragen wir Verantwortung dafür, dass sich
Verantwortung entziehen wollen, junge Unternehmen das Geschehene in der Zukunft nie wiederholt. So sind
aber, die es erst seit kurzem gibt, Mitglied der Stiftungs- übrigens viele meiner Generation überhaupt zum politi-
initiative sind. Es geht bei der Entschädigung ehemaliger schen Engagement gekommen: Sie wollten nie wieder so
Zwangsarbeiter um die moralische Gesamtverantwortung etwas wie das erleben, was wir von 1933 bis 1945, aus-
der deutschen Wirtschaft. Vor dem Hintergrund von Fu- gehend von Deutschland, erlebt haben.
sionen und den Summen, die dabei im Spiel sind, kann ich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
mich des Eindrucks nicht erwehren, dass es für einige Un- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
ternehmen eher um Peanuts geht als um einen finanziel- F.D.P. und der PDS)
len Kraftakt.
Wir haben uns schwer getan. Wir haben uns bemüht,
Auch ich möchte mich für die gute Zusammenarbeit wieder gutzumachen – wenn das denn überhaupt geht. Je-
bedanken. Ich hoffe, dass wir in Zukunft an diesem denfalls kann dieses Leid auf materiellem Wege nicht
Thema weiterarbeiten und gemeinsam für eine Erinne- wirklich ausgeglichen werden. Aber man kann sich be-
rungsarbeit eintreten, die diesen Namen auch verdient. mühen. Ich will ausdrücklich betonen: Das ist seit Anfang
Danke schön. der 50er-Jahre geschehen; dieser Hinweis ist richtig. Die
Vereinten Nationen haben das deutsche Vorgehen in die-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, sem Zusammenhang als eine beispielhafte Aufarbeitung
bei der SPD und der PDS) von Krieg und Diktatur anerkannt.
Aber wir haben lange gebraucht. Das, worüber wir
Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort
heute diskutieren und was wir heute entscheiden wollen,
dem Bundesminister der Finanzen, Hans Eichel. hätte vielleicht schon viel früher entschieden werden kön-
nen.
Hans Eichel, Bundesminister der Finanzen: Herr Prä-
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
sident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen
GRÜNEN und der PDS)
Sie mich zum Ende dieser sehr bewegenden Debatte,
nachdem Graf Lambsdorff als Beauftragter der Aber da dies bisher nicht der Fall gewesen ist, müssen wir
Bundesregierung schon vorgetragen hat, wie diese Stif- dies jetzt tun.
10770 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Bundesminister Hans Eichel

(A) Ich freue mich darüber – dazu möchte ich herzlichen Dieses Kapitel ist abgeschlossen. Die Bundesregierung (C)
Dank sagen –, dass es in diesem Hause bei dieser Gesetz- und das ganze deutsche Volk leisten zum Beispiel im Rah-
gebung die Zustimmung aller Fraktionen und wohl fast men ihrer Hilfe zur Integration der mittel- und osteu-
aller Mitglieder geben wird. Dies ist keine Schluss- ropäischen Länder in die Europäische Union große
strichgesetzgebung in dem Sinne, dass wir uns danach Anstrengungen. Unsere eigentliche Zukunftsaufgabe ist –
umdrehen und sagen könnten: Damit ist für uns die Zeit denn das ist die Lehre, die wir aus der Vergangenheit zu
von 1933 bis 1945 ein für alle Mal historisch abgeschlos- ziehen haben –, alle diese Länder zu einem vereinigten
sen. Das wird sie nie sein. Europa zusammenzuschließen
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD)
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
und zu helfen, dass sie dieselbe Entwicklung nehmen, wie
F.D.P.)
wir sie, ökonomisch gesehen, erfahren haben. Das ist un-
Wir versuchen aber, materiell zu einem Ergebnis zu kom- ser Zukunftsbeitrag, den wir – ich hoffe, das bleibt auch
men. so – gerne leisten wollen. Ich wiederhole es: Reparationen
haben keine Zukunft. Es wird von Deutschland aus keine
Dass wir im Rahmen des Haushaltes – ich sage das als
Debatten darüber geben. Dazu werden wir nicht mehr die
Finanzminister – weiter helfen werden, dass wir weiter
Hand reichen.
Entschädigungsleistungen erbringen – etwa 150 000
Rentnerinnen und Rentner bekommen weiter Entschädi- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
gungsleistungen; das muss auch so sein –, ist auch hier DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
eine humanitäre Geste unsererseits. CDU/CSU und der F.D.P.)
Ich will – wie alle anderen Redner auch – zuallererst Eine humanitäre Geste aber musste von uns ausgehen –
Graf Lambsdorff sehr herzlich dafür danken, dass er diese das ist die Errichtung dieser Stiftung –, wenigstens heute,
außerordentlich schwierige Frage sehr sensibel und sehr wenn dies schon in den vergangenen Jahren nicht geleis-
bestimmt zu einem Ergebnis geführt hat. tet worden ist. Die Stiftung kann auch unmittelbar tätig
werden. Dies setzt allerdings voraus, dass alle, die an dem
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
Tisch gesessen haben, an dem Graf Lambsdorff für uns
GRÜNEN und der F.D.P.)
die Verhandlung führte, ihren Beitrag dazu leisten. Das
Ich sage Dank auch an die amerikanische Regierung sage ich mit Nachdruck gerade angesichts der Sammel-
und stellvertretend an Stuart Eizenstat, den stellvertreten- klagen in den Vereinigten Staaten und denen, die noch an-
den Finanzminister und für Graf Lambsdorff führenden gedroht werden.
Gesprächspartner auf der anderen Seite des Verhand-
(B) lungstisches. Ich unterstreiche ausdrücklich, dass es im Rahmen die- (D)
ser Stiftung möglich sein wird – das ist die Position der
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Bundesregierung –, alle gerecht zu behandeln. Das be-
der F.D.P.) zieht sich auch auf diejenigen, die nicht am Verhand-
lungstisch gesessen haben. Wir sollten auch so schnell wie
Ich sage Dank an die Stiftungsinitiative der deutschen
irgend möglich mit den Auszahlungen beginnen; denn die
Wirtschaft sowie ganz besonders an Herrn Dr. Gentz und
Menschen sind alt. Graf Lambsdorff hat darauf hingewie-
an die an die Spitze der Initiative getretenen Unterneh-
sen, wie viele Menschen sozusagen wegsterben. Wenigs-
men, die es geschafft haben, dass alle anderen Unterneh-
tens unsere Geste sollte diese Menschen noch erreichen
men ihrem Beispiel folgen, egal ob sie Zwangsarbeiter be-
und etwas versöhnen.
schäftigt haben oder nicht.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und der F.D.P. sowie des Abg.
GRÜNEN und der F.D.P. sowie der Abg.
Roland Claus [PDS])
Dr. Christa Luft [PDS])
Deswegen sind wir an einer schnellen Auszahlung inte-
Denn hier wird von denjenigen, die sich engagieren, eine
ressiert.
beispielhafte Initiative geleistet. Wenige fragen danach,
ob sie rechtlich verpflichtet sind oder nicht. Diejenigen Lassen Sie mich noch eines sagen: Es ist ein gutes Zei-
Unternehmen, die nach dem Krieg neu gegründet worden chen, dass alle Fraktionen bzw. fast alle Mitglieder des
sind und historisch mit der Entschädigung der Zwangsar- Deutschen Bundestages zustimmen. Das symbolisiert un-
beiter nichts zu tun haben, aber die wie wir als Bürgerin- sere ausgestreckte Hand gegenüber den Opfern. Wir wis-
nen und Bürger begreifen, dass wir nicht aus der Ge- sen, dass dies keinen Schlussstrich darstellt. Es ist viel-
schichte austreten können, geben ein hervorragendes Bei- mehr die Verpflichtung, für alle Zukunft dafür zu sorgen,
spiel. Diejenigen, die schon in der Vergangenheit dabei in unserem Lande und überall, dass Menschen als Men-
gewesen sind, hätten nun allen Grund, sich jetzt auch an schen behandelt werden und nicht so, wie wir es in den
den Entschädigungszahlungen zu beteiligen. zwölf Jahren von 1933 bis 1945 – dies hatte auch große
Nachwirkungen – erlebt haben.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Herzlichen Dank für Ihre Zustimmung.
F.D.P.)
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
Für die Bundesregierung ist aber auch klar: Hier wird GRÜNEN und der F.D.P. sowie bei Abgeordne-
kein neues Kapitel im Hinblick auf Reparationen eröffnet. ten der CDU/CSU und der PDS)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10771

(A) Präsident Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aus- dagegen? – Stimmenthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist (C)
sprache. damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD,
Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak- CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P. abgelehnt
tionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/Die worden. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung
Grünen, der F.D.P. und der PDS sowie der Bundesregie- die weitere Beratung.
rung eingebrachten Gesetzentwurf zur Errichtung einer
Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“, Ich rufe Zusatzpunkt 3 auf:
Drucksachen 14/3206, 14/3459 und 14/3758. Ich bitte Vereinbarte Debatte zur Steuerpolitik
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas-
sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre
ist damit in zweiter Beratung angenommen. keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Dritte Beratung Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Kollege
Joachim Poß, SPD-Fraktion.
und Schlussabstimmung. Die Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen verlangen namentliche Ab-
stimmung. Ich bitte also die Schriftführerinnen und Joachim Poß (SPD): Herr Präsident! Meine lieben
Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Kolleginnen und Kollegen! Der Deutsche Bundestag ent-
Bevor ich die Abstimmung eröffne, möchte ich mittei- scheidet heute über eine wichtige Frage des Standorts
len, dass zahlreiche Erklärungen zur Abstimmung zu Pro- Deutschland: über den Fortgang des wirtschaftlichen Auf-
tokoll gegeben worden sind.1) Ich erspare mir die Verle- schwungs, über die weitere Rückführung der Arbeitslosig-
sung der Namen, da dies sehr lange dauern würde. Ich keit und über massive Steuerentlastungen für Arbeitneh-
möchte nur noch darauf hinweisen, dass der Kollege mer, Wirtschaft und Mittelstand. Ich habe keine Zweifel,
Volker Beck eine schriftliche Erklärung zur Aussprache dass der Deutsche Bundestag dem Vermittlungsergebnis
abgegeben hat.2) zum Steuersenkungsgesetz mit überzeugender Mehrheit
Sind alle Urnen besetzt? – Dann können wir mit der zustimmen wird.
Abstimmung beginnen. Ich eröffne die Abstimmung. – (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stim- DIE GRÜNEN – Lachen des Abg. Jochen-
me noch nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall. Ich Konrad Fromme [CDU/CSU])
(B) schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen – Herr Fromme, mit Ihrer Stimme wird man nicht rechnen (D)
und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das können, aber, ehrlich gesagt, beruhigt mich das eher.
Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt ge-
geben.3) (Beifall bei der SPD)
Wir setzen die Beratungen fort und kommen jetzt zur Alle müssen wissen, dass die Wachstumsaussichten
Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktio- ohne diese Steuerreform erheblich zurückgeschraubt wer-
nen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, F.D.P. und PDS den müssen. Das DIW zum Beispiel rechnet für das
auf Drucksache 14/3790. Wer stimmt für diesen Ent- nächste Jahr mit einem Wachstum von nur noch 2 Prozent
schließungsantrag? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der statt der ursprünglich erwarteten 2,75 Prozent. Bei der
Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von SPD, Entscheidung, die wir heute Morgen treffen, geht es ganz
Bündnis 90/Die Grünen, F.D.P. und PDS gegen die Stim- konkret um Arbeitsplätze und neue Chancen für Arbeits-
men der CDU/CSU-Fraktion angenommen. lose in Deutschland.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenaus- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
schusses zu dem Antrag der Fraktion der PDS mit dem Ti-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
tel „Zügige Entschädigung für Zwangsarbeiterinnen und
Zwangsarbeiter und Errichtung einer Bundesstiftung“. Das müssen Sie von der Opposition bedenken und wis-
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksa- sen. Das müssen die Ministerpräsidenten der Länder am
che 14/1694 für erledigt zu erklären. Die PDS-Fraktion ist nächsten Freitag bedenken, wenn sie über dieses Vermitt-
damit einverstanden. Damit ist dieser Antrag erledigt. lungsergebnis abstimmen. Das gilt insbesondere für die
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf unionsgeführten oder von der Union mitregierten Lan-
der Fraktion der PDS zur Änderung des Einkommensteu- desregierungen.
ergesetzes auf Drucksache 14/472. Der Finanzausschuss (Michael Glos [CDU/CSU]: Das ist doch kein
empfiehlt auf Drucksache 14/3731, den Gesetzentwurf Vermittlungsergebnis!)
abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt Ich verhehle aber nicht: Das gilt auch für sozialdemokra-
tische Ministerpräsidenten. Es muss bedacht werden, was
1) hier auf dem Spiel steht.
Anlagen 7–20
2) Anlage 21 (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
3) s. Seite 10773 des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
10772 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Joachim Poß

(A) Sie werden sich in den nächsten acht Tagen entschei- Darum geht es: Wollen Sie den Menschen wirklich (C)
den müssen, ob Sie der totalen Blockadestrategie des weismachen, dass das geltende Vollanrechnungsverfah-
Herrn Merz folgen wollen. ren bei der Körperschaftsteuer es wert ist, auf diese Steu-
erentlastung verzichten zu müssen? Ein Lediger mit ei-
(Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
nem Einkommen in Höhe von 70 000 DM muss im Jahre
Denn dann kann die Steuerreform endgültig scheitern. 2005 – das wird voraussichtlich das Durchschnittsein-
Die Landesregierungen sollten sich vor Augen führen, kommen sein – 2 640 DM weniger und ein Verheirateter
was das bedeutet. Herr Merz behauptet: Kein Gesetz ist muss 3 316 DM weniger im Jahr zahlen. Darauf sollen die
besser als dieses Gesetz. So lautet seine Kernbotschaft. Steuerzahler wegen dieses durchsichtigen Spiels, das auf
der rechten Seite des Hauses gespielt wird, verzichten?
(V o r s i t z: Vizepräsidentin Dr. Antje Das kann doch wohl nicht wahr sein!
Vollmer)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Eigentlich können die Länder, egal ob SPD- oder des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN –
CDU-geführt, diese Botschaft nicht teilen. Sie wissen Ludwig Stiegler [SPD]: Unglaublich!)
nämlich: Verhandlungsgegenstand war zumindest aus
Sicht der CDU/CSU bisher leider nicht unser Steuerre- Ich will hier nicht in den Streit über das Für und Wider
formkonzept, auf dem Spiel stand das politische Prestige des Vollanrechnungsverfahrens und des von uns vorge-
des Fraktionsvorsitzenden Merz. schlagenen Halbeinkünfteverfahrens einsteigen. Aber
eines sollten die Menschen wissen: Den Systemwechsel
(Ludwig Stiegler [SPD]: Die Eitelkeit!) zum Halbeinkünfteverfahren hat eine Kommission vorge-
Das hat er selbst so gewollt und deshalb war Herr Merz schlagen, die mit Wissenschaftlern, Steuerexperten von
bisher eine schwere Hypothek für das Vermittlungsver- Wirtschaft und Gewerkschaften, Verbänden, mit Rechts-
fahren. Es ist eine sehr teure Rehabilitationsmaßnahme, anwälten und Praktikern der Finanzverwaltung besetzt
die hier durchgeführt wird. war, also mit Leuten, die wissen, wovon sie sprechen, weil
sie aus der Praxis kommen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Es ist nicht hinzunehmen, dass sich das negativ auf die Wenn Herr Merz sich auf Professoren stützt,
Chancen unserer Republik auswirkt. Die Opposition ist in (Zuruf von der CDU/CSU: Die wissen ja
dieses Vermittlungsverfahren offensichtlich ohne den Wil- nichts!)
len zu einer Vermittlung gegangen.
(B) – natürlich wissen die etwas; ich stelle deren Autorität gar (D)
(Ludwig Stiegler [SPD]: Ohne Fähigkeit!) nicht infrage; selbstverständlich gibt es Argumente für das
Vollanrechnungsverfahren; dies haben wir auch in der
Das ist das Entscheidende.
Diskussion im Vermittlungsausschuss nicht infrage ge-
(Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Das stimmt stellt –,
doch nicht!) (Michael Glos [CDU/CSU]: Professor Poß!)
Dagegen sind SPD und Grüne der Union ein großes Stück denen zur fehlenden Europatauglichkeit des Vollanrech-
entgegengekommen, zum Beispiel beim Spitzensteuer- nungsverfahrens nur einfällt, dass man ja über alle be-
satz, beim Tarif und beim so genannten Optionsmodell. troffenen Doppelbesteuerungsabkommen neu verhandeln
Das alles soll jetzt wegen des verbissenen Kampfs des kann, darf man sich nicht wundern, wenn sich alle über
Herrn Merz um sein politisches Profil nicht in Kraft tre- Merz wundern.
ten?
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
(Michael Glos [CDU/CSU]: Wer ist denn hier des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
verbissen?)
Dies gilt umso mehr, als Herr Merz am 15. Fe-
Ist es denn nicht so, dass es mittlerweile in der Union hin- bruar 2000, damals noch als stellvertretender Fraktions-
ter vorgehaltener Hand heißt: „Kein Merz ist besser als vorsitzender, der „FAZ“ gesagt hat, man könne über einen
dieser Merz“? Ersatz des derzeit geltenden Vollanrechnungsverfahrens
(Beifall bei der SPD) sprechen. Die Union sei hier nicht für alle Tage festgelegt. –
Welch eine Formulierung! Das heißt, man hat sich auf
Das Steuersenkungsgesetz sieht Steuerentlastungen diese Frage möglicherweise nur bis zum 14. Februar fest-
für alle vor: Arbeitnehmer, Mittelstand und Großunter- gelegt und dann wird man weitersehen. Man kann im
nehmen. Es begünstigt Arbeiter, Angestellte, Freiberufler, Zweifel für alles auf ein Zitat zurückgreifen. Welch ein fa-
kleine, mittlere und große Personenunternehmen sowie tales Spiel, meine Damen und Herren!
Kapitalgesellschaften. Die Steuerentlastungen sind mas-
siv. Das Steuersenkungsgesetz hat nach dem Ergebnis des (Beifall bei der SPD)
Vermittlungsverfahrens ein Entlastungsvolumen von rund Herr Merz, Sie sollten sich wieder an das erinnern, was
50 Milliarden DM. Was ist das für eine Logik, Herr Merz: Sie als stellvertretender Fraktionsvorsitzender gesagt ha-
Keine Entlastung ist besser als diese Entlastung von ben. Ist es nicht höchste Zeit, dass Sie Ihre vorgeschobe-
50 Milliarden DM? nen Argumente, dass es um einen Systemwechsel oder um
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10773
Joachim Poß

(A) die angeblich fehlende Gleichmäßigkeit der Besteuerung gepackt wurde, leider nicht ändern. Eines muss klar sein: (C)
gehe, beiseite räumen und sich dem Kern nähern? Zu un- Eine Krankenschwester muss zu den Gewinnern der Steu-
serem Konzept gibt es nämlich keine vernünftige und vor erreform gehören und darf am Ende nicht dafür bluten,
allen Dingen finanzierbare Alternative. dass Sie, Herr Gerhardt, hier wahnsinnige, unfinanzier-
bare Tarife vorschlagen. Das ist doch der Punkt.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Mit unserem Kompromissangebot im Vermittlungsver- DIE GRÜNEN – Dr. Wolfgang Gerhardt
fahren haben wir die bereits im Gesetzentwurf vorgese- [F.D.P.]: Was macht denn die freiberufliche
hene Steuerentlastung um weitere 5 Milliarden DM aus- Hebamme?)
geweitet. Dies können wir mit Blick auf die Haushalte des
Bundes und der Länder noch verantworten, weil wir un- – Die profitiert auch von den Tarifsenkungen, Herr
ser Konsolidierungsziel, im Jahre 2006 ohne Neuver- Gerhardt. Schauen Sie einmal nach. Möglicherweise ge-
schuldung auszukommen, damit noch darstellen und auch bricht es Ihnen auch an dieser Stelle wieder an Sach-
die Länder damit noch verfassungsmäßige Haushalte ver- verstand.
abschieden können. Wir halten an unseren Leitplanken (Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Oh, oh!
fest: Haushaltssanierung auf der einen und Steuerent- Herr Poß!)
lastung auf der anderen Seite.
Auch die größte Oppositionspartei im Bundestag hat
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des neben ihrer Rolle, die Regierung zu kontrollieren, eine ge-
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) samtgesellschaftliche Aufgabe. Herr Merz und alle an-
Das sind die Markenzeichen dieser Koalition: Nachhal- deren, Sie sind doch auch Ihren Wählerinnen und
tigkeit der Finanzpolitik und Generationengerechtigkeit. Wählern verpflichtet – und die wollen jetzt auch entlastet
Dies spiegelt sich auch in unserem Kompromissvorschlag werden, ob sie Mittelständler sind oder Arbeitnehmer.
im Vermittlungsverfahren wider. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Dagegen sind Ihre Vorschläge – was alle wissen – nicht DIE GRÜNEN)
finanzierbar. Wir haben eine Entscheidungsgrundlage geschaffen, in
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der sich nicht nur die Vorstellungen der Sozialdemokraten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) und der Grünen wiederfinden, sondern auch Ihre Vorstel-
lungen.
Dies hat Herr Merz in einem Interview mit der „Financial
Times“ am 20. Juni zugegeben; sehr zum Ärger der CSU (Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Nein!)
(B) und von Herrn Faltlhauser. Herr Merz, warum wollen Sie Das jetzt vorliegende Gesetz ist für uns, für Sie und für die (D)
plötzlich keinen Spitzensteuersatz von 35 Prozent mehr? Bundesländer akzeptabel. Es ist ein Gesetz, das die Wirt-
Dies ist doch Gegenstand Ihres Konzeptes. Glauben Sie, schaft jetzt braucht. Es ist ein Gesetz, auf das die Arbeit-
die Bürger nehmen solche Zickzackerklärungen eines nehmer nicht länger warten wollen. Wer sagt: „Lieber
Fraktionsvorsitzenden noch ernst? Sie wussten doch, dass kein Gesetz als dieses Gesetz“, der will das Scheitern der
ein Spitzensteuersatz von 35 Prozent nur zu finanzieren Reform.
ist – darüber gibt es zig Äußerungen –, wenn zum Beispiel
die Steuerfreiheit von Sonntags-, Feiertags- und Nachtar- (Beifall bei der SPD)
beitszuschlägen abgeschafft wird. Nur unter solchen Um- Ich bin aber zuversichtlich, dass wir heute und auch in
ständen ist das möglich. Da sage ich Ihnen für die Sozial- der nächsten Woche, am 14. Juli, eine Mehrheit für die po-
demokraten: Mit der SPD wird es keine Absenkung des litische Vernunft und die Interessen aller Steuerzahler er-
Spitzensteuersatzes zulasten von Krankenschwestern, reichen, eine Mehrheit für mehr Arbeitsplätze und den
Facharbeitern, Handwerksgesellen und anderen Arbeit- Abbau der Arbeitslosigkeit.
nehmern geben.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Ludwig Stiegler [SPD]: Gut
DIE GRÜNEN) gebrüllt, Löwe!)
Dabei kennen wir die steuersystematischen Argumente
und wissen auch, dass der Ball eigentlich ins Feld der Ta- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Bevor ich den
rifparteien gehört. nächsten Redner aufrufe, gebe ich Ihnen das von den
(Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Ja! Da gehört Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergeb-
nis der namentlichen Abstimmung über den Entwurf
er hin!)
eines Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Erinnerung,
Aber so kann man eine Praxis, die sich in 50 Jahren ein- Verantwortung und Zukunft“ bekannt. Abgegebene Stim-
geschliffen hat und deren Änderung auch während Ihrer men 620. Mit Ja haben gestimmt 556, mit Nein haben ge-
Regierungsverantwortung, Herr Gerhardt, nur zaghaft an- stimmt 42, Enthaltungen gab es 22.
10774 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer

(A) Endgültiges Ergebnis Arne Fuhrmann Konrad Kunick Thomas Sauer (C)
Abgegebene Stimmen: 620 Prof. Monika Ganseforth Dr. Uwe Küster Dr. Hansjörg Schäfer
Konrad Gilges Werner Labsch Gudrun Schaich-Walch
ja: 556 Iris Gleicke Brigitte Lange Rudolf Scharping
nein: 42 Günter Gloser Christian Lange (Backnang) Bernd Scheelen
enthalten: 22 Uwe Göllner Detlev von Larcher Siegfried Scheffler
Renate Gradistanac Christine Lehder Horst Schild
Günter Graf (Friesoythe) Waltraud Lehn Dieter Schloten
Ja Angelika Graf (Rosenheim) Robert Leidinger Horst Schmidbauer
Dieter Grasedieck Dr. Elke Leonhard (Nürnberg)
SPD Kerstin Griese Eckhart Lewering Ulla Schmidt (Aachen)
Gerd Andres Wolfgang Grotthaus Götz-Peter Lohmann Silvia Schmidt (Eisleben)
Ingrid Arndt-Brauer Karl Hermann Haack (Neubrandenburg) Dagmar Schmidt (Meschede)
Rainer Arnold (Extertal) Christa Lörcher Wilhelm Schmidt (Salzgitter)
Hermann Bachmaier Hans-Joachim Hacker Erika Lotz Regina Schmidt-Zadel
Ernst Bahr Klaus Hagemann Dr. Christine Lucyga Heinz Schmitt (Berg)
Doris Barnett Manfred Hampel Dieter Maaß (Herne) Carsten Schneider
Dr. Hans Peter Bartels Christel Hanewinckel Winfried Mante Dr. Emil Schnell
Eckhardt Barthel (Berlin) Alfred Hartenbach Dirk Manzewski Walter Schöler
Klaus Barthel (Starnberg) Anke Hartnagel Tobias Marhold Olaf Scholz
Ingrid Becker-Inglau Klaus Hasenfratz Lothar Mark Karsten Schönfeld
Wolfgang Behrendt Nina Hauer Ulrike Mascher Fritz Schösser
Dr. Axel Berg Hubertus Heil Christoph Matschie Ottmar Schreiner
Hans-Werner Bertl Reinhold Hemker Heide Mattischeck Gerhard Schröder
Friedhelm Julius Beucher Frank Hempel Markus Meckel Gisela Schröter
Petra Bierwirth Rolf Hempelmann Ulrike Mehl Dr. Mathias Schubert
Rudolf Bindig Dr. Barbara Hendricks Ulrike Merten Richard Schuhmann
Lothar Binding (Heidelberg) Gustav Herzog Angelika Mertens (Delitzsch)
Kurt Bodewig Monika Heubaum Prof. Dr. Jürgen Meyer Brigitte Schulte (Hameln)
Klaus Brandner Reinhold Hiller (Lübeck) (Ulm) Reinhard Schultz
Anni Brandt-Elsweier Stephan Hilsberg Ursula Mogg (Everswinkel)
Willi Brase Gerd Höfer Siegmar Mosdorf Volkmar Schultz (Köln)
Dr. Eberhard Brecht Jelena Hoffmann (Chemnitz) Michael Müller (Düsseldorf) Ewald Schurer
Rainer Brinkmann (Detmold) Walter Hoffmann Jutta Müller (Völklingen) Dr. R. Werner Schuster
(Darmstadt) Christian Müller (Zittau) Dietmar Schütz (Oldenburg)
(B) Bernhard Brinkmann (D)
(Hildesheim) Iris Hoffmann (Wismar) Franz Müntefering Dr. Angelica Schwall-Düren
Hans-Günter Bruckmann Frank Hofmann (Volkach) Andrea Nahles Rolf Schwanitz
Edelgard Bulmahn Ingrid Holzhüter Volker Neumann (Bramsche) Bodo Seidenthal
Ursula Burchardt Eike Hovermann Gerhard Neumann (Gotha) Erika Simm
Dr. Michael Bürsch Christel Humme Dr. Edith Niehuis Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Hans Büttner (Ingolstadt) Lothar Ibrügger Dr. Rolf Niese Dr. Cornelie
Marion Caspers-Merk Barbara Imhof Dietmar Nietan Sonntag-Wolgast
Wolf-Michael Catenhusen Brunhilde Irber Eckhard Ohl Wieland Sorge
Dr. Peter Danckert Gabriele Iwersen Leyla Onur Wolfgang Spanier
Dr. Herta Däubler-Gmelin Renate Jäger Manfred Opel Dr. Margrit Spielmann
Christel Deichmann Jann-Peter Janssen Holger Ortel Jörg-Otto Spiller
Karl Diller Ilse Janz Adolf Ostertag Dr. Ditmar Staffelt
Peter Dreßen Prof. Dr. Uwe Jens Kurt Palis Ludwig Stiegler
Rudolf Dreßler Volker Jung (Düsseldorf) Albrecht Papenroth Rolf Stöckel
Detlef Dzembritzki Johannes Kahrs Prof. Dr. Martin Pfaff Rita Streb-Hesse
Dieter Dzewas Ulrich Kasparick Georg Pfannenstein Reinhold Strobl (Amberg)
Dr. Peter Eckardt Sabine Kaspereit Johannes Pflug Dr. Peter Struck
Sebastian Edathy Susanne Kastner Prof. Dr. Eckhart Pick Joachim Stünker
Ludwig Eich Hans-Peter Kemper Joachim Poß Joachim Tappe
Marga Elser Klaus Kirschner Karin Rehbock-Zureich Jörg Tauss
Peter Enders Marianne Klappert Dr. Carola Reimann Jella Teuchner
Gernot Erler Siegrun Klemmer Margot von Renesse Dr. Gerald Thalheim
Annette Faße Walter Kolbow Renate Rennebach Wolfgang Thierse
Lothar Fischer (Homburg) Fritz Rudolf Körper Bernd Reuter Franz Thönnes
Gabriele Fograscher Karin Kortmann Dr. Edelbert Richter Uta Titze-Stecher
Iris Follak Anette Kramme Reinhold Robbe Adelheid Tröscher
Norbert Formanski Nicolette Kressl Gudrun Roos Hans-Eberhard Urbaniak
Rainer Fornahl Volker Kröning René Röspel Rüdiger Veit
Hans Forster Angelika Krüger-Leißner Dr. Ernst Dieter Rossmann Simone Violka
Dagmar Freitag Horst Kubatschka Michael Roth (Heringen) Ute Vogt (Pforzheim)
Lilo Friedrich (Mettmann) Ernst Küchler Birgit Roth (Speyer) Hans Georg Wagner
Harald Friese Helga Kühn-Mengel Gerhard Rübenkönig Hedi Wegener
Anke Fuchs (Köln) Ute Kumpf Marlene Rupprecht Dr. Konstanze Wegner
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10775
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer

(A) Wolfgang Weiermann Dr. Hans-Peter Friedrich Anton Pfeifer Aribert Wolf (C)
Reinhard Weis (Stendal) (Hof) Dr. Friedbert Pflüger Elke Wülfing
Matthias Weisheit Erich G. Fritz Beatrix Philipp Wolfgang Zeitlmann
Gunter Weißgerber Jochen-Konrad Fromme Ronald Pofalla
Dr. Ernst Ulrich von Dr. Heiner Geißler Ruprecht Polenz BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Weizsäcker Michael Glos Marlies Pretzlaff NEN
Jochen Welt Dr. Reinhard Göhner Dr. Bernd Protzner
Peter Götz Gila Altmann (Aurich)
Dr. Rainer Wend Thomas Rachel
Kurt-Dieter Grill Marieluise Beck (Bremen)
Hildegard Wester Dr. Peter Ramsauer
Hermann Gröhe Volker Beck (Köln)
Lydia Westrich Helmut Rauber
Manfred Grund Angelika Beer
Inge Wettig-Danielmeier Peter Rauen
Gottfried Haschke Matthias Berninger
Dr. Margrit Wetzel Christa Reichard (Dresden)
(Großhennersdorf ) Grietje Bettin
Dr. Norbert Wieczorek Katherina Reiche
Gerda Hasselfeldt Annelie Buntenbach
Helmut Wieczorek Erika Reinhardt
Norbert Hauser (Bonn) Ekin Deligöz
(Duisburg) Hans-Peter Repnik
Helmut Heiderich Dr. Thea Dückert
Jürgen Wieczorek (Böhlen) Klaus Riegert
Ursula Heinen Franziska Eichstädt-Bohlig
Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Heinz Riesenhuber
Manfred Heise Dr. Uschi Eid
Dieter Wiefelspütz Hannelore Rönsch
Siegfried Helias Hans-Josef Fell
Heino Wiese (Hannover) (Wiesbaden)
Hans Jochen Henke Andrea Fischer (Berlin)
Brigitte Wimmer (Karlsruhe) Heinrich-Wilhelm Ronsöhr
Peter Hintze Katrin Dagmar Göring-
Engelbert Wistuba Dr. Klaus Rose
Klaus Hofbauer Eckardt
Barbara Wittig Adolf Roth (Gießen)
Klaus Holetschek Winfried Hermann
Dr. Wolfgang Wodarg Norbert Röttgen
Dr. Karl-Heinz Hornhues Antje Hermenau
Hanna Wolf (München) Dr. Christian Ruck
Joachim Hörster Ulrike Höfken
Waltraud Wolff (Zielitz) Volker Rühe
Hubert Hüppe Michaele Hustedt
Heidemarie Wright Dr. Wolfgang Schäuble
Georg Janovsky Monika Knoche
Dr. Christoph Zöpel Hartmut Schauerte
Peter Zumkley Dr.-Ing. Rainer Jork Steffi Lemke
Heinz Schemken
Bartholomäus Kalb Dr. Helmut Lippelt
Karl-Heinz Scherhag
Irmgard Karwatzki Dr. Reinhard Loske
Gerhard Scheu
CDU/CSU Eckart von Klaeden Oswald Metzger
Dietmar Schlee
Ulrich Klinkert Kerstin Müller (Köln)
Ulrich Adam Manfred Kolbe Bernd Schmidbauer
Winfried Nachtwei
Ilse Aigner Norbert Königshofen Christian Schmidt (Fürth)
Christa Nickels
Peter Altmaier Eva-Maria Kors Dr.-Ing. Joachim Schmidt
Cem Özdemir
(B) Norbert Barthle Thomas Kossendey (Halsbrücke) (D)
Simone Probst
Dr. Wolf Bauer Dr. Martina Krogmann Andreas Schmidt (Mülheim)
Claudia Roth (Augsburg)
Günter Baumann Dr.-Ing. Paul Krüger Birgit Schnieber-Jastram
Christine Scheel
Brigitte Baumeister Dr. Hermann Kues Dr. Andreas Schockenhoff
Irmingard Schewe-Gerigk
Meinrad Belle Karl Lamers Dr. Erika Schuchardt
Rezzo Schlauch
Dr. Sabine Bergmann-Pohl Dr. Norbert Lammert Wolfgang Schulhoff
Albert Schmidt (Hitzhofen)
Otto Bernhardt Helmut Lamp Diethard Schütze (Berlin)
Werner Schulz (Leipzig)
Dr. Joseph-Theodor Blank Dr. Paul Laufs Dr. Christian Schwarz-
Christian Simmert
Renate Blank Karl-Josef Laumann Schilling
Christian Sterzing
Dr. Heribert Blens Werner Lensing Horst Seehofer
Hans-Christian Ströbele
Friedrich Bohl Ursula Lietz Rudolf Seiters
Jürgen Trittin
Dr. Maria Böhmer Walter Link (Diepholz) Bernd Siebert
Dr. Antje Vollmer
Jochen Borchert Eduard Lintner Werner Siemann
Dr. Ludger Volmer
Wolfgang Bosbach Dr. Klaus W. Lippold Johannes Singhammer
Sylvia Voß
Dr. Wolfgang Bötsch (Offenbach) Wolfgang Steiger
Helmut Wilhelm (Amberg)
Dr. Ralf Brauksiepe Wolfgang Lohmann Erika Steinbach
Margareta Wolf (Frankfurt)
Paul Breuer (Lüdenscheid) Dr. Wolfgang Freiherr von
Cajus Caesar Dr. Michael Luther Stetten
F.D.P.
Wolfgang Dehnel Erich Maaß (Wilhelmshaven) Andreas Storm
Hubert Deittert Erwin Marschewski Dorothea Störr-Ritter Ina Albowitz
Renate Diemers (Recklinghausen) Matthäus Strebl Hildebrecht Braun
Thomas Dörflinger Wolfgang Meckelburg Thomas Strobl (Heilbronn) (Augsburg)
Hansjürgen Doss Dr. Michael Meister Michael Stübgen Rainer Brüderle
Marie-Luise Dött Dr. Angela Merkel Edeltraut Töpfer Ernst Burgbacher
Maria Eichhorn Friedrich Merz Dr. Hans-Peter Uhl Jörg van Essen
Rainer Eppelmann Hans Michelbach Gunnar Uldall Ulrike Flach
Anke Eymer (Lübeck) Meinolf Michels Angelika Volquartz Gisela Frick
Ilse Falk Bernward Müller (Jena) Andrea Voßhoff Paul K. Friedhoff
Dr. Hans Georg Faust Bernd Neumann (Bremen) Peter Weiß (Emmendingen) Horst Friedrich (Bayreuth)
Ulf Fink Claudia Nolte Gerald Weiß (Groß-Gerau) Rainer Funke
Ingrid Fischbach Günter Nooke Annette Widmann-Mauz Dr. Wolfgang Gerhardt
Dirk Fischer (Hamburg) Friedhelm Ost Heinz Wiese (Ehingen) Joachim Günther (Plauen)
Dr. Gerhard Friedrich Eduard Oswald Matthias Wissmann Dr. Karlheinz Guttmacher
(Erlangen) Dr. Peter Paziorek Dagmar Wöhrl Klaus Haupt
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Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer

(A) Dr. Helmut Haussmann Dr. Heinrich Fink Albert Deß Enthalten (C)
Ulrich Heinrich Dr. Ruth Fuchs Albrecht Feibel
Walter Hirche Wolfgang Gehrcke Hans-Joachim Fuchtel CDU/CSU
Birgit Homburger Dr. Klaus Grehn Dr. Jürgen Gehb
Dr. Werner Hoyer Dr. Gregor Gysi Norbert Geis Monika Brudlewsky
Ulrich Irmer Uwe Hiksch Georg Girisch Klaus Bühler (Bruchsal)
Dr. Klaus Kinkel Ulla Jelpke Dr. Wolfgang Götzer Hartmut Büttner
Dr. Heinrich Leonhard Kolb Sabine Jünger Horst Günther (Duisburg) (Schönebeck)
Gudrun Kopp Gerhard Jüttemann Ernst Hinsken Dankward Buwitt
Jürgen Koppelin Dr. Evelyn Kenzler Martin Hohmann Manfred Carstens (Emstek)
Ina Lenke Dr. Heidi Knake-Werner Josef Hollerith Carl-Detlev Freiherr von
Sabine Leutheusser- Rolf Kutzmutz Siegfried Hornung Hammerstein
Schnarrenberger Ursula Lötzer Susanne Jaffke Klaus-Jürgen Hedrich
Günther Friedrich Nolting Dr. Christa Luft Steffen Kampeter Rudolf Kraus
Hans-Joachim Otto Heidemarie Lüth Dr.-Ing. Dietmar Kansy Dr. Karl A. Lamers (Heidel-
(Frankfurt) Angela Marquardt berg)
Volker Kauder
Detlef Parr Kersten Naumann Vera Lengsfeld
Peter Letzgus
Cornelia Pieper Rosel Neuhäuser Dr. Manfred Lischewski
Julius Louven
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Christine Ostrowski
Elmar Müller (Kirchheim) Dr. Martin Mayer (Siegerts-
Gerhard Schüßler Petra Pau
Franz Obermeier brunn)
Dr. Irmgard Schwaetzer Dr. Uwe-Jens Rössel
Gustav-Adolf Schur Kurt J. Rossmanith Dr. Gerd Müller
Dr. Hermann Otto Solms Anita Schäfer Norbert Otto (Erfurt)
Dr. Max Stadler Dr. Ilja Seifert
Norbert Schindler Dr. Rupert Scholz
Carl-Ludwig Thiele Michael von Schmude Margarete Späte
Dr. Dieter Thomae Nein Clemens Schwalbe Arnold Vaatz
Jürgen Türk Wilhelm-Josef Sebastian
Dr. Guido Westerwelle CDU/CSU Heinz Seiffert F.D.P.
Dietrich Austermann Carl-Dieter Spranger
PDS Marita Sehn
Peter Bleser Max Straubinger
Monika Balt Sylvia Bonitz Hans-Otto Wilhelm (Mainz)
PDS
Dr. Dietmar Bartsch Wolfgang Börnsen Klaus-Peter Willsch
Petra Bläss (Bönstrup) Werner Wittlich Eva-Maria Bulling-Schröter
Maritta Böttcher Klaus Brähmig Peter Kurt Würzbach Carsten Hübner
Roland Claus Georg Brunnhuber Benno Zierer Christina Schenk
(B) Heidemarie Ehlert Leo Dautzenberg Wolfgang Zöller Dr. Winfried Wolf (D)

Entschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Ver-
sammlungen des Europarates und der WEU, der Parlamentarischen Versammlung der NATO, der OSZE oder der IPU
Abgeordnete
Adler, Brigitte Bierling, Hans-Dirk Grießhaber, Rita BÜNDNIS 90/DIE
SPD CDU/CSU GRÜNEN
Moosbauer, Christoph Raidel, Hans Dr. Süssmuth, Rita
SPD CDU/CSU CDU/CSU
Prof. Weisskirchen, Gert (Wiesloch) Wimmer, Willy (Neuss) Zapf, Uta
SPD CDU/CSU SPD

Der Gesetzentwurf ist damit mit der großen Mehrheit (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
des Hauses angenommen worden. Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ha-
(Beifall im ganzen Hause) ben wir bei Ihnen aber nicht gespürt!)
Wir fahren jetzt in der Debatte fort. Als Nächste hat die Ihr ständiges Gerede, Herr Poß, von einer Blockade ist,
Abgeordnete Gerda Hasselfeldt das Wort. mit Verlaub gesagt, nichts als leeres Gequatsche ohne jeg-
liche Grundlage.
Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU) (von Abgeordneten (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
der CDU/CSU mit Beifall begrüßt): Frau Präsidentin! neten der F.D.P.)
Meine Damen und Herren! Es gibt in diesem Haus eine
breite Übereinstimmung darüber, dass wir eine Steuerre- Das Wort „Blockade“ war in der letzten Legislaturpe-
form brauchen. Es gibt auch eine breite Übereinstimmung riode angebracht. Sie haben damals nicht einmal einen ei-
darüber, dass wir eine solche wollen. genen Entwurf vorgelegt. Wir sind in diese Auseinander-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10777
Gerda Hasselfeldt

(A) setzung mit einem eigenen, ausformulierten, konkret (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – (C)
durchgerechneten Entwurf gegangen. Detlev von Larcher [SPD]: Wenig, wenig, sehr
wenig! – Joachim Poß [SPD]: Es laufen viele
(Detlev von Larcher [SPD]: Unfinanzierbar!) Experten herum, die überzeugt viel Stuss er-
Wir haben die Verhandlungen in den letzten Monaten im zählen!)
Finanzausschuss konstruktiv geführt. Wir haben im Ver- Wir haben von Anfang an auf die Konsequenzen dieser
mittlungsausschuss auf die Defizite, auf die Schwach- Systemumstellung – sie ist falsch – hingewiesen, nämlich
stellen hingewiesen. als da sind: erstens die Bevorzugung der Unternehmen
(Joachim Poß [SPD]: Sie werden doch jetzt si- und Benachteiligung der Unternehmer – es ist schon be-
cherlich etwas zur Finanzierung sagen!) zeichnend, dass man überhaupt zwischen Unternehmen
und Unternehmer trennt –; zweitens die Bevorzugung der
Wir haben deutlich auf den falschen Grundansatz hinge- Kapitalgesellschaften gegenüber den Personenunterneh-
wiesen. Aber auf all diese Argumente sind Sie nicht ein- men und den Arbeitnehmern; drittens die Bevorzugung
gegangen. der einbehaltenen Gewinne gegenüber den ausgeschütte-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei ten Gewinnen und viertens, nicht zu vernachlässigen, die
Abgeordneten der F.D.P.) Benachteiligung der Kleinaktionäre durch die Umstellung
des Systems.
Dann können Sie von uns nicht erwarten, dass wir sehen-
den Auges einen falschen politischen Weg mitgehen, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

(Widerspruch bei der SPD) Das sind nur die wichtigsten Konsequenzen.

dass wir sehenden Auges eine falsche politische Wei- Wir haben von Anfang an deutlich gemacht, dass un-
chenstellung mittragen. Genau diese ist in diesem Ge- sere Alternative dagegen die Beibehaltung des bewährten
Anrechnungssystems und die Senkung aller Steuersätze
setzentwurf vorhanden.
sowohl im Körperschaftsteuerbereich als auch im Ein-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei kommensteuerbereich beinhaltet. Wir haben von Anfang
Abgeordneten der F.D.P.) an darauf hingewiesen, dass die Gerechtigkeit und die
Gleichmäßigkeit der Besteuerung sowie die gerechte Ent-
Auch in Ihren geänderten Vorschlägen ist der Grund-
lastung aller Steuerpflichtigen Ziel dieser Reform sein
ansatz nach wie vor falsch und die Entlastungswirkung
müssen.
insbesondere für die Personenunternehmen und für die
Arbeitnehmer unzureichend. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. –
(B) Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Sehr richtig! – (D)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Detlev von Larcher [SPD]: Nur über die Finan-
Detlev von Larcher [SPD]: Das stimmt ja zierung haben Sie sich keine Gedanken ge-
nicht!) macht!)
Die Konsequenzen, die dadurch zu verzeichnen sind, sind Sie heben immer auf die 25 Prozent bei den Kapitalge-
unsozial und ungerecht. sellschaften und die 43 Prozent Spitzensteuersatz bei den
Lieber Herr Poß, ich stimme mit Ihnen überein: Auch Personenunternehmen ab. Ich will darauf hinweisen, dass
die Krankenschwestern müssen zu den Gewinnerinnen wir, bezogen auf das Jahr 2001, nicht über 43 Prozent re-
dieser Reform zählen. den. Vielmehr reden wir bei dem Vorschlag der Regierung
im Jahr 2001 über folgende Situation: Körperschaftsteu-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ersatz 25 Prozent, Spitzensteuersatz bei den Personenun-
Aber sie zählen eben nicht dazu, weil Sie die Arbeitneh- ternehmen und den Arbeitnehmern nicht 43 Prozent, son-
mer letztlich ganz außen vor lassen. dern 48,5 Prozent. Das ist der treffende Vergleich.
(Detlev von Larcher [SPD]: Lügen! – Wilhelm Wenn Sie etwa einen Bäckermeister und seine Familie
Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist doch vor- mit einer Spitzenbelastung von 48,5 Prozent belasten und
sätzlich unwahr!) eine Backfabrik als GmbH mit einer Spitzenbelastung
von 25 Prozent, dann stimmt da irgendetwas nicht.
Die Besteuerung der Sonntags- und Nachtzuschläge spielt
da überhaupt keine Rolle. Ich komme gleich noch darauf (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. –
zu sprechen. Der Grundansatz ist falsch. Detlev von Larcher [SPD]: Wie viele sind das? –
Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Unsinn!)
Ich sage Ihnen noch etwas zum Systemwechsel. Sie
tun ja so, als wäre das Ganze etwas Neues gewesen und Ich weiß sehr wohl zwischen dem Grenzsteuersatz und
als wäre es eine Alleinveranstaltung unseres Fraktions- dem Durchschnittsteuersatz zu unterscheiden; das können
vorsitzenden. Sie mir abnehmen. Sie müssen dabei berücksichtigen,
dass beim Grenzsteuersatz, bei dieser 48,5-prozentigen
(Joachim Poß [SPD]: Nein, Sie machen den Belastung, jede zusätzlich verdiente Mark ab einer ge-
Unsinn mit!) wissen Größenordnung mit diesem hohen Grenzsteuer-
satz zu versteuern ist.
Wissen Sie, es ist nicht unser Problem, dass wir einen
Fraktionsvorsitzenden haben, der von der Steuerpolitik (Susanne Kastner [SPD]: Warum gucken Sie
etwas versteht. Das ist Ihr Problem. denn so böse?)
10778 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Gerda Hasselfeldt

(A) Sie müssen bei diesem Beispiel des Bäckermeisters dell – zu Recht – immer kritisiert. Aber wir haben es nie (C)
berücksichtigen, dass er von seinem gesamten Gewinn isoliert kritisiert, sondern immer gesagt: Das Modell muss
auch noch seine Familie ernähren muss, den Lebensun- weg, weil es eine Krücke ist, um die Ungleichbehandlung
terhalt zu bestreiten hat und nicht alles im Unternehmen zwischen Kapitalgesellschaften und Personenunterneh-
belassen werden kann. men zu umschiffen. Sie müssen die Wurzel des Übels
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) bekämpfen. Die Wurzel des Übels ist eben diese Un-
gleichbehandlung und nicht allein das Optionsmodell.
Sie behaupten, die Systemumstellung sei notwendig
wegen der so genannten Europatauglichkeit. Jetzt will ich (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Ihnen einmal sagen, was Sie dabei ändern. Sie haben eine zweite Änderung vorgesehen, nämlich
(Susanne Kastner [SPD]: Aber freundlich, Frau die Änderung bei der Gewerbesteueranrechnung. Das
Hasselfeldt! Wir sind gewohnt, dass man ist keine Verbesserung, sondern eine Verschlechterung für
freundlich mit uns umgeht!) den Mittelstand. Diese trifft den Mittelstand nicht erst ab
dem Jahr 2005, sondern sie greift bereits im Jahre 2001.
Für den ausländischen Investor, der an einem inländi-
schen Unternehmen beteiligt ist, ändert sich überhaupt (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Hört! Hört! –
nichts. Joachim Poß [SPD]: Deswegen ist das auch fi-
nanzierbar!)
(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sehr richtig!)
Sie haben somit die leichten Verbesserungen im Tarif, die
Da ist nämlich nur ausschlaggebend, wie hoch der Aus- ich durchaus anerkenne, erst ab dem Jahr 2005 vorgese-
schüttungssatz ist. Er kann weder in dem einen noch in hen, während Sie alles Negative in Ihrem Kompromiss-
dem anderen Verfahren etwas anrechnen. Für den inländi- vorschlag bereits für die Jahre 2001 bis 2004 zur Anwen-
schen Investor, für den deutschen Bürger, der an einem dung bringen wollen. Dass wir einem solchen Vorschlag
ausländischen Unternehmen beteiligt ist, ist das neue Ver- nicht zustimmen können, sollte ein jeder begreifen, der
fahren in der Tat besser. Für den deutschen Bürger, der sich mit dieser Materie beschäftigt.
eine inländische Beteiligung hat, ist das neue Verfahren
besser, wenn er in der oberen Einkommensklasse ist, und (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
schlechter, wenn er in der unteren Einkommensklasse ist. Sie verweisen weiter darauf, Sie hätten eine Mittel-
(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Auch standskomponente eingeführt. Dabei anerkenne ich aus-
das stimmt nicht!) drücklich, dass Sie von Ihrem Vorhaben, die Ansparab-
schreibungen und die Sonderabschreibungen nicht mehr
Wenn man dies vergleicht, muss man sich die Frage stel- zuzulassen, abgegangen sind und auch beim Mitunter-
(B) len: Wo bleibt denn da die Gerechtigkeit, (D)
nehmererlass etwas korrigieren wollen. Ich muss Ihnen
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) aber vorhalten, dass Sie nicht vollständig korrigieren. Für
den Mittelstand besteht nach wie vor das ungelöste Pro-
wo bleibt das von Ihnen verfolgte Ziel, die Arbeitsplätze blem – das Sie mit dem Steuerentlastungsgesetz erst ge-
im Inland in den Vordergrund der Bemühungen zu stel- schaffen haben –,wie mit den Veräußerungsgewinnen bei
len? Betriebsaufgabe umgegangen wird. Dieses Problem muss
Ich denke, dass eine Steuerreform folgende Ziele ver- in einem Reformkonzept mit gelöst werden.
folgen muss: Sie muss erstens eine gerechte Besteuerung (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
gewährleisten und zweitens zur Schaffung von Arbeits-
plätzen im Inland beitragen. Genau diese beiden Ziele Wir wollen eine Reform, aber wir wollen eine gute Re-
verfolgen Sie mit Ihren Vorschlägen nicht. form. Wir wollen eine Reform, die wir alle miteinander
verantworten können. Wir wollen eine Reform, die alle
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Steuerpflichtigen entlastet und gerecht ist. Wir wollen
Was ist an Ihrem Entwurf zu verbessern? Sie haben ei- eine Reform, die zum 1. Januar 2001 in Kraft tritt. Darum
nen Kompromissvorschlag vorgelegt, der eine Tarifände- müssen wir in den nächsten Wochen ernsthaft ringen, –
rung bei der Einkommensteuer ab dem Jahr 2005 vorsieht. nicht so oberflächlich, wie Sie es gemacht haben. Es geht
Wenn wir von einer Senkung des Spitzensteuersatzes auf nicht darum, Zeitdruck zu erzeugen, sondern darum, eine
43 Prozent reden, reden wir vom Jahr 2005 – das ist viel inhaltlich saubere und gute Reform für die Bürger dieses
zu spät! Für die Jahre 2001 bis 2004 planen Sie Ver- Landes zu machen.
schlechterungen. Wenn Sie die Tabellen vergleichen, wird (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
deutlich, dass die Steuerpflichtigen in den Jahren 2001 bis
2004 gegenüber dem Gesetzentwurf, den Sie im Bundes-
tag beschlossen haben, noch weniger entlastet werden, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat
nämlich um 15 Milliarden DM weniger in diesen Jahren. jetzt die Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grü-
nen, Kerstin Müller.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. –
Joachim Poß [SPD]: Wir versprechen nur, was
Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
wir halten können!)
NEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Das Optionsmodell ist nun vom Tisch. Sie sagen nun: Merz, das, was Sie in den vergangenen Tagen und auch im
Das wollt ihr doch immer. – Wir haben das Optionsmo- Vermittlungsausschuss gemacht haben, kann man meines
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10779
Kerstin Müller (Köln)

(A) Erachtens nicht mehr mit Anfangsfehlern erklären. Sie Und noch mehr gilt das für die Länder Brandenburg, Bre- (C)
wissen doch selbst, dass Sie mit dem störrischen Behar- men und Berlin. In deren Haushalten ist doch jetzt schon
ren, die Steuerreform wegen des Verfahrens der Be- „Land unter“ angesagt. Wie sollen diese Länder weitere
steuerung von Dividenden, der so genannten System- Steuerausfälle finanzieren, meine Damen und Herren?
frage, zu blockieren, keinerlei Rückhalt in der Bevölke- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
rung haben. Die Bürgerinnen und Bürger in diesem Lande und bei der SPD – Joachim Poß [SPD]: Das ist
verstehen nicht, worum es geht. Fragen Sie einmal die leider wahr!)
Menschen auf der Straße, was sich hinter dem Begriff
Systemfrage verbirgt. Inzwischen merkt es doch auch der Letzte: Sie ver-
stecken sich hinter der Frage des Halbeinkünfteverfah-
(Widerspruch bei der CDU/CSU) rens, um zu vertuschen, dass es bei Ihnen drunter und drü-
Diejenigen, die aus ihrer täglichen Praxis wissen, ber geht und dass Sie in Ihrem Lager bei diesen Fragen
worum es geht, raten Ihnen dringend, Ihren Widerstand keine Einigung finden.
aufzugeben. Zuletzt hat Sie gestern der Bundesverband (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
deutscher Banken nachdrücklich aufgefordert, unserem und bei der SPD)
Vorschlag zuzustimmen, meine Damen und Herren.
Wir dagegen haben gemeinsam mit den SPD-geführten
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ländern einen Kompromissvorschlag vorgelegt. Dabei
und bei der SPD – Hans Michelbach sind wir Ihnen, meine Damen und Herren von der Oppo-
[CDU/CSU]: Das glaube ich!) sition, weit entgegengekommen. Rot-Grün macht den
– Soll ich es zitieren? Menschen und der Wirtschaft ein hervorragendes Ange-
bot. Wir sorgen dafür, dass alle Steuerzahler nachhaltig
(Anhaltende Zurufe von der CDU/CSU) entlastet werden. Insgesamt bringt die Steuerreform bis
– Hören Sie einmal zu! Vielleicht können Sie sich dann zum Jahre 2005 eine Entlastung von rund 56 Milliarden
wieder ein bisschen beruhigen. DM. Davon kommen drei Viertel den Privathaushalten
und den kleinen und mittleren Unternehmen zugute. Wir
Sie haben die so genannte Systemfrage nur deshalb in senken schrittweise den Eingangsteuersatz, der 1998 noch
den Mittelpunkt gestellt, weil Sie fürchten, dass Sie, so- bei 25,9 Prozent gelegen hat, in den nächsten vier Jahren
bald es um die inhaltliche Debatte geht, Ihr eigenes Lager, auf 15 Prozent. Zusätzlich erhöhen wir den Grundfreibe-
die B-Länder, die CDU- und CSU-geführten Länder, nicht trag. Wir senken den Spitzensteuersatz von 53 Prozent in
mehr zusammenhalten können. Die Länder brauchen eine 1998 in vier Jahren auf 43 Prozent und wir erhöhen die
Steuerreform, die die Länderhaushalte verkraften können. Einkommensgrenze, ab der dieser Satz gezahlt werden
(B) muss. Das ist die größte Steuerentlastung in der Ge- (D)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
schichte der Bundesrepublik. Diese Steuerentlastung für
und bei der SPD) die Menschen und die Wirtschaft wollen Sie im Moment
Die Vorschläge, die Sie gemacht haben, sind nicht fi- verhindern. Das bringt Schaden für die ökonomische
nanzierbar. Deshalb haben Sie jede konstruktive Debatte Entwicklung in der Bundesrepublik.
über wichtige Einzelfragen der Steuerreform konsequent (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
torpediert. Erst haben Sie sich geweigert, überhaupt eine und bei der SPD)
Arbeitsgruppe des Vermittlungsausschusses einzurichten,
dann haben wir von Ihnen in fünf Sitzungen des Vermitt- Wir entlasten auch und gerade kleine und mittelständi-
lungsausschusses nicht einen einzigen inhaltlichen Kom- sche Unternehmen. Diese profitieren von der Reform,
promissvorschlag gehört. Bis heute sind Sie nicht in der nicht nur im Wege der Senkung der Steuersätze. Sie wer-
Lage, zu den zentralen Fragen der im Vermittlungsaus- den zusätzlich entlastet, weil sie die Gewerbesteuer zur
schuss vorgelegten Steuerreform Stellung zu beziehen. Hälfte auf die Einkommensteuer anrechnen können und
Auch heute hat Frau Hasselfeldt hierzu nichts gesagt. Wie weil die Anspar- und Sonderabschreibungen nach dem
hoch soll nach Auffassung der Union die Gesamtentlas- neuen Vorschlag doch beibehalten werden. Dafür haben
tung von Bürgern und Wirtschaft ausfallen? Welchen wir Grüne uns von Anfang an besonders stark gemacht.
Spitzensteuersatz, der auch finanzierbar ist, wollen Sie? Das ist für den Mittelstand und für eigenkapitalschwache
Mit welchen konkreten Maßnahmen wollen Sie den Mit- Unternehmen in den neuen Ländern ganz besonders wich-
telstand tatsächlich entlasten? Vor allen Dingen: Wie wol- tig.
len Sie sicherstellen, dass die Reform von Bund, Ländern (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
und Kommunen auch dauerhaft finanzierbar ist? Auf all
diese Fragen sind Sie bis heute die Antwort schuldig ge- Genau das beschließen wir heute. Damit schaffen wir
blieben. die Voraussetzung für mehr Investitionen, für mehr
Arbeitsplätze und für mehr Ausbildungsplätze gerade im
Herr Stoiber und Herr Teufel wollen Geld verschen- mittelständischen Bereich. Dies ist auch der Motor für
ken, das die Ministerpräsidenten Müller, Biedenkopf und jede weitere wirtschaftliche Entwicklung. Das Land war-
Vogel nicht haben. Die Landesregierungen von Saarland, tet auf diese Reform. Sie ist sozial gerecht und fördert die
Sachsen und Thüringen hoffen doch insgeheim, dass sich Kaufkraft der Haushalte und die Investitionskraft der Un-
die Bundesregierung mit ihrem Konzept durchsetzt. ternehmen. Jede weitere Verzögerung hinsichtlich ihrer
Umsetzung schadet dem Standort Deutschland.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
10780 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Kerstin Müller (Köln)

(A) Unternehmen und Verwaltungen brauchen jetzt Planungs- Weiter schreibt er: (C)
sicherheit. Wenn Sie diese Reform weiterhin blockieren –
Wenn die Aufbruchstimmung in Deutschland im
das wollen Sie ja tun –, dann machen Sie Politik gegen die
Sommerloch des Jahres 2000 dadurch verschwände,
Arbeitslosen und bremsen den weiteren wirtschaftlichen
dass die Union den Reformwillen der Bundesregie-
Aufschwung. rung bei Steuern und Rente mit einer reinen, aber de-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN struktiv wirkenden Prinzipiendebatte bricht, statt ihn
und bei der SPD) mit möglichen Verbesserungen zu stärken, dann hilft
das weder unserem Land noch der CDU/CSU. Frei-
Ich komme gerne auf Ihr derzeitiges Lieblingsthema lich wird dann dieses Land zur internationalen Lach-
zurück. Sie verkennen mit Ihrer Kritik am Halbeinkünf- nummer.
teverfahren, dass nur das rot-grüne Steuerkonzept eine
Senkung des Körperschaftsteuersatzes auf einheitlich Das ist die Wahrheit. Dem braucht man nichts hinzuzufü-
25 Prozent ermöglicht. Unter Ihrer Verantwortung hatte gen.
Deutschland die höchsten Unternehmensteuersätze welt- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
weit. und bei der SPD)
(Detlev von Larcher [SPD]: Sehr wahr!)
Durch unseren Vorschlag erreichen wir – ohne Einbezie- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kol-
hung der Gewerbesteuer – mit einem Schlag Platz eins im legin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
internationalen Vergleich. Bei Berücksichtigung der Ge- Michelbach?
werbesteuer liegen wir noch immer im guten Mittelfeld.
Noch eines: Hören Sie endlich auf, das Märchen von Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
der Ungleichmäßigkeit der Besteuerung zu erzählen! Sie NEN): Nein, heute nicht.
wissen doch genau, dass es unredlich ist, den reinen Kör-
Ausgerechnet das, wovor Dr. Norbert Walter warnt,
perschaftsteuersatz ausschließlich mit dem Spitzensteu-
haben Friedrich Merz und Angela Merkel mit den uni-
ersatz der Einkommensteuer zu vergleichen. Sie unter-
onsgeführten Ländern verabredet, gegen jede Vernunft
schlagen bei diesem Vergleich regelmäßig, dass auch die
und gegen den erklärten Willen der deutschen Wirtschaft.
Kapitalgesellschaften Gewerbesteuer zahlen. Mit Gewer-
Sie haben sich und die Union damit völlig isoliert.
besteuer zahlen diese tatsächlich nicht 25 Prozent, son-
dern im Schnitt nur rund 38 Prozent. Auch das Ausland schaut mit Argusaugen auf uns;
denn wenn wir zulassen, dass Sie sich durchsetzen, dann
Dagegen erreicht nach unserem Konzept fast kein erhalten ausländische Investoren das Signal, dass sie
Personenunternehmen auch nur annähernd einen Steuer- künftig einen höheren Steuersatz zahlen müssten. Das (D)
(B) satz von 38 Prozent, geschweige denn den Spitzensteuer-
wäre eine schlechte Nachricht, die Sie, meine Damen und
satz. Im Gegenteil: Über 95 Prozent der Personen- Herren von der Opposition, zu verantworten hätten. Wir,
unternehmen liegen weit darunter. Fast 80 Prozent der Grüne und SPD, wollen dagegen ein klares Zeichen set-
Personenunternehmen haben einen Gewinn vor Steuern zen. Wir wollen einen einheitlichen Körperschaftsteuer-
von unter 100 000 DM pro Jahr. Die übergroße Mehrheit satz von 25 Prozent. Wir wollen ausländisches Kapital für
dieser Unternehmen zahlt ab 2005 weniger als 20 Prozent Deutschland gewinnen. Wir wollen Arbeitsplätze und
Steuern, inklusive der Gewerbesteuer. Während Ihrer Re- Ausbildungsplätze schaffen.
gierungszeit, meine Damen und Herren von der Opposi-
tion, mussten die Personenunternehmen noch über Während Sie sich weiter um die Lehrmeinungen von
25 Prozent an Steuern verkraften. Das ist die Wahrheit einigen Professoren kümmern, sorgen wir für die Wett-
über die Steuersätze in diesem Land. bewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Wir haben
einen mutigen Kompromissvorschlag vorgelegt, einen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kompromiss, durch den alle Bürger und die Wirtschaft
und bei der SPD) spürbar entlastet werden, eine Steuerreform, durch die die
Ihre Behauptung, wir würden Personenunternehmen mit wirtschaftliche Entwicklung gefördert wird und durch die
unserem Konzept benachteiligen, ist eine freie Erfindung Arbeitsplätze geschaffen werden.
Ihrer Buchhaltertheorie, Herr Merz, und sonst gar nichts. An dieser Stelle möchte ich auch sagen: Wir sind dabei
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN an die Grenze dessen gegangen, was die öffentlichen
und bei der SPD) Haushalte von Bund, Ländern und Kommunen verkraften
können. Wir wollen weiterhin eine seriöse Finanzpolitik
Unser Konzept ist gerecht, praktikabel und überzeu- betreiben. Wir wirtschaften nicht auf Kosten künftiger
gend. Nicht umsonst fordern Wirtschaft, Industrie und Generationen, wie Sie es über Jahrzehnte gemacht haben.
Banken seit Wochen, dass diese Steuerreform nicht ver- Für uns gilt: Steuergerechtigkeit ist nur im Paket mit Ge-
zögert werden und erst recht nicht scheitern darf. So nerationengerechtigkeit zu haben. Mit uns wird es keine
schrieb zum Beispiel Herr Walter, Chefökonom der Deut- Steuerreform auf Pump geben. Das ist gegenüber den
schen Bank, am letzten Donnerstag in der „Welt“ – das künftigen Generationen nicht zu verantworten.
möchte ich Ihnen wirklich nicht vorenthalten –:
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Das Steuersenkungsgesetz richtet sich eindeutig an und bei der SPD)
Zielsetzungen aus, die zur langfristigen Sicherung
der Wachstumsperspektive in Deutschland ohne Al- Aber, meine Damen und Herren, da der Appell an die
ternative sind. Vernunft hier im Bundestag bei Ihnen ins Leere zu gehen
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10781
Kerstin Müller (Köln)

(A) scheint, lautet mein Appell an die Ministerpräsidenten Diese Reform ist von Rot-Grün blockiert worden. Das (C)
von CDU und CSU: Wer jetzt blockiert, der zahlt später einzig Positive, das wir einräumen können, ist, dass Rot-
möglicherweise die Zeche. Sie sollten den Interessen Ih- Grün inzwischen erkennt, dass wir auch in einem Wettbe-
rer Länder folgen und sich nicht zum Büttel von CDU- werb der Steuersysteme stehen und dass die Steuersätze
Präsidiumsbeschlüssen machen lassen. Das liegt nämlich gesenkt werden müssen.
nicht im Interesse Ihrer Länder. Ich kann Sie nur auffor-
dern, dem Gesetzentwurf am nächsten Freitag im Bun- In dem Gesetzgebungsverfahren für diese Steuerre-
desrat zuzustimmen. Die Regierungsfraktionen haben in form hat die F.D.P. immer erklärt: Die Gleichmäßigkeit
den vergangenen Wochen unzählige Kompromissange- der Besteuerung ist für uns die zentrale Frage; es darf
bote gemacht. Wir sind der Opposition weit entgegenge- keine Benachteiligung des Mittelstandes, der Selbststän-
kommen. Wenn diese Steuerreform jetzt noch scheitert, digen, der Handwerker und auch der Arbeitnehmer in un-
dann tragen Sie die Verantwortung dafür. Kommen Sie serem Land gegenüber den Kapitalgesellschaften geben.
endlich zur Vernunft und geben Sie Ihren Widerstand auf!
(Beifall bei der F.D.P.)
Danke schön.
Das ist die Kernforderung der F.D.P., von der wir nicht ab-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rücken werden. Die Bürger erwarten von der Politik und
und bei der SPD) den Politikern Glaubwürdigkeit. Wenn wir diese verspie-
len, dann tragen wir selbst zur Parteienverdrossenheit bei.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Jetzt spricht der
(Detlev von Larcher [SPD]: Und darüber redet
Abgeordnete Carl-Ludwig Thiele.
Herr Thiele!)

Carl-Ludwig Thiele (F.D.P.): Sehr geehrte Frau Prä- Neben den unterschiedlichen Runden, die der Herr
sidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kolle- Bundeskanzler nach Gutsherrenart zur Vorbereitung von
gen! Warum schicken die Grünen eigentlich keinen Lösungsvorschlägen einberufen hat, gibt es ein überpar-
steuer- und finanzpolitischen Sachverstand in den Ver- teiliches Gremium, und zwar den Vermittlungsausschuss.
mittlungsausschuss? Er ist in Art. 77 des Grundgesetzes konstituiert. Im Ver-
mittlungsausschuss, wo eine Lösung gefunden werden
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
soll, ist nicht irgendeine Parteiräson, sondern das Verant-
Warum haben die Grünen in der letzten Wahlperiode die wortungsprinzip maßgeblich. Deshalb erwarten wir, dass
Blockadepolitik von Oskar Lafontaine unterstützt? spätestens in diesem Gremium die Bedenken und die Kri-
Warum haben sie nicht konstruktiv dazu beigetragen, dass tik der Opposition und der Länder tatsächlich Gehör fin-
(B) es schon in der letzten Wahlperiode zu einer Steuerreform (D)
den, was vorher überhaupt nicht der Fall war.
gekommen ist?
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) der CDU/CSU)
Die Grünen haben in der letzten Legislaturperiode gegen Ich war schon erstaunt darüber, Herr Finanzminister,
eine Nettoentlastungslüge polemisiert. Das zeigt ganz
wie Sie diese Bedenken in den Beratungen des Vermitt-
deutlich: Die Grünen wollen mehr Steuern und mehr
lungsausschusses als unbegründet und überhaupt nicht
Staat. Wir von der F.D.P. wollen hingegen weniger Steu-
ern und weniger Staat. sachgerecht zur Seite gewischt haben. Herr Finanzminis-
ter Eichel, ich sage Ihnen das hier sehr persönlich: Es war
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Ihr Fehler, diese Kritik nicht aufzunehmen. Es war Ihr
Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Fehler, diese Kritik als unwichtig und falsch einzu-
GRÜNEN]: Sie wollen Schulden machen!) schätzen. Es war Ihr Fehler, eine Diskussion darüber ab-
Die F.D.P. bedauert, dass das Vermittlungsausschuss- zulehnen.
verfahren zur Steuerreform gescheitert ist. Niemand ist (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten
heute Gewinner; die Bürger und die Steuerzahler sind der CDU/CSU)
Verlierer. Die Bürger erwarten von der Politik nicht nur
Lösungsvorschläge, sondern auch Lösungen. Die F.D.P. Deshalb haben Sie selbst, Herr Finanzminister, das Zu-
hat schon zu Beginn der vergangenen Wahlperiode als standekommen dieser Steuerreform blockiert.
erste Partei des Deutschen Bundestages eine Steuerreform
mit einem Eingangsteuersatz von 15 Prozent und mit ei- Schon während des Gesetzgebungsverfahrens hat Rot-
nem Spitzensteuersatz von 35 Prozent, mit einer deutli- Grün gezeigt, dass es an einer Einigung mit der Opposi-
chen Entlastung der Bürger und der Unternehmen in un- tion überhaupt nicht interessiert war:
serem Lande, vorgelegt. Diese Reform wurde vom ge- (Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt!)
samten Sachverstand – auch vom Steuersystem her – als
positiv bewertet. Erstens. Die Zahl der Sachverständigen wurde will-
kürlich entsprechend rot-grüner Vorstellung reduziert, um
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten unliebsame Kritiker auszuschalten.
der CDU/CSU – Winfried Hermann [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie fordern es, wir ma- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU –
chen es!) Widerspruch bei der SPD)
10782 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Carl-Ludwig Thiele

(A) 78 Professoren haben sich hiergegen verwahrt. Ich zitiere (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten (C)
aus ihrer Erklärung: der CDU/CSU und der PDS)
Nachdem zur Anhörung vor dem Finanzausschuss Auch nach dem Jahre 2005 halten Sie diesen Systembruch
Fachvertreter der Betriebswirtschaftlichen Steuer- weiter aufrecht, denn ein Spitzensteuersatz von 43 Pro-
lehre wohlweislich nicht mehr eingeladen wurden, zent plus Solidarzuschlag steht dann einem Körper-
möchten wir auf diesem Wege versuchen, uns Gehör schaftsteuersatz von 25 Prozent gegenüber. Das ist nicht
zu verschaffen. hinnehmbar.
Es ist doch ein Armutszeugnis für dieses Parlament, dass (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten
im Vorfeld Kritiker ausgeschaltet werden. der CDU/CSU)
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Hier werden Sie sich noch erheblich bewegen müssen.
Widerspruch bei der SPD) Diese Spreizung der Steuersätze widerspricht Art. 3 des
Grundgesetzes und dürfte deshalb verfassungswidrig
Zweitens. Der erste Termin des Vermittlungsaus- sein.
schussverfahrens wurde mit Hilfe Ihrer Stimmenmehrheit
so gelegt, dass die Vertreter der F.D.P. nicht daran teil- Dieser Verstoß gegen Art. 3 des Grundgesetzes wird
nehmen konnten. jetzt noch deutlicher, nachdem Sie das Optionsmodell,
das nie funktioniert hätte, gestrichen haben. Damit ist die
(Widerspruch des Abg. Detlev von Larcher Hoffnung vieler Personengesellschaften, sie könnten wie
[SPD]) eine Kapitalgesellschaft steuerlich belastet werden, end-
gültig geschwunden. Dieses Feigenblatt ist weg. Die Ver-
Das hat es überhaupt noch nicht gegeben. Normalerweise
fassungswidrigkeit wird offensichtlich.
wird auf Bundesparteitage Rücksicht genommen.
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Drittens. Die Tagung des Vermittlungsausschusses am
letzten Freitag wurde parallel zur Debatte über zehn Jahre Das vorgelegte, geänderte Konzept reicht nach unserer
Wirtschafts- und Währungsunion in unserem Lande Meinung bei weitem nicht aus:
durchgeführt. Als wir im Vermittlungsausschuss saßen, Erstens. Die Gleichmäßigkeit der Besteuerung ist nicht
hat Ihr Sprecher vor der Tür Papiere verteilt und vor der gewahrt. Die ideologische Unterscheidung, Unternehmen
Presse erläutert, die wir im Vermittlungsausschuss noch müssten entlastet werden, Unternehmer hingegen nicht,
nicht einmal gesehen hatten. bleibt bestehen. Das ist eine krasse Benachteiligung des
(Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Unerhört! Un- Mittelstandes, der Bürger und der Arbeitnehmer in unse-
(B) glaublich! – Zurufe von der SPD) rem Lande. (D)
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wer im Ver- (Walter Hirche [F.D.P.]: Das richtet sich gegen
fahren bei der Behandlung berechtigter Interessen der Op- die Konjunktur!)
position zu erkennen gibt, dass ihm diese schnurzegal Zweitens. Bei den Veräußerungsgewinnen wird der
sind, wer sich mit seiner Verfahrensmehrheit rücksichts- Mittelstand gegenüber den Großunternehmen weiter
los über die Opposition hinwegsetzt, deutlich benachteiligt. Die rot-grüne Koalition hat zu Be-
ginn dieser Wahlperiode durch die Abschaffung des hal-
(Detlev von Larcher [SPD]: Wir sind im Bun-
ben Steuersatzes den deutschen Mittelstand um ein Vier-
destag und nicht im Bundesrat!)
tel seines Vermögens enteignet.
wer ein unechtes Vermittlungsausschussergebnis vorlegt,
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU –
zeigt deutlich, dass ihm an einem Ergebnis in der Sache
Widerspruch bei der SPD)
gar nicht gelegen ist.
Das ist die Wahrheit. Auf der anderen Seite sollen aber
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Veräußerungsgewinne für Kapitalgesellschaften komplett
Sie alle wissen doch selbst, dass das mutwillige Her- steuerfrei gestellt werden. Das kann nicht der richtige
beiführen eines unechten Vermittlungsausschussergebnis- Weg sein. Das ist mittelstandsfeindlich und reine Willkür.
ses ein echtes Vermittlungsausschussergebnis unmöglich Drittens. Der Kleinaktionär und Kleinanleger wird ge-
macht. Das war immer so und wird auch bei diesem un- genüber dem Großaktionär drastisch benachteiligt.
echten Vermittlungsausschussergebnis nicht anders sein.
Viertens. Die Verschlechterung der Abschreibungsbe-
(Peter Dreßen [SPD]: Haben Sie sich denn be- dingungen und der Abschreibungstabellen wirkt wie eine
wegt?) Desinvestitionsteuer und wird dafür sorgen, dass der An-
Noch einmal zur Frage, warum es keine Bewegung ge- reiz für Investitionen, die wir brauchen, um mehr Arbeits-
geben hat: Die Hauptkritik der F.D.P. bleibt weiterhin, plätze und Beschäftigung in unserem Land zu erreichen,
dass die Gleichmäßigkeit der Besteuerung von Kapital- nicht zum Tragen kommen kann.
gesellschaften auf der einen Seite und von Personen, Fünftens. Das angebliche Entlastungsvolumen wird
Personengesellschaften, dem Mittelstand und den Arbeit- mit diesem Kompromissvorschlag in den Jahren 2001 bis
nehmern auf der anderen Seite nicht gegeben ist. Der Mit- 2004 um 15 Milliarden DM gekürzt. Auf der anderen
telstand und die Arbeitnehmer werden bis zum Jahr 2004 Seite – die Steuerreform verfolgt eine Zeitschiene von
deutlich höher belastet als die Kapitalgesellschaften. 2001 bis 2005 – werden die Steuereinnahmen des Staates
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10783
Carl-Ludwig Thiele

(A) bzw. die Steuerbelastung der Bürger und der Wirtschaft nichts zu sagen, Herr Thiele! – Wilhelm (C)
um mehr als 200 Milliarden DM steigen. Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Diese Drohung
hätten wir nicht gebraucht!)
(Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!)
Davon sollen ihnen 45 Milliarden DM als Entlastung
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Zu einer Kurz-
zurückgegeben werden.
intervention erhält jetzt der Kollege Oswald Metzger das
(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist Wort.
doch Unsinn!)
Gleichzeitig wird die Ökosteuer die Bürger mit zusätzlich Oswald Metzger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
35 Milliarden DM belasten. Da wird jeder Bürger fragen: Meine Damen und Herren! Ich finde es schon bemer-
Wo bleibt die Entlastung? – Sie ist wahrhaftig nicht zu fin- kenswert, Herr Kollege Thiele – jetzt zunächst die Pole-
den. mik, weil Sie in Ihrer Rede mit diesem Punkt eingestiegen
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) sind –, dass jemand wie Sie heute solche Töne spuckt, der
zur Zeit der alten Regierung Vorsitzender des Finanzaus-
Aus Sicht der F.D.P. müssen die Bürger und der Mit- schusses war, der Mitglied einer Partei ist, die von 1969
telstand deutlich stärker entlastet werden als bisher ge- bis 1998 fast ohne Unterbrechung die Vorsitzenden des
plant. Der Spitzensteuersatz muss deutlich unter 40 Pro- Finanzausschusses gestellt hat, und der in Bezug auf
zent liegen. Das Sinken des Spitzensteuersatzes hat Haushaltskonsolidierung, Steuersenkung und Lohnne-
zwangsläufig eine Senkung des Tarifes auch für diejeni- benkostensenkung in diesen 29 Jahren fast immer das Ge-
gen Steuerpflichtigen zur Folge, die den Spitzensteuersatz genteil von dem zu verantworten hatte, was Sie in Ihren
nicht zu bezahlen haben. Das ist genau das Ziel, das wir Programmen geschrieben und öffentlich verkündet ha-
anstreben. ben.
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
der CDU/CSU) und bei der SPD)
Es ist auch unseriös, jeden Tag neue Zahlenspielereien Ich bedauere, dass manche Kollegen, die sehr genau
auf den Tisch zu legen. Deshalb hat die F.D.P. in den ver- wissen, dass zu einer pragmatischen Position auch die Be-
gangenen Wochen nicht täglich neue Modelle auf den achtung der finanziellen Machbarkeit und die Durchsetz-
Tisch gelegt. Unser Modell ist bekannt und hat die barkeit in Verhandlungen mit den Ländern im Rahmen
Sachverständigen und die Wirtschaft überzeugt. Es des Vermittlungsausschusses gehört, so tun, als hätten sie
könnte noch heute übernommen werden, wenn Sie ein keine Kenntnis von der Finanzlage der Länder, in denen
(B) bisschen Mut hätten. Ihre eigenen Parteifreunde, Herr Thiele, mit regieren – in (D)
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Hessen –, und
der CDU/CSU) wüssten nicht, dass sie dort sehr viel kleinere Brötchen
backen müssen.
Das Steuersystem, das wir brauchen, benötigt niedrige
Steuersätze, klare Regelungen und die Beachtung steuer- Nicht umsonst haben die F.D.P. und die Union in den
licher Grundsätze. Im Steuerrecht muss es nach Auffas- letzten zwei Wochen im Vermittlungsausschuss überhaupt
sung der F.D.P. bei einer Besteuerung entsprechend der keine Vorschläge gemacht. Sie führen lediglich zum
Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen bleiben. Deshalb Schein eine Diskussion über das Halbeinkünfteverfahren,
dürfen Unternehmen nicht anders als Unternehmer belas- obwohl inzwischen feststeht, dass sich Deutschland mit
tet werden. Wie mein Kollege Solms in einer anderen De- der von Ihnen gewollten Rückkehr zum Vollanrech-
batte in diesem Haus zu dem Thema erklärte, war die Aus- nungsverfahren international isolieren würde. Wenn wir
sage des Bundeskanzlers die wirtschaftspolitisch dümms- zum Vollanrechnungsverfahren zurückkehren würden,
te Aussage, die ein Bundeskanzler je gemacht hat. meine Damen und Herren, würde gerade angesichts der
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Internationalisierung der Wirtschaft im deutschen Steuer-
recht ein Konzept festgezurrt, das nicht mehr wettbe-
Kapitalgesellschaften dürfen nicht anders behandelt werbsfähig wäre.
werden als Handwerker, Selbstständige und Arbeitneh-
mer. Ich appelliere daher – damit komme ich zum Schluss, (Widerspruch bei der CDU/CSU)
Frau Präsidentin – Deshalb entledigen Sie sie doch bitte in der Debatte Ihrer
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) ideologischen Verblendung und kehren Sie auf die Sach-
ebene zurück! Wir alle wollen Planungssicherheit für un-
an die rot-grüne Koalition: Akzeptieren Sie endlich diese sere Wirtschaft.
steuerlichen Grundsätze! Bürger erwarten vernünftige
Lösungen und nicht nur gute Absichten. Die F.D.P. wird Kollege Merz, wenn unser Fraktionsvorsitzender
sich einer systematisch sauberen und vernünftigen Steu- Rezzo Schlauch Sie heute Morgen als „Oskar Merz“ beti-
erreform nach einem erneuten Vermittlungsausschussver- telte, so geschah das doch nicht ohne Grund. Sie versu-
fahren nicht verschließen. chen ständig eine Blockadeposition herbeizureden – und
das zu einem Zeitpunkt, da alle Fraktionen in diesem Par-
Herzlichen Dank. lament die Steuersätze für die Bürgerinnen und Bürger
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – wirklich senken wollen. Lassen Sie ab von Ihrer Blo-
Detlev von Larcher [SPD]: Sie haben doch ckade!
10784 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Oswald Metzger

(A) In neun Jahren, von denen Sie sieben Jahre lang Re- die Länder hätten sich an dieser Stelle ihrer Mitverant- (C)
gierungsverantwortung getragen haben, wurde Deut- wortung entzogen. Das muss man erst einmal zur Kennt-
schland hinsichtlich des ökonomischen Wachstums nis nehmen.
Schlusslicht in Europa. Gott sei Dank rücken wir seit Mai
(Zuruf von der CDU/CSU: Wo war denn Herr
wieder an die Spitzenpositionen heran. Wenn wir aber
Planungssicherheit für unsere Wirtschaft wollen, brau- Eichel damals?)
chen wir das Signal einer Steuerreform und keine Hänge- Seit 1990 haben wir versucht, die Staatsquote wieder
partie über den Sommer. Anderenfalls sind Sie dafür ver- zu senken und eine steuerliche Entlastung der Bürger zu
antwortlich, wenn die nächsten Frühindikatoren im „Han- erreichen. Es wird von Ihnen verschwiegen, dass der Fa-
delsblatt“ im Gegensatz zur gestrigen Veröffentlichung milienleistungsausgleich in der vergangenen Legislatur-
einen Knick nach unten bekommen und die Aufbruch- periode dazu führte, dass das Kindergeld von 70 auf
stimmung, die doch allenthalben spürbar ist, abbricht. 220 DM am Ende der Legislaturperiode gestiegen ist.
(Widerspruch bei der CDU/CSU und der (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU –
F.D.P.) Joachim Poß [SPD]: Auf unseren Druck hin!)
Wenn Sie glauben, mit dieser Strategie Erfolg zu haben – Das ist Ihre Art der Geschichtsklitterung. Mir ist nicht
und damit auch noch die Rentenreform in diesem Land bekannt, Herr Poß, dass Sie seinerzeit die Mehrheit in die-
verzögern zu können, dann wird die Union sich selber, sem Hause gehabt hätten. Das war nicht der Fall. Die
aber vor allem unserem Land einen Bärendienst erweisen. Mehrheit hatte die Koalition der alten Regierung.
Vielen Dank. Zum zweiten Punkt, dem Anrechnungsverfahren:
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das Anrechnungsverfahren ist 1977 in der sozialliberalen
und bei der SPD – Jochen-Konrad Fromme Koalition mit dem Finanzminister Hans Apel eingeführt
[CDU/CSU]: Jetzt bekommt Herr Thiele aber worden. Das war ein Riesensprung in Richtung mehr Ein-
die gleiche Zeit!) zelfallgerechtigkeit für den einzelnen Bürger, weil sicher-
gestellt wurde – und das wird auch heute noch sicherge-
stellt –, dass jeder Aktionär entsprechend seiner persön-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort zur lichen Leistungsfähigkeit im Einkommensteuerrecht be-
Antwort hat Herr Kollege Thiele. steuert wird. Dass Sie diese Errungenschaft des Steuer-
rechts hier einfach opfern wollen, weil eine EuGH-Ent-
Carl-Ludwig Thiele (F.D.P.): Sehr geehrte Frau Prä- scheidung Sie angeblich dazu verpflichtet, die aber
sidentin! Ich vermute, ich bekomme eine ähnliche Rede- tatsächlich dazu nichts hergibt, ist mir unbegreiflich.
(B) zeit wie der Kollege Metzger. (Beifall bei der F.D.P.) (D)
Erstens. Herr Kollege Metzger, ich bin in den Debatten Da nur der Staatssekretär des Finanzministers diese Auf-
zu diesem Thema immer wieder darüber erstaunt, dass die fassung vertritt, erwarte ich vom Finanzminister die
letzten 16 Jahre immer als 16 Jahre bezeichnet werden Sprungkraft, bei der bisherigen gesetzlichen Regelung zu
und nicht als zweimal acht Jahre. bleiben und von seinen unsinnigen Vorstellungen an die-
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten ser Stelle Abstand zu nehmen.
der CDU/CSU) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Es waren zweimal acht Jahre, davon einmal acht Jahre bis Drittens. Wenn Haushalte konsolidiert werden sol-
zur deutschen Einheit. In dieser Zeit wurde die Staats- len – –
quote von der alten Koalition um 2,5 Prozent gesenkt.
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege
Im Jahre 1990 hätten wir keinerlei Neuverschuldung ge- Thiele, Sie hatten drei Minuten Zeit für Ihre Antwort und
habt, wenn nicht die deutsche Einheit gekommen wäre, die sind jetzt vorbei.
die wir – im Gegensatz zu vielen anderen in diesem (Widerspruch bei der F.D.P. und der
Hause – gewollt haben und über die wir nach wie vor CDU/CSU)
glücklich sind.
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Carl-Ludwig Thiele (F.D.P.): Dann möchte ich zu-
Es ist zwar richtig, dass zur Finanzierung der Kosten der mindest ausreden.
deutschen Einheit bzw. der Sanierung der sozialistisch
heruntergewirtschafteten DDR von uns Steuern und Sozi- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Liebe Kollegin-
alabgaben sowie die Neuverschuldung erhöht wurden. nen und Kollegen, ich habe die Uhr genau im Blick; ich
Aber ich sage Ihnen: Das war absolut alternativlos. habe das auch Herrn Ramsauer erklärt. Herr Thiele hat so-
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) gar sechs Sekunden mehr als drei Minuten geantwortet.
Und wenn Herr Eichel momentan beklagt, dass die
Länder den Bund allein lassen, so war das beim Solidar- Carl-Ludwig Thiele (F.D.P.): Ich möchte gerne noch
pakt 1993 genauso der Fall. Rudi Walther von der SPD hat einen letzten Satz sagen, Frau Präsidentin, wenn Sie ge-
als Vorsitzender des Haushaltsausschusses immer erklärt, statten.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10785

(A) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Nein, Herr Kol- so plötzlich entdeckte Verantwortung für soziale Gerech- (C)
lege Thiele. Kurzinterventionen dürfen drei Minuten dau- tigkeit. Da hat er sich also ein bisschen vermanövriert.
ern und nicht länger. Ich muss Sie bitten, wieder Platz zu
nehmen. (Beifall bei der PDS)
So hat er das Prinzip kennen gelernt, dass man sich in der
Carl-Ludwig Thiele (F.D.P.): Aber ich werde doch Politik die meisten Beulen nicht vom politischen Gegner,
trotzdem einen letzten Satz sagen dürfen, Frau Präsiden- sondern in den eigenen Reihen holen kann.
tin! (Beifall bei Abgeordneten der PDS)
Ich neige ja nicht dazu, die PDS zu überschätzen, wie
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich möchte Sie Sie wissen. Aber ich sage einmal ein bisschen salopp: So
jetzt bitten, sich hinzusetzen. ein Murks kommt im Vermittlungsausschuss eben dann
zustande, wenn Sie die PDS dort nicht mitmachen lassen.
Carl-Ludwig Thiele (F.D.P.): Der Unterschied zwi- (Beifall bei der PDS – Ludwig Stiegler [SPD]:
schen uns und den Grünen ist: Wir wollen die Steuern sen- Jetzt wissen wir es! – Joachim Poß [SPD]: Ist
ken, die Grünen nicht. das jetzt die Bewerberrede?)
Kompetenzen hinsichtlich knapper Kassen haben wir al-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege
lemal. Ich will aber im Ernst sagen: Die PDS kritisiert
Thiele, ich möchte Sie bitten, sich jetzt hinzusetzen!
nach wie vor und auch an dieser Stelle, dass wir durch un-
Das Wort hat nun der Abgeordnete Roland Claus. sere Nichtbeteiligung am Vermittlungsverfahren in unse-
ren parlamentarischen Rechten eingeschränkt sind.
Roland Claus (PDS): Frau Präsidentin! Meine sehr Warum lehnt die PDS das Gesetz ab?
verehrten Damen und Herren! Vielleicht kann ich ein we-
nig zu Ihrer Beruhigung beitragen: Gestern Abend haben (Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
wir alle Gerechtigkeit à la Schröder erlebt; vielleicht ha- GRÜNEN]: Ihr habt doch zugestimmt!)
ben auch Sie das gesehen. Wir haben uns – unsere Frak- Erstens. Diese Reform stellt sich bei genauer Analyse als
tion in besonderem Maße bedrückt, da wir nicht im Ver- eine arbeitnehmerfeindliche Reform heraus.
mittlungsausschuss vertreten sind – durch den Dschungel
der Steuergesetze gequält, während unser Bundeskanzler (Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
eine, wie ich finde, lobenswerte Initiative ergriffen hat, in- NEN]: Mecklenburg-Vorpommern, Herr Kol-
(B) dem er sich an der Bewerbung um die Austragung der lege!) (D)
Fußball-WM 2006 beteiligt hat. Auch wir verkennen natürlich nicht, dass mit der Sen-
(Beifall bei der PDS) kung des Eingangssteuersatzes ein Fortschritt erreicht
ist. Aber im Verhältnis zu den Verbesserungen für Spit-
Wir haben also die harten Bänke der Opposition drücken zenverdiener kommen die meisten Arbeitsnehmerinnen
müssen, während er die Daumen für diese Bewerbung ge- und Arbeitnehmer bei dieser Reform sehr schlecht weg.
drückt hat. Ich wollte ihm eigentlich nur noch einen Tipp
geben: Hätte der Kanzler den Kollegen Gregor Gysi Ich will hier einfach einmal einen Fakt in Erinnerung
mitgenommen, dann wäre er gestern Abend unter den rufen: Es ist erst zwei Wochen her, dass wir in dieser Re-
Fußballzwergen nicht der kleinste gewesen. publik etwas ganz Bemerkenswertes zur Kenntnis neh-
men mussten, nämlich dass sich von 1990 bis 1999 die
(Heiterkeit bei der PDS) privaten Geldvermögen verdoppelt haben. Daher wäre es
Der Vermittlungsausschuss legt uns ein Ergebnis vor, wirklich möglich gewesen, den Spitzenverdienern eine
das keines ist. Sie nennen es deshalb auch ein „unechtes höhere Solidarität für die Gesellschaft abzuverlangen.
Ergebnis“. Hier läuft genau das ab, was zu erwarten war:
(Beifall bei der PDS)
Die Koalition erklärt an die Adresse der CDU/CSU, dass
diese schuld sei, dass die Politik der Koalition alternativ- Das, was Sie vorhaben, sind Peanuts für die Malocher und
los sei, und die Opposition, vor allem die CDU/CSU, sagt, Kniefälle vor den Banken und der großen Industrie.
die Regierung sei daran schuld.
So offenbart sich wohl, was wirklich damit gemeint
Nun muss ich allerdings eingestehen: Der Kollege war, als der Kanzler zu Beginn seiner Amtsperiode sagte,
Merz hat sich wirklich in einem magischen Viereck ver- er wolle nicht viel anders, aber vieles besser machen. Mit
fangen. Da sind zu viele Dinge zusammengekommen: dieser Steuerreform hat er Dinge angepackt, die anzuge-
erstens die nicht ganz wegzuleugnende Verantwortung für hen Helmut Kohl sich nie getraut hat. Damit hat er lei-
die frühere Steuerpolitik der CDU/CSU, die in diesem der – das ist unsere Kritik – einen weiteren Schritt auf dem
Lande natürlich nicht vergessen ist; zweitens das uner- Weg in die Ellenbogengesellschaft zurückgelegt.
wartete Lob der Industrie für die rot-grüne Regierung –
(Beifall bei der PDS)
das passt ja nicht so richtig dazu –; drittens die traditio-
nelle Kritik an der Regierung, die aus der Opposition not- Ein zweiter Punkt unserer Kritik: Diese Reform ist mit-
wendig wäre; viertens etwas, das in diesem Hause wirk- telstandsfeindlich und widerspricht marktwirtschaftli-
lich überrascht, und zwar die in der CDU/CSU-Fraktion chen Prinzipien. Aber auch hier gibt es Fortschritte. Sie
10786 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Roland Claus

(A) haben jetzt wieder die Beibehaltung der Anspar- (Joachim Poß [SPD]: Die kommen auch gar (C)
abschreibung vorgesehen. Das hätten Sie leichter haben nicht vor! Pure Demagogie, was Sie da ma-
können. chen!)
(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Genau das ist unsere Kritik. Sie kommen nämlich nicht
NEN]: Was ist denn mit der PDS in Mecklen- vor. Aber sie sind von Kürzungen im Sozialbereich und
burg-Vorpommern? Ist das eine andere PDS?) von steigenden Lebenshaltungskosten betroffen.
Die PDS hatte nämlich bekanntlich bei der zweiten und (Beifall bei der PDS – Joachim Poß [SPD]: Wie
dritten Lesung des Steuergesetzes einen gleich lautenden wollen Sie das mit Steuergesetzen auffangen?)
Antrag eingebracht. Den haben Sie damals abgelehnt. Aus all diesen Gründen werden wir Ihren Vorschlag
Jetzt sehen Sie doch eine Beibehaltung vor. Dies ist zu be- ablehnen. Politiker haben mitunter eine ganze Reihe von
grüßen. Sammelleidenschaften. Die einen sammeln Akten; Kohl
Aber es ist nach wie vor eine Benachteiligung der klei- gehört bekanntlich nicht dazu. Die anderen sammeln
nen und mittelständischen Unternehmen gegenüber der Kompromisse am Kamin; das tut unser Bundeskanzler
großen Industrie zu verzeichnen. Sie schreiben hiermit sehr gern und nennt es dann Konsens.
auf Dauer eine Ungleichbesteuerung fest – und das zulas- (Joachim Poß [SPD]: Sie sammeln Stimmen
ten der allermeisten Personengesellschaften. Eine Alter- mit den falschen Argumenten und Demagogie!)
native wäre möglich gewesen. Wir haben Ihnen eine pro-
gressive Körperschaftsbesteuerung vorgeschlagen. Um bei meinem anfangs gebrachten Vergleich zu bleiben:
In diesem Falle müssen Sie in die Verlängerung gehen,
Ein dritter Punkt unserer Kritik: Dieses Gesetz richtet Herr Bundeskanzler. Ich hoffe, dass Sie bei der Bewer-
sich gegen die Länder und Kommunen und widerspricht bung um die Fußball-WM 2006 mehr Glück haben als mit
dem Prinzip des Föderalismus; dies ist immerhin ein diesem Gesetz.
Verfassungsgrundsatz. Ich weiß, dass diese Kritik
selbstverständlich auch aus Bayern kommt – und dies zu Vielen Dank.
Recht; denn das Land Bayern ist nach jetzt vorliegenden
(Beifall bei der PDS)
Schätzungen, die von Steuerausfällen in Höhe von 14 Pro-
zent ausgehen, am härtesten betroffen. Damit wird ein
Verfassungsgrundsatz ernsthaft angegriffen. Ich frage Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat
mich in diesem Zusammenhang manchmal, ob die Vi- jetzt der Herr Bundesminister Hans Eichel.
deoüberwachung, die derzeit in aller Munde ist, nicht
langsam in das Bundeskabinett gehört.
Hans Eichel, Bundesminister der Finanzen: Frau Prä-
(B) Vierter Punkt unserer Kritik: Dies ist ein Gesetz, das sidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als (D)
sich gegen die neuen Bundesländer richtet, wenn ich nur wir, der Bundeskanzler und ich, im Dezember vergange-
an den Fakt erinnere, dass zum Beispiel Sachsen-Anhalt nen Jahres das Konzept zum Steuersenkungsgesetz, zur
mit Steuerausfällen in Höhe von 500 Millionen DM rech- Steuerreform 2000 vorgelegt haben, da ging dem der Ein-
nen muss. Mit dem Haushalt von Sachsen-Anhalt kenne stieg in die Haushaltskonsolidierung voraus. An den An-
ich mich reichlich aus; da habe ich viele Umschichtungen fang meiner Rede möchte ich daher die Frage stellen, die
miterlebt. Wenn in einem Landeshaushalt im Zuge der Sie bis heute nicht beantwortet haben: Bleibt es dabei,
Haushaltsverhandlungen 200 oder 300 Millionen DM dass wir Haushaltskonsolidierung und Steuerentlastung in
umgeschichtet werden – das wissen Sie doch selbst –, einem Paket und im Rahmen der international eingegan-
dann ist das ein großer Akt. Wenn aber jetzt auf diesem genen Verpflichtungen behandeln – ja oder nein?
Wege Steuereinnahmen in Höhe von 500 Millionen DM
(Joachim Poß [SPD]: So ist es!)
und mehr verloren gehen, dann geht der gesamte im Hin-
blick auf die landespolitische Gestaltung bestehende Damit ist gleichzeitig die Frage verbunden, wie hoch das
Spielraum flöten. Das kann man so nicht hinnehmen; das Entlastungsvolumen durch dieses Steuerpaket sein kann.
ist zu kritisieren.
Hier liegt der fundamental falsche strategische Ansatz
(Beifall bei der PDS) der Opposition;
Dann wird der immer als Gegenargument vorgebrachte (Beifall bei der SPD und dem BÜND-
selbst tragende Aufschwung infolge der mit diesem Ge- NIS 90/DIE GRÜNEN)
setz beabsichtigten Steuerentwicklung nicht zum Tragen
hieraus habe Sie sich – das sagen alle draußen – mit einer
kommen.
überraschenden Volte in eine völlig abwegige System-
Für besonders bemerkenswert halte ich – ich hoffe, debatte geflüchtet. An der Haushaltskonsolidierung haben
dass ich mich da irre –, dass es einen nicht unerheblichen Sie sich nicht beteiligt. Ich kann mich nicht erinnern, von
Druck auf die neuen Bundesländer gegeben hat, diese Ihnen irgendeinen hilfreichen Beitrag gehört zu haben.
Steuergesetze mit dem zweiten Solidarpakt zu verbinden. Sie haben in allen Haushaltsberatungen gesagt, überall
müsse mehr ausgegeben werden. Denselben Kommentar
Ich möchte Ihnen einen fünften und letzten Punkt nen-
haben wir auch zum Haushaltsplan für das Jahr 2001
nen, warum wir gegen dieses Gesetz sind: Es nimmt keine
gehört.
Rücksicht auf die über 10 Millionen sozial Schwachen in
dieser Republik. Nun werden Sie sagen: Die kommen in (Beifall bei der SPD und dem BÜND-
diesem Gesetz gar nicht vor. NIS 90/DIE GRÜNEN)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10787
Bundesminister Hans Eichel

(A) Aber wir müssen eine Haushaltskonsolidierung vorneh- Reihe von Finanzministern an dem Vermittlungsverfah- (C)
men und von den Schulden wegkommen. ren gar nicht erst teilgenommen hat. Das hätte ich an de-
ren Stelle auch nicht getan, wenn ich so unter Kuratel
Ich sage ausdrücklich: Ja, die deutsche Einheit war
eine besondere Last. Wir werfen Ihnen auch gar nicht vor, stünde und wüsste, dass ich die eingangs gestellte Frage
dass dadurch Ausgaben entstanden sind. Unser Vorwurf wahrheitsgemäß beantworten muss. Man hat ja schließ-
aber ist, dass Sie die Einheit nicht solide finanziert haben lich eine Reputation zu verlieren.
und wir dieses Versäumnis jetzt sozusagen abarbeiten (Beifall bei der SPD und dem BÜND-
müssen. Das ist das Problem. NIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD und dem BÜND- Übrigens – aber das wissen Sie alles – haben Sie in der
NIS 90/DIE GRÜNEN) vergangenen Wahlperiode zwei Fehler gemacht. Der erste
Fünf Sitzungen lang sind Sie im Vermittlungsaus- zentrale Fehler – das können Sie in dem Buch von Herrn
schuss wie Ölgötzen dagesessen und haben keinen einzi- Koch nachlesen –: Eine Steuerreform macht man nicht am
gen Ton gesagt. Übrigens, Herr Thiele – da Sie persönlich Ende einer Wahlperiode, sondern am Anfang. Der zweite
geworden sind –, ich kann mich nicht erinnern, von Ihnen zentrale Fehler: Eine Steuerreform kann man nicht mit
im Vermittlungsausschuss einen Beitrag gehört zu haben. großen Steuersenkungen verbinden, wenn die Staatsein-
Ich erinnere mich wohl an Ihre Beiträge vor den Türen des nahmen aus Steuern zurückgehen. Diese Einnahmen müs-
Sitzungssaales, nicht aber im Ausschuss. sen steigen; ansonsten ist dies nicht machbar. Deswegen
war völlig klar, dass niemand die Umsetzung der Peters-
(Beifall bei der SPD und dem BÜND- berger Beschlüsse verkraften kann. Alle Länderhaushalte
NIS 90/DIE GRÜNEN) wären sonst sofort verfassungswidrig geworden. Dieses
Eine Antwort auf die von mir eingangs gestellte zentrale Problem haben die Länder auch für das Jahr 2001; inzwi-
Frage sind Sie schuldig geblieben, meine Damen und Her- schen geben sie das indirekt zu.
ren. Ich höre ja jetzt schon aus München, dass man auf die
Schon im vergangenen Herbst haben Sie versucht, die schwächeren Länder Rücksicht nehmen müsse; der Bund
Konsolidierungsdebatte zu unterlaufen, indem Sie den solle gefälligst Privatisierungserlöse einsetzen. Herr
Menschen ein Wolkenkuckucksheim vorgegaukelt haben. Rauen beispielsweise hat erklärt, ich solle dafür die Erlöse
Von Bayern, Baden-Württemberg und Thüringen liegt be- aus der Versteigerung der UMTS-Lizenzen verwenden.
reits ein Gesetzentwurf auf dem Tisch. Er findet aber Diese unseriöse Finanzpolitik, Herr Thiele, habe ich ge-
keine Mehrheit, im Deutschen Bundestag nicht, aber meint; wir betreiben sie nicht weiter.
natürlich auch im Bundesrat nicht, weil sich die Länder
(B) dies gar nicht leisten können. (Beifall bei der SPD und dem BÜND- (D)
NIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Glos [CDU/
(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- CSU]: Was war denn daran unseriös?)
NEN]: Genau!)
Einmaleinnahmen darf man nicht für laufende Ausgaben
Die CDU-Finanzminister kommen doch in mein Dienst- einsetzen. Zu dieser Aussage gab es übrigens viel Zu-
zimmer und sagen, dass sie schon diese Steuerreform stimmung aus Ihren Reihen: von Frau Merkel, von Herrn
nicht bezahlen könnten. Das ist die Wahrheit! Biedenkopf und auch von Kurt Faltlhauser, der dies noch
in unserem gemeinsamen Gespräch mit dem „Handels-
(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Namen!)
blatt“ bestätigte. Das ist das kleine Einmaleins einer se-
– Gut, ich möchte Ihnen einige Namen nennen. Zum Bei- riösen Finanzpolitik, meine Damen und Herren.
spiel Herr Müller hat in einer öffentlichen Diskussion mit
(Beifall bei der SPD und dem BÜND-
mir gesagt – das musste er hinterher offenkundig revozie-
NIS 90/DIE GRÜNEN)
ren –, ein nennenswert größeres Entlastungsvolumen, als
ich es vorgesehen habe, könne man sich nicht leisten. Dies Deswegen will ich von Ihnen wissen, was Sie für ver-
geschah in einer Diskussion mit dem Chefvolkswirt der kraftbar halten, quergeschrieben von allen Finanzminis-
Dresdner Bank, Dr. Friedrich. tern, die Sie stellen.
Auch der Staatssekretär im hessischen Finanzministe- Dann will ich von Ihnen wissen, ob wir im europä-
rium – Sie haben ja alle zum Schweigen verdonnert – hat ischen Stabilitäts- und Wachstumspakt bleiben. Alle
erklärt, Hessen sei an der Grenze seiner Leistungsfähig- Europäer haben sich nämlich verpflichtet, im Jahre 2002
keit. Das können Sie in den Zeitungen nachlesen. Sie ha- allenfalls noch ein Defizit von 1 Prozent des Bruttoin-
ben das Glück, dass Ihr Gesetzentwurf gar nicht erst zur landsprodukts zu haben; nach Möglichkeit sollten wir so-
Debatte steht, weil er nirgendwo eine Mehrheit gefunden gar Haushaltsüberschüsse haben. Bei dieser Planung
hat; sonst müssten einige Leute die Finger heben. bleibe ich, meine Damen und Herren. Aber bleiben auch
Sie dabei? Was bedeutet dies denn für das Entlastungsvo-
(Beifall bei der SPD und dem BÜND-
lumen? Die meisten europäischen Länder haben das Ziel
NIS 90/DIE GRÜNEN)
schon erreicht. Es gibt eine Reihe von Ländern mit Haus-
Wir können also festhalten, dass die zentrale Frage, haltsüberschüssen. Wir dagegen sind noch lange nicht so
was überhaupt machbar und vereinbar ist, von Ihnen in weit; das macht mir Sorgen. Wollen Sie denn im Zusam-
fünf Sitzungen des Vermittlungsausschusses nicht beant- menhang mit dieser Steuerreform für Deutschland eine
wortet worden ist. Ich kann auch verstehen, warum eine Debatte über das Nichteinhalten der Stabilitätskriterien
10788 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Bundesminister Hans Eichel

(A) einläuten, wie sie im vergangenen Frühjahr mit Italien ge- Das Verfassungsgericht musste Sie zu einer Änderung (C)
führt worden ist? Sie, meine Damen und Herren, waren es zwingen.
doch, die den Stabilitäts- und Wachstumspakt abge- (Widerspruch bei der CDU/CSU)
schlossen haben.
Das war der Grund für den Sprung beim steuerfreien
(Beifall bei der SPD und dem BÜND- Existenzminimum von 1995 auf 1996. Außerdem haben
NIS 90/DIE GRÜNEN) Sie die Familien verfassungswidrig besteuert. Das muss-
Deswegen bleibt die erste Frage, auf die Sie bis heute ten wir in Ordnung bringen, meine Damen und Herren.
jede Antwort schuldig geblieben sind: Welches Entlas- (Beifall bei der SPD und dem BÜND-
tungsvolumen ist verkraftbar? NIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD und dem BÜND- Uns dann zu erzählen, Sie wollten bei der Steuerreform
NIS 90/DIE GRÜNEN) die Arbeitnehmer stärker entlasten als wir, wirkt unglaub-
Kriterium hierfür dürfen aber keine „voodoo economics“ haft angesichts der Tatsache, dass es noch gar nicht so
sein nach dem Motto, lange her ist, dass Sie die Menschen kujoniert haben. Die
Zahlen liegen alle auf dem Tisch.
(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Das können
Sie ja gar nicht buchstabieren!) Nun komme ich zum Mittelstand: Von dem Entlas-
tungsvolumen in Höhe von 80 Milliarden DM kommt der
man müsse nur die Steuern ordentlich senken, dann werde Teil, der nicht an die Privathaushalte geht, ausschließlich
das Wachstum so kräftig sein, dass es so viele Steuern beim Mittelstand an; Sie wissen das auch.
gibt, dass man schneller aus den Schulden herauskommt
und den Staatshaushalt sanieren kann; alle verdienen da- (Widerspruch des Abg. Hans Michelbach
ran und das Schlaraffenland ist perfekt. Nein, meine Da- [CDU/CSU])
men und Herren, so sieht die Wirklichkeit nicht aus! Ich komme hier einmal auf die Kapitalgesellschaften
(Beifall bei der SPD und dem BÜND- zu sprechen. Sie, Herr Merz, haben im vergangenen Früh-
NIS 90/DIE GRÜNEN) jahr von dieser Stelle aus gesagt, wir trieben mit dem
Steuerentlastungsgesetz die Konzerne aus dem Land. Da-
Jeder von Ihnen, der einen Betrieb sanieren muss – der mals waren Sie der Patron der großen Unternehmen.
Bundeshaushalt, den ich übernommen habe, ist ein Sanie- Heute sollen wir das sein. Die Wahrheit ist aber ganz ein-
rungsfall –, weiß, dass die Arbeitnehmer, die Eigentümer fach folgende: Wir haben sie mit dem Steuerentlastungs-
und die Banken etwas hergeben müssen. Am Schluss steht gesetz ordentlich belastet. Das war auch verantwortbar.
(B) oft auch noch der Staat mit einer Bürgschaft daneben. Erst Jetzt entlasten wir sie mit ordentlich gesenkten Steuersät- (D)
dann kriegen wir die Sanierung hin. Anders ist das nicht zen. Das geht für die Körperschaften als Nullsummen-
in Schweden und nicht in den Vereinigten Staaten gelau- spiel aus. Die Gewinner aber sind die Personengesell-
fen und anders wird es auch bei uns nicht laufen. Deswe- schaften, also der Mittelstand, der um über 20 Milliar-
gen müssen Sie die von mir gestellte Frage einmal beant- den DM entlastet wird. Sie kennen diesen Sachverhalt
worten, meine Damen und Herren. doch!
(Beifall bei der SPD und dem BÜND- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
NIS 90/DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN – Hans Michelbach [CDU/
CSU]: Märchenerzähler! – Weitere Zurufe von
Vor diesem Hintergrund unternehmen wir große An- der CDU/CSU und der F.D.P.)
strengungen zur Senkung der Steuern für alle. In diesem
Zusammenhang erzählen Sie hier ja Märchen. Das Entlas- – Vorsicht, darauf komme ich gleich noch zu sprechen.
tungsvolumen beträgt 80 Milliarden DM und baut sich ab Die Rechnung ist doch ganz einfach. Betrachten wir
2005 in drei Stufen nachhaltig auf. Das sind rund 2 Pro- die Definitivbesteuerung der Körperschaften. Dabei las-
zent des Bruttoinlandsprodukts. Davon kommen über sen wir den Soli weg, weil ihn alle bezahlen. Ab 1. Januar
55 Milliarden DM bei den privaten Haushalten an, insbe- nächsten Jahres zahlen die Kapitalgesellschaften 38 Pro-
sondere – das sage ich ganz ausdrücklich – bei den Ar- zent: 25 Prozent Körperschaftsteuer und 13 Prozent Ge-
beitnehmern und Beziehern kleiner Einkommen. werbesteuer. Bei den Personengesellschaften entfällt die
Aber Sie brauchen immer erst ein Verfassungsge- Gewerbesteuer – auf diesen Punkt komme ich gleich noch
richtsurteil, bis Sie endlich Steuergesetze machen, die mit einmal zu sprechen – durch die Anrechnung auf die
der Verfassung in Einklang stehen. Einkommensteuerschuld. Das bedeutet, dass überhaupt
nur noch weniger als 5 Prozent der Personengesellschaf-
(Beifall bei der SPD und dem BÜND- ten in die Gefahr geraten, eine höhere tarifäre Belastung
NIS 90/DIE GRÜNEN) zu haben als die Kapitalgesellschaften. Über 95 Prozent
Das steuerfreie Existenzminimum war bei Ihnen uner- werden tarifär niedriger belastet als Kapitalgesellschaf-
träglich niedrig. In der ganzen Zeit, in der Sie an der Re- ten. So einfach ist das.
gierung waren, haben Sie die kleinen Einkommen verfas- (Beifall bei der SPD und dem BÜND-
sungswidrig hoch besteuert. NIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD und dem BÜND- Sie haben in einem Punkt Recht: Das Ganze passiert
NIS 90/DIE GRÜNEN) bei der Körperschaft in der Mitte der Wahlperiode, im
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10789
Bundesminister Hans Eichel

(A) Jahre 2001, auf einen Schlag, während die Senkung für 1 Milliarde DM. Man findet fast nichts mehr, was man im (C)
die Personengesellschaften bereits begonnen hat. Das Bereich des Mittelstandes noch tun könnte, und das alles
muss ich hier ausdrücklich erwähnen, weil Sie es Ihrer- hätten Sie sich auf Ihre Fahnen schreiben können.
seits nicht tun. Die Senkung begann mit dem 1. Januar
1999 und verläuft systematisch in mehreren Schritten – (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
weil das alle betrifft, ist das sehr viel teurer – bis 2005. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Keiner merkt Zu der absurden Vorstellung, eine Systemfrage zur
es!) zentralen Frage zu machen, will ich Ihnen noch Folgen-
des sagen:
Jetzt können Sie sagen – den Punkt kann ich zwar ver-
stehen, aber es ist nur die halbe Wahrheit –: In 2001 gera- (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Es geht um
ten mehr als 5 Prozent der Personengesellschaften in die Steuergerechtigkeit!)
Gefahr, mehr zu zahlen als die Kapitalgesellschaften. – Darauf komme ich sofort, Herr Michelbach. Vorsicht
Nun, vielleicht sind es 7 oder 8 Prozent, weil der Spitzen-
mit Ihrem Zwischenruf!
steuersatz bei der Einkommensteuer in der Tat noch höher
ist. Mehr Personengesellschaften wird das aber nicht be- Man hätte über diese Frage nachdenken können. Sehen
treffen. Sie sich doch einmal an, was Sie in der Hand hätten, wenn
Wir haben noch ein paar weitere Veränderungen vor- Sie sich mit Ihrer Strategie, wenn sie nicht auf totale
genommen, und zwar auch mit dem Willen der Länder, je- Blockade gerichtet wäre, Herr Merz, durchgesetzt hätten.
denfalls mit dem der sozialdemokratisch geführten. Das Was hätten Sie denn in der Hand? Sie würden der stau-
hat dazu geführt, dass wir auf all das, was Sie vorher ge- nenden Öffentlichkeit im Bundestagswahlkampf 2002 er-
sagt haben, eingegangen sind. Sie haben einen Strategie- klären: Wir haben zwar nichts mit der Senkung des Spit-
wechsel vorgenommen. Das hat jeder bemerkt, auch wenn zensteuersatzes zu tun – das haben die von Rot-Grün
Sie das hier am Rednerpult noch ein paar Mal bestreiten. gemacht –; wir haben zwar nichts mit der Rechtsver-
schiebung, der Progression zu tun – das haben die ande-
Ein halbes Jahr lang haben Sie mit einem Gesetzent- ren gemacht –; wir haben nichts mit der Erhöhung des
wurf aus München Ihre Politik bestritten und gesagt: Es
Freibetrags bei der Betriebsveräußerung und mit der An-
muss mehr sein, die Sätze müssen weiter gesenkt werden.
Ich habe immer gesagt: Wenn wir uns den Beratungen im sparabschreibung zu tun und wir haben auch nichts damit
Vermittlungsausschuss nähern, kommt die Stunde der zu tun, dass der Mitunternehmererlass für die kleinen und
Wahrheit. Wenn die Finger für die Entlastungsvolumina mittleren Betriebe erhalten bleibt. Das alles haben wir, die
gehoben werden müssen, dann müssen die Länderfinanz- Union, abgelehnt. Aber wir haben das Vollanrech-
(B) minister sagen, was mit ihren Haushalten wirklich mög- nungsverfahren erhalten. Die Freude im nächsten Wahl- (D)
lich ist. Siehe da: Sogar Herr Faltlhauser erklärt inzwi- kampf wird groß sein.
schen, das Jahr 2001 sei ein Problem. Nun ist er nah ge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
nug an der Wahrheit. Sehen Sie, meine Damen und DIE GRÜNEN)
Herren, da lag Ihr eigentliches strategisches Problem.
Verehrter Herr Merz, man könnte ja einmal die Probe
Sie hätten sich doch die Senkung des Spitzensteuersat-
aufs Exempel machen. Ich lasse mich gedanklich auf ein
zes, die wir zusätzlich angeboten haben, auf Ihre Fahnen
Spiel ein. Es kann ganz gut sein – dann hätten Sie sogar
schreiben können, Herr Merz. Sie hätten sich doch die
Senkung der Progression, die Rechtsverschiebung – das noch Glück –, dass bis dahin der EuGH das Ding aus der
ist nämlich das eigentlich interessante Thema – auf Ihre Welt geschafft hat, wie er es in Bezug auf die Niederlande
Fahnen schreiben können. Die bloße Senkung des Spit- bereits getan hat. Das wissen auch Sie alles.
zensteuersatzes von 45 Prozent auf 35 Prozent kostet al- Wie lautete denn Ihre Antwort im Vermittlungsver-
lein 50 Milliarden DM. Es glaubt doch kein Mensch, dass fahren? Es war ja klar – auch Herr Milbradt hat das
das finanzierbar ist. Jeder weiß doch, dass das nicht geht. eingeräumt und es ist übrigens nicht nur eine Gruppe, die
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) damit ein Problem hat –, dass nur noch ein Drittel
der Dividenden über das Vollanrechnungsverfahren
Sie hätten sich das im Vermittlungsverfahren auf Ihre
läuft. In einer internationalisierten Wirtschaft muss das
Fahnen schreiben können.
auch so sein. Ausländische Unternehmer, die bei uns an-
Wir haben für den Mittelstand noch ein paar Dinge er- legen, fallen nicht mehr darunter. Inländer, die im Ausland
reicht: Wir haben den Freibetrag bei der Betriebsveräuße- anlegen, fallen ebenfalls nicht mehr darunter. Inländer, die
rung, den Sie in der vorigen Wahlperiode auf 60 000 DM steuerbefreit sind, haben nichts von dieser Veranstaltung.
gesenkt haben, wieder auf 100 000 DM angehoben. Zu Deswegen fällt überhaupt nur noch ein Drittel der Divi-
der Frage halber Steuersatz oder Fünftelungsregelung denden unter das Vollanrechnungsverfahren. In einer in-
sage ich Ihnen, Herr Thiele: Für die meisten Fälle ist die ternationalisierten Wirtschaft wird dieser Anteil immer
Fünftelungsregelung günstiger als der halbe Steuersatz. geringer werden.
Das ist die Wahrheit.
Es gibt aber ein anderes Problem. Jetzt komme ich auf
Wir haben die Ansparabschreibung erhalten. Wir ha- die Behauptung zurück, wir seien die Befürworter der
ben gleichzeitig – das waren Voten, die aus Rheinland-
Kapitalgesellschaften.
Pfalz gekommen sind – die Umstrukturierung für die Per-
sonengesellschaften erleichtert. Auch das kostet über (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sicher!)
10790 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Bundesminister Hans Eichel

(A) Für diese gibt es aber gar keine Entlastung. Fragen Sie Nun will ich noch etwas – ich weiß gar nicht, ob Sie (C)
einmal die Versicherungsunternehmen. Denen haben wir wissen, wovon Sie an diesem Punkt reden – zur Gleich-
im vorigen Jahr ihre Bilanzen ganz schön verhagelt. Fra- mäßigkeit der Besteuerung sagen.
gen Sie einmal die Energieversorgungsunternehmen. Sie
(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Aber Sie wis-
wissen das, denn Sie haben das alles vor einem Jahr an
sen es!)
dieser Stelle selber vorgetragen.
Nicht nur die Öffentlichkeit versteht das gar nicht; auch
(Michael Glos [CDU/CSU]: Jetzt geben Sie es
Ihre Vermittlungsausschussmitglieder verstehen es zum
zu!)
Teil nicht. Herr Rauen hat uns 20 Minuten lang gesagt,
Aber, meine Damen und Herren, jetzt wollen wir ein- dass wir den Mittelstand kaputtmachen, und hat das auf
mal fragen: Welches ist denn der Sinn dieses Teils der Un- das Halbeinkünfteverfahren bezogen. Damit hat es aber
ternehmensteuerreform? Ein Sinn ist, die kleinen und mitt- nun gar nichts zu tun.
leren Unternehmen, die 70 Prozent der Arbeitsplätze und (Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
80 Prozent der Ausbildungsplätze stellen, ordentlich zu NEN]: Genau!)
entlasten. Genau das machen wir.
Er hat das Optionsmodell gemeint. Sehen Sie, so infor-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten miert sind Sie über die Themen.
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem
Ein anderer Sinn ist: Die großen Unternehmen hatten BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
nie das Problem. Sie haben dies übrigens von diesem Pult
aus alles anders behauptet. Sie haben immer behaup- Jetzt frage ich Sie einfach, was Sie meinen. Wenn Sie
tet, die großen Unternehmen würden bei uns zu hoch meinen sollten, dass bei der Besteuerung der Kapitalge-
besteuert. Übrigens war das, wenn es überhaupt der Fall sellschaften der Steuersatz für thesaurierte Gewinne de-
war, zu Ihrer Regierungszeit. Darauf will ich nur hin- finitiv mit dem Spitzensteuersatz in der Einkommen-
weisen. Die großen Unternehmen gehen plus/minus null steuer identisch sein sollte, sage ich Ihnen: Aus dieser Si-
aus dem Geschäft heraus, aber sie bekommen ein inter- tuation sind Sie selber ausgestiegen, und zwar im Jahre
national wettbewerbsfähiges Steuerrecht und interna- 1990. Bis dahin stimmte das. Bis dahin lag der Körper-
tional wettbewerbsfähige Steuersätze. Gehen Sie doch schaftsteuersatz für thesaurierte Gewinne bei 56 Prozent
einmal raus und erklären Sie denen, dass sie einen Kör- und der Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer
perschaftsteuersatz von 30 Prozent behalten, statt einen ebenfalls. Seit 1990 ging der Körperschaftsteuersatz –
von 25 Prozent zu bekommen. Dies müssen Sie denen weil Sie gemerkt haben, dass es international nicht funk-
einmal klarmachen. Dies ist ja fast eine Verschlechterung. tioniert – auf 50 Prozent runter, der Spitzensteuersatz bei
(B) Und Sie glauben – das habe ich mir angesehen –, damit der Einkommensteuer aber nur auf 53 Prozent. 1995 sank (D)
bekäme man ausländische Investoren nach Deutschland? er – da liegt doch das Problem – auf 45 Prozent. Das, was
Sie hier offenbar kritisieren – mir ist immer noch nicht
Die 90er-Jahre, für die Sie hauptsächlich die politische ganz klar, was Sie eigentlich meinen –, haben Sie doch
Verantwortung tragen – ich wische nicht weg, dass auch selber eingeführt.
der Bundesrat beteiligt war, lieber Herr Thiele –, waren
die wachstumsschwächsten in der deutschen Nach- Ein entscheidender Unterschied zu uns heute ist: Sie
kriegszeit. Seit Mitte der 90er-Jahre steht Deutschland haben in beiden Fällen die Gewerbesteuer vorgesehen.
beim Wirtschaftswachstum auf dem vorletzten Platz. Dies Wir haben die Gewerbesteuer für die Personenge-
ist nicht erst so, seit wir an der Regierung sind. Jetzt geht sellschaften als Kostenfaktor beseitigt.
es wieder aufwärts. Ich will auch nicht sagen, dass das an
Nun will ich Ihnen sagen, was wir von Ihnen übernom-
uns liegt. Aber ich halte fest: Seit Mitte der 90er-Jahre
men haben. 1998 hatten wir eine Spreizung zwischen der
sind wir beim Wirtschaftswachstum auf dem vorletzten
Körperschaftsteuer plus Gewerbesteuer und dem Spitzen-
Platz.
steuersatz der Einkommensteuer plus Gewerbesteuer von
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des acht Punkten. Sie haben Recht: Die Differenz steigt
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wilhelm kurzfristig ein bisschen, nämlich auf 10,5 Prozent ab dem
Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das liegt auch an 1. Januar 2001. Aber bereits in 2003 sinkt sie auf neun
uns, Herr Minister! Keine falsche Bescheiden- Punkte – Sie hatten acht – und geht in 2005 auf fünf Punkte
heit!) zurück. Das ist so wenig, wie es das zu Ihrer Zeit nie gab.
Ich will Ihnen gerne etwas vorlesen: Die ausländischen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Direktinvestitionen sind bei uns eine Katastrophe. Slowe- DIE GRÜNEN)
nien hat mehr Auslandskapital bekommen als wir. Jetzt
Mir ist aber noch immer nicht klar, was Sie mit Gleich-
geht die Zahl hoch, aber Sie schlagen uns mit dem Voll-
mäßigkeit meinen. In diesem Punkt wird unser Steuer-
anrechnungsverfahren einen Körperschaftsteuersatz von
recht am Ende der Legislaturperiode jedenfalls deutlich
30 Prozent vor. Dieser aber würde genau nicht dazu besser sein als das, was Sie uns hinterlassen haben.
führen, dass auch wir ausländisches Kapital ins Land
bekommen. Aber dies zu erreichen, ist die andere Auf- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
gabe, die wir mit unserer Reform zu erfüllen haben.
In anderen europäischen Ländern gibt es allerdings
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ eine Riesenspreizung. Betrachten Sie einmal die Nieder-
DIE GRÜNEN) lande. Die Niederlande haben einen Körperschaftsteuer-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10791
Bundesminister Hans Eichel

(A) satz von 35 Prozent und bei der Einkommensteuer einen Deswegen, meine Damen und Herren: Sie sind da eine (C)
Spitzensteuersatz von 60 Prozent. Wir müssen eine Antwort schuldig. Sie dürfen nicht nur einen Hinweis auf
Steuerreform machen, die die Unternehmen in Deutsch- eine Systemfrage geben, die wir übrigens gar nicht erfun-
land im europäischen Umfeld und auch im amerikani- den haben. Es handelt sich hierbei um eine Frage der prak-
schen Umfeld wettbewerbsfähig macht. Muss ich Ihnen tischen Vernunft. Sie haben dazu nur erklärt: Na gut, dann
das erzählen? Muss Ihnen das ein sozialdemokratischer lassen wir uns eben vom Europäischen Gerichtshof ver-
Finanzminister sagen? urteilen. – Das ist keine vernünftige Maxime für die
Steuerpolitik.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie sprechen
von der Gleichmäßigkeit der Besteuerung. Dann will ich Wir haben hier alle eine Verantwortung und der Bun-
doch einmal darauf hinweisen, dass Sie eine Situation desrat hat eine Verantwortung.
geschaffen und in Ihrem Modell beibehalten haben, in der
der Handwerksmeister und der Einzelhändler höher (Dr. Peter Struck [SPD]: Richtig!)
besteuert werden als der Freiberufler und der Arbeit- Jeder weiß, worum es geht, weil alles offen ausgetauscht
nehmer. Diese ungleiche Besteuerung beseitigen wir. Das wird. Wir haben eine Fülle von Angeboten gemacht, die
ist Gleichmäßigkeit der Besteuerung. Wovon reden Sie in Sie alle hätten übernehmen können. Sie hätten sich damit
diesem Zusammenhang also überhaupt? schmücken können.
Deswegen ist Ihre Behauptung, der Mittelstand komme Es geht in Wirklichkeit um die Frage, ob der Herr Merz
bei diesem Gesetz schlechter weg, falsch und in allen As- seine Autorität als Fraktionsvorsitzender durchsetzen
pekten widerlegbar. Die Reform, die Sie uns anbieten, ist, kann oder nicht. Das ist alles.
wenn der Vorschlag von Bayern und Baden-Württemberg
ernst genommen wird, für die öffentlichen Kassen un- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
bezahlbar und beschert uns im Übrigen noch nicht einmal DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/
international wettbewerbsfähige Steuersätze bei der Kör- CSU)
perschaftsteuer. Das macht keinen Sinn. Genauso wird die Sache in den Landeshauptstädten auch
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ diskutiert. Sie müssen sich überlegen, ob Sie mit dem Fö-
DIE GRÜNEN) deralismus in Deutschland so umgehen wollen

Wir tragen die Verantwortung, diese Steuerreform in (Zurufe von der CDU/CSU)
Gang zu setzen. Sie, Herr Merz, machen einen schwer- oder ob Sie sagen: Föderalismus heißt, dass die Interessen
(B) wiegenden Fehler, wenn Sie sagen: Besser keine Steuer- (D)
der Länder richtig wahrgenommen werden, und nichts an-
reform als diese. Das sehen Sie in diesem Lande ganz deres.
alleine so.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)
DIE GRÜNEN – Jochen-Konrad Fromme
[CDU/CSU]: Schauen Sie sich doch mal die Sie alle haben eine Verantwortung. Die CDU/CSU
Zeitungen an!) trägt in einer Fülle von Landesregierungen die Verant-
wortung. Die F.D.P. kommt übrigens in dieser ganzen De-
Ich will das jetzt gar nicht weiter vertiefen. Sie wissen das batte, solange sie in der Babylonischen Gefangenschaft
ganz genau. bleibt, überhaupt nicht vor und wird auch nicht gebraucht,
Lesen Sie einmal nach, was der Internationale wenn sie sich so verhält. Sie müssen doch sehen, was Sie
Währungsfonds vorgestern zu unserer Steuerpolitik da anrichten.
geschrieben hat. Sie wissen ja, wer an der Spitze des IWF (Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Sie müssen
steht. Ich will Herrn Köhler gar nicht für alles verant- doch hier noch einmal reden!)
wortlich machen. Aber der Internationale Währungsfonds,
der die weltweit höchste Autorität bei der Beurteilung Meine Damen und Herren, es ist nicht vernünftig, was
dieser Fragen hat, sagt: Jawohl, ihr seid genau auf dem Sie an dieser Stelle tun. Wenn Sie das Ganze weiter blockie-
richtigen Wege, mit eurer Haushaltskonsolidierung ren, schaden Sie dem Land. Und jeder weiß auch, wer hier
genauso wie mit eurer Steuerpolitik. Er sagt weiter: Wir blockiert.
können hinnehmen, dass 2001 – das habe ich immer gesagt (Anhaltender Beifall bei der SPD und dem
wegen des Vorziehens der Steuerreform – das Defizit ein- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
malig ein Stückchen wächst. Aber eigentlich solltet ihr
auch das nicht machen.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat
Sie müssen sich überlegen, was das bedeutet. Das jetzt der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Friedrich
heißt, zumindest die internationalen Institutionen sa- Merz.
gen – übrigens die Europäische Zentralbank, die Europä-
ische Kommission und alle anderen Finanzminister der
Europäischen Union ganz genauso –: Ihr dürft keine Friedrich Merz (CDU/CSU) (von der CDU/CSU mit
Steuerreform mit einer Erhöhung des Staatsdefizits Beifall begrüßt): Frau Präsidentin! Meine Damen und
machen. Recht haben sie. Herren! Herr Eichel, ich habe mir, als ich sie hier gehört
10792 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Friedrich Merz

(A) habe, so gedacht: Besonders souverän und in der Sache Damit wir auch wissen, worüber wir hier sprechen, will (C)
überzeugend war dieser Auftritt des Finanzministers ich Ihnen nur eine Zahl nennen. In den Jahren von 1998
nicht. bis 2001 nehmen allein die Steuereinnahmen des Bundes
von 341 Milliarden DM auf 442 Milliarden DM, also um
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – La- mehr als 100 Milliarden DM, zu. Das ist das Dreifache des
chen bei der SPD und dem Bündnis 90/DIE Entlastungsvolumens, das Sie den Bürgern dieses Landes
GRÜNEN – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/ bis zum Jahre 2005 in Aussicht stellen.
DIE GRÜNEN]: Jetzt wollen wir mal gucken,
was Sie machen! Wir sprechen uns in 20 Minu- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
ten wieder! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] Nun tun Sie nicht so, als ob mit den von uns gemach-
[SPD]: Und das von Ihnen, Herr Merz! Was für ten Vorschlägen das notwendige und richtige Ziel der
ein grandioser Auftakt Ihrer Rede!) Haushaltskonsolidierung infrage gestellt wird. Herr
Ich habe eine Bitte: Wenn Sie beim nächsten Mal Fi- Eichel, die Wahrheit ist: Seitdem diese Regierung im Amt
nanzminister der Länder zitieren, die Ihr Dienstzimmer ist, steigt die Steuerquote, steigt die Abgabenquote, steigt
aufsuchen, dann sagen Sie uns doch wenigstens, wer das der Anteil des Staatsverbrauchs am Sozialprodukt und ist
war. Stillstand auf dem Arbeitsmarkt eingetreten. Das ist die
Wahrheit.
(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Sie sind doch bloß neidisch, dass zu Ih- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – La-
nen keiner kommt!) chen bei der SPD – Joachim Poß [SPD]: Das ist
nicht die Wahrheit, wie Sie wissen! – Rezzo
Wenn Sie es nicht tun, setzen wir einen Untersuchungs- Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ross-
ausschuss ein und werden Ihre Terminkalender beschlag- täuscher!)
nahmen, Herr Eichel.
Ich will ein Zweites sagen, was uns in dieser Frage
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – La- grundlegend voneinander unterscheidet: Wir führen hier
chen bei der SPD und dem Bündnis 90/DIE keine Debatte über steuerpolitische Dogmen, sondern wir
GRÜNEN – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] führen eine Diskussion um die Frage, wie ein begrenztes
[SPD]: Das ist ja eine Lachnummer nach der an- Entlastungsvolumen, das Bund, Länder und Gemeinden
deren!) aufbringen müssen, gleichmäßig auf große, mittlere und
kleine Unternehmen sowie auf Arbeitnehmer verteilt wer-
Ich habe nämlich den Verdacht, dass Sie immer wieder
den soll. Für eines lassen wir uns nicht mit in Haftung
versuchen, mit Gesprächen Eindruck zu schinden, die in
nehmen: Sie haben gerade selbst zugegeben, dass Sie im
(B) Wahrheit gar nicht stattgefunden haben. letzten Jahr die Körperschaften in der Bundesrepublik (D)
(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Deutschland mit einer drastischen Verschärfung der
NEN]: Da können Sie von Ihrem Kollegen Gewinnermittlungsvorschriften steuerlich erheblich
Schmidt lernen!) höher belastet haben. Offensichtlich haben Sie denen
dabei versprochen, dass es im nächsten Jahr eine Senkung
Herr Eichel, wir haben keinen Entwurf der Länder des Körperschaftsteuersatzes auf 25 Prozent geben wird.
Bayern und Baden-Württemberg, sondern einen Gesetz- Herr Eichel, wir lassen uns für die Fehler, die Sie im letz-
entwurf der CDU/CSU-Bundestagsfraktion eingebracht. ten Jahr gemacht haben, nicht durch niedrigere Körper-
Alle unionsregierten Länder haben im Bundesrat einen schaftsteuersätze in Haftung nehmen.
Gesetzentwurf für eine große Steuerreform eingebracht.
Das unterscheidet uns von Ihnen, als Sie in der Opposi- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. –
tion waren: Wir haben eine klare Alternative angeboten. Lachen bei der SPD)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Es geht in der Tat um eine große Steuerreform, die
neten der F.D.P. – Rezzo Schlauch [BÜND- dieses Land dringend braucht. Wir wollen aber eine
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Geld dafür kommt Steuerreform, die auch und gerade den Mittelstand er-
aus der Steckdose!) reicht, und keine Steuerreform, die nur die großen Kapi-
talgesellschaften mit angeblich international wettbewerbs-
Zu dieser Alternative zählt, dass wir in der Tat die gleich- fähigen Körperschaftsteuersätzen ausstattet.
mäßige Entlastung von großen, mittleren und kleinen Un-
ternehmen genauso wie von Arbeitnehmern wollen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich habe in diesem Zusammenhang immer gesagt: Wir Es mag ja sein, dass Sie den guten Rat, den Sie während
sind bereit, uns über Zeitpläne, über Entlastungsvolu- der Ausschusssitzungen nie hören wollten, in den Wind
mina, über Steuertarife und über den Körperschaftsteuer- schlagen, auch wenn er öffentlich erteilt wird. Es kommt
satz zu unterhalten. Das alles haben wir immer zur nicht darauf an, ob das gewählte Verfahren als Anrech-
Diskussion gestellt. Aber die Haushaltskonsolidierung nungsverfahren oder Halbeinkünfteverfahren be-
ist von uns nie infrage gestellt worden. zeichnet wird. Es kommt entscheidend darauf an, dass
Anteilseigner an Unternehmen – sei es an Kapitalgesell-
(Lachen bei der SPD) schaften oder an Personengesellschaften – steuerlich gle-
ich behandelt werden. Das ist der entscheidende Punkt.
Die Notwendigkeit einer Haushaltskonsolidierung ist von
uns immer bestätigt worden. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10793

(A) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege voll versteuert. Dort, wo es um Kapitalgesellschaften (C)
Merz, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten geht, werden die Veräußerungserlöse steuerfrei gestellt.
Dr. Barbara Hendricks? Das hat weder mit einer Gleichmäßigkeit der Besteuerung
noch mit einer Mittelstandsförderung etwas zu tun.
Friedrich Merz (CDU/CSU): Nein, Frau Präsidentin, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. –
ich möchte meine Rede gerne im Zusammenhang vortra- Joachim Poß [SPD]: Schon wieder was Fal-
gen. sches! – Detlev von Larcher [SPD]: Auch das ist
ein Märchen!)
(Lachen bei der SPD – Rezzo Schlauch
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Souverän, ha- Ich will Sie nun auf eine Konsequenz Ihrer Steuerpoli-
ben Sie doch vorhin gesagt! – Wilhelm Schmidt tik aufmerksam machen, die Sie selbst wahrscheinlich
[Salzgitter] [SPD]: Eine lächerliche Veranstal- noch gar nicht gesehen haben. Sie kritisieren Vorschläge
tung ist das!) mit den Schlagworten Krankenschwester und Chefarzt,
– Entschuldigung, ich möchte das jetzt gerne im Zusam- die wir gar nicht gemacht haben. Ich will mich auf das
menhang vortragen und mich nicht durch Zwischenfragen konzentrieren, was Sie vorschlagen und was in diesem
unterbrechen lassen. Lande Wirklichkeit werden soll.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Sie wollen mit der Absenkung der Körperschaftsteuer-
Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Außeror- sätze eine differenzierte Besteuerung der Unternehmen
dentlich souverän, was Sie bisher vorgetragen gegenüber den natürlichen Personen erreichen. Was ist die
haben!) Folge davon? Jemand, der in diesem Land ein großes Ver-
mögen besitzt, ist gut beraten, mit In-Kraft-Treten dieser
Wenn es richtig ist, was Sie hier bezüglich der gleich- Steuerreform die Vermögensverwaltung von privater
mäßigen Entlastung des Mittelstandes sagen, warum Hand auf eine GmbH zu übertragen. Die Folge ist, dass
muss der Mittelstand in der Bundesrepublik Deutschland die Vermögenserträge in privater Hand, in einer GmbH
dann bis zum Jahr 2005 warten, während gleichzeitig für organisiert, in Zukunft nur noch mit 25 Prozent besteuert
die großen Kapitalgesellschaften die Körperschaftsteuer- werden. Was soll eigentlich Ihre viel zitierte Kranken-
sätze zum 1. Januar 2001 gesenkt werden? Warum?
schwester davon halten, wenn sie mit dem oberen Teil
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – ihres Einkommens mittlerweile den Spitzensteuersatz von
Detlev von Larcher [SPD]: Erstens ist es nicht 48,5 Prozent erreicht
wahr und zweitens hat er was dazu gesagt!)
(Lachen bei der SPD)
(B) Sie haben am letzten Freitag so genannte Kompro-
und der Chefarzt mit seiner Vermögensverwaltung durch (D)
missvorschläge unterbreitet. Der Inhalt dieser Kompro-
eine GmbH nur noch 25 Prozent Steuern bezahlt?
missvorschläge, die Sie auch im Vermittlungsausschuss
verbreitet und vorher der Presse gegeben haben – Ihr (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. –
Vorgehen hat auch etwas mit Stil und Umgang zu tun; aber Detlev von Larcher [SPD]: Wo leben Sie ei-
sei es drum –, gentlich? – Zurufe von der SPD: Unglaub-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – lich! – Weitere Zurufe von der SPD)
Zurufe von der SPD: Sensibelchen!) Meine Damen und Herren, die Steuerberater in der Bun-
entpuppt sich bei Licht betrachtet als eine weitere Ver- desrepublik Deutschland, die eine Mandantschaft haben,
schlechterung der Lage des Mittelstandes. Das weisen die zu den Vermögenden in diesem Land zählen, lachen
Sie in Ihren Finanztableaus ja selbst aus. Gerda sich über die Vorschläge im Hinblick auf die Vermö-
Hasselfeldt hat bereits darauf hingewiesen. Für die Jahre gensverwaltung tot, die von der rot-grünen Bun-
2001 bis 2004 wird der Mittelstand gegenüber dem, was desregierung kommen.
Sie hier mit Ihrer rot-grünen Mehrheit beschlossen haben, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
noch einmal um 15 Milliarden DM höher belastet, bis
dann im Jahr 2005 eine Entlastung eintreten soll. Sie, Herr Eichel, haben nicht ohne Grund darauf
hingewiesen, dass der Gesetzgeber in der Bundesrepublik
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Deutschland mehrfach vom Bundesverfassungsgericht
Ich will in diesem Zusammenhang ein weiteres aufgefordert worden ist, eine verfassungskonforme
wichtiges Thema ansprechen: Wie halten Sie es eigentlich Steuergesetzgebung zu machen. Das war in der Tat be-
mit der Steuerfreistellung der so genannten Veräuße- gründet. Angesichts der von mir beschriebenen eklatanten
rungserlöse? Sie haben für die großen Kapitalge- Verletzung des Grundsatzes der Gleichmäßigkeit der
sellschaften in Aussicht gestellt, eine solche ab dem Jahre Besteuerung, eines Grundsatzes, der in der Bundesrepu-
2001 vorzunehmen. Nun soll diese Freistellung auf das blik Deutschland Verfassungsrang hat, der dem Gleichbe-
Jahr 2002 verschoben werden. Darüber gibt es mit Recht handlungsgebot des Grundgesetzes entspricht, frage ich:
ziemlichen Ärger; aber das ist Ihre Sache. Was aber
(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Erin-
machen Sie mit den Veräußerungserlösen im Bereich des
nern Sie sich an Ihre Regierungszeit?)
Mittelstandes? Was passiert mit denen, die beispielsweise
ihr Unternehmen an die nächste Generation weitergeben Erwarten Sie allen Ernstes, dass wir einer Steuergesetzge-
wollen? In diesem Fall werden die Veräußerungsgewinne bung zustimmen, die erneut die Frage aufwirft, ob nicht
10794 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Friedrich Merz

(A) Teile unseres Steuerrechts in der Bundesrepublik Deutsch- (Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C)
land verfassungswidrig sind? Hierfür bekommen Sie die NEN]: Seit wann können Professoren drama-
Zustimmung der Union nicht, Herr Bundesfinanzminister. tisch sein?)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- den Fehler, den Sie jetzt planen, nicht zu machen, schließen
neten der F.D.P.) ihren Beitrag mit einem Zitat aus einer Bundestagsdebatte,
das ich an dieser Stelle gerne vortragen möchte. Das Zitat
Nun rühmt sich diese Regierung besonders gern ihrer lautet wörtlich:
Hinwendung zur so genannten New Economy. Ich habe
Ihnen bei der ersten Lesung am 18. Februar 2000 von Um die gravierenden Fehler der geplanten Steuer-
dieser Stelle aus den Vorwurf gemacht, es handele sich reform bloßzulegen, muss man nicht Wissenschaftler
bei der Steuerreform, die Rot-Grün mache, um eine sein. Auch Politiker haben erkannt: Die Meinung,
Steuerreform, die sich im Wesentlichen auf die Old – jetzt wird das zitiert, was unser Kollege Solms in der
Economy konzentriere. Daraufhin habe ich viel hämi- ersten Lesung gesagt hat –
sches Gelächter bekommen. In der Zwischenzeit haben
einige Leute nachgerechnet, welche Konsequenzen diese (Mehrere Abgeordnete der SPD unterhalten
Steuerreform hat. Kein Geringerer als der Chef des Welt- sich an der Regierungsbank mit Mitgliedern der
wirtschaftsinstituts in Kiel, Professor Siebert, der nicht im Bundesregierung)
Verdacht steht, immer mit dem einverstanden gewesen zu dass die Unternehmen – –
sein, was wir in früheren Jahren gemacht haben, hat in
jüngster Zeit darauf hingewiesen, dass diese Steuerreform (Lebhafte Zurufe von der CDU/CSU und der
die Sachkapitalbildung in den Unternehmen privilegiert F.D.P.)
und die Bildung von Humankapital diskriminiert. – Offen gestanden nehme ich das, was vor der Regie-
(Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!) rungsbank stattfindet, nicht ernst. Das zeigt vielmehr, dass
die Regierung zu einem hohen Grad nervös ist und nicht
Was hat das noch mit New Economy und moderner Wirt- weiß, wie sie ihre Steuerreform durchsetzen kann.
schaftspolitik zu tun, wenn alte Unternehmen steuerlich
entlastet und junge Unternehmensgründer der New Eco- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – La-
nomy höher belastet werden, Herr Eichel? Nichts. chen bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ DIE
GRÜNEN)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Ich versuche, noch einmal zu zitieren:
Deswegen ist es völlig richtig, was Professor Siebert
vor einigen Tagen sagte – wörtlich –: (Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(B) NEN]: Dramatischer Appell!) (D)
Der Steuersatz sollte gerade in der neuen Informations-
gesellschaft zwischen Unternehmen und natürlichen Um die gravierenden Fehler der geplanten Steuer-
Personen nicht gespalten sein, wenn man Wachstums- reform bloßzulegen, muss man nicht Wissenschaftler
kräfte in der Breite freisetzen will. sein. Auch Politiker haben erkannt: Die Meinung, dass
die Unternehmen entlastet werden müssen, aber nicht
Meine Damen und Herren, es gibt eine ganze Reihe die Unternehmer, ist die wirtschaftspolitisch dümmste
von ernsthaften sachlichen Einwendungen gegen das Aussage eines Bundeskanzlers seit der Existenz der
Konzept der rot-grünen Steuerreform. Damit es allen, die Bundesrepublik Deutschland.
uns in dieser Debatte zuhören und langsam die Nase voll
davon haben, dass wir zu keinem Ergebnis kommen, klar (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. –
wird, worum es geht: Wir streiten nicht über irgendwelche Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Außeror-
steuertechnischen Verfahren, sondern wir streiten über dentlich wissenschaftlich, diese Professoren!)
die Grundfrage, ob es in der Bundesrepublik Deutschland Der Beitrag endet mit den Worten:
auch in Zukunft dabei bleibt, dass die Einkünfte und
Gewinne, gleich wo sie entstehen und wie sie verwendet Wir können nur hoffen, dass sich die Mehrheit der
werden, steuerlich neutral behandelt werden und steuer- verantwortlichen Politiker dieser Erkenntnis noch
lich gleich belastet werden. Das ist die entscheidende rechtzeitig anschließt.
Frage, um die es geht. (Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) NEN]: Dramatisch blöd! – Wilhelm Schmidt
[Salzgitter] [SPD]: Soweit zur Wissenschaft-
Es ist ja wahr, dass dies alles sehr schwer verständlich lichkeit dieser Professoren!)
ist. Aber wir gehören zu denen, die noch immer bereit
sind, sich auch einmal einen Rat von außen anzuhören, Ich habe für die Mehrheit in diesem Hause jede Hoff-
ihn anzunehmen und über ihn nachzudenken. nung aufgegeben.

(Jörg Tauss [SPD]: Oh ja!) (Lachen bei der SPD)


Sie werden sich dieser Erkenntnis nicht mehr anschließen,
Man muss nicht in allen politischen Fragen der Wissen-
weil Sie völlig verbohrt und fixiert auf Ihre Ideologie der
schaft folgen. Manches findet dort auch ziemlich weit von
Entlastung der Unternehmen und der höheren Belastung
der Realität entfernt statt. Aber die 78 Professoren, die ei-
der Unternehmer sind.
nen geradezu dramatischen Aufruf an die deutsche Öf-
fentlichkeit gerichtet haben, (Lachen bei der SPD)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10795
Friedrich Merz

(A) Das ist Ihre Entscheidung. günstiger als die Arbeitseinkommen besteuern. Das ist (C)
Ihre Vorstellung von gleichmäßiger Besteuerung der Ein-
(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- kommen.
NEN]: Wer da ideologisch verbohrt ist, das
ist noch die Frage! – Wilhelm Schmidt (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
[Salzgitter] [SPD]: Verrannt haben Sie sich!) DIE GRÜNEN)
Es gibt für diese politische Position keine Mehrheit im Zweiter Punkt: Sie behaupten, eine Politik für die Ar-
Bundesrat. Das werden Sie am nächsten Freitag bei der beitnehmer zu betreiben. Deswegen senken Sie in Ihrem
letzten Sitzung des Bundesrates in Bonn erfahren. Wir Steuerkonzept den Arbeitnehmerfreibetrag von 2 000 DM
werden danach in ein zweites Vermittlungsverfahren ein- auf 1 500 DM; die Kilometergeldpauschale machen Sie
treten können. Ich sage Ihnen im Namen meiner Fraktion: zu einer Entfernungspauschale, indem Sie die Kilometer-
Lieber eine gute Steuerreform am 29. September bei der geldpauschale von 70 Pfennig auf 50 Pfennig verringern,
nächsten Sitzung des Bundesrates als eine schlechte am (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Hört!
14. Juli! Hört!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) und Sie erkennen 15 Kilometer des Weges zum Arbeits-
platz nicht mehr an. Es ist die Masse der deutschen Ar-
Wir schließen uns dem nicht an, was Sie im letzten Jahr
beitnehmer, die Sie damit ordentlich belasten.
gemacht haben, als ein großes Unternehmen Pleite zu
gehen drohte: Wenn Philipp Holzmann Pleite geht, dann (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
kommt der Bundeskanzler. Aber wenn die Kleinen Pleite des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN –
gehen, dann kommt der Konkursverwalter. Ich sage Ih- Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Heuche-
nen: Wir machen Steuerpolitik nicht nur für die Großen in lei! – Wolfgang Dehnel [CDU/CSU]: Populis-
unserem Lande. mus pur!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) An keiner Stelle Ihres Konzepts befindet sich ein Aus-
gleich für diese zusätzliche steuerliche Belastung von Be-
Wir werden uns auch in Zukunft – wenn wir in den ver- ziehern kleiner Einkommen. Ihre Behauptung, eine Poli-
gangenen Jahren etwas anderes versucht haben, dann ist es tik für die Arbeitnehmer zu betreiben, ist also schlicht un-
von Ihnen blockiert worden – unserer Verantwortung im wahr.
Bundestag und im Bundesrat stellen. Wir werden dafür
sorgen, dass dieses Land eine gute Steuerreform bekommt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Wir werden auf jede Weise verhindern, dass Sie mit dem, DIE GRÜNEN)
was Sie vorhaben, am nächsten Freitag Erfolg haben. Im Übrigen wiederhole ich nur die Zahlen: Wir sorgen
(B) für eine Nettoentlastung von über 20 Milliarden DM für (D)
(Dr. Peter Struck [SPD]: Das weiß man
nicht! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: den Mittelstand und für die Kapitalgesellschaften, was die
Gesamtwirkung unserer Steuerpolitik – Steuerentlas-
Wie kommen Sie denn darauf?)
tungsgesetz und Steuersenkungsgesetz – angeht.
Wir werden Sie zwingen,
(V o r s i t z: Vizepräsidentin Petra Bläss)
(Lachen bei der SPD) Die Kapitalgesellschaften – Sie haben früher im Deut-
mit uns über eine Steuerreform zu verhandeln, die ihren schen Bundestag immer davon geredet, sie steuerlich zu
Namen wirklich verdient, durch die große, mittlere entlasten – haben es nötig, ein international wettbewerbs-
und kleine Unternehmen und Betriebe entlastet werden fähiges Steuerrecht und international wettbewerbsfähige
und die auch die Arbeitnehmer in der Bundesrepublik Steuersätze zu bekommen, damit der Standort Deutsch-
Deutschland nicht völlig unberücksichtigt lässt. land auch für ausländisches Kapital, das zu Ihrer Regie-
rungszeit dieses Land gemieden hat, wieder interessant
wird. Das ist konkrete Politik für Arbeitsplätze und nicht
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. für Konzerne.
(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Bei- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
fall bei der F.D.P.) DIE GRÜNEN)
Was hier gespielt wird, das ist schon klar. Übrigens hat
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich erteile noch Herr Kollege Faltlhauser – er wäre nie auf die Idee ge-
einmal Herrn Bundesminister Hans Eichel das Wort. kommen, das Thema Halbeinkünfteverfahren ins Zen-
trum zu rücken; er hat die Gesamtentlastung zum Thema
gemacht – in dankenswerter Offenheit schon Wochen vor
Hans Eichel, Bundesminister der Finanzen (von der
dem Beginn des Vermittlungsverfahrens gesagt, man habe
SPD sowie von Abgeordneten des Bündnisses 90/
viel Zeit und man könne im Herbst noch weitermachen.
Die Grünen mit Beifall begrüßt): Sehr geehrter Herr
Das Einzige, was Sie erreichen wollen, ist, zu beweisen,
Merz, erstens möchte ich noch einmal auf das Thema
dass wir unser Ziel nicht gleich erreichen. Das kann ich –
Gleichmäßigkeit der Besteuerung zu sprechen kom-
sozusagen als oppositionellen Kraftakt – zwar noch ver-
men. Wie passt es zu Ihrer Forderung, Einkünfte und Ge-
stehen; dem Lande dient es aber nicht. Das ist ganz klar.
winne, egal wo sie entstehen, steuerlich gleich zu behan-
deln, dass in Ihrem Steuerkonzept eine Abgeltungsteuer (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
vorgesehen ist? Das bedeutet, dass Sie die Kapitalerträge DIE GRÜNEN)
10796 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Bundesminister Hans Eichel

(A) Ich wiederhole: Alle Landesregierungen werden sich über einen langen Zeitraum von sieben Jahren eine Ent- (C)
deswegen überlegen müssen, ob sie am 14. Juli eine rein lastung vorgaukelt, in Wahrheit aber am Sankt-Nimmer-
parteitaktisch motivierte Position beziehen leins-Tag den Arbeitnehmern und den Unternehmern nur
(Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Zu- das zurückgibt, was der Staat heimlich über die kalte Pro-
ruf von der CDU/CSU: Ausgerechnet ihr müsst gression einkassiert hat. Dies ist ein zutiefst unredliches
das sagen!) Vorgehen; dazu passt, Herr Eichel, dass Sie immer von der
größten Steuerreform sprechen, die es je gegeben habe.
oder ob sie die Interessen dieses Landes in den Mittel- Ich darf daran erinnern, dass es in den 80er-Jahren unter
punkt Ihrer Entscheidung stellen. Stoltenberg eine Steuerreform gab, die die Menschen um
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 50 Milliarden DM entlastet hat. Das geschah damals bei
DIE GRÜNEN) einem Bruttoinlandsprodukt von 1 800 Milliarden DM;
Sie bezeichnen aber trotz eines Bruttoinlandsprodukts
Vizepräsidentin Petra Bläss: Das Wort hat der Kol- von 4 000 Milliarden DM und einer längeren Laufzeit als
lege Peter Rauen, CDU/CSU-Fraktion. damals Ihre Reform mit einer Entlastung von 80 Milliar-
den DM als die größte Steuerentlastung aller Zeiten.
(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Opti-
onsmodell oder Halbeinkünfteverfahren?) (Michael Glos [CDU/CSU]: Der größte
Sprüchemacher aller Zeiten!)
Peter Rauen (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Es ist eigentlich eines Finanzministers unwürdig, wenn er
sehr verehrten Damen und Herren! Herr Finanzminister durch das Nennen nur von absoluten Zahlen die volks-
Eichel, ich habe den Eindruck, dass Sie doch sehr nervös wirtschaftlichen Zusammenhänge verzerrt. Das kann man
geworden sind, im Kern so nicht machen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – La- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
chen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) Herr Eichel, ich will abschließend noch eines feststel-
len: Sie beklagen, dass sich durch das Scheitern der Ver-
auch aufgrund der Rede von unserem Fraktionsvorsitzen- handlungen im Vermittlungsausschuss jetzt eine wirkli-
den, weil Sie jetzt die Redezeit vom Kollegen Schmidt che Reform um sechs, acht oder zehn Wochen verzögert.
doch noch beansprucht haben. Ihre Nervosität zeigt sich Herr Eichel, dieses Land hat wichtige Jahre verloren,
auch daran, dass Sie hier aus Gesprächen im Vermitt-
lungsausschuss berichten und sich dann auch noch das (Zuruf von der SPD: 16!)
(B) Recht nehmen, meine dort getätigten Aussagen zum Mit- weil Sie 1997 als einer der Oberblockierer mit Lafontaine (D)
telstand völlig falsch zu interpretieren. Das nehme ich
und dem jetzigen Bundeskanzler Schröder in der Aus-
nicht einmal mehr übel, weil Sie davon relativ wenig ver-
stehen. übung der Verantwortung Ihres damaligen Amtes eine
wirkliche Reform blockiert haben.
(Lachen bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Ich möchte nur auf einen Punkt intensiv eingehen, da Wir wollen am Ende mit Ihnen gemeinsam zu einer Re-
mir lediglich noch 3 Minuten und 40 Sekunden Redezeit form kommen, die wirklich, wie Friedrich Merz sagt, Ar-
bleiben. Sie, Herr Finanzminister, sind ganz zum Schluss beitnehmer, Unternehmer und Unternehmen entlastet,
auf die Arbeitnehmer eingegangen. Ich habe Sie im Ver- aber keine Reform, die einseitig Kapitalgesellschaften be-
mittlungsausschuss gebeten, meine Berechnungen zu wi- günstigt, aber natürliche Personen zur Kasse bittet. Das
derlegen, dass nach Ihren Reformen, auch unter Zugrun- werden Sie mit uns nicht machen können.
delegung des nachgereichten Vorschlags mit 43 Prozent
Spitzensteuersatz und einem leicht hinausgeschobenen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Erreichen der oberen Proportionalzone, der Facharbeiter
in Deutschland im Jahre 2005 prozentual mehr Steuern Vizepräsidentin Petra Bläss: Ich schließe die Aus-
zahlt als im Jahre 2001, sprache.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Zurufe von der CDU/CSU: Hört! Hört!) Ich rufe nun den Zusatzpunkt 4 auf:
dass der verheiratete Facharbeiter ohne mitverdienende Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschus-
Ehefrau im Jahre 2005 prozentual mehr Steuern zahlt als ses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermitt-
im Jahre 2001, lungsausschuss) zu dem Gesetz zur Senkung der
(Zurufe von der CDU/CSU: Hört! Hört!) Steuersätze und zur Reform der Unternehmensbe-
steuerung (Steuersenkungsgesetz – StSenkG)
dass der verheiratete Facharbeiter mit der mitverdienen-
den Ehefrau im Jahre 2005 prozentual wesentlich mehr – Drucksachen 14/2683, 14/3074, 14/3366,
Steuern zahlt als im Jahre 2001. 14/3640, 14/3760 –
Meine Damen und Herren, daran wird die ganze Ver- Berichterstattung:
logenheit dieser Steuerreform deutlich, die den Menschen Abgeordneter Joachim Poß
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10797
Vizepräsidentin Petra Bläss

(A) Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? – Das der Bedarfssätze, Freibeträge sowie Vomhun- (C)
ist nicht der Fall. Wird das Wort zur Erklärung er- dertsätze und Höchstbeträge nach § 21 Abs. 2
wünscht? – Das ist ebenfalls nicht der Fall.
– Drucksachen 14/2905, 14/2031, 14/2789,
Wir kommen zur Abstimmung. Der Vermittlungsaus- 14/1927, 14/2811 Nr. 1, 14/3730 –
schuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsord- Berichterstattung:
nung beschlossen, dass im Deutschen Bundestag über die
Abgeordnete Brigitte Wimmer (Karlsruhe)
Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Es ist
namentliche Abstimmung verlangt. Ich bitte die Schrift- Angelika Volquartz
führerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze Matthias Berninger
einzunehmen. Sind alle Urnen besetzt? – Das ist der Fall. Cornelia Pieper
Ich eröffne die Abstimmung. – Maritta Böttcher
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Stimme nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall. Ich Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich höre
schließe die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist der Kol-
Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt ge- lege Stephan Hilsberg von der SPD-Fraktion.
geben.1) 2)
Ich möchte für das Protokoll noch bekannt geben, dass Stephan Hilsberg (SPD): Sehr geehrte Frau Präsi-
es gemäß § 31 der Geschäftsordnung eine Erklärung des dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bundestag
Kollegen Jörg Tauss, SPD-Fraktion, zur Abstimmung wird heute Eckpunkte zur BAföG-Reform verabschieden
über das Ergebnis des Vermittlungsausschusses gibt. und es wird Sie nicht wundern, dass es die Eckpunkte der
Bevor wir die Beratungen fortsetzen, bitte ich diejeni- Koalition sind.
gen Kolleginnen und Kollegen, die der anschließenden (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])
Debatte folgen wollen, ihre Plätze einzunehmen.
Ich darf das vorwegnehmen, auch wenn mir das natürlich
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 auf: Leid tut für die Opposition, Herr Kollege Friedrich: Das
ist ein großer Erfolg für die Studierenden.
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Bildung, Forschung und Technikfolgen- Wir sind hier auf der politischen Ebene, und zwar nicht
abschätzung (19. Ausschuss) nur hinsichtlich des Umstandes, dass sich die Kollegen
(B) lieber miteinander unterhalten statt zuzuhören, und dies (D)
– zu dem Antrag der Abgeordneten Stephan auch bei der Diskussion über wichtige Reformen. Leider
Hilsberg, Brigitte Wimmer (Karlsruhe), Klaus gibt es bei uns einen Sprachgebrauch, der von den Be-
Barthel, weiterer Abgeordneter und der Frak- troffenen häufig nicht verstanden wird. BAföG, das ist das
tion der SPD sowie der Abgeordneten Matthias Bundesausbildungsförderungsgesetz. Es ist eines der
Berninger, Hans-Josef Fell, Kerstin Müller wichtigsten Gesetze, das wir haben und das die Bundes-
(Köln), Rezzo Schlauch und der Fraktion republik in den vergangenen 30 Jahren ein ganzes Stück
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sozialer gemacht hat. Viele Absolventen, auch viele, die
Für eine Modernisierung der Ausbildungsför- hier im Saale sitzen, viele unserer Kollegen verdanken es
derung für Studierende BAföG, dass sie haben studieren können, dass sie akade-
mische Grade erwerben konnten. Ich denke, ich kann im
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard Namen aller sagen: Die Gesellschaft verdankt BAföG ein
Friedrich (Erlangen), Angelika Volquartz, Stück mehr Chancengleichheit.
Thomas Rachel, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU (Beifall bei der SPD)
Eckpunkte für eine BaföG-Reform Aber dieses Gesetz ist in die Jahre gekommen. Es ist
– zu dem Antrag der Abgeordneten Maritta sehr unverständlich geworden, es ist fürchterlich kompli-
Böttcher, Dr. Heinrich Fink, Dr. Ilja Seifert und ziert, engherzig und deshalb alles in allem unzumutbar
der Fraktion der PDS geworden. Aus diesem Grunde hat es in den letzten Jah-
ren umfangreiche Bemühungen um eine vollständige Re-
Strukturelle Erneuerung der Ausbildungsför- form des BAföG gegeben.
derung
Natürlich muss man eines bedenken: BAföG ist nicht
– zu der Unterrichtung durch die Bundesregie- der einzige Teil der Reform, die ansteht. Wir haben neben
rung der BAföG-Reform auch noch eine umfangreiche Hoch-
Dreizehnter Bericht nach § 35 des Bundesaus- schulreform für dieses System an Haupt und Gliedern
bildungsförderungsgesetzes zur Überprüfung vorzunehmen. Dazu gehören die Dienstrechtsreform und
die Hochschulstrukturreform. Dies alles ist dringend not-
wendig, doch ohne BAföG-Reform kann die Hochschul-
1) Seite 10800 strukturreform nicht gelingen, weil es sonst auf unserem
2) Anlage 23 Weg in die Wissensgesellschaft leicht passieren könnte,
10798 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Stephan Hilsberg

(A) dass Kinder aus sozial schwachen Familien zurückgelas- mir das nur so erklären, dass Sie an dieser Stelle ja nicht (C)
sen würden. Und dann ist Chancengleichheit eben nicht Ihr Geld ausgeben, sondern das Geld anderer.
gewährleistet.
(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Kollege
Hilsberg, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Chancengleichheit ist ein abstraktes Wort, aber hier
Pieper?
wird es mit Leben gefüllt. Ganz konkret: Was werden wir
machen? Wir wollen, dass die Studenten mehr Geld im
Portemonnaie haben. Wir werden die Eltern entlasten, in- Stephan Hilsberg (SPD): Bitte schön, Frau Pieper.
dem das Kindergeld nicht mehr angerechnet wird und die
Freibeträge erhöht werden. Wir werden BAföG-Empfän- Cornelia Pieper (F.D.P.): Herr Kollege Hilsberg, nach
gern erstmals die Möglichkeit geben, EU-weit im Ausland diesen zahlreichen Unterstellungen, die natürlich alle
mit BAföG-Inlandssätzen studieren zu können. Wir wer- nicht zutreffen,
den durch diese Reform die letzten Reste an Ost-West-
Ungleichheit aufheben, sodass eine völlige Rechtsgleich- (Widerspruch bei der SPD)
heit zwischen Ost und West geschaffen wird. Das ist ein möchte ich Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist – es müsste zu
großer Fortschritt. Wir werden solche wichtigen Dinge Ihren Pflichten als Abgeordneter gehören, dass Sie darü-
wie die Anrechnung von Kindererziehungszeiten stärker ber Bescheid wissen –, dass die Darlehensrückflüsse aus
und besser berücksichtigen, als das bisher der Fall war. dem BAföG-Bestand im Bundeshaushalt bis zu 6 Milliar-
Dies alles sind dringend notwendige, unverzichtbare den DM betragen und dass das ursprüngliche Gesetz vor-
Bestandteile der BAföG-Reform. gesehen hat, dass diese Darlehensrückflüsse in die neue
Finanzierung des BAföG fließen, das heißt der Sockelbe-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
trag des Ausbildungsgeldes allein aus den Darlehensrück-
DIE GRÜNEN)
flüssen voll finanzierbar wäre.
Nun hat es in den letzten Monaten, in denen wir das
diskutiert haben, immer wieder kritische, skeptische Fra-
Stephan Hilsberg (SPD): Frau Pieper, Sie machen
gen von Seiten der Opposition gegeben. Die Opposition
hier wieder eine schöne Milchmädchenrechnung auf und
traute uns nicht zu, die dafür notwendigen Finanzmittel
wollen darüber offenbar vergessen machen, dass allein Ihr
aufzubringen. Meine Damen und Herren, der Finanzplan
so genannter Reformvorschlag vermutlich zusätzliche
liegt vor. Sie alle können in den Haushalt des Jahres 2001
Kosten von 4 bis 5 Milliarden DM zur Folge hätte. Das
hineinschauen. Die Diskussion ist entschieden. Die zu-
(B) sätzlichen Millionen – in diesem Falle sind es 425 Milli- überstiege das, was an Mitteln vorhanden ist, bei weitem. (D)
onen DM, weil das nur ein Teilzeitraum und nicht das ge- Jetzt lassen Sie mich bitte fortfahren. Ich glaube, Sie
samte Jahr ist – sind bereitgestellt. Es ist „fresh money“, haben noch Gelegenheit, darüber zu sprechen.
es ist frisches Geld, das zur mittelfristigen Finanzplanung
hinzugekommen ist, Vizepräsidentin Petra Bläss: Heißt das, dass Sie
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) eine zweite Frage nicht zulassen, Kollege Hilsberg?
sodass wir im Jahr 2001 nicht nur über den uns zustehen-
den Anteil der Innovationsmilliarde verfügen können, Stephan Hilsberg (SPD): Wir wollen ja in der Sache
sondern zusätzlich über den Anteil, der für das BAföG zur weiterkommen und keine Scheindiskussionen führen.
Verfügung gestellt wird. Wenn ich dann noch berücksich- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
tige, dass der Darlehensanteil und der Anteil der Länder
hinzukommen, werden wir es mit den 500 Millionen DM, Auch zur PDS muss man nicht viel sagen. Ihr Vor-
die zusätzlich im Haushalt stehen, schaffen, insgesamt schlag ist ein typisches Beispiel dafür, dass ungleiche Ver-
1,3 Milliarden DM für die Studenten zu mobilisieren. hältnisse gleich behandelt werden sollen. Nicht nur der
Wenn das kein Erfolg ist, weiß ich nicht, was ein Erfolg Umstand, dass Sie 1,8 Millionen Studenten eine Summe
ist. von 1 200 DM monatlich zur Verfügung stellen wollen,
zeigt, dass er überhaupt nicht finanzierbar ist, denn das
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
würde in einen zweistelligen Milliardenbereich hinein-
DIE GRÜNEN)
gehen. Zum anderen würden Sie damit die bestehenden
Natürlich haben wir mehr gewollt. Das gebe ich ganz sozialen Ungerechtigkeiten nicht beseitigen, sondern ver-
ehrlich zu. Wir haben einen Sockel gewollt. Der Sockel festigen. Denn diejenigen, die aus guten Familienverhält-
hat sich nicht realisieren lassen. Es ist eine Sache der Ehr- nissen kommen, nähmen das Geld dankbar entgegen, aber
lichkeit, das einzugestehen. Aber es ist verlogen, wenn sie hätten es überhaupt nicht nötig. Das heißt, soziale Un-
F.D.P. und PDS heute immer noch so tun, als könnten sie gerechtigkeiten werden bei Ihrem Antrag nur perpetuiert.
den Sockel realisieren.
Darüber hinaus haben wir vor – das ist gemeinsam ver-
Bei der F.D.P. wundert mich das besonders, weil der abredet –, Bildungskredite einzurichten. Das ist ein in-
Vorschlag, den sie dazu unterbreitet hat, total unfinan- novativer Vorschlag, der sich an eine völlig neue Gruppe
zierbar ist. Wie sich eine Partei der Besserverdienenden von Studenten richtet, die bisher kein BAföG erhalten ha-
das eigentlich leisten will, ist mir schleierhaft. Ich kann ben, bei denen es aber ebenso vorkommen kann, dass sie
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10799
Stephan Hilsberg

(A) in finanzielle Notlagen geraten. Deshalb kann ich mir, ge- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Matthias (C)
rade bei Ihnen von der CDU/CSU, überhaupt nicht erklä- Berninger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] –
ren, warum Sie diesen Vorschlag nicht unterstützen. Angelika Volquartz [CDU/CSU]: Für Schule
(Jörg Tauss [SPD]: Weil er neu ist!) sind Sie nicht zuständig! Das ist Länderkompe-
tenz!)
Vielleicht verstehen Sie das nicht; dann muss man es
Ihnen noch einmal genau erklären. Aber ich habe einen Das sind alles keine trivialen Probleme. Wenn Sie diese
anderen Verdacht. Mein Verdacht ist, dass Sie über Ihrem Diskussion nicht unmittelbar im Herzstück der Politik
Bemühen, sozusagen in die linke Ecke vorzustoßen und verankern, dann ist sie für die Gesellschaft folgenlos.
so zu tun, als seien Sie sozial gerechter als wir, Ihre eigene Welchen Sinn macht es, Kindergeld bis zum 27. Le-
Wählerklientel vergessen. Denn es ist doch völlig klar: bensjahr zu zahlen? Hat das etwas mit dem Ende des Stu-
Auch unter den Studenten, die zur Finanzierung ihres Stu- diums zu tun, mit dem Begriff des „lebenslangen Ler-
diums auf das Einkommen ihrer Eltern angewiesen sind, nens“? Hat das etwas damit zu tun, dass die, die eine
gibt es soziale und finanzielle Unterschiede. Die einen El- Berufsausbildung machen, davon überhaupt nichts ha-
tern sind leicht in der Lage, ein Auslandsstudium zu fi- ben? Und wie gehen wir auf die Situation ein, dass wir auf
nanzieren, die anderen nicht. Auch wenn finanzielle Not- dem Weg in die Wissensgesellschaft zunehmend ganz an-
lagen entstehen, sind diese Studenten nicht BAföG-be- dere Erwerbsbiografien haben werden: Abschnitte, in
rechtigt. Aber sie brauchen eine finanzielle Hilfe, damit denen man sein Geld selber verdienen muss, und dann
sie nicht arbeiten gehen müssen. Diesen Studenten wollen
wieder Abschnitte, in denen man lernen muss? Die beste-
wir mit Bildungskrediten helfen. Dies ist die politische
henden sozialen Netze sichern diese Lernabschnitte nicht
Stoßrichtung der Bildungskredite. Es ist sehr gut, dass es
genügend ab. Wir brauchen im Hinblick auf die verschie-
uns gelungen ist, sie zu verankern.
denen sozialen Systeme umfangreiche Harmonisierungs-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ bemühungen. Wir kümmern uns darum. Wir haben uns
DIE GRÜNEN) dieses Problems angenommen und sind an dieser Stelle
Ein weiterer Punkt unseres Antrags betrifft die Exper- auf einem guten Weg.
tenkommission. Auch das ist ein Punkt, den die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
CDU/CSU nicht unterstützt. Ich wundere mich immer da- DIE GRÜNEN)
rüber. Sind Sie denn schon so weit jenseits, dass Sie nicht
einmal mehr Diskussionen über die Veränderungen in un- Meine Damen und Herren, wir verabschieden uns in
serer Gesellschaft führen wollen? die Sommerpause
(Heiterkeit bei der SPD) (Angelika Volquartz [CDU/CSU]: Ohne Ge-
(B) (D)
setzentwurf!)
Das wundert mich wirklich sehr. Sie können gerne
blockieren, aber Sie werden die Veränderungen nicht auf- mit der Verabschiedung der Eckpunkte für eine solche Re-
halten. Wir werden uns um diese Veränderungen küm- form. Im Herbst dieses Jahres werden wir dann über einen
mern. Gesetzentwurf und über viele Einzelheiten diskutieren
können. Aber die Weichen für mehr soziale Gerechtigkeit,
(Hubert Deittert [CDU/CSU]: Diese Arroganz!
für die Förderung von Studenten werden wir heute stellen
Das ist unglaublich!)
und dafür danke ich Ihnen.
Es sind zum Teil ganz praktische Fragen, um die wir
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
uns zu kümmern haben. Ich kann doch beispielsweise
nicht ignorieren, wenn das Deutsche Studentenwerk fest- DIE GRÜNEN – Angelika Volquartz
stellt, dass zwar immerhin 33 Prozent der Kinder aus [CDU/CSU]: Wo stellen Sie die? – Thomas
bildungsfernen Schichten die Sekundarstufe II besuchen, Rachel [CDU/CSU]: Wo bleibt der Gesetzent-
aber viel zu wenige von diesen anschließend studieren. wurf?)
Ich kann doch nicht ignorieren, dass festgestellt wird, dass
die eigentliche Selektion in der Schule vorgenommen Vizepräsidentin Petra Bläss: Bevor ich dem nächs-
wird, in der Weichenstellung zwischen Berufsausbildung ten Redner das Wort erteile, gebe ich Ihnen das von den
und Abiturzweig. Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergeb-
Wenn ich hier etwas ändern will, muss ich zusätzliche nis der namentlichen Abstimmung über die Beschluss-
Förderinstrumente entwickeln. Das können einfache empfehlung des Vermittlungsausschusses zum Gesetz zur
Dinge sein. Ich kann zum Beispiel Fahrt- und Verkehrs- Senkung der Steuersätze und zur Reform der Unterneh-
kosten zusätzlich fördern und ich kann mit Bildungsgut- mensbesteuerung, dem Steuersenkungsgesetz, Drucksa-
scheinen arbeiten. Aber ich muss mich um diese Dinge chen 14/2683, 14/3074, 14/3366, 14/3640 und 14/3760
kümmern. Denn wenn ich diese Gesellschaft sozial ge- bekannt: Abgegebene Stimmen 591. Mit Ja haben ge-
rechter machen will, dann muss ich bereits in der Schule stimmt 312 Kolleginnen und Kollegen, mit Nein haben
ansetzen. Mit welchen Instrumenten kann man das ma- gestimmt 279 Kolleginnen und Kollegen. Die Beschluss-
chen? Wir laden Sie ein, mit uns darüber zu reden. empfehlung ist damit angenommen.
10800 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Vizepräsidentin Petra Bläss

(A) Endgültiges Ergebnis Iris Gleicke Brigitte Lange Siegfried Scheffler (C)
Abgegebene Stimmen: 591 Günter Gloser Christian Lange (Backnang) Horst Schild
ja: 312 Uwe Göllner Detlev von Larcher Dieter Schloten
Renate Gradistanac Christine Lehder Horst Schmidbauer
nein: 279
Günter Graf (Friesoythe) Waltraud Lehn (Nürnberg)
Angelika Graf (Rosenheim) Robert Leidinger Ulla Schmidt (Aachen)
Dieter Grasedieck Dr. Elke Leonhard Silvia Schmidt (Eisleben)
Monika Griefahn Eckhart Lewering Dagmar Schmidt (Meschede)
Ja Kerstin Griese Götz-Peter Lohmann Wilhelm Schmidt (Salzgitter)
Achim Großmann (Neubrandenburg) Regina Schmidt-Zadel
Wolfgang Grotthaus Christa Lörcher Heinz Schmitt (Berg)
SPD
Karl Hermann Haack Erika Lotz Carsten Schneider
Gerd Andres (Extertal) Dr. Christine Lucyga Dr. Emil Schnell
Ingrid Arndt-Brauer Hans-Joachim Hacker Dieter Maaß (Herne) Walter Schöler
Rainer Arnold Klaus Hagemann Winfried Mante Olaf Scholz
Hermann Bachmaier Manfred Hampel Tobias Marhold Karsten Schönfeld
Ernst Bahr Christel Hanewinckel Lothar Mark Fritz Schösser
Doris Barnett Alfred Hartenbach Ulrike Mascher Ottmar Schreiner
Dr. Hans Peter Bartels Anke Hartnagel Christoph Matschie Gerhard Schröder
Eckhardt Barthel (Berlin) Klaus Hasenfratz Heide Mattischeck Gisela Schröter
Klaus Barthel (Starnberg) Nina Hauer Markus Meckel Dr. Mathias Schubert
Ingrid Becker-Inglau Hubertus Heil Ulrike Mehl Richard Schuhmann
Wolfgang Behrendt Reinhold Hemker Ulrike Merten (Delitzsch)
Dr. Axel Berg Frank Hempel Angelika Mertens Brigitte Schulte (Hameln)
Hans-Werner Bertl Rolf Hempelmann Prof. Dr. Jürgen Meyer Reinhard Schultz
Petra Bierwirth Dr. Barbara Hendricks (Ulm) (Everswinkel)
Rudolf Bindig Gustav Herzog Ursula Mogg Volkmar Schultz (Köln)
Lothar Binding (Heidelberg) Monika Heubaum Siegmar Mosdorf Ewald Schurer
Kurt Bodewig Reinhold Hiller (Lübeck) Michael Müller (Düsseldorf) Dr. R. Werner Schuster
Klaus Brandner Stephan Hilsberg Jutta Müller (Völklingen) Dietmar Schütz (Oldenburg)
Anni Brandt-Elsweier Jelena Hoffmann (Chemnitz) Christian Müller (Zittau) Dr. Angelica Schwall-Düren
Willi Brase Walter Hoffmann Franz Müntefering Rolf Schwanitz
Dr. Eberhard Brecht (Darmstadt) Andrea Nahles Bodo Seidenthal
Rainer Brinkmann (Detmold) Iris Hoffmann (Wismar) Gerhard Neumann (Gotha) Erika Simm
Dr. Edith Niehuis Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
(B) Bernhard Brinkmann Ingrid Holzhüter (D)
(Hildesheim) Eike Hovermann Dr. Rolf Niese Dr. Cornelie
Hans-Günter Bruckmann Christel Humme Dietmar Nietan Sonntag-Wolgast
Edelgard Bulmahn Lothar Ibrügger Eckhard Ohl Wieland Sorge
Ursula Burchardt Barbara Imhof Leyla Onur Wolfgang Spanier
Dr. Michael Bürsch Brunhilde Irber Manfred Opel Dr. Margrit Spielmann
Hans Büttner (Ingolstadt) Gabriele Iwersen Holger Ortel Jörg-Otto Spiller
Marion Caspers-Merk Renate Jäger Adolf Ostertag Dr. Ditmar Staffelt
Wolf-Michael Catenhusen Jann-Peter Janssen Kurt Palis Ludwig Stiegler
Dr. Herta Däubler-Gmelin Ilse Janz Albrecht Papenroth Rolf Stöckel
Christel Deichmann Prof. Dr. Uwe Jens Prof. Dr. Martin Pfaff Rita Streb-Hesse
Karl Diller Volker Jung (Düsseldorf) Georg Pfannenstein Reinhold Strobl (Amberg)
Peter Dreßen Johannes Kahrs Johannes Pflug Dr. Peter Struck
Rudolf Dreßler Ulrich Kasparick Prof. Dr. Eckhart Pick Joachim Tappe
Detlef Dzembritzki Sabine Kaspereit Joachim Poß Jörg Tauss
Dieter Dzewas Susanne Kastner Karin Rehbock-Zureich Jella Teuchner
Dr. Peter Eckardt Hans-Peter Kemper Dr. Carola Reimann Dr. Gerald Thalheim
Sebastian Edathy Klaus Kirschner Margot von Renesse Wolfgang Thierse
Ludwig Eich Marianne Klappert Renate Rennebach Franz Thönnes
Marga Elser Siegrun Klemmer Bernd Reuter Uta Titze-Stecher
Peter Enders Walter Kolbow Dr. Edelbert Richter Adelheid Tröscher
Gernot Erler Fritz Rudolf Körper Reinhold Robbe Hans-Eberhard Urbaniak
Annette Faße Karin Kortmann Gudrun Roos Rüdiger Veit
Lothar Fischer (Homburg) Anette Kramme René Röspel Simone Violka
Iris Follak Nicolette Kressl Michael Roth (Heringen) Ute Vogt (Pforzheim)
Norbert Formanski Volker Kröning Birgit Roth (Speyer) Hans Georg Wagner
Rainer Fornahl Angelika Krüger-Leißner Gerhard Rübenkönig Hedi Wegener
Hans Forster Horst Kubatschka Marlene Rupprecht Dr. Konstanze Wegner
Dagmar Freitag Ernst Küchler Thomas Sauer Wolfgang Weiermann
Lilo Friedrich (Mettmann) Helga Kühn-Mengel Dr. Hansjörg Schäfer Reinhard Weis (Stendal)
Anke Fuchs (Köln) Ute Kumpf Gudrun Schaich-Walch Matthias Weisheit
Arne Fuhrmann Konrad Kunick Rudolf Scharping Gunter Weißgerber
Prof. Monika Ganseforth Dr. Uwe Küster Bernd Scheelen Dr. Ernst Ulrich von
Konrad Gilges Werner Labsch Dr. Hermann Scheer Weizsäcker
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10801
Vizepräsidentin Petra Bläss

(A) Jochen Welt Nein Horst Günther (Duisburg) Hans Michelbach (C)
Hildegard Wester Carl-Detlev Freiherr von Meinolf Michels
Lydia Westrich CDU/CSU Hammerstein Dr. Gerd Müller
Inge Wettig-Danielmeier Gottfried Haschke Bernward Müller (Jena)
Ulrich Adam (Großhennersdorf ) Elmar Müller (Kirchheim)
Dr. Margrit Wetzel
Ilse Aigner Gerda Hasselfeldt Bernd Neumann (Bremen)
Dr. Norbert Wieczorek
Peter Altmaier Klaus-Jürgen Hedrich Claudia Nolte
Helmut Wieczorek
Dietrich Austermann Helmut Heiderich Günter Nooke
(Duisburg)
Norbert Barthle Franz Obermeier
Jürgen Wieczorek (Böhlen) Ursula Heinen
Dr. Wolf Bauer Eduard Oswald
Heidemarie Wieczorek-Zeul Manfred Heise
Günter Baumann
Dieter Wiefelspütz Siegfried Helias Norbert Otto (Erfurt)
Brigitte Baumeister
Heino Wiese (Hannover) Hans Jochen Henke Dr. Peter Paziorek
Meinrad Belle
Klaus Wiesehügel Ernst Hinsken Anton Pfeifer
Dr. Sabine Bergmann-Pohl
Brigitte Wimmer (Karlsruhe) Peter Hintze Dr. Friedbert Pflüger
Otto Bernhardt
Engelbert Wistuba Martin Hohmann Beatrix Philipp
Dr. Joseph-Theodor Blank
Barbara Wittig Klaus Holetschek Ronald Pofalla
Renate Blank
Dr. Wolfgang Wodarg Josef Hollerith Marlies Pretzlaff
Dr. Heribert Blens
Hanna Wolf (München) Dr. Karl-Heinz Hornhues Dr. Bernd Protzner
Peter Bleser
Waltraud Wolff (Zielitz) Siegfried Hornung Thomas Rachel
Friedrich Bohl
Heidemarie Wright Joachim Hörster Dr. Peter Ramsauer
Dr. Maria Böhmer
Dr. Christoph Zöpel Hubert Hüppe Helmut Rauber
Sylvia Bonitz
Peter Zumkley Susanne Jaffke Peter Rauen
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen Georg Janovsky Christa Reichard (Dresden)
BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Bönstrup) Dr.-Ing. Rainer Jork Erika Reinhardt
NEN Wolfgang Bosbach Bartholomäus Kalb Hans-Peter Repnik
Klaus Brähmig Steffen Kampeter Klaus Riegert
Gila Altmann (Aurich) Dr.-Ing. Dietmar Kansy Dr. Heinz Riesenhuber
Marieluise Beck (Bremen) Dr. Ralf Brauksiepe
Paul Breuer Irmgard Karwatzki Hannelore Rönsch
Volker Beck (Köln) Volker Kauder (Wiesbaden)
Angelika Beer Monika Brudlewsky
Georg Brunnhuber Eckart von Klaeden Heinrich-Wilhelm Ronsöhr
Matthias Berninger Ulrich Klinkert Dr. Klaus Rose
Grietje Bettin Klaus Bühler (Bruchsal)
Hartmut Büttner Manfred Kolbe Kurt J. Rossmanith
Annelie Buntenbach Norbert Königshofen Adolf Roth (Gießen)
Ekin Deligöz (Schönebeck)
Dankward Buwitt Eva-Maria Kors Norbert Röttgen
Dr. Thea Dückert Thomas Kossendey Dr. Christian Ruck
(B) Franziska Eichstädt-Bohlig Cajus Caesar (D)
Manfred Carstens (Emstek) Rudolf Kraus Volker Rühe
Dr. Uschi Eid Dr. Martina Krogmann Anita Schäfer
Hans-Josef Fell Leo Dautzenberg
Wolfgang Dehnel Dr. Paul Krüger Dr. Wolfgang Schäuble
Andrea Fischer (Berlin) Dr. Hermann Kues Hartmut Schauerte
Hubert Deittert
Katrin Dagmar Karl Lamers Heinz Schemken
Albert Deß
Göring-Eckardt Dr. Karl A. Lamers Karl-Heinz Scherhag
Renate Diemers
Winfried Hermann (Heidelberg) Gerhard Scheu
Thomas Dörflinger
Antje Hermenau Dr. Norbert Lammert Norbert Schindler
Hansjürgen Doss
Ulrike Höfken Helmut Lamp Bernd Schmidbauer
Marie-Luise Dött
Michaele Hustedt Maria Eichhorn Dr. Paul Laufs Christian Schmidt (Fürth)
Monika Knoche Rainer Eppelmann Karl-Josef Laumann Dr.-Ing. Joachim Schmidt
Steffi Lemke Anke Eymer (Lübeck) Vera Lengsfeld (Halsbrücke)
Dr. Helmut Lippelt Ilse Falk Werner Lensing Michael von Schmude
Dr. Reinhard Loske Dr. Hans Georg Faust Peter Letzgus Birgit Schnieber-Jastram
Oswald Metzger Albrecht Feibel Ursula Lietz Dr. Andreas Schockenhoff
Kerstin Müller (Köln) Ulf Fink Walter Link (Diepholz) Dr. Rupert Scholz
Winfried Nachtwei Ingrid Fischbach Eduard Lintner Dr. Erika Schuchardt
Christa Nickels Dirk Fischer (Hamburg) Dr. Klaus W. Lippold Wolfgang Schulhoff
Cem Özdemir Dr. Gerhard Friedrich (Offenbach) Dr. Christian
Simone Probst (Erlangen) Dr. Manfred Lischewski Schwarz-Schilling
Christine Scheel Erich G. Fritz Wolfgang Lohmann Wilhelm-Josef Sebastian
Irmingard Schewe-Gerigk Jochen-Konrad Fromme (Lüdenscheid) Horst Seehofer
Rezzo Schlauch Hans-Joachim Fuchtel Julius Louven Heinz Seiffert
Albert Schmidt (Hitzhofen) Dr. Jürgen Gehb Dr. Michael Luther Rudolf Seiters
Werner Schulz (Leipzig) Norbert Geis Erich Maaß (Wilhelmshaven) Bernd Siebert
Christian Simmert Dr. Heiner Geißler Erwin Marschewski Werner Siemann
Christian Sterzing Georg Girisch (Recklinghausen) Johannes Singhammer
Jürgen Trittin Michael Glos Dr. Martin Mayer Margarete Späte
Dr. Antje Vollmer Dr. Reinhard Göhner (Siegertsbrunn) Carl-Dieter Spranger
Dr. Ludger Volmer Dr. Wolfgang Götzer Wolfgang Meckelburg Wolfgang Steiger
Sylvia Voß Kurt-Dieter Grill Dr. Michael Meister Erika Steinbach
Helmut Wilhelm (Amberg) Hermann Gröhe Dr. Angela Merkel Dr. Wolfgang Freiherr von
Margareta Wolf (Frankfurt) Manfred Grund Friedrich Merz Stetten
10802 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Vizepräsidentin Petra Bläss

(A) Andreas Storm F.D.P. Gudrun Kopp Roland Claus (C)


Max Straubinger Jürgen Koppelin Heidemarie Ehlert
Ina Albowitz
Matthäus Strebl Ina Lenke Dr. Heinrich Fink
Hildebrecht Braun
Thomas Strobl (Heilbronn) Sabine Leutheusser- Dr. Ruth Fuchs
Michael Stübgen (Augsburg)
Schnarrenberger Wolfgang Gehrcke
Edeltraut Töpfer Rainer Brüderle
Günther Friedrich Nolting Dr. Klaus Grehn
Gunnar Uldall Ernst Burgbacher
Detlef Parr Dr. Gregor Gysi
Arnold Vaatz Jörg van Essen
Cornelia Pieper Uwe Hiksch
Angelika Volquartz Ulrike Flach
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Carsten Hübner
Peter Weiß (Emmendingen) Gisela Frick
Gerhard Schüßler Ulla Jelpke
Gerald Weiß (Groß-Gerau) Paul K. Friedhoff
Dr. Irmgard Schwaetzer Sabine Jünger
Annette Widmann-Mauz Horst Friedrich (Bayreuth)
Marita Sehn Gerhard Jüttemann
Heinz Wiese (Ehingen) Rainer Funke
Dr. Hermann Otto Solms Dr. Heidi Knake-Werner
Hans-Otto Wilhelm (Mainz) Dr. Wolfgang Gerhardt
Carl-Ludwig Thiele Rolf Kutzmutz
Klaus-Peter Willsch Joachim Günther (Plauen)
Dr. Dieter Thomae Ursula Lötzer
Bernd Wilz Dr. Karlheinz Guttmacher
Jürgen Türk Dr. Christa Luft
Matthias Wissmann Klaus Haupt
Dr. Guido Westerwelle Heidemarie Lüth
Werner Wittlich Dr. Helmut Haussmann
Dagmar Wöhrl Ulrich Heinrich Angela Marquardt
PDS Kersten Naumann
Aribert Wolf Walter Hirche
Elke Wülfing Birgit Homburger Monika Balt Rosel Neuhäuser
Peter Kurt Würzbach Dr. Werner Hoyer Dr. Dietmar Bartsch Petra Pau
Wolfgang Zeitlmann Ulrich Irmer Petra Bläss Dr. Uwe-Jens Rössel
Benno Zierer Dr. Klaus Kinkel Maritta Böttcher Christina Schenk
Wolfgang Zöller Dr. Heinrich Leonhard Kolb Eva-Maria Bulling-Schröter Dr. Ilja Seifert

Entschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Ver-
sammlungen des Europarates und der WEU, der Parlamentarischen Versammlung der NATO, der OSZE oder der IPU
Abgeordnete
Adler, Brigitte Bierling, Hans-Dirk Grießhaber, Rita
SPD CDU/CSU BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(B) Moosbauer, Christoph Raidel, Hans Dr. Süssmuth, Rita (D)
SPD CDU/CSU CDU/CSU
Prof. Weisskirchen, Gert (Wiesloch) Wimmer, Willy (Neuss) Zapf, Uta
SPD CDU/CSU SPD

(Beifall bei der SPD) Drei-Körbe-Modell, ein Begriff, den wirklich kaum je-
mand versteht, haben Sie vor und während des letzten
Nächster Redner in der laufenden Debatte ist der Kol-
Bundestagswahlkampfes kompromisslos vertreten. Die-
lege Dr. Gerhard Friedrich, CDU/CSU-Fraktion.
ses Modell wurde als zentrales Vorhaben in Ihrer Koaliti-
onsvereinbarung angekündigt. Noch auf Ihrem Parteitag
Dr. Gerhard Friedrich (Erlangen) (CDU/CSU): Frau im Dezember letzten Jahres haben Sie dieses Konzept be-
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst kräftigt.
möchte ich dem Kollegen Hilsberg versichern, dass wir
Frau Kollegin Wimmer, die ich hier vor mir sitzen
natürlich die Idee des Bildungskredits überprüfen werden.
sehe, hat unsere Vorschläge anlässlich einer Diskussion
Allerdings können wir mit dieser Diskussion erst dann be-
am 2. Dezember 1999 sehr herablassend behandelt
ginnen, wenn Sie ein Konzept vorlegen.
(Brigitte Wimmer [Karlsruhe] [SPD]: Her-
(Beifall bei der CDU/CSU)
ablassend bin ich nie, Herr Friedrich!)
Bisher gibt es nur diesen Begriff. Soweit ich den Entwurf
und ziemlich großspurig angekündigt, dass man auf der
des Haushalts für das nächste Jahr gesehen habe, gibt es
Grundlage des so genannten Drei-Körbe-Modells für eine
dafür kein Geld.
Trendwende hin zu mehr Gerechtigkeit sorgen werde.
Herr Hilsberg, Sie haben Recht, wenn Sie prognosti-
(Brigitte Wimmer [Karlsruhe] [SPD]: Ja, das
zieren, dass die Koalition heute ein BAföG-Konzept be-
habe ich gesagt! – Thomas Rachel [CDU/CSU]:
schließen wird. Es spricht für Sie, dass Sie zugeben – das
Nichts ist daraus geworden!)
haben Sie aber etwas verniedlicht –, dass Sie gleichzeitig
ein Vorhaben, das man früher als „großes sozialdemokra- Wenige Wochen später hat der Bundeskanzler dieses
tisches Reformprojekt“ bezeichnet hat, beerdigen. Das Konzept während einer Fraktionssitzung beerdigt bzw.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10803
Dr. Gerhard Friedrich (Erlangen)

(A) mit einem Veto gestoppt. Seine Begründung – das hat Wir haben immer vorhergesagt, dass jemand, der viel (C)
Kollege Berninger schon zum Ausdruck gebracht –, die Geld für die Einrichtung eines Bildungsgeldes ausgibt,
Eltern hätten das dafür notwendige Geld bereits für die Fi- anschließend bei der Hilfe für die wirklich Ein-
nanzierung ihrer Häuschen fest eingeplant, war wirklich kommensschwachen sparen muss.
abenteuerlich.
Ein Beispiel dafür ist ein Vorschlag der F.D.P., Frau
(Cornelia Pieper [F.D.P.]: Richtig!) Kollegin Pieper. Sie bieten darin ein noch großzügigeres
Bildungsgeld an – über die Finanzierung will ich hier gar
In Wirklichkeit mussten auch Sie sich der Einsicht beu-
nicht reden –
gen, dass der in diesem Zusammenhang erforderliche
Sockelbetrag nicht finanzierbar ist. Das wissen wir bereits (Cornelia Pieper [F.D.P.]: Doch!)
seit Jahren. Bei einer Direktzahlung an die Studierenden und sehen für diejenigen, die es benötigen, noch einen Zu-
gibt es erhebliche Konflikte mit dem Unterhaltsrecht und schuss von 350 DM vor. Wer noch mehr Geld braucht, be-
mit verfassungsrechtlich abgesicherten Grundsätzen des kommt dann ein Darlehen in Höhe von bis zu
Steuerrechts. Diese Probleme lassen sich mit sehr viel 750 DM monatlich. Übertragen wir das auf die heutige Si-
Geld lösen, machen das Ganze aber nicht finanzierbar. tuation, so wären diejenigen, die auf eine Vollförderung
1998 hat der Bund für das BAföG insgesamt 1,5 Milli- angewiesen sind, bei Abschluss ihrer Ausbildung an der
arden DM ausgegeben. Frau Bulmahn, unsere neue Bil- Hochschule noch höher verschuldet, als sie es heute sind.
dungsministerin, hat 15 Monate gebraucht, um festzustel- Wenn wir gemeinsam beklagen, dass von 100 Kindern
len, dass der Bund seine Ausgaben verdoppeln müsste, aus einkommensschwachen Familien nur 33 auf das
um allein allen erwachsenen Auszubildenden ein Bil- Gymnasium gehen und davon im Schnitt lediglich acht
dungsgeld von 400 DM monatlich zu zahlen. Diese Zeit ein Studium aufnehmen,
hat sie auch gebraucht, um festzustellen, dass kein sozial-
demokratischer Finanzminister bereit ist, diese und zu- (Brigitte Wimmer [Karlsruhe] [SPD]: Das ist
sätzliche Mittel für höhere Leistungen an Einkommens- das gewollte Ergebnis der CDU/CSU-Politik! –
schwache, auf die es in diesem Zusammenhang ganz ent- Gegenruf der Abg. Angelika Volquartz
scheidend ankommt, bereitzustellen. Hätte Frau Bulmahn [CDU/CSU]: Vorsicht, das ist Länderpolitik!)
die Stellungnahmen ihres Vorgängers Rüttgers intensiv dann ist doch genau das Gegenteil notwendig, Frau Kol-
gelesen, dann hätte sie schon bei Amtsantritt zu diesem legin. Deshalb schlagen wir, unterstützt durch die Hoch-
Ergebnis kommen können. schulrektorenkonferenz, vor, die Darlehensbelastung zu
Herr Kollege Hilsberg, heute haben Sie die Koalition begrenzen. Meine Damen und Herren, wenn Sie eines Ta-
(B) und deren weise Beschlüsse bejubelt. Mitte Januar dieses ges unsere Zustimmung zu Ihrem BAföG-Konzept wol- (D)
Jahres haben Sie schlicht und einfach von einem „Glaub- len – das ist ja erst dann endgültig zu beurteilen, wenn der
würdigkeitsverlust der SPD“ gesprochen. Bei den Grünen Gesetzentwurf vorliegt –, dann müssen Sie bei dieser so-
war sogar von einem „Bruch der Koalitionsvereinbarung“ zialen Komponente, die uns sehr wichtig ist, noch nach-
die Rede. bessern.

(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Hört! Hört!) (Beifall bei der CDU/CSU)

Was ist denn wirklich passiert? Einige Tage später, wohl Bei der letzten Debatte zu diesem Thema am 20. Januar
in der Nacht vom 19. auf den 20. Januar dieses Jahres, ha- musste ich feststellen, dass uns die in den letzten Jahren
ben Sie unseren Vorschlag einer Reform innerhalb des tatsächlich stark gesunkene Gefördertenquote vorge-
Systems übernommen. Ich war wirklich fassungslos, als worfen wird.
Sie in der Aktuellen Stunde vom 20. Januar 2000 schon (Brigitte Wimmer [Karlsruhe] [SPD]: Zu
wieder bereit waren, den Ruhm und die Weisheit der Ko- Recht!)
alition zu preisen.
Es wurde gesagt, die alte Regierung hätte das BAföG aus-
Ich will es klar sagen: Das Scheitern des Drei-Körbe- getrocknet.
Modells ist für uns kein Anlass, Tränen zu vergießen. An-
geblich sollte dadurch erreicht werden, erwachsene Stu- (Brigitte Wimmer [Karlsruhe] [SPD]: Hat sie
dierende von ihren Eltern finanziell unabhängig zu ma- auch gemacht!)
chen. Tatsächlich ist dieses Ziel überhaupt nicht zu Da Sie damit auch heute sicher wieder kommen, möchte
verwirklichen; dies gilt zumindest für die meisten Stu- ich auf Folgendes aufmerksam machen: Wir hatten es mit
denten. der schwierigen Situation zu tun, dass sich die Fachmi-
nister aus Bund und Ländern wegen ihrer unterschiedli-
Auch die Empfänger von Bildungsgeld bleiben über-
chen Vorstellungen hinsichtlich des Wesens einer Struk-
wiegend auf ergänzende Unterhaltsleistungen der Eltern
turreform gegenseitig blockiert haben. Im Jahre 1997 ha-
angewiesen. Ein Staat, der sparen muss, sollte das Geld
ben die Finanzminister dreimal den einstimmigen
auf diejenigen konzentrieren, die aufgrund der Einkom-
Beschluss gefasst, dass eine BAföG-Reform kostenneu-
mensverhältnisse wirklich staatliche Hilfe brauchen.
tral durchgeführt werden müsse. Und im letzten Be-
(Beifall bei der CDU/CSU – Brigitte Wimmer schluss vom Dezember 1997 – ich habe die ent-
[Karlsruhe] [SPD]: Hättet ihr das einmal in den sprechenden Unterlagen an meinem Platz – kommt
letzten zehn Jahren gemacht!) klar zum Ausdruck, dass die Finanzminister – und zwar
10804 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Dr. Gerhard Friedrich (Erlangen)

(A) einstimmig – alle vorgelegten Konzepte für eine BAföG- niveau vorübergehend erneut absinkt. Dafür werden al- (C)
Reform ablehnen. lein Sie die Verantwortung übernehmen müssen.
(Angelika Volquartz [CDU/CSU]: SPD Vielen Dank.
regierte Länder!)
(Beifall bei der CDU/CSU)
Für die wirklich bedauerliche Entwicklung, die wir nie-
mals gerechtfertigt haben, sind also nicht nur wir verant- Vizepräsidentin Petra Bläss: Für die Fraktion
wortlich, die wir die letzte Regierung getragen haben, Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege Matthias
sondern auch die sozialdemokratischen Finanzminister in Berninger.
den Ländern.
Umso erstaunter sind wir, dass Sie jetzt aus den Feh- Matthias Berninger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
lern der Vergangenheit das Recht ableiten, die Strukturre- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor kurzem
form oder, wie Frau Bulmahn neuerdings sagt – dieser Be- hat die OECD eine Studie mit dem Titel „Bildung auf ei-
griff ist eigentlich zutreffend –, die Totalsanierung der nen Blick“ vorgestellt, in der die Industrieländer, die
Ausbildungsförderung selbst zu verzögern. Nur zu Be- wohlhabenden Länder dieser Welt, und deren Bildungs-
ginn Ihrer Regierungszeit haben Sie schnell gehandelt systeme miteinander verglichen wurden. Auffällig ist,
und, wie damals Herr Bundesminister Rüttgers kurz vor dass in Deutschland der Anteil eines Altersjahrgangs, der
der Wahl, die Freibeträge und die Bedarfssätze erhöht. an eine Hochschule geht, erschreckend niedrig ist: niedri-
Aber wir stellen fest, dass Sie seit der Verabschiedung der ger als in den meisten anderen Ländern, niedriger als im
20. Novelle, genauer gesagt: seit dem Wechsel im Fi- Durchschnitt aller OECD-Länder.
nanzministerium, eine Politik nach dem Motto „Sparen Hier ist von allen Seiten beklagt worden, dass in
durch Verzögern“ betreiben. Deutschland der Geldbeutel darüber entscheidet, ob je-
(Lachen bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von mand an die Uni geht oder nicht. Eine Errungenschaft der
der SPD: Das haben wir von Herrn Waigel ge- Bildungsreform ist, dass der Anteil von Frauen bei den
lernt!) Studienanfängern knapp 50 Prozent beträgt, dass also
Gleichberechtigung gegeben ist.
– Sie lachen, Herr Kollege Hilsberg. Als Sie nach einer
Nachtsitzung – das habe ich gelesen; Sie haben es der (Angelika Volquartz [CDU/CSU]: Richtig!)
Presse mitgeteilt – Ihr Konzept vorgelegt haben, war die Im Hinblick auf die Einkommen der Eltern der Studieren-
Finanzierung überhaupt noch nicht gesichert; es gab nur den haben wir aber überhaupt noch nichts erreicht.
(B) Eckpunkte. (D)
Bei allem Streit über die BAföG-Reform sollte man
(Stephan Hilsberg [SPD]: Das war ein großer sich dieses Ziel ganz oben auf die Fahnen schreiben. Hier
Erfolg!) muss sich in den nächsten Jahren etwas ändern. In
Darüber haben Sie mit dem Finanzminister noch wochen- Deutschland müssen mehr junge Menschen studieren. Die
Begabungsreserven kann man vor allem dort wecken, wo
lang gestritten.
die Leute nicht studieren, weil die Eltern die notwendigen
(Brigitte Wimmer [Karlsruhe] [SPD]: Aber wir Mittel nicht zur Verfügung stellen können, obwohl deren
sind erfolgreich, im Gegensatz zu Ihnen!) Kinder die Fähigkeiten zum Studieren hätten. Wenn wir
über BAföG reden, sollten wir uns meiner Meinung nach
Der Finanzminister wollte die Reform erst im Jahr 2002
zunächst einmal über diesen Punkt verständigen.
in Kraft treten lassen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Jetzt haben Sie einen Kompromiss geschlossen und
nennen ein neues Datum für das In-Kraft-Treten, nämlich Ein zweiter wichtiger Punkt ist für mich die Diskussion
den 1. April 2001. Damit setzen Sie sich in Widerspruch über die BAföG-Reform. Ich hätte es für besser gehalten,
zu dem Bericht Ihrer Regierung über die Entwicklung des wir hätten eine BAföG-Strukturreform gemacht, die das
BAföG. In ihm steht, dass aus dem Anstieg der Lebens- klare Signal an die Familien gesandt hätte, dass unabhän-
haltungskosten eine Anhebung der Bedarfssätze und Frei- gig von den Eltern Studierende gefördert werden können.
beträge zum Herbst 2000 abgeleitet werden kann und dass Die elternunabhängige Studienfinanzierung ist aus
die Entwicklung der Nettoeinkommen eine noch höhere meiner Sicht nach wie vor das bessere Modell im Ver-
Anpassung rechtfertigt. gleich zu der bisherigen, am Elterneinkommen orientier-
ten Ausbildungsförderung.

Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Kollege (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Friedrich, ich bitte Sie, zum Schluss zu kommen. bei der F.D.P. und der PDS)
– Da Sie von beiden Seiten klatschen, muss ich sagen,
Dr. Gerhard Friedrich (Erlangen) (CDU/CSU): Das dass Sie von der PDS nur eine halbe elternunabhängige
heißt, Sie verschieben nicht nur die inzwischen von allen Förderung wollen.
Ländern dringend angemahnte Totalsanierung des (Maritta Böttcher [PDS]: Aber besser als
BAföG, sondern nehmen auch in Kauf, dass das Förder- keine!)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10805
Matthias Berninger

(A) Das ist so, als wollte man über einen Bach springen, dem 1,3 Milliarden DM mehr ausgegeben werden und (C)
springt aber nur bis zur Mitte. Dass dies das Problem löst, nicht Hunderte von Millionen DM weniger. Das ist ein
bezweifle ich. wichtiger Unterschied.
Eine Ungerechtigkeit, die heute noch nicht thematisiert (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
worden ist, besteht darin, dass wir zwei Formen der För- und bei der SPD – Thomas Rachel [CDU/CSU]:
derung haben: Über das Steuerrecht fördern wir die wohl- Wo ist denn der Gesetzentwurf? Der war für Ja-
habenden Familien. Wir geben sehr viel Geld dafür aus, nuar angekündigt! – Dr.-Ing. Rainer Jork
dass sie entlastet werden, wenn ihre Kinder studieren. [CDU/CSU]: Ankündigungsministerium!)
Über das BAföG fördern wir diejenigen Familien, die we-
nig Geld haben. Der Unterschied besteht darin, dass der Die Koalitionsfraktionen haben in ihrem Antrag die
Steuervorteil zu keinerlei Rückzahlungsverpflichtungen Bundesregierung aufgefordert, zum 1. April nächsten Jah-
führt, was, wie wir wissen, zumindest für die Hälfte des res die BAföG-Reform auf den Weg zu bringen. Der
BAföG gilt. Diese Ungerechtigkeit wird auch nach der 1. April ist ein realistisches Datum.
Reform fortbestehen. Ich persönlich halte dies sozialpoli- (Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Das ist
tisch für nicht verantwortbar und familienpolitisch für wahr!)
falsch.
Wir werden, wenn wir so viel Geld in das BAföG
(Beifall bei der F.D.P.) stecken, wie wir es heute vorhaben – es geht um 1,3 Mil-
Auf dem Weg in die Wissensgesellschaft werden wir nur liarden DM –, an vielen Stellen innerhalb des Gesetzes
dann einen kräftigen Schritt vorankommen, wenn wir die überlegen müssen: Sind bestimmte Regelungen noch
Familien komplett von der Verantwortung für ihre Kinder sinnvoll oder nicht, können wir das BAföG entbürokrati-
im Studium entlasten. sieren? Das bedarf eines geordneten Verfahrens. Dieses
geordnete Verfahren heißt: Im Herbst beschließt das Kabi-
Nun aber zur konkreten Reform: Herr Kollege nett, im Winter berät der Bundestag und im Frühjahr tritt
Friedrich, wir haben es – natürlich im zähen Kampf mit die BAföG-Reform in Kraft.
dem Finanzminister – geschafft, 0,5 Milliarden DM zu-
sätzlich im Haushalt zu mobilisieren. Das bedeutet, dass (Dr. Gerhard Friedrich [CDU/CSU]: Und vorher?)
wir insgesamt weitere 1,3 Milliarden DM in das BAföG Sie haben beispielsweise Forderungen gestellt, über
hineinstecken können. Die bedürftigen Familien in die man gründlich nachdenken muss – das werden wir
Deutschland können mit 1,3 Milliarden DM mehr für die auch tun –, so etwa über die Forderung, die Darlehens-
Studierendenförderung rechnen. Klar war das ein harter schuld zu begrenzen, damit diejenigen, die am meisten
Kampf mit Herrn Eichel; das ist überhaupt keine Frage. bedürftig sind, am wenigsten durch die BAföG-Schulden (D)
(B) Im Kabinett ist es aber beschlossen worden. Die Ministe-
belastet werden. Das ist ein interessanter Vorschlag, den
rin hat sich an dieser Stelle durchgesetzt. auch die Ministerin angesprochen hat und von dem wir
(Brigitte Wimmer [Karlsruhe] [SPD]: Davon glauben, dass man ihn gründlich überprüfen und abwägen
haben die nur geträumt!) sollte, ob er sinnvoll ist.
Ich möchte Ihnen einmal ein paar Zahlen vorlesen, die (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Wir sind kreati-
die Dimension deutlich machen. Die BAföG-Ausgaben ver als die Bundesregierung!)
sind im Jahr 1991 um 18 Millionen DM gesunken, im Jahr Dafür brauchen wir aber die Zeit bis zum 1. April.
1992 um 244 Millionen DM, im Jahr 1993 um 268 Milli-
onen DM, im Jahr 1994 um 164 Millionen DM. 1995 hat Ich glaube, dass es in dieser Zeit gelingen wird, die
der Bund 85 Millionen DM weniger für das BAföG aus- BAföG-Regelungen zu sanieren. Dass wir sie total sanie-
gegeben, 1996 202 Millionen DM weniger und 1997 hat ren werden, bezweifle ich. Ich habe Ihnen auch erklärt,
man sich darüber gefreut, dass es nur noch 41 Milli- warum: Ich glaube, es wird in den nächsten Jahren struk-
onen DM weniger als im Vorjahr waren. Da hat man stolz tureller Reformen innerhalb der Ausbildungsförderung
davon gesprochen, dass die Talfahrt gestoppt ist. bedürfen. Wir werden aber in diesem Gesetz so viele
Dinge verändern, dass es am Ende nicht am BAföG lie-
In Ihrer Verantwortungszeit – ich beziehe mich nur auf gen wird, wenn nur wenige Leute aus einkommens-
diese Phase – ist das Sozialleistungsgesetz BAföG zu ei- schwachen Familien studieren.
nem absoluten Nichts verkommen und ausgeblutet wor-
den. Das ist auch der Grund dafür, warum heute nur so (Dr.-Ing. Rainer Jork [CDU/CSU]: Das ist
wenige Kinder aus einkommensschwachen Familien – es nicht wiederzuerkennen!)
sind übrigens viel weniger, als das früher der Fall war – Natürlich haben auch die Schulen eine große Verant-
studieren. wortung, dafür zu sorgen, dass Leute auch dann eine
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Chance zum Abitur erhalten, wenn sie aus einer Familie
und bei der SPD) stammen, die Sozialhilfe bezieht. Die Zahlen, die uns auf
dem Tisch liegen, sind erschreckend. Das wissen wir alle
Es ist natürlich überhaupt keine Frage: Auch die Län-
und das macht uns alle besorgt.
derfinanzminister haben sich die Hände gerieben. Ich
halte es nicht für verantwortbar, dass sie dieses Geld ein- Ich möchte noch zwei Bemerkungen zu der Strukturre-
gespart haben. Es gibt aber einen Unterschied: Unsere formdiskussion machen. Innerhalb der Rentenreform
Ministerin wird Ihnen einen Gesetzentwurf vorlegen, in wird es jetzt eine Reform des Unterhaltsrechts geben.
10806 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Matthias Berninger

(A) Das hat Arbeitsminister Riester angekündigt, und das ist – Alles zu seiner Zeit, im Herbst. (C)
vernünftig. Warum sollen diejenigen, die Kinder in die
Vielen Dank.
Welt gesetzt haben, dann, wenn sie im Alter von Armut
betroffen sind, ihre Kinder belasten, während andere, die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
ohne Kinder durchs Leben gegangen sind, zum Sozialamt und bei der SPD)
gehen können?
Hier werden die Unterhaltsbeziehungen zwischen Er- Vizepräsidentin Petra Bläss: Nächste Rednerin ist
wachsenen gekappt. Wir sollten das zum Anlass nehmen, die Kollegin Cornelia Pieper für die F.D.P.-Fraktion.
insgesamt darüber nachzudenken, ob die Unterhaltsbezie-
hungen zwischen Erwachsenen – zwischen erwachsenen
Studierenden und ihren Eltern und zwischen Rentnerin- Cornelia Pieper (F.D.P.): Frau Präsidentin! Liebe
nen und Rentnern und ihren Kindern – noch vernünftig Kolleginnen und Kollegen! Ich sage noch einmal deut-
geregelt sind. Dafür wollen wir eine Reformkommission lich: Wir beraten heute nicht über eine Strukturreform der
zur Zukunft der Bildungsfinanzierung einsetzen. Bundesausbildungsförderung, sondern über Anträge der
Regierungskoalition und der Union, die auf eine Er-
Wir wollen diese Reformkommission, weil wir sagen: höhung der Bedarfssätze und Freibeträge hinauslaufen,
Auf dem Weg zum lebenslangen Lernen ist eine zentrale
Frage, wie man die Vorsorgeleistungen der Menschen für (Stephan Hilsberg [SPD]: Na, na, na! Ein biss-
die Bildung steuerlich begünstigen kann. Wir wollen die chen mehr ist es schon!)
Reformkommission, weil wir nicht selbstsicher sagen,
sozusagen über eine zukünftige 21. Novelle. Insbeson-
diese BAföG-Reform wird der größte Erfolg in der Ge-
dere die Regierungskoalition verabschiedet sich damit
schichte der Republik, sondern weil wir prüfen wollen, ob
von ihrem Vorhaben, eine echte Reform auf den Weg zu
das Ziel erreicht wird oder ob weitere Maßnahmen nötig
sind. Wir wollen die Reformkommission, weil die Struk- bringen.
turreformdiskussion über das BAföG gezeigt hat: Es gibt Meine Damen und Herren von der Regierungskoali-
in Deutschland viele Menschen, viele Verbände und sehr tion, ich möchte Sie, Frau Ministerin, daran erinnern, was
viel Engagierte, die sich mit diesem Thema beschäftigen. Sie bei der Beratung des 20. Gesetzes zur Änderung der
Diese Menschen wollen wir an einen Tisch holen, um mit Bundesausbildungsförderung 1999 gesagt haben. Da-
ihnen über vernünftige Lösungen über den Tag hinaus zu mals sagten Sie – ich zitiere mit Genehmigung der Präsi-
diskutieren. Ich halte das für eine gute Sache. dentin:
Am meisten freue ich mich, dass wir uns bereits auf ei- Ich habe ... gesagt, dass wir zwar mit der vorliegen- (D)
(B)
nen Punkt geeinigt haben, der ein Stück weit Elternunab- den BAföG-Novelle eine Trendwende hin zu mehr
hängigkeit repräsentiert. Der Kollege Hilsberg hat ihn be- Chancengleichzeit und sozialer Gerechtigkeit einlei-
reits angesprochen. Dadurch, dass wir den Studierenden
ten, dass aber die Hauptaufgabe noch vor uns liegt,
die Möglichkeit geben, elternunabhängig Bildungskre-
nämlich eine grundlegende Reform der Ausbildungs-
dite in Anspruch nehmen zu können, wollen wir einen un-
förderung.
bürokratischen Weg gehen, der es den Studierenden er-
laubt, nicht jobben zu müssen, sondern schneller das Exa- Wir werden hierzu bis Ende dieses Jahres ein ent-
men zu machen. scheidungsreifes Konzept vorlegen. Wir bauen bei
unseren Überlegungen auf den breiten Konsens auf,
Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Kollege ausbildungsbezogene staatliche Leistungen wie Kin-
Berninger, auch Sie müssen bitte zum Schluss kommen. dergeld und Freibeträge zu einer elternunabhängigen
Förderung zusammenzufassen.
Matthias Berninger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Ministerin, genau das, was Sie wollten, sieht un-
Es darf nämlich nicht sein, dass Deutschland die jüngsten ser Gesetzentwurf vor, den wir heute hier nicht mitbera-
Rentner und die ältesten Studenten hat. Deshalb wollen ten. Ich weiß das, aber ich wollte Sie einfach noch einmal
wir ein Instrument schaffen, das das Studium beschleu- an Ihre Vorhaben in der Regierungskoalition und auch an
nigt. die Beschlüsse des SPD-Bundesparteitages erinnern.
Mein Appell, insbesondere an die unionsgeführten Die Wahrheit, meine Damen und Herren von der Re-
Länder, lautet: Machen Sie dafür ebenfalls den Weg frei. gierungskoalition, ist: Sie sind mit Ihren richtigen Vor-
Die Koalitionsfraktionen werden ihren Anteil dazu bei stellungen für eine echte Strukturreform vom Bundes-
den Haushaltsberatungen abliefern. kanzler zurückgepfiffen worden. Es verlief nach dem be-
(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Legen Sie erst kannten Schema – wir wissen es alle, denn dies passiert
einmal ein Konzept vor!) öfter und auch vor den Augen der Öffentlichkeit –: große
Versprechen im Wahlkampf, auch einmal in der Regie-
– Das Konzept, Herr Kollege Rachel, legen wir Ihnen rungserklärung und im Koalitionsvertrag. Dann erklärt
selbstverständlich gern vor. der Kanzler der jungen Generation, als der er sich gerne
(Angelika Volquartz [CDU/CSU]: So schnell sieht, die BAföG-Reform zur Chefsache und erledigt es
wie den Gesetzentwurf?) auf seine Weise: Sie findet nicht statt.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10807
Cornelia Pieper

(A) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Wohnkosten und Krankenversicherungszuschläge bezie- (C)
Angelika Volquartz [CDU/CSU]: Er hat die Mi- hen.
nisterin bloßgestellt!)
Frau Ministerin, Letzteres haben wir Ihnen bereits vor
Die richtige Idee einer elternunabhängigen Förde- einem Jahr empfohlen. Da argumentierten Sie übrigens
rung für junge Erwachsene in der Ausbildung opfern Sie noch, die Lebenshaltungskosten im Osten seien viel ge-
sozusagen einer unsachlichen und demagogischen Argu- ringer und die Härtefallregelung im bisherigen Gesetz
mentation des Kanzlers selbst: Er könne auf die Wähler- ausreichend. Ich freue mich, dass jetzt zumindest unsere
stimmen der Häuslebauer nicht verzichten, die das Kin- damalige Argumentation gegriffen hat und Sie diesen
dergeld und das durch Ausbildungsfreibeträge gesparte Schritt der Angleichung bei der Gesetzesänderung tun
Geld zur Abzahlung ihrer Schulden verwenden. Ich finde, wollen.
dies ist eine Anmaßung gegenüber diesem Parlament, das
Aber ich frage Sie auch: Wo bleibt eigentlich Ihr Ge-
die Steuerfreibeträge, die die Eltern junger Menschen bis
setzentwurf? Wir beraten hier über einen Antrag, der ne-
zu deren 27. Lebensjahr geltend machen können, geneh-
bulös im Raum steht. Ein Gesetzentwurf der Regierung
migt hat, damit die Ausbildung finanziert und das Geld
liegt bis jetzt nicht vor. Sie wollen – so haben Sie uns im
nicht artfremd verwendet wird. Ich glaube, dies ist eine
Ausschuss versprochen – bis Ende des Jahres eine Geset-
demagogische und unsachliche Argumentationsführung,
zesnovelle vorlegen, die dann unserem Gesetzentwurf mit
die wir in diesem Hohen Hause nicht dulden können.
einer echten Strukturreform gegenüberstehen wird.
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Der eigentliche Skandal ist, dass Sie sich, ohne einen
Mit anderen Worten: Diese Regierung ist gewiss nicht Gesetzentwurf vorgelegt zu haben, im Haushalt 2001 ei-
der Anwalt der jungen Generation, nen Blankoscheck von der Opposition ausstellen lassen
wollen. Das geht nicht, meine Damen und Herren. Ich
(Stephan Hilsberg [SPD]: Sie müssen erst ein-
habe mich gefragt, warum Sie Ihren Gesetzentwurf, für
mal rechnen lernen, Frau Pieper! Dann können
den Sie auch schon, ich glaube, vor etwa einem halben
Sie uns hier Vorhalte machen!)
Jahr auf einer Bundespressekonferenz geworben haben,
denn Sie haben Ihr Wort gegenüber den jungen Menschen hier heute nicht vorlegen. Als schlüssige Argumentation
gebrochen. fiel mir dazu nur ein: Dann müssten Sie wahrscheinlich
Eines ist auch gewiss: Der Druck der Opposition, ins- bereits ab diesem Herbstsemester höheres BAföG, höhere
besondere auch durch unseren F.D.P.-Gesetzentwurf, hat Bedarfssätze und Freibeträge finanzieren. Aber das wol-
Ihnen wenigstens geholfen, dem Finanzminister diese len Sie nicht.

(B) rund 500 Millionen DM aus dem Haushalt 2001 abzurin- (D)
gen. Ohne den Druck der Opposition hätten Sie das nicht Vizepräsidentin Petra Bläss: Frau Kollegin Pieper,
geschafft. ich bitte Sie, zum Schluss zu kommen.
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Sie haben Cornelia Pieper (F.D.P.): Ich komme zum Schluss,
doch immer beim Finanzminister abgeladen! Frau Präsidentin. – Sie, die Koalition, vertrösten die Stu-
Wir laden auf! Das ist der Unterschied!) denten. Sie versuchen mit einer Hinhaltetaktik, den Stu-
dierenden vorzugaukeln, dass Sie für die Auszubildenden
Ich will Ihnen noch eines entgegenhalten: Die angebli-
etwas tun würden. Sie tun das Gegenteil: Sie wollen die
che Nichtfinanzierbarkeit einer Strukturreform ist von
Ihrem eigenen Hause, sprich: vom Ministerium, widerlegt Änderung des Gesetzes zum Wahlkampfschlager machen.
worden. Ich habe ausrechnen lassen, welche Kosten mit Erst ab Sommersemester nächsten Jahres soll die BAföG-
unserem Gesetzentwurf zum Ausbildungsgeld verbunden Novelle rechtswirksam sein.
sind. Dies wären Mehrkosten in Höhe von 3,5 bis 4 Mil-
liarden DM. Ich habe schon aus der Expertenanhörung zi- Vizepräsidentin Petra Bläss: Frau Kollegin, bitte
tiert. Das Deutsche Studentenwerk hat in dieser An- kommen Sie zum Schluss.
hörung noch einmal daran erinnert, dass im Gesetz ur-
sprünglich vorgesehen war, dass Rückflüsse, die schon
Cornelia Pieper (F.D.P.): Ich sage Ihnen, meine Da-
jetzt von Studierenden, die fertig sind, kommen, zur Refi-
men und Herren von der Regierungskoalition: Wir halten
nanzierung beitragen sollen. Diese verschwinden in Höhe
diesen Opportunismus für nicht akzeptabel. Wir werden
von 6 Milliarden DM im Gesamthaushalt. Dies finden wir
dafür sorgen und Sie auch davon überzeugen, dass wir
nicht richtig. Dies entspricht auch nicht dem ursprüngli-
eine echte Strukturreform der Bundesausbildungsförde-
chen Anliegen des Gesetzentwurfes.
rung brauchen.
(Beifall bei der F.D.P.)
Vielen Dank.
Sie von der Regierungskoalition wollen mit Ihrem An-
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten
trag, wie ich schon sagte, unter anderem entbürokratisie-
der CDU/CSU)
ren – das kann ich eigentlich nur begrüßen –, die Be-
darfssätze auf 1 100 DM anheben, die Freibeträge ohne
Anrechnung des Kindergeldes erhöhen und die Unter- Vizepräsidentin Petra Bläss: Nächste Rednerin ist
schiede zwischen Ost und West abbauen, die sich auf für die PDS-Fraktion die Kollegin Maritta Böttcher.
10808 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

(A) Maritta Böttcher (PDS): Frau Präsidentin! Sehr ge- 425 Millionen DM wollen Sie im Bundeshaushalt 2001 (C)
ehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich frage: Wie lange, zusätzlich für die Ausbildungsförderung bereitstellen. Bei
meine Damen und Herren von der Koalition, möchten Sie allem Respekt für diese zusätzlichen Leistungen: Selbst
die Studentinnen und Studenten eigentlich noch an der inklusive der Leistungen der Deutschen Ausgleichsbank
Nase herumführen? Mit Ihrer Bildungs- und Hochschul- erreichen die BAföG-Aufwendungen des Bundes nicht
politik machen Sie es der Opposition in diesem Haus einmal das Niveau von 1994. 1994 war aber genau der
wirklich leicht. Zeitpunkt, als das Deutsche Studentenwerk eine Krise
des BAföG diagnostizierte und die Diskussion über eine
Das entwaffnendste Argument gegen Ihre Versäum-
Strukturreform anstieß.
nisse ist immer noch Ihre eigene Koalitionsvereinba-
rung. Aus diesem Papier – man muss wohl leider sagen: (Matthias Berninger [BÜNDNIS 90/DIE
zeitgeschichtlichen Dokument – hat Kollegin Pieper eben GRÜNEN]: Das stimmt nicht!)
zitiert. Ich will dieses Zitat nicht wiederholen. Die
Gleichzeitig sind die jährlichen Darlehensrückzahlun-
entscheidende Absicht, nämlich die ausbildungsbezoge-
gen ehemalig Studierender seit 1995 um über 300 Milli-
nen staatlichen Leistungen zusammenzufassen und dieses
onen DM gestiegen.
Konzept Ende 1999 vorzulegen, ist eindeutig und klar,
aber nicht erfüllt. Ich fordere Sie auf: Hören Sie auf, mit diesen enormen
Summen Löcher im Bundeshaushalt zu stopfen und set-
(Brigitte Wimmer [Karlsruhe] [SPD]: Sie wis-
zen Sie das Geld aus den Portemonnaies ehemaliger
sen aber auch, dass das Urteil des Verfassungs-
BAföG-Empfänger für eine zusätzliche Verbesserung der
gerichts nach der Koalitionsvereinbarung war!)
Ausbildungsförderung ein!
– Sie können mir gerne eine Frage stellen, Frau Wimmer.
(Beifall bei der PDS)
Als die Ministerin im Januar verkünden musste, dass
sie sich aufgrund eines Machtworts des Bundeskanzlers
Vizepräsidentin Petra Bläss: Frau Kollegin
auch von diesem Reformprojekt zu verabschieden hatte,
Böttcher, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
war der Sturm der Entrüstung groß, nicht nur bei der PDS,
Berninger?
die seit Jahren eine echte Strukturreform der Ausbil-
dungsförderung fordert, sondern auch bei Ihren eigenen
Jugend- und Studentenverbänden, beim Deutschen Stu- Maritta Böttcher (PDS): Selbstverständlich.
dentenwerk und bei der Hochschulrektorenkonferenz.
Völlig zu Recht mussten Sie sich den Vorwurf des Wahl- Matthias Berninger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (D)
(B) betrugs gefallen lassen, da die Studierenden mit dem Re-
Frau Kollegin, Sie haben eben gesagt, die Reform, die wir
gierungswechsel 1998 die Hoffnung auf eine spürbare jetzt in Gang setzen wollen, würde das Niveau von 1994
Verbesserung ihrer sozialen Lage verknüpft hatten. nicht erreichen. 1994 wurden 3,1 Milliarden DM für das
(Beifall bei der PDS) BAföG ausgegeben. Am Ende der Reform werden wir
aller Wahrscheinlichkeit nach 3,4 Milliarden DM, viel-
Von Ihnen wurden sie bitter enttäuscht.
leicht sogar 3,5 Milliarden DM für das BAföG mobilisie-
Um die Wogen zu glätten, haben Sie im Januar buch- ren. Vor dem Hintergrund frage ich Sie: Bleiben Sie bei
stäblich über Nacht Eckpunkte für eine BAföG-Reform Ihrer Aussage? Ist sie nicht falsch?
präsentiert, mit denen anstelle der versprochenen Struk-
turreform der Ausbildungsförderung die Leistungen des Maritta Böttcher (PDS): Ich bleibe bei meiner Aus-
geltenden BAföG verbessert werden sollten. Ein halbes sage, da ich andere Zahlen zur Grundlage habe. Ich gebe
Jahr ist es jetzt her, dass Sie diese Eckpunkte vorgelegt ha- die Frage zurück: Wenn das so ist, warum machen Sie
ben; aber – ich wiederhole es – es liegt noch immer kein denn dann keine Strukturreform?
Gesetzentwurf der Bundesregierung vor.
(Beifall bei der PDS sowie der Abg. Cornelia
(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Alles leere Ver- Pieper [F.D.P.])
sprechen!)
Insofern hält die PDS an ihrem Vorschlag einer struk-
– Genau. turellen Erneuerung der Ausbildungsförderung fest und
Als Termin für die Einbringung des Gesetzentwurfs in stellt ihre Alternative zur Regierungspolitik der leeren
den Bundestag geben Sie mittlerweile November oder Versprechen heute zur Abstimmung. Das hat einen einfa-
Dezember an. Damit verspielen Sie kostbare Zeit. Aber chen Grund: Wenn wir die bisherigen Leistungen des Fa-
mit jedem einzelnen Semester, mit dem Sie die BAföG- milienlastenausgleichs bündeln, so wie es versprochen
Reform auf die lange Bank schieben, legen Sie Hundert- wurde, und direkt an die Studentinnen und Studenten aus-
tausenden Studentinnen und Studenten Knüppel in den zahlen, können wir auf einen Schlag und mit nur geringen
Weg zu einem erfolgreichen Studienabschluss. zusätzlichen Belastungen für die Haushalte des Bundes
und der Länder das BAföG zumindest um 400 DM oder
(Beifall bei der PDS)
500 DM – um diese Zahl will ich mich jetzt nicht strei-
Fangen Sie endlich an, Politik zu machen, statt nur davon ten – pro Monat erhöhen, ohne dass es zurückzuzahlen
zu reden! wäre.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10809
Maritta Böttcher

(A) Gleichzeitig machen wir Schluss mit der steuerlichen Das angestrebte Ziel können Sie durch eine Umstellung (C)
Privilegierung von besser verdienenden Eltern von Stu- der Familienförderung nicht erreichen, sondern Sie müs-
denten. Die Studierenden würden ein gutes Stück unab- sen die BAföG-Reform durchführen, weil nur das zur
hängiger von ihren Eltern und von übermäßiger Erwerbs- Folge haben wird, dass gerade Studierende aus einkom-
arbeit. mensschwächeren Familien tatsächlich mehr Geld in die
Wenn wir der Realisierung von Chancengerechtigkeit Hand bekommen. Das ist der wesentliche Unterschied,
näher kommen wollen, müssen Sie unserem Antrag heute das kann man nicht gleichsetzen. Es geht um zwei völlig
zustimmen. verschiedene Dinge, nämlich zum einen um die Verände-
rung des Unterhaltsanspruches und der Unterhaltsbezie-
(Beifall bei der PDS) hungen zwischen Eltern und Kindern und zum anderen
um die Förderung von Studierenden aus einkommens-
Vizepräsidentin Petra Bläss: Das Wort hat die Bun- schwächeren Familien. Die Veränderung der Unterhalts-
desministerin für Bildung und Forschung, Edelgard beziehungen zwischen Eltern und Kindern bringt den Stu-
Bulmahn. dierenden aus einkommensschwächeren Familien nicht
mehr Geld. Insofern hat Herr Friedrich Recht.
Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung: Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lie- Vizepräsidentin Petra Bläss: Gestatten Sie eine
ben Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung ist Zwischenfrage der Abgeordneten Pieper?
mit dem Versprechen angetreten, unser Land zu moderni-
sieren. Dieses Versprechen halten wir. Die Erhöhung der
Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
Zukunftsinvestitionen in Bildung und Forschung, die wir
und Forschung: Ich will noch auf einen zweiten Punkt ein-
im kommenden Jahr zum dritten Mal durchführen wer-
gehen, vielleicht können wir die Frage dann im Zusam-
den – wir haben sie 1999 und 2000 durchgeführt und auch
2001 wird sie 780 Millionen DM betragen –, ist die menhang klären, Frau Pieper.
Grundlage für Lebenschancen von morgen, die Grund- Die Totalsanierung des BAföG, so wie ich sie vorge-
lage für Innovation, Wohlstand und Arbeitsplätze. schlagen habe, ist notwendig. Mit der von uns vorgestell-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ten Reform werden wir insgesamt mehr als 1 Milliarde
DIE GRÜNEN) DM zusätzlich für BAföG mobilisieren. Meine Vorredner
haben darauf hingewiesen, wie das BAföG unter der Re-
Wir setzen dabei auf ein hochwertiges Bildungssys- gierungskoalition von CDU/CSU und F.D.P. abgebaut
tem. Das können wir nicht alleine leisten, sondern nur ge- und zurückgeschraubt worden ist. Deshalb finde ich es
(B) meinsam mit den Ländern. Aber wir tun unseren Teil einfach nicht glaubwürdig, wenn man jetzt hier sagt: Es (D)
dafür. Wir setzen darauf, dass junge Menschen in Schu- ist alles bei weitem nicht genug. – Sie haben 16 Jahre lang
len, Hochschulen und Betrieben fundiert ausgebildet wer- Zeit gehabt, um das BAföG zu modernisieren, und haben
den und dass eine exzellente Forschung durchgeführt es nicht getan.
wird. Wir setzen auf eine rasche und breite Verwendung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die BAföG-Reform (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
(Dr.-Ing. Rainer Jork [CDU/CSU]: Jetzt
kommt sie!) Lassen Sie mich ein Zweites sagen. Ich habe von An-
fang an für diese Bundesregierung erklärt, dass die grund-
ist die wichtigste Voraussetzung dafür, dass alle jungen
legende BAföG-Reform im Jahre 2001 in Kraft treten
Menschen diese Bildungschancen unabhängig vom Geld-
beutel auch tatsächlich nutzen können. soll. Deshalb ist schlichtweg falsch, wenn hier von Ver-
zögerung geredet wird. Wir haben von Anfang an gesagt:
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wir gehen in zwei Schritten vor: Wir machen erst eine
DIE GRÜNEN) BAföG-Novelle, mit der wir den Abbau des BAföG stop-
Ich muss mich jetzt sowohl an Sie, Frau Pieper, als pen, und werden dann mit Beginn des Jahres 2002 die
auch an die PDS wenden. Sie verwechseln zwei Dinge. richtige Strukturreform – die ich Totalsanierung genannt
Sie verwechseln eine Veränderung und eine Umstellung habe – in Kraft treten lassen. Genauso gehen wir jetzt
der Familienförderung, die keinem Studierenden aus ei- auch vor.
ner einkommensschwächeren Familie tatsächlich eine
müde Mark mehr bringen würde, mit der BAföG-Reform. Vizepräsidentin Petra Bläss: Frau Ministerin, ge-
Deshalb sind es zwei getrennte Dinge, über die man redet. statten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Pieper?
(Cornelia Pieper [F.D.P.]: Wir reden über
Chancengleichheit!) Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
Wir brauchen eine BAföG-Reform, wenn wir errei- und Forschung: Ich habe vorhin gesagt, dass ich das in ei-
chen wollen, dass auch Jugendliche aus einkommens- nem Komplex zusammen abhandeln will, weil ich an-
schwächeren Familien Bildungschancen nutzen können. schließend auf die BAföG-Höhe eingehen möchte.
Daran geht überhaupt kein Weg vorbei. Wir brauchen eine
Ein Blick zurück: Wir haben unter der Regierungsver-
Totalsanierung des BAföG.
antwortung der CDU/CSU- und F.D.P.-Koalition eine
(Beifall bei der SPD) Halbierung der Zahl der BAföG-geförderten Studenten
10810 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Bundesministerin Edelgard Bulmahn

(A) hinnehmen müssen. Das hatte zur Folge, dass immer mehr habe ich übrigens schon im Herbst letzten Jahres bei einer (C)
Studierende vor dem Problem standen: „Wie finanziere Veranstaltung des DSW gesagt. Das kann man alles im
ich meinen Lebensunterhalt?“ und auf Jobsuche gehen Protokoll nachlesen.
mussten. Ihre Ausgestaltung des BAföGs hatte auch zur
Wir verbessern auch die Leistungen der Ausbildungs-
Folge, dass diejenigen BAföG-Empfänger, die auf die
förderung. Wir erhöhen das BAföG auf den Höchstsatz
Höchstförderung angewiesen waren, am Ende des Studi-
von 1 100 DM. Zusammen mit dem Kindergeld stehen ei-
ums – nicht zuletzt vor dem Hintergrund unsicherer Be-
nem Studierenden dann 1 370 DM zur Verfügung. Das ist
rufsaussichten – vor dem höchsten Schuldenberg standen.
eine Summe, von der man leben kann.
All dies hatte letztlich zur Konsequenz, dass sich vor
allen Dingen Jugendliche aus einkommensschwächeren Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir machen nicht nur
Familien von einem Studium haben abschrecken lassen. das, sondern wir führen auch grundsätzliche Neuerungen
Das Ergebnis führt uns der neueste OECD-Bericht, der ein. Wir reden nicht nur über Internationalisierung, son-
die Situation bis zum Jahre 1998 beschreibt, deutlich vor dern wir fördern sie auch. Wir setzen bei den Studieren-
Augen: Wir haben im internationalen Vergleich erheblich den auf eine Ausbildung im Ausland. Während die Vor-
zu wenig Studierende. In anderen Ländern nehmen gängerregierung die BAföG-Empfänger, die im Ausland
40 Prozent eines Jahrgangs ein Studium auf, während es studieren wollten, mit der Nichtanrechnung der zu-
in Deutschland nur 28 Prozent sind. Das können wir uns sätzlichen Auslandssemester bestraft hat, werden wir die
in einem Land, das in hohem Maße auf das Know-how, Ausbildung im Ausland fördern, und zwar ohne enge
auf das Können und das Wissen gerade der jungen Men- Grenzen und ohne Bestrafung.
schen angewiesen ist, überhaupt nicht leisten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)
DIE GRÜNEN) Wir werden sie fördern, weil wir davon überzeugt sind,
Ich sage ganz klar: Wir wollen es uns auch deshalb nicht dass Auslandserfahrung notwendig ist, und weil wir wis-
leisten, weil es dem Grundsatz der Chancengleichheit wi- sen, dass Auslandserfahrung nicht ein Extraluxus für ei-
derspricht. Dieser Grundsatz ist für uns ein wichtiger Eck- nige wenige, die es sich leisten können, ist, sondern für
pfeiler der Politik. den akademischen Werdegang eine große Rolle spielt und
von vielen Unternehmen inzwischen ein wichtiges Ein-
Die aktuelle Diskussion um die Green Card und um stellungskriterium ist.
den Fachkräftemangel im informationstechnischen Bereich
hat sehr deutlich gezeigt, wohin es führt, wenn Ausbildung Mit dieser Förderung, der parallelen Entwicklung in-
und Qualifizierung jahrelang vernachlässigt werden. Des- ternationaler Studiengänge, der Einführung der bekann-
(B) halb sind wir so vorgegangen, wie ich es beschrieben habe: ten Bachelor- und Master-Abschlüsse sowie dem Ausbau (D)
Wir haben zunächst das 20. BAföG-Änderungsgesetz initi- von Austauschmaßnahmen treiben wir die Internati-
iert, mit dem wir die Studierenden vor einer Bruchlandung onalisierung der Hochschulen voran. Mit der Reform des
bewahrt haben, und legen jetzt die Eckpunkte für die ei- BAföG ermöglichen wir es den BAföG-Empfängern,
gentliche Reform vor. Ich habe immer gesagt, wir werden diese Chancen zu nutzen, weil wir nicht wollen, dass
sie im Frühherbst, am Ende der Sommerpause, in Form ei- BAföG-Empfänger Studierende zweiter Klasse sind. Wir
nes Referentenentwurfs vorlegen. Bei dieser Zeitplanung wollen nicht, dass sie sich nur eine Schmalspurausbildung
bleiben wir. im Ausland leisten können.
Das heißt, wir können im parlamentarischen Bera- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
tungsverfahren auch so vorgehen – das ist unser Wille –, DIE GRÜNEN)
dass diese Reform zum 1. April des kommenden Jahres, Wir werden Gleichberechtigung und Gleichheit auch für
also mit Beginn des Sommersemesters, in Kraft treten Studierende, die BAföG erhalten, herstellen.
wird. Eine Reform kann nicht mitten im Semester in Kraft
treten. Das wissen Sie genauso wie ich. Sie muss vielmehr
mit Semesterbeginn in Kraft treten. Genau das werden wir Vizepräsidentin Petra Bläss: Frau Ministerin, ent-
vom 1. April des nächsten Jahres an tun. schuldigen Sie, dass ich Sie noch einmal unterbreche. Da
die Kollegin Pieper ihre Frage aufrechterhält, möchte ich
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Sie fragen, ob Sie sie jetzt zulassen.
DIE GRÜNEN)
Mit dieser Totalsanierung werden wir erreichen, dass Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
wir wieder deutlich mehr Studierende fördern, als es in und Forschung: Das tue ich.
der Vergangenheit der Fall war. Bei der Berechnung des
BAföG wird das Kindergeld künftig nicht mehr ange-
rechnet. Davon profitieren zum Beispiel Eltern mit mitt- Cornelia Pieper (F.D.P.): Frau Ministerin, Sie spra-
lerem Einkommen. chen von der Ungleichbehandlung, die insbesondere
durch das Ausbildungsgeld hergestellt werden würde. Das
(Angelika Volquartz [CDU/CSU]: Guter Vor- gelte insbesondere auch für die Personen, die aus einkom-
schlag von uns!)
mensschwachen Familien kommen. Würden Sie nicht der
Die Freibeträge, die für die anrechenbaren Einkom- Argumentation Ihres Kollegen Herrn Berninger von der
men maßgeblich sind, werden deutlich angehoben. Das Fraktion Bündnis 90/Die Grünen folgen, der logisch auf-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10811
Cornelia Pieper

(A) gezeigt hat, dass wir bei der derzeitigen BAföG-Regelung aufbringen. Ich bitte Sie, endlich einmal ein wirklich so- (C)
aufgrund der ständigen Erhöhung der Steuerfreibeträge lides Finanzkonzept vorzulegen.
durch dieses Gesetz eher eine Bevorteilung der Studenten
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
haben, die aus besser verdienenden Familien kommen? DIE GRÜNEN)
Stimmen Sie mir zu, dass durch ein einheitliches Ausbil-
dungsgeld für alle, aber auch durch Zuschüsse für eine be-
grenzte Schicht aus einkommensschwachen Familien Vizepräsidentin Petra Bläss: Frau Ministerin, die
eine sehr starke Differenzierung durch das von uns vor- Kollegin Pieper möchte eine kurze Nachfrage stellen. Ich
geschlagene Drei-Körbe-Modell hergestellt wird und eine bitte Sie, kurz zu antworten.
Ungleichbehandlung aufgehoben wird? (Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Wir sind doch hier nicht in der Schule!)
Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung: Nein, Frau Pieper, ich kann Ihnen deshalb Cornelia Pieper (F.D.P.): Frau Ministerin, stimmen
nicht zustimmen, weil Sie auch bei einer Änderung der Sie meiner Einschätzung zu, dass das Interesse an der De-
Familienförderung für Studierende aus Familien mit ei- batte über die Bundesausbildungsförderung in diesem
nem geringen Einkommen eine zusätzliche Ausbildungs- Hohen Hause anscheinend nicht sehr hoch ist, insbeson-
förderung brauchen. Das haben Sie in Ihrem Modell vor- dere nicht bei der Regierungskoalition? Anders kann ich
gesehen; das sehen Sie also selber. Sie brauchen die Zwischenrufe nicht werten.
grundsätzlich eine Totalsanierung der individuellen Aus- (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/
bildungsförderung, wenn Sie erreichen wollen, dass DIE GRÜNEN]: Wie viele von der F.D.P. sind
Chancengleichheit nicht nur eine Phrase bleibt, sondern denn da? Gucken Sie sich um! – Rezzo
auch tatsächlich umgesetzt wird. Deshalb muss die Total- Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
sanierung des BAföG stattfinden. Wenn man Chancen- F.D.P.: Drei! – Brigitte Wimmer [Karlsruhe]
gleichheit erreichen will, geht daran kein Weg vorbei. Mit [SPD]: Vielleicht liegt es an derjenigen, die
einer Totalsanierung des BAföG werden wir dieses Ziel fragt!)
erreichen. Das können Sie allein durch eine Umstellung
der Familienförderung nicht erreichen. Würden Sie mir bitte die Anzahl der Anspruchsberech-
tigten nennen, die durch Ihre Novelle, die Sie im Winter
Das zweite Problem, das Sie angesprochen haben, ent- vorlegen wollen, zusätzlich gefördert werden sollen? Se-
steht durch eine Senkung der Steuereingangssätze und hen Sie insbesondere nach dem letzten Familienurteil von
eine Anhebung der Steuerfreibeträge. Es könnte die Si- Karlsruhe die Chancengleichheit gefährdet, wenn nicht
(B) tuation entstehen, dass Studierende aus einkommens- alle Auszubildenden in die Bundesausbildungsförderung (D)
schwachen Familien nicht mehr BAföG-berechtigt einbezogen werden?
wären, wenn wir die Einkommensfreigrenzen nicht anhe- (Beifall des Abg. Dr. Heinrich Fink [PDS])
ben. Deshalb heben wir ja die Einkommensfreigrenzen
an. Das ist notwendig, damit Studierende aus Familien,
die zum Beispiel ein Nettoeinkommen von rund Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
4 000 DM haben, trotzdem BAföG-berechtigt sind. In un- und Forschung: Liebe Kollegin, ich muss – erstens – fest-
serem Vorschlag ist genau diese Anhebung der Einkom- stellen, dass das Interesse der Koalition, sowohl bei der
mensfreigrenzen vorgesehen. SPD als auch beim Bündnis 90/ Die Grünen, an dieser Re-
form sehr groß ist, wie ich sehe. Die Zahl der an dieser De-
Ich möchte noch einen dritten Punkt in diesem Zusam- batte interessierten Abgeordneten Ihrer Fraktion kann
menhang ansprechen. Sie haben vorhin behauptet, Frau man sogar an einer Hand abzählen. Es gibt offensichtlich
Pieper, dass Ihr Vorschlag durch die BAföG-Rückflüsse einen deutlichen Unterschied zwischen dem Interesse Ih-
durchaus finanzierbar sei. Das ist falsch. Als Sie die Zahl rer Fraktion sowie dem meiner Fraktion und der Fraktion
6 Milliarden DM genannt haben, haben Sie eines nicht ge- von Bündnis 90/Die Grünen. Unser Interesse ist sehr
sagt: Die 6 Milliarden DM sind die Summe der BAföG- groß.
Rückflüsse aus allen Jahren. Das ist also kein Rückfluss Ich werde – zweitens – die Novelle nicht im Winter
pro Jahr. Auch ich muss das BAföG, das ich erhalten habe, vorlegen. Ich werde den Referentenentwurf vielmehr
zurückzahlen. Meine Rückzahlung und die Rückzahlun- Ende dieses Sommers bzw. im Frühherbst vorlegen. Das
gen aller anderen ehemaligen BAföG-Empfänger, die ir- habe ich vorhin klar gesagt; das habe ich immer gesagt.
gendwann einmal unterstützt worden sind, summieren Nehmen Sie also bitte zur Kenntnis: Er wird Ende dieses
sich zu insgesamt 6 Milliarden DM. Aber Ihr Vorschlag Sommers bzw. im Frühherbst und nicht im Winter vorge-
hätte alleine schon 3,7 Milliarden bis 4 Milliarden DM legt werden. Wenn die Novelle vorliegt, dann werden Sie
pro Jahr an Kosten zur Folge, die zusätzlich zu dem kom- auch Ihre übrigen Fragen, die Sie noch gestellt haben, be-
men, was wir jetzt vorgeschlagen haben. Deshalb ist Ihr antwortet finden.
Vorschlag beim besten Willen nicht finanzierbar. Wenn
man 6 Milliarden DM über einen langen Zeitraum vertei- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
len muss, dann kann man nach Adam Riese beim besten DIE GRÜNEN)
Willen nicht zusätzlich zu dem, was wir hier vorgelegt ha- Ich möchte jetzt noch ganz kurz auf weitere Eckpunkte
ben, noch 3,7 Milliarden bis 4 Milliarden DM pro Jahr der Reform eingehen. Wir gestalten die Verlängerung
10812 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Bundesministerin Edelgard Bulmahn

(A) der Förderungsdauer im Hinblick auf die Kindererzie- mehr streng fachidentisch sein; nach Ihren Beschlüssen (C)
hungszeiten bedarfsgerechter. Das ist vor allen Dingen für müssen sie das im Augenblick noch. Diese Studiengänge
weibliche Studierende mit Kind wichtig. Das ist natürlich werden vielmehr dann gefördert, wenn sie für den späte-
auch für einige männliche Studierende wichtig, wenn sie ren Beruf besonders geeignet sind.
Kinder erziehen.
Über die Reform des BAföG hinaus arbeiten wir an der
(Angelika Volquartz [CDU/CSU]: Auch ein Einführung eines zeitlich befristeten Bildungskredits.
CDU-Vorschlag!) Meine Vorredner haben darauf bereits hingewiesen. Wir
Das ist wichtig, weil wir Studierende mit Kindern nicht denken dabei an ein Programm, das Studierenden Kredite
benachteiligen wollen. zu günstigen Zinssätzen gewährt, unabhängig vom För-
deranspruch durch das BAföG. Es ist also kein Ersatz für
Wir machen das BAföG einfacher und durchschauba-
rer. Das kostet leider sehr viel Arbeit; denn jeder, der das BAföG, sondern ein zusätzliches Instrument, das kei-
schon einmal einen Blick in das Gesetz geworfen hat, nen Rechtsanspruch beinhaltet. Wir wollen mit diesem
wird festgestellt haben, dass es ein wahnsinnig kompli- Angebot Studierenden in besonderen Studiensituationen
ziertes, bürokratisches Gesetz geworden ist, das leider eine Möglichkeit zur Selbsthilfe geben. Es handelt sich
nicht innerhalb von zwei Wochen reformiert werden kann. um ein sinnvolles Ergänzungsprogramm, das notwendig
Wenn wir das Ziel erreichen wollen, ein einfacheres, ist und der Sache gerecht wird.
durchschaubareres und damit für diejenigen, für die die- Mit dem Etatentwurf für das Jahr 2001 haben wir un-
ses Gesetz gedacht ist, ein handhabbareres Gesetz zu ma-
ser Versprechen eingelöst, zusätzliche Mittel zur Verfü-
chen, dann müssen wir auch eine Menge an Mühe und Ar-
gung zu stellen. Diese Mittel werden nicht durch Abstri-
beit aufwenden. Das ist notwendig. Ich möchte das Gesetz
so verändern, dass in Zukunft jeder selber abschätzen che bei anderen Bildungs- und Forschungsaufgaben auf-
kann, wie viel BAföG er erwarten kann, und jeder weiß, gebracht. Das war nicht ganz einfach, aber es hat
welchen Rechtsanspruch er hat. Damit soll Planungssi- geklappt. Es macht deutlich, dass die gesamte Bundesre-
cherheit und Überschaubarkeit hergestellt werden. Das ist gierung dahinter steht.
ein wichtiges Ziel. Wie ich vorhin gesagt habe, werden wir gleich nach der
Wir vereinfachen die selbst für Fachleute kaum noch Sommerpause den Gesetzentwurf für die BAföG-Reform
verständlichen Ergänzungsregelungen. Die Regelung der vorlegen. Wenn das geschehen ist, können die parlamen-
Wohnzuschläge nach der Härtefallverordnung versteht tarischen Beratungen noch in diesem Jahr beginnen, so-
kein Mensch mehr. Wir regeln das dort, wo es hingehört, dass die Studierenden bereits zu Beginn des Sommerse-
nämlich im Gesetz. mesters 2001
(B) (D)
Außerdem planen wir – über die im Antrag der Koali- (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Was heißt hier
tionsfraktionen enthaltenen Punkte hinaus – eine Ober- „bereits“? Im Jahr 2001 sollte die Reform in
grenze bei der Darlehensbelastung, Herr Friedrich. Ich Kraft treten!)
habe im letzten Jahr schon einmal gesagt, dass ich das für
notwendig halte. Ich bin sehr froh, dass Sie diese Auffas- von dieser Totalsanierung des BAföG profitieren werden.
sung teilen. Von daher hoffe ich, dass wir zu einem Kon- Ich bin sicher, Sie werden begreifen, dass diese Bundes-
sens kommen können. Ich bin der Auffassung, dass bei regierung im Gegensatz zur Vorgängerregierung nicht nur
denjenigen, die eine Höchstförderung erhalten, eine Ober- redet, sondern den Studierenden eine kräftige Unterstüt-
grenze vorhanden sein muss; es haben zurzeit nämlich zung tatsächlich zukommen lässt.
diejenigen, die aus den einkommensschwächsten Fami-
lien kommen, den höchsten Schuldenberg. Die jetzige (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Regelung ist eigentlich nicht gerecht und von der Sache DIE GRÜNEN)
her nicht richtig.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Vizepräsidentin Petra Bläss: Liebe Kolleginnen
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) und Kollegen, bevor ich der nächsten Rednerin das Wort
erteile, habe ich Ihnen eine erfreuliche Mitteilung zu ma-
Wir stellen die Studierenden aus Ost und West bei der chen. Wie Sie wissen, entscheiden nicht nur wir in diesem
Ausbildungsförderung gleich. Parlament. Die FIFA hatte heute über den Ausrichtungs-
(Cornelia Pieper [F.D.P.]: Das wurde auch ort der Fußballweltmeisterschaft im Jahr 2006 zu ent-
Zeit!) scheiden. Es gab ein denkbar knappes Ergebnis: Mit
Wir heben dazu alle noch bestehenden Unterschiede bei einem Stimmenverhältnis von 12:11 wurde entschieden,
den Förderleistungen auf. Damit wird beim BAföG die die Weltmeisterschaft in der Bundesrepublik Deutschland
soziale Einheit von Ost und West endlich Realität. stattfinden zu lassen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der
Wir machen noch ein Weiteres: Wir fördern über das F.D.P.)
BAföG mehr Interdisziplinarität; sie ist heute mehr
denn je erforderlich. Master-Studiengänge, die auf den Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Bachelor-Abschlüssen aufbauen, müssen in Zukunft nicht Angelika Volquartz von der Fraktion der CDU/CSU.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10813

(A) Angelika Volquartz (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Ich sage es noch einmal deutlich – es nützt auch gar (C)
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jetzt gilt es eigentlich nichts, wenn Sie hier wieder versuchen, Ihre Verzöge-
nur noch, die Weltmeisterschaft im BAföG zu gewinnen; rungstaktik mit nicht überzeugenden Argumenten zu ver-
dann ist der Sieg komplett. Nur, verehrte Kolleginnen und schleiern –: Die Bundesregierung hat diese Reform im-
Kollegen auf der linken Seite des Hauses, da haben wir mer wieder angekündigt. Doch eine Oppositionsfraktion,
doch allmählich unsere Zweifel. Frau Ministerin, Sie ha- die CDU/CSU-Fraktion, war die treibende Kraft. Wir ha-
ben eben gesagt: Wir machen eine einfache und durch- ben im Dezember letzten Jahres die Eckpunkte vorgelegt
schaubare BAföG-Reform. Dazu kann man eigentlich nur und nicht Sie.
sagen: Einfach und durchschaubar ist Ihre Verzögerungs-
taktik seit Ihrer Regierungsübernahme gewesen. Ich erin- (Beifall bei der CDU/CSU)
nere an die leeren Wahlversprechen, die Sie immer wie- Sie, Frau Ministerin, sind uns dann gefolgt. Rot-Grün hat
der gegeben haben. die wesentlichen Eckpunkte übernommen. Die Kriterien,
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) die Sie eben lobend erwähnt haben – stärkere Berück-
sichtigung von Kindererziehung während des Studiums,
Wir sind uns einig, dass unsere Wissensgesellschaft Erhöhung der Freibeträge usw. –, sind okay, damit bin ich
weiterentwickelt werden muss und dass wir Politiker die einverstanden. Aber dabei handelt es sich doch um unsere
Rahmendaten zu setzen bzw. zu verbessern haben. Wenn Vorschläge. Es ist sehr schön, dass Sie diese übernommen
wir davon sprechen, dass wir sie weiterentwickeln wol- haben.
len, dann müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass
grundsätzliche Entscheidungen getroffen werden müssen. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Uwe Küster
Sie haben heute die Green Card angesprochen. Dazu [SPD]: Sie reden, wir handeln!)
muss ich sehr deutlich sagen: In den Ländern, die bis
Es ist deutlich zu sagen, dass Rot-Grün bei den Bil-
1998/99 mehrheitlich von der SPD regiert waren, hat es
dungskrediten, die Sie jetzt so hervorheben, über die
im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich der
Schulen doch große Versäumnisse gegeben. Ziellinie herausgeschossen ist. Jedermann leuchtet doch
ein, dass dies zusätzliche Prüfungen erfordert und mehr
(Brigitte Wimmer [Karlsruhe] [SPD]: Ach, das Zeitaufwand bedeutet. Warum findet darüber keine sepa-
ist doch nicht wahr!) rate Diskussion statt? Herr Hilsberg hat vorhin gesagt, wir
– Dazu gibt es ganz klare Daten. Frau Wimmer, Sie kom- wollten die Reform torpedieren. Das ist völlig falsch, Herr
men nicht aus diesem Bereich. Sie kennen das nicht. Da- Kollege Hilsberg.
ran liegt es, dass Sie das nicht wissen. (Zuruf des Abg. Stephan Hilsberg [SPD])
(B) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Wir wollen eine separate Diskussion. Nehmen Sie das (D)
der F.D.P. – Brigitte Wimmer [Karlsruhe] bitte ganz ruhig zur Kenntnis. Dies sollte doch bloß wie-
[SPD]: Ich bin keine Rektorin, das ist klar!) der ein Alibi für ein Spiel auf Zeit sein.
Aus dem OECD-Bericht 2000 geht doch ganz deut- Wenn die BAföG-Studienförderung nach Ihrem Willen
lich hervor, dass lediglich 28 Prozent eines Jahrganges bei auf Teufel komm raus ohne ein zeitliches Limit zukünftig
uns mit dem Studium beginnen und nur 16 Prozent eines verlängert werden soll,
Jahrganges abschließen. Das ist auch ein Problem der
mangelnden Qualifikation an den Schulen, die gerade in (Stephan Hilsberg [SPD]: Das ist doch Un-
SPD-regierten Ländern zutage tritt. sinn!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und dann kann ich dazu nur deutlich sagen, dass das der ver-
der F.D.P. – Brigitte Wimmer [Karlsruhe] kehrte Weg ist. Langzeitstudierenden wird damit nicht der
[SPD]: Diese Behauptung ist längst widerlegt!) Weg in eine gute Zukunft bereitet. Ausnahmen sollten ge-
Dieser Entwicklung muss natürlich Einhalt geboten wer- macht werden – darin sind wir uns wieder einig –,
den. Es muss eine Trendwende herbeigeführt werden. beispielsweise sollte bei Alleinerziehenden mehr Rück-
sicht auf Studienverzögerungen genommen werden,
(Peter Dreßen [SPD]: Die haben wir doch aber diese Regelung darf nicht auf Bummelstudenten aus-
schon!) geweitet werden. Allerdings passen Bummelstudenten
Dazu gehört selbstverständlich auch die längst überfällige ausgezeichnet zu Ihnen, weil Sie eine Bummelreform ma-
BAföG-Reform. chen, die einfach nicht in Gang kommt.
Die Gefördertenquoten sind gesunken. Sie haben da- (Beifall bei der CDU/CSU – Bodo Seidenthal
bei aber einen wichtigen Punkt vergessen, Frau Bulmahn. [SPD]: Das nehmen Sie zurück! – Stephan
Sie haben nämlich vergessen zu erwähnen, dass es 1990 Hilsberg [SPD]: Das sagt eine Vertreterin der
eine Steuerreform gab, in deren Folge die Nettoein- CDU/CSU, die jahrelang nichts gemacht hat!)
kommen gestiegen sind. Auch dadurch hat sich eine Ver- Anstatt die Leistungsgewährung auf nicht akzeptable
änderung ergeben. Außerdem haben wir seit 1996 den Bereiche auszudehnen, stehen wir für eine Ausdehnung
Grundfreibetrag für Familien erhöht. Es muss einfach er- der Leistungen in andere, sinnvollere Richtungen. Eine
wähnt werden, was wir alles für die jungen Menschen ge- Zielgruppe für eine Leistungserweiterung sind die ein-
macht haben. kommensschwächeren Familien. Dazu hat mein Kollege
(Beifall bei der CDU/CSU) Gerhard Friedrich schon einiges ausgeführt. Der von ihm
10814 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Angelika Volquartz

(A) angesprochene Punkt unseres Programms fördert die Ak- BAföG-Reform auf den Tisch gelegt haben, nämlich Eck- (C)
zeptanz der BAföG-Leistung und schafft ein Stück mehr punkte für eine Reform innerhalb des bestehenden Sys-
soziale Gerechtigkeit, von der Sie immer reden, während tems. Viel Zeit ist zum Nachteil der Studierenden verstri-
wir entsprechend handeln. Sogar der DGB hat uns in die- chen.
ser Frage im Rahmen der Anhörung Recht gegeben.
Wenn in Sonntagsreden der Finanzminister, die Bil-
Eine zweite Zielgruppe der Leistungserweiterung sind dungsministerin und der Bundeskanzler immer wieder
zügig bzw. überdurchschnittlich gut Studierende. Wir mehr Bildung einfordern, aber im grauen Alltag die
wollen verstärkt Anreize für Studenten geben, die über- falschen Prioritäten setzen, dann kann ich nur sagen:
durchschnittliche Abschlüsse erzielen. In diesem Punkt große Sprünge wie ein Känguru und nichts im Beutel.
den Geförderten entgegenzukommen halten wir für den Man kann nicht mit dem Versprechen von Reformen und
richtigeren Weg, weil wir damit in die Zukunft der Stu- von einer Verdoppelung des Bildungshaushaltes auf Stim-
denten investieren. menfang gehen und hinterher Peanuts als große Leistung
Wer nun in Anbetracht der vorliegenden Papiere proklamieren. Unterschätzen Sie nicht die Intelligenz der
glaubt, der Boden für ein zügiges Gesetzgebungsverfah- Studierenden!
ren sei bereitet und die Geförderten könnten eventuell
Wir fordern: keine weiteren Verzögerungen durch die
noch in diesem Jahr mit einem Zuschlag rechnen, der irrt
Bundesregierung! Die Studierenden dürfen nicht weiter
leider gewaltig.
betrogen werden. Machen wir uns das Motto eines Plaka-
(Brigitte Wimmer [Karlsruhe] [SPD]: Davon tes in einer Berliner Universität zu Eigen: „Wann, wenn
war nie die Rede! Das wissen Sie genau!) nicht jetzt? Wo, wenn nicht hier? Wer, wenn nicht wir?“
Wir haben die entsprechenden Aussagen eben gehört. Nach diesem Motto: Es muss noch in diesem Jahr ge-
schehen.
Allerdings gibt es eine Diskrepanz, Frau Bulmahn. Ihr
Staatssekretär hat in der letzten Woche im Ausschuss ge- Herzlichen Dank.
sagt, im November/Dezember gebe es einen Gesetzent- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. –
wurf. Sie sprechen jetzt vom Spätsommer. Dr. Uwe Küster [SPD]: Von der PDS lernen
(Brigitte Wimmer [Karlsruhe] [SPD]: Ihr kennt heißt siegen lernen! Mein Gott!)
den Unterschied zwischen Referentenentwurf
und Gesetzentwurf nicht!) Vizepräsidentin Petra Bläss: Ich schließe die Aus-
Hoffentlich haben wir im Spätsommer noch kein Glatteis. sprache.
(B) Dann würde die Gangart etwas härter. Wir müssten dann Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp- (D)
nämlich sagen, dass man der Bundesregierung einfach
fehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und
nicht mehr glauben kann. Immer wieder wird etwas
Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Fraktionen
versprochen und nicht gehalten.
der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen zur Moder-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) nisierung der Ausbildungsförderung für Studierende,
Ich finde es in diesem Zusammenhang besonders amü- Drucksache 14/3730.
sant, dass Sie am 4. Januar dieses Jahres einen BAföG- Der Ausschuss empfiehlt unter Nr.1 seiner Beschluss-
Bericht veröffentlichen, in dem Sie die Eckpunkte für empfehlung, den Antrag auf Drucksache 14/2905 anzu-
eine Reform Ende 1999 ankündigen. nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
(Dr.-Ing. Rainer Jork [CDU/CSU]: Hört! Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
Hört!) fehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU-Fraktion
und PDS-Fraktion bei Enthaltung der F.D.P.-Fraktion an-
Aber am 4. Januar liegt noch nichts auf dem Tisch. Es genommen.
gehört schon einiges dazu, zu glauben, dass das vielleicht
niemandem auffällt. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner
Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion der
(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Unverfroren!)
CDU/CSU mit dem Titel „Eckpunkte für eine BAföG-Re-
Als durchsichtige Erklärung in all dieser Zeit wird die form“, Drucksache 14/2031, abzulehnen. Wer stimmt für
rechtliche und finanzielle Prüfung des Sockelmodells an- diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltun-
geführt. gen? – Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen
Es ist schon mehrfach gesagt worden, aber man muss von CDU/CSU-Fraktion und PDS-Fraktion bei Ent-
es noch einmal deutlich sagen: Mitte Januar – ich glaube, haltung der F.D.P.-Fraktion angenommen.
es ist der 14. Januar dieses Jahres gewesen – hat der Bun- Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 3 seiner
deskanzler Sie schlicht und ergreifend einen Kopf kürzer Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion der PDS
gemacht. Er hat nämlich gesagt: Schluss! Er hat in gewis- zur strukturellen Erneuerung der Ausbildungsförderung,
ser Weise gesagt, es müsse eine BAföG-Reform sein, wie Drucksache 14/2789, abzulehnen. Wer stimmt für diese
sie die CDU/CSU vorschlägt. Da hat er Recht gehabt. Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –
Die Folge ist gewesen, dass Sie und auch Vertreter von Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der
Rot-Grün entsprechende Vorschläge für Eckpunkte einer PDS-Fraktion angenommen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10815
Vizepräsidentin Petra Bläss

(A) Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 4 seiner Beschluss- f) Beratung des Antrags der Abgeordneten (C)
empfehlung, den 13. Bericht der Bundesregierung nach Dr. Evelyn Kenzler, Ulla Jelpke, Petra Pau,
§ 35 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes auf weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
Drucksache 14/1927 zur Kenntnis zu nehmen. PDS
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen- Änderung des Ausländergesetzes
probe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist – Drucksache 14/668 –
einstimmig angenommen. Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a und 27 b, 27 d g) Beratung des Antrags der Abgeordneten
bis 27 h sowie Zusatzpunkt 5 auf: Dr. Helmut Haussmann, Ulrich Irmer,
27. Überweisungen im vereinfachten Verfahren Hildebrecht Braun (Augsburg), weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der F.D.P.
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
Keine ersatzlosen Schließungen von
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
Auslandsvertretungen
zur Änderung von Vorschriften über
die Tätigkeit der Wirtschaftsprüfer – Drucksache 14/1751 –
(Wirtschaftsprüferordnungs-Änderungs- Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)
gesetz – WPOÄG) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
– Drucksache 14/3649 – Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Union
Rechtsausschuss Ausschuss für Kultur und Medien
Finanzausschuss Haushaltsausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung h) Beratung des Antrags der Abgeordneten
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu Angelika Mertens, Angelika Graf (Rosen-
dem Protokoll vom 22. März 2000 zur heim), Hans-Werner Bertl, weiterer Abge-
Änderung des Übereinkommens vom ordneter und der Fraktion der SPD sowie der
9. Februar 1994 über die Erhebung von Abgeordneten Franziska Eichstädt-Bohlig,
Gebühren für die Benutzung bestimmter Kerstin Müller (Köln), Albert Schmidt (Hitz-
Straßen mit schweren Nutzfahrzeugen hofen), weiterer Abgeordneter und der Frak-
(B) – Drucksache 14/3651 – tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (D)
Überweisungsvorschlag: Bekämpfung der illegalen Kabotage und
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) des Sozialdumpings im Transportgewerbe
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi- – Drucksache 14/3702 –
cherheit Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)
Innenausschuss
d) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge- Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
brachten Entwurfs eines Fünfzehnten Ge- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
setzes zur Änderung des Bundeswahlge- Union
setzes ZP 5 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfah-
– Drucksache 14/3764 – ren
Überweisungsvorschlag: Beratung des Antrags der Abgeordneten Brunhilde
Innenausschuss (f) Irber, Dr. Eberhard Brecht, Annette Faße, weiterer
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts-
ordnung
Abgeordneter und der Fraktion der SPD, der Ab-
Rechtsausschuss geordneten Sylvia Voß, Matthias Berninger, Thea
Dückert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rita BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der Abgeordneten
Streb-Hesse, Dr. Margrit Wetzel, Ingrid Ernst Burgbacher, Hildebrecht Braun (Augsburg),
Becker-Inglau, weiterer Abgeordneter und Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der
der Fraktion der SPD sowie der Abgeordne- Fraktion der F.D.P. sowie der Abgeordneten Rosel
ten Albert Schmidt (Hitzhofen), Kerstin Neuhäuser, Dr. Heinrich Fink, Rolf Kutzmutz,
Müller (Köln), Rezzo Schlauch und der Frak- Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Sicherung der Volksfeste, des Markthandels
Regelung des Anwohnerparkens durch und des Schaustellergewerbes
Städte und Gemeinden
– Drucksache 14/3786 –
– Drucksache 14/1258 – Überweisungsvorschlag:
Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Tourismus (f)
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Finanzausschuss
10816 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Vizepräsidentin Petra Bläss

(A) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie – Drucksache 14/3274 – (C)


Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Erste Beratung 105. Sitzung)
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung schusses (4. Ausschuss)
Ausschuss für Kultur und Medien – Drucksache 14/3788 –
Haushaltsausschuss
Berichterstattung:
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an Abgeordnete Sebastian Edathy
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu Dr. Hans-Peter Uhl
überweisen. Cem Özdemir
Die Vorlage auf Drucksache 14/668 soll zusätzlich an Dr. Max Stadler
den Innenausschuss überwiesen werden. Petra Pau

Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
sind die Überweisungen so beschlossen. schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist damit in zweiter Beratung gegen die Stimmen der
Ich rufe auf die Tagesordnungspunkte 28 a bis 28 m so-
PDS-Fraktion angenommen.
wie Zusatzpunkte 6 a bis 6 e. Es handelt sich um die Be-
schlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache Dritte Beratung
vorgesehen ist. und Schlussabstimmung.
Wir kommen zuerst zum Tagesordnungspunkt 28 a: Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Ent-
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen haltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit gegen die Stim-
SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge- men der PDS-Fraktion angenommen.
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Schornsteinfegergesetzes und anderer Tagesordnungspunkt 28 c:
schornsteinfegerrechtlicher Vorschriften
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen
– Drucksache 14/3333 – SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-
(Erste Beratung 105. Sitzung) brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- produkthaftungsrechtlicher Vorschriften
(B) gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes – Drucksache 14/3371 – (D)
zur Änderung des Schornsteinfegergesetzes (Erste Beratung 105. Sitzung)
und anderer schornsteinfegerrechtlicher Vor-
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schriften schusses (6. Ausschuss)
– Drucksache 14/3650 – – Drucksache 14/3756 –
(Erste Beratung 111. Sitzung) Berichterstattung:
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Abgeordnete Margot von Renesse
ses für Wirtschaft und Technologie (9. Ausschuss) Norbert Röttgen
– Drucksache 14/3753 – Volker Beck (Köln)
Rainer Funke
Berichterstattung: Sabine Jünger
Abgeordneter Karl-Heinz Scherhag
Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus- 14/3756, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen.
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? –
wurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Be-
Dritte Beratung ratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenom-
men.
und Schlussabstimmung.
Dritte Beratung
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Ent- und Schlussabstimmung.
haltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig an- Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
genommen. wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig ange-
Tagesordnungspunkt 28 b: nommen.
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Ich rufe Tagesordnungspunkt 28 d auf:
Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsgeset- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
zes/EWG gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10817
Vizepräsidentin Petra Bläss

(A) zur Änderung des Gerätesicherheitsgesetzes Michaele Hustedt (C)


und des Chemikaliengesetzes Birgit Homburger
– Drucksache 14/3491 – Eva-Maria Bulling-Schröter
(Erste Beratung 108. Sitzung) Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf Druck-
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- sache 14/3489 in der Ausschussfassung zuzustimmen.
ses für Arbeit und Sozialordnung (11. Ausschuss) Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-
probe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
– Drucksache 14/3798 – gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion, der F.D.P.-
Berichterstattung: Fraktion und der PDS-Fraktion angenommen. Ich ver-
Abgeordnete Dr. Heidi Knake-Werner weise darauf, dass es eine schriftliche Erklärung der Kol-
legin Eva Bulling-Schröter, PDS-Fraktion, zu ihrem Ab-
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus- stimmungsverhalten gibt.
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Peti-
wurf ist damit in zweiter Beratung bei Gegenstimmen der tionsausschusses.
PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 g:
Dritte Beratung
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
und Schlussabstimmung. ausschusses (2. Ausschuss)
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen Sammelübersicht 175 zu Petitionen
wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Ent- – Drucksache 14/3687 –
haltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit gegen die Stim-
men der PDS-Fraktion angenommen. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Sammelübersicht 175 ist damit einstimmig an-
Tagesordnungspunkt 28 e: genommen.
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von Tagesordnungspunkt 28 h:
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ei-
nes Gesetzes zu dem Abkommen vom 21. Mai Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
1999 zwischen der Bundesrepublik Deutsch- ausschusses (2. Ausschuss)
land und dem Königreich der Niederlande über Sammelübersicht 176 zu Petitionen
die gegenseitige Amtshilfe bei der Beitreibung – Drucksache 14/3688 –
von Steueransprüchen und der Bekanntgabe
(B) Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- (D)
von Schriftstücken
tungen? – Sammelübersicht 176 ist ebenfalls einstimmig
– Drucksache 14/3077 – angenommen.
(Erste Beratung 99. Sitzung)
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- Tagesordnungspunkt 28 i:
schusses (7. Ausschuss) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
– Drucksache 14/3698 – ausschusses (2. Ausschuss)
Berichterstattung: Sammelübersicht 177 zu Petitionen
Abgeordnete Dieter Grasedieck – Drucksache 14/3689 –
Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach)
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache tungen? – Sammelübersicht 177 ist mit den Stimmen des
14/3698, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. ganzen Hauses angenommen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Ent- Tagesordnungspunkt 28 j:
haltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ganzen Hauses angenommen. ausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 178 zu Petitionen
Tagesordnungspunkt 28 f:
– Drucksache 14/3690 –
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der Ver- tungen? – Sammelübersicht 178 ist gegen die Stimmen
ordnung der Bundesregierung der CDU/CSU-, der F.D.P.- und der PDS-Fraktion ange-
Verordnung über die Erzeugung von Strom aus nommen.
Biomasse (Biomasseverordnung – BiomasseV)
Tagesordnungspunkt 28 k:
– Drucksachen 14/3489, 14/3574 Nr. 2.1,
14/3801 – Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)
Berichterstattung:
Abgeordnete Monika Ganseforth Sammelübersicht 179 zu Petitionen
Franz Obermeier – Drucksache 14/3691 –
10818 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Vizepräsidentin Petra Bläss

(A) Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Zusatzpunkt 6 d: (C)
tungen? – Sammelübersicht 179 ist gegen die Stimmen Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
der CDU/CSU- und der F.D.P.-Fraktion angenommen. ausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 185 zu Petitionen
Tagesordnungspunkt 28 l:
– Drucksache 14/3796 –
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss) Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 185 ist gegen die Stim-
Sammelübersicht 180 zu Petitionen men der CDU/CSU- und der F.D.P.-Fraktion angenom-
– Drucksache 14/3692 – men.
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Sammelübersicht 180 ist gegen die Stimmen Wir kommen zur letzten Abstimmung, und zwar zu
der CDU/CSU-Fraktion bei Enthaltung der F.D.P.-Frak- Tagesordnungspunkt 6 e:
tion angenommen. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)
Tagesordnungspunkt 28 m: Sammelübersicht 186 zu Petitionen
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- – Drucksache 14/3797 –
ausschusses (2. Ausschuss) Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
Sammelübersicht 181 zu Petitionen tungen? – Die Sammelübersicht 186 ist gegen die Stim-
– Drucksache 14/3693 – men der PDS-Fraktion angenommen.
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Ich bedanke mich ausdrücklich für die Disziplin bei al-
tungen? – Damit ist Sammelübersicht 181 gegen die Stim- len Fraktionen bei diesem Abstimmungsmarathon.
men der PDS-Fraktion angenommen.
Ich rufe nun Zusatzpunkt 7 auf:
Ich rufe die Zusatzpunkte 6 a bis 6 e auf, weitere Be- Aktuelle Stunde
schlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Ein biss- auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU
chen Geduld brauchen Sie also noch. Absenkung der Beiträge für die Bezieher von
Arbeitslosenhilfe und die Folgen für die gesetz-
Zusatzpunkt 6 a: lichen Krankenkassen
(B) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- (D)
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Fraktion
ausschusses (2. Ausschuss) der CDU/CSU hat der Herr Kollege Wolfgang Lohmann.
Sammelübersicht 182 zu Petitionen
– Drucksache 14/3793 – Wolfgang Lohmann (Lüdenscheid) (CDU/CSU):
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Her-
tungen? – Damit ist die Sammelübersicht 182 mit den ren! In wenigen Tagen gehen wir in die Sommerpause.
Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Man kann, wenn man daran denkt, dass sicherlich auch im
Jahre 2002 die parlamentarischen Beratungen zu dieser
Zeit enden werden, sagen: Wir befinden uns in der Mitte
Zusatzpunkt 6 b: der Legislaturperiode. Wenn ich eine Überschrift für die
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- vergangenen zwei Jahre, was die Gesundheitspolitik an-
ausschusses (2. Ausschuss) belangt, suchen würde, dann würde ich schreiben: Pleiten,
Sammelübersicht 183 zu Petitionen Pech und Pannen, und zwar nicht nur handwerklich, wie
es von Ihren eigenen Leuten, unter anderem von Herrn
– Drucksache 14/3794 – Dreßler, genannt worden ist, sondern vor allen Dingen
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- auch inhaltlich. Ich erinnere an das Vorschaltgesetz bzw.
tungen? – Damit ist die Sammelübersicht 183 mit den an das Solidaritätsstärkungsgesetz, an die Gesundheitsre-
Stimmen des ganzen Hauses angenommen. form 2000, an Änderungsanträge der Koalitionsfraktio-
nen im Umfang von 345 Seiten und an fehlende Unterla-
Zusatzpunkt 6 c: gen bei der zweiten und dritten Lesung im Bundestag so-
wie im Bundesrat. – Das nur als Stichworte.
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss) Nun leben wir mit sektoralen Budgets, vor denen wir
immer gewarnt haben. Die ersten, in einigen Bereichen
Sammelübersicht 184 zu Petitionen
sogar katastrophalen Folgen für die Versorgung werden
– Drucksache 14/3795 – sichtbar. Wir hatten gerade gestern eine öffentliche An-
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- hörung zu der Frage der Honorierung der psychothera-
tungen? – Die Sammelübersicht 184 ist gegen die Stim- peutischen Leistungen. Da ist schließlich jedem – wohl
auch jedem in der Regierung – deutlich geworden,
men der CDU/CSU-, der F.D.P.- und der PDS-Fraktion
angenommen. (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Hoffentlich!)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10819
Wolfgang Lohmann (Lüdenscheid)

(A) wo wir gelandet sind und welche Bedingungen wir den tere Defizite in der gesetzlichen Krankenkasse sind also (C)
Psychotherapeuten, die nach unserem gemeinsamen Wil- vorprogrammiert.
len in das bestehende System integriert wurden, bei der
Das Ganze summiert sich nach Berechnungen der ge-
Verrichtung ihrer Arbeit zumuten. Inzwischen – ich habe
setzlichen Krankenversicherung auf einen Betrag von
mir sagen lassen: gerade gestern – hat der Petitionsaus-
mindestens 5,3 Milliarden DM.
schuss mit den Stimmen der SPD die Forderung aufge-
stellt, hier etwas zu ändern. (Ulf Fink [CDU/CSU]: Hört! Hört!)
(Detlef Parr [F.D.P.]: Hört! Hört!) Denn ich erinnere daran, dass die Reduzierung der Zu-
zahlung zu Arzneimitteln zu Ausfällen in Höhe von 1 Mil-
Es ist also dringender Handlungsbedarf gegeben.
liarde DM, die Aussetzung des Krankenhausnotopfers zu
Das alles ist nur die Spitze des Eisbergs. Ausfällen in Höhe von etwa 700 Millionen DM, die Aus-
weitung von Leistungen im Rahmen der beschlossenen
(Dr. Uwe Küster [SPD]: Nun mal nicht so
Gesetze im Bereich der Soziotherapie zu Mehrausgaben
spitze Bemerkungen hier!)
in Höhe von 1 Milliarde DM und Ausnahmeregelungen
Auch in manchen anderen Bereichen bestehen deutliche im Bereich der Krankenhäuser zu Mehrausgaben in Höhe
Defizite, wenn Sie an chronische Erkrankungen, bei- von etwa 2 Milliarden DM führen werden. Wenn das, was
spielsweise an Diabeteskranke oder Krebskranke, den- ich soeben im Hinblick auf die Kürzung der Renten fest-
ken. Zum Beispiel werden keine Blutzuckermesschips gestellt habe, hinzukommt, haben wir ein Defizit von
bzw. -streifen mehr zur Verfügung gestellt. Es gibt also in- 5,3 Milliarden DM. In einigen Berechnungen wird sogar
zwischen überall Defizite. von 7,5 Milliarden DM ausgegangen.
Wenn wir schon bisher an Ihrer Gestaltungsfähigkeit, Dass dies natürlich Beitragssatzerhöhungen geradezu
Frau Ministerin, Zweifel hatten, dann haben wir vor allem provoziert bzw. erforderlich macht, dürfte keine Frage
angesichts des Themas, um das es heute geht, noch mehr sein. Wir stellen auch die Frage, wie eine solche Tatsache
Zweifel an Ihrer Durchsetzungsfähigkeit beispielsweise in Zusammenhang mit den Versprechungen und Vorhaben
im Kabinett. steht, die Sie immer genannt haben: dass ganz oben auf
(Detlef Parr [F.D.P.]: Leider ja!) der Agenda – das ist dringend notwendig – die Beitrags-
satzstabilität steht.
Da versucht der Finanzminister, die Sanierung des Haus-
haltes unter anderem durch den Griff in die Kassen von (Zurufe von der CDU/CSU: Sehr richtig!)
Pflegeversicherung und Krankenversicherung voranzu-
(B) treiben. Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Kollege (D)
(Detlef Parr [F.D.P.]: Unanständig!) Lohmann, wir haben eine Aktuelle Stunde. Ich muss Sie
an Ihre Redezeit erinnern.
Bereits im vergangenen Jahr sind der Pflegeversicherung
400 Millionen DM entzogen worden. Auf zusätzlich
248 Millionen DM bemisst sich der Betrag, der aufgrund Wolfgang Lohmann (Lüdenscheid) (CDU/CSU): Ist
der Tatsache der niedrigeren Rentenanpassung, die sich meine Redezeit schon so schnell zu Ende? Es tut mir sehr
nur nach der Inflationsrate richten wird, fehlen wird. Da- Leid.
durch werden erhebliche Defizite entstehen, was offen-
sichtlich von weiten Teilen der Koalition gewollt ist. Vizepräsidentin Petra Bläss: Ja, das geht immer
Wenn nun gemäß dem, was uns inzwischen im Zusam- recht schnell.
menhang mit dem Gesetzentwurf zur Gleichstellung
gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften vorliegt, Wolfgang Lohmann (Lüdenscheid) (CDU/CSU):
daran gedacht wird, Partner von versicherten Lesben und Dann komme ich jetzt ganz schnell zum Ende meiner
Schwulen, sofern sie eine solche Lebensgemeinschaft Ausführungen: Ich appelliere in diesem Zusammenhang
eingehen, in Zukunft beitragsfrei in die gesetzliche Kran- sowohl vor allen Dingen an Sie, Frau Schaich-Walch, an
kenversicherung aufzunehmen, dann fragt man sich wirk- alle anderen in der SPD-Fraktion, aber auch an die grüne
lich, ob – im bildlichen Sinne – die Rechte noch weiß, was Fraktion. Denn wenn man Zitate von Ihnen, die Sie selbst
die Linke eigentlich tut. in Veröffentlichungen etwa in der „Süddeutschen Zei-
Gleichzeitig stellt man sich in weiten Teilen – offen- tung“ vor wenigen Tagen gebracht haben, vorlesen würde –
sichtlich auch in der Regierung – die Frage – wir halten das kann ich aber nicht mehr tun –, dann würde man fest-
das allerdings für weit über das Ziel hinausgeschossen –, stellen, dass absolut klar ist, dass die Kassen, wenn Ihre
ob es sich die gesetzliche Krankenversicherung auf Dauer Vorhaben umgesetzt werden, die Beiträge im kommenden
überhaupt noch leisten kann, Familienmitglieder, vor al- Jahr erhöhen müssen.
len Dingen nicht berufstätige und nicht Kinder erziehende Herr Dreßler beispielsweise hält dies für unzumutbar.
Frauen, kostenlos mit in die gesetzliche Kranken- Sogar Herr Metzger warnt dringend vor einer solchen Lö-
versicherung einzubeziehen. Gleichzeitig aber will man sung. Man kann doch nur sagen: Wenn Sie die weitere Ab-
den Beschluss fassen, dass Lebensgemeinschaften, die – wärtsspirale wirklich aufhalten und eine weitere Ver-
jedenfalls nach unserer Auffassung – mit einer Ehe nicht schlechterung der Versorgung vermeiden wollen, dann
vergleichbar sind, kostenlos miteinbezogen werden. Wei- verhindern Sie im Herbst dieses Jahres bei der zweiten
10820 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Wolfgang Lohmann (Lüdenscheid)

(A) und dritten Lesung, dass eine solche Regelung eingeführt Es ist doch der gigantische Schuldenberg der Kohl-Re- (C)
wird. gierung, der eine Haushaltssanierung, an der sich alle
Danke. Ressorts beteiligen müssen, unausweichlich macht. Sie
haben uns ungeordnete Staatsfinanzen und einen Schul-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) denberg hinterlassen,
(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/
Vizepräsidentin Petra Bläss: Für die SPD-Fraktion CSU]: Wer nimmt Ihnen denn so was noch ab,
spricht jetzt die Kollegin Regina Schmidt-Zadel. Frau Schmidt-Zadel! Sie müssen sich ja selbst
(Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Ich bin bemühen, nicht zu lachen!)
gespannt, wie Sie das verteidigen wollen!) der uns zwingt, jede vierte Mark – hören Sie gut zu – für
Zins und Tilgung zu verwenden. Die Schulden hatten am
Regina Schmidt-Zadel (SPD): Frau Präsidentin! Ende Ihrer Regierungszeit mit 1,5 Billionen DM den
Meine Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und höchsten Stand in der Geschichte der Bundesrepublik.
Kollegen von der Union, ich spreche Sie heute einmal als 80 Prozent davon sind während Ihrer Regierungsverant-
diejenigen an, die diese Aktuelle Stunde beantragt haben. wortung verursacht worden.
(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] Ich betone noch einmal: Die Absenkung der Beiträge
[CDU/CSU]: War doch notwendig!) von Arbeitslosenhilfebeziehern zur GKV und zur Pflege-
Herr Lohmann, eines gleich vorweg: Wer 16 Jahre im versicherung ist eine bittere Pille. Ich wäre froh, wenn wir
Glashaus saß, der sollte eigentlich nicht mit Steinen wer- sie nicht schlucken müssten.
fen. (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/
(Beifall bei der SPD – Lachen bei der CDU/ CSU]: Dann spucken Sie sie doch aus! – Zuruf
CSU – Detlef Parr [F.D.P.]: Jetzt kommt die alte von der F.D.P.: Was heißt hier: eine?)
Leier wieder!) Lassen Sie mich aber folgende Punkte anmerken – ich
Aber Sie konnten sich offenbar wieder einmal nicht weise an dieser Stelle noch einmal darauf hin –: Hätten
zurückhalten. Zu verlockend war es, die Regierungsver- sich die Union bzw. die Mehrheit nicht der Reform ver-
einbarung – ich betone ausdrücklich: die Regierungs- weigert und nicht wichtige Teile der Gesundheitsreform
vereinbarung – zur Absenkung der GKV-Beträge für Ar- blockiert, wäre dieses Opfer sogar noch verkraftbar ge-
beitslosenhilfebezieher als Stein am Wegesrand auf- wesen. Nicht die hier diskutierte Beitragsabsenkung, son-
zunehmen und als Munition für Ihr politisches Tagesge- dern Ihre Verweigerungshaltung bei wichtigen Fragen,
(B) schäft nutzen. zum Beispiel bei der Reform der Krankenhausfinanzie- (D)
(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ rung, ist die wirkliche Belastung der GKV.
CSU]: Sie haben ihn ja da hingelegt!) (Beifall bei der SPD)
Auch ich gebe unumwunden zu: Ein Drittel der Kosten bei der gesetzlichen Kranken-
(Zurufe von der CDU/CSU: Aha!) versicherung entfallen auf den stationären Bereich. Ihre
Reformblockade kostet die Kassen jährlich Milliarden-
Die Belastungen der gesetzlichen Krankenkasse in Höhe
von 1,2 Milliarden DM – sagen Sie nicht „Aha“; warten summen – ein Vielfaches mehr als die 1,2 Milliarden DM,
Sie ab – durch die Absenkung der Beiträge, die aus dem über die wir heute diskutieren. Die Union hat während ih-
Etat des Bundesministers für Arbeit gezahlt wurden, sind rer Regierungszeit noch weit größere Verschiebeaktionen
auch für uns eine bittere Pille, die nicht leicht zu veranstaltet.
schlucken ist. (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/
(Zuruf von der F.D.P.: Warum lassen Sie es sich CSU]: Nun sprechen Sie doch mal zur Sache!)
dann gefallen? – Wolfgang Lohmann [Lüden- Schlimmer noch: Herr Lohmann, es war doch geradezu
scheid] [CDU/CSU]: Ausspucken!) das Markenzeichen Ihrer Politik, Kosten, die eigentlich
Dies sind unerfreuliche Momente für jeden Sozial- und die Allgemeinheit zu tragen hätte, auf die Beitragszahler
Gesundheitspolitiker, in denen man mit sich ringen muss. der Sozialversicherungssysteme abzuwälzen.
(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/
[CDU/CSU]: Und nun?) CSU]: Das nimmt Ihnen doch keiner mehr ab!)
Aber während Ihrer Regierungszeit ist es Ihnen genauso Zu keiner Zeit war der Anteil der versicherungsfremden
gegangen. Dies habe ich vielfach in Gesprächen mit Ihnen Leistungen in der Renten- und Krankenversicherung
gehört. Aber – jetzt werfe ich den Stein zurück – es ist höher als zu Ihrer Regierungszeit. Wenn Sie und Herr
letztlich das Ergebnis Ihrer 16 Jahre andauernden Politik Seehofer heute wegen der Absenkung der Beiträge von
des Schuldenanhäufens, Arbeitslosenhilfebeziehern von Verschiebebahnhöfen
(Beifall bei der SPD – Lachen bei der sprechen,
CDU/CSU und der F.D.P.) (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/
die die rot-grüne Bundesregierung zu Sparmaßnahmen CSU]: Sie tun es doch selbst! Frau Schaich-
zwingt, die wir alle gerne vermieden hätten. Walch und Herr Dreßler sagen das doch auch!)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10821
Regina Schmidt-Zadel

(A) dann verschweigen Sie, dass Seehofer selbst über Jahre rin weiteren zusätzlichen Belastungen ausgesetzt. Sie, (C)
der Bahnhofsvorsteher eines gigantischen Verschiebe- Frau Ministerin, haben sie zum wiederholten Mal
hauptbahnhofs war. schmählich im Stich gelassen.
(Beifall bei der SPD) (Beifall bei der F.D.P. – Dr. Dieter Thomae
Die hier diskutierte Absenkung der Beiträge ist kein [F.D.P.]: Das kann man so sagen!)
Selbstzweck. Sie dient auch nicht der Vorbereitung der Krankenschwestern, Arzthelferinnen, Ärzte, Apothe-
Systemveränderung innerhalb der Sozialversicherungen, ker, Patientinnen und Patienten, alle sind sich einig: We-
wie Sie es wollen und wie es bei Ihren Verschiebebahn- gen der willkürlichen Ausgabenbegrenzung, die Sie ge-
höfen war. Nein, die Absenkung dient zielgerichtet dem
rade weiter verschärfen wollen, müssen medizinische
Schuldenabbau. Auch hier besteht ein Unterschied: Ihre
Leistungen wie Krankengymnastik und Sprachheilthera-
Verschiebeaktionen haben die Schulden nicht verringert,
sondern sogar noch wachsen lassen. Ihre Hinterlassen- pien eingeschränkt werden, können Krankenhäuser Ope-
schaft macht uns das Leben jetzt schwer und wir haben rationen nicht im erforderlichen Maße durchführen –
mit ihr zu kämpfen. Wartelisten drohen nicht nur, sondern werden zukünftig
zum Alltag gehören –, werden Medikamente nicht mehr
Danke schön. wie gewohnt verschrieben und die Patienten auf billigere
(Beifall bei der SPD – Ulf Fink [CDU/CSU]: Arzneimittel verwiesen und fehlt die Zeit für ausrei-
Das glauben Sie doch selber nicht!) chende Zuwendung in der Krankenpflege, um nur einige
Folgen Ihrer verfehlten Gesundheitspolitik zu beschrei-
ben.
Vizepräsidentin Petra Bläss: Für die F.D.P.-Frak-
tion spricht jetzt der Kollege Detlef Parr. Das belastet gerade diejenigen, von denen SPD und
Grüne behaupten, sie lägen ihnen besonders am Herzen:
Detlef Parr (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine Damen die chronisch Kranken. Gerade hier – Frau Schmidt-
und Herren! Wenn sich SPD-Kollegen auf vielen Veran- Zadel, da sind wir uns völlig einig –, bei den Volkskrank-
staltungen wie vor der sozialdemokratischen Seniorenar- heiten Diabetes, Rheuma, Asthma sowie bei Krebs-
beitsgemeinschaft „60 plus“ zu der Behauptung verstei- erkrankungen, zeichnet sich ein zusätzlicher Versor-
gen, gungsbedarf ab. Besondere Versorgungsdefizite in der
Arzneimitteltherapie bestehen bei Langzeiterkrankungen
(Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie gehören zur Ar- wie MS, Hepatitis B und C sowie bei Aids. Sie interessie-
beitsgemeinschaft „20 minus“!) ren sich offensichtlich nicht für die Krankheitsbilder in (D)
(B)
die Attraktivität unseres Gesundheitswesens werde sich unserer Gesellschaft. Hauptsache, der Plan und die Ideo-
bei gleich bleibenden Beiträgen weiter verbessern, und logie stimmen.
zur gleichen Zeit die Bundesgesundheitsministerin sich (Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Das ist ja mehr
dem Diktat des Finanzministers unterwirft und mal eben
als billig!)
1,2 Milliarden DM aus den Taschen der Krankenversi-
cherten ihrem Kabinettskollegen zuschiebt, dann beweist Statt auf das alles zu reagieren, sorgen Sie dafür, dass jetzt
das, dass sich Ihre Gesundheitspolitik mehr und mehr auf noch weniger Geld in den Kassen ist. Durch Ihre Politik
bewusste Irreführung gründet. zwingen Sie die Ärzte zum Verschreiben billigster Gene-
rika, also zur Umstellung ihrer Patienten auf andere als
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
ihre gewohnten Präparate. Sie greifen rücksichtslos in das
Das ist besonders schlimm, wenn dies gegenüber gut- Vertrauensverhältnis von Arzt und Patient ein.
gläubigen älteren Menschen erfolgt; das ist einfach nicht
in Ordnung. (Lachen der Abg. Regina Schmidt-Zadel
[SPD])
Nach der Pflegeversicherung im letzten Jahr ist jetzt
also die Krankenversicherung mit 1,2 Milliarden DM Sie sprechen gleichzeitig, Frau Schmidt-Zadel, von ethi-
jährlich betroffen. Wohlgemerkt, es geht nicht um die Re- schen Verpflichtungen, die unsere Heilberufler selbst bei
duzierung von Steuerzuschüssen, sondern um einen dreis- bestem Willen nicht mehr erfüllen können, wenn Sie so
ten Griff in die Tasche der Versicherten und der Arbeitge- weitermachen wie bisher.
ber. Ist das Beitragssatzstabilität, meine Damen und (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: So ist es!)
Herren? Dieses Ziel gehört bereits seit längerem offen-
sichtlich in die Welt Ihrer Träume. Sie sollten uns nicht wieder mit Ihrer gebetsmühlenar-
tigen Wiederholung angeblicher Wirtschaftlichkeitsreser-
Zu der Zeit, als die Ministerin sich mit diesem üblen ven kommen. Selbst wenn es sie gibt – Sie haben sie noch
Schachzug einverstanden erklärte, demonstrierte in Ber- nicht nachgewiesen; die 20 Milliarden DM stehen im
lin das Bündnis „Gesundheit 2000“ gegen die Folgen Raum, ohne dass Sie je spezifiziert hätten, woher Sie sie
grün-roter Gesundheitspolitik – ein Bündnis, das die Ge-
holen wollen –,
sundheitsberufe in Deutschland repräsentiert: 4,2 Milli-
onen direkt und indirekt Beschäftigte, 38 Organisationen. (Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Davon habe
Sie alle werden durch die Federstrichaktion der Ministe- ich doch gar nicht gesprochen!)
10822 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Detlef Parr

(A) dann müssen sie erst realisiert werden, bevor man sie ab- mit den zur Verfügung stehenden Finanzen ohne Ein- (C)
schöpfen kann. schränkung zu bezahlen.
(Zuruf von der SPD: Die F.D.P. versteht vom
Wirtschaften nichts! Null Ahnung vom Wirt- Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Kollege Parr, Sie
schaften!) haben das Stichwort „aufhören“ schon genannt. Ich muss
Sie an die Redezeit in der Aktuellen Stunde erinnern.
Das haben mittlerweile sogar die gesetzlichen Kranken-
kassen begriffen und deshalb gegen Ihren dreisten Milli-
ardenzugriff heftig protestiert und Beitragssteigerungen Detlef Parr (F.D.P.): Es ist mein letzter Satz, Frau Prä-
angekündigt. sidentin.
Behaupten Sie bitte auch nicht, dass das alles mit Ihrem (Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Ich habe die
Globalbudget viel besser zu bewältigen sei. Wir wissen, Zeit eingehalten!)
dass Sie nicht einmal den Mut hatten, im ursprünglichen
Wir sollten endlich die demographische Entwicklung mit
Entwurf zur GKV-Gesundheitsreform auf sektorale Bud-
der gewaltig wachsenden Zahl älterer Menschen ernst
gets zu verzichten. Es war nicht der böse Bundesrat, der
nehmen und ehrlich sagen, dass der immense medizini-
sie hat fortbestehen lassen, das sind ganz allein Sie gewe-
sche Fortschritt nicht zum Nulltarif zu haben ist.
sen. Auch hier wird ein neuer Weg beschritten.
Korrigieren Sie Ihre Entscheidung, lassen Sie die
Sie gefährden mit Ihrer Politik entweder die medizini-
1,2 Milliarden DM im System! Sie werden dringend ge-
sche Versorgung oder Sie sorgen über steigende Beitrags-
braucht.
sätze für eine Gefährdung des Wirtschaftsstandorts
Deutschland. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Haben sie
schon!) Vizepräsidentin Petra Bläss: Bevor ich der Kolle-
gin Katrin Göring-Eckardt das Wort erteile, bitte ich um
Der scheint Ihnen ohnehin nicht sonderlich am Herzen zu
Aufmerksamkeit für eine Erklärung zur Geschäftsord-
liegen, wie ein anderes Beispiel, die 10. AMG-Novelle,
nung vonseiten der PDS-Fraktion. Sie wissen, wir haben
deutlich macht. Wir beschließen eine solche Novelle, die
einen Abstimmungsmarathon hinter uns. Dabei ist etwas
die Zulassung und Nachzulassung von Arzneimitteln be-
schief gegangen. Bitte, Frau Kollegin Böttcher.
schleunigen soll, und gleichzeitig versäumen Sie es, die
organisatorischen Voraussetzungen dafür zu schaffen,
(B) dass das, was wir als Gesetzgeber wollen, auch umgesetzt Maritta Böttcher (PDS): Vielen Dank, Frau Präsiden- (D)
wird. tin.
Gestern ist im Gesundheitsausschuss deutlich gewor- Ich bitte das Hohe Haus zur Kenntnis zu nehmen, dass
den, dass die personelle Situation beim Bundesinstitut für wir beim Abstimmungsverhalten zu Tagesordnungs-
Arzneimittel und Medizinprodukte katastrophal ist. punkt 8 etwas klarstellen müssen. Es wurde über die Be-
Durch den Umzug von Berlin nach Bonn verlieren Sie schlussempfehlung des Ausschusses abgestimmt. Da wir
wichtige leitende Mitarbeiter in einer zurzeit noch nicht den Antrag der CDU/CSU ablehnen, stimmen wir natür-
abzuschätzenden Zahl – so kann man das in einer Vorlage lich Nr. 2 der Ausschussempfehlung zu. Da wir selbstver-
der Staatssekretärin nachlesen – und sind nicht in der ständlich dem PDS-Antrag zustimmen, lehnen wir Nr. 3
Lage, sie adäquat zu ersetzen. der Beschlussempfehlung des Ausschusses ab.
Firmen – das ist die Folge –, die wollen, dass ein Arz- Ich bedanke mich.
neimittel zugelassen wird, wird angeraten, das bei einem
europäischen Nachbarn zu tun. Sie lassen diese Firmen
Vizepräsidentin Petra Bläss: Damit ist diese Er-
ohne Rücksicht auf Arbeitsplätze und den Forschungs-
klärung vonseiten der PDS-Fraktion im Protokoll.
standort Deutschland im Stich.
Ich erteile als nächster Rednerin in der Aktuellen
Für die fatalen Folgen Ihrer staatlichen Zuteilungspo-
Stunde der Kollegin Katrin Göring-Eckardt für die Frak-
litik gibt es ein weiteres Beispiel: die Lage der Psycho-
tion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
therapeuten in Deutschland. Herr Lohmann hat darauf
hingewiesen. Die Anhörung hat bewiesen, dass das nach
planwirtschaftlichen Gesichtspunkten bereitgestellte Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE
Geld vorne und hinten nicht ausreicht, um den Psycho- GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
therapeuten eine angemessene Bezahlung ihrer Leistun- Kollegen! Man hat inzwischen das Gefühl, es fällt Ihnen
gen zu garantieren. Sehenden Auges entlassen Sie viele nichts anderes mehr ein, als darüber zu spekulieren, was
Praxen, besonders in den neuen Bundesländern – das hat demnächst kommen könnte. Ich finde, Sie sollten versu-
Professor Azzola sehr nachdrücklich mitgeteilt –, in den chen, sich an den Tatsachen zu orientieren.
Ruin.
(Dr. Sabine Bergmann-Pohl [CDU/CSU]: Es
Es ist endlich an der Zeit, damit aufzuhören, den Men- gibt noch harte Tatsachen, Frau Göring-
schen vorzugaukeln, alle medizinischen Leistungen seien Eckardt!)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10823
Katrin Dagmar Göring-Eckardt

(A) Mich wundert, dass Sie sich bemühen, sich als Retter (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ (C)
der Beitragssätze darzustellen. Schließlich war und ist CSU]: Einfach auf der Mitte! Was ist das für ein
Ihre Politik eine andere: Während Ihrer Regierungszeit Kompromiss?)
haben Sie dafür gesorgt, dass die Beiträge in der gesetzli- Aber Politik zu machen heißt natürlich auch, Kompro-
chen Krankenversicherung und in der Rentenversiche- misse zu schließen. Ich will Ihnen auch erklären, warum
rung gestiegen sind. ich finde, dass es sich um einen annehmbaren Kompro-
(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ miss handelt. Die Belastungen für die Krankenver-
CSU]: Sechs Jahre sind sie unverändert stabil sicherungen in Höhe von 1,2 Milliarden DM stellen
gewesen!) gegenüber den 2,4 Milliarden DM, die ursprünglich zur
Debatte standen, eine, wie ich finde, tragfähige Lösung
Sie haben ebenso die steuerliche Belastung hochschnellen dar.
lassen; davon ist heute schon geredet worden. Die Ursa-
che lag vor allen Dingen darin, dass Sie strukturelle und (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/
mutige Reformen weder in dem einen noch in dem ande- CSU]: Das ist nach Adam Riese die Hälfte, aber
das ist auch das Einzige!)
ren Sicherungssystem angehen wollten. Das war auch
schon vor der deutschen Einheit so, die Sie sicher wieder Wir sind der Überzeugung, dass die Mindereinnahmen
als Begründung heranziehen wollen. in der Krankenkasse ohne Beitragssatzanhebungen zu
verkraften sind, und zwar aus folgendem Grund: Ohne zu
(V o r s i t z: Vizepräsident Dr. Hermann Otto optimistisch sein zu wollen,
Solms)
(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/
Ich will nur ein paar Beispiele nennen: Während der CSU]: Sie enthalten den Leuten Leistungen
Zeit Ihrer Regierung ist der Beitragssatz für die gesetzli- vor!)
che Krankenversicherung in den Jahren 1995 bis 1998
trotz erhöhter Zuzahlungen um durchschnittlich 0,3 Bei- können wir mit erhöhten Einnahmen rechnen. Diese er-
tragspunkte gestiegen. höhten Einnahmen haben übrigens mit unserer Politik zu
tun und fallen nicht vom Himmel. Sie stammen zum einen
(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ aus der Regelung für die geringfügigen Beschäfti-
CSU]: Was war 1996 bis 1998?) gungsverhältnisse – ich weiß, dass Ihnen auch das nicht
In dem gleichen Zeitraum sind die Beiträge zur Renten- gefällt,
versicherung um 1,7 Prozentpunkte gestiegen. (Detlef Parr [F.D.P.]: Das hat alle sehr
begeistert!)
(B) Rechnet man die Einführung der Pflegeversicherung mit (D)
1 Prozent hinzu, ergibt sich für die Jahre 1995 und 1996 nichtsdestotrotz führt dies zu Mehreinnahmen der
eine Steigerung der Sozialabgaben um insgesamt 3 Pro- Krankenkassen – und beruhen zum anderen auf dem
zent. Noch deutlicher wird es, wenn man sich das Rückgang der Arbeitslosenzahlen, der nach vorsichtigen
Ansteigen der Sozialabgaben über einen längeren Schätzungen der Bundesanstalt für Arbeit – nicht etwa
Zeitraum hinweg anschaut. Für die Zeit von 1985 bis dieser Regierung – bei rund 200 000 liegt. Bei der zu er-
1998 – das war auch noch vor der deutschen Einheit – wartenden anhaltenden positiven Konjunktur wird dieser
ergibt sich eine Steigerung um fast 17 Prozent. Das ist Ihre noch höher sein. Für das Jahr 2001 wird ein Rückgang der
Politik gewesen. Arbeitslosenzahlen um 300 000 geschätzt. Dies bedeutet
eine klare Entlastung der Krankenversicherungen.
(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Na! Na!)
(Detlef Parr [F.D.P.]: Alles ungedeckte
Wir haben seit dem Regierungsantritt bereits eine Sta- Schecks! – Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid]
bilisierung bzw. Senkung der Beiträge erreicht. So ist bei- [CDU/CSU]: Das kann doch nur sein, wenn Sie
spielsweise der Beitrag zur Rentenversicherung von mehr Beschäftigung haben, aber nicht, wenn
20,3 Prozent um 1 Prozent auf 19,3 Prozent gesunken. Sie weniger Arbeitslose haben!)
(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ Und schließlich: Die Lohnabschlüsse der vergangenen
CSU]: Den Sie den Leuten über die Ökosteuer Monate bedeuten ebenfalls eine positive Entwicklung für
aus der Tasche gezogen haben!) die Einnahmen der GKV. Um 2 Prozent höhere Lohnab-
schlüsse bedeuten für die gesetzliche Krankenversiche-
Nach der Blümschen Rentenreform lägen wir jetzt übri- rung allein eine Differenz von 4,8 Milliarden DM. Wenn
gens bei 21 Prozent. Seit 1998 ist die Belastung durch die Sie dies den 1,2 Milliarden DM, die wir in dem Kompro-
Sozialabgaben rückläufig und liegt bei 41,1 Prozent. Um miss ausgehandelt haben, gegenüberstellen, kann mit
eines klarzustellen: Auch wir wollen keine Sanierung des Recht von Verhältnismäßigkeit gesprochen werden.
Haushaltes auf Kosten der Krankenkassen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Na, na!) sowie bei Abgeordneten der SPD)
Die Bundesministerin Andrea Fischer hat mit Walter Kompromisse zu machen, ist nie angenehm; für keinen
Riester, dem Arbeitsminister, einen annehmbaren Kom- der Beteiligten. Sie aber sollten sachlich bleiben und die
promiss ausgehandelt. Der ist ihr sicherlich nicht leicht Menschen nicht unnötig verunsichern. Dies ist nicht nur
gefallen. unpolitisch, sondern unverantwortlich. Dafür sollten Sie
10824 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Katrin Dagmar Göring-Eckardt

(A) sich zu schade sein, wenn es um solche Größenordnungen wortungslos, weil – schon heute absehbar – auf die ge- (C)
wie die geht, von denen wir hier reden. setzliche Krankenversicherung weitere finanzielle Belas-
tungen zukommen. So wird auch die Rentenreform mit
Vielen Dank.
ihren geplanten Kürzungen der Altersbezüge zu Minder-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einnahmen in Milliardenhöhe führen.
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Weitere Defizite ergeben sich auch aus der zu erwar-
tenden Steuerfreiheit für die Beiträge zur privaten Alters-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als vorsorge sowie aus dem jüngsten Urteil des Bundesver-
nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Ruth Fuchs von der fassungsgerichts zum Krankengeld. Besonders ungünstig
PDS-Fraktion das Wort. werden die Auswirkungen für die Kassen in den neuen
Bundesländern sein. Aufgrund der höheren Arbeitslosig-
Dr. Ruth Fuchs (PDS): Herr Präsident! Meine Damen keit sinken die Einnahmen dort noch stärker und erneut
und Herren! Liebe Kollegin Katrin Göring-Eckardt, den werden die AOKen am härtesten betroffen sein.
Versicherten ist es egal, ob der Frau Gesundheitsministe- Im Übrigen macht die vorgenommene Streichung von
rin der Kompromiss schwer oder leicht gefallen ist. Es Kasseneinnahmen das Kabinett Schröder als Ganzes, aber
bleibt dabei, dass die Regierung mit der Kürzung der auch die Gesundheitsministerin persönlich unglaubwür-
Krankenkassenbeiträge bei der Arbeitslosenhilfe einen dig. Ich will Ihnen auch sagen, warum ich das behaupte.
folgenschweren Fehler begangen hat, ob sie das nun Bei der Vorgängerregierung haben die damaligen Opposi-
wahrhaben will oder nicht. tionsparteien SPD und Grüne die Sanierung des Bundes-
(Detlef Parr [F.D.P.]: Richtig! – Zuruf des Abg. haushaltes auf Kosten der Beitragszahler immer scharf
Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/CSU]) verurteilt. Schließlich haben auch CDU/CSU und F.D.P. –
das ist das, worauf ich Sie hinweisen wollte – viele Jahre
– Warten Sie nur ab, Sie kriegen auch noch Ihr Fett weg. friedlich mit riesigen Verschiebebahnhöfen zulasten der
(Beifall bei Abgeordneten der PDS) gesetzlichen Krankenversicherung koexistiert. Auch da-
ran sollte und muss heute erinnert werden.
Ob Sie es glauben oder nicht, aber Sie haben einen
neuen Verschiebebahnhof zugunsten des Bundeshaushal- Wissen Sie, liebe Kollegin Regina Schmidt-Zadel, et-
tes und zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung was wird nicht besser oder richtiger, nur weil zwei das
geschaffen. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Die für Gleiche tun.
das Gesundheitswesen zur Verfügung stehenden Mittel (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Manchmal
(B) haben Sie damit deutlich verringert. Dies ist unverständ- schon!) (D)
lich, denn inzwischen ist eigentlich zur Genüge bekannt,
dass die Krankenkassen nicht nur ein Ausgabenproblem, Nicht nur, dass Sie als Regierungsparteien jetzt zu den
sondern vor allen Dingen ein systematisches Einnahme- gleichen Methoden greifen wie Ihre Vorgängerregierung,
problem haben. Dazu sage ich Ihnen: Dieses Einnahme- ist aus meiner Sicht schlimm. Hinzu kommt noch: Die
problem wird sich in der nächsten Zeit weiter verschärfen. Sparpolitik im Gesundheitswesen haben Sie immer
wieder mit dem Gebot der Beitragssatzstabilität begrün-
(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Das sehen wir det. Jetzt aber kürzt die rot-grüne Regierung willkürlich
auch so!) die Einnahmen der GKV und provoziert damit selbst
Wir haben schon damals bei der Diskussion der Ge- nachfolgende Beitragserhöhungen.
sundheitsreform 2000 gesagt, dass es ein Kardinalfehler Vor einigen Wochen waren es nur unausgegorene und
war, die Grundsituation tendenziell zurückbleibender widersprüchliche Äußerungen der Gesundheitsministe-
Beitragseinnahmen zu negieren und der gesundheitlichen rin, die dem Verdacht von Konzeptionslosigkeit Nahrung
Versorgung eine Politik der knappen Finanzen zu verord- gaben. Heute offenbart die Regierung im praktischen
nen. Dies war aus unserer Sicht ein Fehler. Handeln, dass sie in der Gesundheitspolitik zurzeit entge-
(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] gen ihren Behauptungen nicht über einen klaren Kurs ver-
[CDU/CSU]: So ist es!) fügt. Das könnte sich bald rächen; denn dieses Politik-
feld – noch immer voller ungelöster und hochbrisanter
Die Folgen sind schwerwiegend. Überall im Gesund- Probleme – wird weiter in den Mittelpunkt der gesell-
heitswesen wachsen Spannungen und daraus resultie-
schaftlichen Auseinandersetzungen rücken. Spätestens
rende Probleme. Die Bundesregierung muss von allen
dann wird viel davon abhängen, ob eine sozialdemokra-
guten Geistern verlassen sein, wenn sie in einer solchen
tisch geführte Regierung weiß, was sie will.
Situation die gesetzliche Krankenversicherung als Stein-
bruch betrachtet, aus dem man nach Belieben Haushalts- Vor allem muss erwartet werden, dass sie einem zu-
löcher stopfen kann. In einer Situation, in der jede Bei- nehmenden Druck in Richtung ökonomischer Konkur-
tragsmark willkommen sein muss – aus meiner Sicht not- renz, Kern- und Wahlleistungen und damit einhergehen-
wendig –, zwingen Arbeits- und Finanzminister die der Privatisierung der gesundheitlichen Versorgung nicht
Gesundheitsministerin zu einem ihr nicht leicht gefalle- nachgibt.
nen Kompromiss, dessen politische Auswirkungen im
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Gesundheitswesen als verheerend bezeichnet werden
müssen. Diese Entscheidung ist in hohem Grade verant- (Beifall bei der PDS)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10825

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als Wir haben uns deswegen dafür entschieden, dass die (C)
nächste Rednerin hat die Parlamentarische Staatssekretä- Krankenkassen – jedenfalls für diese Legislaturperiode –,
rin Ulrike Mascher das Wort. genauso wie die Rentenversicherung und die Pflegeversi-
cherung, hier ihren Beitrag leisten: Absenkung der Be-
messungsgrundlage für die Krankenversicherungsbei-
Ulrike Mascher, Parl. Staatssekretärin beim Bundes-
träge der Arbeitslosenhilfeempfänger auf die Höhe der
minister für Arbeit und Sozialordnung: Sehr verehrte Kol-
realen Zahlbeträge.
legen und Kolleginnen! Die Kollegen von der Opposition
haben sich heute offenbar ihr oppositionelles Pflichtpro- (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/
gramm vor dem Sommerurlaub vorgenommen CSU]: Darum geht es doch gar nicht! Es geht
darum, was aus der Kasse genommen wird!)
(Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Nein!
Sie hätten sich das schenken können! Dann hät- – Doch, genau darum geht es, Herr Lohmann. Nur darum
ten wir nicht darüber geredet! – Wolfgang geht es.
Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/CSU]: Das ist
(Beifall bei der SPD)
eine Kür!)
Versuchen Sie jetzt nicht, da einen Popanz aufzubauen!
und versuchen in Kurzform, die verbalen Schlachten der
letzten Monate noch einmal zu schlagen und auch noch (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/
eine kleine Schreckensmeldung abzusetzen. CSU]: Den bauen Sie doch auf!)
(Beifall bei der SPD – Birgit Schnieber-Jastram Ich halte das für eine verantwortbare Entscheidung.
[CDU/CSU]: Frau Mascher, in Wirklichkeit ist Wir haben für die Krankenkassen durch die Neuregelung
es Ihnen doch sehr peinlich!) der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse, das heißt
durch das 630-Mark-Gesetz, zusätzliche Einnahmen er-
Seit einigen Wochen taucht auch in der Presse immer
schlossen.
wieder das Schreckgespenst einer Beitragserhöhung in
der Krankenversicherung auf. Es gibt sich selbst erfül- (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/
lende Prophezeiungen. Man muss nur lange genug davon CSU]: Das kommt mir bald vor wie beim
reden; dann schafft man das schon. Jäger 90! Das muss für alles herhalten!)
Mit der Drohung einer Beitragserhöhung haben die – Nein!
Krankenversicherungsträger versucht, auf die Entschei-
Den Krankenkassen sind im letzten Jahr 1,6 Milliar-
dung der Bundesregierung Einfluss zu nehmen. Jetzt,
den DM zugeflossen, obwohl das Gesetz erst im Frühjahr
(B) nachdem die Bundesregierung entschieden hat, soll Stim- in Kraft getreten ist. Hochgerechnet auf das Jahr 2000 er- (D)
mung für die Rücknahme der Entscheidung erzeugt wer-
geben sich einschließlich der geringfügig Nebenbeschäf-
den.
tigten Mehreinnahmen von rund 3 Milliarden DM. Ich
(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ will jetzt gar nicht die Aussage des Vorsitzenden des Bun-
CSU]: Das ist auch notwendig!) desverbandes der Ortskrankenkassen bemühen, der ja
wiederholt hat, was Ihr ehemaliger Gesundheitsminister
Wenn man es nüchtern betrachtet, stellt man fest: Hinter-
Seehofer immer wieder beschworen hat: die berühmten
grund der aktuellen Debatte ist, dass im Haushalts-
25 Milliarden DM Wirtschaftlichkeitsreserven.
sanierungsgesetz 1999 die Bemessungsgrundlage für die
Beiträge zur Renten- und zur Pflegeversicherung der (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/
Arbeitslosenhilfebezieher auf den Zahlbetrag der Arbeits- CSU]: So viele gibt es doch gar nicht!)
losenhilfe abgesenkt wurde. Die Krankenversicherungs-
Die Mehreinnahmen in der Krankenversicherung
beiträge blieben 1999 ausgenommen. – Dieser Schritt
rechtfertigen das, was jetzt in einem Kompromiss – ich
hatte damit zu tun, dass man damals mitten in der Erar-
sage als Vertreterin des Bundesministeriums für Arbeit
beitung der Gesundheitsreform 2000 steckte.
und Sozialordnung: dank der Hartnäckigkeit der Kollegin
(Zurufe von der CDU/CSU: Aha!) Fischer –
– Das finde ich auch korrekt. Wenn man ein so großes Re- (Ulf Fink [CDU/CSU]: Wie hartnäckig war
formvorhaben vor sich hat, darf man es nicht auch noch denn Riester?)
mit anderen Dingen belasten.
erreicht worden ist, wonach das Volumen der Kranken-
(Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Sie ha- versicherungsbeiträge aus Arbeitslosenhilfe nicht um
ben sich erfolgreich gewehrt, weil es Unsinn 2,4 Milliarden DM, sondern um 1,4 Milliarden DM abge-
ist!) senkt wird. Deshalb wurde beschlossen, die Bemessungs-
grundlage für die Krankenversicherungsbeiträge der Ar-
Für die Beratungen zum Haushalt 2001 und zum Fi-
beitslosenhilfebezieher nicht auf den Zahlbetrag, sondern
nanzplan bis 2004 ergibt sich nun aufgrund des Zukunfts-
auf einen in der Mitte zwischen dem Zahlbetrag und der
programms folgende Ausgangslage: Es muss ein Konso-
jetzigen Bemessungsgrundlage liegenden Betrag abzu-
lidierungsbeitrag von jährlich 2,4 Milliarden DM erbracht
senken.
werden. Selbst bei noch so sparsamer Haushalts- und
Wirtschaftsführung ist ein solcher Betrag nicht zu erwirt- Wir werden Ihnen zum Ende der Sommerpause den
schaften. entsprechenden Gesetzentwurf vorlegen. Wir werden
10826 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Parl. Staatssekretärin Ulrike Mascher

(A) Ihnen den Einzelplan des Bundesministeriums für Arbeit Frau Göring-Eckardt versucht, von ihren fehlenden Ta- (C)
und Sozialordnung vorlegen. Dann haben Sie noch einmal ten dadurch abzulenken, dass sie darauf hinweist, was
Gelegenheit, diese Sache im Gesamtzusammenhang der früher falsch gelaufen ist. Ich will Ihnen einmal ein Zitat
Haushaltsentwicklung und der Entwicklung der Einnah- vorlesen und Sie können nachher raten, wer es gesagt hat:
men in der GKV zu diskutieren. Trotz des fortschreitenden Alters der Menschen, trotz
(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ medizinischen Fortschritts haben wir es geschafft,
CSU]: Es geht aber nicht um finanzielle Beträge die Qualität unseres Gesundheitswesens zu erhalten
und nicht um Steuermittel!) und die Beitragssituation im Rahmen des Wachstums
des Bruttoinlandsprodukts zu halten. Das ist eine
Ich glaube, dann kann man sagen: Das ist eine Ent- tolle Leistung. Darauf hinzuweisen wäre auch poli-
scheidung mit Augenmaß. Es macht uns doch allen keinen tisch lobenswert.
Spaß, diese Haushaltssanierung zu betreiben. Wenn Sie
hier so schreien, kann ich nur sagen: Wer hat denn das Nun raten Sie einmal, wer das gesagt hat: Rudolf Dreßler
Ganze verursacht? Wir haben doch von Ihnen einen fi- im Interview mit dem „Gesundheitspolitischen Informa-
nanziellen Scherbenhaufen geerbt, tionsdienst“ am 27. Juni. Für den Löwenanteil dieser
20 Jahre haben Union und F.D.P. die Regierungsverant-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wortung getragen. Vielleicht sollten Sie das einfach ein-
DIE GRÜNEN) mal zur Kenntnis nehmen.
den wir jetzt in mühsamer Kleinarbeit aufarbeiten (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
müssen. Wir müssen jetzt versuchen, die Sache wieder in neten der F.D.P.)
Ordnung zu bringen.
Das eigentlich Entscheidende ist doch: Wir haben Un-
Wenn wir in Zukunft die Entwicklung erfolgreich ge- tersuchungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsfor-
stalten wollen, dann muss man hier mit Augenmaß vorge- schung vorliegen, wonach die Beitragssätze zur gesetzli-
hen. Ich möchte Sie bitten, sich an den konkreten Zahlen chen Krankenversicherung – wenn nichts geschieht – bis
zu orientieren, anstatt zu versuchen, vor der Sommer- zum Jahre 2040 von jetzt 13,5 Prozent auf 24 Prozent stei-
pause im Plenarsaal irgendwelche Schreckgespenster zu gen werden. Es gibt verschiedene Schätzungen, aber alle
beschwören. Im Interesse der Betroffenen ist das, glaube Schätzungen gehen davon aus, dass der medizinische
ich, keine gute Politik, die Sie hier machen. Fortschritt und die älter werdende Gesellschaft solche ge-
waltigen zusätzlichen Kosten verursachen, dass die Bei-
Danke. tragseinnahmen damit nicht Schritt halten werden kön-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nen.
(B) DIE GRÜNEN) Anstatt sich in einer solchen Situation um dieses (D)
Thema intensiv zu kümmern, entziehen Sie der gesetzli-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als chen Krankenversicherung sogar noch Beitragseinnah-
nächster Redner hat Kollege Ulf Fink, CDU/CSU-Frak- men, die ihnen zustehen. Dies ist sozialpolitisch und ge-
tion, das Wort. sundheitspolitisch ein absolutes Kuddelmuddel, dem kei-
nerlei Prinzip zugrunde liegt. Das lässt sich auch an
Folgendem deutlich machen: Sie beschließen im Jahre
Ulf Fink (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr ver- 1999 – das ist jetzt, im Jahre 2000, geltendes Gesetz –,
ehrten Damen und Herren! Im Unterschied zu dem, was dass für die Empfänger von Arbeitslosenhilfe Beiträge an
Frau Schmidt-Zadel und die Parlamentarische Staatsse- die Renten- und Pflegeversicherung auf der Grundlage
kretärin Frau Mascher vorgetragen haben, gibt es keine, des tatsächlichen Zahlbetrages und nicht, wie es bisher
aber auch überhaupt keine einzige überzeugende kon- immer der Fall war und notwendig ist, auf der Grundlage
junktur-, wirtschafts- oder finanzpolitische Begründung von 80 Prozent des früheren Bruttoentgeltes abgeführt
für diesen Griff in die Kassen der Krankenkassen. werden. Bei der Krankenversicherung hingegen werden
im Jahre 2000 Beiträge nach Maßgabe von 80 Prozent des
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- früheren Bruttoentgeltes entrichtet.
neten der F.D.P. – Regina Schmidt-Zadel
[SPD]: Doch, Ihre Schulden, die Sie uns hinter- Nun könnte man darüber diskutieren, ob besser auf den
lassen haben!) tatsächlichen Zahlbetrag oder auf 80 Prozent des früheren
Bruttoentgeltes abgestellt werden sollte. Für das Jahr
Die Wahrheit ist: In dem Maße, wie der eichelsche Etat 2001 beabsichtigen Sie nun aber, bei der Renten- und
entlastet werden soll, werden die Kassen der Kranken- Pflegeversicherung Beiträge auf der Grundlage des
kassen, der Pflegeversicherung und der Rentenver- tatsächlichen Zahlbetrages abzuführen. Nun könnte man
sicherung belastet. Per saldo haben Sie wirtschaftspoli- daran denken, dass Sie das auch bei der Krankenversi-
tisch überhaupt nichts gewonnen. Das Staatsdefizit insge- cherung wollen. Aber das ist nicht der Fall. Bei der Kran-
samt verändert sich überhaupt nicht. Es ändert sich nur kenversicherung wollen Sie, dass das irgendwo zwischen
eines: Statt dass die Defizite bei Herrn Eichel auftauchen, dem tatsächlichen Zahlbetrag und 80 Prozent des frühe-
tauchen sie nun bei Krankenkassen, Pflegeversicherung ren Bruttoentgeltes liegt.
und Rentenversicherung auf. Das ist ein unzulässiger Ein-
griff in die Autonomie dieser Versicherungseinrichtun- Diese Politik verstehe, wer will. Wir haben doch alle
gen. Hände voll zu tun, den Menschen sinnvoll zu erläutern,
dass Sozial- und Gesundheitspolitik gewissen Prinzipien
(Beifall bei der CDU/CSU) folgt, denen eine einheitliche Logik zugrunde liegt. Sie
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10827
Ulf Fink

(A) aber entziehen dem System jegliche Glaubwürdigkeit und Jetzt noch einmal zu dem zweifelsohne starken Wort, (C)
erzeugen damit eine neue Altersarmut – insbesondere in ich hätte mich dem Diktat des Finanzministers gebeugt
Ostdeutschland –, obwohl Sie vorgeben, ebendiese be- und meinem Kollegen mal so eben Geld rübergeschoben:
kämpfen zu wollen. Mit Verlaub, wir reden hier vom Bundeshaushalt. Wir re-
den nicht davon, dass irgendwelche Deals zwischen Mi-
(Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: nistern gemacht werden, sondern von dem Bestreben, im
So ist es!) Bundeshaushalt die ständige Verschuldung einzudäm-
Gleiches gilt für die Altersverwirrten: Wir wollten et- men, und davon, dass es großer Anstrengungen bedarf,
was im Rahmen der Pflegeversicherung tun und brauchen das zu ändern.
dafür Geld. Was aber tun Sie? Sie entziehen der Pflege- (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/
versicherung 400 bis 500 Millionen DM an Einnahmen. CSU]: Sie haben es dann dem Beitragszahler
Bei der Krankenversicherung müssen wir dafür sorgen, abgenommen!)
dass die Budgetierung endlich zugunsten einer am medi-
zinischen Bedarf ausgerichteten Versorgung geändert Ich will darauf hinweisen: Die Beitragszahler, zu deren
wird. Was tun Sie? Sie entziehen der Krankenversiche- Fürsprecher Sie sich jetzt machen, sind in aller Regel auch
rung 1,2 Milliarden DM an Beiträgen. Steuerzahler. Denen ist es nicht gleichgültig, ob die Ver-
schuldung des Bundeshaushaltes immer weiter zunimmt
Nein, meine Damen und Herren, das ist eine falsche und ob wir in der Lage sind, die Steuerbelastung zu sen-
Politik. ken. Sie wollen ja noch viel mehr herausholen – wie wol-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- len Sie das eigentlich finanzieren? Ich bin deshalb dafür,
neten der F.D.P.) dass wir alle Verantwortung übernehmen. Ich bekenne
mich zu dem, was wir beschlossen haben.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort Ich will noch einmal deutlich sagen – darauf haben
hat jetzt die Bundesministerin Andrea Fischer. aber schon etliche Kollegen und Kolleginnen hingewie-
sen –: Sie können nicht behaupten, Sie seien in diesem
Bereich überhaupt nicht tätig gewesen. Die Absenkung
Andrea Fischer, Bundesministerin für Gesundheit: von 100 Prozent auf 80 Prozent, die der Kollege Fink so
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich unter- vehement verteidigt hat, ist systematisch ebenfalls nicht
nehme einen Versuch, das Ritual, uns gegenseitig die zu begründen, sondern war auch eine politisch gegriffene
Schuld zuzusprechen, zu durchbrechen, indem ich sage: Zahl.
Es ist meine Verantwortung, dass dieser Beschluss im Ka- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
binett gefasst wurde. Dabei ist in der Tat unerheblich, ob und bei der SPD – Wolfgang Lohmann [Lüden-
(B) es mir dabei gut ging. Das ging auf meine Kappe und dazu scheid] [CDU/CSU]: Aber für alle gleich!) (D)
bekenne ich mich. Sie aber können nicht dieser harten,
schwierigen und auch schmerzhaften Operation auswei- Außerdem muss man berücksichtigen: In den letzten
chen, den Bundeshaushalt in eine Lage zu bringen, in der anderthalb, zwei Jahren gab es immerhin keine Beitrags-
wir nicht immer mehr Schulden anhäufen, sondern ihn satzerhöhungen, was man von den davor liegenden Jahren
entschulden. nicht sagen kann. Davor nämlich sind die Beiträge gestie-
gen, obwohl auch die Zuzahlungen ständig gestiegen
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie schreiben es sind. Dies noch einmal zu der Frage, wer wofür steht.
doch nur um! Sie bringen es nur in einen ande-
ren Haushalt!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Diese Aufgabe stellt sich uns aufgrund der Entwicklung
in den letzten Jahren in aller Schärfe und dafür tragen Sie Herr Lohmann, das Argument, das sei unsere uner-
die Verantwortung. schöpfliche Geldbörse, stimmt nicht. Fakt ist, dass sich
die Einnahmen durch die Neuregelung bei den 630-DM-
Wir müssen auch darüber reden – ich komme später da- Jobs positiver entwickelt haben, als wir es in unseren pes-
rauf zurück –, wie das mit der Verantwortung für die Ge- simistischen Schätzungen angenommen haben.
staltung des Gesundheitswesens ist. Natürlich lassen sich
Aktuelle Stunden wie diese leicht beantragen. In diesem (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/
Fall empfand ich es geradezu als Pflicht der Opposition, CSU]: Das kann man doch nicht für alle ver-
diesen Stein, von dem Sie sprachen, aufzuheben ange- wenden!)
sichts der Tatsache, dass Sie wussten, dass es darum ein Wir können immerhin sagen, das wir zum ersten Mal seit
großes Ringen innerhalb der Bundesregierung gab. Sie sechs Jahren im ersten Quartal des Jahres einen Anstieg
hätten wirklich versagt, wenn Sie das nicht gemacht hät- der beitragspflichtigen Einnahmen verzeichnen, der über
ten. Das ändert aber nichts daran, dass dies leicht ist, 2 Prozent liegt. Das ist sehr ungewöhnlich. Das bedeutet,
gleichzeitig Ihnen das Schwere unmöglich ist, nämlich dass die Einnahmeentwicklung an anderer Stelle
sich zu entscheiden, was Sie wollen: Das erleben wir je- wesentlich positiver verläuft, als wir das erwarten kon-
den Tag in der Rentenpolitik, das erleben wir jeden Tag in nten. Jeder Prozentpunkt Zuwachs bei den beitrags-
der Steuerpolitik und ich meine, das gilt auch für die pflichtigen Einnahmen für die Krankenversicherung be-
Gesundheitspolitik. deutet Mehreinnahmen für die gesetzliche Krankenver-
sicherung in einer Größenordnung von 2,4 Milliarden
(Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Das
DM.
wissen wir besser als Sie! – Wolfgang Zöller
[CDU/CSU]: Sie verwechseln die Parteien!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
10828 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Bundesministerin Andrea Fischer

(A) Deshalb stellen wir hier keine Milchmädchenrechnung auskommen können; denn die Prognosen, die Sie erwähnt (C)
auf. Wir können sehr wohl belegen, dass das zu verkraften haben, erfüllen sich erst in 20 oder 30 Jahren.
ist.
(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/
Wir haben außerdem – das will ich noch einmal ganz CSU]: Die Dramatik ist später!)
deutlich sagen – im Kabinett die Vereinbarung getroffen,
Auch Sie wissen, dass die Prognosen – je nach Studie –
dass wir bis zum Ende der Legislaturperiode an dieser eine große Bandbreite aufweisen. Das lohnt sich zu disku-
Stelle keine weiteren Veränderungen vornehmen. tieren. Zu dieser Diskussion bin ich auch bereit. Ich bin
Noch ein Wort zu der Milchmädchenrechnung unserer der festen Überzeugung, dass wir noch schwierige
Kritiker. Wenn uns vorgehalten wird, wir würden die ge- Entscheidungen vor uns haben, die sowohl die Einnah-
setzliche Krankenversicherung um Einnahmen aus dem men- als auch die Ausgabenseite betreffen werden.
Krankenhausnotopfer bringen, so muss ich erwidern: Nur, wenn Sie sagen: „Ihr mit Eurer Budgetierung seid
Meine Damen und Herren, es war Ihr Gesetz, was dieses doch Schurken, dadurch wird alles so schwierig!“, dann
Krankenhausnotopfer auf drei Jahre begrenzt hat. Selbst müssen Sie auch hinzufügen, dass nach Ihrem Alternativ-
wenn wir es nicht geändert hätten – es wäre im letzten Jahr vorschlag die Versicherten wieder sehr viel mehr zahlen
ausgelaufen –, gäbe es diesen Topf in diesem Jahr nicht müssen oder dass sie bestimmte Leistungen nicht mehr in
mehr. Zudem haben Sie durch das Krankenhausnotopfer Anspruch nehmen können. Sie verfügen doch über ein-
nur die Hälfte von dem erzielt, was Sie gewollt haben. Sie schlägige Erfahrungen, was die Versicherten von einem
erinnern sich sicherlich noch an den Konflikt, den es hier solchen Vorschlag halten.
gab.
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie machen
Was die Soziotherapie angeht, so rechnen Sie mit völ- das!)
lig überhöhten Zahlen, die überhaupt nichts mit dem zu
tun haben, was dort beschlossen worden ist. Die Debatte darüber haben Sie 1997/98 schon einmal
geführt, wenn ich mich richtig erinnere. Es ist klar, wenn
Ich muss angesichts der ganzen Diskussion über das man in der Opposition ist, kann man solche Forderungen
Gesetz zur Gleichstellung homosexueller Lebensgemein- aufstellen und niemand regt sich auf, weil niemand die
schaft, mit Verlaub, klarstellen, dass dieses Gesetz noch Folgen Ihrer Vorschläge zu spüren bekommt. Trotzdem
nicht beschlossen ist. Zudem wird es nur wenige homo- müssen Sie zugeben, dass Sie an diesem Punkt auch noch
sexuelle Paare geben, die überhaupt Leistungen dieses am Anfang der Lösung des Problems stehen; denn die
Gesetzes in Anspruch nehmen werden – und die Wahr- Wahlleistungsdebatte wird auch bei der Opposition und
scheinlichkeit, dass es sich bei denen um so genannte insbesondere bei der CDU/CSU – wenn ich das richtig
(B) Hausfrauenehen handelt, ist relativ gering. verfolgt habe – außerordentlich kontrovers geführt. Voller (D)
Neid erkenne ich also an, dass Sie sich in der Opposition
Wenn Sie also behaupten, dieses Gesetz würde für Mil-
andere Vorschläge leisten können als wir uns in der
liardenbelastungen sorgen, dann muss ich feststellen, dass
Regierung.
dies nur ganz wenig mit der gesellschaftlichen Realität zu
tun hat. (Zuruf von der CDU/CSU)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Aber Sie können zeigen, dass auch Sie Ihren Teil der
und bei der SPD) Verantwortung übernehmen wollen, wenn Sie einen Teil
unserer Verantwortung mittragen. Alle bislang von uns
Im Zusammenhang mit der Rentenreform will ich geplanten Maßnahmen, zum Beispiel Steuerung der Aus-
deutlich darauf hinweisen: Mit den Zahlen, die dort zum gaben, Qualitätssicherung und Herstellung von Daten-
Teil herumschwirren, geht man von einem Status quo ante transparenz, um bessere Kenntnisse über das, was tat-
aus, der schon jahrelang obsolet ist. Man kann natürlich sächlich geschieht, zu erlangen, bieten Ihnen vielfältige
immer von früher prognostizierten Rentenentwicklungen Möglichkeiten, zu zeigen, wie ernst es Ihnen damit ist, die
ausgehen. Es ist selbstverständlich klar, dass die Renten- Leistungen im Gesundheitswesen angemessen zu steuern
reform, die wir beschlossen haben, auch Auswirkungen und einen Beitrag für die Zukunft zu leisten.
auf die Einnahmeseite der gesetzlichen Krankenversiche-
rung haben wird. Das ist richtig. Aber das liegt in der Lo- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
gik unserer Sozialversicherungssysteme. Sie weisen und bei der SPD)
schließlich auch immer dann Einnahmeschwankungen
auf, wenn die Löhne steigen oder sinken. Mit Verlaub, der Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als
Hinweis, dass sich die Rentenreform auch auf die gesetz- nächster Redner hat das Wort der Kollege Rainer
liche Krankenversicherung auswirkt, kann kein Argument Eppelmann von der CDU/CSU-Fraktion.
gegen eine dringend notwendige Reform sein.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Rainer Eppelmann (CDU/CSU): Herr Präsident!
Jetzt zu der Frage der Verantwortung. Ja, Herr Fink, Sie Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolle-
haben Recht: Die Frage des demographischen Wandels ginnen und Kollegen! Ich rede hier nicht als ge-
sundheitspolitischer Fachmann – der bin ich auch nicht –,
gehört auf die Agenda. Aber es stimmt nicht, dass der de-
mographische Wandel ein Beleg dafür ist, dass wir mit (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/
dem heute vorhandenen Geld unter keinen Umständen CSU]: Einfach als Mensch!)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10829
Rainer Eppelmann

(A) sondern als betroffener Sozialpolitiker. Ich möchte gemeint; aber hinter diesen Begriffen verbarg sich die (C)
meinen Ausführungen voranstellen: Ich erhebe nicht den Diskussion über die Finanzen im Gesundheitswesen. Der
Anspruch, dass wir immer dann, wenn wir regiert haben – Vorwurf lautet, die Gesundheit blute aus, man nehme Be-
das wird auch in der Zukunft so sein –, alles richtig lastungen einfach hin und der Weg zur Zweiklassenmedi-
gemacht haben. Aber selbst wenn man dies zugibt, muss zin werde geebnet. Ich kann dazu nur sagen: Alle Haus-
man heftige Kritik üben können, wenn man den Eindruck halte, bis auf den von Bildung und Forschung, haben Ein-
hat, dass andere etwas falsch machen. schnitte hinnehmen müssen, so auch der für Gesundheit.
(Beifall bei der CDU/CSU) Die entscheidende Frage ist: Waren die Einschnitte bei der
Gesundheit so gravierend? Hätte es nicht schon in der
Ungerechtigkeit und Kurzsichtigkeit werden nicht des- Vergangenheit Möglichkeiten gegeben, innerhalb des Ge-
wegen weniger, weil sie wiederholt werden. Während bis sundheitssystems wirtschaftlich und finanziell etwas zu
1999 die Beiträge der Arbeitslosenhilfebezieher zur Ren- machen? Ich will nicht nach hinten schauen; diese Rituale
ten-, Pflege- und Krankenversicherung auf der Basis von liegen mir nicht so sehr.
80 Prozent des bisherigen Bruttoverdienstes erhoben wur-
den, gilt dies zurzeit nur noch für Beiträge zur Kranken- (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/
versicherung. An dieser Stelle soll nun offensichtlich CSU]: Das ist nett von Ihnen!)
nachgearbeitet werden. Noch einmal: Das wird nicht al- Ich will nur daran erinnern, dass im Zuge der Ausei-
lein deswegen besser, weil es schon einmal gemacht wor- nandersetzung über den vorgelegten Entwurf zu einer Re-
den ist. Dieser Weg war falsch und bleibt falsch. form des Gesundheitsstrukturgesetzes zum Beispiel die
Für die Rentenansprüche bedeutet dieser Weg erhebli- Datensammlung bzw. die Datenzusammenführung ver-
che Kürzungen. Er führt gerade in den neuen Ländern bei hindert – das Wort „blockiert“ darf ich nicht nehmen –
geringerer betrieblicher und privater Altersvorsorge und worden ist. Nach Meinung aller Experten ist dies das ein-
bei einer höheren Arbeitslosigkeit, auch bei einer höheren zige sinnvolle Instrument zur Steuerung und zur Kontrolle
Dauerarbeitslosigkeit, zu einer erheblich steigenden Al- des Gesundheitswesens und seiner Ausgaben. Alle Fach-
tersarmut. Beitragszahler rutschen unter das Sozialhilfe- leute waren und sind sich darin einig, dass dieses Instru-
niveau ab. Bei den jetzt erneut gewählten willkürlichen ment kommen muss, weil nur auf diesem Weg Milliarden
Verschiebebahnhöfen spürt der Arbeitslosenhilfeempfän- DM an Ausgaben zum Beispiel bei den Arzneimitteln ein-
ger selbst keine Entlastung; die Beitrags- und Steuerzah- gespart werden könnten: durch Vermeidung zu häufiger
ler aber müssen mehr schultern. Verschreibungen, durch Vermeidung der Herstellung zu
teurer und falscher Arzneien, durch Vermeidung von
Ich bin als Mitglied der AOK in Brandenburg voll
unnötigen Doppeluntersuchungen, durch die Kontrolle
(B) großer Sorge. Durch die Solidarität der Kassen im Risi- (D)
kostrukturausgleich und durch verbesserte Effektivität hat der Verweildauer im Krankenhaus – ich erinnere an die
die Brandenburger AOK endlich wieder einmal schwarze Praxis unnötiger Einweisungen am Mittwoch und am
Zahlen geschrieben, allerdings nur ganze 4,6 Millionen Samstag; Sie kennen das – , durch „Doktorhopping“ und
DM. Wenn Sie jetzt Ihren unheilvollen Weg der willkür- durch vieles anderes mehr.
lichen Absenkung fortsetzen, dann würde dadurch allein Es gibt im Gesundheitswesen riesige Einsparpoten-
bei der AOK in Brandenburg ein neues Minus von 34 Mil- ziale. Die Frage ist, ob der Finanzminister hier nicht auf
lionen DM entstehen. die Idee gekommen ist, die einsparbaren Dinge im Ge-
Ich frage mich als bei der AOK Versicherter ängstlich: sundheitswesen mit den Belastungen, die er dem Gesund-
Wie lange bleibt die AOK in Brandenburg und in den heitssystem zugemutet hat, aufzurechnen. Es gilt festzu-
neuen Ländern überhaupt noch leistungsfähig, wenn die halten, was Frau Schmidt-Zadel gesagt hat: Es war eine
Zahl der Arbeitnehmer und damit die der Beitragszahler bittere Pille. Ich sage lieber: Es ist eine Kröte, an der wir
zurückgeht? Wie kann die AOK in Brandenburg, wie kön- sehr schwer zu schlucken haben.
nen die AOKen in den neuen Ländern ihren Haushalt we- (Detlef Parr [F.D.P.]: Zwei!)
nigstens wieder ausgleichen? Durch eine Erhöhung der
schon jetzt vergleichsweise hohen Beiträge? Durch was Ich erinnere auch daran, dass an sich der doppelte Be-
denn sonst! Das ist kein guter Weg; das ist und bleibt ein trag an Kürzungen, nämlich 2,4 Milliarden DM, auf dem
schlechter Weg. Gesundheitsbereich hätte lasten müssen. Aber die Ge-
sundheitsministerin hat diesen Betrag erfolgreich auf
Danke schön. 1,2 Milliarden DM reduziert.
(Beifall bei der CDU/CSU) (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/
CSU]: Ein Pyrrhussieg ist das!)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als – Herr Lohmann, wir sind erst am Anfang des Weges. Wir
nächster Redner hat der Kollege Eike Hovermann von der sind uns völlig klar darüber, dass wir spätestens nach der
SPD-Fraktion das Wort. Sommerpause in Gesprächen mit der Bundesregierung
weitere Entlastungen für die GKV erreichen wollen und
Eike Hovermann (SPD): Herr Präsident! Meine sehr auch müssen. Wir alle wissen, in vielen Bereichen des Ge-
verehrten Damen und Herren! Herrn Lohmann ging es um sundheitswesens gäbe es genug Möglichkeiten, die
Pleiten, Pech und Pannen. Zwar waren wir von Rot-Grün 1,2 Milliarden DM sinnvoll einzusetzen.
10830 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Eike Hovermann

(A) Wir fordern Sie allerdings auf, mit uns in einen Dialog Ich erinnere auch an die Vereinbarung über den Kata- (C)
einzutreten und nach weiteren Wegen im Gesundheitssys- log von Operationen, die ambulant durchgeführt werden
tem zu suchen. Ich denke, Herr Dr. Parr, etwa an die Ver- können. Ich will Ihnen das einmal vorlesen.
netzung von Praxen und die integrierte Versorgung gemäß
§ 140 SGB V. Dadurch können 20 bis 30 Prozent der Gel- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Nein,
der eingespart werden, die jetzt noch im Gesundheitssys- Herr Kollege, bitte nicht mehr vorlesen.
tem im Grunde für ineffektive Dinge ausgegeben werden.
Ich würde Sie, Herr Parr, ausdrücklich bitten, nicht von Eike Hovermann (SPD): Ich schließe damit auch ab.
billigen Generika zu sprechen, weil dadurch der Eindruck
erweckt wird, dies seien sozusagen Tabletten von minde-
rer Bedeutung und schlechterer Qualität. Sie wissen ge- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Sie haben
nau, dass die Generika, die sich auf dem Markt befinden Ihre Redezeit bereits reichlich überschritten.
und verantwortungsbewusst verschrieben werden, die
gleichen Wirkstoffe haben und gleiche Wirkungen erzie- Eike Hovermann (SPD): Verehrter Herr Präsident,
len. Vermeiden Sie bitte, wenn Sie von billigen Generika das habe ich jetzt erst erfahren. Darf ich den Satz noch zu
sprechen, den Touch, diese seien zweite Wahl, die wollen Ende bringen?
wir nicht. Sie wissen genauso gut wie ich, dass es vielfäl-
tige Arzneimittel gegen hohen Blutdruck gibt, die alle die
gleichen Wirkstoffe beinhalten und alle die gleichen Aus- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte sehr,
wirkungen haben, deren Preise aber zwischen 8 und gerne.
40 DM liegen. Seltsamerweise werden in 70 Prozent der
Fälle die teureren Mittel verschrieben. Das ist nicht nötig. Eike Hovermann (SPD): Herr Präsident, ein letzter
Um das zu verhindern, brauchen wir die Datenzusam- Satz mit ein paar Zahlen.
menführung.
(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) CSU]: Die amtierende Präsidentin war bei mir
vorhin viel härter!)
Ich denke, man kann an sinnvollen Strukturreformen
mitarbeiten. Sicherlich war auch die Positivliste ein Mit- – Das muss an Ihnen liegen.
tel – das wurde von Ihnen bestritten –, langfristig Kosten
In den USA werden 65 Prozent aller Leistenbrüche am-
im Gesundheitssystem einzusparen. bulant behandelt, bei uns nur 4 Prozent. Es wäre gar kein
(B) (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Ehrlich?) Problem, dass auch wir diese Zahlen erreichen. (D)
Die Schweiz, die über ein ausgezeichnetes Gesundheits- Wir haben immer darauf hingewiesen, dass das ge-
system verfügt, praktiziert dieses so und niemand be- samte Gesundheitsstrukturgesetz auf solche Dinge ausge-
schwert sich. Wir wissen natürlich, welch mächtige richtet worden ist. Wir wollen da weitermachen und den
Lobby dahinter steht: Diese möchte das nicht und auch Silberstreif am Horizont vergrößern. Wir bitten Sie, nicht
nicht, dass das Prinzip des Reimports eingeführt wird oder durch unqualifizierte Bemerkungen über billige Generika
etwa die Möglichkeit der Aut-idem-Verschreibung durch den Eindruck zu erwecken, als ob wir uns auf dem Weg
den Apotheker, Herr Zöller. zur Zweiklassenmedizin befänden.
(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Das stimmt aber! –
[CDU/CSU]: Dafür sind wir!) Zuruf von der CDU/CSU: Da sind wir mitten-
drin!)
– Dann müssen wir aber auch zusammenfinden und zuse-
hen, dass Sie unser Gesundheitsstrukturgesetz in all sei- Herr Präsident, ich danke.
nen Implikationen mittragen, Herr Lohmann. (Beifall bei der SPD)
(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid]
[CDU/CSU]: Das fehlte noch!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als
Auf diesem Wege haben wir ja auch die von Ihnen ein- nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Sabine Bergmann-
geführten starren Fristen im Reha-System verändert – ein Pohl von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
völlig falscher Ansatz. Insbesondere die bayrischen Kur-
orte, Herr Zöller, hätten dadurch beinahe ihren Nieder- Dr. Sabine Bergmann-Pohl (CDU/CSU): Herr Prä-
gang erlebt. Sie wissen, dass Ihr ehemaliger Parteifreund, sident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Fischer,
Herr Gnan, zu uns gekommen ist und gesagt hat: Helfen nachdem ich Ihre Rede gehört habe, ist mir jetzt wirklich
Sie uns, in Bayern geht die Sonne unter! nicht mehr klar, ob Ihnen überhaupt bewusst ist, welche
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Inzwischen Folgen Ihre Gesundheitspolitik hat.
kommt er wieder zu uns!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Inzwischen zeigt sich, wie Herr Professor Steinbach sagt, Sie bringen durch Ihre Gesundheitspolitik und den Griff
ein Silberstreif am Horizont. Den werden wir mithilfe all in die Kassen der gesetzlichen Krankenversicherungen,
der von uns geplanten Schritte vergrößern. die Sie um 1,2 Milliarden DM erleichtern, diese in eine
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10831
Dr. Sabine Bergmann-Pohl

(A) nicht mehr zu korrigierende Schieflage. Das hat übrigens Was aber ist passiert? Herr Kirschner, schauen Sie sich (C)
auch Frau Schaich-Walch bestätigt. Sie hat nämlich am einmal an, was der VFA und die Gmünder Ersatzkasse ge-
21. Juni 2000 gesagt: sagt haben, die unsere Politik nicht gerade gutheißen.
Sollte Riester Erfolg haben, dann „ist absolut klar, Diese haben nämlich festgestellt, dass 2,5 Millionen Asth-
dass die Kassen im kommenden Jahr die Beiträge er- matiker nicht mehr ausreichend medikamentös behandelt
höhen“. werden. 88 Prozent der Alzheimererkrankten und 75 Pro-
zent der Personen mit chronischer Herzinsuffizienz erhal-
Das heißt: Sie sind sich offensichtlich gar nicht darüber ten keine nach wissenschaftlichem Stand erforderliche
im Klaren, weil Sie selbst den Grundsatz der Beitrags- Therapie. 65 Prozent der Menschen mit Depressionen
satzstabilität infrage stellen. sind unterversorgt. Jeder Vierte in Deutschland ist inzwi-
(Beifall bei der CDU/CSU) schen medizinisch unterversorgt.
Hinzu kommt, dass Sie mithilfe des Vorschaltgesetzes (Horst Schmidbauer [Nürnberg] [SPD]: Doch
Wahlkampfgeschenke gemacht haben. nicht erst seit heute!)
Sie sprechen zum Beispiel auch das Krankenhausnot- An dieser Tatsache kommen Sie nicht vorbei.
opfer an. Ich finde Ihr Vorgehen unglaublich, weil Sie
wissen, dass sich die Länder gewehrt haben, die Kosten (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
für die Instandhaltung der Krankenhäuser zu bezahlen. Gestern haben Sie in unserer Anhörung gehört, dass ein
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Psychotherapeut in Mecklenburg-Vorpommern – man
Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Mit Ausnahme höre und staune – 14,8 Pfennige für eine Behandlungs-
von Bayern!) stunde bekommt.
Weil zum Beispiel OP-Säle nicht mehr funktionieren, ha- (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Skandal!)
ben wir das Krankenhausnotopfer eingeführt. Sie werfen Frau Fischer, ich weiß also gar nicht, wie Sie dieses Ge-
uns aber vor, unsozial gehandelt zu haben. Sie wissen sundheitswesen mit Ihrer Politik retten wollen.
ganz genau, Frau Fischer, dass wir damals in der Klemme
waren. Wenn Sie von Qualitätssicherungsmaßnahmen spre-
chen, dann merkt man, dass Sie offensichtlich nicht so tief
Hinzu kommt auch, dass Sie die Krankenkassen durch
in der Materie stecken; denn Qualitätssicherungsmaßnah-
Ihre Gesundheitsreform mit 2 Milliarden DM und durch
men sparen kein Geld, sondern sie kosten Geld.
Beitragsausfälle aufgrund der Kürzung bei den Renten
(B) zusätzlich belastet haben: mit 600 Millionen DM in die- (Zuruf des Abg. Klaus Kirschner [SPD]) (D)
sem Jahr und 1,4 Milliarden DM im nächsten Jahr. Das
heißt also: 5,8 bis 6,6 Milliarden DM werden der Kran- – Herr Kirschner, wenn Sie uns vorwerfen, dass in einem
kenversicherung fehlen. Ich möchte von Ihnen schon wis- langen Zeitraum Beiträge geringfügig angehoben worden
sen, wie Sie das ausgleichen wollen. sind, dann muss ich sagen: Das geschah aufgrund des me-
dizinischen Fortschritts. Überlegen Sie doch einmal, was
Wenn Sie mir mit dem Märchen von der positiven Wir- heute alles möglich ist! Von Lebertransplantationen sowie
kung der Einbeziehung der geringfügigen Arbeitsverhält- von Herz-Lungen-Transplantationen haben wir noch vor
nisse kommen, dann muss ich Ihnen sagen: Erstens nimmt zehn Jahren nicht zu träumen gewagt. Aber sie kosten
die Zahl dieser Arbeitsverhältnisse ab. Zweitens betragen Geld und müssen bezahlt werden. Sie liegen mit Ihrer Ge-
die Beiträge aufgrund dieser Arbeitsverhältnisse jährlich sundheitspolitik schon sehr daneben. Sie werden dafür
nur 2 Milliarden DM. Drittens können Sie jede Mark nur
auch die Quittung erhalten; denn durch Ihre Politik haben
einmal ausgeben.
wir bereits heute eine Zwei Klassen Medizin in Deutsch-
(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Das wissen die land.
noch nicht!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Sie haben uns also noch nicht gesagt, wie Sie die Ausfälle
ausgleichen wollen. Frau Fischer, wenn Sie weitere Haushaltslöcher mit
Krankenversicherungsbeiträgen stopfen wollen, dann
Wir merken ja jetzt schon, dass diese Gesundheitspoli- muss ich Ihnen empfehlen, dieses Geld lieber mit Ihren
tik zu einem Qualitätsabbau geführt hat. Sie selbst haben Zirkusauftritten hereinzuholen
am 17. September des vorigen Jahres im Bundestag ge-
sagt: (Zurufe von der SPD: Oh!)
... wenn wir die Ausgaben in den nächsten Jahren als mit einem Griff in die Kasse der Krankenkassen.
entsprechend den Löhnen steigern, kann es nicht Vielen Dank.
sein, dass wir damit in eine Zwei Klassen Medizin,
in eine Barfuß-Medizin oder was auch immer (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
zurückfallen. Das ist einfach völlig unrealistisch.
Das ist etwas, was Panik verursachen soll, aber mit Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort
der Realität nichts zu tun hat. hat jetzt der Kollege Horst Schmidbauer von der SPD-
(Klaus Kirschner [SPD]: Sehr wahr!) Fraktion:
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(A) Horst Schmidbauer (Nürnberg) (SPD): Herr Präsi- ten Sie sich lieber erinnern, welche geradezu gigantischen (C)
dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen Baumaßnahmen von Verschiebebahnhöfen unter der Re-
und Herren! Ich denke, das war eigentlich eine gute gierung Kohl/Waigel/Seehofer/Blüm stattgefunden ha-
Chance, mehr Argumente in der Sache auszutauschen. ben.
Aber leider ist – außer vom Kollegen Eppelmann – davon
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
sehr wenig Gebrauch gemacht worden. Gerade Sie, Frau
Kollegin Bergmann-Pohl, haben hier mit einer Argumen- Sie haben in immer kürzeren Abständen ständig Mittel hin
tation aufgewartet, die nicht neu ist; denn dass die chro- und her geschoben mit dem Ergebnis, dass der Zug unse-
nisch Kranken in diesem Land unterversorgt sind, haben res Sozialstaates überhaupt nicht mehr vorankam, dass
die Menschen schon vor zehn Jahren gewusst. der Zug unseres Sozialstaates letztlich im Sumpf der
(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Das hat man ihnen Staatsverschuldung stecken geblieben ist.
aber nicht gesagt! – Weitere Zurufe von der Im Gegensatz zu den Chefrangierern der alten Regie-
CDU/CSU und der F.D.P.) rung werden wir in der SPD-Fraktion nach Alternativen
Es hat sich auch in den letzten Jahren nichts getan. In der trachten, damit das Vertrauen in das Gesundheitssystem
ganzen Gesundheitsdebatte haben Sie in hohem Maße ge- nicht untergraben wird.
pennt. Die letzte Glanzleistung Ihrer Chefrangierer war, den
Wir haben mit der Reform 2000 die so genannten kom- Krankenversicherungen 5 Milliarden DM aus den Ta-
munizierenden Röhren geschaffen. Wir werden das Geld schen zu ziehen. Durch die Absenkung der Bemessungs-
aus der Überversorgung, das Geld aus der Fehlversorgung grundlage der Beiträge für die Arbeitslosen haben Sie die
nehmen – es also nicht aus dem System herausnehmen, Krankenkassen um 5 Milliarden DM erleichtert. Ihr gran-
sondern es nutzen –, um die Unterversorgung gerade der dioses seinerzeitiges Ergebnis: Beitragserhöhung statt
chronisch Kranken zu überwinden. In dieser Richtung Beitragsstabilität. Ich denke, so pharisäerhaft, wie Sie tun,
werden wir agieren. darf nur tun, wer sich auf die strenge Einhaltung von Re-
geln und Gesetzen berufen kann.
(Beifall bei der SPD – Wolfgang Lohmann [Lü-
denscheid] [CDU/CSU]: Aber die brauchen (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
dann das Gleiche!) Darauf berufen darf sich nur der, der selbst noch im
Ich glaube, wir müssen als Sozialdemokraten deutlich Stande der Unschuld ist. Aber unschuldig am Zustand der
machen, dass die Frage, die jetzt der Regierung zur Ent- Krankenversicherung, der Rentenversicherung, der Pfle-
scheidung vorliegt, in der Koalition noch nicht entschie- geversicherung, der Arbeitslosenversicherung sind Sie,
(B) den ist und dass wir uns natürlich bemühen werden und liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, ganz ge- (D)
dafür arbeiten wollen, überzeugen wollen, dass dieser wiss nicht – im Gegenteil!
Kelch an der solidarischen Krankenversicherung vorbei- (Beifall bei der SPD – Wolfgang Lohmann [Lü-
geht. Wenn Sie uns dabei helfen, Kollege Thomae, habe denscheid] [CDU/CSU]: Aber für die Erhöhung
ich natürlich nichts dagegen. der Lebenserwartung haben wir etwas getan!)
Das Ziel der Haushaltskonsolidierung tragen wir un- Es ist allzu billig, sich über jemanden zu mokieren, der
eingeschränkt mit; denn das ist ja nachhaltig begründet Schwierigkeiten beim Aufräumen hat und Probleme an-
worden. Aber damit die Sanierung nicht zulasten der So- packen muss. Sie dürfen nicht vergessen, dass es sich um
lidargemeinschaft der Versicherten geht, brauchen wir Al- das Aufräumen Ihrer Hinterlassenschaften handelt.
ternativen. Wir wären froh gewesen, wenn heute im Rah-
men der Aussprache Alternativen benannt worden wären, (Beifall bei der SPD)
wie wir einen anderen und besseren Weg finden können.
Es steht außer Zweifel, dass der Erfolg der Bundesre- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als letz-
gierung am Arbeitsmarkt zu Mehreinnahmen führen wird. ter Redner in der Aktuellen Stunde hat der Kollege
Ob allerdings die Mehreinnahmen die Einsparungen in Matthäus Strebl, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
der Größenordnung von 1,2 Milliarden DM ausgleichen
werden, ist eine andere Frage. Unsere Befürchtung ist Matthäus Strebl (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine
eher folgende: Wir glauben, dass die Opposition dies als sehr verehrten Damen und Herren! Jederzeit wollte sich
Vorwand benutzt, um Druck auf die Patientinnen und Pa- der Bundeskanzler am Abbau der Arbeitslosigkeit messen
tienten auszuüben. lassen. Heute diskutieren wir darüber, wie Rot-Grün die
(Detlef Parr [F.D.P.]: Die sind mündiger, als Arbeitslosen bekämpft,
Sie glauben!) (Zuruf von der SPD: Wer wollte ihre Zahl
Das ist das, was uns in dieser Frage am meisten schreckt. denn halbieren?)
Deshalb will ich auch gar nicht leugnen, dass wir in der wie Sie mit kurzatmigen Aktionen die Belastbarkeit der
Frage der Sanierung der Staatsfinanzen vorankommen sozialen Sicherungssysteme testen. Bei der Rente disku-
müssen. Allerdings: Wenn heute von der Union oder auch tieren wir zwischenzeitlich über das Riester-Modell
von der F.D.P. wegen dieser geplanten Umleitungsaktion Nr. 68. Bei der Pflegeversicherung zerstören Sie systema-
gleich von einem „Verschiebebahnhof“ geredet wird, soll- tisch die Finanzierungsgrundlage. Ähnlich ist es bei der
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10833
Matthäus Strebl

(A) gesetzlichen Krankenversicherung. Sie setzen Rotstift ge- ten Menschen, den Demenzkranken zum Beispiel, zu hel- (C)
gen schwarze Zahlen. fen.
(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: So ist es!) Nun wollen Sie die Beiträge der Arbeitslosenhilfeemp-
fänger zur gesetzlichen Krankenversicherung kürzen. Das
Die Sozialkassen, Kollege Schmidbauer, dienen Ihnen
Ergebnis wird sein: jährlich 1,2 bis 1,5 Milliarden DM
nur noch als Verschiebebahnhof für Ihre hektische Haus-
Mindereinnahmen. Durch diese Mindereinnahmen sind
haltspolitik.
die Arbeitsplätze von sehr vielen Krankenpflegerinnen
Was Sie damit zerstören, ist enorm: die Vertrauens- und Krankenpflegern gefährdet. Dies steigert den enor-
grundlage für den Generationenvertrag und das Vertrau- men Druck, dem die Beschäftigten im Gesundheitswesen
enskapital der Sozialversicherung. Ihre Sozialpolitik ausgesetzt sind, nochmals.
gleicht einem Rummelplatz: Sie verkünden laut schreiend
die neuesten Angebote, als Lose nur Nieten, und selbst bei Wir, die CDU/CSU, sind zu einem fairen Umbau der
den Gewinnen ist bereits der Lack ab. So funktioniert sozialen Sicherungssysteme bereit. Aber, meine sehr ver-
Schröders Rummelplatzpolitik. Wen wundert es, dass die ehrten Damen und Herren von Rot-Grün, dazu müssen Sie
Menschen trotz weltweit guter Konjunkturdaten und de- hier erst die Nebelkerzen verschwinden lassen. Es müssen
mographischer Entspannung auf dem Arbeitsmarkt dieser wieder Klarheit und Wahrheit in die gesamte Sozialpoli-
Bundesregierung nichts mehr glauben? tik einkehren. Statt die Arbeitslosen zu melken, wären
eine durchgreifende Steuerreform, eine verlässliche Ren-
Noch im November 1998 kündigte im „Kölner Ex- tenreform und ein wahres Bündnis für Arbeit, das diesen
press“ der zwischenzeitlich privatisierte Schröder-Kom- Namen auch verdient, notwendig.
pagnon, der damalige Bundesfinanzminister Lafontaine,
der Fahnenflucht begangen hat, an, dass die Zahl der Ar- (Beifall bei der CDU/CSU)
beitslosen um 1 Million sinken werde. Wir von den Uni- Im letzten Jahr der unionsgeführten Bundesregierung
onsparteien werden Sie daran messen. Heute diskutieren wurde die Zahl der Arbeitslosen um 400 000 reduziert.
wir darüber, dass die Beiträge der Arbeitslosenhilfe- Das entlastet die Sozialversicherung und stabilisiert ihre
empfänger zur gesetzlichen Krankenkasse sinken sollen. Finanzgrundlage. Seit 1999 bleibt der Abbau der Arbeits-
Die Situation der Langzeitarbeitslosen hat sich nämlich losigkeit unter der Entlastung des Arbeitsmarktes durch
weiter verschärft. Diese Kehrtwenden, die Sie in der Ar- die geburtenschwachen Jahrgänge.
beitsmarktpolitik, bei der Pflege, in der Gesundheitspoli-
tik und in der Rentenpolitik vorführen, zeigen Ihre Eine „neue Mitte“ wollten Sie, die neue Bundesregie-
Ratlosigkeit. rung, ansprechen. Eine neue Ehrlichkeit wäre hilfreicher,
um den notwendigen Konsens beim Umbau der Sozial-
(B) (Beifall bei der CDU/CSU) systeme und die dafür notwendige Akzeptanz in der Be- (D)
Mein Vorwurf ist: Sie haben sich mit falschen Verspre- völkerung zu schaffen. Mit einer Kürzungsorgie gegen
chungen an die Macht gemogelt, im Wahlkampf die die Arbeitslosen zeigt diese Bundesregierung ihre Hilflo-
Union diffamiert sigkeit in der sozialen Frage.
(Widerspruch bei der SPD) Zum Schluss möchte ich Ihnen eines sagen: Es wird
Zeit, dass der DGB mit 8 Millionen DM auch eine Kam-
und müssen heute damit klarkommen, dass die Wirklich- pagne für eine andere, eine ehrliche Sozialpolitik startet.
keit anders aussieht als die bunt bemalten Papiere aus der
SPD-Zentrale. (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Das könnte man
sich wünschen!)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der F.D.P.) Die Union wird aufmerksam beobachten, ob hier die Ge-
nossensolidarität wichtiger ist als der Einsatz für soziale
Was die Schröder-Regierung am meisten zu fürchten Gerechtigkeit.
hat, ist das Langzeitgedächtnis der Menschen, die Sie im
Wahlkampf mit falschen Versprechungen geleimt haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. –
Sie lösen keine Probleme, Sie sind das Problem. Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Ein guter Redebei-
trag!)
(Beifall bei der CDU/CSU – Wolfgang Zöller
[CDU/CSU]: Können Sie den Satz noch einmal
wiederholen?) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Die Aktu-
elle Stunde ist beendet.
Allein die Abkehr von der nettolohnbezogenen Rente
verursacht bei den Krankenkassen in diesem und im
Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf:
nächsten Jahr 2 Milliarden DM Mindereinnahmen. Und
es geht noch weiter: Durch die Kürzung der Beiträge von Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
Arbeitslosenhilfeempfängern zur Rentenversicherung BÜNDNIS 90 /DIE GRÜNEN
schafft diese Regierung neue Altersarmut, die sie dann mit Stärkung des sozialen Zusammenhalts der Ge-
einer Art Grundrente wieder bekämpfen will. Und durch
sellschaft durch Weiterentwicklung des Sozial-
die Kürzung der Beiträge von Arbeitslosenhilfeempfän-
gern zur sozialen Pflegeversicherung wurden dieser die staats und mehr Gerechtigkeit
Mittel genommen, die sie braucht, um den altersverwirr- – Drucksache 14/3787 –
10834 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

(A) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Auch wenn wir dies nicht vollständig erreichen werden: (C)
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich höre Wir waren in den letzten 50 Jahren in der Bundesrepublik
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. auf diesem Weg erfolgreich. Das erreichte Maß an Chan-
cengleichheit ist das Fundament für den inneren Zusam-
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Rudolf Dreßler von der SPD-Fraktion das Wort. menhalt unserer Gesellschaft. Ich warne nachhaltig, es
aufs Spiel zu setzen.

Rudolf Dreßler (SPD) (von der SPD, dem Bünd- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/
nis 90/Die Grünen und der PDS mit Beifall begrüßt): Herr DIE GRÜNEN und der PDS)
Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Wenn ich mir die Diskussionen der letzten Jahre verge-
Sozialpolitik war ein Schwerpunkt des SPD-Wahlpro- genwärtige, habe ich Zweifel, ob diese enorme Bedeutung
gramms im Jahre 1998. unseres Sozialstaatspostulats für die beschriebene Gesell-
(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist wohl schaftspolitik allen politisch Handelnden noch gegenwär-
wahr!) tig ist.
Alle Wahlanalysen berichten, dass wir gewählt wurden, (Beifall bei Abgeordneten der PDS)
weil große Teile der Bevölkerung ein Gerechtigkeitsdefi- Die gesellschaftspolitischen Wirkungen unserer sozi-
zit empfunden haben. Man erwartet von der Sozialdemo- alstaatlichen Verfassung werden immer weniger gewür-
kratie, dass sie dieses Gerechtigkeitsdefizit abstellt.
digt, die Vorteile, die auch die Wirtschaft daraus zieht, im
Sozialpolitik wurde zu einem Schwerpunkt des Arbeits- Übrigen auch nicht. Hingegen werden soziale Institutio-
programms der Koalitionsfraktionen, von Bündnis 90/ nen als Hemmschuh für die wirtschaftliche Entwicklung
Die Grünen und SPD. Wir haben in den ersten Monaten identifiziert, die es zu deregulieren gelte. Der Neolibera-
dieser Legislaturperiode viel auf den Weg gebracht. Man- lismus meldet sich mit der lauten Forderung, der Staat
che sagen: zu viel. Die wichtigsten Maßnahmen sind im müsse sich zurückziehen und die Entwicklung dem freien
Einzelnen im vorliegenden Antrag der Koalitionsfraktio- Spiel der Kräfte des Marktes überlassen. Dies, so die Be-
nen aufgelistet. hauptung, führe zu einem größeren Maß an Wohlstand
Auch für die zweite Hälfte der Legislaturperiode set- und Wohlfahrt. Es wird unterstellt, die Menschen könnten
zen die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen in viel größerem Umfang für sich selber sorgen und der
wichtige sozialpolitische Reformvorhaben auf die Tages- Sozialstaat könne sich folglich „auf die wirklich Bedürf-
ordnung. Besondere Bedeutung kommen der Rentenre- tigen“ konzentrieren. Anders ausgedrückt: Jeder sei künf-
form, der Reform der Betriebsverfassung und der Ar- tig wieder seines eigenen Glückes Schmied. Die zuneh-
(B) beitsförderung zu. Das alles wird zu gegebener Zeit in die- mende Individualisierung der Menschen wird in Gegen- (D)
sem Hause erörtert. satz gebracht zu unseren bewährten solidarischen und
Stattdessen möchte ich mir in meiner letzten Rede im sozialen Sicherungssystemen.
Deutschen Bundestag ein paar offene Anmerkungen zu Mit Verlaub, meine Damen und Herren: Da wird doch
den zukünftigen sozialpolitischen Aufgaben und Heraus- allerhand durcheinander geworfen. Aber auf jeden Fall re-
forderungen erlauben. Vielleicht akzeptieren einige sogar klamieren diese Auffassungen das Etikett „modern“. Wer
den Begriff „grundsätzlich“. Dazu gehören auch einige dagegen an den bewährten Zielen und Grundprinzipien
Gedanken zu unserem Streit und unseren Übereinstim- unseres Sozialstaates festhalten will, bekommt das Prädi-
mungen in der Sozialpolitik der vergangenen Jahre. kat „Traditionalist“ – und das ist negativ gemeint.
(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ Diese oberflächliche Art der Diskussion macht mich
CSU]: Da müssen Sie jetzt Abbitte leisten!)
besorgt. Manches allerdings amüsiert mich auch. Bemer-
Die Bundesrepublik Deutschland ist ein sozialer und kenswert finde ich vor allem, dass sich die Protagonisten
demokratischer Bundesstaat. Demokratie ist nicht denk- solcher politischen Haltungen offenbar nicht bewusst
bar ohne das Adjektiv „sozial“. sind, dass sie selbst in einer jahrhundertealten Tradition
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE stehen.
GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS) (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
„Sozial“ heißt übersetzt „gesellschaftlich“. Es meint nicht GRÜNEN und der PDS)
„karitativ“, so wichtig dies auch sein mag. Ich möchte das hier nicht in epischer Breite ausführen,
(Beifall bei Abgeordneten der PDS) aber von Traditionen verstehe ich etwas. Das werden nicht
einmal meine ärgsten Gegner bestreiten.
Das Soziale in unserer Gesellschaft zielt nicht auf
bloße Existenzsicherung ab, wie es der Fürsorgestaat tut. (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/
Sozialpolitik in einer Demokratie muss vielmehr zualler- CSU]: Nein, das ist wohl wahr! – Heiterkeit bei
erst das Ziel verfolgen, den Menschen die gleichen Chan- Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des
cen auf Teilhabe am sozialen, kulturellen und politischen BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Leben zu eröffnen.
Das Denkmuster, nach dem eine höhere Macht schon
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE alles richtet, wenn sich der Staat nur heraushält, hat eine
GRÜNEN und der PDS) jahrhundertelange Tradition. Es findet sich schon bei
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10835
Rudolf Dreßler

(A) Thomas von Aquin. Die höhere Macht war bei ihm der Nase weg. Dieser garniert sein Tun auch noch mit der (C)
liebe Gott. Das Zeitalter, das durch diesen Grundgedan- schnodderigen Bemerkung: „Tja, Opa, so löst man ein
ken geprägt war, nannte man übrigens Mittelalter. Problem, wenn man jung und dynamisch ist“. Der so
(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ apostrophierte Opa bleibt ganz ruhig, legt den ersten Gang
CSU]: Aber damals noch nicht!) ein, gibt Vollgas und faltet den schnittigen Sportflitzer zu-
sammen wie einen Schuhkarton.
Ich bekenne: Auch ich bin Traditionalist.
(Heiterkeit)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Danach steigt er aus, überreicht dem völlig verdutzten
Aber ich bin mir der Tradition, auf die ich mich beziehe, jungen Mann, jetzt Besitzer eines Schrotthaufens, seine
bewusst. Sie ist jedenfalls insofern moderner, als sie etwas Visitenkarte mit folgender Bemerkung: „Und so, junger
jüngeren Datums ist. Dem Mittelalter folgte nämlich das Freund, löst man ein Problem, wenn man alt und reich
Zeitalter der Aufklärung. ist“.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
(Heiterkeit und Beifall im ganzen Hause)
GRÜNEN und der PDS – Wolfgang Lohmann
[Lüdenscheid] [CDU/CSU]: Aber bei der Auf- Irgendwie ist das ja lustig. Aber irgendwie bleibt einem
klärung lebten Sie noch nicht! Die ist an Herrn auch das Lachen im Halse stecken; denn dieses Histör-
Dreßler vorbeigegangen!) chen offenbart bei beiden Beteiligten Verhaltensweisen,
Im Zeitalter der Aufklärung wurde der Staat in die die frei von jeder Rücksichtnahme auf den anderen sind.
Pflicht genommen und ihm eine aktive Rolle gegeben. (Beifall bei der SPD, der F.D.P. und der PDS
Die Aufklärer meinten nämlich, dass nichts allein von sich sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
aus zu einem harmonischen Ganzen gefügt werden könne,
wenn nicht Menschen durch aktives Eingreifen etwas Aggressivität auf die jeweils andere Generation ist hier
nachhelfen. das hervorstechende Merkmal. Den beiden fehlt es an So-
lidarität füreinander. An deren Stelle tritt die Ellbo-
Auch die großen Werte der Aufklärung – Freiheit, Ge- genmentalität. Soll das etwa das prägende Element für das
rechtigkeit und Brüderlichkeit – sind für mich hochaktu- zukünftige gesellschaftspolitische Zusammenleben sein?
ell.
In der Diskussion über unsere gemeinsame Zukunft
(Dr. Irmgard Schwaetzer (F.D.P): Oh ja!) höre ich immer, Solidarität sei zwar unzeitgemäß, müsse
Diese Werte taugen immer noch als Orientierungsmaß- aber nunmehr neu bestimmt werden. Das war es dann aber
(B) stab für Politik, insbesondere für Sozialpolitik. auch; denn das Wie, Was und Warum einer Neubestim- (D)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mung bleiben im Nebel. Ich frage: Muss Solidarität wirk-
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der lich neu bestimmt werden oder ist Solidarität nicht das
F.D.P. und der PDS) Urelement jeder menschlichen Gesellschaft, wenn sie
denn ein humanes Antlitz trägt?
Dies gilt gerade dann, wenn wir Brüderlichkeit durch So-
lidarität ersetzt haben. Es ist mir ein Anliegen, darauf auf- (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei Ab-
merksam zu machen, dass sich abzeichnende neue geordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
Grundlinien der Gesellschaftspolitik in unserem Lan- NEN)
de, denen einige die Überschrift „Modernisierung“ zuer- Ich habe eher den Eindruck, dass wir in einer Zeit le-
kannt haben, einen Generationenkonflikt heraufbe- ben, in der Solidarität einseitig als etwas verstanden wird,
schwören können. So wie Jung und Alt schon heute mit- was man im Fall der Fälle erhalten möchte, in der aber im-
einander umgehen, ist eine solche Gefahr nicht von der mer weniger bereit sind, Solidarität selbst zu leisten.
Hand zu weisen.
Solidarität nur als Empfangsberechtigung, nicht aber als
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Leistungsverpflichtung – soll das eigentlich modern sein?
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
Bei einem solchen Verständnis von Solidarität wäre es
PDS)
doch eigentlich politische Aufgabe, sie wieder in ihren al-
Was ich meine, möchte ich anhand eines durchaus hu- ten Stand zu setzen, sie als Geben und Nehmen zu defi-
morvollen Histörchens deutlich machen, das ich vor eini- nieren.
gen Tagen gehört habe und das alle Mithörer unheimlich
cool – so heißt das ja auf Neudeutsch – fanden: (Beifall im ganzen Hause)

(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ Ich bin doch hoffentlich nicht der Einzige, der die ebenso
CSU]: Ja, so heißt das heute!) rechten wie billigen Sprüche von „Hilf dir selbst, dann
hilft dir Gott!“ für eine ziemliche Unverfrorenheit hält.
Da sitzt auf der Düsseldorfer Königsallee ein älterer Herr „Jeder ist seines Glückes Schmied“ predigen in der Regel
in seinem Mercedes und wartet geduldig darauf, dass vor auch nur diejenigen, bei denen der Schmied schon min-
ihm ein Parkplatz frei wird. Just in dem Moment, als der destens einmal war.
Parkplatz endlich geräumt ist und er einparken will,
nähert sich ein junger Mann in seinem schnittigen Sport- (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der
coupé und schnappt ihm den Parkplatz ratzfatz vor der PDS)
10836 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Rudolf Dreßler

(A) Sie predigen es vorzugsweise jenen, die nie auch nur den Vielleicht werden einige einwenden, dass dieses Ziel (C)
Hauch einer Chance haben, dass ebenjener Schmied vor- wohl nie ganz zu erreichen ist. Aber die meisten werden
beikommen wird. Soll das die neu bestimmte Solidarität zustimmen, dass sie es anstreben; denn Freiheit heißt auch
sein? Individualität.
Was heißt es denn, wenn es heute in der jungen Gene- Die Voraussetzungen sind heute günstiger als je zuvor.
ration eine Neigung gibt, mit Blick auf die Altersversor- Bildung und neue Kommunikationsmedien eröffnen vie-
gung und ihre Probleme den Alten vorzuwerfen, durch die len Menschen ganz neue Optionen. Sie sind nicht mehr an
Erfüllung ihrer Ansprüche würden sie den Jungen einen das Milieu gebunden, in das sie hineingeboren wurden.
guten Teil ihrer Zukunft wegnehmen? Stimmt das denn Sie haben ganz andere Freiheitsgrade in ihrer Lebenspla-
oder ist es nicht vielmehr so, dass die Startposition mate- nung und der Wahl ihres Lebensstils. Die Globalisierung,
riell wie ausbildungsmäßig für keine Generation in der nicht nur als internationale Verflechtung der Wirtschaft,
Geschichte je so günstig wie die der heutigen Jugend – sondern als Zusammenwachsen verschiedenster Kulturen
trotz erheblicher Probleme auf dem Arbeitsmarkt – gewe- und Gesellschaften der Welt verstanden, verstärkt diese
sen ist? Entwicklung.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Damit sind wir beim Wert der Gleichheit. Gleichheit
GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeordne- bedeutet nicht Gleichmacherei. Das wäre ganz falsch. Die
ten der CDU/CSU) Menschen sind verschieden, sie haben verschiedene
Voraussetzungen und unterschiedliche Bedürfnisse. Un-
Ist es denn nicht auch so, dass diese Startposition der Jun-
gleiches gleich zu behandeln ist ungerecht. Das ist schon
gen Ergebnis der ebenso zielstrebigen wie zähen Aufbau-
mehrfach versucht worden und gründlich schief gegan-
arbeit der vorangegangenen Generationen gewesen ist?
gen, wie wir aus der Geschichte wissen.
Von wegen, die Alten fressen uns die Zukunft vom Kopf!
Die Wahrheit ist, die Alten haben durch ihre Arbeit den (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Jungen erst Zukunft gegeben. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
PDS)
(Beifall bei der SPD, der F.D.P. und der PDS
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Gleichheit bedeutet gleiche Chancen auf Persönlichkeits-
entwicklung und eine würdevolle Lebensführung, gleiche
Noch eines scheint vergessen worden zu sein: Es gibt
Chancen auf Teilhabe. Gleichheit bedeutet Gleichberech-
keine Gesellschaft, die nur aus Gewinnern besteht. In je-
tigung trotz Verschiedenheit. Das führt zur Brüderlich-
der Gesellschaft, und sei sie noch so vollendet, gibt es im-
keit, heute nennen wir das Solidarität. Ich will es so for-
mer auch Verlierer und Schwächere. Das mag man be-
mulieren: Wir sind aufeinander angewiesen.
(B) dauern, aber es ist so. Ich werde mich deshalb auch nicht (D)
darin beirren lassen, dass sich die Qualität einer Gesell- Freiheit im Sinne von Selbstbestimmung, Selbstentfal-
schaft an ihrer Fähigkeit bemisst, diesen Schwächeren ge- tung und Individualität kann nicht heißen: Ich für meine
recht zu werden Interessen zur Not gegen den Rest der Welt. Das würde al-
lenfalls bei ganz wenigen funktionieren. Freiheit und
(Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei
Individualität stehen nicht im Gegensatz zu Kollektivität
Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg.
oder, besser ausgedrückt, Gesellschaftlichkeit. Im Gegen-
Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.])
teil: Die meisten Menschen können sich Individualität,
und ihnen deutlich zu machen, dass auch sie dazu gehören also Freiheit, nur auf der Basis einer solidarischen Absi-
und ihren gleichberechtigten Platz haben. Das ist das cherung leisten.
Kernelement der Freiheit und ein wesentliches Element
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
republikanischer Gesinnung.
GRÜNEN und der PDS)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Der gut verdienende Internetdesigner oder Medien-
Es geht um Freiheit für alle und nicht nur für die, die mensch konnte dies deshalb werden, weil die Gesellschaft
sie sich ohnehin aus eigener Kraft besorgen können. Den- seine Schul- und seine Hochschulausbildung bezahlt hat.
jenigen, die sich mit dem oberflächlichen Prädikat der Das ist vermutlich vielen, die mit diesen Sicherheiten
Modernisierung schmücken, entgegne ich Folgendes: Die ganz selbstverständlich groß geworden sind, gar nicht be-
Ausübung individueller Freiheit braucht soziale Voraus- wusst. Deshalb müssen wir darüber sprechen. Freiheit im
setzungen und eine ihrer wichtigsten ist die Solidarität. Sinne von Individualität ist für die meisten Menschen
Wir brauchen deshalb keine Neubestimmung von Solida- auch in unserer Gesellschaft nur auf der Basis gemeinsa-
rität, sondern wir brauchen endlich wieder republikani- mer sozialer Absicherung möglich. Deshalb ist unser So-
sche Gesinnung, meine Damen und Herren. zialstaat keine Last. Der Sozialstaat ist eine Errungen-
schaft im Interesse der Emanzipation des einzelnen Men-
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
schen.
GRÜNEN und der PDS)
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
Zum Wert der Freiheit: Jeder Mensch soll eine
GRÜNEN und der PDS sowie des Abg.
Chance erhalten, ein selbst bestimmtes Leben zu führen
Karl-Josef Laumann [CDU/CSU])
und seine Fähigkeiten, Begabungen und Ambitionen voll
zu entfalten. Ist das ein unmodernes Ziel? Ist das Sozial- Unser Modell der gemeinsamen Absicherung von
romantik? Fragen Sie die Menschen in unserem Land. Chancengleichheit nenne ich genial. Wenn wir es nicht
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10837
Rudolf Dreßler

(A) schon hätten, müssten wir es erfinden. Wir werden zu Ich will heute daran erinnern, um mich bei jenen Kolle- (C)
Recht weltweit darum beneidet. Das System ist deshalb so ginnen und Kollegen – parteiübergreifend – zu bedanken,
genial, weil es die Gesellschaft nicht in diejenigen spaltet, die mir auf unterschiedlichste Weise dabei geholfen ha-
die für sich allein Vorsorge tragen, und diejenigen, die auf ben. Gestatten Sie mir, dass ich stellvertretend drei Na-
Unterstützung angewiesen sind. Nein, keiner muss in die- men nenne: Norbert Blüm, Wolfgang Schäuble und
sem System Danke sagen. Keiner muss das Gefühl haben, Rudolf Scharping.
nur für den anderen zu bezahlen. Jeder trägt im Rahmen
seiner Möglichkeiten Verantwortung auch für die anderen Man kann in vielen Details unterschiedlicher Meinung
und erwirbt dadurch das Recht, von diesen im Bedarfsfall sein und streiten. Große sozialpolitische Reformen soll-
unterstützt zu werden. ten im Interesse der Menschen und im Interesse des Zu-
sammenhalts der Gesellschaft parteiübergreifend vorge-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nommen werden. Darum sollten wir uns immer wieder
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der neu bemühen. Der Opposition kommt in diesem Zusam-
PDS) menhang immer die größere Verantwortung zu, weil sie
Ich frage: Warum stellen wir dies nicht in der öffentli- nicht handeln muss; eine Regierung muss, die Opposition
chen Auseinandersetzung als ein hohes Gut heraus, das kann.
uns viel wert ist und auf das wir stolz sein können? Statt- Ich möchte auf fünf große sozialpolitische Reformvor-
dessen schwingt in den Forderungen nach mehr Eigenvor- haben verweisen, die wir parteiübergreifend erarbeitet
sorge und mehr Eigenverantwortung der Vorwurf mit, die haben, Reformen, bei denen wir in der Opposition Ver-
Menschen würden sich bisher zu sehr auf den Staat ver- antwortung übernommen haben: die Rentenreform 1989,
lassen. Ich frage: Wo bitte schön fängt die Eigenverant- das Renten-Überleitungsgesetz, das Gesundheitsstruktur-
wortung denn an, jenseits von 2 000 DM monatlich? gesetz von 1992, die Pflegeversicherung und den sozial-
Ungefähr so viel zahlt nämlich ein Facharbeiter mit einem politischen Teil des Einigungsvertrages. Wir haben über
Bruttoeinkommen in Höhe von 5 000 DM in die Sozial- die Details hart gestritten und wir haben gerungen. Wir
versicherung ein – von seinen Steuern, mit denen schließ- wussten uns aber in den grundsätzlichen Zielen einig.
lich Schulen, Universitäten, Krankenhäuser, kulturelle
und Jugendeinrichtungen sowie unsere innere und äußere Ich habe denjenigen, die neben mir daran beteiligt wa-
Sicherheit finanziert werden, ganz zu schweigen. ren, für ihre Zusammenarbeit, für ihre Fairness und für
den wechselseitigen Respekt, der unsere Arbeit begleitet
Die Bürger betreiben Eigenvorsorge. Mehr noch: Sie
hat, zu danken. Stellvertretend für viele andere möchte
übernehmen nicht nur Eigenverantwortung, sondern auch
ich diesen Dank insbesondere an die Kollegen Norbert
solche für die Gemeinschaft. Ich erinnere daran, dass die
Blüm –, noch einmal Horst Seehofer, Julius Cronenberg
westdeutschen Arbeitnehmer seit zehn Jahren Hunderte
(B) von Milliarden DM aufgebracht haben, um die soziale und Dieter Thomae richten. Vielleicht trifft auf uns alle (D)
ein bisschen der Satz zu, den Willy Brandt an das Ende
Absicherung der deutschen Einheit zu finanzieren. Das
haben sie zu keinem Zeitpunkt in Frage gestellt. Die Welt seiner Zeit gesetzt hat: „Man hat sich bemüht.“
staunt heute noch darüber. Das ist eine Riesenleistung und (Anhaltender Beifall im ganzen Hause – Die
eine großartige verantwortungsbewusste Haltung der Abgeordneten von SPD, BÜNDNIS 90/DIE
Menschen in unserem Land der Gemeinschaft gegenüber. GRÜNEN, F.D.P. und PDS erheben sich)
Diese Tradition müssen wir hegen und pflegen, wir dür-
fen sie nicht herunterreden.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich denke,
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE ich spreche in Ihrer aller Namen, liebe Kolleginnen und
GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeordne- Kollegen, wenn ich dem Kollegen Dreßler den sehr herz-
ten der CDU/CSU) lichen Dank des ganzen Hauses ausspreche.
Ich fasse es in die These: Nicht Globalisierung statt Herr Kollege Dreßler, Sie waren seit Ihrem Amtsantritt
Tradition, sondern Globalisierung der Tradition, der Tra- im Deutschen Bundestag im Jahre 1980 einer der herausra-
dition der Aufklärung. genden Sozialpolitiker dieses Hauses. Sie haben sich um
Ich werde demnächst aus dem Deutschen Bundestag die Sozialpolitik in Deutschland verdient gemacht. Ich
ausscheiden und eine neue Aufgabe übernehmen. Dass wünsche Ihnen im Namen aller Kolleginnen und Kollegen
dies einige mit Erleichterung zur Kenntnis nehmen, macht auch für Ihre zukünftigen wichtigen Aufgaben viel Erfolg,
mich ein bisschen stolz. insbesondere für die wichtige und schwierige Aufgabe des
deutschen Botschafters in Israel.
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD, dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS so- (Beifall im ganzen Hause)
wie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Der nächste Redner ist der Kollege Josef Laumann von
Vor zweieinhalb Jahren musste ich mein Leben neu der CDU/CSU-Fraktion.
sortieren. Das einschneidende Ereignis eines Verkehrsun-
falls zwang mich täglich in eine Auseinandersetzung mit Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Sehr geehrter
fast allen Sekundärtugenden. Ich habe diese Auseinander- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr
setzung angenommen und, so glaube ich, einigermaßen
geehrter Herr Dreßler, zunächst einmal möchte ich Ihnen
gemeistert.
auch im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Res-
(Beifall im ganzen Hause) pekt und Anerkennung für Ihre Tätigkeit über sechs
10838 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Karl-Josef Laumann

(A) Wahlperioden hier im Deutschen Bundestag aussprechen. Wir müssen uns in unserer Gesellschaft bemühen – da (C)
Sie sind in dieser Zeit ohne Frage einer der bedeutendsten muss Politik mit gutem Beispiel vorangehen –, die Frage
Sozialpolitiker dieses Hauses gewesen. Niemand, auch der Generationengerechtigkeit im Kopf zu behalten. Ich
wir als Ihre politischen Gegner nicht, auch die Jüngeren persönlich empfinde es genauso, wie Sie es gesagt haben.
im Parlament nicht, kann Ihnen Ihre Riesensachkennt- Ich bin fest davon überzeugt, dass die ganz jungen Leute,
nisse streitig machen. Man hatte immer den Eindruck – auch die Generation meiner Kinder, heute in Deutschland
das spürte man –, dass Sie Ihre Arbeit daran orientierten, Rahmenbedingungen vorfinden werden, von denen Ihre,
Rahmenbedingungen zu schaffen, damit die Menschen in aber auch meine Generation noch geträumt hat: in einem
diesem Land, die der Solidarität bedürfen, am gesell- Europa zu leben, in dem es die reale Sorge vor Krieg nicht
schaftlichen Leben teilhaben können. mehr gibt.
Ich finde, wir Jüngeren, die die Sozialpolitik in den In den 60er- und 70er-Jahren, auch noch bis in die 80er-
nächsten Jahren hier im Parlament tragen und weiterent- Jahre hinein, hatten wir eine andere Situation. Ich kann
wickeln müssen – Sozialpolitik ist nie statisch, etwas, was mich noch daran erinnern, wie wir das Ganze Mitte der
so bleiben kann, wie es ist, sondern sie muss gesellschaft- 70er-Jahre, als ich Soldat war, gesehen haben. Wir haben
lichen Veränderungen angepasst werden, über Generatio- heute ein breit gefächertes Bildungssystem für alle Ge-
nen und Fraktionen im Deutschen Bundestag hinweg –, nerationen, eine Teilhabe an der Bildung ist für alle mög-
sollten nicht jedem Modetrend erliegen.
lich. Dennoch müssen wir gerade in der Sozialpolitik da-
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem ran denken, dass auch diejenigen, die trotzdem nicht mit-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.) halten können, eine Chance haben, am Arbeitsmarkt und
Die Sozialversicherung zur Absicherung bei Krankheit, am gesellschaftlichen Leben insgesamt teilzunehmen.
Alter und Arbeitslosigkeit ist nichts Altmodisches und (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie
muss auch von uns Jüngeren verteidigt werden. der Abg. Andrea Fischer [Berlin] [BÜNDNIS 90/
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem DIE GRÜNEN])
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.) Sozialpolitik der Zukunft – das soll mein letzter Ge-
Ich bin sicher, dass der Begriff Sozialversicherung, wenn danke sein – darf sich nicht darauf beschränken, sich um
der DAX irgendwann einmal etwas fällt und viele Leute die Armen und Entrechteten zu kümmern, der Samariter
merken, dass die Buchwerte sich nicht wie gewünscht rea- zu sein. Wir müssen vielmehr für den normalsituierten
lisieren, nicht mehr in allen Ohren so altmodisch klingt, Bürger die gemeinschaftliche Absicherung bei Krankheit
und Alter in Pflicht- und Kollektivsystemen behalten;
(B) wie das heute bei dem einen oder anderen vielleicht der (D)
Fall ist. denn sie schützen vor Altersarmut und gewährleisten je-
dem die notwendige medizinische Versorgung.
Aber, Herr Dreßler, es wäre heute von mir als Vertreter
der Union eine unehrliche Rede, wenn ich nicht auch fol- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie
genden Punkt ansprechen würde: Sie als Sozialexperte bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
haben den Wahlkampf Ihrer Partei für die letzte Bundes- GRÜNEN)
tagswahl wesentlich mit vorbereitet. Das war Ihr gutes
Gesetzliche Krankenkassen sind nichts Altmodisches.
Recht. Es ist das Recht der Opposition, sich für ihren
Wir brauchen sie, damit auch Menschen, die zum Beispiel
Wahlkampf ein bestimmtes politisches Feld auszusuchen.
von Geburt an Handicaps haben, zu bezahlbaren Beiträ-
Sie haben damals an der Rentenreform, die wir als
CDU/CSU und F.D.P. am Ende unserer Wahlperiode ge- gen versichert sind.
meinsam zu verantworten hatten, vor allen Dingen den Sehr geehrter Herr Dreßler, seien Sie sicher, dass es
demographischen Faktor kritisiert und von einer Verwüs- auch in der jüngeren Generation der Abgeordneten des
tung der Rentenversicherung gesprochen. Sie haben an Deutschen Bundestages viele Menschen geben wird, die
die Wand gemalt, dass unsere Politik zu Altersarmut aus diesem Geist heraus Sozialpolitik weiterentwickeln
führen würde. Ich finde, nicht Sie, aber manch einer in Ih- werden. Sie werden das auch in Ihrer neuen Funktion be-
rer Fraktion muss sich doch fragen, ob die Politik, die obachten können.
heute von der SPD in Deutschland mit vertreten wird,
noch mit dem in Einklang steht, was im letzten Wahl- Ich gehe davon aus, dass für Sie und Ihre Familie in
kampf versprochen worden ist. diesem Neuanfang, den Sie mit knapp 60 Jahren nach
sechs Wahlperioden im Deutschen Bundestag noch ein-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) mal machen dürfen, ein großer Reiz liegt, und wünsche
Ich stelle mir in diesen Tagen oft vor, wie wohl Herr Ihnen von Herzen, dass Sie in dieser Aufgabe für die Zeit,
Dreßler von diesem Pult aus, aber auch auf vielen Presse- in der Sie noch etwas gestalten möchten, eine schöne in-
konferenzen und auf vielen anderen Veranstaltungen da- nere Befriedigung finden. Die besten Wünsche der
rauf reagiert hätte, wenn Sozialminister Norbert Blüm ein CDU/CSU werden Sie nach Israel begleiten.
Papier aus seinem Hause in Umlauf gebracht hätte, nach
Schönen Dank.
dem wir in der gesetzlichen Rentenversicherung irgend-
wann bei einem Rentenniveau von 64 Prozent landen (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem
würden. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10839

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als tegration, einer Politik gegen Ausgrenzung und auch einer (C)
nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Thea Dückert vom Politik der Antidiskriminierung.
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Ich glaube, dass wir in den letzten 19 Monaten ange-
fangen haben, mit sehr viel Aufmerksamkeit und Kraft zu
Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): versuchen, diesen Anforderungen gerecht zu werden. Es
Lieber Kollege Dreßler! Sehr geehrter Herr Präsident! ist nicht einfach nur eine sozialpolitische Aufforderung im
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute engeren Sinne, es ist vielmehr eine kulturelle Aufforde-
zwei wichtige Punkte, die zusammengehören. Wir haben rung an uns alle, eine Integration der ausländischen Mit-
einen wichtigen Anlass, der zu dieser Debatte geführt hat: bürger – das gehört zur Sozialpolitik – oder eine Politik zu
Der Kollege Dreßler wird nun nach Israel gehen. Ganz betreiben, die den Menschen, die in ihre Heimatländer
eng damit verwoben – deswegen können wir diese De- nicht zurück können, den Zugang zum Arbeitsmarkt er-
batte führen – ist eine inhaltliche Themenstellung, näm- möglicht.
lich die Frage: Wohin geht unsere Politik der Weiterent-
Integration ist ein sehr wichtiges Zentrum unserer Po-
wicklung und der Erneuerung des Sozialstaates?
litik, das wir sehr ernst genommen haben. Dies betrifft
Wo ist unser Ziel? Wo ist diese Perspektive? Herr Dreßler, auch die Arbeitsmarktpolitik, in der es heute immer mehr
Sie haben eben in bewährter Art und Weise viele Punkte darum geht, diejenigen, die trotz einer positiven wirt-
in die Debatte eingebracht. Wir haben nach 19 Monaten schaftlichen und konjunkturellen Entwicklung außen vor
gemeinsamer Regierung eine stolze Bilanz vorzuweisen, stehen, in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Das ist
doch geht es insbesondere um die angesprochene Per- ein wichtiger Punkt und ein Zentrum der Arbeitsmarktpo-
spektive. litik dieser Regierung sowie des Bündnisses für Arbeit.
Ich bin – ich habe es gestern schon gesagt – nicht län- Herr Dreßler, Sie brechen die Lanze für diese Politik
ger Abgeordnete, als diese Regierung im Amt ist. Auf der Integration. Ich denke, dass insbesondere die Armut –
diese Art und Weise bin ich nicht in den Genuss der kon- das haben Sie immer wieder thematisiert – ein sehr zen-
troversen und lebendigen Debatten der letzten Jahre um traler Punkt der Ausgrenzung in unserer heutigen Kon-
die Sozialpolitik gekommen und konnte so den häufigen sumgesellschaft ist. Wir wissen auch, dass insbesondere
Schlagabtausch nicht verfolgen. Ich habe aber das, was das Leben mit Kindern heute ein besonderes Armutsrisiko
nach außen gedrungen ist, aus einer Außenperspektive darstellt.
sehr deutlich wahrnehmen können. Dabei hat sich bei mir
In der Koalition haben wir uns diesen Bereich in einer
ein Bild festgesetzt, das sich auch anderen Menschen ver-
sehr umfassenden Art und Weise zu Herzen genommen,
mittelt hat, nämlich dass jemand um die Sozialpolitik
(B) ringt, der sie nicht einfach als Blinddarm, sondern als weil wir von der alten Bundesregierung etwas vorgefun- (D)
den haben, was sehr schnell wieder zu korrigieren war. An
Herz des Sozialstaats begreift.
dieser Stelle will ich nicht alle Punkte inhaltlich auf-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN führen, die dazu geführt haben, dass das Leben mit Kin-
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der dern heute schon etwas einfacher geworden ist. Nach
PDS) 19 Monaten ist aber noch viel zu tun.
Mit dieser Form, engagiert Sozialpolitik zu betreiben, Die Politik der vergangenen Monate ist eine Antwort
wird eine sehr wichtige gesellschaftliche Funktion gerade auf das, was Sie fordern. Das haben Sie wieder ausge-
in der heutigen Zeit, in der wir uns den neuen Herausfor- führt, als Sie von den drei großen G – Gleichheit, Ge-
derungen der Zukunft stellen müssen, erfüllt. Die Zukunft rechtigkeit und Glaubwürdigkeit – gesprochen haben. Sie
wird Probleme aufwerfen, die in ihrer Komplexität und sprachen davon, dass es um Chancengleichheit geht. In
Vielseitigkeit von unserem heutigen Sozialsystem häufig unserer Gesellschaft können wir die Politik der Chancen-
gar nicht verarbeitet werden können. In einer solchen Si- gleichheit nirgends besser ansetzen als bei den Kindern,
tuation der Veränderung, Weiterentwicklung und Erneue- gerade bei Kindern, die in einkommensschwachen Fami-
rung haben Sie gewissermaßen einen sozialen Kompass lienverhältnissen leben.
dargestellt, der ein Stück Sicherheit in die Debatte bringt
Sie haben von den drei großen G als Aufforderung, Po-
und den Raum für eine Debatte um Zukunftsfragen öffnet.
litik zu machen, gesprochen. Sie haben in der Verbindung
Ich weiß, Sie hören nicht gerne den Begriff der Moderni-
dazu gesagt, dass jeder großen Reform zunächst einmal
sierung, aber wir diskutieren natürlich auch unter dieser
die Anerkennung und die Aussprache der Wahrheit und
Begrifflichkeit und meinen das nicht so oberflächlich, wie
der Realität vorausgehen. Dies mit der Anforderung an
Sie das zu Recht in Ihrem Beitrag kritisiert haben. Sie
Gleichheit, Gerechtigkeit und Glaubwürdigkeit verbun-
nehmen, Herr Dreßler, eine Rolle an, in der man den Tra-
den ist etwas, was den großen sozialpolitischen Refor-
ditionalisten als wohlverstandene und positive Ausprä-
men, denen wir gegenüberstehen, zum jetzigen Zeitpunkt
gung begreifen kann.
zugrunde gelegt worden ist. Das gilt für die Ge-
Sie haben gesagt und vorhin noch einmal ausgeführt, sundheitsreform, und das gilt auch für die Rentenreform.
dass sich die Qualität einer Gesellschaft an der Fähig- Dies ist sehr schwierig – ich komme noch einmal auf
keit, den Schwachen gerecht zu werden und ihnen deut- diesen Punkt zu sprechen –, weil ich an einer Stelle eine
lich zu machen, dass sie dazugehören, bemesse. Ich Differenz zu dem sehe, was Sie vorgetragen haben.
denke, dieser wichtige und zentrale Satz für die Sozialpo- Ich denke, dass man Gleichheit, Gerechtigkeit und
litik ist für uns eine Aufforderung zu einer Politik der In- Glaubwürdigkeit nicht abschließend definieren kann.
10840 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Dr. Thea Dückert

(A) Gerechtigkeit ist ein Begriff ist, der sich in dieser Ge- Dr. Irmgard Schwaetzer (F.D.P.): Herr Präsident! (C)
sellschaft entwickelt, sodass es neue Facetten und Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der heutigen De-
Schwerpunkte gibt. batte verlässt ein wirklich politisches Schwergewicht die
Bonner bzw. die Berliner Bühne. Auf der Bonner Bühne
Die Frage der Generationengerechtigkeit ist für uns hat er länger als auf der Berliner Bühne agiert. Aber im-
ein ganz zentraler Punkt. Wenn wir heute über die Ren- mer hat er agiert und war nicht zu überhören.
tenreform diskutieren, dann ist die neue Sensibilität in un-
(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid]
serer Gesellschaft, zum Beispiel über etwas Zentrales [CDU/CSU]: Das ist wahr!)
oder Profanes, wie die Beitragssätze zu reden, damit ver-
bunden, dass wir eine vernünftige Sozialpolitik nur be- Ich glaube – das stellt die F.D.P. als kleinere Oppositi-
treiben können, wenn die Politik nicht auf Kosten der jun- onsfraktion sowieso fest; aber auch die CDU/CSU tut es –,
gen Generation geht. Das versuchen wir in unserem Kon- dass es einer ungeheuren Anstrengung bedarf, aus der
Opposition heraus sozialpolitische Entwicklungen bzw.
zept der Rentenreform zusammenzubringen. Deswegen
politische Entscheidungen überhaupt mitzugestalten.
reden wir über die Notwendigkeit einer Beitragsstabili- Aber auch dies haben Sie, Herr Kollege Dreßler, ge-
sierung und über die Notwendigkeit, dass die ältere Ge- schafft, als Sie nach dem Regierungswechsel 1982 für
neration dazu einen Beitrag leisten muss. Wir führen diese viele Jahre in die Opposition gezwungen wurden.
Diskussion nicht, weil wir meinen, man müsse den alten
Menschen in die Tasche greifen. (Beifall bei der F.D.P., der SPD und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich möchte an drei Dinge erinnern: Erstens. Die F.D.P.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau Kol- hat den Konsens über die Rentenreform 1989 aus großer
legin, darf ich Sie an die Zeit erinnern? Überzeugung mitgetragen. Zweitens. Schmerzliche Erin-
nerungen hat die F.D.P. dagegen an die Verhandlungen
über das Gesundheitsstrukturgesetz, die 1992 in Lahn-
Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): stein stattfanden, als die Übereinstimmung zwischen dem
Ich komme gleich zum Schluss. Arbeits- und Gesundheitsminister Blüm und dem opposi-
An dieser Stelle geht es vielmehr darum, dass sich tionellen Sozialpolitiker Rudolf Dreßler wesentlich
diese Gesellschaft so verändert, dass zum Beispiel Gene- größer war als die mit der F.D.P.
rationengerechtigkeit einen anderen Schwerpunkt be- (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/
kommt. Deswegen glaube ich, dass wir bei der Rentenre- CSU]: Das war Seehofer, nicht Blüm!)
form, selbst wenn Sie in vielen Punkten Kritik anmelden, – Okay, in Lahnstein hat schon Seehofer verhandelt, aber
(B) dieser Überschrift folgen. es war Dreßler. (D)
Meine Damen und Herren, eigentlich wollte ich noch (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem
etwas zur Gesundheitsreform sagen. Das tue ich jetzt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
nicht. Alle wissen, dass meine Meinung mit der des Kol- Bei uns ruft die Erinnerung an Lahnstein keine ungeteilte
legen Dreßler weitgehend übereinstimmt. Auch in diesem Freude hervor.
Prozess ging es immer um das Ringen von Lösungen. Das
ist ganz klar. Drittens. Etwas Ähnliches hat sich dann bei den Ver-
handlungen über die Pflegeversicherung 1999 abgespielt.
Man fragt sich natürlich, worauf das beruht. Ich
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau Kol- möchte einen Punkt unterstreichen – das haben Sie, Herr
legin, bitte. Dreßler, auch an der Reaktion der Opposition auf das, was
Sie gerade vorgetragen haben, gemerkt –: Wir unterschei-
den uns nicht durch die Ziele, die wir in der Sozialpolitik
Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
verfolgen. Auf Art. 20 des Grundgesetzes, den sozialen,
Ich komme zum Schluss. demokratischen Rechtsstaat, sind wir alle verpflichtet.
Herr Kollege Dreßler, Sie gehen nach Israel. Das ist ein Ihm fühlen wir uns alle auch verpflichtet. Im Wesentli-
Neubeginn. Meine Worte, die ich Ihnen mit auf den Weg chen diskutieren wir über Instrumente.
geben kann, sind vielleicht nicht so schön wie von Ich denke, Sie nehmen mir ab, dass sich die Abgeord-
Hermann Hesse, der gesagt hat: „Und jedem Anfang neten meiner Fraktion häufig durch Ihre polemischen
wohnt ein Zauber inne.“ Ich hoffe das sehr für Sie. Ich Feststellungen verletzt fühlten, die Sie zweifellos mit
nenne noch ein Zitat von Mao Zedong, den Sie vielleicht großer rhetorischer Brillanz und Schärfe vorgetragen ha-
auch mögen: „Die Zukunft ist licht.“ Das wünsche ich Ih- ben; denn wir haben natürlich die beachtliche Resonanz,
nen auch für Israel. die Sie damit erzielt haben, bemerkt. Bei mir persönlich
hat das eine oder andere durchaus auch Aggressionen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ausgelöst. So bin ich eben.
und bei der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Die leichte Frustration, die Ihnen in den letzten Jahren
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als nächs- anzumerken war, ist, glaube ich, durchaus verständlich.
te Rednerin hat die Kollegin Dr. Irmgard Schwaetzer von Wir alle haben bemerkt, dass sich in der SPD eine Ausei-
der F.D.P.-Fraktion das Wort. nandersetzung darüber vollzieht, wie die Sozialpolitik
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10841
Dr. Irmgard Schwaetzer

(A) für die Informationsgesellschaft aussehen soll. Diese Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als nächs- (C)
Auseinandersetzung hat zu Beginn dieser Legislaturperi- te Rednerin hat die Kollegin Dr. Heidi Knake-Werner von
ode dazu geführt, dass die Reformen der alten Regierung der PDS-Fraktion das Wort.
zurückgenommen wurden. Aber im Rahmen der Renten-
reform tauchen die Reformen der alten Regierung in et-
was veränderter Form wieder auf, wie die Einführung der Dr. Heidi Knake-Werner (PDS): Herr Präsident!
Sozialversicherungspflicht bei den 630-Mark-Jobs und Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lieber Kollege
die Regelung zur Bekämpfung der Scheinselbstständig- Dreßler, heute ist nicht ein Antrag wichtig, sondern
keit belegen. Eine Sozialpolitik für die Informationsge- Rudolf Dreßler ist wichtig. Ich darf sagen: Rudolf Dreßler
sellschaft hätte in beiden Fällen die Pflicht zur Versicher- zuzuhören hat sich für mich heute wieder einmal gelohnt.
ung wesentlich adäquater anerkennen können. Dafür ein ganz herzliches Dankeschön!
Sie haben auf den Grundsatz „Freiheit, Gleichheit, (Beifall bei der PDS, der SPD und dem
Brüderlichkeit“ hingewiesen. Ich bin fest überzeugt, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
dass keine Partei, die ihr Überleben in unserer Gesell- Ich muss leider auch sagen: Der Antrag, den Sie heute
schaft dauerhaft sichern möchte, an diesem Dreiklang eingebracht haben, hat sich nicht gelohnt. Sie hätten sich
vorbeikommt. Die Prioritäten werden unterschiedlich ge- ihn ersparen sollen. Ich finde, er wird auch dem Kollegen
setzt. Bei den Freien Demokraten ist es die Freiheit, die Dreßler in keiner Weise gerecht.
ganz eindeutig die größere Betonung hat. Am Ruf der
Französischen Revolution, dem Anfangspunkt bürgerli- (Beifall bei der PDS)
cher Freiheit, kann keiner vorbei. Wenn Sie diesen Antrag neben die Rede von Herrn
Es kann aber auch niemand daran vorbei, dass sich ge- Dreßler legen, dann werden Sie unschwer feststellen, was
rade in der jungen Generation die Begriffe Solidarität und ich damit meine.
Gerechtigkeit in einem Bedeutungswandel befinden. Glo- (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/
balisierung bedingt verschärften Wettbewerb, aber auch CSU]: Dann können sie den Antrag wegwer-
ein erhöhtes Maß an Selbstbestimmung, Selbstverantwor- fen!)
tung und Mobilität. Das bedeutet: Der Sozialstaat muss
und kann anders gestaltet werden. Steigende Lebenser- Insofern zitiere ich gerne aus einer jüngst veröffentlichten
wartung und medizinischer Fortschritt sind in einer Rede von Rudolf Dreßler. Er sagte:
Gesellschaft, in der sich die Arbeit verändert und anders Der Hang zur Oberflächlichkeit in unserer Gesell-
gestaltet ist, als es noch vor 10 oder 20 Jahren der Fall ge- schaft ist zu einer grassierenden Seuche geworden.
wesen ist, nicht mehr zu finanzieren.
Das gilt leider auch für diesen Antrag.
(B) Deswegen geht es nicht darum, Umlage gegen Privat- (D)
vorsorge oder Kapitaldeckung auszuspielen; (Beifall bei der PDS)
(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] Trotzdem will ich dazu kurz etwas sagen. Wenn ich mir
[CDU/CSU]: Ergänzung!) Ihre zwölf Spielstriche umfassende Bilanz der 19 Monate
Sozial- und Arbeitmarktpolitik anschaue, dann muss ich
vielmehr geht es darum, das Beste aus beiden Ansätzen zu Ihnen einfach sagen: Mit einer Bilanz kann man zwar sehr
nehmen und Solidarität und Umlage mit den Chancen der viel zum Ausdruck bringen, aber man kann natürlich auch
Nutzung des Kapitalmarktes zu verbinden. sehr viel verschweigen. Letzteres tun Sie vorrangig. So
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten vorzugehen ist eben nicht glaubwürdig. Auf Ihrer Aktiv-
der CDU/CSU) seite schwelgen Sie, wie ich finde, in Überbewertung Ih-
rer Leistungen und auf der Passivseite steht nichts ande-
Auch das bedeutet nicht, dass staatliche Hilfe entfällt, res als ein trotziges „Weiter so“.
wenn sich der Staat zurückzieht. Es bedeutet nur, dem
Einzelnen mehr Entscheidungsspielraum zu überlassen, Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Ich ignoriere
wie er selbst staatliche Hilfe einsetzt. den sozialpolitischen Elan in Ihrer Anfangszeit keines-
wegs; aber ich registriere natürlich auch, die Brüche in Ih-
Herr Dreßler, ich bedanke mich bei Ihnen im Namen rer Politik und Ihren Versprechungen seit dem Abgang
der F.D.P. für die – in den meisten Fällen – konstruktive von Lafontaine. Sie müssen sich heute einfach fragen las-
Auseinandersetzung. Sie waren kein leichter Gegner. Sie sen: Haben Sie dieser Bundesregierung wirklich nichts
sind immer geachtet gewesen. Ich habe mit Ihnen nur vier
anderes zu sagen, als sie aufzufordern, den eingeschla-
Jahre, von 1983 bis 1987, im Ausschuss für Arbeit- und
genen Weg nach dem Motto weiterzugehen: „Augen zu
Sozialordnung verbracht. Immerhin waren wir nachts um
und durch“? Das finde ich auch angesichts der heutigen
drei Uhr für eine Ausschusssitzung auf den Beinen, als es
Rede von Rudolf Dreßler äußerst mager.
unter der Leitung von Eugen Glombig – damals waren
noch andere dabei – um die Auszubildenden im Bäcker- (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/
handwerk ging. Wir haben uns da nichts erspart. CSU]: Das hat er nicht gesagt!)
Ich wünsche Ihnen im Namen der F.D.P. Glück und Er- – Das hat nicht Dreßler gesagt – auf ihn komme ich noch
folg, Zufriedenheit und persönliches Wohlergehen in Ih- zu sprechen –, sondern ich beziehe mich jetzt auf den An-
rer neuen Aufgabe. trag. – Er hat Ihnen einiges ins Stammbuch geschrieben,
was Sie ernst nehmen sollten und in Ihre Politik aufneh-
Ich danke Ihnen.
men müssten. Dieser Antrag ist auch im Vergleich zu dem
(Beifall im ganzen Hause) Titel, den Sie dafür gewählt haben und gemäß dem es um
10842 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Dr. Heidi Knake-Werner

(A) Weiterführung des Sozialstaates und um mehr Gerechtig- Ihre neue Aufgabe als Diplomat – den kann ich mir aller- (C)
keit gehen soll, äußerst mager. dings noch nicht so ganz vorstellen.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von den Ko- (Beifall bei der PDS, der SPD und dem
alitionsfraktionen, glauben Sie wirklich, dass das riester- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
sche Rentenkonzept zur Weiterentwicklung des Sozial-
staates und zu mehr sozialer Gerechtigkeit führt?
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als nächs-
(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ ter Redner hat der Kollege Johannes Singhammer von der
CSU]: Wer glaubt denn das?) CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Ich glaube das nicht. Das Gegenteil ist der Fall.
(Beifall bei der PDS) Johannes Singhammer (CDU/CSU): Herr Präsi-
dent! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ihnen,
Ihr Konzept richtet sich gegen die Interessen von Milli- Herr Kollege Rudolf Dreßler, gelten mein Respekt und
onen Menschen, die auf eine ausreichende soziale Alters- meine Achtung für Ihre politische Lebensleistung hier im
sicherung angewiesen sind. Es richtet sich auch gegen die Hohen Hause. Wir haben uns gerne mit Ihnen gemessen,
junge Generation, die über die Maßen belastet wird. Ich sei es mit dem leichten Florett oder mit dem schweren Sä-
will hier noch einmal Dreßler zitieren: bel.
Ob diese Entwicklung noch mit den Grundsätzen ei- (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/
ner solidarischen Gesellschaftspolitik in Einklang zu CSU]: Oder mit dem Holzhammer! – Heiterkeit
bringen ist, das muss jeder für sich entscheiden. bei der CDU/CSU)
Er hat sich entschieden, und zwar, wie ich finde, richtig. Wir wünschen Ihnen persönlich als Diplomat in Israel bei
der Vertretung unseres Landes Glück, Erfolg und auch
(Beifall bei der PDS)
Befriedigung.
Rudolf Dreßler gehört zweifellos zu den Politikern in
Herr Kollege Dreßler, Sie haben die Gelegenheit ge-
der SPD, die das soziale Profil dieser Partei über Jahre ge-
nutzt, wie es einem so erfahrenen Politiker wie Ihnen zu-
prägt haben. Er hat Werte wie soziale Gerechtigkeit ge-
kommt, mit Ihrer Rede ein politisches Vermächtnis, das
gen den Kurs der Modernisierer in den eigenen Reihen en- einige Grundsätze enthält, zu hinterlassen. Gestatten Sie
ergisch verteidigt. Er musste wie viele andere auch die Er- mir deshalb, darauf kurz einzugehen.
fahrung machen, dass die Beulen, die man sich im
politischen Leben einhandelt, nicht immer vom politi- Für uns steht im Mittelpunkt einer zukunftsgewand-
(B) schen Gegner kommen, manchmal sogar seltener von ten Sozialpolitik die Überzeugung, dass der Mensch Maß (D)
ihm. und Mitte der Politik bleiben muss, dass Freiheit und Ge-
rechtigkeit zusammengehören und dass die Würde des
Spätestens seit dem Schröder-Blair-Papier hat sich Menschen – wie es unser Grundgesetz formuliert – unan-
Dreßler als Traditionalist, als Betonkopf, als Sozialro- tastbar ist. Wir gehen von einem christlichen Men-
mantiker verunglimpfen lassen müssen. Ich finde, er hat schenbild aus. Wir nehmen deshalb den Menschen so an,
diesen Angriff gut pariert. Heute hat er dafür wieder ein wie er ist. Wir wollen ihn nicht ändern und nicht neu er-
gutes Beispiel abgelegt. In seiner bereits zitierten Rede schaffen. Wir nehmen ihn mit seinen Stärken und
sagte Dreßler allen Schröders und Clements zum Trotz: Schwächen an.
... wer mehr Gerechtigkeit durchsetzen will, der (Beifall bei der CDU/CSU)
schafft dies nicht durch Anpassung an die Realitä-
ten… Nein, der schafft dies nur durch seine Ent- An diesem Grundsatz richten wir unsere politischen
schlossenheit, Realitäten zu verändern! Forderungen aus. Deshalb sind wir der Meinung, dass Ge-
rechtigkeit, zumal soziale Gerechtigkeit, nicht mit
(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten Gleichheit verwechselt werden darf. Wir treten dafür ein,
der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- jeden zu befähigen, seine Leistung zu erbringen und zu
NEN) steigern. Wir treten auch dafür ein, dass sich jeder mit sei-
Das ist Dreßlers Credo. ner ganzen Persönlichkeit einbringen kann.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, er wird (V o r s i t z: Vizepräsidentin Dr. Antje
Ihnen fehlen und er wird auch uns fehlen. Vollmer)

(Beifall bei der PDS) Wir wollen eine menschliche Gesellschaft, die den
Schwachen hilft. Wer Freiheit schafft, muss denjenigen
Wenn Rudolf Dreßler heute geht, geht in der Tat ein Stück schützen und demjenigen helfen, der diese Freiheit nicht
sozialdemokratisches Urgestein. Sie haben es selber ge- in allen Bereichen so nutzen kann wie vielleicht die über-
sagt: Manche werden erleichtert sein. Sie sind ein wenig wiegende Zahl der Menschen. Darunter fallen ganz kon-
stolz darauf. Ich gönne ihnen zwar diese Genugtuung, kret in den nächsten Jahren bei uns in Deutschland zual-
aber ich finde es schade. Manch kämpferische Rede, lererst Familien, denen diese Teilhabe nicht in ange-
manch intellektueller Höhenflug, manch polemische Pol- messener Weise möglich ist. Darunter fallen auch
terei werden wir künftig vermissen. Ich wünsche Ihnen Menschen mit einem Handicap, die deshalb auch in Zu-
auch im Namen der gesamten PDS-Fraktion alles Gute für kunft unsere besondere Hilfe benötigen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10843
Johannes Singhammer

(A) Wir gehen von einem Grundsatz aus, der lautet, dass rungssystemen, beispielsweise bei der Pflegeversiche- (C)
eine nachhaltige Sozialpolitik Leistungsanreize geben rung, spüren wir auch jetzt schon ihre Folgen.
muss. Leistung soll belohnt werden. Wir brauchen die
Die demographische Entwicklung ist die größte He-
Starken und ihre Leistung, damit wir auch denen, die
rausforderung für Deutschland in den nächsten 30, 40 Jah-
schwächer sind, helfen können.
ren – nebenbei bemerkt auch für die Innovationsfähigkeit,
Rudolf Dreßler geht, sein Antrag bleibt. Deshalb will die unser Land braucht, wobei wir darauf angewiesen
ich auch auf diesen Antrag ganz kurz eingehen. Da hier sind, dass auch Jüngere nachwachsen.
eine Bilanz des großen Erfolges gezogen wird, wird es Sie
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir verab-
nicht wundern, dass wir, was die ersten 19 Monate dieser
schieden heute Rudolf Dreßler. Wir wünschen Ihnen, Herr
rot-grünen Regierung betrifft, die Entwicklung nicht ganz
Kollege Dreßler, im diplomatischen Dienst in Israel und
so euphorisch sehen. Ich will nicht alle Einzelheiten auf-
auf Ihrem weiteren Lebensweg alles Gute. Sie haben nun
zählen. Ich will aber zum Beispiel in diesem Zu-
auch die Möglichkeit, Ihre Erfahrungen in anderer Weise
sammenhang das Gesetz zur Vermeidung von Schein-
einzubringen. Sie haben in diesem Hohen Hause tiefe
selbstständigkeit nennen, das Sie schon nach einem hal-
Spuren hinterlassen.
ben Jahr korrigiert haben. Dazu zählt auch die schwierige
Geburt des Gesetzes hinsichtlich der 630-DM-Jobs. Seine (Beifall im ganzen Hause)
Auswirkungen auf das Ehrenamt beschäftigen uns ja ge-
rade.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Diesen vielen
Ich möchte noch auf einen zentralen Punkt eingehen, herzlichen Grüßen und Wünschen möchte auch ich per-
der uns in der nächsten Zeit sehr intensiv beschäftigen sönlich mich anschließen.
wird. Das ist die Frage der Sicherheit der Renten. Wir
Ich schließe damit die Aussprache.
haben mittlerweile den vierten Entwurf des Bundes-
arbeitsministers vorliegen. Schon das Herausgreifen von Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
zwei Punkten zeigt, so meine ich, dass das vorliegende Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
Konzept erhebliche Probleme in sich birgt. mit dem Titel „Stärkung des sozialen Zusammenhalts der
Gesellschaft durch Weiterentwicklung des Sozialstaats
Erster Punkt. Bei einer korrekten Berechnung und ei-
und mehr Gerechtigkeit“ auf Drucksache 14/3787. Wer
nem entsprechenden Vergleich der Auswirkungen des
stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer
Rentengesetzes der früheren Regierung mit den Auswir-
enthält sich? – Der Antrag ist damit mit den Stimmen der
kungen aufgrund des neuen Entwurfs muss man feststel-
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU
len, dass nicht, wie von Ihnen angegeben, ein Rentenni-
(B) veau von 65 Prozent erreicht wird – dieses Niveau wäre und F.D.P. bei Enthaltung der PDS angenommen. (D)
durch unser Gesetz erreicht worden; Sie haben es aber
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
heftig bekämpft und uns dafür im zurückliegenden Wahl-
kampf getadelt –, sondern nur ein Niveau von 61 Prozent. Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU
Ein zweiter wichtiger Punkt. Dieses Konzept birgt die Wissenschafts- und Hochschulzusammenarbeit
Problematik in sich, dass derjenige besser weg kommt, mit den Entwicklungs- und Transformations-
der früher in Rente geht, und dass derjenige, der länger ländern stärken
einzahlt und seine Beiträge leistet, dementsprechend – Drucksache 14/3376 –
benachteiligt wird. Überweisungsvorschlag:
Damit würde bei einer Berücksichtigung dieses Konzepts Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (f)
der Anreiz, sich früher aus dem Arbeitsleben zu entfernen, Auswärtiger Ausschuss
nicht geringer, sondern er würde wachsen. Das wiederum Innenausschuss
würde auf die jüngere Generation erhebliche Auswirkun- Rechtsausschuss
gen haben. Wir brauchen die jüngere Generation. Wir Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
müssen ihr glaubhaft machen, dass das ein gerechtes Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
System ist, bei dem die Jüngeren nicht zu kurz kommen, abschätzung
sondern bei dem sie, wenn sie lange eingezahlt haben, Haushaltsausschuss
letztendlich das, was sie eingezahlt haben, auch wieder
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
zurückerhalten.
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Widerspruch
In diesem Zusammenhang Folgendes: Wenn wir bei höre ich nicht. Dann ist das so beschlossen.
den Zukunftslinien einer Politik sind, die den Erforder-
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
nissen von Nachhaltigkeit und wirklicher Zukunftssicher-
Abgeordnete Klaus-Jürgen Hedrich.
heit genügt, müssen wir natürlich auch auf die demogra-
phische Entwicklung eingehen. Ich denke, dass in den
kommenden Jahren von allen Entwicklungen die demo- Klaus-Jürgen Hedrich (CDU/CSU): Frau Präsiden-
graphische Entwicklung die größten Auswirkungen auf tin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kol-
die Sozialsysteme haben wird. Im Zusammenhang mit der leginnen und Kollegen! Der Kollege Rudolf Dreßler
Rente diskutieren wir sie intensiv. Bei der Gesundheitsre- hat vorhin in einer durchaus beeindruckenden Rede
form wird es ähnlich sein. Bei anderen Sozialversiche- auf das Element der Solidarität in einer Gesellschaft
10844 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Klaus-Jürgen Hedrich

(A) hingewiesen. Aber eine Gesellschaft ist nur so solidarisch, dungslandschaft in vielen Bereichen nicht mehr so attrak- (C)
wie sie sich auch gegenüber anderen Gesellschaften, Na- tiv wie es die Bildungslandschaften unserer Nachbarn
tionen und Völkern verhält. Deshalb ist es, glaube ich, in sind: der Holländer, der Engländer, der Franzosen, von
einer enger werdenden globalen Struktur von ganz ent- den Amerikanern ganz zu schweigen.
scheidender Bedeutung, dass man sich nicht nur darüber
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Rechenschaft ablegt – so wichtig das ist –, wie es im ei-
genen Lande aussieht, sondern auch darüber, wie es in an- Wir müssen ein Interesse daran haben, unsere Univer-
deren Ländern aussieht, und insbesondere darüber, wie sitäten auf dem höchsten Stand zu halten. Aber wenn wir
die Beziehungen zwischen Völkern gestaltet sind. von Kooperation sprechen, möchte ich auch darauf ver-
weisen: Wir sollten nicht immer nur auf die akademische
Vor diesem Hintergrund kommt der Frage der Zusam-
Jugend und die akademische Landschaft schauen, son-
menarbeit im Bereich von Wissenschaft und Hochschulen
dern wir sollten auch an die hoch qualifizierten Fachar-
gerade mit Entwicklungsländern, Transformationslän-
beiter denken. Hier geht die Bundesregierung einen merk-
dern und Schwellenländern eine zunehmende Bedeutung
würdigen Weg – gerade das BMZ, Frau Staatssekretärin,
zu. Es ist nicht nur von entscheidender Bedeutung, dass
was mir überhaupt nicht einleuchtet –, indem sie in zu-
wir dazu beitragen, dass in diesen Ländern die entspre-
nehmendem Maße die Ausbildung von Bürgern aus Ent-
chenden Fachkräfte ausgebildet werden, sondern es ist in
wicklungsländern in die Entwicklungsländer selbst verla-
gleicher Weise entscheidend, wie wir das Verhältnis zu
gert, statt diesen Menschen die Chance zu geben, nach
diesen Ländern sehen.
Deutschland zu kommen und deutsche Kultur und deut-
Deshalb möchte ich, auch vor dem Hintergrund der sche Sprache kennen zu lernen.
Diskussionen der letzten Wochen und Monate, für unsere
Vielleicht reden Sie einmal mit Ihrem zuständigen Re-
Fraktion noch einmal sehr deutlich machen: Deutschland
feratsleiter ein ernstes Wort, damit er diesem Unsinn end-
hat ein Interesse daran, dass die Besten der Welt in unser
lich ein Ende bereitet. Das können Sie von der Leitungs-
Land kommen, um hier zu arbeiten und zu studieren.
ebene her entscheiden. Sie drücken sich hier um Ihre
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Verantwortung, und das vor dem Hintergrund, dass gerade
auf diesem Gebiet viel stärker als übrigens in unseren
Dies muss auch in unserem eigenen Interesse liegen.
Nachbarländern für Deutschland eine große Chance be-
Leider verletzt die Bundesregierung, die diesem Grund-
steht, weil die deutsche Wirtschaft bereit ist, an der Aus-
satz, den ich gerade genannt habe, manchmal zustimmt,
bildung von jungen Menschen aus den Entwicklungslän-
diesen in ihrer aktuellen Politik. Sie können das an vielen
dern mitzuwirken. Diese Chancen sollten wir nutzen und
Punkten erkennen. Beispielsweise werden die Förder-
nicht verbauen.
mittel für den Wissenschaftsaustausch zurückgefahren.
(B) In der letzten Zeit ist viel darüber gesprochen worden, wie Noch ein letztes Wort zur Hochschulkooperation. Wir (D)
wir junge Wissenschaftler zum Beispiel aus Indien nach sollten diese Hochschulkooperation in einem ganz beson-
Deutschland holen können, Stichwort: Green Card. Zum deren Maße mit den so genannten Schwellenländern be-
gleichen Zeitpunkt reduziert aber die Bundesregierung treiben, mit Ländern wie zum Beispiel Brasilien, Indone-
die Zusammenarbeit mit Indien im ingenieurwissen- sien, Indien und Südafrika. Dies sind Länder, die für uns
schaftlichen Bereich, also ausgerechnet in dem Bereich, zum einen aus entwicklungspolitischer Sicht und zum an-
in dem man den Mangel an Fachkräften in Deutschland deren – dies ist an dieser Stelle hinzuzufügen – natürlich
beklagt und in dem man immer ausgerechnet nach Indien auch als Handelspartner interessant sind. Je stärker der
schielt – was mich ein bisschen wundert, aber das hat sich Bildungs- und Entwicklungsstand eines Landes vorange-
so eingebürgert. Diese Reduzierung ist schon ein bisschen schritten ist, desto interessanter ist dieses Land für uns als
grotesk. Wirtschaftspartner. Es muss in unserem Interesse liegen,
dass junge Menschen die Chance haben, nach Deutsch-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
land zu kommen.
Gegenwärtig haben wir die Situation, dass lediglich
Ich plädiere aber mit großem Nachdruck dafür, dass
etwa 100 Inder pro Semester ihr Studium in Deutschland
wir dies nicht als Einbahnstraße betrachten, sondern dass
aufnehmen und nur 700 indische Studenten und Wissen-
wir in zunehmendem Maße deutsche Studenten, deutsche
schaftler insgesamt in Deutschland ihre Ausbildung
Wissenschaftler und deutsche Fachkräfte ermutigen, im
genießen, während die Besten dieser Welt in Scharen in
Ausland zu studieren. Dabei sollten sie nicht nur in die
die Vereinigten Staaten strömen. Zurzeit sind es mehr als
USA gehen – auch das ist wichtig –, sondern auch bereit
39 000 Bürger allein aus Indien, die in den Vereinigten
sein, in Entwicklungsländern zu studieren und diese ken-
Staaten ihre wissenschaftliche Ausbildung durchlaufen,
also ein Vielfaches der Zahl derer, die sich in Deutschland nen zu lernen. Denn es gibt auch in den Entwicklungslän-
aufhalten. dern, zum Beispiel in Brasilien, in Chile, in Argentinien,
in Mexiko, aber auch in Indien, hervorragende wissen-
Wir sind in unserer Wissenschaftspolitik ein bisschen schaftliche Institute.
provinziell. Vorhin wurde ausgeführt, wie viele Chancen
die jüngere Generation hat; das ist wahr. Aber wir haben (Dr. R. Werner Schuster [SPD]: Auch in
der eigenen Generation viele Chancen verbaut, indem wir Afrika!)
gerade in der Bildungspolitik dem Prinzip der Gleichma- Um also zu einem stärkeren kulturellen Austausch
cherei, das Herr Dreßler vorhin als falsch dargestellt hat, zwischen den Völkern beizutragen, sollten wir unsere
das Wort geredet haben. Dadurch ist die deutsche Bil- Landsleute ermutigen, ins Ausland zu gehen. Ich halte es
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10845
Klaus-Jürgen Hedrich

(A) für selbstverständlich, dass wir dieses Element stärken. Denn Sie beschreiben in der Analyse des Antrags weitest- (C)
Wenn wir den Gedanken des immer stärkeren Zusam- gehend eine Entwicklung, die in der Zeit stattgefunden
menwachsens der Welt ernst meinen, dann muss es dazu hat, als es einen Bundeskanzler Kohl und als es in den
kommen, dass sich Menschen aus unterschiedlichen Län- letzten Jahren Ihrer Regierung einen Minister für wirt-
dern in einem stärkeren Maße begegnen. Dazu gehört, schaftliche Zusammenarbeit namens Spranger gab.
dass man mobil ist und ins Ausland geht. Eine Antwort auf die im Herbst 1998 vorgefundene Si-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) tuation sind die Schwerpunktsetzungen der Bundesregie-
rung auch im Blick auf die Wissenschafts- und Hoch-
In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass die schulzusammenarbeit – im Übrigen nicht nur mit den
Zahl der ausländischen Studenten in Deutschland sta- Entwicklungs- und Transformationsländern. Wie in den
gniert. Das kann uns nicht beruhigen. Es gibt zwei, drei letzten Monaten schon so oft machen es sich die Sprecher,
Ausnahmen. Dazu gehört zum Beispiel Korea. Ansonsten insbesondere die der größeren Oppositionsfraktion, sehr
stagnieren die Zahlen bzw. gehen sie zurück. Das liegt einfach. „Haushaltskürzungen rückgängig machen“ ist
nicht allein, wie häufig gesagt wird, an der Sprachbar- mittlerweile eine stehende Floskel geworden. Nur, ange-
riere. Wenn heute mehr Indonesier in Japan studieren als sichts des finanziellen Scherbenhaufens, den uns die
in Deutschland und Sprachwissenschaftler einem sagen, frühere Regierung hinterlassen hat, werden und können
der Sprung von Bahasa Indonesia ins Japanische sei viel wir dies nicht machen.
schwieriger als von der indonesischen in jede indoeu-
ropäische Sprache, dann macht dies deutlich: Die Sprach- Trotzdem verweise ich darauf, dass die Mittel für die
barriere allein kann kein Grund dafür sein. Wissenschaftskooperation im Rahmen der Aus- und Fort-
bildung von Angehörigen der Entwicklungsländer, wie
Deshalb muss der Standort Deutschland attraktiver der entsprechende Haushaltstitel heißt, seit Regierungs-
werden. Wir müssen die Bundesregierung und die Bun- übernahme ja prozentual gestiegen sind und auch weiter
desländer ermutigen, entsprechende Angebote zu ma- steigen werden, wie Sie dem entsprechenden Haushaltsti-
chen. Es ist richtig, nüchtern festzustellen, dass leider die tel des Haushaltes entnehmen können. Dies entspricht im
Zeit vorbei ist, in der Deutsch die Wissenschaftssprache Übrigen Überlegungen, die Fachleute bereits in der letz-
war. Das ist heute Englisch. Wenn wir es an deutschen ten Legislaturperiode, zum Beispiel auf einem Sympo-
Universitäten als selbstverständlich betrachten, dass Wis- sium der Alexander-von-Humboldt-Stiftung, vorgeschla-
senschaftler aus dem Ausland ihre Examens- bzw. Dok- gen haben. Sie wissen, dass dies schon damals zum Bei-
torarbeit in englischer Sprache abliefern können, dann spiel der Deutsche Akademische Austauschdienst, der
sollte es auch selbstverständlich sein, dass wir in zuneh- DAAD, die Alexander-von-Humboldt-Stiftung und die
mendem Maße Studiengänge anbieten, die in englischer Deutsche Forschungsgemeinschaft, die DFG, sehr erfolg-
Sprache durchgeführt werden. reich abwickelten.
(B) (D)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Es wird allerdings darauf ankommen, das Gesamtkon-
zept und damit die Bedingungen auch für den Wissen-
Ich plädiere übrigens nicht zuletzt vor dem Hinter- schafts- und Hochschulbereich vor dem Hintergrund einer
grund der Notwendigkeit, die Prozesse in den Transfor- Neuorientierung der Politik in der Entwicklungszusam-
mationsländern zu beschleunigen, dafür, dass wir uns menarbeit zu verbessern, zum Beispiel dadurch, dass der
auch überlegen, ob wir nicht an der einen oder anderen noch von der alten Regierung eingesetzte Bundesbeauf-
deutschen Universität, vor allem an einer Universität in tragte für das Hochschulmarketing Ende des Jahres 1999,
den neuen Bundesländern, entsprechende Angebote in also schon ein Jahr nach Bildung der neuen Bundesregie-
russischer Sprache machen. rung, ein Memorandum unter Einbeziehung der Länder
Wir sollten also unsere Möglichkeiten flexibler gestal- vorgelegt hat, die ja in vielfältiger Hinsicht Verantwor-
ten. Deutschland als Wissenschaftsnation hat heute nach tung für den Hochschulbereich tragen. Die im Memoran-
wie vor viel zu bieten. Aber wir dürfen uns nicht ausru- dum genannten Maßnahmen werden von uns umgesetzt.
hen. Andere Länder haben aufgeholt und die Entwick- Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei verschiedenen
lungsländer nehmen an diesem Prozess in einem zuneh- Delegationsreisen, insbesondere in afrikanische Entwick-
menden Maße teil. Es gilt diese Chancen zu nutzen. lungsländer, habe ich gemerkt, dass die Gesamtsituation
Herzlichen Dank. in Deutschland, die nach wie vor von Ressentiments ge-
genüber Menschen anderer Länder und anderer Haut-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) farbe, insbesondere aus Entwicklungsländern, geprägt ist,
Studierende aus dem Bereich der akademischen Eliten da-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat von abhält, in Deutschland zu studieren. Dies muss man
jetzt der Abgeordnete Frank Hempel. zur Kenntnis nehmen.
Diese Ressentiments dürfen nicht geschürt werden,
Frank Hempel (SPD): Verehrte Frau Präsidentin! wie es von bestimmten politischen Kräften in diesem
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Insbesondere lieber Land getan wurde. Ich komme aus einem Bundesland, in
Kollege Hedrich, wenn dieser Antrag im September 1998 dem ich gespürt habe, wie dies auf fruchtbaren Boden fal-
len kann. Hier ist, meine ich, Vertrauensarbeit zu leisten,
vorgelegt worden wäre, dann hätten Sie eigentlich die
die dann geschieht, wenn in den Projektzusammenhän-
gleiche Rede halten können.
gen, zum Beispiel im Bildungsbereich, ein konstruktiv-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten kritischer Dialog geführt wird, der auch auf die
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Studienbedingungen in Deutschland eingeht.
10846 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Frank Hempel

(A) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland muss erlebt – ein großes Interesse daran haben, mit uns in Kon- (C)
mit offenen Angeboten an die Partner in den Entwick- takt zu bleiben.
lungs- und Transformationsländern herantreten. Herr
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Hedrich, die Angebote an unseren Hochschulen, Fach-
DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Christa Luft
hochschulen und Universitäten sind gar nicht so schlecht
[PDS])
wie in Ihrem Antrag angedeutet ist. Die Kolleginnen und
Kollegen der Unionsfraktion tun gut daran, den Hoch- Ich verweise etwa auf die Windhuker Erklärung, die vor
schulstandort Deutschland nicht schlechter zu reden als er dem Hintergrund der Auswertung von Erfahrungen von in
ist. Deutschland ausgebildeten Fachkräften aus Angola, Na-
mibia, Simbabwe usw. entstanden ist.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) Hier wird deutlich, dass die Bundesregierung bzw. die
von ihr unterstützten Organisationen – ich nenne hier als
Gewiss gab es in der Vergangenheit massive Versäum- Beispiel die Arbeitsgruppe Entwicklung und Fachkräfte
nisse, aufgrund derer unsere Regierung und insbesondere im Bereich der Migration und der Entwicklungszusam-
die Ministerin für Bildung und Forschung aktiv geworden menarbeit, AGEF, in Berlin – bereits heute die partner-
sind. Die Umstrukturierung hat unter der neuen Bundes- schaftliche Nachkontaktbetreuung und die Anwendung
regierung schon begonnen. Diese Neuorientierung der des an Fach- und Hochschulen Gelernten fördern.
Hochschulen, Fachhochschulen und Universitäten im
Blick auf mehr internationale Attraktivität und Überein- Die bedeutendste Sprache in internationalen Zusam-
stimmung bei Ausbildungsgängen und Abschlüssen ist menhängen ist – nicht erst seit dem Jahr 2000 – die engli-
von der neuen Bundesregierung in Gesprächen mit den sche Sprache. Von daher gesehen ist das Angebot für
Bundesländern immer wieder Gegenstand der Diskussion junge Menschen aus Entwicklungsländern, möglichst
gewesen. Hier gibt es auch erste Erfolge: So bieten einige schon im Heimatland Deutsch zu lernen, die eine Seite. In
Universitäten oder Fachhochschulen, zum Beispiel die diesem Zusammenhang – das erkenne ich natürlich an –
Fachhochschule Neubrandenburg in Mecklenburg-Vor- spielen die Goethe-Institute schon eine entscheidende
pommern, wo ich herkomme, einen Bachelor- und Ma- Rolle. Ich bin aber der Meinung, dass der Ausbau der Stu-
sterstudiengang an. diengänge in englischer Sprache genauso wichtig ist. Hier
verweise ich darauf, dass gerade die neue Bundesregie-
Die Mitarbeit beim Aufbau neuer wirtschaftlicher, rung im Sinne einer verstärkten Internationalisierung der
rechtlicher und administrativer Strukturen in den Ländern Angebote an Hochschulen initiativ geworden ist.
Mittel- und Osteuropas ist ebenfalls in vollem Gange. Das
Wir sollten allerdings auch nicht so tun, als würden in
(B) Gleiche gilt für die bereits genannten Fachorganisationen der Sekundarausbildung und auch in der Hochschulaus- (D)
der Entwicklungszusammenarbeit, die sich in diesen Län-
dern wie bereits in der Vergangenheit in den Entwick- bildung in Entwicklungs- und Transformationsländern
lungsländern engagieren. nicht bereits deutsches Know-how und deutsche Fach-
kräfte eingesetzt. Diese Fachkräfte leisten, wie wir wis-
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, Sie sen, eine nicht unerhebliche Werbung für den Ausbil-
sollten im Übrigen zur Kenntnis nehmen, dass die deut- dungs- und Hochschulstandort Deutschland. Das wissen
schen Hochschulabschlüsse international anerkannt sind Sie auch, Herr Kollege Hedrich.
und dass bei allen bilateralen Verhandlungen und multila-
teralen Konsultationen deutlich gemacht wird, dass es in (Klaus-Jürgen Hedrich [CDU/CSU]: Wer be-
Deutschland qualifizierte Hochschulausbildung verbun- streitet das denn?)
den mit entsprechender Begleitung und Integrationspro- Ich habe gerade auch in Gesprächen anlässlich von De-
grammen gibt. legationsreisen festgestellt, dass der Bereich von Public
Mit der Novellierung des Hochschulrahmengesetzes Private Partnership gewachsen ist. Gerade im Bereich
sind die Voraussetzungen dafür geschaffen worden, dass der Hochschulen sind die deutschen Fachorganisationen
sich die Hochschulen in Richtung Internationalisierung vom DAAD bis zur GTZ, der Gesellschaft für Technische
verändern können. Auch die angebotenen Aufbaustudi- Zusammenarbeit, an der Koordination beteiligt. Ein Blick
engänge mit entwicklungsbezogener Schwerpunktset- in die Kursangebote für Aufbaustudiengänge mit ent-
zung werden bereits gut angenommen. Hier empfehle ich, wicklungsländerbezogener Problematik zeigt, dass an den
auch in die Haushalte des Auswärtigen Amtes und des deutschen Universitäten die Herausforderung der Globa-
Bundesministeriums für Forschung zu schauen, aus denen lisierung ernst genommen wird.
deutlich wird, dass in erheblichem Umfange Programme (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
in englischer Sprache durchgeführt werden. DIE GRÜNEN)
Bei einem Aufenthalt im südlichen Afrika habe ich Ich wundere mich schon ein wenig, liebe Kolleginnen
selbst erfahren, dass in Deutschland ausgebildete Studen- und Kollegen von der Union, dass Sie nun plötzlich aus
ten noch gut von der Nachkontaktbetreuung zum Bei- Ihren Reihen nach der „Kinder-statt-Inder“-Kampagne
spiel der Carl-Duisberg-Gesellschaft sprechen. Nicht ver- die Reform des Ausländerrechts als Vehikel zur Verbes-
gessen sollten wir in diesem Zusammenhang die zahlrei- serung der von Ihnen in diesem Antrag angesprochenen
chen in der ehemaligen DDR ausgebildeten Facharbeiter Situation bemängeln. Hier stelle ich fest, dass gerade die
und Akademiker, die – das habe ich in Mosambik selbst Bundesregierung – insbesondere der Bundeskanzler – die
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10847
Frank Hempel

(A) Anregungen der Wirtschaft für diesen Bereich schon Auch hier hätte ich gern das Bildungsministerium ge- (C)
längst aufgegriffen hat. fragt: Ist es Ihnen eigentlich selbst nicht schon peinlich,
Liebe Kolleginnen und Kollegen, schauen Sie sich ein- wenn Sie im Ausland mit Wissenschaftlern sprechen und
mal die Zahlen der vom BMZ geförderten Stipendiaten die überbürokratischen kleinkarierten Hürden für die Er-
an. teilung von Green Cards erklären müssen, die Ihnen Herr
Riester ins Gepäck gelegt hat?
(Klaus-Jürgen Hedrich [CDU/CSU]: Lieber
nicht!) (Beifall bei der F.D.P.)

– Doch. – Dann werden Sie nämlich feststellen, dass sie Ich kann mir natürlich einen kleinen Seitenhieb auf die
im Vergleich zum Ende Ihrer Regierungszeit erheblich ge- Antragsteller nicht verkneifen. Ich lese bei Ihnen den sehr
stiegen sind. guten Satz, dass das deutsche Ausländerrecht
(Klaus-Jürgen Hedrich [CDU/CSU]: Woher es ausländischen Studierenden unnötig erschwert, an
hast du denn das?) ein abgeschlossenes Studium eine zeitlich limitierte,
berufliche Tätigkeit ... anzuhängen.
Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, werden in diesem
Jahr weit über 3 000 Stipendiaten gefördert, während es (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
noch 1997 nur knapp über 2 000 waren. NEN]: Woher kommt eigentlich das deutsche
Ausländerrecht?)
(Dr. R. Werner Schuster [SPD]: Guck mal an!)
Wir stimmen dem natürlich zu, ich als Nordrhein-Westfä-
Ich gehe davon aus, dass im Zuge des Gesamtkonzep-
tes der Politik der Entwicklungszusammenarbeit der Ko- lin eh. Ist das aber wirklich die Union, die ich in den letz-
alitionsregierung diese und die anderen von mir ange- ten Monaten erlebt habe, als Ihre unselige Kampagne
sprochenen Tendenzen auch künftig verstärkt werden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Ich bedanke mich. „Kinder statt Inder“ über unsere Lande zog?
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten
DIE GRÜNEN) der SPD und der PDS)
Ich freue mich über diesen Sinneswandel und hoffe, dass
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat er die nächsten beiden Wahlkämpfe übersteht.
jetzt die Kollegin Ulrike Flach.
(B) Meine Damen und Herren, internationale Hochschul- (D)
zusammenarbeit setzt auch die Vergleichbarkeit der Sys-
Ulrike Flach (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine Damen
teme und Abschlüsse voraus. Wir begrüßen die inzwi-
und Herren! In der globalisierten Welt des 21. Jahrhun-
schen fast 400 neuen Bachelor- und Masterstudien-
derts wird die Zusammenarbeit im Bereich der Wissen-
gänge in Deutschland. Es muss aber auch klar sein, dass
schaft und Hochschulen immer wichtiger. Ich bin sehr
die Wertigkeit eines deutschen Bachelor im Vergleich mit
froh, dass wir uns hier parteiübergreifend einig sind. Ich
US- oder englischen Abschlüssen nach wie vor offen-
wäre noch froher, wenn auch ein Vertreter des entspre-
chenden Ministeriums anwesend wäre. sichtlich zu wünschen übrig lässt. Es gibt noch Nachhol-
bedarf.
(Beifall bei der F.D.P.)
In den Entwicklungsländern gibt es eine steigende
Ich freue mich, dass Sie, Frau Eid, anwesend sind, aber Nachfrage nach Bildung im Ausland. Aber da haben im-
dem Bildungsministerium hätte es sicherlich auch gut an- mer wieder die anderen die Nase vorn. Herr Hedrich, Sie
gestanden, wenn es hier heute Abend anwesend gewesen haben es gerade schon erwähnt. Mit circa 100 000 aus-
wäre. ländischen Studierenden liegen wir deutlich hinter den
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten Briten und Amerikanern.
der CDU/CSU) Wir, die F.D.P., setzten uns deshalb für mehr interna-
Die F.D.P.-Fraktion hat schon vor einiger Zeit einen tionale Studiengänge an deutschen Hochschulen, für
Antrag zur Verbesserung der Attraktivität des Hochschul- mehr englisch- und französischsprachige Kurse – mit den
standorts Deutschland eingebracht. In dem Antrag der russischen laufen Sie bei uns offene Türen ein – und natür-
Union finden sich viele Gemeinsamkeiten. Wir begrüßen lich für eine bessere Beratung ausländischer Studierender
das. ein.
In Deutschland zeigt sich ein dramatischer Mangel an lch begrüße in diesem Zusammenhang die neue Initia-
Naturwissenschaftlern und Ingenieuren. Hier könnte sich tive der Max-Planck-Gesellschaft, die mit 9 bereits ge-
praktische Wissenschaftskooperation zeigen. Gingen gründeten und 30 geplanten Research Schools ein inno-
früher überwiegend deutsche Fachkräfte in Entwick- vatives Projekt für Promotionsstudiengänge, bei denen es
lungsländer – meine beiden Vorredner haben es schon an- auch um mehr Kooperation mit ausländischen Unis und
geführt –, so sind wir heute umgekehrt auf IT-Spezialis- Instituten geht, umsetzt. Das sind sinnvolle Projekte, auch
ten aus aller Welt angewiesen. für die so genannte Dritte Welt.
10848 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Ulrike Flach

(A) Wir müssen gerade in den Entwicklungsländern für das sogar gelungen, den Bereich der Wissenschaftskoopera- (C)
deutsche Bildungssystem werben. Hier möchte ich beto- tion noch aufzuwerten, auch wenn Sie von der CDU/CSU
nen, Frau Eid: Die Schrumpfpolitik der rot-grünen Regie- hier die ganze Zeit das Gegenteil behaupten.
rung bei den Goethe-Instituten schadet diesem Ziel si-
cherlich massiv. Einen Titel – vielleicht hören Sie gut zu, Herr Hedrich –
haben Sie bei Ihren Ausführungen außen vor gelassen:
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten Aus dem Titel „Aus- und Fortbildung für Angehörige aus
der CDU/CSU) Entwicklungsländern“ wurden 1999 für die Wissen-
Ich kann bei Ihnen kein Auslandsmarketing für die schaftskooperation 26 Prozent der Mittel verwandt. In
deutsche Hochschullandschaft erkennen, wie es die ande- diesem Jahr sind es 27,3 Prozent und für 2001 haben wir
ren betreiben. Ich kann auch kein zwischen Bund und einen Anteil von 30 Prozent vorgesehen. Diese Zahlen wi-
Ländern abgestimmtes Konzept zur Erhöhung der Stipen- derlegen Ihre Behauptungen, die Sie zu Beginn der De-
dienfonds für Postgraduierte aus Entwicklungsländern er- batte aufgestellt haben.
kennen. Die virtuelle Universität, die gerade in diesem
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zusammenhang von nicht unerheblicher Bedeutung wäre,
gibt es im Augenblick nur auf dem Papier. und bei der SPD)

Vor wenigen Tagen haben wir über die nachhaltige Ent- Diese Mittel sind im Antrag der CDU/CSU überhaupt
wicklung gesprochen. Dort wie hier zeigt sich, dass wir es nicht berücksichtigt. Selbiger bezieht sich lediglich auf
mit einer Querschnittsaufgabe der Ressorts zu tun haben. auslaufende Programme im Bereich der Finanziellen Zu-
Bildungs- und Forschungspolitik im In- und Ausland, aus- sammenarbeit und Technischen Zusammenarbeit im en-
wärtige Kulturpolitik, Entwicklungszusammenarbeit und geren Sinne und übersieht, dass wir Programme der Wis-
Wirtschaftspolitik müssen zusammenwirken. senschaftskooperation bereits seit mehreren Jahren im
Rahmen der Technischen Zusammenarbeit im weiteren
Der CDU/CSU-Antrag enthält viele sinnvolle Anre- Sinne finanzieren.
gungen. Wenn die Regierung diese gemeinsam mit unse-
ren Vorschlägen zur Attraktivitätssteigerung umsetzen Erlauben Sie mir daher, das verzerrte Bild, das die
würde, kämen wir ein Stück weiter, hier vor Ort und bei CDU/CSU versucht zu zeichnen, etwas zurechtzurücken:
einer Partnerschaft zwischen Hochschulen und Instituten Wir fördern im Rahmen unserer Entwicklungszusammen-
in Deutschland und in den Entwicklungsländern. arbeit derzeit insgesamt 12 verschiedene Programme der
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Wissenschafts- und Hochschulkooperation. Dabei arbei-
ten wir in den meisten Fällen mit dem Deutschen Akade-
(B) mischen Austauschdienst zusammen. (D)
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat
jetzt die Frau Staatssekretärin Uschi Eid. 1999 erhielten über 1 000 Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler von uns finanzierte Stipendien, um sich
in ihren Ländern selber weiterbilden zu können, davon al-
Dr. Uschi Eid, Parl. Staatssekretärin bei der Bundes-
lein über 700 in Afrika. Mit diesen Programmen unter-
ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
stützen wir den Aufbau nationalen Expertentums. Hierfür
wicklung: Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte
haben wir 1999 10,8 Millionen DM zur Verfügung ge-
Damen und Herren! Ich begrüße es ausdrücklich, dass wir
uns heute mit dem wichtigen Thema der Wissenschafts- stellt. Wir werden das Mittelvolumen in den nächsten Jah-
und Hochschulkooperation mit unseren Partnerländern im ren ungefähr beibehalten.
Süden und im Osten befassen. Internationale Zusammen- Wir fördern 33 Aufbaustudiengänge mit entwick-
arbeit gerade auch im Wissenschafts- und Hochschulbe- lungsbezogener Thematik, die aktuell 740 Teilnehmern
reich ist eine Selbstverständlichkeit, wenn wir gemeinsam aus unseren Partnerländern eine praxisorientierte Weiter-
und im Sinne einer wirklichen Partnerschaft nach Lösun- qualifikation mit international anerkannten Abschlüssen
gen für die Herausforderungen unserer Zeit suchen wol- bieten. 1999 haben wir hierfür 14,3 Millionen DM zur
len. Verfügung gestellt. In den kommenden Jahren werden wir
Die Zusammenarbeit hat vielfältige und lang wirkende diese Kurspalette jeweils um zwei Programme erweitern.
positive Effekte und ist zum Nutzen aller Beteiligten.
Ebenfalls mit unserer Unterstützung wurden mittler-
Wissenschafts- und Hochschulkooperation entspricht
weile 98 Hochschulpartnerschaften zwischen deut-
dem Gebot unserer Zeit. Dazu brauchten wir nicht durch
einen CDU/CSU-Antrag aufgefordert zu werden. schen Universitäten und wissenschaftlichen Einrichtun-
gen in Entwicklungsländern aufgebaut. Wir fördern die
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Vermittlung deutscher Wissenschaftler ins Ausland. Die-
SES 90/DIE GRÜNEN – Peter Weiß [Emmen- ses Jahr zum Beispiel werden allein 40 Dozenten nach
dingen] [CDU/CSU]: Das ist schon notwen- Brasilien und Chile entsandt. Wir fördern auch Stipendien
dig!) für Nachwuchswissenschaftler aus fortgeschrittenen Part-
Hierzu trägt auch die Entwicklungspolitik der Bundes- nerländern, damit sie sich hier in Deutschland weiter qua-
regierung in erheblichem Umfang bei. Im Rahmen der lifizieren. So wird ein Programm mit Thailand, den Phi-
notwendigen Haushaltskonsolidierung, zu der natürlich lippinen und Vietnam von neun Promotionsstipendien im
auch der Entwicklungsetat beitragen musste, ist es uns Jahre 1998 auf 32 Neustipendien im Jahre 2001 erweitert.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10849
Parl. Staatssekretärin Dr. Uschi Eid

(A) Wir tragen auch den wachsenden Möglichkeiten auf- Hochschulzusammenarbeit und Wissenschaftszusam- (C)
grund der neuen Kommunikationstechnologien Rech- menarbeit auch für die Entwicklungspolitik ist und dass in
nung. diesem Bereich gar nicht genug Mittel eingesetzt werden
können.
So hat der DAAD im letzten Jahr mit unserer Unterstüt-
zung mit dem Aufbau von Datenbanken und internatio- Was uns am Antrag von CDU/CSU stört, ist der Tenor:
nalen Netzwerken begonnen, die es ehemaligen Stipen- dass Wissenschafts- und Hochschulzusammenarbeit vor-
diaten ermöglichen, sich auch nach der Rückkehr in ihre nehmlich aus dem Blickwinkel einer Wirtschafts- und
Heimatländer weiterzubilden und aktuelle Forschungser- Standortpolitik betrachtet wird. Ich denke, das ist gerade
gebnisse weltweit auszutauschen. Hierzu gehört zum Bei- angesichts der Kooperation mit Entwicklungsländern
spiel auch das Projekt „Alumni.med.Live“ eines Hoch- nicht die richtige Sichtweise. Wir denken, der vielleicht
schulkonsortiums unter der Federführung der Universität schon etwas verstaubte, aber noch immer sehr aktuelle
Heidelberg – eine multimediale Medizinwissensbank, die humboldtsche Bildungsbegriff ist gerade im Kontext ei-
über das Internet zugänglich ist und der virtuellen Weiter- ner zu schaffenden Infrastrukturentwicklung und einer zu
bildung in aller Welt dient. Es ist noch keine virtuelle Uni- schaffenden gesellschaftlichen Weiterentwicklung in die-
versität, aber immerhin eine virtuelle medizinische Fa- sen Ländern sehr viel angebrachter als die Formulierung
kultät. von Interessen, denen wir in diesen Ländern zukünftig
möglichst noch verstärkt nachgehen wollen.
(Zustimmung bei der F.D.P.)
(Beifall bei der PDS)
Darüber hinaus haben wir die Zusammenarbeit mit der
deutschen Wirtschaft intensiviert, die in wachsendem Ich werde mich deswegen auf drei Anmerkungen be-
Maße ebenfalls Vorhaben der Wissenschaftskooperation schränken. Die erste Anmerkung zu dem vorliegenden
finanziert. Hierzu gehören unter anderem zwölf Stiftungs- Antrag und zur bisherigen Politik bezieht sich auf die
lehrstühle am Chinesisch-Deutschen Hochschulkolleg an Frage: Wer kommt eigentlich de facto in den Genuss un-
der Tongji Universität in Schanghai, 16 Stipendien für ein serer bisherigen Stipendien- und Förderprogramme?
Postgraduiertenprogramm in Zusammenarbeit mit ausge- Ich denke, wir sollten sehr viel stärker darauf achten, dass
wählten asiatischen Universitäten in den Bereichen Elek- die Entwicklungsländer, die sich Bildungspolitik gegen-
troingenieurwesen, Informations- und Kommunikations- wärtig nicht leisten können, in diese Maßnahmen einbe-
technologie, das von der Asean Brown Boveri AG, Mann- zogen werden,
heim, finanziert wird, und eine Kooperation der Siemens
(Beifall bei der PDS)
AG mit dem DAAD im Rahmen eines auf Asien ausge-
richteten Stipendienprogramms in der finanziellen Größe dass Stipendienprogramme zunehmend auf genau diese
(B) von circa 4 Millionen DM, wovon Siemens fast zwei Drit- Klientel zugeschnitten werden. Wir haben in diesen Län- (D)
tel finanziert. dern bereits Bildungseliten, die gleichzeitig gesellschaft-
liche Eliten sind. Die bedürfen dieser Förderung in vie-
Dies ist nur eine kleine Auswahl derzeit laufender Ak-
len Fällen nicht. Denjenigen, die gewisse Möglichkeiten
tivitäten. Wir haben dem Ausschuss für wirtschaftliche
nicht haben, bleibt die Förderung trotz dieser Programme
Zusammenarbeit und Entwicklung vor wenigen Wochen
auch weiter oft vorenthalten. Da sollten wir soziale Indi-
einen umfangreichen Informationsvermerk zu diesem
katoren sehr viel stärker berücksichtigen.
Thema zur Verfügung gestellt, der die Zustimmung aller
Fraktionen fand, auch die der CDU/CSU und der F.D.P. Das Zweite ist: Wir müssen sehr viel stärker darauf
achten, dass Frauen in den Genuss dieser Programme
Lassen Sie mich daher zum Schluss noch einmal beto-
kommen. Frauen sind – das wissen alle, die in der Ent-
nen: Die Wissenschafts- und Hochschulkooperation war
wicklungspolitik tätig sind – in vielen Fällen der Motor
und ist eine wichtige Aufgabe der deutschen Entwick-
gesellschaftlicher Prozesse, gerade in den Entwicklungs-
lungszusammenarbeit. Dies wird auch in Zukunft so blei-
ländern. Ihnen müssen unter den ganz besonderen und
ben.
sehr schwierigen Bedingungen zusätzliche Angebote
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eröffnet werden. Eine Schwerpunktverlagerung in diesem
und bei der SPD sowie des Abg. Carsten Bereich ist unbedingt notwendig, um die derzeit beste-
Hübner [PDS]) henden Defizite auszugleichen.
(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat der SPD)
jetzt der Abgeordnete Carsten Hübner.
Und dann gilt – das ist vorhin vom Kollegen Hedrich
angesprochen worden –: Mut zu Neuem und natürlich
Carsten Hübner (PDS): Frau Präsidentin! Liebe Kol- auch Mut zur Expansion in Bereichen, die sinnvoll er-
leginnen und Kollegen! Vieles im Antrag von CDU/CSU scheinen. Ich fände es sinnvoll, wenn wir in der Bundes-
ist auch aus unserer Sicht durchaus in Ordnung. Die For- republik Deutschland sehr viel stärker Studiengänge –
derungen sind richtig. Vieles ist allerdings nicht neu. Wir nicht nur Aufbaustudiengänge – zum Beispiel in russi-
haben gehört: Einiges ist umgesetzt. Die sehr positive Be- scher Sprache, in Englisch oder Französisch anbieten
trachtung der Haushaltsentwicklung teilen wir natürlich würden, die sich ganz speziell mit Fragen befassen, die für
nicht. Ich denke, es ist ganz wichtig, darauf hinzuwei- Studierende aus Entwicklungsländern und auch aus den
sen, welch entscheidendes Kriterium die Förderung von Schwellenländern von Interesse sind.
10850 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Carsten Hübner

(A) Studiengänge, die sich mit Infrastrukturentwicklung, Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist auch (C)
mit Dezentralisierung, mit Demokratisierung, mit einer hier für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. –
nachhaltigen ökonomischen und ökologischen Entwick- Widerspruch gibt es nicht. Dann ist so beschlossen.
lung unter den Bedingungen auseinander setzen, die in Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die
den Entwicklungsländern vorherrschen und die nicht nur Frau Ministerin Dr. Christine Bergmann.
das reproduzieren, was im Moment in den entwickelten
Ländern als Entwicklungsmodell hochgehalten wird. Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-
Diese Spezifizierung im Hinblick auf die besonderen Be- milie, Senioren, Frauen und Jugend: Frau Präsidentin!
dingungen fände ich wichtig. Hier, denke ich, könnten wir Meine sehr geehrten Damen und Herren! Seit Mitte der
noch sehr viel tun. 80er-Jahre, also seit ungefähr 15 Jahren, hat es immer
wieder Versuche gegeben, eine bundeseinheitliche Rege-
Zum Schluss will ich nur sagen: Ich möchte die Teile lung für einen anerkannten Fachberuf Altenpflege zu
im CDU/CSU-Antrag unterstützen, die auf eine Art schaffen. Für dieses bedeutsame Vorhaben, das wir drin-
Nachbetreuung verweisen. Ich war vor kurzem in Laos. gend brauchen, um Verbesserung in der Pflege alter Men-
Dort haben wir mit dem Botschafter gesprochen. Er müht schen zu erreichen, war erst ein Regierungswechsel nötig.
sich sehr, diejenigen Studierenden, die Deutsch können,
an einen Tisch zu bekommen, in einem Gremium zu or- (Beifall bei der SPD und des BÜNDNIS-
ganisieren. Das sind in Laos immerhin 3 000 Menschen. SES 90/DIE GRÜNEN)
Laos ist ein kleines Land. Diese Leute bieten sowohl für Jetzt liegt unser Regierungsentwurf auf dem Tisch. Ich
ökonomische Kooperation als auch für Entwicklungsko- bin froh darüber. Nun müssen wir sagen, worum es geht.
operation sowie für den allgemeinen gesellschaftlichen
und kulturellen Dialog ein großes Potenzial. (Widerspruch bei der CDU/CSU)

Diese Gruppen von Studierenden, von Akademikern – Es ist so, Sie haben das Vorhaben nicht zuwege ge-
und auch von Führungseliten sind im Moment noch nicht bracht. Worum geht es also in diesem Gesetz? – Es geht
greifbar. Es bedarf vielfach eines großen Engagements, darum, die Qualität der Pflege alter Menschen auf die
um ihnen in diesen Ländern Foren zu bieten, sodass wir Dauer zu sichern. Das ist unsere Aufgabe als Politikerin-
direkt an ihren Erfahrungen und ihr Wissen anknüpfen nen und Politiker. Ich bin der Meinung, das sollte uns auch
über die Fraktionsgrenzen hinweg einen.
können. In diesem Sinne hoffe ich, dass wir im Ausschuss
zu einer lebhaften Diskussion kommen werden. Zu dieser Qualitätssicherung gehört unzweifelhaft die
Ausbildung der Altenpflegerinnen und Altenpfleger. Sie
Danke schön.
kennen den Sachverhalt. Wir haben heute in 16 Bundes-
(B) (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten ländern 17 verschiedene Ausbildungen. Ziele, Inhalte, (D)
der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Dauer und Strukturen sind unterschiedlich. Dabei darf es
NEN) nicht länger bleiben. Neuregelungen zur Qualitätsver-
besserung in Bundesgesetzen wie im Heimgesetz, im
SGB XI, im SGB V, die Sie von der Opposition zu Recht
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich schließe da-
fordern, gehen ins Leere, wenn das Pflegepersonal nicht
mit die Aussprache. so ausgebildet ist, dass entsprechende Standards in der
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Pflegepraxis dann auch umgesetzt werden können.
Drucksache 14/3376 an die in der Tagesordnung aufge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
führten Ausschüsse vorschlagen. Sind Sie einverstanden? – des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich denke, es bezweifelt eigentlich niemand mehr, dass
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: von den Fachkräften in der Altenpflege sowohl im sta-
tionären als auch im ambulanten Bereich hohe Professio-
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- nalität und besondere Qualifikation gefordert werden.
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Den Anspruch an die Altenpflege kann man deutlich ma-
über die Berufe in der Altenpflege (Altenpflege- chen, wenn man einmal darauf hinweist, dass das Durch-
gesetz – AltPflG) schnittsalter bei den Menschen, die in ein Heim aufge-
– Drucksache 14/1578 – nommen werden, bei über 80 Jahren liegt und dass 50 Pro-
(Erste Beratung 59. Sitzung) zent der Heimbewohnerinnen und Heimbewohner unter
Demenz leiden, also verwirrt sind. Das heißt: hier muss
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- unwahrscheinlich viel in der Pflege geleistet werden.
ses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
(13. Ausschuss) Wir wissen, dass die Bundesländer mit ihren Ausbil-
dungsgesetzen in der Vergangenheit wichtige Grundlagen
– Drucksache 14/3736 – für die Qualifizierung der Altenpflegekräfte geschaffen
Berichterstattung: haben. Sie haben dafür Sorge getragen, dass sich der Al-
Abgeordnete Christa Lörcher tenpflegeberuf etabliert hat. Es ist nun aber endlich an der
Irmingard Schewe-Gerigk Zeit, dass wir die Altenpflege als Berufsfeld mit Zukunft
Maria Eichhorn adäquat weiterentwickeln. Dazu gehört, dass wir die Al-
Klaus Haupt tenpflegeausbildung aus dem Dickicht der unterschied-
Monika Balt lichen Länderregelungen herausholen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10851
Bundesministerin Dr. Christine Bergmann

(A) (Beifall bei der SPD und dem BÜND- Wir haben damit die Weichen für die Weiterentwicklung (C)
NIS 90/DIE GRÜNEN) der Pflegeberufe im Hinblick auf ein langfristiges Ergeb-
nis gestellt.
Ich will nun ein paar Argumente dafür aufführen,
warum wir dieses bundeseinheitliche Altenpflegegesetz Bis zur letzten Woche hatte ich wenig Zweifel daran,
so dringend brauchen: Wir brauchen es, damit Altenpfle- dass dieses Gesetz eine breite Zustimmung finden würde.
gerinnen und Altenpfleger bundesweit einheitlich ausge- Ich hatte erwartet, dass Sie, meine Damen und Herren von
bildet werden und überall in Deutschland die gleichen der CDU/CSU, zu Ihren politischen Zielen und Verspre-
Mindestqualifikationen erfüllen. Wir brauchen es, damit chen der vergangenen Legislaturperioden stehen werden.
die Rahmenbedingungen dafür geschaffen werden, dass Ich kann den von Ihnen vollzogenen Sinneswandel nicht
der Beruf ein eigenes Profil erhält und die Gleichwertig- ganz verstehen. Sie werden auch Mühe haben, das zu er-
keit mit dem Beruf der Krankenschwester und des Kran- klären.
kenpflegers erreicht wird. (Beifall bei der SPD und dem BÜND-
Wir brauchen die bundeseinheitlichen Vorschriften, NIS 90/DIE GRÜNEN)
damit die Altenpflege in allen Bundesländern ein Ausbil- Ich muss Sie fragen, wo Ihre Glaubwürdigkeit in dieser
dungsberuf wird, der nicht nur für Umschülerinnen und Sache bleibt.
Umschüler, sondern auch für Erstauszubildende attraktiv
wird. Wir benötigen dieses Gesetz auch, damit dieser nach Wir haben eine von Bayern angeführte Debatte, ob der
wie vor typische Frauenberuf keine strukturellen Benach- Bund für dieses Gesetz die notwendige Gesetzgebungs-
kompetenz habe. Sie wissen, dass wir Rechtsgutachten
teiligungen gegenüber anderen Berufen erfährt, wie es im
auf dem Tisch haben, die diese Frage bejahen. Sie müssen
Moment in einigen Ländern schlichtweg der Fall ist, wenn
sich daran erinnern, dass eine von Ihnen gestellte Regie-
man daran denkt, dass zum Beispiel nicht überall eine
rung vor zwei Legislaturperioden in dem gleichen Fall die
Ausbildungsvergütung gezahlt wird. Durch das Alten-
Bundeskompetenz bejaht hat und dass auch die Mehrheit
pflegegesetz mit seinen bundeseinheitlichen Ausbil- der Länder in den letzten Legislaturperioden dieses nie-
dungs- und Berufszulassungsvorschriften erfährt der Be- mals in Zweifel gezogen hat. Ihre Haltung ist daher nicht
ruf endlich die ihm gebührende gesellschaftliche Aner- sehr überzeugend.
kennung. Darüber kann man nicht nur reden, dafür muss
man auch etwas tun. Wenn ich mir überlege, was von Ihnen an inhaltlichen
Einwänden zu diesem Gesetz – teilweise in letzter Se-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten kunde – vorgebracht wurde, muss ich Ihnen vorhalten: Sie
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) haben nicht einen einzigen Änderungsantrag zu diesem
(B) Die Koalitionsfraktionen haben im Gesetzgebungsver- Gesetz gestellt. Wenn Sie bestimmte Punkte anders sehen (D)
fahren nach den Anhörungen Änderungen vorgenommen, und daher Verbesserungen gewünscht hätten, hätten wir
die meine volle Unterstützung finden. Ich will aus Zeit- gerne darüber reden können.
gründen nur auf drei Punkte eingehen: (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Dann hätten wir
Zum einen geht es um die Frage der Umschulung. Sie das ganze Gesetz neu schreiben müssen, Frau
wissen, dass es eine Sonderregelung gibt, die Ende des Ministerin!)
Jahres 2001 ausläuft. Die Anhörung und viele Gespräche – Das fällt Ihnen sehr spät ein. Das ist alles nicht sehr
haben ergeben, dass wir die Umschulungsregelung nicht überzeugend. Ich denke, Sie müssen den Pflegebedürfti-
in diesem Verfahren schaffen können, sondern dass wir gen erklären, warum Sie diesem Gesetz nicht zustimmen.
uns gesondert davon mit den Vertretern der zuständigen
Ich bin davon überzeugt, dass durch die Änderungen,
Ressorts und den Vertretern der Länder zusammensetzen
die im Wesentlichen auch den Vorschlägen des Bundesra-
müssen, um eine einvernehmliche Regelung zu finden, tes und den Forderungen der Fachverbände entsprechen,
die nicht nur den Altenpflegeberuf betrifft, sondern gene- eine sehr gute Grundlage für die bundeseinheitliche Al-
rell die Heilberufe und die sozialpflegerischen Berufe. tenpflegeausbildung geschaffen wird. Deshalb möchte
Damit können zunächst bis zum 31. Dezember 2001 be- ich mich für die gute Zusammenarbeit mit den Kollegin-
gonnene Umschulungen wie bisher dreijährig durchge- nen und Kollegen der Koalitionsfraktionen bedanken. Wir
führt und entsprechend gefördert werden. haben etwas auf den Weg gebracht, worauf viele in die-
Wichtig war auch, dass wir die Strukturen zur Finan- sem Land warten.
zierung der Ausbildungsvergütung präzisiert haben. Ich In diesen Dank möchte ich auch die Vertreterinnen und
denke, dass wir dafür ein solides Fundament geschaffen Vertreter der Fachverbände und Interessenvertretungen
haben. Die Ermächtigungsnorm zur Einführung eines einschließen, die nicht müde geworden sind, die Bun-
Umlageverfahrens wurde nochmals konkretisiert, damit deseinheitlichkeit der Altenpflege einzufordern. Es war
hier Rechtssicherheit herrscht. eine lange Strecke, die wir zurücklegen mussten, bis wir
Nicht zuletzt begrüße ich die Einführung von Experi- dieses Gesetz auf den Tisch legen konnten. Wir sind es
mentierklauseln zur Erprobung integrierter Ausbil- diesem Berufsstand, der über lange Jahre hingehalten
dungsmodelle. Das weist auf unser eigentliches Ziel. wurde, und natürlich auch den Pflegebedürftigen, die An-
spruch auf eine qualifizierte Pflege haben, schuldig, dass
(Beifall bei der SPD und dem BÜND- dieses Gesetz endlich verabschiedet wird. Deshalb er-
NIS 90/DIE GRÜNEN) warte ich nicht nur hier, sondern auch im Bundesrat eine
10852 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Bundesministerin Dr. Christine Bergmann

(A) Zustimmung, dass dieses Vorhaben, das lange überfällig tatsächlich wollen, aber es kann die Folge dieser Ände- (C)
ist, nicht weiter blockiert wird. rung sein. Darauf weisen Fachleute hin.
Danke. Die Zugangsvoraussetzungen zur Altenpflege sollen
gleich oder ähnlich ausgestaltet werden wie die Zugangs-
(Beifall bei der SPD und dem BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN) voraussetzungen zur Krankenpflegeausbildung. Damit
wird die Altenpflege im Konkurrenzkampf gegenüber der
Krankenpflege nur zweiter Sieger sein, das heißt, dass
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat nicht mehr Schüler zu erwarten sind. Das Gegenteil aber
jetzt die Abgeordnete Maria Eichhorn. wäre notwendig, da bereits heute Fachkräfte knapp sind.
Statt ein höheres Qualifikationsniveau zu erreichen,
Maria Eichhorn (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Mei- wird die theoretische Ausbildung erheblich gekürzt. Das
ne Damen und Herren! Wenn heute Menschen in ein Al- Berufsbild wird auf die somatische Pflege verengt. Der
tenheim eintreten, sind sie im Durchschnitt 86 Jahre alt. Schwerpunkt wird hin zur geriatrischen Krankenpflege
Zwischen 50 und 60 Prozent der in den Heimen betreuten verlagert. Dies entspricht keinesfalls den fachlichen Er-
alten Menschen sind dement. Diese Menschen bedürfen fordernissen. Der Altenpflegeberuf, der als einziger spe-
einer besonderen Betreuung. Die Anforderungen an die ziell auf die Lebenslagen und Krisen im Alter zugeschnit-
Altenpflege werden deswegen immer höher. Aufgabe der ten ist, wird zugunsten einer medizinisch-pflegerischen
Altenpflegerinnen und Altenpfleger ist es, älteren Men- Orientierung aufgegeben, für die es aber bereits den Kran-
schen zu helfen, die körperliche, geistige und seelische kenpflegeberuf gibt.
Gesundheit zu fördern und ihre Selbstständigkeit zu un-
terstützen und zu erhalten. Ihre Arbeit dient dazu, alten Aufgrund der Kritik der Länder und der Sachverstän-
Menschen einen würdigen Lebensabend und einen wür- digen haben Sie § 26 des Altenpflegegesetzes, der die
devollen Tod zu ermöglichen, eine schöne, aber auch Umschulung betrifft, herausgenommen. Die Heraus-
höchst anspruchsvolle Aufgabe für Altenpflegerinnen und nahme dieses Paragraphen garantiert jedoch nur für we-
Altenpfleger. nige Monate dreijährige Ausbildungszeiten; denn bereits
kurze Zeit nach dem geplanten In-Kraft-Treten des Ge-
Die Bundesregierung hat bei der Vorlage des Regie-
setzes wird die Regelung, dass Umschulungen auch drei
rungsentwurfes zur Altenpflege erklärt, dass sie mit einer
Jahre gefördert werden können, auslaufen. Über eine
bundeseinheitlichen Neuregelung der Altenpflegeausbil-
Nachfolgeregelung – das haben Sie gerade selber zugege-
dung den Beruf aufwerten möchte. Frau Ministerin, eine
ben – muss noch gesondert verhandelt werden.
bundeseinheitliche Regelung als solche bringt keine Qua-
(B) litätsverbesserung. Es kommt auf den Inhalt an. Die Fachschulen für Altenpflege haben sich bewährt. (D)
Das Gesetz, das Sie heute beschließen wollen, wird schul-
(Beifall bei der CDU/CSU – Christa Lörcher
rechtliche Strukturen zerstören; denn die Regelschule, die
[SPD]: Haben Sie die Ziele nicht gelesen?)
das Gesetz jetzt vorsieht, ist eine Schule der besonderen
Unser Ziel ist eine bessere Altenpflegeausbildung. Art. Es ist zu befürchten, dass zahlreiche Träger ihre
Das ist aber bei dem Gesetzentwurf, den Sie vorgelegt ha- Schulen aufgeben, wenn sie diese in Berufsfachschulen
ben, nicht der Fall. Das hat die Anhörung im Dezember umwandeln müssen. Das lässt sich nicht nur mit der ge-
bestätigt. ringeren Zahl an Lehrkräften und dem geringeren Be-
(Beifall bei der CDU/CSU) triebszuschuss begründen, sondern auch mit der fehlen-
den Anbindung an Einrichtungen, in denen die praktische
Sie hat deutlich gemacht, dass der Gesetzentwurf der Ausbildung durchgeführt werden kann und die bereit
Bundesregierung völlig ungeeignet ist. Wir hätten ein völ- sind, eine Ausbildungsvergütung zu zahlen oder zu refi-
lig neues Gesetz vorlegen müssen. Mit Änderungsanträ- nanzieren. Die Ansiedlung der Ausbildung an Fachschu-
gen hätte man überhaupt nichts bewirken können. len ermöglicht zurzeit den direkten Zugang zur Fach-
Trotz einer Vielzahl von Änderungen, die Sie aufgrund hochschule. Diese Durchlässigkeit wird zerstört. Der Be-
des niederschmetternden Urteils der Sachverständigen ruf in der Altenpflege mündet damit in der Sackgasse. Ich
beider Beratungen im Ausschuss vorgelegt haben, sieht frage: Wollen Sie das wirklich?
der Arbeitskreis Ausbildungsstätten für Altenpflege – ich Laut Gesetzentwurf soll die praktische Ausbildung
zitiere –: „den Gesetzentwurf in seiner Zielsetzung als ge- überwiegend in den Einrichtungen erfolgen und der Um-
scheitert an“. fang der theoretischen und praktischen Ausbildung in der
Denn der Gesetzentwurf regelt den Beruf weit unterhalb Schule soll geringer werden. Begründung ist die Ausbil-
der in Ländern erreichten Standards der Altenpflegeaus- dungsvergütung. Frau Ministerin, in der Praxis gibt es
bildung. derzeit nicht genügend Ressourcen, um diesen Verlust an
Ausbildungsqualität ausgleichen zu können; denn es feh-
(Beifall bei der CDU/CSU) len in der Regel die qualifizierten Ausbilder. Notwen-
Die Änderung des Krankenpflegegesetzes im Alten- dige Schlüsselqualifikationen können angesichts dieser
pflegegesetz lässt die Vermutung aufkommen, den Beruf Struktur der Ausbildung nicht mehr vermittelt werden.
nicht qualitativ voranzubringen, sondern mittelfristig ab- Aber Teamfähigkeit, Koordinierung von Leistungen, Be-
zuschaffen. Ich unterstelle Ihnen zwar nicht, dass Sie das ratung von Angehörigen und der Umgang mit Menschen
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10853
Maria Eichhorn

(A) gerade in der ambulanten Pflege sind grundlegende An- Woche widersprochen. Sie hat darauf hingewiesen, dass (C)
forderungen einer modernen Altenpflege. es neben Gutachtern, die dem Bund eine umfassende
Normsetzungskompetenz zugestehen, auch eine Vielzahl
(Beifall bei der CDU/CSU)
von Professoren gibt, die zur gegenteiligen Auffassung
Die Ausbildung ist als berufliche Erstausbildung gelangen.
konzipiert. Damit liegt das Eintrittsalter bei 16 oder
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
17 Jahren. Dies ist angesichts der bei der Betreuung alter
Menschen zwangsläufig auftretenden physischen und Die Bundesregierung sieht als wesentliche Gründe für
psychischen Belastungen höchst problematisch. Sterbe- eine bundeseinheitliche Altenpflege ein bundeseinheit-
begleitung und die zunehmende Zahl an Demenzkranken liches Qualifikationsniveau und bundesweit vergleich-
stellen höchste Anforderungen. Während in der Kranken- bare Fachkenntnisse der Altenpflegerinnen und Alten-
pflege mit einer Gesundung der Patienten zu rechnen ist, pfleger an. Die propagierte Vereinheitlichung findet je-
müssen in der Altenpflege die Menschen regelmäßig bis doch nach dem Urteil der Fachleute nicht statt; denn auch
zu ihrem Tode begleitet werden. Die Erfahrung zeigt, dass in Zukunft soll jedes Land auf der Basis abgesenkter Mi-
junge Berufsanfänger wesentlich kürzer im Beruf bleiben nimalstandards seine Form wählen können.
als solche, die erst später einsteigen. Wenn man das weiß,
Fazit, meine Damen und Herren, Frau Ministerin:
dann müsste man eigentlich alles dafür tun, um Berufs-
Der Gesetzentwurf entspricht trotz Nachbesserungen
rückkehrerinnen, die nach einer Familienpause wieder
nicht dem Qualitätsstandard, den der Bildungsstandort
einsteigen wollen, für die Altenpflegeausbildung zu ge-
Deutschland erfordert. Statt die Qualität der Ausbildung
winnen.
zu verbessern, wird sie durch dieses Gesetz verschlech-
(Beifall bei der CDU/CSU) tert. Das ist ein historischer Rückschritt. Das können wir
und wollen wir nicht mittragen. Wir werden diesem Ge-
Es ist jedoch fraglich, ob eine dreijährige berufliche Aus-
setzentwurf nicht zustimmen.
bildung für solche Frauen noch attraktiv ist.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Weiterhin ungeklärt ist die Frage der Finanzierung.
Die von den Ländern und Sachverständigen vorgetra-
genen rechtlichen Einwände gegen eine Umlagefinanzie- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat
rung haben sich bestätigt. Im Gegensatz zu Ihnen, Frau jetzt die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk.
Ministerin, sehe ich keine solide Finanzierung; denn die
jetzt generell vorgesehene Finanzierung durch die Träger
Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
wird zu einer drastischen Reduzierung der Zahl an Aus-
(B) bildungsplätzen führen. Ein dramatischer Fachkräfteman- NEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kolle- (D)
gen! Frau Eichhorn, Ihre Rede hat mich ziemlich über-
gel wird die Folge sein; denn in den Ländern, in denen be-
rascht. Wir wollen heute das beschließen, was Sie seit
reits jetzt die Träger die Ausbildungsvergütung finanzie-
10 Jahren durchzusetzen versucht haben und was die
ren müssen, stehen zwischenzeitlich – das wissen Sie
Grundlage der Bundesratsinitiative ist. Ich kann Ihr Ver-
genauso gut wie ich – weniger als die Hälfte der zuvor
halten eigentlich nur so werten, dass Sie ärgerlich darüber
vorhandenen Zahl an Ausbildungsplätzen zur Verfügung.
sind, dass wir das umsetzen, was Sie in 10 Jahren nicht ge-
Die mögliche Berücksichtigung der Kosten in den schafft haben.
Pflegesätzen konnte dies nicht verhindern. Da eine Um-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
lagefinanzierung mit erheblichen rechtlichen Hürden
und bei der SPD)
versehen ist, wird sie, wenn sie als Notlösung erforderlich
ist, nicht schnell genug greifen können. Es besteht die Mit dem Gesetzentwurf zur bundeseinheitlichen Al-
große Gefahr, dass bewährte Ausbildungsstätten schlie- tenpflegeausbildung beschließen wir das Ende einer ver-
ßen müssen. Die qualitativ gute Entwicklung in der Al- meintlich unendlichen Geschichte; denn drei Ministerin-
tenpflegeausbildung in den letzten Jahren würde damit nen – die Kolleginnen Lehr, Rönsch und Nolte – haben in
wieder zunichte gemacht. über zehn Jahren den Versuch unternommen, 17 unter-
schiedliche Länderregelungen zu einer bundeseinheitli-
In Ihrem Papier, das Sie im Ausschuss zur verfas-
chen Ausbildung zu vereinheitlichen – leider ohne Erfolg.
sungsrechtlichen Prüfung des Umlageverfahrens vorge-
Es bedurfte einer rot-grünen Bundesregierung, dass die-
legt haben, versuchen Sie, die grundsätzlichen rechtlichen
ser Durchbruch jetzt endlich gelingen konnte.
Einwendungen zu zerstreuen. Dagegen hält zum Beispiel
das Land Baden-Württemberg an seiner Auffassung fest, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
dass die verfassungsrechtlichen Bedenken durch das Bun- und bei der SPD)
desverfassungsgericht zunächst zu klären sind. Was die
Künftig werden alle Altenpflegeschülerinnen – ich be-
oft zitierte Gesetzgebungskompetenz betrifft, sind die
nutze bewusst die weibliche Form, weil zu 90 Prozent
von Bayern geäußerten Bedenken nicht ausgeräumt.
Frauen betroffen sind – eine Ausbildungsvergütung erhal-
Der Stellungnahme der Bundesregierung zur Gesetz- ten. Das war bisher nicht der Fall. Keine wird mehr Schul-
gebungskompetenz des Bundes für ein Altenpflegegesetz geld zahlen müssen und der Abschluss befähigt zur
hat die zuständige bayerische Staatsministerin für Unter- gleichwertigen Tätigkeit in allen Bundesländern – auch
richt und Kultus, Frau Hohlmeier, in einer Sitzung des das war bisher nicht möglich – und innerhalb der Europä-
Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages letzte ischen Union. Die Qualität der Ausbildung erfährt in
10854 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Irmingard Schewe-Gerigk

(A) vielen Bundesländern eine Aufwertung. Sie wissen ganz nutzen, um eine dreijährige Umschulungszeit für alle (C)
genau, dass die Ausbildung in einigen Ländern sehr viel Gesundheitsfachberufe zu erreichen.
schlechter ist als jetzt geregelt. Wir haben sie angepasst.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
Damit schaffen wir mit diesem Gesetz einen attrakti- ich würde mir wünschen, Sie würden diesem Gesetzent-
ven und qualifizierten Beruf und den Erfordernissen der wurf zustimmen. Er entspricht genau dem, was Sie zehn
Auszubildenden wird Rechung getragen. Es ist ein Beruf, Jahre lang forderten. Er wird doch nicht einfach dadurch
der künftig von noch mehr jungen Menschen nachgefragt schlechter, dass Sie nun in der Opposition sind.
wird und der einen wissenschaftlichen Überbau in den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Pflegewissenschaften hat. und bei der SPD)
Wir sorgen endlich dafür, dass dem hartnäckig behaupte- Es handelt sich hier nämlich um ein echtes Generationen-
ten Vorurteil „Pflegen kann jeder“, das ja der ehemalige projekt: qualifizierte Ausbildung für junge Menschen,
Sozialminister Blüm prägte, ein Ende bereitet wird. – qualifizierte Pflege für alte Menschen. Dem sollten Sie
Und: Wir schaffen einen Beruf, der den geänderten An- sich nicht verweigern.
forderungen der Pflegebedürftigen Rechnung trägt.
Vielen Dank.
Es wurde hier schon gesagt: Früher waren die Men-
schen Ende 60, wenn sie in ein Heim gingen, heute liegt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
das durchschnittliche Alter bei der Aufnahme in ein Heim und bei der SPD)
bei 86 Jahren. Es ist unser Ziel, dass alte Menschen so
lange wie möglich in ihrer gewohnten Umgebung bleiben. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat
Das bedeutet aber für das Pflegepersonal eine ungeheure jetzt der Abgeordnete Klaus Haupt.
Herausforderung. In diesem Alter treten in den meisten
Fällen eine Reihe von Krankheiten und, damit verbunden,
ein höherer Pflegebedarf auf. Die Fachleute sprechen von Klaus Haupt (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine liebe
Multimorbidität. Auch diesem Umstand wird in der Kolleginnen und Kollegen! Um ein Gesetz zur Regelung
neuen Ausbildung Rechnung getragen: Geriatrische Re- der Altenpflege wurde lange gerungen. Wir Liberalen be-
habilitationskonzepte, Gesundheitsvorsorge, Begleitung grüßen, dass diese fast unendliche Geschichte nun endlich
von Sterbenden sind nur einige Stichworte. Für uns heißt zu einem Abschluss kommt.
ganzheitliche Altenpflege auch, die alten Menschen in (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten
ihren persönlichen und sozialen Angelegenheiten zu be- der SPD)
treuen und ihnen Hilfe zur Erhaltung der eigenständigen
(B) Lebensführung zukommen zu lassen. Es handelt sich also Der wachsende Bedarf an qualifizierter Altenpflege, (D)
um einen anspruchsvollen Beruf. auf die immer mehr ältere Bürgerinnen und Bürger ange-
wiesen sind, erfordert einen gewissen einheitlichen Aus-
Dass die Qualität der Schulen und des Lehrpersonals bildungsstandard der Pfleger. Für die jungen Menschen
noch nicht auf einem einheitlich hohen Niveau ist, ist der wird zugleich die Attraktivität dieses wichtigen Berufs-
Abstimmung mit den Bundesländern geschuldet. Hier zweiges erhöht. Beide Seiten haben ein Anrecht auf
sind mittelfristig Verbesserungen notwendig. Darin stim- Schutz der Berufsbezeichnung, bundeseinheitliche Aus-
me ich dem Kollegen Haupt ausdrücklich zu. Aber bildungsstandards, bundeseinheitliche Zugangsvoraus-
16 Länder davon zu überzeugen, auf ihre eigenen Gesetze setzungen sowie eine Regelung der Ausbildungsvergü-
zu verzichten, kommt schon einem Kunststück gleich. Es tungen.
ist gut, dass das nun endlich gelungen ist.
Wir begrüßen, dass die Regelausbildungsdauer grund-
Uns Bündnisgrüne freut besonders, dass mit dem sätzlich drei Jahre betragen soll, dass die Umschüler aus
neuen Gesetzentwurf ein Vorschlag von uns aufgenom- dem Kreis der Verkürzungsberechtigten ausgeschlossen
men wurde, durch den der Einstieg in eine integrierte sind und Verkürzungsmöglichkeiten nunmehr nur noch
Pflegeausbildung ermöglicht wird, denn in der Alten-, restriktiv, bei wirklichen Berufserfahrungen im Bereich
Kranken- und Kinderkrankenpflege gibt es zahlreiche in- der Pflege, vorgesehen sind. Es darf weder unter arbeits-
haltliche Überschneidungen. Modellversuche zeigen: Das markt- noch unter finanzpolitischen Gesichtspunkten eine
ist das Modell der Zukunft. Ich würde mir wünschen, dass Verkürzung der Ausbildung geben.
möglichst bald von einem Bundesland von der Experi-
mentierklausel Gebrauch gemacht wird. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten
der SPD)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, durch die Ände-
rungsanträge der Koalitionsfraktionen haben wir insbe- Ein inflationärer Gebrauch von Verkürzung beeinträchtigt
sondere den Anregungen des Bundesrates, aber auch der die Qualität der Ausbildung, auf die wir im Interesse der
Sachverständigenanhörung Rechnung getragen. Ein Pflegebedürftigen nicht verzichten wollen.
wichtiger Punkt dabei war die Kritik an der verkürzten Es ist gut, dass die Pflegeschulen die Gesamtverant-
Ausbildung der Umschülerinnen; diese stellen bisher wortung für die Altenpflegeausbildung zugewiesen be-
immerhin zwei Drittel. Dieses wurde nun aus dem Gesetz kommen. Die Aufgabenteilung zwischen Schule und Pra-
herausgenommen. Lassen Sie uns nun gemeinsam die xis ist jetzt klarer. Unter dem Aspekt der Qualität – Frau
Zeit bis Ende 2001 – denn es läuft zum 1. Januar 2002 Schewe-Gerigk verwies schon darauf – bedauern wir
aus – für Verhandlungen zwischen Bund und Ländern aber, dass die Anforderungen an Lehrpersonal und Schule
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10855
Klaus Haupt

(A) nicht konkreter festgeschrieben werden. Diese sind im Im federführenden Ausschuss für Familie, Senioren, (C)
Gesetzentwurf zu ungenau gehalten. Hier wird das Gesetz Frauen und Jugend sprach man von einer historischen
seinem eigenen Anspruch nicht ganz gerecht. Neben der Stunde. Für wen eigentlich? Zwar sind im Gesetzentwurf
Ausübung eines sozialpflegerischen Berufs wäre aus libe- eine Reihe von Forderungen enthalten, die auch die PDS
raler Sicht ein pädagogischer Fachhochschul- oder Hoch- in ihrem Antrag 1996 erhoben hatte. Zum Beispiel wird
schulabschluss eine wünschenswerte Voraussetzung für mit diesem Gesetz der Abbau der Niveauunterschiede
Leiter und Dozenten in der Altenpflegeausbildung. zwischen den Ländern und zwischen den Altenpflegeein-
richtungen angestrebt. Eine einheitliche Ausbildungs-
(Beifall bei der F.D.P. sowie der Abg. Monika
dauer von drei Jahren soll erreicht werden. Das alles fin-
Balt [PDS])
den wir gut. Doch mit dieser Bundeseinheitlichkeit wird
Dies würde den sonst geltenden Regeln in unserer Bil- der gegenwärtige Zustand, nämlich 17 unterschiedliche
dungslandschaft besser entsprechen. Regelungen in 16 Bundesländern, auf ein neues Niveau
gehoben, aber nicht beendet.
Die jetzt vorgesehene Finanzierung der Ausbildung
und damit auch die Art der Ausbildungsvergütung ist Jetzt zu den Problemen. Für mich ist ausschlaggebend
einfacher gelöst als durch das zunächst vorgesehene Um- und wichtig, aus welchem Blickwinkel man das Problem
lageverfahren. Ziel muss es trotzdem sein, die Finanzie- der Altenpflegeausbildung betrachtet. Ich meine, da kann
rung möglichst einfach und ohne besonderen Verwal- es nur einen geben: den der pflegebedürftigen älteren
tungsaufwand zu regeln. Menschen.
Sicherlich lässt der Gesetzentwurf Wünsche offen. (Beifall bei der PDS)
Doch ist der Gesetzentwurf ein wichtiger Schritt zu ein-
Wir sagen, dass die Altenpflege gewährleisten muss, dass
heitlichen Ausbildungsstandards. Deshalb unterstützen
Ältere nicht nur gepflegt, sondern fachlich qualifiziert be-
wir Liberalen auch die Absicht, eine integrierte Ausbil-
gleitet und betreut werden.
dung für Kranken- und Altenpflege anzustreben und mo-
dellhaft eine gemeinsame Ausbildung zu erproben. (Beifall bei der PDS)
Die nun vorgesehene Öffnungsklausel, so scheint es, Sie dagegen, meine Damen und Herren von der rot-grü-
ist ein viel versprechendes Instrument, gemeinsame Aus- nen Regierung, stellen bei den Ausbildungszielen die
bildungsstrukturen zu erproben. Das Altenpflegegesetz medizinische Pflege und Behandlung an die erste Stelle,
kann so eine wichtige Vorstufe für eine einheitliche Rehabilitation an die dritte und Hilfe zur Erhaltung und
Pflegeausbildung sein. Längerfristig wäre es nützlich, Aktivierung der eigenständigen Lebensführung an die
zunächst die Pflegeberufe in einem einheitlichen Ausbil- siebente Stelle. Damit wird Altenpflege zu einem „Heil-
(B) dungsberuf zusammenzuführen, die Schlüsselqualifi- hilfsberuf“ degradiert. Mir ist natürlich vollkommen klar, (D)
kationen zu vermitteln und zu gewährleisten, dass die im warum der Gesetzgeber das macht: Es bestünde sonst
dualen Bildungssystem heute üblichen Qualitäten erreicht keine Bundeskompetenz. Wer sich aber für eine Pflege
werden. „Still, sauber, satt“ entscheidet und Schritte in diese Rich-
tung tut, dem reicht natürlich auch ein Mindestmaß an
Die F.D.P. hofft, dass mit der Verabschiedung des Al-
Ausbildung. Kosten werden minimiert. Es sind wieder
tenpflegegesetzes die Diskussion nicht beendet ist, son-
nur Frauenberufe.
dern über eine weitere Verbesserung in der Pflegeausbil-
dung nachgedacht wird. Dies ist sowohl im Interesse der Durch das Gesetz wird in der Folge ein Rückgang des
älteren als auch der jüngeren Generation. Ich wiederhole qualitativ-fachlichen Niveaus der Ausbildung herbeige-
mich: Packen wir es an! führt. Dazu ein Beispiel: Die Ausbildung im Freistaat
Thüringen umfasst gegenwärtig 2 580 Theoriestunden.
(Beifall bei der F.D.P., der SPD und dem
Nach In-Kraft-Treten des Gesetzes werden es nur noch
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Christa
1 830 Theoriestunden sein können. Das ist ein Minus von
Lörcher [SPD]: Da können Sie sicher sein!)
30 Prozent.
Dieses Raster wird in allen Bundesländern zur Regel
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat
werden. Die Abstriche werden zwingend in der psy-
jetzt die Abgeordnete Monika Balt.
chosozialen, rechtlichen und hilfeplanungsspezifischen
Kompetenz erfolgen. Dieses Manko wird auch nicht
Monika Balt (PDS): Frau Präsidentin! Liebe Kolle- durch die stärkere Betonung der praktischen Ausbildung
ginnen und Kollegen! Vor ungefähr zwei Stunden hörten ausgeglichen.
wir in der letzten Rede unseres Kollegen Dreßler das –
(Beifall bei der PDS)
wie er es selber bezeichnet hat – „Histörchen“ von dem
jungen Dynamischen und von dem alten Reichen – ein Das Berufsbild wird auf somatische Pflege verengt und
wohl mehr als ernster Hintergrund. Letztlich hat es auch es erfolgt eine Schwerpunktverlagerung auf geriatrische
einen Bezug zum vorliegenden Entwurf des Altenpfle- Krankenpflege. Der ältere Mensch hat aber nicht nur An-
gegesetzes, der nach über zehnjähriger Diskussion nun- spruch auf Pflege – so er dieser bedarf –, sondern er hat
mehr auf dem Tisch liegt. Diesem Gesetzentwurf kann auch Anspruch auf Betreuung einschließlich sozialer Be-
meine Fraktion in dieser Form nicht zustimmen. Wir wer- treuung. Somit kann es nicht nur um Krankenpflege ge-
den uns deshalb enthalten. hen.
10856 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Monika Balt

(A) Den Weg, den das Gesetz zur Ausbildungsfinanzierung für diesen Gesetzentwurf mit den vorliegenden Ände- (C)
vorsieht, sehen wir als außerordentlich problematisch an. rungsanträgen ausgesprochen. Herzlichen Dank dafür.
Zudem ist die Finanzierung durch das Umlageverfahren
verfassungsrechtlich sehr umstritten. Daher geht der Ge- Am Tag der Ausschussberatungen stand in der „Berli-
setzgeber nun den Weg, die Träger aufzufordern, sich frei- ner Morgenpost“ ein Bericht mit der Überschrift „Ma-
willig zur Finanzierung zu verpflichten. schinen – Diener an Bett und Arbeitsplatz, Roboter für
Pflegebedürftige und Körperbehinderte“. Zitat: „Und
wann kommt die elektronische Krankenschwester?“ Auf
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin, der Messe „Altenpflege 2000“ wurde sie vorgestellt; für
denken Sie bitte an die Zeit. Koma-Patienten entwickelt, wird sie jetzt auch Pflegehei-
men angeboten: „Eine Waschanlage für bettlägerige Pati-
Monika Balt (PDS): Erfahrungen in den Ländern zei- enten – zeitsparend, porentief rein und absolut hygien-
gen, dass dadurch nur noch ein Drittel der Träger weiter- isch, garantiert ohne menschliche Zuwendung.“
hin Ausbildungsplätze sicherstellen wird. Darüber hi-
Wollen wir das? Ich bin sicher: Wer Pflegetätigkeit
naus ist zu befürchten, dass kleinere Trägerkapazitäten
untergehen, da das ursprünglich angestrebte Umlagever- kennt und verantwortlich ausübt oder Verantwortung
fahren, das einen Ausgleich für alle Altenpflegeeinrich- dafür trägt, will das nicht. Hilfsmittel, auch technische
tungen regelt, unabhängig davon, ob dort Ausbildung Hilfen wie zum Beispiel ein Lifter, sind sinnvoll und
stattfindet oder nicht, verfassungsrechtlich kaum reali- wichtig, weil sie die oft schwere Arbeit erleichtern. Aber
sierbar sein wird. sie können nie eine qualifizierte ganzheitliche Pflege er-
setzen, in der Körper, Geist und Psyche einbezogen wer-
den.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin,
Sie können nicht einfach weiterreden. Das geht nicht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Monika Balt (PDS): Ich komme zu meinem letzten Waschen ist mehr als Körperreinigung; es ist auch Kom-
Satz. munikation, Beobachtung von körperlichen und geistigen
Man darf dabei nicht vergessen: In Altenpflegeheimen Fähigkeiten, Mobilisation, Berührung. Längst ist bekannt,
lebt nur rund ein Drittel unserer älteren pflegebedürftigen dass Koma-Patienten – wie wir alle – Worte, Berührung
Mitbürgerinnen und Mitbürger. und Zuwendung brauchen.
Der Gesetzentwurf zur Altenpflegeausbildung mit un-
(B) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Würden Sie jetzt seren Änderungsvorschlägen soll das Berufsbild Alten- (D)
bitte aufhören! Ich habe es schon zweimal gesagt. Es geht pflege verbessern, aufwerten und attraktiver machen:
nicht, dass Sie einfach so durchreden. durch fundierte Ausbildungsziele, eine Kombination von
Theorie und Praxis, qualifizierte Praxisbegleitung und die
(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist Gesamtverantwortung der Altenpflegeschule, durch eine
schon ein bisschen unverfroren, Frau Kollegin!)
dreijährige Ausbildungszeit und das Recht auf eine ange-
messene Ausbildungsvergütung.
Monika Balt (PDS): Deshalb brauchen wir ein Gesetz,
das diesen Forderungen Rechnung trägt. Qualität in der Pflege kann und soll damit verbessert
und gesichert werden. Eine steigende Lebenserwartung
Vielen Dank. gibt uns mehr Jahre. Dass Menschen diese Jahre in Würde
(Beifall bei der PDS) verbringen können, auch bei Pflegebedürftigkeit, ist unser
Anliegen. Mehr Lebensjahre heißt auch ein höheres Ri-
siko bezüglich Krankheiten im Alter: Störungen bei Herz
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat und Kreislauf, Bewegungseinschränkungen, psychische
jetzt die Abgeordnete Christa Lörcher. Krankheiten wie Depressionen, mehr Demenzerkrankun-
gen. Es heißt mehr Pflegebedürftigkeit zu Hause, wobei
Christa Lörcher (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kol- die Pflege oft von Angehörigen und von professionellen
leginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Frau Eichhorn, ich Kräften gemeinsam geleistet wird. Es bedeutet auch ein
glaube, Sie haben den falschen Gesetzentwurf gehabt. höheres Alter beim Eintritt in stationäre Einrichtungen,
Wahrscheinlich ist Ihnen auch entgangen, dass sehr viele wobei der Bedarf an Grund- und Behandlungspflege, aber
Vorschläge des Bundesrates in unseren Änderungsantrag auch an Aktivierung und Rehabilitation entsprechend
aufgenommen und im Ausschuss auch durchgesetzt wur- steigt.
den.
Ich wundere mich, dass trotz Kenntnis dieses Sachver-
Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Ju- haltes in allen Bereichen der Pflege von manchen noch
gend hat in der letzten Woche mit deutlicher Mehrheit be- immer die Bundeskompetenz für die Regelung der Be-
schlossen, dass ab 2001 die Altenpflegeausbildung in un- rufe in der Altenpflege infrage gestellt wird.
serem Land bundeseinheitlich und mit gemeinsamen
Qualitätsstandards durchgeführt werden soll. Die mitbe- (Zuruf von der SPD: Da kann man sich mehr
ratenden Ausschüsse haben sich ebenfalls mehrheitlich als wundern!)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10857
Christa Lörcher

(A) Medizinisch-pflegerische Kenntnisse sind die Grundlage Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der PDS ange- (C)
für eine qualifizierte Arbeit. Ich will dafür zwei Beispiele nommen.
nennen.
Dritte Beratung
Bei der zunehmenden Zahl von Diabeteskranken in un-
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
serer Gesellschaft, derzeit rund 5 Millionen Menschen
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer
und der größte Teil von ihnen mit Altersdiabetes, ist es un-
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
bedingt nötig, dass eine Fachkraft in der Pflege zu jedem
ist damit auch in dritter Lesung mit dem soeben festge-
Zeitpunkt genau beobachtet und feststellen kann, wenn es
stellten Stimmenergebnis angenommen worden.
jemandem schlecht geht: Liegt ein zu niedriger oder ein
zu hoher Blutzuckerwert vor? Was ist sofort zu tun? Was (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
muss und darf ich machen? Was kann und darf nur der DIE GRÜNEN)
Arzt tun?
Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf:
Auch die Zahl der Parkinsonkranken bei uns ist hoch –
rund 200 000 Menschen leiden an Parkinson. Viele woh- Beratung des Antrags der Fraktionen SPD,
nen zu Hause, werden vom Partner oder von der Partne- CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und
rin versorgt; manche treffen sich in Selbsthilfegruppen F.D.P.
und erhalten dort Unterstützung. Aber auch professionelle Diskriminierung von Frauen bei den Olympi-
Hilfe ist nötig. Gerade bei Parkinson ist bekannt, dass Re- schen Spielen
habilitationsmaßnahmen wie Bewegungsübungen und
– Drucksache 14/3769 –
Sprachtraining viel an Lebensqualität erhalten oder eine
Verschlechterung verzögern können. Fundierte Kennt- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
nisse und Fähigkeiten in der Pflege, aber auch in den Be- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Widerspruch
reichen Aktivieren und Rehabilitation, sind bei der Pfle- höre ich nicht. Dann verfahren wir auch so.
geausbildung und Berufstätigkeit nötig.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die
Es ist gut, dass stationäre und ambulante Pflegeein- Abgeordnete Angelika Graf.
richtungen als Praxislernorte verbindlich festgelegt sind.
Zusätzlich ist sinnvoll, dass bei der praktischen Ausbil-
Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): Frau Präsidentin!
dung – eine Kannbestimmung im Gesetzentwurf – auch
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Junge und erfolgreiche
ein Praktikum in einer psychiatrischen Einrichtung, zum
Sportlerinnen und Sportler sind für Kinder und Jugendli-
Beispiel in der Gerontopsychiatrie oder in einer Reha-
che wichtige Identifikationsfiguren. Die Schwimmerin
(B) bilitationseinrichtung, etwa einer geriatrischen Rehakli- Franziska von Almsick zum Beispiel hat in den letzten (D)
nik, möglich ist.
Jahren insbesondere für Mädchen den Schwimmsport
Besonders positiv – das möchte ich zum Schluss ver- sehr interessant gemacht. Das hat die steigende Zahl von
merken – ist, dass Modellversuche hinsichtlich einer in- Anmeldungen in Schwimmvereinen ganz deutlich ge-
tegrierten Pflegeausbildung mit diesem Gesetzentwurf zeigt.
ermöglicht werden.
Die Ausübung von Sport, die dadurch angeregt wird,
Ich hoffe und wünsche uns, dass wir die Pflegeberufe vermittelt jungen Menschen nicht nur soziale Kompeten-
in Übereinstimmung mit den europäischen Richtlinien zen. Durch den Sport lernen sie im Allgemeinen auch, mit
auf der heute zu beschließenden gemeinsamen Grundlage ihrem eigenen Körper umzugehen und auf ihn zu achten.
einer dreijährigen qualifizierten Altenpflegeausbildung in Sport ist also Gesundheitsvorsorge im besten Sinne. Der
den kommenden Jahren gemeinsam weiterentwickeln – Sport gibt den Menschen die Möglichkeit, sich selbst zu
im Interesse derjenigen Menschen, die Hilfe und Betreu- verwirklichen, die eigenen Grenzen auszuloten und
ung brauchen, und derjenigen, die diese wichtige und an- Selbstbewusstsein im wahrsten Sinne des Wortes aufzu-
spruchsvolle Arbeit leisten. bauen. Dies alles sind insbesondere für junge Frauen in
der ganzen Welt wichtige Dinge.
Herzlichen Dank.
Eine besondere Rolle im Ablauf der sportlichen Ereig-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
nisse über die Jahre hinweg spielen die Olympischen
DIE GRÜNEN sowie der Abg. Sabine
Spiele. Sie haben sich im Laufe der Jahre durchaus ver-
Leutheusser-Schnarrenberger [F.D.P.])
wandelt. Im Jahre 1896 haben sich in Athen 295 Männer
sportlich gemessen haben. Im Jahre 1900 waren in Paris
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich schließe da- schon 11 Frauen am Start. In den letzten Jahrzehnten ha-
mit die Aussprache. ben immer mehr Frauen aus allen Erdteilen und jeder
Hautfarbe an den Olympischen Spielen teilgenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
Begonnen hat das Ganze allerdings mit Stamathia Roviti,
desregierung eingebrachten Entwurf eines Altenpflegege-
die 1896 durch ihre inoffizielle Teilnahme am Marathon-
setzes. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
lauf ihren Protest gegen die Frauendiskriminierung
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
deutlich gemacht hat.
chen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge-
setzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stim- Es waren recht starke Frauen, die da um Medaillen –
men der Koalitionsfraktionen und der F.D.P. gegen die und nicht nur um diese – kämpften. Die etwas Älteren von
10858 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Angelika Graf (Rosenheim)

(A) Ihnen können sich sicher noch an die vor kurzem verstor- den wir heute noch rechtzeitig vor dem Beginn der Spiele (C)
bene dunkelhäutige Sprinterin Florence Griffith-Joyner im September dieses Jahres verabschieden, an das Natio-
erinnern. Das war die mit den langen Fingernägeln. nale Olympische Komitee, beim IOC die Einhaltung der
Charta einzufordern und harte Sanktionen – ich meine, sie
(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Die war müssen bis zum Ausschluss von den Spielen gehen – ge-
aber gut im Sport! – Dr. Barbara Höll [PDS]: gen Länder zu beschließen, die sich daran nicht halten.
Schön bunt!)
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
– Ja genau, die mit den schönen bunten. – Sie hat Gold- GRÜNEN und der PDS)
medaillen über 100 Meter und über 200 Meter gewonnen.
Sie war nicht nur für den Frauensport ganz allgemein, Ausreden jedenfalls kann es nicht mehr geben. Für die
sondern insbesondere auch für farbige Frauen eine Iden- Kleinststaaten wurden die Leistungsvorgaben bei den
tifikationsfigur. Qualifikationen abgeschafft, sodass nun auf jeden Fall
Frauen aus diesen Ländern teilnehmen können. Die
Trotz dieser Fortschritte gibt es noch immer eine Trainingsbedingungen für viele Sportlerinnen haben sich
Reihe von Ländern, die reine Männerdelegationen zu den durch das Engagement, zum Beispiel unseres eigenen
Olympischen Spielen schicken. Die Entwicklung ist zwar NOK, deutlich verbessert. Irakerinnen und Palästinense-
rückläufig. Aber es erschreckt schon, dass 1992 nach rinnen zum Beispiel können zurzeit in Deutschland mit
Barcelona immer noch 34 Länder ohne weibliche Teil- deutscher Unterstützung trainieren. Das ist ein Vorteil
nehmer angereist sind. Auch in Atlanta gab es 1996 noch gegenüber den schwierigen Trainingsbedingungen im ei-
29 Delegationen, die ohne Frauen angetreten sind. Das genen Land. Ich meine, dass dies etwas ist, was weiter-
waren damals unter anderem Länder wie Afghanistan, verfolgt werden muss und wofür man dem Nationalen
Bolivien, Brunei, Bahrain, Dschibuti, Haiti, Irak, Kuwait Olympischen Komitee – im Sinne der internationalen
und Saudi-Arabien. Diese Liste muss nicht zu Ende ge- Frauenbewegung und des internationalen Frauensportes –
führt werden. Es ist sehr beeindruckend, welche Länder danken muss.
in diesem Zusammenhang zu nennen sind: unter anderem Ich meine, wir sollten unseren Dank durch die Zustim-
viele afrikanische und arabische Länder. mung zu diesem Antrag manifestieren.
Dort wurden und werden – das ist ganz offensichtlich – (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
Frauen aktiv oder passiv diskriminiert und an der Aus- GRÜNEN und der PDS)
übung des Sportes gehindert. Ob das nun dadurch pas-
siert, dass Bekleidungsvorschriften, zum Beispiel der
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat
Tschador im Iran oder die Burka in Afghanistan, oder an-
(B) dere angeblich theologisch oder kulturell bedingte jetzt die Abgeordnete Monika Brudlewsky. (D)
Zwänge die Frauen an der Ausübung des Sportes hindern,
ob den Frauen die Ausübung des Sportes vollständig ver- Monika Brudlewsky (CDU/CSU): Frau Präsidentin!
boten wird oder man ihnen andere Rechte vorenthält, was Liebe Kolleginnen und Kollegen! Leider haben wir ge-
sie daran hindert, oder ob es schlicht und einfach die Ge- rade ein deutsches sportliches Debakel hinter uns. Aber
dankenlosigkeit und das Machoverhalten von Männern bei den Olympischen Spielen in Australien hoffen wir auf
sind, die den Frauen diese Betätigung bzw. Erfolge auf bessere Ergebnisse für Deutschland. Bei diesem Fest der
diesem Gebiet nicht gönnen wollen, das spielt meiner An- Nationen werden sich Sportler aus aller Welt im sportli-
sicht nach bei der Beurteilung des Ganzen keine Rolle. chen Wettkampf miteinander messen und Millionen Men-
Fest steht: Es widerspricht deutlich der olympischen schen werden über die Medien mit Spannung live dabei
Charta und dem olympischen Gedanken. sein.

In der Olympischen Charta steht geschrieben: Obwohl sicher ein großes Fest der Begegnung daraus
wird, müssen wir auch dieses Mal wieder befürchten, dass
Alle Formen der Diskriminierung mit Bezug auf ein weibliche Sportler aus einer Reihe von teilnehmenden
Land oder eine Person, sei es aus Gründen von Staaten aufgrund angeblich religiöser Vorbehalte, gepaart
Rasse, Religion, Politik, Geschlecht und sonstigen mit männlichem Chauvinismus, außen vor bleiben müs-
Motiven sind mit der olympischen Bewegung unver- sen, nur weil sie Frauen sind oder weil diese Staaten keine
einbar. Sport treibenden Frauen dulden.
(Beifall bei der SPD und der PDS) (Irmgard Karwatzki [CDU/CSU]: Leider!)
Schauen wir nach Sydney: Obwohl die Ergebnisse der Dies ist ein klarer Verstoß gegen die olympische Charta.
Qualifizierung aus den einzelnen Ländern noch nicht vor- Wir wollen und müssen den Frauen dieser Länder zu ver-
liegen und infolgedessen auch noch keine Aussagen über stehen geben: Dies muss und wird sich ändern.
die Zusammensetzung der Delegationen gemacht werden (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
können, appellieren wir mit dem vorliegenden frak- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
tionsübergreifenden Antrag – dies ist auch ein deutlicher
Fortschritt gegenüber früher –, Die olympische Charta verbietet, wie Frau Graf schon
zitiert hat, jede Form von Diskriminierung. Dazu ge-
(Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [F.D.P.]: hört auch die Ungleichbehandlung aufgrund des Ge-
Ja!) schlechts. Menschenrechte sind auch Frauenrechte.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10859
Monika Brudlewsky

(A) Menschrechtsverletzungen einiger Länder gegenüber chen Training entgegenstehen, wenn die Frauen von sich (C)
ihren Frauen gehören daher an den Pranger gestellt. Die- aus dieses Recht wahrnehmen wollen.
sen Ländern und ihren Regierungen muss vor der
Grundsätzlich hat dieses Problem nichts mit Religion
Weltöffentlichkeit klargemacht werden, dass es so nicht
zu tun. Schließlich gibt es auch eine Reihe islamischer
weitergehen kann.
Staaten, die ihre hervorragenden Sportlerinnen nach Aus-
Meine Kollegin Bärbel Sothmann hat vor vier Jahren tralien schicken werden; dies betone ich ausdrücklich. Sie
in einer Debatte zum gleichen Thema den Satz geprägt: werden im Koran eine Reihe von Frauen finden, bei-
Diese Frauenapartheid ist nicht weniger menschenrechts- spielsweise die Tochter des Propheten Mohammed, die
verletzend als die Rassenapartheid in Südafrika. Schließ- man nach heutiger Sichtweise durchaus als emanzipierte
lich bringen diese Länder damit die Miss- und Verachtung Frauen bezeichnen würde.
der Hälfte ihrer Bevölkerung zum Ausdruck. Um noch
einmal zum Fußball zu kommen: Diese Länder verdienen 100 Jahre nach der Teilnahme der ersten Frauen an
die rote Karte der Weltgemeinschaft. Sie halten anschei- Olympischen Spielen der Neuzeit sollte die Emanzipation
nend Frauen für nicht würdig oder nicht fähig, ihre Län- so weit fortgeschritten sein, dass mit Beginn des 21. Jahr-
der im sportlichen Wettstreit zu vertreten, obwohl es doch hunderts diese Diskriminierung überwunden ist. Daran
für jeden Sportler eine Ehre ist, für die Olympischen müssen wir mitwirken.
Spiele nominiert zu werden und sich mit den weltbesten Ein Einwurf sei mir als ehemalige DDR-Bürgerin im
Sportlern messen zu können. Zusammenhang mit Diskriminierung von Frauen im
Sport ist aber auch eine Frage von Persönlichkeit, Sport und vor dem Hintergrund der gerade laufenden Pro-
Selbstdisziplin, Ausdauer und persönlichem Engagement, zesse gegen Trainer und Funktionäre der ehemaligen
was Vorbildcharakter vor allem für junge Menschen hat. DDR in Bezug gerade auf das Doping von jungen Men-
Gerade in Ländern der Dritten Welt haben die Sportler oft schen erlaubt. Die DDR, die Sowjetunion und die meisten
Kultstatus und werden wie Popstars verehrt; ich denke nur sozialistischen Staaten sahen in der Olympiade auch ein
an die hervorragenden afrikanischen Läuferinnen und wichtiges ideologisches Propagandamittel, um die Über-
Läufer. Manche Regierungen sehen hierin Gefahren. Statt legenheit des Sozialismus durch ihre Sportlerinnen und
selbstbewusste und erfolgreiche Frauen wollen sie lieber Sportler zu demonstrieren. Das Doping unserer DDR-
Frauen als eine dumm gehaltene schwarz umhüllte Masse, Frauen gehörte da leider zur Tagesordnung, um zu zeigen,
die ohne männliche Begleitung noch nicht einmal alleine wozu der Sozialismus gerade auch hinsichtlich der sport-
vor die Tür gehen dürfen, wenn ich zum Beispiel an das lich emanzipatorischen Förderung von Frauen fähig ist.
Taliban-Regime in Afghanistan denke. Frauen mit Ge- Auch hier wurden Frauen benutzt und aufgrund der un-
(B) sicht, mit Persönlichkeit, mit Durchsetzungsvermögen (D)
verantwortlichen Betreuung durch Funktionäre zu hor-
könnten in diesen Ländern Begehrlichkeiten nach mehr monell behandelten Wettkampfmaschinen herangezogen,
Rechten und Freiheiten einfordern und als Vorbild für an- ohne dass Rücksicht auf gesundheitliche Folgen genom-
dere gelten. Dies passt natürlich nicht in die Ideologie sol- men worden wäre. Ich habe selber solche Mädchen ken-
cher Regime. nen gelernt, die später unter der Dopingbehandlung ge-
Auch wenn sich die Zahl der Länder, die ausschließlich sundheitlich schwer litten, zumal man ihnen diese Mittel
mit Männern zu den Olympischen Spielen anreisten, von meist ohne Information über die Folgen verabreichte.
35 Länder 1992 in Barcelona auf 29 Länder 1996 in At- Auch wurden sie später oft allein gelassen, wenn sie nicht
lanta verringert hatte, so sind dies immer noch zu viele. als Kader verwendet werden konnten, und hatten so große
Wie viele werden es wohl in diesem Jahr sein? Wir sind Probleme mit dem Abtrainieren.
gespannt. Diese Praxis war genauso menschenverachtend wie
Es sei zugestanden, dass aufgrund der geringen Bevöl- der völlige Ausschluss von Sportlerinnen. Auch das will
kerungszahlen und auch des unterschiedlichen sportli- natürlich keiner. Diese Praxis findet heute zum Glück
chen Interesses sich die olympischen Mannschaften man- auch die juristische Würdigung durch ordentliche Ge-
cher Länder nur auf ganz bestimmte Sportarten konzen- richte.
trieren oder Frauen sich nicht qualifizieren konnten. Uns geht es in diesem Zusammenhang um die
(Irmgard Karwatzki [CDU/CSU]: Noch nicht!) grundsätzliche Achtung der Würde der Frau und die Er-
möglichung der Wahrnehmung ihrer Rechte und Chancen
So ist es aber immer noch eine andere Frage, ob ich es
und nicht um ihre Instrumentalisierung für Ideologien und
sportbegeisterten jungen Mädchen und Frauen, die es
Religionen.
auch in diesen Ländern gibt, generell verbiete, Sport zu
treiben, was ein ureigenes menschliches Bedürfnis ist, Ich danke Ihnen.
oder ob ich ihnen zumindest die grundsätzliche Möglich-
(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und dem
keit einräume, sich in ihren Sportarten und entsprechend
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
ihren sportlichen Neigungen für ein solches Weltereignis
zu qualifizieren. Dies setzt aber voraus, dass diese Staaten
den Frauen Trainingsmöglichkeiten zur Verfügung stel- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Als einzigem
len, wie sie auch den Männern zustehen. Auch dürfen ver- männlichen Redner in dieser Debatte erteile ich jetzt dem
meintlich religiöse Kleiderordnungen nicht einem sportli- Abgeordneten Winfried Hermann das Wort.
10860 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

(A) Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das gilt übrigens auch für die anderen Bereiche, nicht (C)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hoffe, nur für die Mannschaften. Schauen Sie sich einmal die
man muss sich in diesem Haus nicht dafür entschuldigen, Nationalen Olympischen Komitees oder das IOC an. Das
dass man als Mann zur Diskriminierung von Frauen sind reine Männerklubs, Altherrenklubs, in denen Frauen
spricht. Ich glaube nämlich, dass es eine moderne Auffas- lange Zeit überhaupt nicht vorgekommen sind.
sung ist, dass sich auch die Männer um die Beseitigung
von Diskriminierungen kümmern. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten PDS)
der CDU/CSU und der PDS)
Mühsam macht das IOC jetzt eine Kampagne, um
Ich möchte meine Rede gern mit einem kleinen histo- mehr Frauen für den Bereich der Organisation und des
rischen Exkurs beginnen; denn man kann die Diskrimi-
Managements zu gewinnen. Dort finden sich erst 10 Pro-
nierung nicht verstehen, ohne die Geschichte der Olym-
zent bis 20 Prozent Frauen. Das ist angesichts der Tatsa-
pischen Spiele ein wenig zu kennen. Man könnte viel-
che, dass wir im 21. Jahrhundert leben, beschämend. Hier
leicht zugespitzt sagen: Die Geschichte der Olympischen
Spiele war schon immer auch eine Geschichte von Dis- gibt es noch viel Nachholbedarf, übrigens auch in
kriminierung. Deutschland. Wir haben, glaube ich, keinen Grund, allzu
hochnäsig zu sein und auf andere Staaten zu zeigen, nur
In Griechenland waren die Olympischen Spiele sicher- weil sie keine Frauen in ihren Olympiateams haben. Bei
lich etwas anders als in der modernen Welt, aber einige uns haben wir bei Funktionären reine Männermannschaf-
Parallelen sind erkennbar. In Griechenland waren nur ten. Auch das ist unerträglich.
Männer als Athleten zugelassen; Frauen waren nur als Zu-
schauerinnen zugelassen, wenn sie jung und unverheira- Ich glaube, dass die Staaten, in denen Frauen verfas-
tet waren. Die Kampfrichter waren Männer; lediglich eine sungsmäßig explizit vom Sport ausgeschlossen werden,
Priesterin, die alle vier Jahre gewählt wurde, hatte gewis- hart sanktioniert werden müssen, und zwar bis hin zum
sermaßen die Oberaufsicht. Das war eine merkwürdige letzten Mittel, dem Ausschluss von Olympischen Spielen.
Konzeption, dennoch war es eigentlich eine Männerver- Ich möchte allerdings nicht einer pauschalen harten Aus-
anstaltung. grenzung das Wort reden.
Die modernen Olympischen Spiele von Pierre de (Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [F.D.P.]:
Coubertin haben im Grunde genommen diese Tradition Das ist richtig!)
aufgenommen – Sie schmunzeln schon –: Es war wie-
Ich glaube, das wäre nicht klug.
(B) derum eine Männerveranstaltung. 1896 waren keine (D)
Frauen dabei, 1900 waren nur wenige Frauen vertreten. Zur Geschichte der Olympischen Spiele gehörten auch
Sie waren eher geduldet als erwünscht. Erst 1928 hat man immer politisch begründete Boykotts. So hat man etwa
sich durchringen können, Frauen offiziell zu akzeptieren. bei den Olympischen Spielen 1980 in Moskau durch den
Dann hat eine neue Form von Diskriminierung, dies- Boykott der westlichen Staaten versucht, den Krieg der
mal im positiven Sinne, begonnen: Man hat zwischen ge- Sowjetunion in Afghanistan zu verhindern, was nicht ge-
mischten und reinen Frauenwettbewerben unterschieden. lungen ist und eher zum Schaden der Olympischen Spiele
Ich glaube, man muss anerkennen, dass im Sport mehr als war. Auch das Vorgehen 1984 in Los Angeles – der Re-
anderswo sichtbar wird, dass Mann und Frau zwar im vancheboykott der kommunistischen Staaten – war nicht
Prinzip gleich sind, aber in mancher Hinsicht eben doch sinnvoll. Auf der anderen Seite steht der sehr erfolgreiche
nicht. Deswegen macht es auch Sinn, dass Männer und Ausschluss der Südafrikanischen Republik über viele
Frauen in unterschiedlichen Wettbewerben antreten. Jahre hinweg, weil sie Apartheidrepublik war. Dort hat es
Frauen dürfen aber nicht per se vom Sport und von Olym- auch etwas geholfen. Also kann so etwas im Einzelfall
pischen Spielen fern gehalten werden. sehr wohl politisch wirken. Deswegen muss man sich das
Die Geschichte der folgenden Jahre und Jahrzehnte Verhängen von Sanktionen genau überlegen.
war eine Geschichte des Kampfes der Frauen für die Be-
Im Großen und Ganzen wird es wahrscheinlich darauf
teiligung an den Spielen. Sie haben es gerade aufgelistet,
ankommen, Staaten, die diskriminierende Kulturen ha-
wie Spiel um Spiel immer mehr Frauen hinzugekommen
sind. Aber auch heute können wir immer noch feststellen, ben, trotzdem an Olympischen Spielen teilnehmen zu las-
dass eine Beteiligung in vielen Ländern nicht gelungen sen, ihnen aber deutlich zu signalisieren, dass man Frau-
ist. Zum Teil gibt es völlig geschlechtsspezifische Mann- endiskriminierung nicht akzeptieren kann. Ich glaube,
schaften. Ich warne aber davor, das als Phänomen des Is- dass Beteiligung statt Ausgrenzung eher zu einer Moder-
lams zu geißeln – Sie haben das hier nicht getan, aber man nisierung dieser Staaten und Kulturen führt und dies am
liest es bisweilen in der Sportpresse, nach dem Motto, die ehesten der Politik der Nichtdiskriminierung förderlich
harten Islamstaaten lassen die Frauen nicht zu den Olym- ist. In diesem Sinne glaube ich, dass wir noch viele Jahre
pischen Spielen –, denn es sind weit mehr als nur die is- des Streitens für Olympische Spiele ohne Diskriminie-
lamischen Staaten. Es gibt auch anderswo Diskriminie- rung vor uns haben.
rungen. Oft ist es nicht eine verfassungsmäßige Diskrimi-
Vielen Dank.
nierung, sondern eine kulturelle, und das ist vermutlich
auch das eigentliche und größere Problem. (Beifall im ganzen Hause)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10861

(A) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten (C)
jetzt die Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. der CDU/CSU)
Ich bin der Auffassung, dass dieser Antrag, der heute
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (F.D.P.): beschlossen werden soll, auch ein Auftrag an die Bundes-
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle- regierung ist, sich die große Mehrheitsmeinung hier im
gen! Der Antrag, der uns heute beschäftigt, ist nach noch Plenum, im Bundestag zu Eigen zu machen. Sie sollte dies
streitiger Behandlung vor vier Jahren, nämlich 1996 zu gerade in der Außenpolitik, in den kritischen Dialogen mit
den Olympischen Spielen in Atlanta, jetzt ein gemein- den Ländern, in denen Menschenrechte verletzt werden,
samer Antrag der Fraktionen. 1996 gab es getrennte An- zum Thema machen. Es ist bereits zu Recht gesagt wor-
träge – nach dem alten Muster: Regierungskoalition auf den: Frauen überhaupt nicht die Möglichkeit zu sport-
der einen Seite, Oppositionsfraktionen auf der anderen licher Betätigung zu geben ist eine Verletzung ihrer
Seite. Inhaltlich haben sie sich mehr kosmetisch denn in Rechte und eine Verletzung von Menschenrechten. Des-
der Sache unterschieden. Heute sind wir jedenfalls in die- halb, denke ich, sollten wir hier heute Einvernehmen da-
sem Punkt etwas weiter. Gerade die jetzigen Oppositions- rüber erzielen, dass es zum einen eine Verpflichtung des
fraktionen zeigen, dass es ihnen hier um ein vernünftiges Bundestages ist, dieses Problem in Debatten deutlich zu
Befassen mit dem Thema geht. Dies ist also schon einmal machen, und dass es zum anderen immer auch Gegen-
ein wirklicher Fortschritt. stand der Dialoge der Bundesregierung mit diesen Län-
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) dern sein muss und offen und ehrlich eingefordert werden
muss. Es gibt schon nächste Woche bei dem Besuch des
In meinen Augen ist es selbstverständlich – dies haben iranischen Präsidenten in Deutschland Gelegenheit, das
auch alle hier gesagt –, die Diskriminierung von Frauen mit Nachdruck zu tun.
bei Olympischen Spielen, wie aber natürlich auch in allen
anderen Bereichen, und hier besonders das Fernhalten Vielen Dank.
von Frauen vom sportlichen Wettbewerb anzuprangern. (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und dem
Schlimm ist, dass es dies nach wie vor gibt. Wir haben BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge-
heute schon einige Bemerkungen zur Entwicklung und ordneten der SPD)
zur Geschichte hören können.
Bewirkt der Antrag denn irgendetwas? Bewirkt er et- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat
was beim Internationalen Olympischen Komitee, einem jetzt die Kollegin Petra Bläss.
Gremium mit 113 Mitgliedern und noch nicht einmal
zehn Frauen? Hieran habe ich erhebliche Zweifel. Ich
(B) habe heute in Vorbereitung auf diese Debatte versucht, Petra Bläss (PDS): Frau Präsidentin! Liebe Kollegin- (D)
mit IOC-Vertretern zu sprechen. Soweit sie zu erreichen nen und Kollegen! Die Stoßrichtung des interfraktionel-
waren, waren sie auf dieses Thema überhaupt nicht anzu- len Antrags ist richtig und auch notwendig. Die Kollegin
sprechen. Ich denke, so wird es auch weitergehen. Graf hat bereits aus der olympischen Charta zitiert und be-
tont, dass Diskriminierung aufgrund des Geschlechts mit
Selbstverständlich ist das IOC nach seinem Statut ver-
der olympischen Bewegung unvereinbar ist.
pflichtet, zu versuchen – und entscheidend darauf hinzu-
wirken –, jegliche Diskriminierung, aus welchen Gründen Dennoch werden Frauen auch bei Olympischen Spie-
auch immer, zu beseitigen. Dies ist nun einmal das wich- len systematisch diskriminiert. Wir haben in der Debatte
tigste Grundprinzip der Charta des Internationalen Olym- bereits einige Beispiele dafür gehört. Ich war, ehrlich ge-
pischen Komitees. Nur dann kann gemäß dem Haupt- sagt, ziemlich überrascht, zu lesen, dass bei den Olympi-
grund für die olympische Bewegung ein Beitrag zu einer schen Spielen 1996 immerhin noch 35 Länder aus-
friedlicheren und besseren Welt geleistet werden, wie es schließlich Männer in ihre Mannschaften nominiert hatten.
in diesen schönen hehren Worten in der Charta des IOC Es ist bekannt, dass Frauen gerade in diesen Ländern – die
geschrieben steht. Kollegin Graf hat bereits einige Staaten aufgezählt; des-
Für den Deutschen Bundestag ist es ein Leichtes, die- halb kann ich mir das an dieser Stelle sparen – grundle-
sen Antrag zu beschließen. Er kostet uns nichts – er kos- gende Menschenrechte nach wie vor verweigert werden.
tet kein Geld, er kostet keinen Aufwand – als die Ausei- Diese Woche ging durch die Presse, dass Frauen in Ku-
nandersetzung und die Debatte heute. Aber was kann er wait nicht wählen dürfen. Erst recht haben sie nicht die
tatsächlich bewirken? In meinen Augen kann er dann et- Chance, im Sport zu gleichen Rechten wie die Männer zu
was bewirken, wenn wir deutlich machen, dass die Ursa- kommen.
chen der Diskriminierung von Frauen in vielen Staaten Dennoch greift es zu kurz, dieses Problem allein mit
in religiösen und kulturellen Bereichen liegen, dort lange kultureller Tradition abzutun. Hier werden Frauenrechte
Wurzeln und Traditionen haben, und dass ohne Kenntnis unterdrückt. Die kürzlich stattgefundene UN-Sonderge-
und Analyse dieser gesellschaftspolitischen Hintergründe neralversammlung Peking plus Fünf in New York hat
vor allem in den Staaten, in denen Frauen überhaupt keine noch einmal bekräftigt, was bereits im Rahmen der UN-
Möglichkeit haben, im alltäglichen Bereich Sport auszu- Weltkonferenz des Jahres 1995 festgeschrieben wurde:
üben, keine wirksamen Maßnahmen ergriffen werden Frauenrechte sind Menschenrechte und unteilbar,
können. Auf diese Hintergründe müssen wir eingehen.
Man muss versuchen, dies zum Gegenstand von Politik zu (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten
machen. der SPD)
10862 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Petra Bläss

(A) das heißt, auch nicht mit der Berufung auf kulturelle Tra- niert, was natürlich auf eine bestimmte Rollenverteilung (C)
ditionen zu relativieren und einzuschränken. in vergangener Zeit zurückzuführen ist. Diese ehemals
klassische Rollenverteilung bricht Gott sei Dank immer
Südafrika durfte von 1964 bis 1988 nicht an den Olym-
weiter auf und schreitet unaufhaltsam in Richtung Gleich-
pischen Spielen teilnehmen mit der Begründung, das
berechtigung voran. Auch vor den Sportvereinen macht
Apartheidsystem widerspreche der olympischen Idee und
diese Entwicklung nicht Halt. So ist die Zahl der Mit-
ihrer Charta. Bei den genannten Staaten haben wir es mit
gliedschaften von Frauen in den Sportvereinen stetig ge-
Geschlechterapartheid zu tun, was der olympischen
Charta genauso widerspricht. Wo bleiben die Konsequen- stiegen und liegt im Moment bei 38,6 Prozent.
zen des Internationalen Olympischen Komitees? Der vor- Aber leider können wir uns nicht allzu sehr darüber
liegende Antrag ist hier meines Erachtens sehr allgemein freuen. Es ist nämlich festzustellen, dass Frauen gemes-
geblieben. Die notwendige Forderung, die entsprechen- sen an dieser Entwicklung in den Führungsgremien der
den Länder von der Teilnahme an den Olympischen Spie- Sportorganisationen noch immer unterrepräsentiert sind.
len auszuschließen, fehlt. So beträgt beispielsweise der Anteil der Frauen in den
(Beifall bei der PDS) Präsidien der Landessportverbände lediglich 17 Prozent.
Als ostdeutsche Abgeordnete bin ich dabei stolz darauf,
Der Kollege Hermann hat bereits darauf verwiesen: dass gerade in den neuen Bundesländern ein ständiger
Die Diskriminierung von Frauen ist schon in der Struktur Anstieg zu verzeichnen ist.
des IOC angelegt; denn das Exekutivkomitee des IOC be-
steht ausschließlich aus Männern. Schon das allein ist ein (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Skandal und muss geändert werden. der PDS)

(Beifall bei Abgeordneten der PDS und des Fakt ist aber, dass dieser Anteil bei weitem noch nicht
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) die Zahl der weiblichen Mitglieder widerspiegelt. Hier
besteht also dringend Handlungsbedarf. Es kann nicht
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei den Olympischen sein, dass Frauen, die in gleichem Maße leistungsfähig
Spielen geht es nicht nur um sportliche Ehre, sondern be- und qualifiziert sind wie Männer, immer noch bei der
kanntlich auch um viel Geld. Wir sollten auch an die mil- Vergabe von Führungspositionen benachteiligt werden
lionenschweren Sponsorinnen und Sponsoren appellie- bzw. sich selbst benachteiligen, indem sie manchmal zu
ren, ihren Einfluss geltend zu machen und zu verlangen, zurückhaltend auf sich bietende Gelegenheiten reagieren.
dass Geschlechterapartheid bekämpft wird.
Ziel muss es sein, eine wirkliche Gleichstellung von
Lassen Sie mich abschließend noch eine kurze Bemer- Männern und Frauen zu erreichen; „gender mainstream-
(B) kung machen, die ich mir gern erspart hätte: Einmal mehr ing“ scheint für mich hierbei der richtige Ansatz zu sein. (D)
stellt sich das Parlament bei einem wichtigen interfraktio- Dieses Leitprinzip der Bundesregierung sieht vor, bei al-
nellen Anliegen ein Armutszeugnis aus. Es ist traurig, len Planungen, Gesetzesvorhaben und Programmen die
dass bei einem solchen Thema, bei dem es offensichtlich Gleichbehandlung von Männern und Frauen zu berück-
im Hause Konsens gibt, politische Ausgrenzungsbe- sichtigen. Dies ist meiner Ansicht nach auf andere Felder
schlüsse wieder über das gemeinsame Sachinteresse – ich und Bereiche beliebig übertragbar und könnte dement-
sage das jetzt bewusst in sportlichem Jargon – gesiegt ha- sprechend auch Bestandteil des Handlungsmus-ters von
ben. Ich hoffe, dass das jetzt zum letzten Mal der Fall war. Sportorganisationen werden.
Ich danke Ihnen. Ich denke, dass über diesen Weg mehr Akzeptanz er-
(Beifall bei der PDS, der SPD, dem BÜND- reicht werden kann – übrigens auch bei Männern – als mit
NIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.) einer isolierten Betrachtung der frauenspezifischen Be-
lange. Das Präsidium des NOK für Deutschland hat im
Februar 2000 beschlossen, bis zum Ende des Jahres einen
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat konkreten Aktionsplan zur Förderung von Frauen zu erar-
jetzt die Kollegin Christine Lehder. beiten, in dem „gender mainstreaming“ ein große Rolle
spielt.
Christine Lehder (SPD): Sehr geehrte Frau Präsiden- Liebe Kolleginnen und Kollegen, zu Beginn dieses
tin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Diskrimi- Jahrtausends sind sehr viel mehr Frauen in den Präsidien
nierung von Frauen im Sport ist vielseitig. Von meinen der Spitzenverbände und Landessportbünde vertreten als
Vorrednerinnen und meinem Vorredner wurden schon ei- noch vor zehn Jahren. Doch im Vergleich zur Politik ist
nige Facetten aufgegriffen. Ich möchte einen bereits an- die Teilhabe von Frauen an der Verantwortung im Sport in
geführten Punkt beleuchten, nämlich die Diskriminierung Deutschland noch erheblich im Rückstand. Es liegt nicht
von Frauen bei der Besetzung von Entscheidungs- nur im Interesse der Frauen, dieses Defizit aufzuholen und
positionen in internationalen und nationalen Sportorga- sich ausreichende Mitwirkungsmöglichkeiten im Sport zu
nisationen. eröffnen. Es sollte auch an die demokratische Legitima-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der tion der Vereine und Verbände gedacht werden, die in der
PDS) Zukunft auch an der Frage der Teilhabe von Frauen ge-
messen werden.
Fangen wir jedoch mit etwas Erfreulichem an. Wie wir
alle wissen, ist das Vereinsleben generell männlich domi- (Vo r s i t z : Vizepräsidentin Petra Bläss)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10863
Christine Lehder

(A) Der DSB ist mit einer Satzungsänderung auf dem rich- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Der (C)
tigen Weg. Hierin wird festgeschrieben, dass der Anteil Minister muss heute einen wichtigen Termin
von Frauen in den Bundesausschüssen entsprechend ihren wahrnehmen! – Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE
Mitgliederzahlen ausgerichtet werden soll und dass Frau- GRÜNEN: Der Sportminister muss heute fei-
en mindestens eine Funktion als Präsidentin bzw. Vize- ern!)
präsidentin ausüben sollen. Ich will hier nur anmerken: Würden wir hier heute
Auch das IOC kann die Augen vor diesen Entwicklun- schon über die Fußballweltmeisterschaft 2006 reden, säße
gen nicht verschließen. In seiner Resolution der 2. IOC- nicht nur der Minister auf der Regierungsbank. Ich will
Weltkonferenz zum Thema „Frauen und Sport“ steht nicht bezweifeln, dass der Minister noch in Zürich ist und
geschrieben – es wurde hier ja auch schon mehrfach er- erwarte auch gar nicht, dass er hier sitzt. Ich halte es aber
wähnt –: für eine Missachtung des Parlaments, dass sein Haus
überhaupt nicht vertreten ist.
Die Konferenz erinnert daran, dass das Ziel der
Olympischen Bewegung der Aufbau einer friedvol- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
len und besseren Welt durch den Sport und das olym- neten der F.D.P. – Wilhelm Schmidt [Salzgitter]
pische Ideal ohne Diskriminierung irgendwelcher [SPD]: Da gebe ich Ihnen Recht!)
Art ist. – Lieber Herr Kollege Schmidt, ich sage das noch sehr
Durch einige Punkte des Forderungskataloges wird freundlich. Ich weiß noch aus meiner Zeit als Parlamen-
aber dennoch deutlich, wie groß die Diskriminierung in tarische Staatssekretärin, dass in vergleichbaren Fällen
den eigenen Reihen ist. So fordert das IOC, bis zum Ende Kollegen aus Ihrer Fraktion gefordert haben, man müsse
des Jahres 2000 – es wurde schon von Herrn Hermann und von 9 Uhr morgens bis 1 Uhr nachts auf der Regierungs-
von Frau Leutheusser-Schnarrenberger erwähnt – eine bank sitzen. Insofern bitte ich, weiterzugeben, dass es so
10-prozentige Mindestvertretung von Frauen in Entschei- nicht geht.
dungspositionen zu erreichen, was schon 1996 vom IOC (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ich habe
beschlossen wurde und leider immer noch nicht vollstän- Ihnen gerade zugestimmt!)
dig umgesetzt ist. Ein weiterer Punkt ist die Forderung
– Ich bedanke mich sehr dafür, aber wir wollen hoffen,
nach einer Mindestvertretung von wenigstens einer Re-
dass sich das in Zukunft ändert.
präsentantin in nationalen Delegationen bei den interna-
tionalen und regionalen Versammlungen. Dieser Stand ist Die Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger hat eben
bei der Besetzung ebenfalls noch nicht erreicht. Das emp- bereits gesagt, sie finde es begrüßenswert, dass wir uns
finde ich als sehr bedenklich. Ich kann nur immer wieder darauf verständigt hätten, einen gemeinsamen Antrag ein-
(B) gebracht zu haben. Ich bin in Kollegenkreisen gefragt (D)
daran erinnern, dass wir uns im Jahre 2000 befinden und
nicht im 18. Jahrhundert. worden, ob es nichts Wichtigeres gebe, als sich für die Be-
lange von Frauen im internationalen Sport zu engagie-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, für mich ist es un- ren.
vorstellbar, dass es keine ausreichende Beteiligung von
Frauen in den einzelnen Gremien gibt. Ich denke da an die (Gernot Erler [SPD]: Das müssen Kollegen
vielen weiblichen Spitzensportlerinnen, die uns überall von der Union gewesen sein!)
auf der Welt bei den Wettkämpfen vertreten, wie zum Bei- – Ich glaube, es waren auch einige von Ihnen dabei.
spiel Gunda Niemann-Stirnemann im Eisschnelllauf,
Birgit Fischer im Kanusport oder Steffi Graf im Tennis, Zugegeben: Es gibt Ärgerlicheres auf der Welt. Doch
um nur einige unter den vielen zu nennen. wenn sich die Vorkämpferinnen der Frauenrechte in früh-
eren Jahren oder die Lobbyisten in anderen Bereichen –
Hier muss endlich etwas passieren. Die Sportorganisa- davon gibt es ja sehr viele – das auch jedes Mal gefragt
tionen auf den unterschiedlichen Ebenen stellen sich hätten, wären viele Fortschritte für die Menschen nicht er-
durch diese Diskriminierung auf lange Sicht ein Armuts- reicht worden. Deshalb halte ich die erneuten Appelle an
zeugnis aus. Jetzt ist Handeln angesagt! die Entscheidungsträger beim Internationalen Olympi-
Vielen Dank. schen Komitee, die olympische Charta einzuhalten, nach
wie vor für wichtig. Es lohnt, sich dafür einzusetzen.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und der PDS) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der F.D.P.)

Vizepräsidentin Petra Bläss: Letzte Rednerin in Ich will nicht so viel von dem zitieren, was meine Vor-
dieser Debatte ist die Kollegin Irmgard Karwatzki für die rednerinnen und Vorredner aus allen Parteien hinsichtlich
CDU/CSU-Fraktion. der Wichtigkeit des olympischen Geistes, der Freund-
schaft, der Solidarität und des Fairplay gesagt haben. Es
ist alles gesagt worden und man braucht es nicht zu wie-
Irmgard Karwatzki (CDU/CSU): Frau Präsidentin! derholen. Ich möchte nur noch eines herausstellen: Wir
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich nehme mit müssen weiter daran arbeiten, dass sich die Sichtweise der
einem lachenden und einem weinenden Auge zur Kennt- Männer ändert. Eben hat jemand gesagt, sowohl das
nis, dass von dem für den Sport zuständigen Ministerium Internationale Olympische Komitee als auch die Nationa-
kein Vertreter auf der Regierungsbank sitzt. len Olympischen Komitees würden mehrheitlich von
10864 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Irmgard Karwatzki

(A) Männern beherrscht. Dennoch glaube ich, dass in der Friedensbemühungen am Horn von Afrika ver- (C)
Zwischenzeit eine Sensibilisierung dahingehend eingetre- stärken
ten ist, dass es ohne Frauen auch im Sport und in den – Drucksache 14/3767 –
Führungsgremien des Spitzensports nicht geht. Insofern
wurde in dieser Richtung eine Öffnung für viele Sportar- ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. R.
ten erreicht. Werner Schuster, Joachim Tappe, Brigitte Adler,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Ich glaube dennoch, dass wir damit nicht zufrieden sowie der Abgeordneten Dr. Angelika Köster-
sein können. Die wenigen Frauen, die in diesen Gremien Loßack, Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller
heute Verantwortung tragen – das ist ähnlich wie hier im (Köln), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜND-
Parlament –, sind aufgefordert, für die Frauen möglichst NIS 90/DIE GRÜNEN
das zu erreichen, was aus der Sicht von Frauen im Sport
Demokratische und friedliche Kräfte im
stärker zum Tragen kommen sollte. Die Frauen, die Ver-
Sudan unterstützen
antwortung tragen, müssen sich an der Lösung der Pro-
bleme im Hochleistungssport beteiligen. Die Frauen müs- – Drucksache 14/3768 –
sen sich in diesen Gremien auch stärker mit dem Kampf ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Joachim
gegen das Doping beschäftigen. Es ist weiter wichtig, sich Tappe, Dr. R. Werner Schuster, Wilhelm Schmidt
mit den ständig steigenden Leistungsstandards kritisch (Salzgitter), Dr. Peter Struck und der Fraktion der
auseinander zu setzen. SPD sowie der Abgeordneten Dr. Angelika Köster-
Abschließend: Es ist eigentlich ein Skandal, dass wir Loßack, Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch
uns zu Beginn des dritten Jahrtausends mit der Frage der und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN
Diskriminierung von Frauen im Sport beschäftigen müs- Konflikt in der Region der Großen Seen einge-
sen. dämmt – nicht gelöst
Herzlichen Dank. – Drucksache 14/3791 –
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so- ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Carsten
wie bei Abgeordneten der SPD) Hübner, Fred Gebhardt, Heidi Lippmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Vizepräsidentin Petra Bläss: Ich schließe die Aus- Abschiebestopp für Flüchtlinge aus Äthiopien
sprache. und Eritrea
– Drucksache 14/3547 –
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
(B) Fraktionen der SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen Überweisungsvorschlag: (D)
Innenausschuss (f)
und F.D.P. zur Diskriminierung von Frauen bei den Olym- Auswärtiger Ausschuss
pischen Spielen in Sydney 2000, Drucksache 14/3769. Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Enthaltungen? – Damit ist der Antrag mit den Stimmen Entwicklung
des ganzen Hauses angenommen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 sowie die Zusatz- Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
punkte 8 bis 11 auf:
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist der Kol-
13. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. R. lege Joachim Tappe von der SPD-Fraktion.
Werner Schuster, Joachim Tappe, Brigitte Adler,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Dr. Angelika Köster- Joachim Tappe (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kol-
Loßack, Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller leginnen und Kollegen! Obwohl ich weiß, dass das Aus-
(Köln), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜND- wärtige Amt konzeptionell an einer neuen Afrikapolitik
NIS 90/DIE GRÜNEN arbeitet, möchte ich unsere afrikapolitische Debatte am
heutigen Tage mit einer kritischen These einleiten, die
Afrikas Entwicklung unterstützen meines Erachtens den derzeitigen Zustand treffend be-
– Drucksache 14/3701 – schreibt: Die deutsche Afrikapolitik agiert seit vielen Jah-
Überweisungsvorschlag:
ren sowohl unterhalb ihrer Möglichkeiten als auch – das
Auswärtiger Ausschuss (f) halte ich für sehr viel gravierender – unterhalb der objek-
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und tiven Notwendigkeit. Stattdessen befindet sie sich durch-
Entwicklung aus im Einklang mit der öffentlichen Meinung, die ange-
sichts der zahlreichen Krisen und Konflikte in Afrika die
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Joachim
Frage stellt, weshalb wir uns – auch mit Blick auf die Pro-
Tappe, Dr. R. Werner Schuster, Wilhelm Schmidt
bleme im eigenen Land oder angesichts der europäischen
(Salzgitter), Dr. Peter Struck und der Fraktion der
Herausforderungen – überhaupt noch um Afrika küm-
SPD sowie der Abgeordneten Dr. Angelika Köster-
mern. Selbst in diesem Hause hat es erheblichen Recht-
Loßack, Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller
fertigungsdruck für die heutige Debatte gegeben.
(Köln), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN (Dr. R. Werner Schuster [SPD]: Leider!)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10865
Joachim Tappe

(A) Realität ist, dass nach dem Wegfall des Ost-West-Kon- Jeder von uns weiß, dass die Architektur der Weltfi- (C)
fliktes Afrika politisch marginalisiert worden ist und nanzen, die hohe Verschuldung, das Abgekoppeltsein von
tatsächlich zum vergessenen Kontinent mutiert, der ledig- den Globalisierungsprozessen und die Terms of Trade ne-
lich dann Aufmerksamkeit erzielt, wenn wieder einmal ben den hausgemachten Ursachen die größten Entwick-
Bilder von hungernden oder sterbenden Kindern als Aus- lungshemmnisse für die Afrikaner darstellen. Nun weiß
druck einer humanitären Katastrophe an unser Mitleid ap- auch ich, dass im bilateralen Kontext vieles unzulänglich
pellieren. und unzureichend bleiben wird. Deshalb sollten die Ver-
Dass die afrikanischen Länder in der deutschen Außen- treter der deutschen Außen- und Entwicklungspolitik im
politik – noch, wie ich hoffe – eine niedrige Priorität ge- Rahmen der GASP stärker auf eine Europäisierung der
nießen, halte ich für einen schweren Fehler. Deshalb be- Afrikapolitik drängen, selbst dann, wenn wir mit franzö-
grüße ich es sehr, dass es in der Bundesregierung ernst- sischen, britischen oder auch mit amerikanischen Interes-
hafte Überlegungen gibt, unsere Afrikapolitik neu zu sen in Konflikt geraten sollten.
justieren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Erste Schritte hin zu einer europäischen Koordinierung ist
Der Deutsche Bundestag will sich mit der heutigen De- die Bundesregierung – dankenswerterweise – bereits ge-
batte konstruktiv in diese Diskussion einbringen. gangen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Afrikapolitik ist Meine persönliche Afrikaerfahrung lehrt mich, dass
auch Interessenpolitik. Ich will von den vielfältigen trotz umfangreicher Hilfen, die seit mehr als 30 Jahren ge-
deutschen Interessen gegenüber Afrika zwei exem- leistet werden, der Armutsgraben noch tiefer geworden
plarisch benennen, die in der öffentlichen Diskussion ist, auch deshalb, weil nicht immer die richtigen Prioritä-
meines Erachtens nicht die notwendige Aufmerksamkeit ten gesetzt worden sind,
finden: erstens unser existenzielles Interesse an einer sta- (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: So ist es!)
bilen und friedlichen Weltordnung, die ohne Afrika mit
seinen bald 1 Milliarde Menschen nicht möglich ist. Das zu vieles unkoordiniert und in Konkurrenz zueinander ge-
bedeutet: Die Länder Subsahara-Afrikas dürfen nicht dem schieht, worunter die Effizienz gelitten hat. Eine Entmy-
Staatsverfall, dem Chaos und auch nicht kriminellen und thologisierung der weltweiten Entwicklungszusammen-
korrupten Despoten ausgeliefert werden, auch wegen der arbeit scheint mir deshalb unausweichlich zu sein.
Gefahren des Übergreifens solcher Beispiele, wie wir sie (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
(B) leider zuhauf aus Afrika kennen, auf andere Weltregionen. (D)
GRÜNEN und der CDU/CSU sowie bei Abge-
Das Auseinanderklaffen der Nord-Süd-Wohlstands- ordneten der F.D.P.)
schere verstärkt zusätzlich die weltweite politische Insta- Dieser Effizienzdebatte müssen wir uns zwar stellen.
bilität, deren sichtbare Zeichen der internationale Terro- Aber diese Diskussion – das fordere ich bewusst als
rismus mit all seinen innenpolitischen Implikationen und Außenpolitiker – darf nicht nur unter entwicklungspoliti-
natürlich auch der religiöse Fundamentalismus sind. Ich schen Gesichtspunkten geführt werden. Wir müssen
verweise hierbei auch auf den sich verstärkenden Migra- Afrika endlich auch als außenpolitischen Faktor wahr-
tionsdruck, gerade aus Afrika. nehmen.
Zweitens. Ein weiteres, überragendes Interesse deut- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
scher Politik an Afrika liegt im Erhalt dieses riesigen Öko- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der
systems für den globalen Lebensraum Erde. Dabei müs- CDU/CSU und der F.D.P.)
sen wir uns klarmachen, dass Afrika Opfer und weniger
Verursacher der kontinentalen Umweltzerstörung ist. Dazu gehört auch – das sage ich durchaus kritisch auch in
Richtung Bundesregierung – das Überdenken der Bot-
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE schaftsschließungen und der unzureichenden Möglichkei-
GRÜNEN, der CDU/CSU und der PDS) ten deutscher Kulturpolitik in Afrika.
Desertifikation, Bodendegradation und hohe Wasser-
(Beifall im ganzen Hause)
knappheit, verstärkt durch ein hohes Bevölkerungswachs-
tum, und die damit verbundene Erschöpfung und Zer- In unserem Engagement für Afrika sollten wir uns trotz
störung ökologischer Ressourcen sind in jüngster Vergan- aller Rückschläge, die es in verstärktem Maße in den letz-
genheit bereits Ursache für heftige und blutige Konflikte ten Jahren gegeben hat und die es leider auch in Zukunft
gewesen. Wenn wir nicht helfen, diese Probleme wirksam geben wird, nicht entmutigen lassen. Die Wunden Afri-
zu lösen, dann werden unsere Kinder und Enkel die Kon- kas, so sagte mir jüngst ein afrikanischer Freund, sind un-
sequenzen und Auswirkungen teuer bezahlen müssen. sere Politiker, die ihre eigenen Interessen vor das Wohler-
gehen der Menschen stellen. Wir haben – daran sollten wir
Zur Wahrung dieser zentralen Interessen scheint mir
uns durchaus erinnern – in der Vergangenheit oft genug
eine stärkere Gewichtung deutscher Afrikapolitik not-
auf das falsche Pferd gesetzt. Jedem Abgeordneten in die-
wendig zu sein.
sem Hause fallen in diesem Zusammenhang sicherlich
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) entsprechende Namen ein.
10866 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Joachim Tappe

(A) Trotz aller Probleme, die Afrika hat, wage ich eine wei- gewissen Grade auch Nachsicht; denn wie unsere eigene (C)
tere These: Afrika ist der Kontinent der Zukunft. Demokratiegeschichte zeigt: Der Weg zu politischer Sta-
bilität ist ein langer und schwieriger Prozess, der be-
(Beifall bei der SPD)
kanntlich auch bei uns nicht frei von Konflikten und Ka-
Es wird zwar noch drei oder vier Generationen dauern. tastrophen war. Auch deshalb sollten wir uns vor Arro-
Aber den Afrikanern wird der Übergang von dem riesigen ganz und besserwisserischer Überheblichkeit gegenüber
Spagat, den sie heute noch machen müssen, nämlich mit unseren afrikanischen Partnern hüten und im Rahmen der
einem Bein in der Eisenzeit und mit dem anderen in der in Sonntagsreden oft beschworenen weltweiten kulturel-
Moderne zu stehen, zum aufrechten Gang gelingen. len Vielfalt akzeptieren, dass die afrikanische Geschichte
lange vor der Kolonisierung mit der Herausbildung eige-
Ich gründe meine These auf Beobachtungen, die ich in ner Werte, eigener Kulturen und eigener Traditionen be-
den letzten zwei, drei Jahren bei meinen zahlreichen Be- gonnen hat.
suchen in Afrika verstärkt machen konnte. Ich will einige
signifikante Beobachtungen nennen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der
Erstens. Zunehmend mehr Afrikaner begreifen den Un- CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS)
terschied zwischen Befreiung und Freiheit.
Diese ernst zu nehmen erfordert auch, unsere staatsfi-
Zweitens. Die jungen afrikanischen Eliten in Politik, xierten Entwicklungshilfekriterien kritisch zu hinterfra-
Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur, die nicht durch den gen
Unabhängigkeitskampf geprägt sind, erkennen zuneh-
mend, dass die Legitimation von Macht, die sich in den (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
absolutistischen Attitüden der ehemaligen Guerillakämp- und beispielsweise darüber nachzudenken, ob die rituali-
fer pervertiert, nicht ausreicht, ein Land zu regieren. sierte demokratische Debatte nach westlichen Mustern
(Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: das afrikanische, konsensorientierte Palaver, gegründet
Sehr gut!) auf Alter und Weisheit, in allen Fällen ersetzen kann
oder gar muss und ob Formen traditioneller Rechtsfin-
Drittens. Der historisch zu nennende Wandel in Süd- dung der afrikanischen Identität und der Realität nicht
afrika, die Beendigung des 20 Jahre währenden grausa- besser entsprechen und dennoch rechtsstaatlichen Prinzi-
men Bürgerkriegs in Mosambik, die Rückkehr Nigerias in pien genügen.
die demokratische Staatengemeinschaft, die jüngsten
Wahlen in Simbabwe, der friedliche Machtwechsel im Se- Das heißt für mich: Wir müssen den Afrikanern Zeit
negal, die in vielen afrikanischen Ländern spürbare Ver- und Gelegenheit lassen, eigene Formen ihres gesell-
(B) besserung der Menschenrechtssituation, die Fortschritte, schaftlich organisierten Zusammenlebens zu entwickeln (D)
die sich in der Presse- und Medienlandschaft zeigen, die und diese müssen wir dann auch akzeptieren. Eine fort-
Pluralisierung politischer Systeme mit einer Stärkung par- schreitende Entafrikanisierung und eine kulturelle Ent-
lamentarischer Rechte, die in vielen Ländern angestrebte wurzelung der Afrikaner scheint mir der falsche Weg zu
Dezentralisierung mit dem Ziel einer größeren Teilhabe sein, partnerschaftlichen Umgang, der nötig ist, um den
der Menschen an politischen Entscheidungen – alles das Afrikanern ihre Menschenwürde zurückzugeben, in glei-
sind ermutigende Entwicklungen, zu denen auch deutsche cher Augenhöhe zu pflegen.
Afrikapolitik in der Vergangenheit maßgeblich beigetra- Die Koalitionsfraktionen legen deshalb vier Anträge
gen hat. vor: einen mit dem Titel „Afrikas Entwicklung unterstüt-
Viertens. Viele politisch verantwortliche Afrikaner ha- zen“, der die grundsätzliche Dimension deutscher Afrika-
ben in der Zwischenzeit erkannt, dass sie in den letzten politik thematisiert. Weil Afrika kein homogener Konti-
40 Jahren ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben. nent ist, sondern – im Gegenteil – eine Region mit höchs-
ter Diversität, flankieren wir diesen Antrag aktuell mit
(Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: regional- und problemorientierten Handlungsoptionen:
Sehr richtig!) erstens zur Unterstützung eines möglichen Friedenspro-
Bei meinem letzten Besuch in Tansania hat uns der tansa- zesses im Sudan, zweitens zur aktuellen Entwicklung am
nische Staatspräsident zum Schluss gesagt: Wir haben Horn von Afrika und drittens zur friedlichen Entwicklung
40 Jahre lang auf die Geberländer geschaut und gefragt: in Zentralafrika, in der Schlüsselregion der Großen Seen.
Was könnt ihr für uns tun? Dabei haben wir die Frage ver- Das Bedürfnis nach hoher Aktualität hat leider dazu ge-
drängt: Was müssen wir eigentlich selbst für uns tun? Ich führt, dass diese Anträge erst sehr spät vorgelegt worden
finde, das gibt Hoffnung. sind. Ich bitte um Entschuldigung, aber auch um Ver-
ständnis dafür.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der Mein letzter Satz, Frau Präsidentin.
CDU/CSU und der F.D.P.)
Vizepräsidentin Petra Bläss: Das muss auch wirk-
Seien wir uns darüber im Klaren: Wirksame und auf
lich der letzte sein.
Akzeptanz ausgerichtete Afrikapolitik beginnt bei uns zu
Hause und sie nötigt uns darüber hinaus, in größeren zeit-
lichen Dimensionen zu denken. Politik für Afrika erfor- Joachim Tappe (SPD): Alle Anträge verfolgen das
dert deshalb von uns vor allem Geduld und bis zu einem Ziel, die Bundesregierung aufzufordern und zu ermuti-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10867
Joachim Tappe

(A) gen, im aufgeklärten deutschen Eigeninteresse noch mehr eine ausgedehnte Zivilgesellschaft und es gab einen rela- (C)
für Afrika zu tun und damit auch einen wichtigen Beitrag tiv breiten Mittelstand. Präsident Mugabe legte nunmehr
zur Krisenprävention zu leisten. fest, dass mehr als 600 weißen Farmern gehörende Far-
Herzlichen Dank. men ohne Entschädigung verstaatlicht werden können,
nachdem er vorher zu Landbesetzungen angestiftet hatte.
(Beifall im ganzen Hause) Dennoch bleibe ich dabei, dass die Entwicklung der
Zivilgesellschaft in den Ländern Afrikas eine ganz ent-
Vizepräsidentin Petra Bläss: Nächster Redner für scheidende Voraussetzung sowohl für eine Hinwendung
die Fraktion der CDU/CSU ist der Kollege Rudolf Kraus. zu demokratischen Verhältnissen als auch für eine Besse-
rung der wirtschaftlichen Situation ist.

Rudolf Kraus (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Doch gerade der Zivilgesellschaft Afrikas droht derzeit
sehr verehrten Damen und Herren! Die letzte Afrikade- ein weiteres Risiko – besser gesagt: die Katastrophe ist
batte liegt erst kurze Zeit zurück: Sie fand am 18. Februar bereits eingetreten – von einem kaum kalkulierbaren Aus-
dieses Jahres statt. Damals ging es um den Antrag der maße. Ich denke an die Krankheit Aids. Nach zwi-
CDU/CSU-Fraktion mit der Überschrift „Afrika darf schenzeitlich vorliegenden Informationen wird es immer
nicht zu einem vergessenen Kontinent werden“. Dieser deutlicher, welche schreckliche Bedeutung Aids schon für
Antrag hat als Positives im Wesentlichen nur eines be- die gegenwärtige Situation und vor allem für die zukünf-
wirkt, nämlich dass wir heute wieder über Afrika disku- tige Entwicklung Afrikas hat.
tieren, weil auch die Koalitionsfraktionen entsprechende Kein Staat und kein Kontinent auf der Welt sind so
Anträge eingereicht haben. Im Übrigen ist seitdem leider stark von der Ausbreitung dieser Immunkrankheit betrof-
nur ganz wenig bis nichts passiert. Ich entnahm der Rede fen wie Afrika. Schätzungsweise 14 Millionen Menschen
meines Kollegen von der SPD, dass offensichtlich auch sind daran bereits gestorben. 22 Millionen Menschen sind
viele Kollegen der Koalitionsfraktionen die Situation infiziert. Man sagt, dass fünf von sechs Erkrankten auf der
ähnlich beurteilen. Einen Teil der Rede, die ich damals ge- ganzen Welt in Afrika leben. Angesichts der Tatsache,
halten habe, könnte ich praktisch heute wieder vorlesen. dass dort täglich 5 500 Menschen an Aids sterben und sich
Die Bundesregierung hat keine Initiativen ergriffen, die 11 000 Menschen neu infizieren kann man erkennen, wel-
erkennen lassen, dass sie wirklich bereit wäre, sich etwas
che Katastrophe eingetreten ist.
einfallen zu lassen, was zur Verbesserung der Situation in
Afrika beitragen kann. Viele Forscher fürchten, dass sich diese Zahlen in den
nächsten Jahren verdoppeln werden. Bereits heute hat
(Dr. R. Werner Schuster [SPD]: Das ist die
Aids in den Ländern des südlichen Afrikas zu einer Sen-
(B) halbe Wahrheit!)
kung der Lebenserwartung um zehn Jahre geführt. Es (D)
– Herr Dr. Schuster, ich bin ganz sicher, dass gleich noch muss befürchtet werden, dass im nächsten Jahrzehnt die
aufgezählt wird, was alles an Positivem geleistet wurde; Lebenserwartung um weitere zehn Jahre zurückgeht. Aids
ich bin darauf gespannt und werde genau zuhören. wird deshalb viele Staaten Afrikas südlich der Sahara in
Ich habe am 18. Februar 2000 gesagt, dass es in Afrika ihrer Entwicklung um Jahrzehnte zurückwerfen.
eine ganze Menge von Anzeichen für eine bessere Ent- Die mittlerweile rund 10 Millionen Aidswaisen stellen
wicklung gibt. Ich habe festgestellt, dass nach zwei Jahr- Afrikas bislang größte soziale Katastrophe dar. Sie be-
zehnten der Stagnation und des Niedergangs das Wirt- dürfen dringend unserer Hilfe, da immer mehr von ihnen
schaftswachstum in Afrika in der zweiten Hälfte der 90er- von Vernachlässigung und Ausbeutung bedroht sind, sich
Jahre erstmals wieder etwas stärker als seine Bevölkerung oft als Straßenkinder durchschlagen müssen und keine
gewachsen ist. Ich habe vorgetragen, dass sich die zuneh- funktionierende soziale Umgebung mehr vorfinden.
mende Reformorientierung in Afrika offenbar auf einen
wachsenden Bewusstseinswandel der politisch Verant- (Beifall im ganzen Hause)
wortlichen gründet und sich mehr und mehr afrikanische Die Ausbreitung von Aids in Afrika hat Auswirkungen
Regierungen und Entscheidungsträger zu ihrer Eigenver- auf ganze Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens.
antwortung für die Entwicklung bekennen. Das Ausmaß ist von der Größenordnung her ganz sicher
Diese positive Entwicklung stockt allerdings derzeit. vergleichbar mit den Entwicklungen im mittelalterlichen
Seit langem gibt es ja die kriegerischen Auseinander- Europa, als die Pestepidemien auftraten. Vielleicht dauert
setzungen im Sudan, in Somalia, in Sierra Leone, in Li- es etwas länger als früher, bis die Menschen in großer
beria und in der Demokratischen Republik Kongo. Dabei Zahl hinweggerafft werden. Aber letztendlich besteht der
habe ich noch nicht die Länder aufgeführt, in denen der Unterschied nur darin, dass Aids gerade die arbeitsfähigen
Frieden noch immer sehr trügerisch wirkt. Dabei habe ich und aktiven Jahrgänge betrifft, was das Elend natürlich
in erster Linie die Region der Großen Seen im Auge. gewaltig vergrößert.
Ganz sicher sind nun zwei Gebiete hinzugekommen, in Anhand eines prozentualen Vergleichs kann man fest-
denen die kriegerischen Auseinandersetzungen eine ganz stellen, dass in manchen Ländern des südlichen Afrikas in
andere Qualität erhalten haben. Ich meine Eritrea und den nächsten Jahren mehr Menschen ihr Leben verlieren,
Äthiopien sowie Simbabwe. Dabei hatten gerade in Sim- als es durch die Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges
babwe gute Voraussetzungen für eine weitere demokrati- in Europa der Fall war. Es handelt sich also um eine Ka-
sche und wirtschaftliche Entwicklung vorgelegen. Es gab tastrophe gigantischen Ausmaßes.
10868 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Rudolf Kraus

(A) Die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politi- lich einer inhaltlichen Prüfung zu unterziehen. Dennoch (C)
schen Entwicklungen sind in einem erschreckendem Aus- soll bereits heute über diese Anträge abgestimmt werden.
maße davon betroffen. Es drohen Verelendung, Verro- Wir denken, dass das gegenüber der Opposition nicht
hung und politische Lethargie. Es gibt keine Möglichkeit ganz richtig ist. Es ist ein Zeichen mangelnden Respekts
mehr, die demokratische Entwicklung voranzutreiben. gegenüber der Opposition, derartige Dinge so kurzfristig
Vom Sterben in Würde kann natürlich überhaupt keine vorzulegen. Weil aber in diesen Anträgen sicherlich auch
Rede sein. Man muss sich vorstellen, dass in vielen Fäl- gute Gedanken enthalten sind, werden wir zwar nicht zu-
len die Menschen miserabel gepflegt werden und dass die stimmen, uns aber der Stimme enthalten.
medizinische Versorgung keinesfalls auch nur annähernd Ich bedanke mich.
ausreichend ist. Das ist erklärbar angesichts der Tatsache,
dass die medizinische Versorgung mit Medikamenten für (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
einen Tag oft mehr kostet, als manche in Monaten verdie-
nen. Vizepräsidentin Petra Bläss: Für die Bundesregie-
Ich glaube, dass gerade ein Industrieland wie die Bun- rung spricht jetzt der Bundesminister des Auswärtigen,
desrepublik Deutschland, aber auch ganz Europa gefor- Joseph Fischer.
dert ist, diesem himmelschreienden Elend wenigstens da-
durch zu begegnen, dass man versucht, Medikamente zu Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen:
bezahlbaren Preisen bereitzustellen. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „The Eco-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) nomist“, eine Wirtschaftszeitung aus Großbritannien, hat
am 13. Mai getitelt: „Hopeless Africa“, hoffnungsloses
Es müssen furchtbare körperliche, aber auch seelische Afrika. Ich teile diese Meinung überhaupt nicht. Die Eu-
Qualen sein, die die Menschen erleiden müssen, wenn sie ropäische Union hat auch klar gemacht, dass wir uns eine
erkennen, dass sie nicht gut versorgt werden, und wenn solche resignative Position, ob wir es wollen oder nicht,
sie insbesondere mit ansehen müssen, wie ihre Hin- als Europäer, als Bewohner des Nachbarkontinents nicht
terbliebenen ins Elend gestürzt werden. erlauben können. Deshalb war der erstmals durchgeführte
Aids stellt sich zunehmend als eine Herausforderung Gipfel zwischen der Organisation Afrikanischer Staaten
für die deutsche Entwicklungspolitik dar. Es entwickelt und der Europäischen Union in Kairo ein so überaus
sich in immer größerem Maße zu einem destabilisieren- wichtiges Signal.
den Faktor in Afrika. Ich möchte an dieser Stelle noch da- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
rauf aufmerksam machen, dass das BMZ die Mittel für und bei der SPD)
(B) die Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika in die- All denjenigen – lassen Sie mich das gleich hinzufü- (D)
sem Jahr insgesamt um circa 20 Prozent gekürzt und da-
mit auf den niedrigsten Stand seit 1972 heruntergefahren gen, Herr Tappe –, die eine verstärkte Europäisierung
hat. unserer Afrikapolitik fordern, sage ich: In der Tat hat
sich die Bundesregierung auf diesem Gipfel dafür einge-
(Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Kön- setzt und sie hat gegen historisch gewachsene nationale
nen Sie das einmal wiederholen? Ich habe das Eigenheiten, um es ganz diplomatisch zu formulieren,
nicht genau verstanden!) auch durchgesetzt, dass wir auf dem eingeschlagenen
– Herr Kollege Hornhues, ich werde es speziell für Sie Weg des engen Kontaktes, der partnerschaftlichen Zu-
noch einmal ganz deutlich sagen: Die Mittel für die Ent- sammenarbeit „auf gleicher Augenhöhe“ zwischen den
wicklungszusammenarbeit mit Afrika sind in diesem Jahr beiden Nachbarkontinenten weitergehen und insofern
um insgesamt 20 Prozent gekürzt worden und haben da- auch eine Verstetigung der Zusammenarbeit auf dieser
mit den niedrigsten Stand seit 1972 erreicht. Ebene erreichen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte Gestatten Sie mir, verehrter Herr Vorredner von der
zum Schluss meiner kurzen Rede noch ganz kurz auf den Opposition, folgenden Hinweis: Ich glaube, diese Dis-
Antrag der Fraktionen der SPD und der Bündnisgrünen kussion bringt innenpolitisch nichts, afrikapolitisch aber
„Afrikas Entwicklung unterstützen“ eingehen. Der An- schon gar nichts. Denn wenn Ihre Position richtig wäre,
trag enthält aus unserer Sicht relativ wenig Neues. Er ent- würde dies bedeuten, dass die Bundesregierung eine blü-
hält nach meiner Auffassung viele Allgemeinplätze und hende Afrikapolitik vorgefunden und diese in eineinhalb
gibt der Regierung im Gegensatz zu dem Antrag der Frak- Jahren zerschlagen hätte.
tion der CDU/CSU keinerlei wirklich konkrete Hinweise, (Beifall der Abg. Dr. Uschi Eid [BÜND-
was in Afrika schnell besser gemacht werden kann und NIS 90/DIE GRÜNEN])
sollte. Das ist allerdings nicht so schlimm, weil die Re-
gierung, wenn sie denn will, sich an den Antrag der Frak- Ihre Analyse der Aids-Problematik erkenne ich als
tion der CDU/CSU halten und die in ihm gegebenen kon- richtig an. Ein Blick auf die erste Seite der heutigen Aus-
gabe der „Herald Tribune“ macht klar, um was für ein
kreten Anleitungen übernehmen kann.
wirklich dramatisches Problem es sich dabei handelt. Ich
Wegen der kurzfristigen Vorlage der Anträge der Frak- könnte es mir ganz einfach machen, würde mich dann al-
tionen der SPD und der Bündnisgrünen „Demokratische lerdings auf dasselbe unfruchtbare Niveau der innenpoli-
und friedliche Kräfte im Sudan unterstützen“ usw. be- tischen Auseinandersetzung begeben, wenn ich fragen
stand für uns nicht die Möglichkeit, diese Anträge wirk- würde: Was haben Sie denn in den 16 Jahren Ihrer Regie-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10869
Bundesminister Joseph Fischer

(A) rungsarbeit gemacht? Dieses Problem hat sich ja nun nalistische Position einnehmen, schon gar nicht als Eu- (C)
wirklich nicht über Nacht aufgebaut, sondern über Jahre, ropäer.
um nicht zu sagen: weit über ein Jahrzehnt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Insofern rate ich dringend dazu: Lassen Sie uns diese und bei der SPD)
Form der Debatte beenden, weil die Afrikapolitik, die
Ich will die Geschichte unserer Kontinente nicht ver-
Gott sei Dank auch in der Vergangenheit durchaus breiter
gleichen. Missverstehen Sie mich nicht; ich behaupte
fundiert war, sonst Schaden nehmen würde. Wir würden
damit einer billigen innenpolitischen Münze den Vorrang nicht, dass sich Afrika auf dem Stand befindet, auf dem
vor einer unter schwierigen Bedingungen erreichten ge- sich Europa im Jahre 1945 befunden hat. Aber der Blick
meinsamen afrikapolitischen Initiative in diesem Haus etwa auf den europäischen Kontinent im Jahre 1932
einräumen. zeigte einen Kontinent, der erneut der Selbstzerstörung
entgegentrieb. Die Behauptung einer britischen Zeitung –
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ich glaube, es war die „Times“ –, der Konflikt im Kongo
und bei der SPD) sei der Erste Weltkrieg Afrikas, ist sicher eine Überspit-
Reden wir doch nicht drum herum: Wir sind uns einig, zung. Und doch hat sie auch etwas Wahres. Wenn ich
dass für die Afrikapolitik mehr getan werden müsste. Die heute auf den Balkan schaue, erkenne ich viele Elemente
Verteidigungspolitiker sitzen zusammen und meinen, es des Konflikts, den man, mit denselben verderblichen, fa-
müsste mehr für die Verteidigungspolitik getan werden. talen Konsequenzen, an vielen Orten in Afrika findet. Für
So sitzen alle Fachpolitiker zusammen und denken in ers- Paternalismus, für Überlegenheitsgefühle, für eine hoch-
ter Linie an ihr Ressort. näsige europäische Haltung gibt es auch und gerade an-
gesichts der kolonialen Vergangenheit überhaupt keine
(Dr. R. Werner Schuster [SPD]: Nicht alles ist Veranlassung.
eine Frage des Geldes, Herr Außenminister! –
Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
– Ich sage ja auch gar nicht, dass alles eine Frage des Gel-
des ist. Aber ich wende mich hier gerade an den Opposi- Deswegen denke ich, ist es das Wichtigste, dass wir un-
tionsredner und gerade im Zusammenhang mit dem, was seren Beitrag zu einer neuen Partnerschaft leisten. Neue
er gefordert hat, ist vieles eine Frage des Geldes, vor al- Partnerschaft setzt aber voraus, dass man von Gleich zu
len Dingen wenn er der Bundesregierung vorwirft, Gleich und nicht paternalistisch verkehrt. Sie setzt voraus,
dass man bereit ist, bei einer humanitären Katastrophe,
(Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Zu Recht!) bei einer Naturkatastrophe großzügig zu helfen. Wir ha-
(B) dass beim Entwicklungshaushalt Kürzungen in Höhe von ben dies in Mosambik gezeigt. In Mosambik haben wir im (D)
20 Prozent vorgenommen worden seien. Da kann ich Ih- Zusammenhang mit dem dortigen Aufbau der Krisen-
nen nur sagen: Sie haben uns einen Haushalt hinterlas- bewältigungskapazitäten der Europäischen Union, der
sen – – jetzt gemeinsam mit den Skandinaviern vorgenommen
wird, insistiert – mittlerweile haben wir es durchgesetzt –,
(Widerspruch bei der CDU/CSU) gleichzeitig zivile Krisenbewältigungskapazitäten auf-
– Nein, das müssen Sie sich anhören. zubauen. Dies hat sich als überaus wichtig erwiesen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wenn es so ist, dass wir in Zukunft verstärkt mit glo-
und bei der SPD) balen Katastrophen zu tun haben werden, bei denen sehr
schnell, faktisch aus dem Stand heraus, Hilfe über 10 000
Denn wenn Sie meinen, dass es mir Spaß machen würde, und mehr Kilometer geleistet werden muss, weil die
Botschaften und Generalkonsulate zu schließen, oder Möglichkeiten dort regional nicht gegeben sind, dann
wenn Sie meinen, dass es der Kollegin Wieczorek-Zeul müssen wir dafür die entsprechenden Hilfsmittel bereit-
Spaß machen würde, Entwicklungshilfemittel zurückzu- halten. Das ist eine Konsequenz aus der Erfahrung der
fahren, statt sie zu erhöhen, und ich würde sie dabei gerne Flutkatastrophe in Mosambik.
unterstützen, dann täuschen Sie sich! Ich sage Ihnen: Wir
müssen hier eine Sanierungsphase durchlaufen. Das wer- Besonders tragisch ist, dass es ein Land nach einem
den wir auch tun und dann werden gerade in diesem Be- jahrelangen blutigen, furchtbaren Bürgerkrieg getroffen
reich wieder Aufwüchse zu verzeichnen sein. hat, das sich auf den Weg einer hoffnungsvollen Entwick-
lung gemacht hat und in dem nun die Anstrengungen, die
Der Zwischenruf „Nicht alles ist eine Frage des Gel- Mühsal, die harte Arbeit der Menschen von Jahren von ei-
des“ ist richtig. Dennoch dürfen wir das Geld nicht ver- nem Sturm zunichte gemacht worden sind. Deswegen se-
gessen; sonst bleiben wir bei schönen Worten und dabei hen wir uns in der Pflicht, Mosambik hier nicht allein zu
wollen wir es nicht belassen. Ansonsten stimme ich Ihnen lassen.
darin völlig zu.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Der gegenwärtige Blick auf Afrika – die Vorredner ha-
bei der SPD und der PDS)
ben es schon dargestellt – zeigt viel Schatten, aber auch
viel Licht. Wenn man realistisch auf Afrika blickt, kann Gestatten Sie mir, an diesem Punkt auf die Frage zu
man meines Erachtens durchaus eine optimistische Posi- kommen: Was habt ihr gemacht? Die Kölner Entschul-
tion einnehmen. Vor allen Dingen sollten wir keine pater- dungsinitiative, die die Bundesregierung, namentlich
10870 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Bundesminister Joseph Fischer

(A) Bundeskanzler Schröder, als zentralen Punkt unserer Gleichzeitig füge ich aber hinzu, dass ich die Entwick- (C)
G7-/G8-Präsidentschaft durchgesetzt hat, hat vor allen lung im südlichen Afrika mit großer Sorge betrachte. Ich
Dingen die Ärmsten der Armen, überwiegend die afrika- spreche hier nicht von dem tragischen 30-jährigen Krieg
nischen Länder, entlastet. zum Beispiel in Angola. Dies ist eine furchtbare Tragödie.
Ich spreche hier nicht von der Tragödie am Horn von
(Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Sie hat noch Afrika. Ich spreche hier nicht von der verantwortungslo-
gar nichts entlastet!) sen Absurdität des Krieges zwischen Eritrea und Äthio-
– Das ist nicht richtig. pien. Ich spreche auch nicht von dem 30-jährigen Bürger-
krieg im Sudan oder von der furchtbaren Barbarei in
(Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Schauen wir Westafrika. Das alles sind Katastrophen, denen wir uns
mal!) zuwenden müssen und angesichts derer es im Rahmen der
– Da können Sie gerne sagen: Schauen wir einmal. Diese Mittel, die wir haben, unserer Solidarität bedarf. Ich spre-
Initiative hätte ich mir schon viel früher von Ihnen ge- che hier vor allen Dingen von Simbabwe und der Ent-
wünscht. wicklung im südlichen Afrika. Denn ich glaube, unsere
Afrikapolitik darf keine kontinentale sein. Vielmehr brau-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN chen wir einen Ansatz im Hinblick auf eine regionale
und bei der SPD – Dr. Christian Ruck [CDU/ Stabilisierung. Das ist für mich der entscheidende Punkt.
CSU]: 9 Milliarden, Herr Fischer!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ein weiterer für mich in diesem Zusammenhang sehr und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
wichtiger Punkt ist, dass wir Acht geben müssen, dass mit CDU/CSU – Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/
Afrika nicht ein ganzer Kontinent von der Entwicklung CSU]: Es wurde Zeit, dass Sie dazu etwas sa-
der Weltwirtschaft abgekoppelt wird. Hier im Rahmen gen!)
des Lomé-Abkommens einen neuen Akzent zu setzen Deswegen kommt Ländern wie Südafrika und Nigeria
war, glaube ich, sehr wichtig. Im Zusammenhang mit der eine überragende Bedeutung zu. Selbst unter den Bedin-
Informationsgesellschaft auch über die Frage des Anal- gungen der Militärdiktatur, die hier im Hause zu Recht
phabetismus zu diskutieren, darauf Acht zu geben, dass scharf kritisiert und bekämpft wurde, war Nigeria für
der Graben zwischen der Weltwirtschaft und einem Westafrika ein entscheidender Stabilitätsanker. Dies dür-
ganzen Kontinent nicht tiefer, sondern zugeschüttet wird, fen wir nie vergessen.
wird eine der Hauptaufgaben der zukünftigen Afrikapoli-
tik sein. Vor dem Hintergrund einer regionalen Stabilisierung
macht mir die Entwicklung im südlichen Afrika in der Tat
(B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sehr große Sorgen. Warum? Weil in der Frage der Land- (D)
und bei der SPD) verteilung en masse Sprengstoff verborgen liegt. In Sim-
Gleichzeitig wird es darauf ankommen, klarzumachen, babwe, in einem Land, das zu den potenziell reichsten
dass partnerschaftliche Zusammenarbeit auch bedeutet, Ländern gehört und eigentlich ein Stabilitätsanker sein
an die Eigenverantwortung der Afrikaner und vor allen müsste, wird zum Zweck des Machterhalts und zulasten
Dingen der afrikanischen Eliten zu appellieren. Eine gute der dortigen Demokratie mit der offenen Fackel im
Sprengstoffschuppen hantiert. Das kann Auswirkungen
Regierung, Demokratie, Transparenz und die Bekämp-
auf das gesamte südliche Afrika, auf Südafrika und Na-
fung von Korruption, all dies sind keine spezifischen He-
mibia, haben.
rausforderungen nur für die Regierungen in Afrika. Das
gilt für Asien, für Amerika und für Europa ganz genauso. Wir müssen ein überragendes Interesse daran haben,
Die Herrschaft des Rechts ist die Voraussetzung einer dass Südafrika jenen vom Vorredner zu Recht als großar-
rechtsstaatlichen, demokratischen Entwicklung. tig bezeichneten demokratischen Weg hin zu Versöhnung,
Aussöhnung und Entwicklung – auch unter schwierigen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bedingungen – weiter erfolgreich geht.
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Wir haben ebenso ein Interesse an einer Entwicklung
Diese Herrschaft des Rechts hat nichts mit Kulturim- in Namibia, die nicht rückwärts läuft. Das hängt aller-
perialismus oder mit dem Aufdrücken von fremden Wer- dings davon ab, ob die Frage der Landverteilung friedlich
ten zu tun. Ich behaupte vielmehr: Die Herrschaft des gelöst wird oder ob sie gegen die Demokratisierung und
Rechts ist kompatibel mit jeder menschlichen Kultur auf zum Zwecke des Machterhalts instrumentalisiert wird. In-
unserem Globus. Insofern kommt es ganz entscheidend sofern kommt dieser Frage aus unserer Sicht eine überra-
darauf an, dass einige Grundprinzipien, denen wir uns alle gende Bedeutung zu.
verpflichtet haben, indem wir die entsprechenden Kon-
ventionen der Vereinten Nationen unterzeichnet haben, Die Demokratisierung und die Herrschaft des Rechts,
tatsächlich durchgesetzt werden. Denn anderenfalls – das die Stärkung regionaler Stabilisierungsbemühungen re-
müssen wir immer wieder feststellen – setzt die Abwärts- gionaler Organisationen, aber natürlich auch die Stärkung
spirale von Korruption, politischer Unterdrückung und der Eigenkräfte, auch der ökonomischen Eigenkräfte,
Unterentwicklung erneut ein. Hier gibt es durchaus be- sind also die Elemente einer neuen Afrikapolitik.
eindruckende positive Entwicklungen. Mosambik habe Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Punkt auf-
ich genannt; Botswana und andere Länder könnte ich hier nehmen, den der verehrte Vorredner der Opposition ange-
zusätzlich anführen. sprochen hat: Ich freue mich, dass Sie das Thema Aids so
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10871
Bundesminister Joseph Fischer

(A) stark in den Mittelpunkt gerückt haben. Sie haben in der zugesagt. Aber dort, wo Regime vorsätzlich vom Grund- (C)
Tat Recht – der Bundesverteidigungsminister, die Bun- satz der guten Regierungsführung abweichen, wo sie
desministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und wichtige Ressourcen verschwenden und wo die Korrup-
Entwicklung und ich haben das auf unseren Reisen nach tion ständig zunimmt, müssen wir – vielleicht deutlicher
Afrika mitbekommen –: Die Gefahr, die von AIDS aus- als in der Vergangenheit – Konsequenzen ziehen.
geht, die Zerstörung der Kultur, der Sozialstruktur in
(Beifall bei der F.D.P.)
ihrem innersten Kern, nämlich der Familie, ist auch eine
politische Gefahr, die Gefahr der sozialen Destabilisie- Jede noch so gute Entwicklungszusammenarbeit kann
rung. Diesem Problem müssen wir uns dringend zuwen- zur wirtschaftlichen Entwicklung nur einen begrenzten
den. Das ist eine Aufgabe, die Deutschland nicht alleine Beitrag leisten. Wir müssen uns von der Vorstellung lösen,
lösen kann. Hier ist in der Tat die Europäische Union ge- die Armut in Afrika allein durch Finanztransfers oder groß
fragt, hier liegt ein weiterer Europäisierungsansatz in der angelegte Entschuldungsaktionen bewältigen zu können.
Afrikapolitik. Das ist für mich ein ganz entscheidender Die Regierungen in Afrika müssen ihre Märkte vom staat-
Punkt. lichen Dirigismus befreien, Landreformen zulassen und
für klare Eigentumsverhältnisse sorgen. Wenn es nicht ge-
Trotz aller Unterschiede, die es zwischen Regierung
lingt, eine solche Entwicklungsstrategie für die ländlichen
und Opposition wohl geben muss, stelle ich aber ein ho-
Räume zu schaffen, wird der Drang zur Bildung von nicht
hes Maß an Übereinstimmung fest. Entlang der Grund-
mehr lenkbarer Verstädterung in diesen Bereichen noch
sätze, die ich Ihnen hier dargestellt habe, werden wir, die
viel größer.
Bundesregierung, die neue Afrikapolitik der regionalen
Stabilisierung entwickeln. Wir werden versuchen, sie mit Dreh- und Angelpunkt der wirtschaftlichen Entwick-
den vorhandenen Mitteln umzusetzen, eng eingebunden lung ist aus unserer Sicht ein verstärkter Einsatz markt-
in eine neue Afrikapolitik der Europäischen Union. wirtschaftlicher Instrumente. Dazu gehört in erster Li-
nie die Förderung und Entwicklung des Finanzsektors.
Ich bedanke mich.
Wesentliche Elemente sind unter anderem der Zugang
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu Kleinkrediten, der Aufbau von Dorfbanksystemen, die
und bei der SPD) Ausbildung von Bankfachleuten, eine stabile Geldpolitik
der Entwicklungsländer und Rechtssicherheit im Finanz-
wesen. Ebenso wichtig ist die Unterstützung beim Aufbau
Vizepräsidentin Petra Bläss: Für die F.D.P.-Frak-
eines effizienten Dienstleistungssektors sowie im Ver-
tion spricht jetzt der Kollege Joachim Günther.
kehrs- und Kommunikationsbereich.
Ganz entscheidend für die Entwicklungschancen unse-
(B) Joachim Günther (Plauen) (F.D.P.): Frau Präsiden-
rer Partnerländer ist darüber hinaus ihre volle Teilnahme (D)
tin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der afrika-
am freien Welthandel. Handel ist besser als Hilfe. Die
nische Kontinent stellt für die Außen- und Entwicklungs-
Beispiele vieler erfolgreicher Schwellenländer belegen,
politik eine besondere Herausforderung dar. Dort leben
dass es nur dort, wo eine konsequente Deregulierung statt-
über 800 Millionen Menschen, etwa 580 Millionen süd-
findet, zur nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung
lich der Sahara. Beinahe 200 Millionen Afrikaner sind
kommt. Dies bedeutet aus unserer Sicht selbstverständ-
chronisch unterernährt. 23 Millionen Kinder leiden an
lich auch, dass unsere eigene Handelspolitik auf den Prüf-
Mangelernährung. 6 Millionen Menschen in Afrika sind
stand gehört: der Abbau von Handelshemmnissen vor al-
Flüchtlinge.
lem im Agrar- und Textilbereich sowie die Beendigung
Trotz dieser im Vergleich zu anderen Regionen der marktverzerrender Subventionspolitik, um nur wenige
Welt schlimmen Gesamtbilanz wäre es falsch, von einem Punkte anzusprechen.
allgemeinen Afropessimismus zu sprechen. Vielmehr
Vor diesem Hintergrund ist es besonders bedauerlich,
muss die politische, wirtschaftliche und soziale Entwick-
dass im Rahmen der Haushaltskürzungen nicht nur Afrika
lung in Afrika differenziert beurteilt werden. Eine Reihe
betroffen ist, sondern auch die freiwilligen Beiträge für
afrikanischer Staaten hat, vor allem bei der Demokratisie-
internationale Organisationen heruntergefahren werden
rung, eine beachtliche Entwicklung erzielen können. In
mussten. Wie steht es so schön in dem Antrag, den wir ge-
20 afrikanischen Staaten liegt das reale Wachstum inzwi-
rade beraten? Der Deutsche Bundestag fordert die Bun-
schen bei 4 bis 6 Prozent. Die Lebenserwartung der Men-
desregierung auf, insbesondere die Intensivierung und
schen in Afrika ist seit 1960 um 25 Prozent gestiegen; die
Ausweitung des politischen Dialogs als Instrument zu eta-
Gefahren der Gegenwart wurden vorhin bereits aufge-
blieren. Das ist richtig; das unterstützen wir. Aber wie
führt. Der Zugang zur schulischen Ausbildung vor allem
sieht die Realität aus, Herr Außenminister? Massive
für Mädchen wurde verbessert. Diese Entwicklung zeigt,
Schließungen von Botschaften in Afrika in einer Zeit, in
dass sich Anstrengungen zur Förderung von Demokratie,
der dieser leidgeprüfte Kontinent verzweifelt nach Aus-
Rechtsstaatlichkeit und sozialer Marktwirtschaft tatsäch-
wegen aus seiner Misere sucht und auf Partnerschaften,
lich lohnen.
wie Sie es vorhin betont haben, besonders angewiesen ist.
Diese Erfahrung zeigt aber auch, dass in Afrika die Re-
Bei allem Verständnis für die Haushaltszwänge hätte
gierungen und Eliten der Länder die Hauptverantwortung
man sich kreativere Lösungen als eine ersatzlose Schließ-
für die Entwicklung ihrer Länder tragen. Dort, wo sie sich
ung von Botschaften vorstellen können.
ernsthaft um politische, rechtsstaatliche und wirtschaftli-
che Reformen bemühen, ist unsere volle Unterstützung (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
10872 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Joachim Günther (Plauen)

(A) Für die betroffenen Länder ist der Abzug des deutschen Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte mit einer (C)
Botschafters und seines Personals ein verheerender Rück- ganz kritischen Bemerkung beginnen; denn ich befürchte,
schlag in ihren Reform- und Entwicklungsbemühungen. dass wir mit der Afrikadebatte, wie wir sie heute führen,
Wie soll man es zum Beispiel der Regierung des Tschad nachdem sie relativ kurzfristig angesetzt worden ist, we-
vermitteln, dessen Bevölkerung von Hungersnöten be- der dem Thema noch den Fachpolitikern einen wirklichen
droht ist, dass das reiche Deutschland kein Geld mehr für Gefallen tun und auch wenig zur Lösung der Probleme
den Unterhalt einer kleinen Botschaft hat? Aus der Sicht beitragen können.
dieser Länder bedeutet der Abzug praktisch den Abbruch Ich möchte dies im Namen einer kleinen Oppositions-
der Beziehungen. Der hierdurch entstandene Schaden, partei ganz kurz erläutern: Drei Anträge, und zwar die An-
Herr Außenminister, kann auch durch noch so viele Rei- träge „Friedensbemühungen am Horn von Afrika verstär-
sen von Ihnen nach Afrika nicht ausgeglichen werden. ken“ – er umfasst fünf Seiten –, „Demokratische und
(Beifall bei der F.D.P.) friedliche Kräfte im Sudan unterstützen“ – er umfasst acht
Seiten – und „Konflikt in der Region der Großen Seen ein-
Nach der Afrikakonferenz, nach Ihrer Afrikareise und gedämmt – nicht gelöst“ – er umfasst sieben Seiten –, sind
auch nach Ihrer heutigen Rede, Herr Außenminister, habe am gestrigen Tag eingereicht worden. Das ist aus meiner
ich immer noch keine konzeptionellen Grundlinien ei- Sicht ein unhaltbarer Zustand; denn das offenbart, dass
ner Afrikapolitik feststellen können. Welche Vorstellun- eine wirkliche parlamentarische Beratung und eine ent-
gen hat die Bundesregierung für die Beilegung der Kon- sprechende Vorbereitung offenbar nicht im Sinne der An-
flikte im Kongo und um die Großen Seen in Zentral- tragsteller oder der zuständigen parlamentarischen Ge-
afrika? Welche Vorstellungen hat die Bundesregierung für schäftsführer lag. Hinzu kommt, dass über all diese An-
einen Friedensprozess im Sudan? träge heute abgestimmt wird. Das heißt, eine Beratung in
(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Welche ha- den Ausschüssen ist ebenfalls nicht möglich.
ben Sie?) Ich möchte auch darauf hinweisen, dass die Anträge,
Wir brauchen noch viele Antworten auf diesem Gebiet. die zum Teil von strategischer Bedeutung sind und in de-
nen wirklich gut aufgezeigt wird, wo die Probleme liegen,
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, große heute zur Abstimmung stehen, während der Antrag, in
Teile dieses Antrags können von uns mitgetragen werden. dem der sofortige Handlungsbedarf angesprochen wird,
Einzelne Punkte, zum Beispiel eine neue Entschul- nämlich der Antrag „Abschiebestopp für Flüchtlinge aus
dungsinitiative – die erste ist noch nicht einmal voll ab- Äthiopien und Eritrea“, zur Beratung an die Ausschüsse
geschlossen – bedürfen weiterer Diskussionen. Aber eines überwiesen werden soll, was heißt, dass er frühestens
müsste die Koalition doch heute machen – auch Herr Ende September aufgerufen wird. Ich sage Ihnen: Das ist
(B) Tappe hat darauf hingewiesen –: Sie müsste zu einem eine unhaltbare Praxis. Deswegen ziehen wir unseren An- (D)
Sturm auf das Außenministerium ansetzen, damit ein trag heute zurück. Das machen wir nicht mit.
großer Teil der deutschen Botschaften in Afrika als ein (Beifall bei der PDS)
Eckpfeiler unserer Politik erhalten bleibt.
Meine Damen und Herren, viele Absichtserklärungen
(Beifall bei der F.D.P. – Gernot Erler [SPD]: des Antrags „Afrikas Entwicklung unterstützen“ teile ich,
Haben wir doch 1998 schon gemacht!) denn es sind gute Ansätze, über die wir diskutieren kön-
Aus diesem Grund, meine Damen und Herren, werden wir nen und möchten. Leider sind nur wenige konkrete Maß-
uns der Stimme enthalten. nahmen und keine zeitlich fixierten Maßnahmen enthal-
ten. Das bedauern wir sehr. Die besondere deutsche Rolle,
(Beifall bei der F.D.P.) der besondere EU-Prozess und die Rolle Deutschlands
darin werden nicht entsprechend untermauert und das
Vizepräsidentin Petra Bläss: Für die PDS-Fraktion konzeptionell Neue tritt nicht wirklich in den Vorder-
spricht jetzt der Kollege Carsten Hübner. grund.
Auch ich möchte noch einmal deutlich machen, wie
Carsten Hübner (PDS): Frau Präsidentin! Liebe Kol- sich die Situation derzeit in Afrika gestaltet. Einige Daten
leginnen und Kollegen! Vorweg eine kurze Bemerkung, wurden schon genannt. Ich möchte noch einige hinzufü-
weil Afrika wieder einmal gegenüber einem Land des rei- gen.
chen Nordens den Kürzeren gezogen hat: Die Fußball- Die Verschuldung der afrikanischen Staaten ist von
weltmeisterschaft wird in Deutschland und nicht in Süd- 250 Milliarden US-Dollar in den 80er-Jahren auf inzwi-
afrika stattfinden. So sehr das hier viele begrüßen mögen, schen 360 Milliarden US-Dollar gestiegen. Ich finde es
fände ich es doch ganz gut, wenn der Vorschlag unseres richtig, dass wir die Entschuldungsinitiative, so wie sie
Fraktionsvorsitzenden aufgegriffen würde und im Gegen- bisher in Fahrt gekommen ist, nur als einen ersten Teiler-
zug ein Maßnahmenpaket geschnürt würde, um der Ba- folg begreifen; denn die Summe der Entschuldung – und
sissportentwicklung in Afrika von deutscher Seite etwas diese bezieht sich nicht nur auf Afrika – beläuft sich noch
mehr Gewicht zu verleihen, als es bisher der Fall ist. Das nicht einmal auf 110 Milliarden US-Dollar, auf den Be-
wäre zumindest im Ansatz ein Ausgleich. trag, um den der Schuldenstand Afrikas gestiegen ist.
(Beifall bei der PDS – Rudolf Bindig [SPD]: Die Direktinvestitionen sind in den letzten Jahren – Sie
Darüber kann man nachdenken!) haben darauf hingewiesen, dass Handel manchmal sinn-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10873
Carsten Hübner

(A) voller ist als Helfen, das mag auch sein – auf weniger geren Preisen zur Verfügung zu stellen, werden wir in (C)
als 1 Prozent weltweit gesunken. Afrika hat nur einen Afrika eine Katastrophe nicht absehbaren Ausmaßes erle-
1,5-prozentigen Anteil am Welthandel. Das sind doch Indi- ben.
zes, die deutlich machen, wie dramatisch die Situation ist.
Danke.
Es gibt Millionen von Flüchtlingen. Das sind Binnen-
flüchtlinge, Flüchtlinge vor wirtschaftlicher Not, vor (Beifall bei der PDS)
Elend, Hunger und Katastrophen, aber natürlich auch vor
kriegerischen Auseinandersetzungen. 19 von 48 afrikani- Vizepräsidentin Petra Bläss: Für die SPD-Fraktion
schen Staaten sind direkt in kriegerische Auseinanderset- spricht jetzt die Bundesministerin für wirtschaftliche Zu-
zungen verwickelt. sammenarbeit und Entwicklung, Heidemarie Wieczorek-
Meine Damen und Herren, vor dem Hintergrund dieser Zeul.
Zahlen möchte ich nur ganz kurz deutlich machen, wel-
che Fragestellungen mir in diesem Antrag nicht genügend Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für
gewürdigt werden. Nicht hervorgehoben ist zum Beispiel wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: Frau
die Forderung des NGO-Netzwerkes Jubilee 2000 South, Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich teile
also des Südablegers der Erlass-Jahr-Kampagne, nach ei- die Auffassung der Kolleginnen und Kollegen, die gesagt
nem vollständigen und sofortigen Schuldenerlass und haben, dass Afrika trotz aller großen Probleme, die sich
nach Maßnahmen, die die Schuldenlast wirklich reduzie- für diesen Kontinent stellen, im 21. Jahrhundert Riesen-
ren. Es darf keinen langen Prozess geben. Im Rahmen der chancen hat. Dies ist nicht nur meine persönliche Über-
Schuldeninitiative hat man sich, wenn ich richtig infor- zeugung, sondern auch die Weltbank hat dies in ihrer
miert bin, bisher zunächst auf Uganda konzentriert. jüngsten Studie ausdrücklich noch einmal belegt. Sie hat
(Dr. R. Werner Schuster [SPD]: Und Tansa- aber deutlich gemacht, dass auch in Afrika selbst Verän-
nia!) derungen notwendig sind. Diese betreffen Investitionen
zugunsten der Menschen, der Bildung und der Gesund-
– Gut. Mosambik ist im Zusammenhang mit der Flutkata- heit. Die Wirtschaftsstrukturen müssen im Rahmen der
strophe in ein Sofortprogramm aufgenommen worden. Möglichkeiten verändert und entsprechende Vorausset-
Dort ist es aber nicht über die Initiative so schnell zu ei- zungen dafür geschaffen werden. Veränderungen sind
ner Entschuldung gekommen. auch im Bereich der verantwortlichen Regierungsführung
Es gibt keine besondere Förderung und Protektion der und Krisenlösung notwendig. Natürlich müssen auch die
kleinen und mittleren Unternehmen, stattdessen setzten internationale Gemeinschaft sowie die einzelnen Geber-
(B) wir weiter auf die Marktöffnung. Ich erinnere nur an das länder ihrer Verantwortung gegenüber diesen Ländern (D)
neu ausgehandelte Lomé-Abkommen, das schrittweise und dem Kontinent gerecht werden.
Deregulierungen vorsieht und in dem die WTO weiterhin
Heute ist nicht der Tag, dies im Einzelnen darzustellen.
den Bezugspunkt unserer Zusammenarbeit darstellt.
Dies haben wir schon gemacht. Aber ich sage noch einmal
(Dr. Uschi Eid [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: zur Erinnerung: Erstens. Im Rahmen des Lomé-Abkom-
Eben haben Sie die niedrigen Investitionsraten mens, welches die Voraussetzungen dafür schafft, dass
beklagt!) diese Länder unter veränderten Wirtschaftsstrukturen im
Es gibt auch keine konkreten Maßnahmen in diesem An- Rahmen ihrer Möglichkeiten vom internationalen Wett-
trag, durch die die Süd-Süd-Zusammenarbeit verstärkt bewerb profitieren können, hat es gerade jetzt eine Zusage
unterstützt werden soll. Es geht jetzt darum, das nicht im- über 13,8 Milliarden Euro gegeben. Deutschland ist zu
mer nur zu proklamieren, sondern mit ganz konkreten 23 Prozent daran beteiligt.
Maßnahmen zu untermauern. Auch auf eine ganz kon- Zweitens. Die Entschuldungsinitiative wird vor allen
krete und strikte Initiative im Bereich des Waffenhandels- Dingen für die afrikanischen Länder 50 Milliarden DM –
verbots, zumal für Kleinwaffen, die in den Konflikten im der größte Teil der Länder, die davon profitieren, liegt in
Wesentlichen zum Tragen kommen, ist in dem Antrag Afrika – bringen.
nicht deutlich genug Bezug genommen worden.
Drittens. 42 Prozent der Mittel unserer gesamten bila-
teralen Entwicklungszusammenarbeit fließen in den Be-
Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Kollege Hübner, reich des afrikanischen Kontinents. Dies sage ich, damit
Sie müssen bitte zum Schluss kommen. diejenigen, die hier anderes behauptet haben, das richtig
stellen können.
Carsten Hübner (PDS): Ein letztes Wort: Zu Aids ist (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
viel gesagt worden. Ich sage Ihnen, welches das Problem DIE GRÜNEN)
von Aids ist: Das Problem ist nicht allein, dass es eine
Krankheit ist. Vielmehr ist es auch zu einem soziokultu- Ich möchte heute Abend drei Punkte ansprechen, bei
rellen Problem für Afrika geworden. Darauf hat der denen wir konkret handeln können. Es kommt darauf an,
Außenminister hingewiesen. Aidsbekämpfung ist teuer. dass wir nicht nur reden, sondern auch handeln. Ich
Wenn wir dieses Geld nicht von hier aus einsetzen, wenn möchte sagen, was ich für besonders wichtig halte. Dies
wir unsere Unternehmen, die hiergegen wirksame Präpa- mache ich deshalb, weil afrikanische Regierungen dies
rate entwickelt haben, nicht dazu bringen, sie zu günsti- uns gegenüber ansprechen:
10874 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul

(A) Erstens. Die Erhöhung der Rohölpreise bedeutet eine sere Initiative hin Mittel im Umfang von 500 Milli- (C)
dramatische Verschlechterung der Terms of Trade für die onen DM für die Bekämpfung dieser Pandemie, dieser
afrikanischen Länder und besonders für diejenigen afri- Seuche, dieser dramatischen Gefährdung zur Verfügung
kanischen Länder, die kein Erdöl produzieren, sondern es stellen. Auf dem bevorstehenden G8-Gipfel wird das ei-
importieren. Die Preissteigerungen der OPEC – das wis- nes der zentralen Themen sein.
sen Sie alle – haben schon bei unseren Autofahrern Un-
mut verursacht. Aber in Afrika bedeutet das, liebe Kolle- Aber ich sage an dieser Stelle auch: Die Länder sind
ginnen und Kollegen, dass aufgrund der vorhandenen mitverantwortlich. Ich weiß nicht, wie es bei meinen Vor-
Struktur ganze Wirtschaften zerrüttet werden. Angesichts gängern war, aber ich spreche bei jeder politischen Reise
dessen ist das, was wir hier in Deutschland diskutiert ha- gegenüber den höchsten Repräsentanten an, dass sie Lea-
ben, wirklich nur ein kleiner Ansatz. dership zeigen müssen; denn Verschweigen heißt Tod. Die
Regierungschefs, die Präsidenten sind selbst für Aufklä-
Sie müssen sich vorstellen, dass dies Länder sind, die rung im Land verantwortlich. Nur wenn das Verschwei-
erstens durch die Rohölpreissteigerungen stärker betrof- gen endlich durchbrochen wird, wenn nicht der Eindruck
fen sind und die dies zweitens nicht durch Erlöse aus ihren vermittelt wird, es sei ein Tabu,
eigenen Rohstoffen ausgleichen können, sodass sich die
Terms of Trade dramatisch zu ihren Lasten verschlech- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
tern. Afrikanische Länder sind im Übrigen weit mehr von DIE GRÜNEN)
der Erhöhung als andere Regionen betroffen, denn die
werden die Menschen im Land selbst ihr Verhalten än-
Preissteigerungen fallen dort aufgrund der geringeren
dern. Denn gegen Aids kann man sich schützen: entweder
Einkommen sehr viel stärker ins Gewicht. Außerdem sind
Preisschwankungen für Rohölimporte für viele afrikani- durch Treue, durch Abstinenz oder durch Kondome. So
sche Länder, die sich ohnehin schon in einer schwierigen hat es eine in Afrika erfolgreiche Initiative aufgezeigt.
Situation befinden, ein weiterer Faktor der Destabilisie- Das muss zum Thema gemacht werden. Die Diskussion
rung. muss von der Spitze der betroffenen Länder geführt wer-
den. Es gibt diese Verantwortung.
Welche Handlungsmöglichkeiten gibt es? Wir werden
zwei Aspekte in den Vordergrund stellen, weil die afrika- Vor allen Dingen soll damit auch Hoffnung geschaffen
nischen Länder dies von uns erwarten. Erster Aspekt: Wir werden. Uganda hat das so gemacht. Der dortige Präsi-
unterstützen die Länder – die internationale Gemeinschaft dent Museveni hat das so gemacht. Er hat die Themen an-
muss das gemeinsam machen – bei der Reform ihres gesprochen. Damit hat sich die Zahl der Neuinfizierungen
Energiesektors. Diese Länder haben nach Berechnungen im Land drastisch reduziert. Es gibt also auch Hoffnung.
der Weltbank durch ineffiziente Beschaffungsverfahren Es ist nicht so – das wäre ja schrecklich –, dass die Seu-
(B) che unaufhaltsam wäre. Durch Verhaltensänderung, durch (D)
schon jetzt einen Verlust von rund 1 Milliarde US-Dollar.
Es ist auch bekannt, dass afrikanische Länder wesentlich öffentliche politische Diskussion in Afrika selbst kann et-
höhere Importpreise zu bezahlen haben, weil sie gegen- was verändert werden.
über den Öl exportierenden Ländern eine schlechtere Ver- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
handlungsposition haben. Das heißt für uns, die Reform
DIE GRÜNEN)
des Energiesektors mit voranzubringen. Auch die erneu-
erbaren Energien sind ein ganz zentraler Punkt bei der Dritter und letzter Punkt – auch da sind wir betrof-
Veränderung der Position dieser Länder. fen –: gute Regierungsführung. Das ist auch ein ganz
konkreter und praktischer Punkt. Es ist zum Beispiel un-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
erträglich, wenn Diamanten, an denen Blut klebt, in den
DIE GRÜNEN)
Handel gelangen. In Sierra Leone terrorisieren kriminelle
So viel Entwicklungszusammenarbeit können wir im Banden, die sich fälschlicherweise Rebellen nennen, die
Haushalt gar nicht vorsehen, wie angesichts der schon Bevölkerung. Sie hacken den Leuten die Gliedmaßen ab.
jetzt spürbaren negativen Auswirkungen der Entwicklung Sie wollen an die Diamantenfelder; denn sie wollen mit
notwendig ist. dem Verkauf von Diamanten ihr verbrecherisches Hand-
Der zweite Aspekt: Ich habe beantragt, diese Frage auf werk finanzieren. Deshalb sind die Industrieländer und
die Tagesordnung der Septembersitzung der Weltbank zu auch die Diamantenindustrie aufgefordert, ihre Verant-
setzen, weil ich der Meinung bin, dass die dort vertrete- wortung wahrzunehmen. Diese Quelle der Kriegsfinan-
nen Länder – das sind Öl exportierende und Öl importie- zierung muss zum Versiegen gebracht werden.
rende Länder und andere Industrieländer – gemeinsam (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
über diese dramatische Situation diskutieren müssen und DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
dass wir Mechanismen der Unterstützung seitens Welt- CDU/CSU und der PDS – Dr. R. Werner
bank und IWF überprüfen und in Gang bringen müssen, Schuster [SPD]: Und das kostet kein Geld!)
damit konkret gehandelt wird.
– Das kostet kein Geld.
Ein zweiter Punkt: Aids. Liebe Kolleginnen und Kol-
legen, die Bundesregierung unterstützt in diesem Jahr mit Ich begrüße deshalb nachdrücklich, dass der UN-Si-
Neuzusagen von 55 Millionen DM konkrete Projekte, die cherheitsrat auf Initiative der britischen Regierung ges-
diese Krankheit, diese Epidemie unmittelbar bekämpfen, tern Nacht ein Diamantenhandelsverbot gegen Sierra
und zwar in allen Bereichen. Die Weltbank wird auf un- Leone verhängt hat. Ich plädiere dafür, dass es auf abseh-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10875
Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul

(A) bare Zeit aufrechterhalten bleibt und damit Konsequenzen Schuster in der Regel zu sagen beliebt, noch übrig, um (C)
gezogen werden. sich weiter darum zu kümmern. Sie finden sich dann zur
nächsten Debatte wieder zusammen, um erneut zu for-
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
dern.
GRÜNEN, der CDU/CSU und der PDS)
Ich fand es bemerkenswert, dass sich der Außenmini-
ster zu den Anträgen der ihn tragenden Koalitionsfraktion
Vizepräsidentin Petra Bläss: Frau Kollegin, Sie
nicht geäußert hat. Ich unterstelle Ihnen, Herr Außenmi-
müssen bitte zum Schluss kommen.
nister, dass Sie keine Gelegenheit hatten, die Anträge zu
lesen. Es steckt eine ganze Menge an Forderungen darin,
Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin was das Außenministerium alles tun soll. Ich finde es
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: schon bemerkenswert und warte auf die nächste Debatte,
Danke, Frau Präsidentin. damit wir abfragen können, was die Bundesregierung
dem Petitum des Kollegen Tappe folgend alles getan hat,
Ich wollte zum Schluss sagen: Sie sehen die struktu-
um die Probleme vielleicht einen Millimeter näher an die
rellen Zusammenhänge. Wir müssen uns jedes Mal ein
Lösung heranzubringen.
Element heraussuchen, wo wir bezüglich der strukturellen
Fragen mit unserem eigenen Engagement etwas verän- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
dern können. neten der F.D.P. – Dr. R. Werner Schuster
[SPD]: Das ist doch die Arbeitsteilung Poli-
Die Bundesregierung und ich als Entwicklungsminis-
tik/Exekutive!)
terin sind angetreten, diese Verantwortung wahrzuneh-
men. Wir nehmen sie wahr, weil wir wissen: Afrika ist ein – Ja, ich finde es ja prima. Ich wollte nur den Außenmi-
Kontinent, der große Hoffnungen hat, ein Partnerkonti- nister daran erinnern, damit er es nicht vergisst, weil er es
nent, eine Region mit großen Chancen. Wir können dazu eben noch nicht gesagt hat.
beitragen, dass die Chancen dieses Kontinentes genutzt
Ich habe noch einen zweiten Punkt, nur damit sich die
werden.
Legenden in diesem Lande nicht allzu fest graben: die
Ich danke Ihnen sehr. Schuldeninitiative. Meine sehr geehrten Damen und
Herren, ich höre ja, etwas fängt schon an, real wirksam zu
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
werden. Es sei nur zu Protokoll gegeben, dass Schulden
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
erlassen keine Erfindung von Ihnen ist. Ich finde es löb-
PDS)
lich, wenn sie es weiter betreiben.
(B) (Dr. Uschi Eid [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (D)
Vizepräsidentin Petra Bläss: Der letzte Redner die-
Das hat auch niemand behauptet! Aber diese
ser Debatte ist der Kollege Dr. Karl-Heinz Hornhues für
Regierung setzt sie um!)
die Fraktion der CDU/CSU.
Bis zum Ende unserer Regierungszeit sind immerhin
9 Milliarden DM Schulden erlassen worden. Wir fragen
Dr. Karl-Heinz Hornhues (CDU/CSU): Frau Präsi-
dann noch einmal nach.
dentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Man kann kritisieren, dass (Dr. R. Werner Schuster [SPD]: Bilateral, aber
uns von der Regierungskoalition bergeweise Papier auf nicht multilateral, Herr Kollege!)
den Tisch gelegt wird. Wahrlich; denn es ist sehr viel zu
– Herr Kollege, auch da ist einiges geschehen, wie Sie
lesen. Vieles ist gar nicht so schlecht oder sogar ganz gut.
ganz genau wissen. Wenn Sie bilateral weitermachen,
(Rudolf Bindig [SPD]: Haben Sie was ge- finde ich das ganz prima.
lernt!)
Meine sehr geehrten Damen und Herren, nehmen Sie
Ich bin dafür, es nicht zu sehr zu kritisieren, weil ich jede bitte zur Kenntnis: Es ist keine völlig neue Erfindung von
Gelegenheit als begrüßenswert empfinde, über Afrika re- Ihnen. Es gab schon vorher ein Nachdenken über Pro-
den können. bleme.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Worum geht uns in der Sache, wenn wir über Afrika
diskutieren? Glücklicherweise hat sich inzwischen im-
Steter Tropfen höhlt den Stein. Vielleicht kommen wir
merhin hier weitgehend durchgesetzt: Es geht vor allen
doch zu dem Punkt, dass im Rahmen der unendlichen Pri-
Dingen auch um unser ureigenes Interesse, nämlich um
oritäten der jetzigen Bundesregierung die Priorität Afrika,
die Frage, wie wir mit einem Kontinent weiterleben wol-
von der wir heute einiges gehört haben, tatsächlich von
len, der wie kein anderer von Krisenkatastrophen ge-
der letzten Position der Prioritätenskala ein paar Millime-
schüttelt und gebeutelt ist. Es ist unser Nachbarkontinent.
ter näher an die anderen Prioritäten herangerückt wird.
Wir können das Problem Afrika nicht den Mitgliedern der
Wenn wir ehrlich sind, Herr Außenminister, müssen südlichen Länder der Europäischen Union als Privatpro-
wir uns ja wohl darüber im Klaren sein: Wenn man über blem überlassen. Vielmehr müssen wir begreifen, dass
Afrika spricht, steht es für einen Moment im Mittelpunkt auch wir uns immer stärker diesem Problem zuwenden
unseres Interesses. Kaum haben wir den Saal verlassen, müssen, damit unsere Partner in der Europäischen Union
bleiben vielleicht die paar „Afrikafans“, wie Herr auch bereit sind, auf uns zu hören, wenn wir größere
10876 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Dr. Karl-Heinz Hornhues

(A) Probleme haben, die vielleicht in Mittelosteuropa und zwar schöne Reden über die Probleme in Afrika halten, (C)
nicht an dem Mittelmeerrand liegen, und bereit sind, diese tatsächlich aber selten in der Lage sind, ein Problem kon-
Probleme mit uns gemeinsam anzugehen. kret zu lösen. Die Schwierigkeit ist, dass wir oft hier ge-
sessen und darüber geredet haben, was andere falsch ma-
Das heißt: Unser Bemühen, für Afrika mehr zu tun, hat
chen, wenn zum Beispiel die französische Fremdenlegion
auch den Hintergrund – das sollten wir unseren Mitbür-
in eine bestimmte Richtung marschiert ist oder davon die
gern sagen –, dass wir für andere Probleme, mit denen un-
Rede war, dass sich die CIA auf dem einen oder anderen
sere Partner stärker kämpfen, mehr Verständnis haben
Feld – ich glaube, es war im Kongo – einmischt. In diesen
müssen. Dabei ist durchaus eine gehörige Portion Egois-
Fällen haben wir immer dagestanden und gesagt: „Da hät-
mus vorhanden, wenn wir uns um diese Probleme küm-
ten wir...“; „Da könnten wir“, „Da müssten wir ...“.
mern.
Die Frage ist, was uns an eigenen Erkenntnissen auf-
Wenn wir uns die Frage stellen, was man tun könne,
grund eigener Recherche vorliegt. Man kann in diesem
taucht als erstes Stichwort sofort der Begriff der Präven-
Zusammenhang über andere Instrumente als die Bot-
tion auf. Der bedeutendste Teil der Prävention ist die Ent-
schaften nachdenken. Wir haben eine Institution, die
wicklungszusammenarbeit, die wir betreiben. Ich will
Nachrichten beschafft und wie ich gehört habe, ab und zu
nicht in eine Debatte darüber einsteigen, was gut oder
einen Reisenden nach Afrika schickt. Wenn alles so wich-
schlecht ist. Ich will aber eines anmerken: Es wird immer
tig ist, wie diese Institution das schildert, müssen wir uns
weniger für die Entwicklungszusammenarbeit ausgege-
die Frage stellen, was getan werden kann.
ben. Ich fand es heute insoweit gut, dass die Frau Minis-
terin nicht wie beim letzten Mal versucht zu erklären, dass Die Westeuropäische Union wird in ihrem operativen
es zwar weniger, aber trotzdem mehr sei. Was immer der Teil, den Petersberg-Aufgaben, in die Europäische
Grund für die Reduzierung sein mag, es ist weniger. Es ist Union übernommen. Wir haben gelernt: Krisenprävention
ein Problem, anderen deutlich machen zu müssen, warum ist schön, klappt aber meistens nicht. Im Ergebnis haben
wir mehr tun wollen, aber weniger Mittel dafür zur Ver- wir die Krisen und diese bestehen nicht immer nur aus
fügung stellen. Wirbelstürmen oder Hochwasser. Das alles wäre schon
schlimm genug, aber viel zu oft wird geschossen, gemor-
Einer Europäisierung stimme ich zu, es sei denn, es
det und getötet. Wir stehen dabei immer vor den gleichen
würden bestimmte Zwecke damit verfolgt. Wenn dahinter
Fragen. Meine Frage ist: In welchem Umfang drängt die
steckt, mehr Zusammenarbeit in Richtung Europa mit
Bundesregierung darauf, dass die Europäische Union mit
dem Gedanken zu machen, die sollen das tun, damit wir
ihren Petersberg-Aufgaben – das heißt den alten WEU-
aus dem Schneider sind, muss man dies offen sagen, ohne
Aufgaben – real mit Afrika zusammenarbeitet und nicht
das Bemühen der Europäisierung überzustrapazieren.
nur ein paar Sprüche klopft? Wie sieht es konkret mit un-
(B) Wenn Europäisierung aber meint, die deutsche Bundesre- serer Ausstattungshilfe aus? (D)
gierung und der Deutsche Bundestag wollen sich ver-
stärkt darum bemühen, dass Europa insgesamt mit uns – Wer einige Krisenszenarien nachzeichnet, muss sich
da wir nicht die Kleinsten sind, auch sehr stark mit uns – darüber im Klaren sein, dass manches Unternehmen
eine Afrikapolitik entwickelt, die sich in einem für uns für wahrscheinlich schlechter ausgegangen wäre, wenn es die
notwendig gehaltenen Maße in Afrika einmischt und als Ausstattungshilfe nicht gegeben hätte. Ich komme damit
Partner zur Verfügung steht, dann, Herr Außenminister, zu einem weiteren Punkt, von dem ich weiß, dass seine
müssen wir zwingend darüber diskutieren, was die Behandlung schon vor längerer Zeit eingeschlafen ist,
Schließung von Botschaften bedeutet. Dies ist mit dem weil viel schief gelaufen ist.
Argument, es habe an Geld gefehlt, nicht zu beantworten.
Wo immer in Afrika etwas passiert, haben wir es mit
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dem Militär zu tun. Die Bundeswehr hat in der Vergan-
neten der F.D.P.) genheit wiederholt in ihrer internationalen Offiziersaus-
bildung afrikanische Offiziere einbezogen. Dies ist mei-
Ich kann nicht sagen, ich wolle Krisenprävention machen,
nes Wissens eingestellt worden, weil man nicht nur gute
und kappe dabei eines der wenigen Instrumente. Dies ist
Erfahrungen gemacht hat, um es sehr vorsichtig zu sagen.
besonders schlimm in Ländern wie Burundi, Tschad und
So heikel die Frage der Armee in der Demokratie ist, so
Niger.
haben wir doch ein spezielles Kapitel an eigenem Know-
Mich interessiert in diesem Zusammenhang die Frage, how und Wissen. Es steht uns durchaus zu, darüber nach-
was uns noch bevorsteht. Ich weiß nicht, ob die Presse- zudenken, ob wir nicht den Mut haben, dies in eine Über-
meldungen stimmen, dass infolge weiterer Kürzungen legung einzubringen, Ländern zu helfen, in Strukturen zu
weitere Botschaften geschlossen werden sollen. Ich gebe denken und zu empfinden, die uns dann, wenn es wieder
zu Protokoll, dass der Herr Außenminister den Kopf ernst wird, die Chance geben, an bestimmte Personen auf
schüttelt. Ich schließe daraus, dass keine weitere Bedro- bestimmte Werte bezogen zu appellieren.
hung für unsere Auslandsbotschaften besteht. Ich hoffe,
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in den
dass uns nicht zu einem späteren Zeitpunkt mit anderen
Beiträgen, die ich gehört habe, waren viele Gemeinsam-
Argumenten das Gegenteil droht.
keiten enthalten. Das finde ich sehr gut. Ich finde es wei-
Diese Strategie, sich zurückzuziehen und anderen die terhin sehr gut, wenn sich die Koalitionsfraktionen künf-
Verantwortung zuzuschieben – egal, ob OAU oder UNO – tig bei der Produktion von weiteren Anträgen freundli-
halte ich für einen eklatanten Fehler, weil dies unseren cherweise mit uns in Verbindung setzen, wenn sie den
Einfluss schwächt. Es bedeutet auch, dass wir in Wahrheit Verdacht haben, es sei gemeinsames Gedankengut der
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10877
Dr. Karl-Heinz Hornhues

(A) meisten Parteien in diesem Hause. Denn bezogen auf die Hornhues machen wollen. Jetzt ist es zu spät, aber ich (C)
schönen Sätze des Außenministers und vieler anderer möchte alle Kolleginnen und Kollegen an diese Spielre-
habe ich ein Problem. Dies heißt: Zu vielem höre ich vie- gel erinnern.
les gern. Die Rede des Kollegen Tappe habe ich in großen
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Teilen sehr gern gehört. Allein mir fehlt der Glaube, dass
der F.D.P.)
das, was dort gesagt wird, Wirklichkeit wird. Ich glaube,
wir brauchen weiterhin ein gewisses Maß an Gemein- Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die
samkeit der „Afrikafans“, Herr Schuster, damit wir versu- Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/3701 an die
chen zu erreichen, dass Afrika im Bewusstsein von uns al- in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
len – der Bundesregierung und vielleicht auch des Volkes – schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.
nicht die Gegend ist, wo am Ende nur noch die Antarktis Dann ist die Überweisung so beschlossen.
kommt. Ein bisschen mehr sollte es sein.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Ein allerletztes Wort. Fraktionen der SPD und des Bündnis 90/Die Grünen mit
dem Titel „Friedensbemühungen am Horn von Afrika ver-
stärken“, Drucksache 14/3767. Wer stimmt für diesen An-
Vizepräsidentin Petra Bläss: Aber bitte ein aller-
trag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist
letztes, Herr Kollege.
bei Enthaltung der Fraktionen der CDU/CSU und der
F.D.P. angenommen.
Dr. Karl-Heinz Hornhues (CDU/CSU): Herr Tappe,
Sie haben davon gesprochen, die Würde zurückzugeben. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antrag
In unseren Museen steckt manches, was aus Afrika der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grü-
stammt, und für Afrika ein unersetzliches Kulturgut ist. Es nen mit dem Titel „Demokratische und friedliche Kräfte
ist für uns auch interessant, aber eine Bundesregierung, im Sudan unterstützen“, Drucksache 14/3768. Wer
die sich aufmacht – ich habe das mit wenig Erfolg in der stimmt für diesen Antrag? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
Vergangenheit versucht; versuchen Sie es einmal –, einen gen? – Der Antrag ist bei Enthaltung der Fraktionen der
Kulturtransfer besonderer Art einzuleiten, um Afrika zu CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS angenommen.
helfen, ein Stück der eigenen Identität wiederzugewinnen, Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
wäre des Schweißes der Edlen wert. Bemühen Sie sich ein Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
wenig! mit dem Titel „Konflikt in der Region der großen Seen
Danke schön. eingedämmt – nicht gelöst“, Drucksache 14/3791. Wer
stimmt für diesen Antrag? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
(B) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gen? – Der Antrag ist bei Enthaltung der CDU/CSU- und (D)
neten der F.D.P. und der PDS) der F.D.P.-Fraktion angenommen.
Die Beschlussfassung über den Antrag der Fraktion der
Vizepräsidentin Petra Bläss: Zu einer Kurzinter- PDS „Abschiebestopp für Flüchtlinge aus Äthiopien und
vention erteile ich der Kollegin Dr. Uschi Eid, Bündnis 90/ Eritrea“, Drucksache 14/3547, entfällt; denn die PDS hat,
Die Grünen, das Wort. wie der Kollege Hübner angekündigt hat, ihren Antrag
zurückgezogen, weil ihrer Forderung nach sofortiger Ab-
Dr. Uschi Eid (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau stimmung nicht stattgegeben wurde.
Präsidentin! Der Außenminister hat einige Konflikte auf
dem afrikanischen Kontinent angesprochen. Viele davon Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
wurden auch im Detail besprochen. Aus aktuellem Anlass
Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
möchte ich aber einen Konflikt benennen, weil der Krieg
Homburger, Dr. Hermann Otto Solms, Hildebrecht
zwischen Eritrea und Äthiopien Gott sei Dank zu Ende
Braun (Augsburg), weiterer Abgeordneter und der
gegangen ist und die Verhandlungen in eine entschei-
Fraktion der F.D.P.
dende Phase eingetreten sind.
Ökosteuer zurücknehmen
Ich möchte gerne beiden Konfliktparteien etwas mit
auf den Weg geben: An Äthiopien möchte ich appellieren, – Drucksache 14/3519 –
nicht im militärischen Siege triumphalistisch den Nach- Überweisungsvorschlag:
barn klein zu machen. An die Eritreer möchte ich appellie- Finanzausschuss (f)
Rechtsausschuss
ren, nicht nur den Krieg als beendet anzusehen, sondern Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
auch der internationalen Öffentlichkeit klarzumachen, Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
welche demokratischen Schritte in der nächsten Zukunft Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
für dieses Land vorgesehen sind. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Vizepräsidentin Petra Bläss: Frau Kollegin Eid, Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
entschuldigen Sie, aber ich muss Sie darauf aufmerksam Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
machen, dass Kurzinterventionen nur zu Beiträgen ge-
stattet sind. Mir wurde angekündigt, dass Sie eine Kurz- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
intervention zu den Ausführungen des Kollegen Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
10878 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Vizepräsidentin Petra Bläss

(A) F.D.P. sechs Minuten erhalten soll. Sind Sie damit einver- wenn Sie selber für einen Steueranteil von 70 Prozent ver- (C)
standen? – Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so antwortlich sind? Das, was Sie machen, ist sozial unge-
beschlossen. recht. Gerade gering verdienende Arbeitnehmer, Rentner,
Pendler, Studenten, Auszubildende und Sozialhilfeemp-
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner für die fänger werden durch die Ökosteuer besonders geschröpft.
F.D.P.-Fraktion ist der Kollege Rainer Brüderle. Das ist Ihre Sozialpolitik.
(Detlev von Larcher [SPD]: Ihnen fällt nichts (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Neues ein! Geschlagene Schlachten schlagen
Sie!) Es ist schon ein starkes Stück, dass Sie dem Zwangs-
instrument Ökosteuer das Etikett sozialer Gerechtigkeit
aufkleben. Sie wissen, dass große Teile der Bevölkerung
Rainer Brüderle (F.D.P.): Hören Sie einmal genau zu, nicht von der bescheidenen Senkung der Rentenversi-
Herr von Larcher! Das tut Ihnen gut. cherungsbeiträge profitieren. Rentner, Auszubildende,
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) Arbeitslose, Freiberufler, Landwirte und Beamte müssen
die Mehrbelastung ungeschmälert tragen. Das ist die Ur-
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die sache, warum immer mehr Sozialdemokraten öffentlich
F.D.P. tritt für die Abschaffung der staatlichen Zwangsbe- die Anhebung der Kilometerpauschale oder gar das Aus-
glückungsmaßnahme Ökosteuer ein. teilen von Benzingutscheinen an Geringverdiener for-
(Beifall bei der F.D.P.) dern. Das ist die Konsequenz aus der falschen Maßnahme
Ökosteuer. Im Grunde ist das eine Distanzierung von der
Deshalb fordern wir heute die Bundesregierung auf: Neh- Ökosteuer.
men Sie die bisherigen Schritte der Ökosteuer zurück!
Sie sollten es schon ernst nehmen, dass ein so renom-
Verzichten Sie auf weitere Schritte! Ersetzen Sie gleich-
mierter Umweltexperte wie Ernst Ulrich von Weizsäcker
zeitig Ihr Abkassiermodell durch eine wirkliche ökologi-
für die Aussetzung der Ökosteuer plädiert. Spätestens da-
sche Steuerreform! mit sollte auch der letzte Genosse kapiert haben, dass et-
Wir zeigen Ihnen, wie es geht: Erstens. Schaffen Sie was falsch gemacht wird.
die Kraftfahrzeugsteuer ab! Legen Sie sie auf die Mine- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
ralölsteuer um! Zweitens. Wandeln Sie die Kilometerpau-
schale endlich in eine fahrzeugunabhängige Entfernungs- Ich meine jetzt nicht die PDS-Genossen.
pauschale um! Sie treiben mit einem gescheiterten Instru- Lediglich die Grünen halten aufgrund ideologischer
ment die Benzinpreise in die Höhe. Der Anteil, den die Scheuklappen voller Inbrunst an der Ökosteuer fest. Herr
Mineralölsteuer und die Mehrwertsteuer am Preis für ei- Schlauch und andere Grüne robben sich an das Auto (D)
(B) nen Liter Normalbenzin haben, liegt bei 70 Prozent. Die
heran. Die grüne Hauspostille, die „taz“, spricht davon,
staatliche Ökosteuer ist somit entscheidender Preistreiber. dass man „Gummi geben will“, dass man sich also in
Dank der Steuererhöhungen müssen die Autofahrer allein Richtung Auto bewegt, weil man merkt, dass man völlig
in diesem Jahr 4 Milliarden DM mehr für Kraftstoffe aus- falsch liegt. Wer die Rückführung der so genannten Öko-
geben. steuer als „dummes Zeug“ bezeichnet, wie Herr Kuhn, der
Ihre Ablenkungsmanöver bleiben zu durchsichtig. muss doch endlich einräumen, dass das Lieblingsprojekt
Kaum kündigen die Rohölproduzenten eine Erhöhung ih- gescheitert ist.
rer Fördermengen an, jubilieren Sie schon und weisen da- Ökologisch bringt die Ökosteuer nichts.
rauf hin, dass die Benzinpreise jetzt wieder sinken müss-
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten
ten, um von der Ökosteuer abzulenken und sie aus der
der CDU/CSU)
Diskussion herauszuhalten. Das ist ein plumper Versuch,
den schwarzen Peter weiterzureichen. Ich habe den Ein- Stattdessen belasten Sie nur und erzielen keine ökologi-
druck, Sie wollen sich permanent aus der Verantwortung schen Effekte. Eine ökologische Steuer müsste sich beim
stehlen. Erreichen des Ziels selbst aufheben. In diesem Falle hät-
ten Sie aber gar kein Geld für das Stopfen der Löcher im
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten Haushalt und für die Rentenkasse. Die Weigerung, die
der CDU/CSU – Detlev von Larcher [SPD]: Ökosteuer abzuschaffen, ist unglaublich arrogant, gerade
Plump sind Sie!) gegenüber gering verdienenden Arbeitnehmern.
– Wer dazwischenruft und -schreit, hat sowieso Unrecht, (Beifall bei der F.D.P. – Detlev von Larcher
Herr Kollege, weil er nicht in der Lage ist, kritische Ar- [SPD]: Das passt jetzt aber nicht zu
gumente zu ertragen. Sie richten sich damit selbst. sammen!)
Seien Sie doch wenigstens so ehrlich und sagen den Aber die haben Sie schon längst vergessen, auch bei Ihrer
Leuten, denen Sie das Geld aus der Tasche ziehen, dass Steuerreform. Sie machen lieber eine Politik für große
Sie einen hohen Benzinpreis politisch gewollt haben! Be- Konzerne und nicht mehr für kleine Leute. Das ist die Ver-
kennen Sie sich dazu, damit der berechtigte Zorn der änderung Ihrer Politik.
Menschen auch die trifft, die dafür die Verantwortung ha-
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten
ben.
der CDU/CSU – Detlev von Larcher [SPD]:
Wie wollen Sie den Rohölproduzenten erklären, dass Herr Brüderle, der Anwalt der Kleinen! Ich la-
der Preis, den sie für das Rohöl verlangen, zu hoch ist, che mich kaputt!)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10879
Rainer Brüderle

(A) Inzwischen treten Herr Trittin und andere Grüne öf- in diesem Haus diskutiert und für schlecht befunden (C)
fentlich dafür ein, nicht mehr für die Rente zu rasen. Wenn wurde, ist heute erneut Thema. Herr Brüderle, mich freut,
weniger Auto gefahren würde, dann hätten Sie noch we- dass ich Ihnen heute wieder antworten darf; denn ich habe
niger Geld in der Kasse, um alternative Energien zu sub- bei Ihrer Rede festgestellt, dass Sie keine neuen Inhalte,
ventionieren. Das ist eine Bankrotterklärung der Grünen sondern nur andere Worte gefunden haben. Von daher darf
selbst. Man erkennt, dass es sich um eine Fehlkonstruk- ich Ihnen deutlich sagen: Anträge werden durch Wieder-
tion handelt und dass das Konzept von A bis Z nicht funk- holungen nicht besser und dieser Antrag ist immer noch
tioniert. schlecht.
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Sie treten auf die Innovationsbremse. DIE GRÜNEN)

(Lachen bei Abgeordneten der SPD – Monika Dieser Antrag ist deswegen schlecht, weil er weder ge-
Ganseforth [SPD]: Das ist ja peinlich, was Sie wichtige Argumente gegen die Ökosteuer anführt noch in
hier von sich geben!) seiner Verknüpfung von Benzinpreissteigerung und
Ökosteuer korrekt ist. Ich meine, die F.D.P. greift dieses
Indem Sie den Menschen das Geld durch höhere Benzin- Thema vielmehr deswegen auf, um die Hoheit über die
preise wegnehmen, kommt es eben nicht zu einer schnel- Stammtische zu erringen. Das wird Ihnen vielleicht kurz-
leren Erneuerung der Fahrzeugflotte. Auch die Erfahrun- fristig gelingen; aber mittelfristig werden Sie damit
gen aus den Ölkrisen von 1973 und 1980 zeigen, dass ge- Schiffbruch erleiden.
nau das Gegenteil erreicht wird.
Es ist inzwischen beinahe unerträglich, immer wieder
(Detlev von Larcher [SPD]: Ach du liebe die gleichen Aussagen nicht nur von der F.D.P., sondern
Zeit!) auch von der CDU zu hören. Ich will Ihnen sehr deutlich
Viele – gerade Geringverdiener – sind darauf angewie- sagen, dass diese Aussagen – ich habe es gerade schon er-
sen, weiter ihre alte Schleuder zu fahren, weil Sie ihnen wähnt – in der Sache unrichtig sind. Ich will Ihnen – diese
das Geld für ein neues Fahrzeug durch die Ökosteuer aus Sicht ist mir auch aus der Bevölkerung heraus angetragen
der Tasche ziehen. Sie sollten sich hier dazu bekennen und worden – die Ursachen für die Preisentwicklung beim
nicht darum herumreden. Mineralöl nennen.
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Es ist richtig, dass die Ökosteuer einen Teil der höhe-
ren Benzinpreise verursacht. Sie unterschlagen aber, dass
Was ist denn das Wort des Kanzlers wert, bei diesen Preiserhöhungen auch die Abschläge beim
(B) (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Nichts!) Wechselkurs des Euros eine Rolle spielen; Sie unter- (D)
schlagen, dass die Mineralölsteuer auch von anderen
der vor der Wahl erklärt hat: einmal 6 Pfennig Mineralöl- Faktoren abhängig ist. So hat zum Beispiel das „Handels-
steuer, dann Schluss? Das gilt alles nicht mehr, weil die- blatt“ geschrieben, dass
ses falsch konstruierte Konzept der Ökosteuer offenbar
der Kick ist, der die rot-grüne Koalition zusammenhält. ein schwacher Euro, eine jährliche Ökosteuer von
Man handelt partout gegen klaren Sachverstand. Wenigs- 6 Pfennig und eine starke Nachfrage in den USA und
tens die Sozialdemokraten sollten sich in dieser Frage von Asien den Kraftstoff so teuer gemacht
den grünen Ideologen befreien und auch auf die Stimmen haben. Auch die folgende Aussage des „Handelsblattes“
ihrer Ministerpräsidenten hören, ist gültig, Herr Brüderle:
(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ Doch wer bleibt schon kühl, wenn’s ums Auto geht
DIE GRÜNEN]: Und auf Herrn Möllemann zu- ... die Oppositionsparteien ...
gehen! Das wollten Sie doch sagen!)
– damit sind Sie gemeint –
die sagen, dass man das Projekt so nicht fortführen kann.
Sie zahlen den Preis dafür, dass Sie mit solchen Leuten wettern gegen SPD und Grüne. Deren Ökosteuer sei
eine Koalition machen. schuld an den hohen Preisen...
Vielen Dank. Lassen Sie sich dies mit auf den Weg geben: Die Öko-
steuer ist im letzten Jahr und in diesem Jahr jeweils um
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – 6 Pfennig pro Jahr, also insgesamt um 12 Pfennig erhöht
Detlev von Larcher [SPD]: Jetzt hat der die worden. Dieses führte dann automatisch zu einem Anstieg
Katze aus dem Sack gelassen! Das war ein Ko- auch der Mehrwertsteuer um 2 Pfennig. Ihr Anteil an der
alitionsangebot!) gesamten Benzinpreiserhöhung beträgt insgesamt nur
10 Prozent. Sie aber stellen sich hier hin und tun so, als
Vizepräsidentin Petra Bläss: Das Wort für die SPD- wenn die Ökosteuer den Benzinpreis insgesamt nach oben
Fraktion hat der Kollege Wolfgang Grotthaus. getrieben hätte. Dies ist falsch und deswegen unlauter.
(Beifall des Abg. Albert Schmidt [Hitzhofen]
Wolfgang Grotthaus (SPD): Frau Präsidentin! [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Detlev von
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Antrag der Larcher [SPD]: Haben Sie da zugehört, Herr
F.D.P., der bereits in der Aktuellen Stunde am 7. Juni 2000 Brüderle? Haben Sie das gehört?)
10880 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Wolfgang Grotthaus

(A) Irgendwie bin ich davon überzeugt, dass Ihnen diese beitsmarkt auf. Ich gehe davon aus, dass Sie heute in den (C)
Zahlen nicht fremd sind. Eigentlich sollten Sie bei einer Nachrichten die Zahlen der Bundesanstalt für Arbeit
ernsthaften Analyse, Herr Brüderle, selbst zu diesen Er- gehört haben. Diese belegen das nämlich ganz aktuell:
kenntnissen gelangt sein. Insgesamt gibt es 3,47 Millionen Arbeitslose.
(Rainer Brüderle [F.D.P.]: Alles falsch!) (Peter Dreßen [SPD]: 3,74 Millionen!)
Doch Sie wollen sich dies nicht eingestehen, weil Sie gar – 3,74 Millionen. Herzlichen Dank. Mir ist hier ein Zah-
nicht – das ist auch aufgrund Ihres Beitrages heute fest- lendreher passiert. – Wir meinen, dass das immer noch zu
zuhalten – die sachliche Auseinandersetzung suchen, son- viele sind, aber dieser Wert ist der niedrigste seit 1995.
dern hier einfach nur Stimmung machen wollen.
(Peter Dreßen [SPD]: So ist es!)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Ich erinnere daran, worüber der Kollege Merz heute
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Morgen in der Steuerdebatte geredet hat. Er sprach davon,
Zurück zur Sache! Die Debatte, ob die Ökosteuer den dass er auf dem Arbeitsmarkt keine Veränderungen fest-
Namen „Öko“ verdient hat, ist eigentlich ausgiebig ge- stellen kann. Ich stelle fest: Das ist eine Aussage ohne
führt worden. Alle politischen Lager waren sich darüber Sachverstand. Auch hier hätte sich Ihr Kollege Merz sach-
einig, dass es noch ein weiter Weg hin zu einer echten verständig machen müssen.
Ökosteuer ist. Allerdings, so muss man festhalten, ist es
(Beifall bei der SPD)
durchaus ein erster Schritt, das ökologische Verhalten der
Bürgerinnen und Bürger zu stärken und einen spar- Langfristig, Herr Fromme, hat die Ökosteuer auch einen
sameren Umgang mit Energieträgern zu erreichen. Kriti- ökologischen Lenkungseffekt.
ker beklagen, dass die Einnahmen der Steuer nicht für rein
(Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Wenn sie 5 DM
ökologische Zwecke ausgegeben werden. Wir meinen,
beträgt!)
das wäre ein erstrebenswertes Ziel. Doch die heute hier
auftretenden Kritiker der Ökosteuer wollen dies gar nicht. Industrie und Verbraucher orientieren sich um. Neben ei-
Herr Brüderle, Ihr Kollege und unser früherer Kollege im nem verantwortungsvolleren Umgang mit nicht erneuer-
Bundestag, der Kollege Möllemann, will zum Beispiel die baren Ressourcen schaffen die Entwicklung und Produk-
Ökosteuer für Straßenbaumaßnahmen ausgeben. tion neuer Umwelttechnologien Arbeitsplätze und lassen
die deutsche Wirtschaft international gut dastehen.
(Zuruf von der F.D.P.: Das wäre genau die Al-
ternative!) Dies bestätigt auch eine Aussage des Rheinisch-Westfä-
lischen Instituts für Wirtschaftsforschung, wonach ein
(B) Ich bezweifle, ob dieses dann ökologisch so wertvoll ist, Aussetzen der Ökosteuer in den nächsten drei Jahren ins- (D)
wie Sie bzw. der Kollege Möllemann es darstellen.
gesamt 500 000 Arbeitsplätze gefährden würde. Auch hier
(Rainer Brüderle [F.D.P.]: Da müssen Sie mit stelle ich fest: Mehr und bessere Informationen Ihrerseits
Herrn Möllemann reden, Herr Kollege, nicht könnten Sie des Öfteren davor bewahren, unsinnige An-
mit mir!) träge zu stellen.
– Ich finde es Klasse, dass Sie hier Ihren Herrn (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Möllemann in aller Deutlichkeit verleugnen. DIE GRÜNEN)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) In der Aktuellen Stunde am 7. Juni haben wir Ihnen die
Aussagen der alten Regierungskoalition zur Ökosteuer
Insgeheim gehen Sie auf seine Vorschläge ein und wollen
ins Gedächtnis gerufen, insbesondere jene der Kollegin
gemeinsam mit dem Herrn Möllemann einen eigenen
Merkel und der Kollegen Schäuble und Repnik, die er-
Kanzlerkandidaten aufstellen. Das werden wir noch mit
klärt haben: Die klare politische Zielsetzung einer steti-
Interesse beobachten. Wir werden noch des Öfteren bei
gen Verteuerung des Umweltverbrauchs gibt Investoren
Ihrem Parteimitglied Möllemann den Finger auf die
die notwendige Orientierung für langfristige Projekte.
Wunde legen.
(Rainer Brüderle [F.D.P.]: Da brauchen Sie
Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Kollege
sich keine Sorgen machen!)
Grotthaus, kommen Sie bitte zum Schluss.
Die Bundesregierung hat sich als primäres Ziel die
Bekämpfung der Arbeitslosigkeit vorgenommen.
Wolfgang Grotthaus (SPD): Ich komme zum
(Rainer Brüderle [F.D.P.]: Deshalb Öko- Schluss. – Ich will diese Aussage noch ergänzen: Sie sorgt
steuer!) auch dafür, dass technologischer Fortschritt und Innova-
tion im Umweltbereich vorangetrieben werden. Heute
Ein wichtiger Aspekt sind die Lohnnebenkosten, die in
will die Opposition davon nichts mehr wissen. Sie fordert
der Bundesrepublik zu hoch liegen, weil sie während Ih-
die komplette Streichung der Ökosteuer, ohne darzustel-
rer Regierungszeit so stark gestiegen sind. Um hier eine
len, wie sie die von mir genannten Ziele dann erreichen
Veränderung zu erreichen, verwendet die Bundesregie-
will.
rung die Erträge aus der Ökosteuer zur Senkung der Ren-
tenversicherungsbeiträge und reduziert so die Lohnne- Ich sage Ihnen heute erneut – und damit zum dritten
benkosten. Als Folge treten positive Effekte auf dem Ar- Mal –: Die Ökosteuer bleibt. Sie erfüllt langfristig den
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10881
Wolfgang Grotthaus

(A) Zweck, Arbeit und Umwelt gleichrangig zu bewerten. Wir Heinz Seiffert (CDU/CSU): Lassen Sie mich diesen (C)
sind mit der Einführung der Ökosteuer angetreten, dieses Gedanken noch zu Ende führen. Sie gehen davon aus,
Ziel zu erreichen. dass es einen Erhöhungsspielraum von 35 Pfennig gibt.
Jetzt wundern Sie sich, wenn der Markt nicht auf den Staat
Herzlichen Dank. wartet, wenn also andere versuchen, schneller diesen
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Spielraum auszuschöpfen.
DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Kollege Dreßen,
Vizepräsidentin Petra Bläss: Nächster Redner ist bitte Ihre Zwischenfrage.
der Kollege Heinz Seiffert für die CDU/CSU-Fraktion.
Peter Dreßen (SPD): Kollege Seiffert, nachdem Sie
Heinz Seiffert (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine schon mehrmals diese Mär wiederholt haben, möchte ich
sehr verehrten Damen und Herren! Die Menschen in Sie fragen: Können Sie mir einmal sagen, wie die
Deutschland bewegt derzeit nichts mehr als die explodie- CDU/CSU die Rente in Ordnung gebracht hätte? Wir wis-
renden Preise für Benzin und Heizöl. sen ja, dass wir im Rentenbereich Fremdleistungen in
Milliardenhöhe hatten.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. –
Zuruf von der SPD: Doch, Fußball!) (Manfred Grund [CDU/CSU]: Das ist doch
völliger Quatsch!)
Längst reicht ein 100-Mark-Schein für eine Tankfüllung
Nach Durchsetzung Ihrer Vorstellung wären die Beiträge
nicht mehr aus. Viele Mieter werden demnächst aus allen
auf 22 oder 23 Prozent angestiegen und hätten damit die
Wolken fallen, wenn sie ihre Nebenkostenabrechnung be-
Lohnnebenkosten erhöht. Das konterkariert die Aussage
kommen. Die Menschen in unserem Land sind sauer, weil
von Herrn Merz, die Lohnnebenkosten zu senken. Sagen
sie spüren, dass sie abkassiert werden.
Sie mir bitte: Wie hätten Sie ohne die Ökosteuer die Rente
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) in Ordnung gebracht und die Fremdleistungen steuerfi-
nanziert?
Herr Kollege Grotthaus, wenn Sie sagen, es gehe uns
nur um die Lufthoheit über den Stammtischen, dann muss (Manfred Grund [CDU/CSU]: Die Rente war
ich Sie fragen: Wie weit sind Sie eigentlich von den Pro- in Ordnung!)
blemen der Menschen weg, seit Sie seit anderthalb Jahren
(B) regieren? Heinz Seiffert (CDU/CSU): Herr Kollege Dreßen, ich (D)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – frage zurück: Was hat die Ökosteuer im Ernst mit der
Detlev von Larcher [SPD]: Aber Herr Seiffert! Rente zu tun?
Erzählen Sie lieber einmal, warum das Kerosin (Beifall bei der CDU/CSU)
teurer geworden ist!)
Ich sage es Ihnen: Rein gar nichts. Wir haben eine Ren-
Natürlich wissen auch wir, dass es nicht allein die Öko- tenreform durchgeführt, die Sie ohne jegliche Not
steuer ist, die für die hohen Spritpreise verantwortlich ist. zurückgenommen haben.
(Peter Dreßen [SPD]: Das ist eine Einsicht!) (Manfred Grund [CDU/CSU]: Richtig!)
Hinzu kommt die Außenwirkung des Euro, die etwas Jetzt müssen Sie Maßnahmen treffen, die für die alten
schwächer ist als erwartet. Menschen sehr viel schlimmere Folgen haben. Das ist die
Wahrheit. Mit der Ökosteuer hat das Ganze nichts zu tun.
(Wolfgang Grotthaus [SPD]: Sehr gut!) Daraus wird deutlich, dass Sie nur abkassieren wollen.
Dazu zählen die gedrosselten Ölfördermengen und die da- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. –
durch gestiegenen Preise. Klar ist aber: Die Initialzün- Peter Dreßen [SPD]: Sie haben doch die Arbei-
dung für diese Preistreiberei an den Tankstellen geht auf ter und Angestellten abgezockt!)
Sie zurück. Das hat die rot-grüne Regierung mit ihrer so
genannten Ökosteuer zu verantworten. Wir haben es bei jeder Gelegenheit prophezeit: Sie tref-
fen mit der Ökosteuer besonders die Menschen – das sa-
(Widerspruch bei der SPD – Zuruf von der gen wir Ihnen noch oft, auch wenn es Ihnen wehtut –, die
CDU/CSU: Fünf Mark ist doch die Zielstel- es sich am wenigsten leisten können.
lung, die ihr ausgegeben habt!)
(Detlev von Larcher [SPD]: Das müssen Sie
Sie haben mit Ihrem Stufenplan für die nächsten fünf Herrn Schäuble und Herrn Merz sagen!)
Jahre gezeigt, dass Sie einen Erhöhungsspielraum von
Diese Ökosteuer wird keine ökologische Lenkungsfunk-
35 Pfennig bei den Spritpreisen sehen.
tion entwickeln und sie wird ganze Branchen in ihrer
Existenz gefährden. Diese Entwicklung haben wir kom-
Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Kollege Seiffert, men sehen. Wir haben es Ihnen gesagt und Sie haben es
gestatten Sie eine Zwischenfrage? nicht zur Kenntnis genommen.
10882 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Heinz Seiffert

(A) Auch die Tourismusbranche wird dies spüren. Die All die hehren Ziele, die Sie vorgegaukelt haben, wa- (C)
Menschen werden weniger mit dem Fahrzeug, mit ihrem ren Nebelkerzen. Die Ökosteuer dient in Wirklichkeit nur
PKW, Urlaub in Deutschland machen – das gilt auch für einem: der Geldbeschaffung.
die Busreisen – und es wird alsbald die Tatsache zu be-
(Reinhard Schultz [Everswinkel] [SPD]: Das
klagen sein, dass die Gastronomie einen Rückgang ver-
haben Steuern so an sich!)
spürt.
Nach Angaben des Mineralölverbandes stiegen die
(Zuruf von der SPD: In Frankreich zahlen die Steuereinnahmen im Jahr 1999 bei Benzin um knapp
doch 15 Pfennig mehr pro Liter!) 5 Prozent, bei Diesel sogar um 12,5 Prozent. Da habe ich
Auch die Bahn mit ihren gestiegenen Preisen ist da leider auch Verständnis dafür, wenn die Mineralölwirtschaft
keine reizvolle Alternative. heute klagt, dass sie nicht mehr in erster Linie Mineralöl-
händler sei, sondern Steuereintreiber geworden sei.
(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Die Bahn hat ihre Preise in Meine Damen und Herren, werfen wir einen Blick auf
diesem Jahr überhaupt nicht erhöht! Das ist das die Wirtschaft in Deutschland. Diese ist geprägt von zahl-
erste Jahr seit langem, wo die Bahn die Preise reichen kleinen und mittleren Betrieben, die allesamt von
nicht erhöht hat!) der Ökosteuer betroffen und durch sie belastet sind. Für
das produzierende Gewerbe haben Sie einen reduzierten
Es ist bereits jetzt, nach der zweiten Stufe Ihrer Öko- Steuersatz und – mit viel bürokratischem Aufwand – auch
steuerreform, überdeutlich: Diese Erhöhung der Energie- eine Rückvergütungsmöglichkeit geschaffen.
preise entwickelt keinerlei Lenkungswirkung. Von dieser
Steuer geht keinerlei Anreiz zu Einsparungen von Energie (Detlev von Larcher [SPD]: Hätten wir das
aus. Das haben Sie vermutlich auch gar nicht gewollt. Der nicht machen sollen?)
Kollege Brüderle hat es gesagt: Sie brauchen ja das Geld. Der ganze Mittelstand aber, Handel, Handwerk, Ver-
(Detlev von Larcher [SPD]: Sie wissen es kehrs- und Dienstleistungsunternehmen gehen leer aus.
doch besser!) Diese Betriebe haben doch gar keine andere Wahl, als die
Mehrkosten über die Preise weiterzugeben, und das
Die Autofahrer zahlen in den Jahren 1999 bis 2003 zu- schlägt sich in der gestiegenen Inflationsrate nieder.
sätzlich 68,5 Milliarden DM Mineralöl- und Mehrwert-
steuer. Dies führt kaum zu einer weiteren Senkung der Oder es wird Personal eingespart. Es sind doch keine
Rentenbeiträge und von diesen Mitteln geht keine Mark Märchen, wenn die Kraftfahrzeuggewerbebetriebe – ein
in zusätzliche Investitionen bei den Verkehrsanlagen. Das Eckpfeiler unserer Wirtschaft – beklagen, dass sie 60 000
(B) ist besonders zu beklagen. Sie stopfen mit diesem Geld bis 100 000 Arbeitsplätze abbauen müssen. Nehmen Sie (D)
nicht Löcher in den Straßen, sondern Sie stopfen damit eigentlich nicht zur Kenntnis, dass die Zulassungszahlen
Löcher in der Rentenkasse, die Sie selbst gerissen haben. für PKWs in Deutschland im ersten Quartal dieses Jahres
um 9 Prozent zurückgegangen sind? Die Ökosteuer hat
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) nach meiner festen Überzeugung dazu einen erheblichen
Die Ökosteuer ist das beste Beispiel für Ihre unausge- Beitrag geleistet.
wogene und unsoziale Politik; denn betroffen sind vor al- Dem öffentlichen Nahverkehr, der ja nach grünen
lem die sozial Schwächeren. Rentner, Sozialhilfeempfän- Idealvorstellungen eigentlich als Alternative zum Auto
ger, Arbeitslose, Studenten, kinderreiche Familien, insbe- gelten sollte, entstehen durch die insgesamt fünf Stufen
sondere die Menschen im ländlichen Raum sind die der Ökosteuer fast eine halbe Milliarde DM an zusätzli-
Leidtragenden der hohen Spritpreise. chen Kosten. Dazu sagt der Hauptgeschäftsführer des
(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Wir im Sau- deutschen Städte- und Gemeindebundes:
erland! – Wolfgang Grotthaus [SPD]: Denen Natürlich wird das über die Preise abgewälzt. Wer
Sie früher etwas weggenommen haben!) soll es denn sonst bezahlen?
Sie können nicht auf den ÖPNV ausweichen und profitie- Die Auswirkungen der Ökosteuer machen auch dem
ren oft auch nicht von der Absenkung der Rentenbeiträge. deutschen Güterkraftverkehrsgewerbe schwer zu
(Detlev von Larcher [SPD]: Sie wollen denen schaffen. Den im harten Wettbewerb innerhalb der EU
das Kilometergeld wegnehmen!) stehenden deutschen „Brummis“ haben Sie zusätzliche
Lasten aufgebürdet, die bei vielen kleinen und mittleren
Sie haben immer angekündigt, dass mit Ihrer Öko- Betrieben echt an die Existenz gehen. Viele Speditionen
steuer der Ausbau der erneuerbaren Energien gefördert leben derzeit nur noch von der Substanz, viele Arbeits-
werden solle. In der Realität sieht es aber leider so aus, plätze sind in Gefahr. Das kann Ihnen doch nicht egal
dass erneuerbare Energien, insbesondere der Solarstrom, sein! Der Verband des Güterkraftverkehrsgewerbes hat
voll besteuert werden, aber andere, begrenzt verfügbare doch nicht aus Lust und Tollerei eine Klage beim Bun-
Energieträger, die unsere Umwelt belasten, von der Öko- desverfassungsgericht eingereicht. Das ist doch ein Hilfe-
steuer ausgenommen werden. Also, wer das logisch fin- schrei dieser Unternehmen.
det, muss mir das einmal erklären.
Besonders die neuen Bundesländer sind von der Öko-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- steuer betroffen. Den dortigen Betrieben geht es vielfach
wie des Abg. Rainer Brüderle [F.D.P.]) wirtschaftlich schlechter als denen in den alten Ländern,
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10883
Heinz Seiffert

(A) und die Strompreise sind dort ohnehin schon höher als im schon jetzt gebeutelten Autofahrer, besonders im ländli- (C)
Westen, ganz zu schweigen von den östlichen Nachbar- chen Raum, zu bedenken. Es ist auch zu beachten, dass
ländern. Sie belasten mit der Ökosteuer die Konkurrenz- wir dann aus der Mineralölsteuer eine weitere Ge-
fähigkeit der jungen Betriebe im Osten. Ist das Ihr Bei- meinschaftssteuer machen würden. Das halte ich nicht für
trag zum Aufbau Ost? erstrebenswert.
(Detlev von Larcher [SPD]: Herr Seiffert!) Wir sehen also keine Veranlassung, in diesem Punkt
jetzt aktiv zu werden. Deshalb können wir die Ziffer 2 des
– Ja, Herr von Larcher, das sind die praktischen Auswir-
F.D.P.-Antrags nicht mittragen.
kungen. Das muss man Ihnen sagen, da Sie sich nicht da-
rum kümmern. Wir legen unser Hauptaugenmerk weiterhin auf die
Ökosteuer. Die muss weg. Versenken Sie die Ökosteuer
(Detlev von Larcher [SPD]: Ach was, hören
im Sommerloch, rückwirkend und erst recht für die Zu-
Sie doch auf! Das ist ein Schmarren!)
kunft.
Auch die Finanzsituation der Kommunen ist durch die
Vielen Dank.
Ökosteuer belastet. Die höheren Strompreise in Kinder-
gärten, Schulen, Sporthallen und Schwimmbädern stei- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
gern die Kosten in diesen öffentlichen Einrichtungen.
Noch ein Wort zur Landwirtschaft. Viele Arbeits- Vizepräsidentin Petra Bläss: Nächster Redner ist
plätze können in diesem Bereich nicht mehr verloren ge- der Herr Kollege Reinhard Loske, Fraktion Bündnis 90/
hen. Doch der Strukturwandel wird durch die Ökosteuer Die Grünen.
ebenso wie durch das Steuerbelastungsgesetz und die
Agenda 2000 weiter beschleunigt. In Süddeutschland
Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
schließen zurzeit täglich zwölf Milchviehbetriebe.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
(Detlev von Larcher [SPD]: Sprechen Sie mal will heute nicht darüber reden, dass auch die CDU/CSU
mit Herrn Jagoda!) und die F.D.P. früher einmal für die ökologische Steuerre-
form waren;
Im Moment haben sie noch Pächter für ihre aufgegebenen
Flächen. Aber wenn die Entwicklung so fortschreitet, ha- (Ina Albowitz [F.D.P.]: Das sind wir noch im-
ben sie diese bald nicht mehr, weil dann auch die größe- mer, Herr Loske!)
ren Betriebe nichts mehr verdienen. Was machen Sie dann
ich will auch nicht Herrn Repnik, Herrn Schäuble, Frau
mit der viel gepriesenen Kulturlandschaft? Wollen Sie
Merkel und Herrn Töpfer zitieren. Ich will ebenso nicht
(B) dann staatliche Landschaftspfleger einstellen? Wir brau- darüber reden, dass die Mineralölsteuer in den 90er-Jah- (D)
chen doch die Landwirtschaft!
ren um 50 Pfennig angestiegen ist,
(Detlev von Larcher [SPD]: Deshalb tun wir ja
(Zuruf von der CDU/CSU: Für die Bahnre-
auch etwas für die Landwirtschaft!)
form! Das war wirklich ökologisch!)
Es gibt also unendlich viele gute Gründe, die Öko-
dass gleichzeitig die Rentenversicherungsbeiträge ange-
steuer sofort abzuschaffen.
stiegen sind und dass im letzten Jahr Ihrer Regierung so-
(Detlev von Larcher [SPD]: Nein!) gar die Mehrwertsteuer erhöht werden musste, damit die
Rentenversicherungsbeiträge stabil bleiben konnten. Da-
Erste Zweifel an der Richtigkeit des beschrittenen Wegs
rüber möchte ich nicht reden,
hat man, wie ich höre, sowohl in der SPD als auch bei den
Grünen. Vielleicht wird uns Herr Kollege Loske nachher (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
noch näher erläutern, wie er entsprechende Äußerungen sowie bei Abgeordneten der SPD)
am 30. März 2000 gemeint hat.
und zwar deshalb nicht, weil ich glaube, dass diese immer
Die Ökosteuer ist unsozial, sie nutzt der Umwelt nicht, gleiche Leier die politische Kultur in diesem Lande ver-
sie ist wirtschaftsfeindlich; deshalb ist sie unsinnig. Aus dirbt und die Politikverdrossenheit bei den Menschen er-
diesem Grunde muss sie weg. Insofern unterstützen wir höht.
mit Nachdruck den Antrag der F.D.P.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
Falsch wäre nach unserer Überzeugung allerdings, SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)
jetzt – wie dies auch im F.D.P.-Antrag gefordert wird – die
Ich möchte stattdessen über den vorliegenden Antrag
Kfz-Steuer abzuschaffen und auf die Mineralölsteuer
der F.D.P. sprechen, Herr Brüderle. Der Antrag enthält
umzulegen. Damit würden Sie nur von dem rot-grünen
drei Punkte: Ökosteuer zurücknehmen, Kfz-Steuer ab-
Ökosteuerunsinn ablenken.
schaffen und umlegen und Kilometerpauschale umwan-
(Detlev von Larcher [SPD]: Sehen Sie, Herr deln – wobei Sie sich ein bisschen vor der Frage drücken,
Brüderle!) wo denn die Freigrenzen liegen sollen usw.
Herr Brüderle, im Gesetzblatt vom 18. April 1997 Ich möchte zu dem ersten Punkt kommen, zur Ab-
steht, dass wir nach fünf Jahren, also 2002, prüfen wollen, schaffung der ökologischen Steuerreform. Dazu möch-
ob eine solche Umlage sinnvoll wäre. Dabei sind aller- te ich die ersten beiden Sätze aus der Begründung Ihres
dings die Auswirkungen einer solchen Maßnahme für die Antrags vorlesen. Sie lauten:
10884 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Dr. Reinhard Loske

(A) Die Steuererhöhungen im Rahmen der so genannten den – für eine deutliche Anhebung der Ökosteuer und für (C)
ökologischen Steuerreform haben keine ökologi- deren kontinuierliche Weiterentwicklung. Zitat: „Andern-
schen Wirkungen erzielt. Der Benzinverbrauch falls sind die Gefahren durch zukünftige Naturkatastro-
steigt weiter an. phen nicht mehr versicherbar.“
Dem will ich ein paar Fakten entgegenhalten: Erstes Bei- Ich weiß nicht, wie Sie auf die Idee kommen, dass
spiel: Shell meldet für Januar bis April dieses Jahres – das all das nichts bringen würde. Die Realität ist anders. Sie
ist erst vor wenigen Tagen veröffentlicht worden – im Ver- haben keine Verbündeten mehr. Deswegen sprechen
gleich zum Vorjahr einen Rückgang des Benzinabsatzes Sie, Herr Brüderle, nur noch sehr allgemein. Bei Ihrem
um 4,5 Prozent. Das heißt, hier besteht eine Lenkungs- Stammtischniveau glaubt Ihnen das sowieso keiner mehr.
wirkung.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zweites Beispiel: Bei allen Automobilkonzernen, und sowie bei Abgeordneten der SPD)
zwar durchweg, gibt es die Tendenz zum Sparauto. Das ist
eine sehr löbliche Aktivität. Warum sollen wir hier in Deutschland – das ist mein
letzter Punkt zur Abschaffung der Ökosteuer; übrigens
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sind wir in Europa immer noch auf Platz neun; das will ich
und bei der SPD) Ihnen vor Augen halten – mit dem Erfolgsmodell der
Ich will einmal darstellen, wie man das bei Daimler- ökologischen Steuerreform aufhören, wenn andere, wie
Chrysler sieht. Der Umweltbevollmächtigte Werner Frankreich, Großbritannien und Italien, in die gleiche
Pollmann hat gemäß „FAZ“ vom 13. Juni dieses Jahres Richtung marschieren? Sie wollen Deutschland in die
Folgendes gesagt: Er sei erstens kein Feind der Ökosteuer. umweltpolitische Eiszeit zurückschießen.
Man könne damit leben. Die öffentliche Diskussion halte (Peter Dreßen [SPD]: Steinzeit!)
er zweitens für sehr populistisch. Drittens und letztens
könnten – jetzt passen Sie gut auf – hohe Kosten für Treib- Da wollen wir nicht hin. Da müssen Sie allein hingehen.
stoffe eine Quelle für Innovationen sein. Die deutschen Das schaffen Sie aber nicht.
Hersteller arbeiteten daran, den Benzinverbrauch weiter (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zu drücken. – Es gibt also eine ganz klare Tendenz zu sowie bei Abgeordneten der SPD)
Energiesparautos.
Zur Umwandlung der Kfz-Steuer. Es gibt Gründe
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- dafür, die Kfz-Steuer auf die Mineralölsteuer umzulegen.
wie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Gregor Es gibt aber auch Gründe dagegen. Zwei möchte ich nen-
Gysi [PDS]: Was kostet denn ein solches Auto nen: Der erste Grund ist der, dass man bei der Kfz-Steuer
(B) für normale Leute?) soziale Differenzierungsmöglichkeiten vornehmen kann, (D)
Drittes Beispiel – auch das fand ich sehr interessant –: dass zum Beispiel Behinderte auch in Zukunft von der
Wenn die These richtig wäre, dass nichts passiert, wie Kfz-Steuer befreit werden können. Das wäre bei einer
kann es dann zu einer Meldung wie der vom 28. Juni die- Umlegung der Kfz-Steuer auf die Mineralölsteuer nicht
ses Jahres mit der Überschrift „ADAC will Autofahrern möglich. – Das ist ein Grund, der dafür spricht.
Benzinsparen beibringen – Spritsparschule in München Ein zweiter Grund, der dafür spricht: Wir können die
eröffnet“ kommen? Landauf, landab sprießen solche Kfz-Steuer durch eine ökologisch orientierte Spreizung,
Fahrschulen aus dem Boden. Die zeigen nämlich, wie indem wir sie nämlich am CO2-Ausstoß bzw. am Benzin-
man durch eine angepasste Fahrweise bis zu 25 Prozent verbrauch orientieren, auch so einsetzen, dass bestimmte
des Spritverbrauchs einsparen kann. Innovationen stimuliert werden bzw. Sparautos schneller
(Widerspruch bei der F.D.P.) auf den Markt kommen.
Beispielsweise die Heidelberger Firma Eco-Consult – (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Das haben wir
auch das ist der Presse zu entnehmen – hat 210 Beamte gemacht!)
der Bereitschaftspolizei Biberach im ökologischen Fahr- Immerhin ist der Antrag der F.D.P. insofern ein Fort-
stil trainiert. Das Ergebnis ist ein 20-prozentiger Rück- schritt, als nicht zum wiederholten Male der Ladenhüter
gang des Verbrauchs. Genau das sind die Entwicklungen, der F.D.P., man wolle einen dritten Mehrwertsteuersatz
die wir haben wollen. auf Energie einführen, herausgeholt wird. Nach soundso
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vielen Jahren hat auch die F.D.P. kapiert, dass solche na-
und bei der SPD – Albert Schmidt [Hitzhofen] tionalen Alleingänge, die wir nicht vorhaben, nichts brin-
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jawohl! Das gen und von der EU-Kommission nicht akzeptiert wür-
sind Innovationen!) den.
Vierter und letzter Punkt inhaltlicher Natur, den ich an- Danke schön.
führen möchte: Vor wenigen Wochen war in der „Berliner
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zeitung“ zu lesen, die Münchener Rückversicherung –
und bei der SPD)
wahrlich kein unbedeutendes Unternehmen – plädiere
aufgrund der wachsenden Schäden durch Naturkatastro-
phen, durch Klimawandel und anderes – 1999 sei welt- Vizepräsidentin Petra Bläss: Für die PDS-Fraktion
weit ein Schaden von über 100 Milliarden Dollar entstan- spricht jetzt der Kollege Dr. Gregor Gysi.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10885

(A) Dr. Gregor Gysi (PDS): Frau Präsidentin! Liebe Kol- Dadurch ist klar, dass die ökologische Wirkung gegen (C)
leginnen und Kollegen! Ich habe eine Redezeit von drei Null tendiert.
Minuten. Das ermöglicht es mir, das Problem in seiner ge- (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten
samten philosophischen, religiösen, juristischen, ökono- der CDU/CSU und der F.D.P.)
mischen, ökologischen, sozialen, sozial-kulturellen und
nicht zuletzt politisch-ideologischen Tiefe zu ergründen. Sie können den anderen Firmen auch nicht erklären,
warum diese den vollen Preis zahlen müssen. Damit ver-
(Heiterkeit und Beifall bei der PDS, der SPD wischen Sie auch Marktgesetze.
und beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
bei Abgeordneten der CDU/CSU) Der dritte Punkt ist, dass die sozial Schwächeren sowie
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch die ge-
Ich will Ihnen deshalb sagen: Das Auto ist weder eine samte Ökosteuer ganz deutlich zur Kasse gebeten werden.
Schöpfung Gottes noch eine Erfindung des Satans.
(Widerspruch bei der SPD)
(Manfred Grund [CDU/CSU]: Auch Schlauch
hat es nicht erfunden!) Wenn Sie hier immer große Reden halten, wie Sie ihnen
mit irgendwelchen Steuergesetzen entgegenkommen, ih-
Wir müssen einfach versuchen, mit der berühmten Kirche nen das Geld hier aber wieder wegnehmen, dann sind
im Dorf zu bleiben. Deshalb betone ich: Die Ökosteuer, diese Reden zumindest hinsichtlich der sozialen Gerech-
so wie sie angelegt ist, ist falsch. Sie können über die be- tigkeit nichts wert. Ich sage Ihnen das ganz deutlich.
stehenden Probleme auch mit entsprechenden Reden
(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten
nicht hinwegtäuschen.
der CDU/CSU und der F.D.P.)
(Beifall bei der PDS, der CDU/CSU und der Sie dürfen doch nicht nur an die Energiesteuer im en-
F.D.P. – Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜND- geren Sinne und an die Mineralölsteuer denken. Sie müs-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Brüderle und Gysi sen auch einmal an die Heizkosten denken. In meine
Arm in Arm!) Sprechstunde kommen Bürgerinnen und Bürger, die mir
Das erste entscheidende Problem ist und bleibt: Sie nachweisen, dass sie aufgrund dieser Steuer jetzt 800 DM
verwenden die Einnahmen aus der Ökosteuer nicht für pro Jahr mehr zahlen.
den ökologischen Umbau. (Widerspruch bei der SPD und dem BÜND-
(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ NIS 90/DIE GRÜNEN – Detlev von Larcher
DIE GRÜNEN]: Sonst wäre es ja eine Steuer- [SPD]: Jetzt lügen Sie! – Albert Schmidt [Hitz-
(B) erhöhung!) hofen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt (D)
hört es aber auf!)
Sie bringen sich selber in Abhängigkeit, weil Sie damit et-
was Notwendiges finanzieren. Sie sind auf diese Finanzen – Ja, sie zahlen allein bei den Heizkosten 800 DM mehr.
so angewiesen, dass Sie gar nicht hoffen dürfen, dass die Wenn Sie dies nicht zur Kenntnis nehmen, ist es Ihr Pro-
blem. Aber das sind die Realitäten. Die müssen Sie sich
Ökosteuer je wirkt,
einmal anschauen.
(Zuruf von der CDU/CSU: Wo er Recht hat,
(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten
hat er Recht!)
der CDU/CSU und der F.D.P.)
weil Sie sonst gar nicht wüssten, woher Sie das Geld neh-
Jetzt komme ich zum Thema Auto. Dass das Auto ein
men sollten, um die Beiträge zur gesetzlichen Kranken- Problem ist, ist doch unbestritten. Ich sage Ihnen auch
versicherung stabil zu halten. ganz klar: Ja, wir brauchen eine ökologische Steuer. Denn
(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten Umweltverbrauch muss seinen Preis haben. Das ist ganz
der CDU/CSU und der F.D.P.) klar. Aber diese Steuer brauchen wir nicht. Deshalb stim-
men wir Punkt 1 des Antrages der F.D.P. zu. Wir müssen
Man muss das Geld so verwenden, dass man jedes Jahr diese Steuer hinsichtlich der Verwendung der Mittel und
weniger dafür verbraucht. Das heißt, dass man im ökolo- des sozialen Ausgleichs völlig anders anlegen.
gischen Umbau weiter ist.
(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten
Zweitens. Was die Energiesteuer betrifft, kommen Sie der F.D.P.)
aus der Ungerechtigkeit, dass das industrielle Gewerbe
gegenüber allen anderen Firmen deutlich bevorzugt wird, Ich sage Ihnen noch etwas zum Thema Auto. Darüber
nicht heraus. kann und muss man ja diskutieren. Das ist ganz klar, und
zwar nicht nur wegen der Schadstoffe, sondern auch we-
(V o r s i t z: Vizepräsidentin Anke Fuchs) gen der Staus etc. Nur frage ich Sie: Wo und wann haben
Ich frage Sie noch einmal: Wer, wenn nicht die Industrie, Sie je für eine Alternative gesorgt? Wie sieht es denn im
soll denn Energie sparen? öffentlichen Nah- und Fernverkehr aus?
(Beifall bei der PDS)
(Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das hat sie schon mehr getan als die klei- Gerade durch die Ökosteuer werden Bahn und Bus noch
nen Leute!) teurer. Gleichzeitig werden die Entfernungen zu den
10886 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Dr. Gregor Gysi

(A) Arbeitsplätzen immer weiter. So sieht die heutige Struk- einer Verknappung der Rohölproduktion und aufgrund ei- (C)
tur aus. Sie sagen den Menschen ja nicht, wie sie zu ihren ner Euro-Dollar-Parität, die Importe außerordentlich be-
Arbeitsplätzen kommen sollen. Wissen Sie, das Motto lastet,
lautet hier: erst laufen, dann noch frieren. Das ist einfach
(Rainer Brüderle [F.D.P.]: Sehr gefährlich!)
ein bisschen viel verlangt und so nicht machbar.
unsere Exporte dafür deutlich gefördert hat. Man kann
(Heiterkeit und Beifall bei der PDS, der
nicht beides – eine Import- und Exportförderung – haben,
CDU/CSU und der F.D.P.)
sondern das eine geht immer zulasten des anderen.
Deshalb sage ich Ihnen: Die Idee der Ökosteuer geht in
Der Anteil der Ökosteuer an den Benzinpreiserhöhun-
Ordnung. Aber diese Ökosteuer ist ein völliger Griff da-
gen – das ist eben schon dargelegt worden – macht nur ei-
neben, und zwar in jeder Hinsicht. Deshalb sollten Sie sie
nen kleinen Bruchteil aus. Aber wir haben zum Beispiel
lieber aufgeben und mit uns eine vernünftige Variante fin-
den, beim Strompreis ebenfalls eine Ökosteuerkomponente.
Aber in diesem Bereich sinken aufgrund der Marktent-
(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ wicklung die Preise. Das heißt, die Steuer beeinflusst im
DIE GRÜNEN]: Die nichts kostet!) Gegensatz zu Ihrer Aussage, Herr Kollege Seiffert, nicht
die wirklich ökologisch ist, aber auch sozial gerecht ist unbedingt die Preispolitik derjenigen, die die Energie lie-
und dazu führt, dass wir endlich einen öffentlichen Perso- fern. Dass es andere Faktoren gibt, wird gerade an diesem
nennah- und -fernverkehr bekommen, der eine Alterna- Beispiel offensichtlich.
tive zum Auto ist. Schauen wir uns die Benzinpreise in Deutschland an,
(Beifall bei der PDS) stellen wir fest, dass wir immer noch im oberen Mittelfeld
und nicht etwa ganz oben liegen, da die Benzinpreise aus
Aber man kann die Menschen nicht ohne Alternative vom den geschilderten Gründen auch in anderen Ländern stei-
Auto wegbringen. Das aber machen Sie. Gleichzeitig er- gen. Wenn sich also Ihr berühmter Urlauber mit seinem
zählen Sie ihnen, sie müssten bereit sein, 100 Kilometer Auto vom Allgäu abwendet und stattdessen nach Frank-
weit zu fahren, um einen Arbeitsplatz zu finden. reich fährt, zahlt er 10 Pfennig mehr für den Liter Sprit, in
Auch Punkt 2 des Antrages geht in Ordnung. Eine Ent- Dänemark sogar 20 Pfennig.
fernungspauschale ist viel besser als eine Kilometerpau- (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Der fliegt nach
schale. Mallorca!)
(Beifall bei der PDS) – Vielleicht fliegt er auch nach Mallorca; es sei ihm
(B) Stellen Sie sich einmal vor: Drei Leute, die in der gleichen gegönnt. – Aber im europäischen Ausland findet er keine (D)
Straße wohnen und 50 Kilometer zu ihren Arbeitsplätzen „Billigbenzinoasen“, die er anfahren könnte. In vielen
fahren, zwingen Sie dazu, dass alle drei getrennt mit Fällen ist das Benzin dort nach wie vor deutlich teurer als
ihrem eigenen Auto fahren, damit sie die Kilometerpau- bei uns, im Übrigen auch in Ländern ohne Ökosteuer.
schale erhalten. Bestünde jedoch eine Entfernungspau- Dass bei uns die Preise, auch wenn sie außerordentlich
schale, könnten sie sich wenigstens in nur ein Auto setzen. hoch sind, im Vergleich zum europäischen Ausland noch
Das würde schon deutlich Benzin sparen. Aber nicht ein- einigermaßen auf dem Teppich geblieben sind, liegt auch
mal dazu sind Sie bereit. Deshalb sage ich: Nein, mit die- daran, dass wir hier eine halbwegs vernünftige Wettbe-
ser Ökosteuer werden Sie niemals landen. werbsstruktur haben. Das Tankstellennetz verfügt – Sie
(Beifall bei der PDS, der CDU/CSU und der haben sich diesem Thema dankenswerter Weise bei ande-
F.D.P.) rer Gelegenheit zugewandt – dem Umsatzvolumen nach
über 20 Prozent freie Tankstellen. Dadurch wird ohne
Frage im Vergleich zu Frankreich, wo es nur ganz wenige
Vizepräsidentin Anke Fuchs: So wurden aus drei Kraftstoffanbieter gibt, die Preisgestaltung korrigiert.
Minuten viereinhalb Minuten.
Wenn jemand wie Sie, Herr Brüderle, sich jetzt zum
(Detlev von Larcher [SPD]: Das liegt an der wiederholten Male zum Schutzheiligen der Sozialhilfe-
geduldigen Präsidentin!) empfänger aufschwingt, die mit ihren Dreiliterautos be-
Jetzt hat der Kollege Reinhard Schultz, SPD-Fraktion, sonders unter den Spritpreisen zu leiden haben
das Wort. (Widerspruch des Abg. Rainer Brüderle
[F.D.P.])
Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD): Liebe Kol- – natürlich haben Sie das wiederholt getan –, dann muss
leginnen und Kollegen! Die Ökosteuer ist eigentlich für man einmal vergleichen, wie sich in Europa die Benzin-
jede zweite Sitzungswoche ein schönes Thema – keine preise zu den Arbeitslöhnen verhalten. Wie lange muss
Frage. Ich verstehe auch die Absicht, die damit verbunden ein Arbeitnehmer eigentlich arbeiten, um einen Liter Sprit
ist, dieses Thema in der Urlaubszeit zu besetzen. Das ist
bezahlen zu können? In Deutschland sind es gut fünf Mi-
aus Ihrer Sicht taktisch völlig in Ordnung, an der Sache
nuten, in Großbritannien 6,5 Minuten, in Italien acht Mi-
natürlich leider völlig vorbei.
nuten, in Griechenland mehr als neun Minuten und in Por-
Es kam ohne Frage zu erheblichen Benzinpreiser- tugal fast 15 Minuten. Obwohl die Preise völlig unter-
höhungen, und zwar aufgrund von Marktentwicklungen, schiedlich sind, zeigt sich deutlich, dass die Preise und die
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10887
Reinhard Schultz (Everswinkel)

(A) Einkommen in ein Verhältnis gesetzt werden müssen, Mit einem Anteil von ca. 40 Prozent am (C)
wenn man bewerten will, wie sich der Spritpreis auf das Primärenergieverbrauch in Deutschland nimmt das
soziale Gefüge auswirkt. Hier können wir uns mit einer Mineralöl eine Spitzenstellung ein. Die Entwick-
Arbeitszeit von fünf Minuten im Vergleich mit fast allen lung des Kraftstoffabsatzes ist daher auch in Zu-
europäischen Ländern gut sehen lassen. Das ist die ein- kunft von hervorragender Bedeutung. Trotz steigen-
zige Kenngröße, die unter sozialen Gesichtspunkten den Verkehrsaufkommens wird der Verbrauch von
zählt. Ottokraftstoff durch sparsame Fahrzeuge bis zum
Jahr 2010 um circa 18 Prozent ... sinken. Diesel-
(Beifall bei der SPD)
kraftstoff ... (zeitversetzt ebenso).
Wir haben die Ökosteuer bewusst so angelegt – dabei
Damit bestätigen Sie, dass es trotz mehr Mobilität Effekte
folgten wir im Übrigen einer Empfehlung der Europä-
gibt, durch die deutlich weniger Primärenergie, sprich:
ischen Kommission –, dass wir eine Umwidmung errei-
Mineralöl, verbraucht wird.
chen: weg von der überhohen Belastung des Faktors Ar-
beit hin zur Belastung des Naturverbrauchs, ausgedrückt (Beifall des Abg. Detlev von Larcher [SPD])
durch Energieverbrauch. Diese Rechnung ist nach wie vor
Ihr wissenschaftlicher Mitarbeiter hat das gut erkannt.
richtig. Ginge aufgrund dieses Mechanismus der Energie-
Sie in Ihrer Weinfestlaune, Herr Brüderle, haben das nicht
verbrauch konsequent zurück – hier gebe ich Ihnen völlig
gelesen. Das ist das Problem. Ich denke, Ihre eigenen Do-
Recht –, würde sich irgendwann der Effekt aufheben.
kumente sind das beste Zeugnis dafür, welche Wider-
Aber unsere Politik ist doch nicht, auf Dauer die Rente
sprüche in Ihren Reihen auszutragen sind.
über die Ökosteuer zu finanzieren. Vielmehr geht es da-
rum, bestimmte Verwerfungen aufgrund des demographi- Ich finde es nicht schlecht – ich schließe mich hier aus-
schen Altersaufbaus und aufgrund von Altlasten, die drücklich dem Kollegen Loske an –,
mit versicherungsfremden Leistungen zusammenhängen,
(Rainer Brüderle [F.D.P.]: Das ist überra-
zum Beispiel die Finanzierung von DDR-Renten oder von
schend!)
Renten der Menschen, die aus Russland gekommen sind
und hier nichts eingezahlt haben, aus Steuermitteln zu fi- wie sich der ADAC in letzter Zeit auf diese Diskussion
nanzieren. Das ist ein endliches Problem. Irgendwann einlässt.
wird der Bedarf an steuerfinanzierten Bestandteilen
zurückgehen, sodass die Ökosteuer für andere Aufgaben
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Denken Sie bitte auch
verwandt werden kann.
an Ihre Redezeit, Herr Kollege.
Der Shell-Konzern stellt dar, dass es in etwa 14, 15 Jah-
(B) ren einen riesigen Aha-Effekt geben wird, weil dann die Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD): Ja, Frau Prä- (D)
Mineralölvorräte der ganzen Welt zu mehr als der Hälfte
sidentin. Der ADAC setzt sich mit an die Spitze der Be-
verbraucht sein werden. Dann werden Sie einmal sehen,
wegung, die fordert, Benzin sparende Automobile, die
was wir für Preise haben werden. Wenn wir uns vorher
auch von den kleinen Leuten zu bezahlen sind, zu ent-
auch über die Steuerpolitik nicht darauf einstellen und da-
wickeln. Das ist eine wesentliche Forderung, die ich für
mit initiieren, dass Technologien entwickelt werden, die
richtig halte. Wenn man hier breite politische Lobbyarbeit
mit deutlich weniger Energie auskommen, dann werden
betriebe, statt dem Spritverbrauch das Wort zu reden, und
wir unser blaues Wunder erleben, was das Thema mo-
dafür sorgen würde, dass intelligente Technik für jeden
derne Volkswirtschaft angeht. Dann stolpern wir nämlich
verfügbar ist, dann hätte der ADAC eine Chance, eine
in eine Kostenfalle, aus der wir nicht herauskommen wer-
ökologisch ernst genommene Einrichtung zu werden, die
den.
auch vom politischen Umfeld mehr Unterstützung be-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ kommen könnte.
DIE GRÜNEN)
Ich bin fest davon überzeugt, dass uns, wenn wir uns in
Das ist der Sinn, deswegen unterstützen uns aufgeklärte wenigen Jahren wieder treffen und uns über das unterhal-
Konzerne bei unserer Politik eines geplanten sanften An- ten, was wir an Lenkungswirkungen, an sozialer Absiche-
stiegs. rung der Rente und an Entlastung des Faktors Arbeit er-
reicht haben, der Rückblick auf zehn Jahre Ökosteuer
Dass im Augenblick Abzockerei eine Rolle spielt, dass
Recht geben wird.
die Mineralölkonzerne, obwohl die Einstandspreise der
rohölproduzierenden Länder gesunken sind, noch einen Vielen Dank.
drauflegen, ist nun einmal unmittelbar vor der Ferienzeit
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
ein Mitnahmeeffekt, der sehr ärgerlich ist. Das Ganze hat
DIE GRÜNEN)
auch etwas mit der Wettbewerbspolitik der großen Ketten
gegenüber den kleinen freien Tankstellen zu tun. Dem ge-
hen wir nach, und das wird auch mit großer politischer Vizepräsidentin Anke Fuchs: Ich schließe die Aus-
Aufmerksamkeit verfolgt werden. sprache.
Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der
F.D.P., haben in Ihrer Kleinen Anfrage, die ich im Übri- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage
gen gut finde – die Antwort darauf ist vom 14. Juni –, fol- auf Drucksache 14/3519 an die in der Tagesordnung auf-
gende Eingangsbemerkung gemacht: geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
10888 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Vizepräsidentin Anke Fuchs

(A) einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei- gendhilferechts ihnen dabei behilflich zu sein, andere (C)
sung so beschlossen. Wege gehen zu lernen.
Dies ist etwas, was wir gemeinsam machen müssten,
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b auf:
was wir als Botschaft aus diesem Hause in die Welt
15. a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen schicken müssten, damit es die Menschen, die es immer
SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge- noch für richtig halten, dass man Kindern auch gelegent-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ächtung lich eine Ohrfeige oder gar eine Tracht Prügel verpasst,
der Gewalt in der Erziehung damit sie funktionieren, irgendwann nicht mehr gibt. Herr
– Drucksache 14/1247 – Pofalla, dies ist nicht Ihre Meinung; ich weiß das wohl.
Umso wichtiger wäre es gewesen, dass wir ein gemeinsa-
(Erste Beratung 49. Sitzung)
mes Ja zu diesem Gesetzentwurf aussprechen.
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss) (Christel Hanewinckel [SPD]: Das ist wahr!)
– Drucksache 14/3781 – Sie haben Bedenken. Sie hätten es lieber anders. Sie
Berichterstattung: hätten es lieber so, wie Sie es in der vergangenen Legis-
Abgeordnete Margot von Renesse laturperiode hätten haben können. Damals war das, was
Ronald Pofalla Sie jetzt akzeptieren würden, Inhalt unseres Beschluss-
Volker Beck (Köln) vorschlags.
Rainer Funke Es gibt noch einen Punkt, an dem eine Möglichkeit ver-
Sabine Jünger passt ist. Jetzt ist die Situation total anders.
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des (Peter Dreßen [SPD]: Wer zu spät kommt, den
Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, bestraft das Leben!)
Frauen und Jugend (13. Ausschuss) zu dem An-
trag der Abgeordneten Sabine Jünger, Rosel – Das ist genau das Richtige: Wer zu spät kommt, den be-
Neuhäuser, Christina Schenk, Dr. Gregor Gysi und straft leider das Leben.
der Fraktion der PDS Wir haben das Problem, dass wir diese Botschaft nicht
Ächtung der Gewalt in der Erziehung wir- an alle Eltern gleichermaßen richten können; nicht etwa,
kungsvoll flankieren dass sie ihren Kindern keine Grenzen setzen, nicht etwa,
– Drucksachen 14/2720, 14/3761 – dass sie strafbarer werden als strafbar. Dies war auch
(B) Berichterstattung: schon in der letzten Legislaturperiode nicht unser Ziel. (D)
Abgeordnete Rolf Stöckel Um die Strafbarkeit der Eltern ist es uns nie gegangen.
Ingrid Fischbach Dies sind Kanonen, die man auf Menschen richtet, die ei-
Irmingard Schewe-Gerigk gentlich Hilfe brauchen. Dies war nie unser Ziel. Strafba-
Klaus Haupt rer als strafbar geht es nicht. Insofern kann man hier wirk-
Christina Schenk lich sagen: Es geht nicht darum, dass die Familien mehr
mit der Staatsanwaltschaft oder dem Strafrecht konfron-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die tiert werden. Darin sind wir uns einig. Leider gibt es dazu
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich höre nicht das gemeinsame Ja. Es wäre schön gewesen.
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
In diesem Gesetzentwurf ist noch ein zweiter Punkt
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin enthalten, der zur Folge hat, dass wir dazu nicht gemein-
Margot von Renesse, SPD-Fraktion. sam Ja sagen können. Es wäre gut gewesen, wenn wir
gemeinsam an einem Unterhaltsrecht hätten arbeiten
Margot von Renesse (SPD): Frau Präsidentin! können, das dann so sein wird, wie es sein soll, wenn wir
Meine Damen und Herren! Vom liebsten Kind des Deut- dieses Flickwerk, diesen gordischen Knoten, diesen
schen, dem Auto, zum Kind. Es gibt eine gute und eine Scherbenhaufen von Unterhaltsrecht angehen, den wir
schlechte Nachricht. Die gute Nachricht: Heute werden heute nur mit einem ersten Schritt verändern können.
wir endlich das Züchtigungsrecht der Eltern ganz und gar (Beifall des Abg. Rainer Funke [F.D.P.])
aus dem Gesetz vertreiben und damit einem alten Anlie-
gen, das alle Kindschaftsrechtler schon seit langem vor- Denn das, was Sie uns hinterlassen haben, ist grauenhaft.
gebracht haben, entsprechen. (Beifall bei der SPD – Norbert Geis [CDU/
(Beifall bei der SPD) CSU]: Das kann man Ihnen ja gar nicht mehr
abnehmen! Sie wiederholen es ständig! Das ist
Es wäre schön, wenn wir das gemeinsam in diesem Ho- ja eine Gebetsmühle!)
hen Hause beschließen könnten; denn die Botschaft, die
davon ausgeht, ist nicht, dass wir nun mit Knüppeln auf – Herr Geis, kein Mensch, der eine Unterhaltsverpflich-
die Eltern einschlagen, die ihrerseits, oft in ihrer Not, kei- tung hat, kann mehr durch den Blick ins Gesetz et-
nen anderen Weg wissen, mit Kindern umzugehen, die ih- was über die schlichteste Verpflichtung erfahren, die ein
nen Schwierigkeiten machen, als mit Gewalt. Wir haben Mensch überhaupt hat, nämlich die Verantwortung ge-
stattdessen in der Tat vor, mit Mitteln des Kinder- und Ju- genüber seinem Kind. Wir haben inzwischen ein Hexen-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10889
Margot von Renesse

(A) einmaleins, das nur noch Fachleute durchschauen kön- (Margot von Renesse [SPD]: Im Unterhalts- (C)
nen. recht haben Sie keinen Blumentopf zu gewin-
nen!)
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie können es
nicht, das ist mir klar!) Dies fand ich etwas überzogen. Das musste ich jetzt los-
werden.
Das Einfachste vom Einfachen, dass ein Vater und eine
Mutter ihrem Kind Unterhalt schulden, ist nur noch eine (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Sache für Experten. Das Unterhaltsrecht ist wie ein Fahr- Kinder sind vor Gewalt zu schützen. Darin sind wir uns
radschlauch, der hundertmal geflickt worden ist und bei alle einig. Wir alle haben zum Wohle des Kindes Sorge zu
dem inzwischen die Flicken geflickt werden. Die Arbeit, tragen. Zum Wohle des Kindes gehören – auch da sind wir
hieraus wieder ein Ganzes zu machen, bei dem alles zu- uns alle einig – seine körperliche und seelische Unver-
sammenpasst, ist in wenigen Wochen oder Monaten nicht sehrtheit. Kinder, die in ihrer Kindheit Gewalt seitens ih-
zu leisten. Hier muss eine saubere und intensive Arbeit ge- rer Eltern erfahren haben, sind eher bereit, später selbst
leistet werden, um zu einem tragbaren Ergebnis zu kom- Gewalt anzuwenden. Studien belegen: Je häufiger bzw.
men, das keine Bitterkeiten hinterlässt, weil niemand intensiver befragte Jugendliche in ihrer Kindheit Gewalt
mehr versteht, warum das Ganze im Ergebnis gerecht sein seitens ihrer Eltern erfahren haben, desto positiver be-
soll. werten sie selbst die Anwendung von Gewalt. Es gilt die-
sen Kreislauf zu durchbrechen. Die Frage ist aber, wie wir
Schauen Sie sich einmal die Rechenprogramme der diesem Anliegen näher kommen können. Reicht der heute
Anwälte und das an, was die Familienrichter – mitunter hier vorliegende Gesetzentwurf?
sogar mit unterschiedlicher Rechtsprechung – überall in
diesem Land entscheiden. Dann fragen Sie sich, ob Sie In der ersten Lesung des vorliegenden Gesetzentwurfs
der Verantwortung für das Familienrecht in diesem Land habe ich für die CDU/CSU-Fraktion einige Fragen ange-
in den 16 Jahren Ihrer Regierungszeit gerecht geworden sprochen. Wir haben uns geeinigt, diese Fragen in einer
sind. Hier werden wir viel Geröll wegräumen müssen, das Sachverständigenanhörung beantworten zu lassen. Einige
Sie uns hinterlassen haben. sind auch beantwortet worden. Ich möchte jetzt nicht alle
Problemfelder wieder aufreißen; aber lassen Sie mich auf
(Beifall bei der SPD – Norbert Geis [CDU/ zwei Aspekte eingehen: zum einen auf den Gewaltbegriff
CSU]: Da sind wir sehr gespannt!) und zum anderen auf die Justiziabilität des Rechtsan-
spruchs.
Jetzt machen wir in der Tat nur einen ersten Schritt. Im
Augenblick ist es so, dass eine allein erziehende Mutter In der Anhörung ist klar geworden, wie schwer es ist,
(B) dann, wenn sie Kindergeld und die Nettounterhaltszah- den Begriff Gewalt zu definieren, vor allem die psychi- (D)
lung des Vaters des Kindes bekommt, gerade so viel hat sche Gewalt. Ich denke an psychische Misshandlungen
wie das steuerrechtliche Existenzminimum, das das tat- und auch an Kindesvernachlässigung. Hier fällt eine deut-
sächliche Existenzminimum nicht erreicht. Die Halbtei- liche Abgrenzung schwer; auch die Zuordnung ist kaum
lung ist eine Theorie, die auf dem Papier steht. Sie ent- nachvollziehbar.
spricht nicht der Realität. Das Ergebnis ist, dass Vater und Es muss aber auch ein Unterschied zwischen der Ge-
Mutter einander hassen, weil die Mutter sagt: „Er zahlt walt allgemein und der Gewalt im Verhältnis zwischen El-
nicht genug“ – sie schaut in den Kühlschrank und stellt tern und Kindern gemacht werden. Mit dem Gewaltbe-
fest, dass es nicht reicht –, und der Vater in die Tabelle griff aus dem Strafrecht können wir nicht automatisch die
schaut und sagt: Sie frisst mir die Haare vom Kopf. Beziehung zwischen Eltern und Kindern erfassen. Muss
Gewalt hier nicht anders definiert werden als im Straf-
Wir haben einen Anfang gemacht. Dies ist aber nicht
recht? Oder muss das Gesetz in § 1626 des Bürgerlichen
genug. Es muss weitergehen und das werden wir tun.
Gesetzbuches angesiedelt und somit in den gesamten Pro-
Vielen Dank. zess der Gestaltung des elterlichen Sorgerechts einbezo-
gen werden? Dieses Problem ist meines Erachtens mit
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE dem heute vorliegenden Gesetzentwurf noch nicht zu-
GRÜNEN und der PDS) friedenstellend gelöst.
Nun komme ich zu dem Aspekt der Justiziabilität. In
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Ich erteile nun der vielen Veranstaltungen mit Kindern und Jugendlichen bin
Kollegin Ingrid Fischbach, CDU/CSU-Fraktion, das ich gefragt worden: Welche Möglichkeiten haben Kinder
Wort. eigentlich, sich auf dieses Recht zu berufen, dieses Recht
durchzusetzen? Auch hier war die Antwort der Sachver-
Ingrid Fischbach (CDU/CSU): Frau Präsidentin! ständigen eindeutig und klar: Keine. Es gibt für Kinder
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kolle- keine Möglichkeit, den Anspruch auf gewaltfreie Erzie-
gen! Frau von Renesse, ich bin etwas enttäuscht. Ich kann hung durchzusetzen. Das Recht hat lediglich Appellcha-
verstehen, dass Sie darüber enttäuscht sind, dass wir nicht rakter.
zustimmen, aber dass der Ton dann so wurde, hat mich Ich persönlich meine, dass dieser Appellcharakter auch
enttäuscht. Bisher haben wir immer sehr gut miteinander in der Formulierung des Bundesrates deutlich wird: „Kin-
geredet. der sind gewaltfrei zu erziehen.“ Ich empfinde diese
10890 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Ingrid Fischbach

(A) Formulierung den Kindern und Jugendlichen gegenüber können per Gesetz Rahmenbedingungen setzen. Das zu (C)
ehrlicher. tun ist auch unsere Aufgabe.
(Beifall bei der CDU/CSU – Margot von Wir reden heute über einen Gesetzentwurf, der aus
Renesse [SPD]: Vor drei Jahren war es unmög- zwei Bestandteilen besteht. Beide sind Meilensteine in
lich für Sie zuzustimmen!) der Rechtsgeschichte. Beide sind für uns Grüne schon seit
– Ja, wir lernen ja auch dazu, Frau Kollegin. Sie können langem wichtige Herzensanliegen.
Ihrem Anspruch – das war Ihre Formulierung – jetzt auch Es geht um die Verbesserung des Unterhaltsrechts.
nicht mehr zustimmen. Vor drei Jahren war das noch an- Die Entwicklung der Unterhaltssätze wird künftig an das
ders. Es gab also auch bei Ihnen einen Sinneswandel. Das verfügbare Einkommen gekoppelt. Die Hälfte des Kin-
kann schon mal passieren. dergeldes erhalten Unterhaltzahlende in Zukunft nur,
Wir sollten unsere Kinder und Jugendlichen ernst neh- wenn sie mehr als das Barexistenzminimum der Kinder
men. Die CDU/CSU-Fraktion hat in den Beratungen ver- aufbringen, nämlich 135 Prozent. Das hört sich zwar erst
sucht zu erreichen, dass sich alle Fraktionen – auch uns, einmal nur formal an. In der Praxis heißt es aber, dass
Frau Kollegin, wäre es lieb gewesen, wir hätten uns ei- Einelternfamilien nicht mehr sozialhilfeabhängig werden,
nigen können – auf die Formulierung des Bundesrates ei- nur weil der Unterhaltszahler die Hälfte des Kindergeldes
nigen: „Kinder sind gewaltfrei zu erziehen.“ Das war aber erhält und das Kindergeld nicht bei den Familien an-
nicht möglich. Ich persönlich bedauere das sehr. kommt. Das ist ein wichtiger Teil sozialer Gerechtigkeit
für Kinder.
Da aber auch meine Fraktion die Bedeutung dieses Ge-
setzentwurfes in Bezug auf die gewaltfreie Erziehung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sieht, die Chance für Kinder anerkennt, den Bewusstseins- sowie bei Abgeordneten der SPD)
prozess von Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen
Das ist die Fortsetzung einer Reihe von familienfreundli-
weiterzubringen, das heißt, deutlich zu machen, dass wir
als Gesellschaft jede Form von erzieherischer Gewalt ge- chen Maßnahmen im Hinblick auf die Familien- und
gen Kinder ablehnen, haben wir Ihren Vorschlag im Aus- Steuerpolitik. Denn für uns ist Familie dort, wo Kinder
schuss nicht abgelehnt. Zustimmen konnten wir nicht; ich sind.
habe gerade deutlich gemacht, warum. Wir haben uns ent- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
halten. Allerdings gilt diese Enthaltung nur für den Teil sowie bei Abgeordneten der SPD)
des Gesetzentwurfs, der die Ächtung der Gewalt in der Er-
ziehung behandelt. Wir unterstützen damit den Appell, Ein besonderer Grund zu feiern ist der Hauptteil des
deutlich zu machen, dass jede Gewalt verkehrt ist. Gesetzes. Das ist das Recht auf gewaltfreie Erziehung.
(B) Wir wollen damit signalisieren, dass Deutschland ein kin- (D)
Aber wir alle sind uns einig, dass dieses Gesetzes- derfreundliches Land wird. Wir wollen nicht die Eltern
vorhaben allein nicht ausreicht. Vielfältige flankierende kriminalisieren. Wir setzen auf Hilfe vor Strafe. Das
Maßnahmen werden nötig sein, eine breite öffentliche Recht von Kindern auf gewaltfreie Erziehung führt nach-
Diskussion über einen umfassenden gesellschaftlichen weislich nicht zu mehr Unfrieden in den Familien. Ganz
Konsens in der Frage der Ächtung der Gewalt in der Er- im Gegenteil: Es verbessert die Sensibilität füreinander,
ziehung zu erreichen. es steigert die Bereitschaft, Konflikte nicht eskalieren zu
Hier sind konkrete Maßnahmen erforderlich wie eine lassen, sondern frühzeitig Unterstützung zu suchen. Es
breit angelegte Informationskampagne, die das Gesetz stärkt die Familien, hilft unseren Kindern und stärkt sie.
bekannt macht. Daneben gilt es, Aufklärungsarbeit zu Wir wollen ja starke Kinder in der Gesellschaft. In den
leisten. Wir müssen Eltern und Kindern in Konflikt- und skandinavischen Staaten ist die Gewalt gegen Kinder um
Krisensituationen Wege und Hilfen aufzeigen, wie sie bis zu zwei Drittel zurückgegangen. Eine solche Ent-
zukünftig Konflikte ohne Gewaltanwendung bewältigen wicklung wünsche ich mir auch hier in Deutschland.
können. Deshalb sind unterstützende Regelungen unver-
zichtbar. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es gilt, Bewusstsein zu verändern. Eine veränderte Ein- Dieses Gesetz überzeugt auch die Skeptiker. Als das
stellung und ein verändertes Verhalten bei Eltern müssen Recht auf gewaltfreie Erziehung vor 20 Jahren in Schwe-
wachsen und Unterstützung erhalten. Es kann nicht nur den eingeführt wurde, waren zunächst einmal 70 Prozent
per Gesetz verordnet werden. der Bevölkerung dagegen. Heute sind 90 Prozent dafür.

Danke. Weniger Gewalt gegen Kinder heißt auch weniger Ge-


walt in der Gesellschaft. Eine der größten deutschen Stu-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) dien zeigt: Es gibt viele Ursachen für eine Fehlentwick-
lung und Störung bei Kindern. Aber nur wenn Kinder Op-
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Nun erteile ich das fer von Gewalt waren, werden sie auch später gewalttätig.
Wort der Kollegin Ekin Deligöz, Bündnis 90/Die Grünen. Das wurde uns auch von den Experten in den Anhörungen
bestätigt.
Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Gewaltfreie Erziehung ist demnach nicht nur eine
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Per Gesetz Form der Erziehung. Sie ist auch vorbeugende Kriminal-
können wir sicherlich nicht alles bestimmen, aber wir politik. Volkswirtschaftlich gesprochen ist gewaltfreie Er-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10891
Ekin Deligöz

(A) ziehung eine Investition in die Zukunft unserer Gesell- Vizepräsidentin Anke Fuchs: Das Wort hat nun der (C)
schaft, in eine friedliche und demokratische Zukunft. Kollege Klaus Haupt, F.D.P.-Fraktion.
Dafür möchte ich noch einen weiteren Beleg anführen,
nämlich eine Studie, die aus den USA stammt. Von Pro- Klaus Haupt (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine lieben
fessor Pfeiffer wird häufig eine renommierte Untersu- Kolleginnen und Kollegen! Meine Vorrednerin hat eben
chung zitiert, die sich auf die Situation im Dritten Reich zum Schluss ihrer Rede die UN-Kinderrechtskonvention
bezieht. Es geht dabei um Personen, die Juden geholfen und damit im Zusammenhang die deutschlandweite Kin-
haben, indem sie sie versteckt oder ihnen zur Flucht ver- derrechtswahl angeführt. Ich hatte das als Einstieg mei-
holfen haben. Das waren ganz unterschiedliche Leute. ner Rede geplant. Es ist schon beachtlich: 43 Prozent der
Nur ein Merkmal teilen all diese unterschiedlichen Men- Kinder haben das Recht auf gewaltfreie Erziehung als das
schen: Das war die gewaltfreie Erziehung, das war die wichtigste Kinderrecht in Deutschland formuliert.
Form der Kommunikation, die sie in den Familien mitbe-
(Beifall bei der F.D.P. und der SPD)
kommen haben. Es waren in der Tat die Erfahrungen in ih-
rer Kindheit, die sie dazu gebracht haben, später den auf- Kinder fühlen sich in ihrer Würde verletzt, wenn sie
rechten Gang zu wählen und sich diesen Problemen zu Gewalt in der Erziehung erfahren. Wir sollten uns bewusst
stellen. werden, dass noch im 19. Jahrhundert die Gewalt des
Hausherrn auch gegen Erwachsene in seiner Familie legal
Wenn wir über rechtsextreme Jugendliche im Osten
war und dass es noch im 20. Jahrhundert an den Schulen
oder in anderen Teilen Deutschlands reden, wenn wir von
die Prügelstrafe gab. Beides erscheint uns heute undenk-
der Gewalt durch Kinder reden, ist dies ein wichtiger Tat-
bar.
bestand.
Heute ist die Zeit reif, Gewalt in der Erziehung kom-
Mit diesem neuen Gesetz geht in der Tat eine Bewusst-
plett zu ächten und unseren Kindern das Recht auf Ge-
seinsfindung einher. Frau Fischbach, wenn Sie wissen
waltfreiheit zu garantieren.
wollen, was wir mit diesem Gesetzentwurf erreichen wol-
len: Wir wollen die Gewalt gesellschaftlich ächten und (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten
darüber debattieren, wie wir das erreichen können. Wir der SPD und der PDS)
wollen die Lücke zwischen der Strafbarkeit und dem Mit diesem Gesetz wird ein Signal dafür gegeben, dass
Wegschauen füllen und darüber eine Bewusstseinsbil- Erziehung und Gewalt nicht zusammengehören. Die Zeit
dung in der Gesellschaft herbeiführen. Wir sagen: Jede ist reif, das Verhältnis der Generationen zueinander neu zu
körperliche und seelische Gewalt gegen Kinder ist rechts- denken. Die Würde von Kindern und Erwachsenen ist
widrig, und zwar auch dann, wenn versucht wird, diese gleichwertig. Dem Schutz ihrer Persönlichkeit ist glei- (D)
(B) erzieherisch zu rechtfertigen. Für Gewalt gibt es keine
chermaßen Rechnung zu tragen. Kinder sind nicht Ob-
Rechtfertigung. jekte, sondern Subjekte. Sie sind eigene Persönlichkeiten
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Träger von Rechten und Pflichten, die wir Erwach-
sowie bei Abgeordneten der SPD) sene ernst nehmen müssen.
Für uns kommt es in diesem Bereich auf das Erleben Dieses Gesetz hat eine klare Leitbildfunktion. Es wird
der Kinder an; ihre Gefühle und Rechte zählen für uns. kein Erziehungsstil in der Erziehung vorgeschrieben, aber
Natürlich muss dieses Recht durch eine Aufklärungsar- ein Leitbild von Gewaltfreiheit vorgestellt, das die Würde
beit begleitet werden. Die Bundesregierung geht dieses des Kindes in den Mittelpunkt stellt.
Problem bereits an und das Bundesministerium für Fami- (Beifall bei der F.D.P.)
lie, Senioren, Frauen und Jugend hat dazu eine Kampagne
gestartet. Kinder sind gegenüber jeder Gewalt, die ihnen ange-
tan wird, wehrlos. Gewalt hat gravierende Folgen für die
Lassen Sie mich zum Schluss noch auf diejenigen Be- Persönlichkeitsentwicklung von Kindern. Seelische Ver-
zug nehmen, für die unser Gesetz hauptsächlich gemacht letzungen und körperliche Strafen beeinträchtigen das
ist, nämlich auf die Kinder und Jugendlichen. Im vergan- Selbstbewusstsein des Kindes, erhöhen die Aggressivität,
genen Jahr haben sich über 108 000 Kinder und Jugendli- behindern das Einfühlungsvermögen und die Gewissens-
che an der ersten deutschen Kinderrechtswahl beteiligt. bildung. Sie hinterlassen seelische und soziale Verletzun-
Sie wurden gefragt, welche Rechte sie für die wichtigsten gen, die die Entwicklung des Kindes beeinträchtigen.
halten und welche Kinderrechte aus ihrer Sicht am mei- Deshalb muss die gesellschaftliche Norm klar sein: Ge-
sten verletzt werden. Auf Platz eins landete jeweils das walt ist kein Erziehungsmittel.
Recht auf gewaltfreie Erziehung. Deshalb mein Appell
auch an alle Skeptiker: Lassen Sie uns mit diesem Gesetz (Beifall bei der F.D.P., der SPD und dem
den Kindern eine Stimme geben. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge-
ordneten der PDS)
Meinen letzten Satz möchte ich an die Kinder richten:
Liebe Kinder, dieses Kinder-nicht-Schlagen-Gesetz ist Denn die Erfahrung von Gewalt wird weitergegeben. Dies
euer Gesetz und das werden wir hier gemeinsam durch- führt zu einem Teufelskreis, in dem die Würde der jungen
setzen. Menschen mit Füßen getreten wird.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Der verhängnisvolle Kreislauf von erfahrener Gewalt
sowie bei Abgeordneten der SPD) und weitergegebener Gewalt muss durchbrochen werden.
10892 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Klaus Haupt

(A) Wir alle wissen aber auch, dass sich mit keinem noch so Sabine Jünger (PDS): Frau Präsidentin! Meine Da- (C)
wohl ausformulierten Gesetzestext eine Veränderung in men und Herren! Da ich weder über die Fähigkeit des
der Einstellung, in dem Handeln der Eltern verordnen Kollegen Gysi verfüge, alle Seiten einer Medaille in kur-
lässt. Es ist richtig, Frau Fischbach: Das muss wachsen. zer Zeit zu erläutern, noch aus meinen vier Minuten sechs-
Deshalb sind flankierende Maßnahmen fast noch wichti- einhalb Minuten machen will, will ich nur einen Satz zum
ger als das Gesetz selbst. Zunächst gilt es, mit einer in- Kindesunterhalt sagen, der einen Teil des Gesetzent-
telligenten, groß angelegten Informationskampagne wurfes der Bundesregierung darstellt. Wir werden dem
breite Bevölkerungsschichten mit der Botschaft zu errei- Teil über den Kindesunterhalt zustimmen, auch wenn wir
chen. Es ist aber auch wichtig, dass mit der Änderung des dabei Bauchschmerzen haben. Denn dies ist ein Schritt in
SGB VIII Jugendämter zur Hilfeleistung für Eltern und die richtige Richtung, dem auch wir uns nicht ver-
Kinder zur gewaltfreien Konfliktlösung ermächtigt wer- schließen werden.
den. Kinder- und Jugendhilfe, Polizei, Justiz, Psychiatrie
und Schule können wesentliche Unterstützung leisten Der zweite Teil, dem ich die größere Aufmerksamkeit
und müssen dafür ausgestattet sein. widmen werde, betrifft die klare Normsetzung, die mit
dem Verbot der elterlichen Gewaltausübung endlich
Die Deutschen geben jährlich 1,5 Milliarden DM für erreicht wird. Wir begrüßen dies nachdrücklich. Ich hoffe
Erziehungsliteratur aus. Es gibt also einen großen Infor- noch immer – das sage ich ganz ehrlich –, wir sind uns alle
mationsbedarf. Viele Eltern fühlen sich überfordert. Die in diesem Hohen Hause darüber einig, dass weder kör-
Verunsicherung ist groß. Wie können Kindern Grenzen perliche noch seelische und auch nicht emotionale Gewalt
gesetzt werden? Welche Möglichkeiten haben Eltern bei gegen Kinder und Jugendliche geeignete Erziehungsmaß-
Konflikten? Oft resultiert ja Gewalt in der Erziehung aus
nahmen sind und dass all diese Maßnahmen das Men-
dieser Hilflosigkeit. Hilfe statt Strafe muss das Motto
schenrecht auf Unverletzlichkeit der Würde von Kindern
sein, noch bevor es zum Konflikt kommt, noch vor der
und Jugendlichen verletzen. Deshalb sind wir der Mei-
Eskalation.
nung – ich hoffe wirklich, dass wir alle dieser Meinung
Das Thema dieses Gesetzes ist lange öffentlich disku- sind –, dass Kinder und Jugendliche ein Recht auf ge-
tiert worden. Oft war es eine überzogene Debatte, von waltfreie Erziehung haben.
heftigen emotionalen Auseinandersetzungen begleitet.
Die Angst, der Staatsanwalt wäre in Zukunft im Kinder- (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten
zimmer häufiger gefragt als der Sozialarbeiter, ist völlig der SPD)
unbegründet. Eine Kriminalisierung der Eltern ist ausge- Wir werden heute – auch davon war schon die Rede –
(B) schlossen. Die Änderung des BGB verschafft Kindern be- ein Leitbild schaffen und für die notwendige Rechtssi- (D)
wusst keine unmittelbare Anspruchsgrundlage, sondern cherheit sorgen. Ich denke – darüber bin ich mir mit mei-
steckt den konzeptionellen Rahmen der Erziehung zu- ner Fraktion im Klaren –, dass ein Leitbild allein natürlich
gunsten der Kinder ab. Insofern hoffe ich, dass die heutige nicht reicht. Der Kollege Haupt hat es eben angesprochen:
Debatte auch zur Versachlichung der Diskussion beiträgt. Eine normative Änderung ist zwar ein Schritt in die rich-
Die Frage nach dem Verhältnis von Familie, Erziehung tige Richtung. Er muss aber durch verschiedenste Maß-
und Staat trifft einen Kernbereich freiheitlich-demokra- nahmen flankiert werden. Darüber ist schon viel geredet
tischer Grundordnung. Manche sehen in der öffentli- worden.
chen Diskussion zur gewaltfreien Erziehung Risiken und Wir haben einen eigenen Antrag in den Deutschen
Gefahren. Ich sehe die Chance, grundlegende Werte un- Bundestag eingebracht, der heute auch zur Abstimmung
serer freiheitlich-demokratischen Grundordnung in der steht. Ich möchte kurz auf seine wesentlichsten Punkte
Erziehung ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. eingehen, weil ein Leitbild und eine Normsetzung wich-
(Beifall bei der F.D.P. und der SPD) tig sind.
Ich sehe die Chance, einer kinderfreundlichen und fami- Wir müssen Kindern und Jugendlichen Rechte einräu-
lienfreundlicheren Gesellschaft und einer neuen Kultur men und ihre Stellung gegenüber den Sorgeberechtigten,
des Aufwachsens, wie sie der Zehnte Kinder- und Ju- gegenüber den Institutionen der Jugendhilfe und in fami-
gendbericht gefordert hat, den Weg zu bahnen. liären Auseinandersetzungen stärken. Dazu gehört für
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) mich ein effektiverer Schutz von Kindern und Jugendli-
chen und auch lebensweltliche Hilfestellung. Kinder und
Meine Damen und Herren, das ist eine reizvolle Her- Jugendliche brauchen eigene Rechte. Sie brauchen ein
ausforderung im neuen Jahrtausend, für die sich jede Recht auf Entwicklung und Entfaltung ihrer Persönlich-
Mühe lohnt. keit. Dazu gehört für mich auch eine Demokratisierung
Danke. der Jugendhilfe. Kinder und Jugendliche müssen auch
gegenüber dem Jugendamt eigene Rechte haben. Für uns
(Beifall bei der F.D.P. und der SPD) gehört auch dazu, dass Kindern und Jugendlichen eine
Anspruchsinhaberschaft auf Hilfen nach § 27 bis § 35
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Nun erteile ich der SGB VIII Anspruch auf Hilfe eingeräumt wird. Man muss
Kollegin Sabine Jünger, PDS-Fraktion, das Wort. auch einen freiwilligen Zugang zur Inobhutnahme schaf-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10893
Sabine Jünger

(A) fen und ihn erleichtern. Dazu gehört für uns auch ein ei- nicht in der letzten Wahlperiode, als wir eine Vorlage mit (C)
genständiges Aufenthaltsbestimmungsrecht ab 12 Jahren der genauen Formulierung Ihres Vorschlags hier einge-
bracht haben –, das Recht der Kinder auf eine gewaltfreie
(Widerspruch der Abg. Margot von Renesse Erziehung in eine Reform des Kindschaftsrechts einzu-
[SPD]) binden.
– lassen Sie mich diesen Satz zu Ende bringen, Frau von (Norbert Geis [CDU/CSU]: Dann haben Sie
Renesse –, mit Unterstützung der Jugendhilfe. Dazu nicht in das BGB geschaut!)
gehört für uns auch, dass man betreute Wohnformen für
Jugendliche unterstützt. Ab 16 Jahren sollten sie eine ei- Das lag wohl in erster Linie daran, dass die CDU/CSU im-
gene Wohnung anmieten können. mer wieder das Gespenst der Kriminalisierung der Fami-
lie an die Wand gemalt hat.
Das Kinder- und Jugendhilfegesetz muss endlich Vor-
rang vor ausländerrechtlichen Bestimmungen haben. (Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie müssen einmal
Dazu gehört natürlich eine breite Aufklärungskampagne. lesen, was im BGB steht!)
Darüber ist schon viel geredet worden und darüber wird Sie stehen mitten im Leben – ich weiß das, Herr Geis –;
sicherlich auch noch viel geredet werden. Man muss dafür aber ich frage mich, in welchem Jahrhundert.
sorgen, dass jedes Kind, jeder Jugendliche, aber auch je-
des Elternteil wissen, dass wir heute – zu dieser nicht (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
mehr ganz frühen Stunde – das vorliegende Gesetz verab- DIE GRÜNEN – Norbert Geis [CDU/CSU]:
schiedet haben, und dass jeder den Inhalt des Gesetzes Ich habe nicht den Eindruck, dass Sie überhaupt
kennt. nachgelesen haben!)
Wichtig sind auch der Ausbau von Prävention und In- Der Gesetzentwurf der Regierungsfraktionen liegt auf
tervention sowie ein flächendeckendes Netz von Kinder- einer Linie mit der Entschließung des Bundestages zum
und Jugendschutzzentren. Dazu gehört, dass man Fami- Zehnten Kinder- und Jugendbericht. Hierin ist auch die
lien bei ihren Erziehungsaufgaben unterstützt und dass Stellungnahme der alten Bundesregierung zur gewalt-
man Formen gewaltfreier Konfliktlösung vermittelt. freien Erziehung eindeutig. Lesen Sie es nach! Nicht die
Dazu gehört auch, dass man endlich die Prävention statt oft übertriebene öffentliche Debatte über die Gewalt, die
die Folgekosten der Gewalt finanziert. Dafür werden wir von Kindern und Jugendlichen ausgeht, sondern die De-
uns auch weiterhin einsetzen. batte über die Gewalt gegen Kinder und Jugendliche
und vor allen Dingen die Ächtung und der Abbau dieser
In diesem Sinne hoffe ich, dass das Gesetz ein Schritt Gewalt stehen heute im Mittelpunkt.
in die richtige Richtung ist und dass die Gewalt gegen
(B) Kinder und Jugendliche deutlich zurückgeht. (Beifall bei der SPD) (D)
Danke schön. Wenn es Erwachsenen mit der Bekämpfung von Ju-
gendkriminalität Ernst ist, dann müssen sie Vorbild sein,
(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten Regeln aufstellen und Grenzen setzen. Erziehen: ja, aber
der SPD) das Schlagen muss endlich ein Tabu werden.
(Beifall bei der SPD)
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Das Wort hat nun der
Kollege Rolf Stöckel, SPD-Fraktion. Alle Kinderorganisationen in Deutschland fordern das
seit Jahrzehnten: der Kinderschutzbund mit Aktionen wie
„Kinder brauchen Liebe, keine Hiebe“, die „National Co-
Rolf Stöckel (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen alition“ ebenso wie das Aktionsbündnis für Kinderrechte.
und Herren! Ich hätte mich am Anfang meiner Rede auch Ich bin stolz, dass diese Regierungskoalition und die
gerne an die Kinder gewandt. Aber um 21.44 Uhr sind – Mehrheit in diesem Hause – Herr Haupt, wir sind Ihnen
hoffentlich – die meisten Kinder im Bett und schlafen. für Ihre Rede sehr dankbar – endlich das Versprechen er-
Das, was die Kollegin Deligöz gesagt hat, nämlich dass füllen, unser Land kinderfreundlicher zu machen. Wir
wir heute ein Kinder-nicht-Schlagen-Gesetz verabschie- werden der Einlösung dieses Versprechens heute ein we-
den, ist tatsächlich eine gute Botschaft für die Kinder in sentliches Stück näher kommen.
unserem Land.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und der PDS) Ich finde es schade, dass der Bundestag dieses Zeichen
heute nicht einstimmig setzt.
Ich möchte aber auch aufgrund eigener Erfahrung an
die Adresse der Väter und Mütter sagen: Es gibt bei der Wir wissen, dass heute noch immer rund 57 Prozent
Erziehung von Kindern – das ist klar – immer wieder Si- aller Eltern in Deutschland ihre Kinder mit Ohrfeigen
tuationen der Überforderung. Deswegen geht es uns nicht oder Schlimmerem bestrafen.
um Strafverfolgung und Kriminalisierung. Es gibt beste- (Norbert Geis [CDU/CSU]: Warum machen Sie
hende Vorschriften, über die wir mit dem vorliegenden denn nicht mit, was der Bundesrat vorgeschla-
Gesetz nicht hinausgehen. gen hat?)
Frau Fischbach, seit den Sonntagsreden im Internatio- Wir wissen, dass Kinder, die Gewalt erleiden oder Gewalt
nalen Jahr des Kindes 1979 ist es nicht gelungen – auch zwischen den Eltern miterleben müssen, später zwei- bis
10894 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Rolf Stöckel

(A) dreimal so oft wie Kinder ohne solche Erfahrungen selbst Rolf Stöckel (SPD): Ich komme zum Schluss. – Das (C)
zu Gewalttätern werden. Wir wollen diesen Teufelskreis Konzept ist stimmig. Darum lehnen wir im Übrigen auch
durchbrechen. den viel zu allgemeinen PDS-Antrag ab.
Heute vollzieht der Bundestag wahrlich eine weitere Wir alle können etwas tun, das Notwendige möglich zu
historische Zäsur im bürgerlichen Recht, die dem Leitbild machen, nicht nur, indem wir mehr Zivilcourage zeigen
einer zivilisierten und demokratischen Gesellschaft und nicht wegschauen, wenn zum Beispiel Stresssituatio-
entspricht. Das ist das Gegenteil der Zucht von einge- nen an der „Quengelkasse“ des Supermarktes eskalieren,
schüchterten Untertanen und Befehlsempfängern. sondern wir können auch in den Wahlkreisen dafür wer-
ben.
Die Kritiker sagen – das wissen wir –, das Gesetz sei
ein Papiertiger. Kinder, die erstmals neben dem Erzie- Wir fordern mehr Respekt für Kinder. Machen Sie mit!
hungsrecht der Eltern nicht nur Schutz vor schwerer Miss- Schaffen wir ein breites Bündnis für Kinderrechte. Es
handlung, sondern auch ein eigenes Recht auf gewaltfreie liegt in unserer Hand, das neue Jahrhundert zum Jahrhun-
Erziehung bekommen, können nicht gegen den Klaps der dert der Kinder zu machen.
Eltern klagen. Aber sie können erfahren, dass es Unrecht Herzlichen Dank.
ist, sie zu schlagen, egal aus welchem Anlass. Es geht uns
um Grundwerte, um Orientierung, um eine Konsequenz, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
die eine bedeutsame Leitbildfunktion für zukünftiges po- DIE GRÜNEN)
litisches, aber auch gesellschaftliches Handeln haben
wird. Vizepräsidentin Anke Fuchs: Jetzt hat das Wort der
Ohne zu pauschalisieren, möchte ich auch diejenigen Kollege Ronald Pofalla, CDU/CSU-Fraktion.
Eltern ansprechen, die eingewandert sind und die auf- (Norbert Geis [CDU/CSU]: Jetzt hören wir end-
grund kultureller Traditionen Gewalt in der Familie für lich etwas Gescheites! – Gegenruf der Bundes-
selbstverständlich halten. Man muss klar sagen: Diese ministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin: Unver-
Traditionen sind mit den Grundrechten unvereinbar. besserlich!)
Wenn die Politik das verschweigt, dann ist das schlicht
unglaubwürdig.
Ronald Pofalla (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe
Statt Kriminalisierung wollen wir Hilfen für die be- Kolleginnen und Kollegen! Bei mancher Rede, die hier
troffenen Kinder und Eltern. Dazu gehören erreichbare gehalten wurde, musste man den Eindruck gewinnen, als
und aufsuchbare Hilfen, wie Nottelefone und Beratungs- ob heute tatsächlich ein ganz besonderer historischer Tag
(B) einrichtungen. Aber auch die sozialen Rahmenbedingun- (D)
gen für gewaltfreie Erziehung in den Familien müssen (Zurufe von der SPD: So ist es auch! – So ist
insgesamt verbessert werden. Durch die Ergänzung des es!)
SGB VIII im Kinder- und Jugendhilfegesetz sollen nied- – lassen Sie das doch einmal – sei, weil eine Regelung ge-
rigschwellige und wirksame Hilfsangebote für Eltern ge- troffen wird, die längst ins Gesetz gehört hätte.
schaffen werden.
Eines bedaure ich dabei – das möchte ich gleich an den
Wir wissen, dass wir damit der kommunalen Ebene Anfang meiner Rede stellen –: In der vergangenen Wahl-
und den Trägern der Jugend- und Familienhilfe eine wei- periode haben wir bei anderen Mehrheitsverhältnissen
tere große Verantwortung übertragen; aber es wird sich größten Wert darauf gelegt, große Reformen –
lohnen. Wie viel Leiden, Gewalt und soziale Folgelasten Kindschaftsrechtsreformgesetz, Kindesunterhaltsgesetz,
können durch zusätzliche Anstrengungen und Zusam- erbrechtliche Regelungen, Namensrecht – weitestgehend
menarbeit präventiv verhindert werden? Wie viel Lebens- einvernehmlich zu verabschieden. Auf diese Feststellung
qualität und sozialer Frieden können dadurch gewonnen lege ich deshalb großen Wert, weil uns das alle gemein-
werden? sam sehr viel Mühe gekostet hat. Wir haben über Monate
Das wird nur gelingen, wenn wir es schaffen, dass die- Berichterstattergespräche geführt und haben am Schluss
ses neue Recht der Kinder auf gewaltfreie Erziehung in weitestgehend Einvernehmen zwischen allen Fraktionen
aller Munde ist, breite öffentliche Auseinandersetzungen hergestellt. Ich bedaure sehr – ich werde gleich versuchen,
provoziert und nicht nur Eltern, Jugendämter und Pädago- das zu erklären –, dass dieses beim jetzt vorliegenden Ge-
gen anregt. Wir begrüßen daher ausdrücklich, dass die setz nicht möglich gewesen ist.
Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Ju- In diesem Zusammenhang nehme ich die sozialdemo-
gend und auch die Bundesministerin der Justiz eine breit kratische Bundestagsfraktion ausdrücklich aus, weil mit
angelegte Kampagne zur gewaltfreien Erziehung vorbe- den Sozialdemokraten, vertreten durch Frau von Renesse,
reitet haben, die in Kürze anläuft. Sie besteht aus einem aber auch durch den Staatssekretär Pick, am Anfang sehr
multimedialen Dach und aus Information, Fundierung ernsthafte Gespräche geführt wurden, um auch hier zu ei-
durch Praxisobjekte und Vor-Ort-Aktionen im ganzen ner einvernehmlichen Lösung zu kommen. Für diese Ge-
Land. spräche will ich mich ausdrücklich bedanken.
Dann ist etwas innerhalb der Koalition passiert: Nach-
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Herr Kollege, denken dem schon auf Veränderungen zum bestehenden Gesetz-
Sie an Ihre Redezeit. entwurf eingegangen worden war, sollten auf einmal
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10895
Ronald Pofalla

(A) Dinge, die schon angedacht waren, so nicht mehr umge- Das, was Sie hier machen, ist auf dem untersten Niveau (C)
setzt werden. Jetzt liegt ein Gesetzentwurf vor, der in der des wirklich Zumutbaren. Sie wissen das.
Tat im Detail erhebliche Mängel aufweist, die wir im Er-
gebnis für so umfassend halten, dass wir heute dieses Ge- (Beifall bei der CDU/CSU)
setz ablehnen. Ich werde das gleich im Detail begründen. Ich will Ihnen offen sagen, dass sich in diesem Punkt
Vorausschicken möchte ich auch noch, dass es keine sehr deutlich zeigt, wie ernst Sie es mit dem historischen
Fraktion im Deutschen Bundestag gibt – das sollten wir Tag der Umsetzung des § 1631 BGB meinen. Sie haben
doch auch einmal positiv zur Kenntnis nehmen –, die ge- im SGB eine Formulierung gefunden, die ich bezüglich
genüber dem zur Debatte stehenden Gesetzesziel ernst- ihrer Umsetzung fast als Unverschämtheit empfinde.
haft eine unterschiedliche Position bezogen hätte. Diese Nach meiner festen Überzeugung verdeutlicht dies, wie
gibt es nicht. ernst Sie es mit den Beratungsangeboten meinen.
(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der Ich komme zum Unterhaltsrecht. Sie haben dort Re-
SPD) gelungen gefunden, die wir teilen. In § 1612 a Abs. 4 BGB
– Das gilt für alle Bundestagsfraktionen, Herr Kollege. haben Sie eine Regelung gefunden, die ich sprachlich
Das weiß auch Frau von Renesse, die genauso wie andere kompliziert finde. Dennoch sage ich, dass das Ziel richtig
Kolleginnen und Kollegen auch in der letzten Legislatur- ist. Sie haben in § 1612 a Abs. 5 BGB eine Regelung ge-
periode bei dem Versuch sehr hilfreich gewesen ist, für funden, die mit der Anpassung an die Nettolohnentwick-
dieses Problem gesetzliche Regelungen zu finden. lung von der Zielrichtung her ebenfalls richtig ist. Ich will
Ich möchte jetzt die nun gefundene Formulierung, die Ihnen aber ersparen, § 1612 a Abs. 5 BGB vorzulesen.
zumindest von Einzelnen als historische Leistung darge- Wenn ich diesen Absatz hier vorlesen würde, dann würde
stellt wird, verlesen: nur ein Bruchteil der hier Anwesenden verstehen, was da
eigentlich wie geregelt werden soll, auch wenn hier eine
Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung.
Reihe von Juristen sitzen.
Über diesen Satz reden wir. Aber keiner von Ihnen, auch
niemand vonseiten der Sozialdemokraten, hat gesagt, (Peter Dreßen [SPD]: Was wollen Sie denn?)
dass es sich dabei wirklich um einen einklagbaren – Provozieren Sie mich nicht, ihn vorzulesen. Dann würde
Rechtsanspruch handele. Ich frage mich da allen Erns- wirklich deutlich werden, wohin der Weg führt.
tes, wie sich das zur bestehenden gesetzlichen Regelung,
die auch keinen Rechtsanspruch enthält, verhält. Wir un- Ich lese Ihnen jetzt aus der Beschlussempfehlung vor.
terhalten uns also über die verschiedene Wirkung unter- Dort heißt es – Zitat –:
(B) (D)
schiedlich starker deklaratorischer Aussagen im Zivil- Besonders schwer wiegen dabei folgende Probleme:
recht. Das ist die eigentliche Streitfrage, über die wir hier
Das Unterhaltsrecht ist auf verschiedenen Gebieten
reden. Sehen Sie hier wirklich einen gravierenden Unter-
schied? Ich sage jedenfalls offen, dass ich es sehr bedaure, inzwischen so unübersichtlich geworden, dass seine
dass Sie auf unser Angebot, von der Bundesratsformulie- Ergebnisse für die Beteiligten oft nur schwer nach-
rung auszugehen, nicht eingegangen sind. Ich muss hier vollziehbar sind.
namentlich die Grünen nennen. Ich sage zu der Regelung, die Sie gleich verabschieden
Diese Koalition muss noch lernen, darauf zu achten, beim wollen: Die Unübersichtlichkeit nimmt zu und die sprach-
Verfolgen wichtiger gesellschaftspolitischer Ziele ein liche Art und Weise, mit Gesetzeszielen umzugehen, hat
breites Einvernehmen im Parlament herzustellen. Diese nach meiner festen Überzeugung das Maß des Erträgli-
Einigung ist letztendlich an den Grünen gescheitert, was chen überschritten. Deshalb hatten wir in den Bericht-
ich bedaure. Dennoch sollte man hier diese Feststellung erstattergesprächen darum gebeten, zu einfacheren For-
treffen. mulierungen zu kommen, die uns ursprünglich zugesagt
Ich komme jetzt zu den großen Beratungsangeboten, waren.
die diese Bundesregierung im Gesetz verankert hat. Ich Im letzten Absatz der Beschlussempfehlung heißt es:
will die entsprechende Stelle vorlesen, weil solche Rege-
lungen häufig untergehen. In § 16 Abs. 1 des Achten Bu- Die Bundesregierung wird gebeten, zügig und mit al-
ches SGB wird die Formulierung aufgenommen: lem Nachdruck das geltende Unterhaltsrecht, insbe-
sondere hinsichtlich seiner Abstimmung seiner In-
Sie
halte mit sozial- und steuerrechtlichen Parallelrege-
– damit sind die Jugendämter gemeint – lungen sowie der Auswirkungen der in § 1612 b
sollen auch Wege aufzeigen, wie Konfliktsituationen Abs. 5 BGB vorgeschlagenen Änderungen in der
in der Familie gewaltfrei gelöst werden können. Praxis, gründlich zu überprüfen und Vorschläge zu
seiner Neuregelung einzubringen.
Wenn das Ihre Lösung bezüglich der praktischen Umset-
zung ist, dann wird Ihnen jeder, der mit Konfliktsituatio- Das ist für mich das erste Mal, dass wir im Deutschen
nen in Familien und mit Situationen zu tun hat, in denen Bundestag ein Gesetz verabschieden, wobei die, die die
Familien scheidungsbedingt auseinander fallen und sie Mehrheit haben, das Gesetz zu verabschieden, gleichzei-
unter den sich daraus ergebenen Konflikten leiden, sagen: tig beschließen, dass das, was sie gerade beschließen, so
10896 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Ronald Pofalla

(A) falsch ist, dass die Bundesregierung gebeten wird, es sprünglichen Entwurf wäre es auch noch dazu gekom- (C)
möglichst zügig wieder zu überarbeiten. men.
(Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der Ich will am Schluss für Folgendes werben: Lassen Sie
SPD: Oh! – Margot von Renesse [SPD]: Das uns im Bereich des Kindschaftsrechts und des Unterhalts-
war beim Betreuungsrecht auch nicht anders!) rechts – ich biete das ausdrücklich an – in Zukunft mehr
Zeit nehmen. Lassen Sie uns den Versuch unternehmen,
Das ist eine Form von Gesetzesflickerei, die Sie vorher zu einvernehmlichen Lösungen zu kommen, wie wir das
immer kritisiert haben und die Sie jetzt selber machen. in der vergangenen Legislaturperiode auch geschafft ha-
Ich gehe jetzt auf den § 1612 b Abs. 5 BGB ein. Dieje- ben. Nur, wenn Sie solche Vorlagen machen wie diese,
nigen, die an der Anhörung teilgenommen haben, wissen, werden Sie von unserer Seite dafür keine Zustimmung
dass mit dieser Regelung des § 1612 b Abs. 5 BGB Be- finden.
weislastprobleme entstehen, Herzlichen Dank.
(Peter Dreßen [SPD]: Paragraphenkackerei ist (Beifall bei der CDU/CSU)
das, was Sie da machen!)
die wir in der Praxis bisher nicht hatten. Nach der bishe- Vizepräsidentin Anke Fuchs: Zu einer Kurzinter-
rigen Regelung, so unübersichtlich sie auch sein mag, wa- vention erteile ich jetzt der Kollegin Ekin Deligöz das
ren die Beweislastprobleme gelöst. Nach der jetzigen Wort.
Regelung werden sie durcheinander gebracht, weil simple
Beweislastregelungen, die bisher galten – so mehrheitlich
die Auffassung der Sachverständigen, die vorgetragen ha- Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr
ben –, auf den Kopf gestellt werden, übrigens mit der Aus- Kollege Pofalla, Sie haben ja namentlich die Grünen an-
wirkung, dass aus der Sicht derjenigen, die unterhaltsbe- gesprochen. Deshalb möchte ich Ihnen auch antworten.
rechtigt sind, die Beweisführung in bestimmten Konstel- In der Tat, als wir das letzte Mal eine Debatte zu die-
lationen hinsichtlich der Unterhaltsmöglichkeiten und der sem Gegenstand hatten – ich glaube, das war die letzte
Unterhaltspflicht des Unterhaltsverpflichteten erschwert Debatte, die in Bonn stattgefunden hat –, habe ich selber
wird. Das, was Sie im Gesetzesziel wollten, wird also auf den Kolleginnen und Kollegen, auch aus Ihrer Partei, an-
den Kopf gestellt. geboten, uns gemeinsam hinzusetzen, weil ich mir gesagt
habe: Wir senden Signale; deshalb müssen wir an diesem
Beim Unterhaltsvorschuss kommt es aufgrund Ihrer
Bereich gemeinsam arbeiten.
gesetzlichen Regelung zu zwei Rückgriffverhältnissen;
(B) bisher hatten wir nur eines. Wenn Sie das für eine Verein- Wir haben gemeinsam eine Anhörung durchgeführt. (D)
fachung im Gesetz halten, mag das, bitte schön, Ihre Sicht Ich habe immer gesagt – und dazu stehe ich auch –: Ich
der Dinge sein, aber de facto führt dies dazu, dass wir zu will keine Wischiwaschiformulierung, ich will, dass Kin-
einer komplizierteren Regelung kommen. der als Rechtssubjekte gelten. Weiter habe ich gesagt: Ich
schlage nirgendwo ein, wo ich nicht die Sicherheit habe,
Dann kommt der Abschnitt betreffend das Unterhalts- dass mir dann auch die Gegenseite entgegenkommt. –
titelanpassungsgesetz. Bisher konnten solche Titel ein- Dies ist so nicht geschehen. Deshalb können Sie die Grü-
fach angepasst werden. Ihre Regelung des Unterhalts- nen jetzt nicht als die Verhinderer hinstellen.
rechts führt dazu, dass Sie eine Titelanpassung nach
§ 655 ZPO vornehmen müssen mit all den formalen Wir Fachpolitiker haben uns untereinander sehr gut
Schwierigkeiten, die damit verbunden sind. und sehr lange darüber unterhalten – auch mit dem Mi-
nisterium, auch mit dem Staatssekretär – und sind dann zu
Diese wenigen Beispiele zeigen, dass die neuen Rege- der Erkenntnis gekommen, dass die Form, die wir gewählt
lungen, prozessual und praktisch gesehen, die Situation haben, die richtige ist, wenn wir dieses Gesetz tatsächlich
der Unterhaltsberechtigten sogar erschweren. Wir haben ernst meinen.
Ihnen angeboten, Regelungen zu erarbeiten, an denen wir
uns beteiligen, wofür wir aber in der Tat Zeit benötigt hät- Zum Schluss zum Kinderunterhaltsgesetz: Sie sagen,
ten. Diese Zeit haben Sie nicht gesehen. Wir bedauern das das Ganze sei kompliziert und die Kompliziertheit nehme
außerordentlich. Das, was Sie jetzt im Unterhaltsrecht zu. Das haben Sie gerade wiederholt. Ich sage Ihnen ei-
einführen, führt in der Praxis zu zusätzlichen Schwierig- nes: Die Gerechtigkeit für Kinder von allein erziehenden
keiten, zu einem zusätzlichen Prozessaufwand. Müttern nimmt zu.

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Mein Gott, wie (Norbert Geis [CDU/CSU]: Aber das ist eine
viel Prozessaufwand!) komplizierte Regelung!)

Sie führen außerdem noch einen neuen Prozentsatz Wir stellen die Kinder in den Vordergrund und dazu stehe
ein. Für das beschleunigte Verfahren galt bisher der an- ich auch; denn ich bin – das gebe ich zu – Sozialpolitike-
derthalbfache Satz. Jetzt führen Sie im Unterhaltsrecht rin.
den 1,35-fachen Satz ein. Ich will durchaus zugestehen, Wir haben mit dem Entschließungsantrag bekundet,
dass Sie mit dieser kleinen Veränderung gegenüber dem dass wir das Unterhaltsrecht reformieren wollen: Wir ha-
ursprünglichen Entwurf wenigstens Zwischentabellen in ben das heute Mittag im Zusammenhang mit der BAföG-
der Düsseldorfer Tabelle verhindern. Nach dem ur- Reform angesprochen. Wir sprechen auch im Zusammen-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10897
Ekin Deligöz

(A) hang mit dem Rentenrecht darüber, dass wir das Unter- den. Wer Prügel oder Schläge zulässt oder wer selbst prü- (C)
haltsrecht reformieren müssen, genauso wie in sehr vielen gelt oder schlägt, macht das Gegenteil: Er lehrt Verhal-
anderen Bereichen, zum Beispiel in der Sozialhilfe. Und tensmuster, nach denen der Stärkere und nicht der mit den
wenn wir dann sagen, dass wir dazu stehen, dass das Un- besseren Argumenten Recht hat. Das ist genau falsch.
terhaltsrecht reformiert werden muss, was ist dann daran
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
verwerflich?
DIE GRÜNEN sowie des Abg. Klaus Haupt
Wir haben hier einen wichtigen Schritt getan. Reden [F.D.P.])
Sie auch einmal mit dem Verband Alleinerziehender Müt-
Wir wissen – lassen Sie mich das als Zweites sagen –:
ter und Väter und nicht nur mit den Unterhaltzahlenden
Gewalt ist in unserer Gesellschaft ein Problem. Die Ag-
Vätern.
gressivität bei Kindern und jungen Menschen nimmt zu.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das wird uns von Erzieherinnen und Erziehern und von
sowie bei Abgeordneten der SPD) Lehrerinnen und Lehrern immer wieder gesagt. Das ist ei-
ner der Gründe, warum diese Bundesregierung – und zwar
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Herr Kollege Pofalla, nicht, indem sie geschmäcklerisch an diesem und jenem
Sie können darauf antworten. – Das wollen Sie nicht. herumkrittelt, um dann doch nicht zustimmen zu müssen –
auf den verschiedenen Gebieten, um die es geht, ganz
Dann erteile ich nun der Bundesjustizministerin klare Signale gesetzt hat und auch weiterhin setzen wird.
Dr. Herta Däubler-Gmelin das Wort.
(Beifall der Abg. Christa Lörcher [SPD])

Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin der Wir alle wissen auch: Kinder werden nicht gewalttätig
Justiz: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der geboren, sondern Kinder werden gewalttätig durch
Tat ist heute ein sehr guter Tag für die Kinder in Deutsch- schlechte Vorbilder und schlechte Erziehung, kurz, weil
land, außerdem übrigens für alle, die sich für Recht und sie Gewalt lernen. Das wissen wir aus eigener Erfahrung
gegen Gewalt aussprechen. und das sagt uns der gesunde Menschenverstand. Jetzt
wissen wir es auch aus vielen Untersuchungen. Auch das
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ist ein Grund, warum wir hier handeln.
DIE GRÜNEN)
Jetzt komme ich zu der Formulierung. Ich habe nicht
Ich danke allen, die diesen Tag möglich gemacht haben. verstanden, warum Sie meinen, diese Formulierung kriti-
Ich hätte Sie, Frau Fischbach, und Sie, Herr Pofalla, sieren zu müssen. Auch Ihre Formulierung bringt kein
gerne dabei gehabt. Ich finde es schade, dass Sie nicht einklagbares Recht. Unsere Formulierung dagegen drückt
(B) aus, dass es ein moralisches Recht gibt. Diesen Rechtszu- (D)
über diese Hürde gesprungen sind. Ich glaube auch, dass
das, was Sie uns vorgetragen haben, Ihr Nein nicht stand verbinden wir mit einem Appell, der außerdem den
rechtfertigt. Aber das werden Sie mit sich selbst ausma- Vorzug hat, dass er sich in der Formulierung der Kinder-
chen müssen. rechtskonvention annähert. Diesen völlig eindeutigen
Vorteil müssten Sie eigentlich erkennen.
Jeder Einsichtige unter uns weiß – auch Herr Haupt hat
es gesagt –, dass sich Erziehung und Gewalt ausschließen. (Wolfgang Dehnel [CDU/CSU]: Kann man
Deswegen ist das ganz klare Signal, das von dem Gesetz, Moral einklagen?)
das wir heute beschließen, ausgeht: bessere Erziehung ja, Ansonsten müssen Sie den Leuten draußen Ihre Hal-
Gewalt nein. tung erklären. Sie können nicht einerseits sagen, Sie seien
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der Meinung, dass Gewalt nicht zur Erziehung gehört,
DIE GRÜNEN) wenn Sie andererseits sagen, dass Sie gegen diese Formu-
lierung sind. Das wird Ihnen niemand abnehmen.
Das ist eine sehr klare und deutliche Formulierung.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Wir stimmen da
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das steht doch mit dem Bundesrat überein!)
schon im Gesetz!)
Verehrter lieber Herr Geis, wir unterhalten uns schon
Wir wollen die bessere Erziehung, Herr Geis – das wis- lange über dieses Thema. Schon Mitte der 70er-Jahre wa-
sen Sie eigentlich auch –, und wir müssen alle gemeinsam ren wir auf dieser Seite des Hauses der Auffassung, Sie
Gewalt begrenzen. Das sagt uns der gesunde Menschen- sollten sich bewegen. Wir haben es auch in den vergange-
verstand und nicht nur ein Pädagoge oder Wissen- nen 16 Jahren nie geschafft, Sie dazu zu bringen. Heute
schaftler. Das Ziel muss darin bestehen, mündige, verant- werden wir es schaffen, unsere Vorstellungen durchzuset-
wortungsbewusste Erwachsene und Staatsbürger zu erzie- zen. Ich fordere Sie nochmals dazu auf, wenn Sie es ernst
hen, die gelernt haben, Konflikte auszutragen, und zwar meinen, mit uns zu stimmen.
mit Worten und Argumenten und nicht mit Gewalt, die
Situationen vernünftig einschätzen können und die vor al- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
len Dingen wissen, was richtig und was falsch ist. DIE GRÜNEN)
All das gehört zu den Grundlagen eines friedlichen Es ist nämlich so: Wir wollen mit dieser Formulierung
Zusammenlebens und muss in den Familien eingeübt zum Ausdruck bringen, dass Kinder nicht Objekte der Er-
werden. Auch das muss durch Erziehung vermittelt wer- ziehung sind, sondern dass sie Subjekte, Rechtsträger
10898 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin

(A) sind. Das sind sie nach unserer Verfassung, wie Sie alle Ich bedanke mich bei der Öffentlichkeit, damit sie weiß, (C)
ganz genau wissen, schon heute. wie wichtig das ist, was sie begonnen hat und was ich jetzt
weiterführen muss.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das gibt doch Ihre
Formulierung gar nicht her!) Jeder, der dafür sorgt, dass Erziehung ohne Gewalt
durch ein gutes Vorbild oder dadurch, dass er andere da,
Wir wollen das auch im Kindschaftsrecht und im Fami-
wo er dies kann, in die Pflicht nimmt, realisiert wird, tut
lienrecht deutlich zum Ausdruck bringen. „Kinder haben
sehr viel mehr gegen Gewalt in unserer Gesellschaft als
ein Recht auf gewaltfreie Erziehung“ – das ist eine klare
jemand, der sich dann, wenn eine Gewalttat passiert ist,
Formulierung, die das alles hergibt und die vor allen Din-
furchtbar aufbläst, entrüstet und nach geschlossenen Hei-
gen den Ihnen, lieber Herr Geis, wahrscheinlich nicht
men ruft.
ganz geheuren Paradigmenwechsel, dass Kinder nicht
mehr Objekt von irgendetwas sind, sondern dass Kinder (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
eigene Rechte haben, sehr deutlich macht. GRÜNEN und der PDS)
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Auch nach unserer Das muss uns sehr deutlich sein. Dann ist auch klar,
Formulierung sind sie keine Objekte!) warum dies heute ein guter Tag für die Kinder und für die-
jenigen ist, die gegen Gewalt in Deutschland sind.
– Sie rufen jetzt irgendetwas dazwischen. Ich hoffe, dass
es wenigstens das Richtige ist. Lassen Sie mich noch etwas zum Unterhaltsrecht sa-
gen. Ich habe Sie, Herr Pofalla, nahezu bewundert, wie
(Zurufe von der SPD: Nein!)
viele Worte Sie gebraucht haben, um deutlich zu machen,
Meine Damen und Herren, es gibt einige Oberschlaue, dass Sie nicht wollen, dass Alleinerziehende ein bisschen
die sagen, dies sei keine vernünftige Norm, weil die straf- mehr Kindergeld bekommen.
rechtliche Sanktion fehle. Sie habe keinen Wert. Wer so
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
etwas sagt, der muss sich gelegentlich fragen lassen, wie
DIE GRÜNEN)
zynisch man eigentlich noch werden muss, um hier sehr
klar zu unterscheiden, was Recht und was strafbewehrtes Herr Pofalla, es ist überhaupt nicht zu bestreiten, dass die
Recht ist. in diesem Zusammenhang erforderliche technische Rege-
lung sehr schwierig ist. Dass in dieser Beziehung bisher
Es ist völlig richtig: Wir setzen nicht auf ein verstärk-
nichts getan worden ist, ist übrigens nicht nur unsere
tes Wirken des Staatsanwaltes bzw. der Polizei. Wir set-
Schuld, sondern auch die derjenigen, die in den letzten
zen vielmehr auf Überzeugung und auf die Eltern bzw. Er-
16 Jahren die Verantwortung getragen haben. Es ist unsere
(B) wachsenen gemeinsame Schuld. (D)
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Auf leere Formu-
Deswegen halte ich den in diesem Zusammenhang ein-
lierungen setzen Sie!)
gebrachten Entschließungsantrag für ausgesprochen rich-
– Herr Geis, ich weiß, es ist schwer –, die dies hören wol- tig und für sehr ehrlich. Jeder weiß, dass bei uns die Sys-
len und die sich dann auch entsprechend verhalten. tematik und die Bestimmungen des zivilen Unterhalts-
rechts, des sozialen Unterhaltsrechts und des steuerlichen
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Alles leere Formu-
Unterhaltsrechts nur noch schwer miteinander vereinbart
lierungen!)
werden können und dass wir gemeinsam auf diesem Ge-
Aber in der Tat setzen wir auf mehr Hilfe durch die Ju- biet etwas tun müssen. Nur, wir sprechen nicht nur darü-
gendämter. ber, sondern wir werden auch etwas tun. Ich werde auf
Ihre Worte zurückkommen. Vielleicht können Sie als
Herr Pofalla, was Sie in diesem Zusammenhang gesagt
CDU/CSU ja wenigstens bei diesem Punkt zustimmen.
haben, hat mir sehr gut gefallen. Dass wir bei dieser Norm
nicht ein Mehr an Beratung vorgesehen haben, hat einen Ein Herz für Kinder ist nicht nur ein gutes Motto für ei-
ganz einfachen Grund: Es gibt bereits eine Erziehungs- nen Autoaufkleber.
und Familienberatung. Sie wissen ganz genau, dass dieses
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Mosaiksteinchen gefehlt hat. Deswegen haben wir es ein-
gefügt. Stimmen Sie also unserem Gesetzentwurf zu. Man muss auch klare Signale geben, wenn es um die For-
Dann wird Ihre Haltung in diesem Bereich glaubwürdig. mulierung von Rechten im Kindschaftsrecht, um Rechte
für Kinder, geht. Man muss Farbe bekennen, wenn es da-
Lassen Sie mich noch eines sagen: Ich bedanke mich
rum geht, allein erziehenden Müttern oder Vätern ein
bei all denen, die in der Öffentlichkeit mit uns dafür ge-
bisschen mehr Kindergeld zu übertragen. Das tun wir
stritten haben – seien das nun die Elternverbände, die Kin-
jetzt. Deswegen ist heute ein guter Tag für die Kinder.
derschutzverbände oder, Herr Pofalla, der Familienge-
richtstag, auf dem wir beide gemeinsam waren und wo ge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
sagt wurde, dass diese Formulierung die richtige sei –, DIE GRÜNEN)
diese klare Formulierung in den vorliegenden Gesetzent-
Ich bedanke mich bei meiner Kollegin, bei der Bun-
wurf hineinzuschreiben.
desministerin für Familien, Senioren, Frauen und Jugend,
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist Schall und dass – hoffentlich von uns allen – in den nächsten Mona-
Rauch!) ten im Rahmen einer Aufklärungskampagne Überzeu-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10899
Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin

(A) gungsarbeit geleistet werden kann, um eine Veränderung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (C)
im Denken bzw. in den Köpfen hinzubekommen. Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch.
Herzlichen Dank und gute Nacht.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Norbert Hauser, CDU/CSU-Fraktion.
DIE GRÜNEN)

Norbert Hauser (Bonn) (CDU/CSU): Frau Präsiden-


Vizepräsidentin Anke Fuchs: Ich schließe die Aus-
tin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wenn es
sprache.
noch einer Begründung bedurft hätte, warum wir uns
Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak- heute mit dem Thema Bonn-Berlin, dem Berlin/Bonn-
tionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen eingebrach- Gesetz und seiner Einhaltung befassen, dann muss man
ten Gesetzentwurf zur Ächtung der Gewalt in der Erzie- sich nur den „Express“ von heute ansehen, in dem ein
hung, Drucksachen 14/1247 und 14/3781. Ich bitte dieje- Brief des Landwirtschaftsministers Funke wiedergegeben
nigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung ist, aus dem ich mit Genehmigung der Präsidentin zitieren
zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt möchte.
dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist da-
mit in zweiter Beratung gegen die Stimmen der
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Herr Kollege, dazu
CDU/CSU-Fraktion angenommen worden.
brauchen Sie nicht meine Genehmigung.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Norbert Hauser (Bonn) (CDU/CSU): Herzlichen
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer Dank.
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf
Hier heißt es:
ist gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen wor-
den. Wie es ab 2002 weitergeht, bleibt abzuwarten. Ich
schließe nicht aus, dass der Umzugsbeschluss und
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
damit die Aufgabenteilung Bonn/Berlin dann auf den
GRÜNEN und der PDS)
Prüfstand kommen.
Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Be-
Weiter äußerte sich der Bundeslandwirtschaftsminister
schlussempfehlung auf Drucksache 14/3781 die An-
dazu, was dies konkret für das Ministerium bedeutet:
nahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Be-
(B) schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Darüber kann man nur spekulieren. Warten wir es (D)
Bei Enthaltung von CDU/CSU und F.D.P. ist die Be- also ab!
schlussempfehlung angenommen.
Dann hat die Sprecherin des Ministeriums noch einen
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp- draufgesetzt und gesagt:
fehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen
Bonn geht es doch besser als je zuvor. Die Stadt hat
und Jugend zu dem Antrag der Fraktion der PDS mit dem
überhaupt nicht mit den nachteiligen Folgen des Um-
Titel „Ächtung der Gewalt in der Erziehung wirkungsvoll
zugs zu kämpfen. Vor diesem Hintergrund verstehe
flankieren“, Drucksache 14/3761. Der Ausschuss emp-
ich nicht, was es da für Sorgen gibt.
fiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/2720 abzulehnen.
Wer folgt dieser Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Ob man ein Gesetz einhält oder es bricht, wird also
Enthaltungen? – Damit ist die Beschlussempfehlung ge- mittlerweile davon abhängig gemacht, ob es demjenigen,
gen die Stimmen der PDS angenommen. dem Rechte aus dem Gesetz zustehen, gut oder nicht gut
geht. Hier muss man den Eindruck haben, dass Sie sich
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: längst von dem Berlin/Bonn-Gesetz verabschiedet haben
und dass es Ihnen nicht mehr um seine Einhaltung geht,
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
sondern dass Sie bereit sind, dieses Berlin/Bonn-Gesetz
richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu dem
zu brechen.
Antrag der Abgeordneten Norbert Hauser (Bonn),
Norbert Röttgen, Dr. Norbert Blüm, weiterer Ab- (Zuruf von der SPD: Ihre einsamen Schlach-
geordneter und der Fraktion der CDU/CSU ten!)
„Wort halten“ Umsetzung der Bonn/Berlin-Be- Meine Damen und Herren, es geht hier darum, dass der
schlüsse Deutsche Bundestag unmissverständlich erklärt, dass er
zu seinen eigenen Gesetzen steht und dass er bereit ist, an
– Drucksachen 14/1004, 14/2699 – der Umsetzung dieser Gesetze nicht nur mitzuwirken,
Berichterstattung: sondern auch darauf zu achten, dass diese Gesetze nach
Abgeordnete Dieter Wiefelspütz Buchstaben und Sinn eingehalten werden.
Wolfgang Bosbach
Die Kollegen des Haushaltsausschusses sind ja eigent-
Cem Özdemir
lich sozusagen die Creme des Parlamentes
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Petra Pau (Jörg van Essen [F.D.P.]: Na, na!)
10900 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Norbert Hauser (Bonn)

(A) und der Haushaltsausschuss ist der Ausschuss, in dem die den weiteren Strukturwandel. Sie tragen Verantwortung (C)
vernünftigen Leute sitzen, die wissen, wie es mit dem für die Familien, denen Sie mit dem Berlin/Bonn-Gesetz
Geld steht und wie man mit Geld umzugehen hat. versprochen haben, dass sie in Bonn bleiben können, und
denen Sie noch beim Abschied von Bonn versprochen ha-
Der Haushaltsausschuss hat diesem Antrag zugestimmt.
ben, dass Sie zu den Zusagen und zu dem Inhalt des Ge-
Daran sieht man, dass das Anliegen durchaus berechtigt setzes stehen.
ist.
Deshalb fordere ich Sie als Kollegen und auch die Bun-
Ich komme jetzt zu den Gründen, die genannt werden, desregierung auf, diesen Diskussionen endlich ein Ende
warum alles geändert werden müsse. zu bereiten, für Planungssicherheit zu sorgen und den
Zum einen nennt man das Kostenargument. Man Menschen in Bonn deutlich zu machen, dass Sie zu Sinn
sagt: Das ist alles viel zu teuer. – All diejenigen, die die- und Buchstaben des Gesetzes noch heute stehen.
ses Argument anführen, möchte ich fragen: Haben Sie am Vielen Dank.
20. Juni 1991 nicht gewusst, dass es mit Ministerien an
zwei Sitzen teurer sein könnte als in einem Zentrum? Die- (Beifall bei der CDU/CSU)
jenigen, die einwenden, 1991 habe man noch überhaupt
keine Erfahrung mit den Dingen gehabt, frage ich: Wie Vizepräsidentin Anke Fuchs: Das Wort hat nun der
war es denn am 26. April 1994, als das Berlin/Bonn-Ge- Kollege Hans-Peter Kemper, SPD-Fraktion.
setz verabschiedet wurde? Haben Sie es da immer noch
nicht gemerkt? Oder haben Sie am 20. Juni 1991 nur ge-
dacht, man könne ruhig eine faire Arbeitsteilung zwischen Hans-Peter Kemper (SPD): Frau Präsidentin! Meine
Berlin und Bonn versprechen, um die Zustimmung zum Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Umzug zu bekommen? Oder haben Sie vielleicht am Seit der denkbar knappen Entscheidung, den Parlaments-
26. April 1994 gedacht, man solle die Leute in Bonn noch und Regierungssitz nach Berlin zu verlegen, sind nun gut
ein bisschen ruhig stellen? neun Jahre vergangen. Herr Dr. Schäuble, damals noch
starker Mann in der CDU/CSU-Fraktion – das hat sich in-
Ein zweites Argument ist, es gebe zu viele Reibungs- zwischen gründlich geändert –, hielt eine flammende
verluste. – Staatssekretär Großmann, der heute Abend Rede für den Umzug nach Berlin und für die Hauptstadt
hier ist, hat auf eine Frage von mir im Januar 2000 fest- Berlin. Man sagt ihm sogar nach, in der CDU/CSU-Frak-
gestellt, dass es durch die Arbeitsteilung zwischen den tion sei seine Rede das Zünglein an der Waage zugunsten
beiden Dienstsitzen Berlin und Bonn zu keinen nennens- Berlins gewesen.
werten Schwierigkeiten komme und dass die Arbeitstei-
Heute reden wir über einen Antrag, den er im vergan-
(B) lung sehr gut funktioniere. Das ist sicherlich auch ein Ver- genen Jahr als Noch-Fraktionsvorsitzender gestellt hat (D)
dienst des Hauses von Herrn Großmann.
und in dem er die schleppende Umsetzung des Bonn/
Dann gibt es eine Reihe von Kollegen, die sagen, in Berlin-Beschlusses bejammert. Haben Sie, liebe Kolle-
den Ausschüssen mangele es manchmal an Informatio- ginnen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion, eigentlich
nen; wir hätten nicht immer die Damen und Herren sofort vergessen, dass Sie schon 1991 und bis 1998 an der Re-
vor Ort, die wir in der Ausschusssitzung bräuchten. – gierung waren – Sie hatten nach dem Beschluss alle Mög-
Meine Damen und Herren, ich möchte Sie daran erinnern, lichkeiten, einen vernünftigen Umzug vorzubereiten –
dass dieses Problem mit dem Gesetz und der Aufteilung und wir, als Sie uns Ihren Antrag auf den Tisch gelegt
zwischen Berlin und Bonn überhaupt nichts zu tun hat. haben, gerade einmal anderthalb Jahre an der Regierung
Wenn beim Haushaltsausschuss oder beim Rechnungs- waren?
prüfungsausschuss manchmal 40, 50 oder 60 Beamte auf
den Fluren warten, mit der Aussicht, vielleicht einmal für (Beifall bei der SPD)
fünf Minuten in den Raum gelassen zu werden, dann muss Sie waren doch geradezu Berlin-süchtig. Schauen Sie
man sich fragen, a) ob dies den Mitarbeiterinnen und Mit- sich doch einmal den Kanzleramtsbau an, den wir am
arbeitern gegenüber zumutbar ist und b) ob dies nicht eine Platz der Republik stehen haben und von Ihnen überneh-
Verschleuderung von Humankapital ist. Hier geht die men mussten.
Frage an uns selber, welche Ansprüche wir stellen. Wenn
wir permanent im Munde führen, dass wir eine moderne (Beifall bei der SPD und dem BÜND-
Dienstleistungsgesellschaft schaffen wollen und dass man NIS 90/DIE GRÜNEN)
für Multimedia und IT mehr tun müsse, aber uns anson- Ich denke, mit diesem scheinheiligen Antrag wollen
sten so verhalten, als wären wir noch in der Paulskirche Sie von den vielen dringenden Problemen ablenken, bei
und als wäre E-Mail so weit entfernt wie der Andromeda- deren Lösung Sie sich heute verweigern. Ihr Antrag
nebel, dann müssen wir uns selber fragen, ob es nicht an stammt vom Juni 1999; zu dem Zeitpunkt waren wir noch
uns ist, etwas zu ändern. gar nicht umgezogen und konnten überhaupt noch nicht
Der Umzug von Bonn nach Berlin würde, wenn denn wissen, wie die Arbeitsbedingungen in Berlin aussehen
alle Ministerien nach Berlin kommen sollten, für Bonn würden. Dass nicht alles fristgerecht fertig werden würde,
den Verlust von etwa 30 000 Arbeitsplätzen bedeuten. war damals schon klar; aber das hat nicht diese Regierung
Diesen Arbeitsplatzverlust kann die Region nicht ver- zu verantworten, sondern das haben wir als Altlast von
kraften. Dies ist auch für die betroffenen Familien nicht Ihnen übernommen.
zumutbar. Die Stadt Bonn braucht Planungssicherheit für (Beifall bei der SPD)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10901
Hans-Peter Kemper

(A) Die Ausgleichszahlungen für Bonn waren längst ange- komplett zitieren. Der Hauptsatz in diesem Schreiben von (C)
laufen. Alles lief reibungslos und von daher war Ihr An- Landwirtschaftsminister Funke lautet:
trag genauso überflüssig wie entlarvend.
Es gibt das Bonn/Berlin-Gesetz und damit eine klare
(Norbert Hauser [Bonn] [CDU/CSU]: Sie sind Rechtslage. Und daran halten wir uns.
im Moment beim Antrag und nicht beim Ge-
Es wäre einfach nur fair gewesen, wenn Sie diesen Satz
setz, Herr Kollege!)
ebenfalls zitiert hätten, denn dieser gibt die Wirklichkeit
Meine Damen und Herren von der Opposition, was wieder.
bemängeln Sie eigentlich? Wir sind im Juli/August nach
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Berlin umgezogen. Ich will Ihnen deutlich sagen: Ich habe
DIE GRÜNEN – Wilhelm Schmidt [Salzgitter]
nicht zu denen gehört, die sich über den Berlin-Beschluss
[SPD]: So weit zur Demagogie von Herrn
gefreut haben. Ich habe auch nicht zu denjenigen gehört,
Hauser!)
die sich über den Berlin-Umzug gefreut haben. Ich habe
zu denen gehört, die einen Antrag unterschrieben haben, – Jawohl.
den Umzug nach Berlin so lange zu verschieben, bis dort
Die Arbeitsfähigkeit – daran gibt es zwischen uns
alles fertig ist – gegen einen Umzug in Provisorien! Als
wohl keinen Zweifel – muss sowohl in Bonn als auch in
Nordrhein-Westfale habe ich ganz erhebliche Sorgen
Berlin gewährleistet sein. Sie muss immer wieder über-
gehabt, was aus der Region Bonn werden würde und wie
prüft und auch verbessert werden. Ich möchte nicht erle-
wir in Berlin ankommen würden.
ben, dass unsere Arbeit aufgrund falscher Personalge-
Nach den Anfangsschwierigkeiten, die bei einem Um- wichtungen in Bonn oder Berlin hier behindert würde
zug dieser Größenordnung immer vorkommen, haben wir oder Sie nicht genügend Informationen bekämen. Dann
hier recht gute Arbeitsbedingungen vorgefunden, auch möchte ich mal sehen, welchen Zirkus Sie veranstalten
wenn sich diese verbessern lassen und auch noch verbes- würden! Daher müssen wir das ständig überprüfen.
sern werden, wenn wir in den endgültigen Liegenschaften
Es werden weitere europäische und internationale Ein-
untergebracht sind. Die Bedingungen sind aber annehm-
richtungen folgen. Die vereinbarten Ausgleichsmaßnah-
bar und das Leben hier hat sich normalisiert.
men haben doch ihre Wirkung nicht verfehlt. Bis
Viele von uns, die damals mit großen Bauchschmerzen Juni 1999 waren von den zugesagten 2,81 Milliarden DM
nach Berlin umgezogen sind, fühlen sich inzwischen bereits 2,68 Milliarden DM für konkrete Maßnahmen im
wohl, Bereich der Wissenschaft, der Kultur und der Wirt-
schaftsförderung ausgegeben bzw. fest verplant. Nord-
(Beifall bei der SPD und dem BÜND-
rhein-Westfalens hervorragender Ministerpräsident
(B) NIS 90/DIE GRÜNEN) (D)
Wolfgang Clement,
trotz der Unzulänglichkeiten und gelegentlichen Ärger-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
nisse, auf die ich gleich zu sprechen komme.
der die nordrhein-westfälischen Interessen wirklich mit
In Bonn hat es keine dramatischen strukturellen Ein-
großem Einsatz vertritt, hat mehrfach darauf hingewiesen
brüche gegeben. Die Arbeitslosenzahlen sind nicht ge-
stiegen. Die Mieten und Immobilienpreise sind nicht ge- (Zuruf des Abg. Dr. Guido Westerwelle
sunken, ganz im Gegenteil: Die durch den Verlust der [F.D.P.])
Hauptstadtfunktion für die Region Bonn entstandenen
– Herr Westerwelle, vielleicht werden Sie irgendwann
Veränderungen werden strukturell recht gut abgefangen.
auch einmal daran beteiligt, wenn Sie brav sind –
Das Eisenbahn-Bundesamt, das Bundeszentralregister,
(Heiterkeit bei der SPD – Dr. Guido Westerwelle
das Bundeskartellamt, der Bundesrechnungshof, das Sta-
[F.D.P.]: Das sollten Sie hier einmal vormittags
tistische Bundesamt, das Bundesamt für Arzneimittel-
sagen!)
kunde, das Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswe-
sen und diverse Entwicklungshilfeeinrichtungen waren dass die Region Bonn inzwischen brummt. In der Region
früher nicht in Bonn, wohl aber jetzt: Dort haben viele sind inzwischen mehr Arbeitsplätze als vor dem Berlin-
ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die nicht mit umzug vorhanden.
nach Berlin umziehen wollten, einen sicheren dauerhaften
Wir debattieren hier über einen Antrag der Opposition,
Arbeitsplatz gefunden. Die vereinbarten Ministerien sind
der von der Sache her längst erledigt ist. Sie schlagen mit
in Bonn geblieben, mit Kopfstellen in Berlin.
Ihrem Antrag die Schlachten von gestern. Er ist nicht
Herr Hauser, da ich natürlich wusste, dass Sie den Ar- mehr als eine Luftnummer.
tikel des „Express“ anführen würden, in dem von konspi-
(Beifall bei der SPD)
rativen Unternehmungen des Bauernministers und einem
Geheimpapier die Rede ist, habe ich mir den Brief von Haben Sie den Bericht, den die Bundesregierung am
Herrn Funke besorgt. Es handelt sich keinesfalls um ein 13. September 1999 vorgelegt hat, nicht gelesen? Darin
Geheimpapier, sondern um einen Brief des Landwirt- steht doch haarklein, was als Ausgleich für den struktu-
schaftsministers Karl-Heinz Funke an die Mitarbeiterin- rellen Verlust für Bonn inzwischen geleistet wurde. Ich
nen und Mitarbeiter – also völlig öffentlich –, weil er zu will Sie hier nicht mit Zahlen langweilen, aber wenn Sie
einer Personalversammlung nicht kommen konnte. Wenn den Bericht selbst nicht gelesen haben und die Zahlen
Sie etwas zitieren, gebietet es die Fairness, dass Sie auch nicht kennen, muss ich vielleicht stichpunktartig einige
10902 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Hans-Peter Kemper

(A) nennen. Es wurden geleistet: für den Bereich Wissen- mit ihm verbunden waren, recht gut gelaufen ist. Berlin ist (C)
schaft 1,6 Milliarden DM, für den Bereich Kultur auf gutem Weg, eine Hauptstadt mit Charme und ein guter
100 Millionen DM, für den Bereich Wirtschaft 300 Milli- Gastgeber zu werden. Bonn ist auf gutem Weg, eine
onen DM, für den Bereich Verkehr 500 Millionen DM und Bundesstadt mit hervorragenden Perspektiven zu werden.
an Soforthilfe 210 Millionen DM. Außerdem haben wir Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
Grundstücke bereitgestellt, um die Ansiedlung von Ein- sind auf gutem Weg, die Fraktion der Nörgler zu werden.
richtungen zu erleichtern. Ich denke, dies ist eine ganze
Menge und kann sich sehen lassen. Schönen Dank.

Sie versuchen mit Ihrem Antrag vergebens, den Ein- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
druck zu erwecken, als ob es einen Niedergang in der Re- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
gion Bonn und Umgebung gäbe. Ich frage die beiden PDS)
Norberts aus Bonn – eigentlich sind es drei, die in der Kopf-
leiste des Antrags stehen, und eben habe ich einen vierten Vizepräsidentin Anke Fuchs: Jetzt hat der Kollege
Norbert aus Nordrhein-Westfalen ausgemacht, der die Guido Westerwelle von der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Kleine Anfrage gestellt hat; das Umzugsproblem scheint
also in erster Linie ein Problem der Norberts zu sein –:
Dr. Guido Westerwelle (F.D.P.): Frau Präsidentin!
(Norbert Hauser [Bonn] [CDU/CSU]: Das ist Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen
ein starkes Argument, Herr Kollege!) und Kollegen! Ich will vorab zwei Punkte ansprechen.
Warum verunsichern Sie die Menschen, die in Bonn und Der Antrag ist in der Sache nicht zu beanstanden. Dieje-
Umgebung leben, völlig grundlos? Dies würden Sie si- nigen, die sich dem Berlin/Bonn-Gesetz und den entspre-
cher nicht tun, wenn Sie nicht am 27. September 1998 – chenden Vereinbarungen verpflichtet fühlen, werden,
völlig zu Recht – in der Opposition gelandet wären. wenn sie den Antrag gelesen haben, nicht gegen ihn spre-
chen können.
(Beifall der Abg. Franziska Eichstädt-Bohlig
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Die Frage ist – das muss man der CDU/CSU-Fraktion
sagen –, ob es klug war, diesen Antrag als Fraktion in den
Und Berlin? Die Stadt hat sicher von dem Hauptstadt- Deutschen Bundestag einzubringen – entgegen der Pra-
beschluss profitiert. Nachdem sie zunächst alles daran ge- xis, die wir als Abgeordnete der Region immer geübt ha-
setzt hat, Hauptstadt und Regierungssitz zu werden, emp-
ben, nämlich gemeinsam überparteiliche Initiativen ein-
fing sie uns dann, als wir hierher kamen – sozusagen als
zubringen, um den Anliegen unserer Region mehr Nach-
kleines Dankeschön –, mit der Zweitwohnungssteuer. Die
(B) Berliner Kollegen müssen schon ertragen, dass ich das druck zu verleihen. Ob dieses Vorgehen klug gewesen ist, (D)
müssen wir dahingestellt sein lassen.
hier erwähne. Die ständige Sperrung des Brandenburger
Tors durch Demonstranten ist gelegentlich lästig. Ganz (Zustimmung bei der F.D.P.)
besonders geärgert hat uns aber der Marsch der Neonazis
Herr Kollege Kemper, ich will Ihnen aber auch aus-
durch das Brandenburger Tor. Das war beschämend.
drücklich sagen: Das, was heute als Brief des Landwirt-
(Beifall im ganzen Hause – Dr. Guido Westerwelle schaftsministers zitiert wurde, reiht sich auch aus meiner
[F.D.P.]: Das hätte es in Bonn nicht gegeben!) Sicht in die traurige Reihe von Vorkommnissen seitens
Diese Bilder sind mit verheerender Wirkung um die Welt der Bundesregierung ein.
gegangen. So etwas darf sich nicht wiederholen; hier gibt (Jörg van Essen [F.D.P.]: Das ist eine grobe
es klare Verantwortlichkeiten. Unverschämtheit!)
Berlin hat mit dem Hauptstadtbeschluss Verpflichtun- Das hat jetzt gar nichts mit irgendwelchen parteipoliti-
gen übernommen, die eingehalten werden müssen. Uns schen „Kartereien“ zu tun. Es geht ganz einfach darum, ob
aus Nordrhein-Westfalen war klar, welche Mehrbelastung das, was wir in der Abschiedssitzung im Deutschen Bun-
ständige Staatsbesuche und Objektschutz für die Sicher- destag in Bonn alle heftig beklatscht haben, nämlich dass
heitskräfte bedeuten. Das musste auch den Berliner Ver- wir uns auch noch in Berlin Bonn verpflichtet fühlen,
antwortlichen klar sein. Von daher sind Klagen und immer Realität bleibt oder ob wir hier nach der Devise handeln:
neue Forderungen an den Bund in diesem Bereich unver- Aus den Augen aus dem Sinn.
ständlich.
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Die Unterbringung der Polizeibeamten, die letztlich
auch für unsere Sicherheit verantwortlich sind, war im Das ist die eigentliche Sorge, die wir haben müssen. Das
letzten Winter derart katastrophal, dass mein Kollege hat nichts mit irgendwelchen parteipolitischen „Karte-
Günter Graf hier im Plenum in einer Kurzintervention die reien“ zu tun.
Verbesserung dieser Unterbringung gefordert hat und Ich stelle fest: Wir haben ein Gesetz. Das Gesetz bin-
beim Berliner Innenminister Werthebach massiv vorstel- det alle. Es bindet selbstverständlich auch die Bundesre-
lig geworden ist mit dem Ziel, die Situation der Polizei-
gierung. Schon wie der Bundesumweltminister mit den
beamten hier zu verbessern.
Nachfolgebehörden des Bundesgesundheitsamtes umge-
Ich denke aber, dass der Umzug angesichts des gewal- gangen ist, ist aus meiner Sicht eine Strapazierung der
tigen Volumens und der gewaltigen Schwierigkeiten, die Vereinbarung und des Gesetzes. Ich weiß, dass es bei SPD
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10903
Dr. Guido Westerwelle

(A) und Grünen viele Kolleginnen und Kollegen gibt, die das – Ich weiß gar nicht, was ihr wollt. Wenn wir da sein kön- (C)
ganz genauso sehen. nen, kann doch von denen auch jemand da sein, oder
nicht?
Meine Damen und Herren, wenn hier jetzt Zitate von
Herrn Funke gebracht werden: Es ist Ihr berechtigtes (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten
Bemühen, Ihren Parteikollegen in Schutz zu nehmen. Es der PDS)
bleibt aber ein befremdliches Zitat. Nicht der Antrag, über
dessen taktische Klugheit wir reden können, ist die Ursa- Vizepräsidentin Anke Fuchs: Herr Kollege, trotz-
che der Verunsicherung. Die Ursache der Verunsiche- dem ist Ihre Redezeit jetzt abgelaufen.
rung sind solche Äußerungen, zumal wenn sie schriftlich
gemacht werden.
Dr. Guido Westerwelle (F.D.P.): Ich danke Ihnen,
(Jörg van Essen [F.D.P.]: Sehr richtig!) Frau Präsidentin, für diesen Hinweis.
Es ist ein echtes Problem, wenn Sie in Bonn Anrufe Ich möchte noch eines sagen, was mir, meine Damen
von Betroffenen bekommen, die auch Planungssicherheit und Herren, Kolleginnen und Kollegen, ein ernstes Anlie-
brauchen – Anrufe, wie wir alle sie in vergleichbaren Fäl- gen ist.
len in unseren Wahlkreisen bekämen; Bonn ist auch mein
Wahlkreis –: Was ist denn jetzt da? Was passiert denn jetzt
dort? Wer das Berlin/Bonn-Gesetz jetzt für die Zeit nach Vizepräsidentin Anke Fuchs: Herr Kollege, denken
2002 öffentlich schriftlich infrage stellt, der macht meiner Sie bitte an Ihre Redezeit.
Meinung nach einen ganz großen, einen historischen Feh-
ler. Dr. Guido Westerwelle (F.D.P.): Darf ich noch einen
(Beifall der Abg. Dr. Irmgard Schwaetzer letzten Satz sagen, Frau Präsidentin?
[F.D.P.]) Für Sie ist das Ganze vielleicht Jux. Ich sage Ihnen:
Wir sind von Bonn nach Berlin umgezogen, nicht weil Wenn führende Minister des Bundeskabinetts – der Land-
Bonn gescheitert ist, sondern weil wir hier die Vollendung wirtschaftsminister sitzt ja in der ersten Reihe des Kabi-
der deutschen Einheit bewältigen konnten. Das ist ein netts – derartige Erklärungen abgeben, dann, meine ich,
wäre es auch Aufgabe des Bundeskanzlers – oder seines
riesiger Unterschied. Das gilt auch für die Diskussion
Vertreters –, hier Klartext zu reden
Bonner Republik/Berliner Republik, Weimarer Repu-
blik/Bonner Republik. Hier wird etwas fortgesetzt und (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Nun
nicht etwas beendet. Das ist auch meiner Meinung nach bauschen Sie das doch nicht so auf!)
(B) ein ganz großer Unterschied im Denken, meine sehr ge- (D)
und solche Äußerungen richtig zu stellen. Das ist eine
ehrten Kolleginnen und Kollegen. Chance, die er verpasst hat.
(Beifall bei der F.D.P.) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Dass dieser Antrag notwendig ist, können Sie – bei
allem Respekt vor der imposanten Präsenz des Bundes- Vizepräsidentin Anke Fuchs: Nun hat das Wort die
kabinetts – auch daran erkennen, dass der Umzugsbeauf- Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig, Bündnis 90/Die
tragte der Bundesregierung nicht hier ist. Grünen.
(Achim Großmann, Parl. Staatssekretär: Er ist
da!) Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE
– Der Umzugsbeauftragte ist nicht hier! GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zunächst zu dem, was ich an dem Antrag kor-
(Achim Großmann, Parl. Staatssekretär: rekt finde: Der Bundestag soll bekräftigen, dass die be-
Natürlich!) schlossenen Ausgleichsmaßnahmen in vollem Umfang
– Wo ist er denn? Sie sind der Umzugsbeauftragte? Ich realisiert werden – das werden sie –, dass die für Bonn
dachte, das ist Herr Klimmt. vorgesehenen Bundesbehörden gemäß der geltenden Ge-
setzes- und Beschlusslage umziehen werden – das tun sie –,
(Achim Großmann, Parl. Staatssekretär: und dass sich der Bund weiterhin um die Ansiedelung zu-
Ich vertrete ihn!) sätzlicher Institutionen, insbesondere internationaler Or-
– Sie vertreten ihn? Ich bin begeistert darüber, dass Sie da ganisationen, nach Bonn bemüht – das tut der Bund. Von
sind. Aber bei allem Respekt vor der Funktion eines daher glaube ich, dass man nicht sagen kann, dass sich die
Staatssekretärs: Die Anwesenheit des Ministers, des Um- rot-grüne Bundesregierung nicht für den Ausgleich der
zugsbeauftragten ist schon eine Frage der Achtung vor Bonner Interessen einsetzt.
diesem Parlament. Trotzdem muss ich, nachdem wir nun ein Jahr hier sind –
(Beifall bei der F.D.P.) Ihr Antrag ist ja schon ein Jahr alt – deutlich sagen: Es hilft
nicht, wenn wir nur Schaufensterreden halten. Wir haben
Auch das Bundeskanzleramt ist hier heute nicht ver- als Parlament Verantwortung auch da
treten.
(Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Dann
(Zurufe von der SPD: Oh!) werden Sie einmal konkret!)
10904 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Franziska Eichstädt-Bohlig

(A) – ja, das werde ich –, wo wir Probleme mit dem Ber- aber wir als Parlament können nicht einfach so tun, als (C)
lin/Bonn-Gesetz haben. Wir wollen sie zumindest schritt- könnten wir dieses Problem verdrängen.
weise in die Diskussion einbringen, uns ihnen stellen und Von daher gilt meiner Meinung nach: Auf der einen
sie nicht verdrängen. Seite dürfen wir die Augen vor den Problemen nicht ver-
(Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Wieso schließen, in dem wir mit Schaufensteranträgen so tun, als
„schrittweise“? Der Beschluss ist gefasst!) bräuchten wir uns dem Thema nicht zu stellen, und auf der
anderen Seite gilt es – das möchte ich sehr deutlich sagen –,
– Moment, lassen Sie mich doch reden, liebe Frau Kolle- das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten. Es ist wich-
gin, dann werden Sie verstehen, was ich meine. tig, dass die einzelnen Ministerien nunmehr prüfen – das
Es geht darum, dass wir mit der Vorgabe des Gesetzes erfordert auch Zeit, die man den Ministerien lassen sollte,
zunehmend Schwierigkeiten mit der Effektivität des zumal die Arbeitsfähigkeit nach dem Umzug bei den mei-
Verwaltungshandelns haben: Auf der einen Seite sten betroffenen Ministerien noch nicht oder erst seit
müssen wir die Funktionsfähigkeit der Regierung in Ber- kurzem hergestellt ist –, ob sie mit der letztlich Anfang der
lin und die Zusammenarbeit mit Bundestag und – ab 90er-Jahre vereinbarten Arbeitsteilung klarkommen oder
Herbst – Bundesrat gewährleisten und auf der anderen ob sie Nachbesserungsbedarf sehen. Insofern sollten wir
Seite über die Hälfte der Arbeitsplätze in Bonn belassen. erst in der nächsten Legislaturperiode Bilanz ziehen und
ehrlich prüfen, was in diesem Bereich gemacht werden
(Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Aha! muss. Ich wünsche mir dabei, dass wir die Ehrlichkeit ha-
Sie wollen die Rutschbahn!) ben, diese Probleme auch dann anzusprechen, wenn sie
– Nein, hören Sie doch einmal zu, Frau Kollegin. angesprochen werden müssen. Ich werde mich dabei je-
derzeit dafür einsetzen, dass bei eventuellen weiteren
Wir haben einen enormen Zeit-, Kosten- und Kraftauf- Umzügen auf Regierungsebene ein angemessener Aus-
wand. Ich möchte, dass wir uns diesem Thema ehrlich gleich für Bonn vorgenommen wird. Wir müssen dann das
stellen. Thema aktiv angehen und diskutieren, aber nicht weiter in
(Beifall bei der SPD) einer Form der Vogel-Strauß-Politik.

Wir können es unserer Verwaltung, unseren Ministerin- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
nen und Ministern sowie den Führungskräften nicht stän- und bei der SPD)
dig zumuten, dass wir vor diesem Problem praktisch die
Augen verschließen und so tun, als gäbe es das Problem Vizepräsidentin Anke Fuchs: Nun erteile ich das
nicht. Wort der Kollegin Petra Pau, PDS-Fraktion.
(B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (D)
Petra Pau (PDS): Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-
Tatsache ist: Wir haben derzeit 11 400 Arbeitsplätze
nen und Kollegen! Der Antrag „Wort halten – Umsetzung
der Regierung – ohne die nachgeordneten Behörden – in
der Bonn/Berlin-Beschlüsse“, über den heute abgestimmt
Bonn, 8 200 in Berlin, also knapp 60 Prozent in Bonn,
werden soll, hat sich inzwischen ein Jahr durch das Parla-
42 Prozent in Berlin. Die Ministerien mit dem ersten
ment bewegt. Er zielt richtigerweise darauf, der Bundes-
Dienstsitz in Bonn – das sind beispielsweise das Ministe- stadt Bonn und der Region einen fairen Ausgleich für den
rium für Gesundheit und das Ministerium für Ernährung, Weggang von Bundestag und Ministerien zu sichern.
Landwirtschaft und Forsten, aber auch das Ministerium Aber er hat aus meiner Sicht auch eine falsche Zielrich-
für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit – haben tung. Er zielt nämlich darauf ab, Anfang der 90er-Jahre
rund 25 Prozent ihrer Arbeitsplätze in Berlin. Die Minis- getroffene Vereinbarungen für unabänderlich und auf
terien, die ihren ersten Dienstsitz in Berlin haben, weisen ewig festgeschrieben zu erklären. Ich meine, dass daher
ganz unterschiedliche Quoten auf. Ich will einmal ein paar nicht nur der federführende Innenausschuss zu Recht mit
Beispiele nennen – ich denke, es ist schon wichtig, dass Mehrheit empfohlen hat, den Antrag heute abzulehnen.
wir in dem Punkte Klarheit haben –: Das Bundesministe-
rium des Innern hat beispielsweise 30 Prozent aller (Beifall bei der PDS)
Arbeitsplätze in Bonn, das der Finanzen 46 Prozent und Die Bundesregierung hat im September des vergange-
das Arbeitsministerium schließlich 76 Prozent. nen Jahres eine Bilanz über den Umzug nach Berlin und
Ich denke, wir müssen nach einem Jahr Regierungs- über Ausgleichsleistungen für die Region Bonn vorgelegt.
tätigkeit ehrlich Bilanz ziehen: Wir betreiben insbeson- Ich sehe in dieser Bilanz keinen Grund für die Unterstel-
dere für die Führungskräfte unserer Ministerien einen un- lung, die Region Bonn könnte unfair behandelt werden.
zumutbaren Aufwand, der sich zu verfestigen droht. Die- Vielmehr registriere ich mit sehr viel Achtung, dass es im
ser Diskussion müssen wir uns bei aller Sympathie für die Zusammenspiel von Bund und Bonn gelungen ist, einen
Region Bonn stellen. Wir erwarten gerade von der Füh- wirksamen Strukturwandel einzuleiten und der Bonner
rungsebene, dass sie auf der einen Seite die Koordination Region ein neues und auch international bedeutsames Re-
der Ressorts mit dem Bundestag und künftig auch mit nommee zu sichern.
dem Bundesrat leistet und auf der anderen Seite nach in- Sinnvollerweise sind zahlreiche Ämter, Institutionen
nen in effizienter Weise bis in die unteren Arbeitsebenen und Unternehmen in die Region Bonn gerutscht – um den
hineinwirkt. Ich sage Ihnen: Das wird auf Dauer nicht gut heute aktuellen Begriff zu benutzen – und weitere werden
gehen. Ich weiß, dass das ein sehr schwieriges Thema ist, folgen. Ich habe nicht gehört, dass das irgendjemand in-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10905
Petra Pau

(A) frage gestellt hätte. Wenn heute registriert wird, dass die – Sie haben offenbar gute Kontakte. (C)
Region Bonn die niedrigste Arbeitslosenquote der Bun-
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Fra-
desrepublik aufweist, dann ist das nach meiner Meinung
ge, die sich am Ende dieser Debatte stellt, lautet: Warum
ein weiteres Indiz für einen grundsätzlich engagierten und
können SPD und Grüne diesem Antrag nicht zustimmen?
fairen Umgang mit den angesprochenen Problemen.
Warum können Sie einem Antrag nicht zustimmen, des-
Jetzt komme ich zum Wermutstropfen: Ein solches En- sen Inhalt es ist, die Bundesregierung aufzufordern, sich
gagement und eine solche Fairness der Bundesregierung an die geltende Beschluss- und Gesetzeslage zu halten?
würde ich mir endlich auch gegenüber Berlin wünschen.
(Rudolf Bindig [SPD]: Weil Sie offene Türen
(Beifall bei der PDS) einrennen!)
Dieses Engagement wünsche ich mir gerade vor dem Hin- Darauf sagen Sie offensichtlich: Das ist ja eine Selbstver-
tergrund der immer noch ausstehenden Vereinbarung des ständlichkeit. Dann muss ich Ihnen sagen – das werden
Bundes mit dem Land Berlin über die Finanzierung der wir übrigens auch den Menschen in dieser Region sagen,
zusätzlichen Leistungen, zum Beispiel im Bereich der verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD –, dass
Sicherheit. diese Region Sie offensichtlich so wenig interessiert, dass
Einer heute eingegangenen taufrischen Antwort der Sie die Probleme nicht einmal kennen.
Bundesregierung auf eine kleine Anfrage entnehme ich (Beifall bei der CDU/CSU - Dr. Guido Westerwelle
sogar puren Hohn in dieser Frage. So teilt das Bundesfi- [F.D.P.]: Die nehmen das nicht ernst, Frau Prä-
nanzministerium zum Beispiel mit, man werde sich fi- sidentin!)
nanziell beteiligen, wenn man beim Land Berlin zusätzli-
che Leistungen bestelle. Ich wünsche mir, dass der Bun- – Ja, die nehmen das nicht ernst. Aber die Menschen in der
desfinanzminister und der Bundesinnenminister am Region Bonn, Rhein-Sieg und Ahrweiler nehmen es ernst.
Montag auf die Straße gehen und den Polizisten, die zur Sie haben offensichtlich noch nicht zur Kenntnis genom-
Sicherung der Staatsaufgaben Überstunden leisten, erklä- men, dass es akute Gesetzesverletzungen dieser Bundes-
ren, dass sie angeblich nicht bestellt wurden. Auch das regierung gibt. Das nehmen Sie nicht zur Kenntnis. Die
gehört zum fairen Umgang und zu einem fairen Ausgleich Menschen in der Region jedoch nehmen das zur Kenntnis.
zwischen Berlin und Bonn. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist
(Beifall bei der PDS) doch Unsinn!)

Ein letzter Punkt: Im Kern geht es in dem vorliegenden – Herr Schmidt, Sie sagen: „Das ist doch Unsinn!“ Ich
(B) Antrag um etwas ganz anderes. Knapp zehn Jahre nach sage Ihnen Folgendes: Wenn im Berlin Bonn-Gesetz fest- (D)
der Beschlussfassung und ein Jahr nach dem vollzogenen geschrieben ist, dass das Bundesamt für Strahlenschutz
Umzug ist es legitim und geboten, zu prüfen, ob die einst von Berlin nach Bonn umzieht und der Bundesumwelt-
gedachte Verteilung der Ministerien zwischen Bonn und minister die Entscheidung trifft, dass dieser Umzug nicht
Berlin wirklich effektiv ist. Man sollte sich nicht wie der stattfindet, dann ist das eine Verletzung des Berlin/Bonn-
Landwirtschaftsminister heute verhalten. Auf der Grund- Gesetzes, die das Parlament als Ganzes nicht hinnehmen
lage einer ehrlichen Bestandsaufnahme sollte 2002 nicht kann.
nur eine Bilanz, sondern ein sinnvoller Vorschlag vorge- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
legt werden, der wiederum den Ausgleich zwischen Ber-
lin und Bonn zum Ziel hat. Vielleicht kommen wir zu dem Ich stelle fest, Sie sind von dieser Tatsache überrascht.
Ergebnis, dass wir die Rutschbahn in beide Richtungen Das bestätigt aber nur meine These, dass Sie sich nicht für
schmieren müssen, damit am Ende Berlin wie Bonn nicht den Sachverhalt interessieren.
nur einen fairen Ausgleich haben, sondern sowohl das Re- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Nein, das
gieren als auch das Leben in beiden Regionen funktioniert Bundesamt für Strahlenschutz liegt in meinem
und vielleicht auch Spaß macht. Wahlkreis!)
Danke schön. Das ist der Vorwurf, den ich Ihnen mache, nicht allen: Es
gibt auch in Ihrer Fraktion Mitglieder, die sich für diese
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Jetzt hat der Kollege Region einsetzen. In dieser Debatte wird deutlich, dass
Norbert Röttgen, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. Sie diese Region abgeschrieben haben. Auch der Kollege
Kemper hat das in seiner Rede deutlich gemacht. Es in-
(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Noch teressiert Sie nicht mehr, was dort läuft. Sie nehmen sogar
eine „General-Anzeiger“-Rede! Die Rede ist Gesetzesverstöße in Kauf. Das Beispiel des Bundesamtes
doch sowieso schon beim „General-Anzei- für Strahlenschutz ist ein eindeutiger Gesetzesverstoß.
ger“!) Das kritisieren wir.
Meine Damen und Herren, dies ist nicht nur ein regio-
Norbert Röttgen (CDU/CSU): Das kann der „Gene-
nales Anliegen. Es ist auch eine Frage des parlamentari-
ral-Anzeiger“ nicht lesen, Herr Kollege Schmidt.
schen Selbstverständnisses, ob wir es als Parlament hin-
(Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Der „Gene- nehmen, dass eine Bundesregierung erklärt, dass sie sich
ral-Anzeiger“ kann alles lesen!) über Gesetze, die dieser Bundestag beschlossen hat,
10906 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Norbert Röttgen

(A) einfach hinwegsetzt. Das darf der Bundestag nicht hin- wären. Ich stelle bei Ihnen eine große Gleichgültigkeit (C)
nehmen. gegenüber der Bonner Region, den dort betroffenen Men-
schen und Familien fest, die unsicher sind. Wir werden
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
das den Menschen auch mitteilen. Darauf können Sie sich
Wir verlangen vom Bundesumweltminister, dass er den verlassen.
Anstand und den Mut hat, in das Parlament zu kommen,
(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Im „Ge-
und zu sagen: Ich möchte dieses Gesetz ändern und habe
neral-Anzeiger“!)
diese oder jene Gründe dafür. Das müssen wir als Parla-
ment insgesamt erwarten, meine Damen und Herren. – Ja, wir werden dafür sorgen, dass die örtlichen Medien
über die Arroganz der Mehrheitsfraktionen berichten wer-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
den, die sich nicht darum kümmern, ob sich die Bundes-
Das sollte keine Frage von Parteien sein. regierung an geltendes Recht hält oder nicht. Das werden
wir den Bürgerinnen und Bürgern der Region mitteilen.
(Abg. Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜND-
Das verspreche ich Ihnen.
NIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer
Zwischenfrage) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Die Bundesregierung und das Parlament sind ver-
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Um diese Zeit lasse pflichtet, die Politikbereiche in der Bonner Region nicht
ich keine Zwischenfragen mehr zu, meine Damen und nur zu erhalten, sondern auch zu fördern. Wir appellieren
Herren. an Sie: Zwingen Sie die Städte und Kreise nicht in ein
Kleinklein der Verteidigung! Seien Sie gesetzestreu! Das
Ich bitte um Nachsicht, dass wir dieses so durchziehen.
ist unsere Forderung an Sie. Sehen Sie auch die Chancen
Ich möchte nicht, dass die Frage gestellt wird, ob die Be-
der Beschlusslage. Sie bietet auch die Chance, eine effizi-
schlussfähigkeit gegeben ist oder nicht. Lassen Sie uns
ente, politikorientierte Regierung und Verwaltung in der
das ordentlich zu Ende bringen.
Bundeshauptstadt Berlin anzusiedeln. Kehren Sie zum
Die Bemerkung, die ich gemacht habe, Herr Kollege früheren Dialog mit der Bonner Region zurück. Reden
Röttgen, wird nicht von Ihrer Redezeit abgezogen. Sie mit den Menschen in dieser Region. Suchen Sie das
konzeptionelle Gespräch. Versuchen Sie die Politikberei-
Sie haben das Wort.
che, deren Ausbau zugesagt worden ist, zu fördern. Unser
Appell lautet – er richtet sich an alle Parlamentarier –:
Norbert Röttgen (CDU/CSU): Danke sehr. Alle Bürgerinnen und Bürger in diesem Land haben das
Recht auf gesetzestreues Verhalten der Bundesregierung.
(B) Das Bundesamt für Strahlenschutz ist kein Einzelfall. (D)
Auch andere Bundesämter sind bisher nicht umgezogen. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Was sa-
Zurzeit besteht in der Bonner Region die akute Sorge, gen Sie denn zu Herrn Kohl?)
dass der Politikbereich Gesundheit, dessen Erhalt eben-
Das sollten die Bürgerinnen und Bürger auch einfordern.
falls gesetzlich festgelegt ist, mit der Entscheidung, die
Kassenärztliche Bundesvereinigung von Köln nach Ber- Die Menschen in der Regionen Bonn, Rhein-Sieg und
lin zu verlagern, ausgehöhlt wird. Es ist ebenfalls eine Ahrweiler haben Anspruch auf Verlässlichkeit und Pla-
Pflicht dieser Bundesregierung, die Politikbereiche in die- nungssicherheit. Sie befinden sich in einem schwierigen
ser Region zu halten und zu fördern. Wenn die Kas- Umstrukturierungsprozess. Sie brauchen Verlässlichkeit
senärztliche Bundesvereinigung als öffentlich-rechtliche wie die Luft zum Atmen. Sie nehmen ihnen diese Luft.
Körperschaft so beschließen würde, wie sie es vorhat, Darüber bin ich sehr enttäuscht. Aber wir werden die Bür-
dann wäre das rechtswidrig. Auch dies ist gutachtlich gerinnen und Bürger darüber informieren. Darauf können
nachgewiesen. Wenn die Bundesgesundheitsministerin Sie sich verlassen. Sie werden die Quittung für Ihr Ver-
diesen rechtswidrigen Beschluss – sie hat angedeutet, halten schon noch bekommen.
dass sie es tun will – genehmigen würde
Herzlichen Dank.
(Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Wenn sie
(Beifall bei der CDU/CSU)
denn da wäre!)
– richtig, „wenn sie denn da wäre“; die Bundesregierung
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Liebe Kolleginnen
ist an dieser Thematik nicht sehr interessiert; das können
und Kollegen, ich möchte darauf hinweisen, dass als Ver-
wir auch heute Abend in dieser Debatte konstatieren; Herr
treterin der Bundesgesundheitsministerin die Parlamenta-
Kollege Westerwelle hat es bereits festgestellt –, dann
rische Staatssekretärin, Frau Nickels, anwesend ist. Ich
verhält sich diese Bundesregierung erneut rechtswidrig.
mache nur deshalb darauf aufmerksam, weil eben be-
Das würde die Aushöhlung eines Politikbereiches bedeu-
hauptet wurde, die Regierung sei nicht vertreten.
ten, von der 3 000 Arbeitnehmer mit ihren Familien be-
troffen wären. Das ist Ihre Politik. (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Es ist nur ge-
sagt worden, die Ministerin sei nicht vertreten!)
(Zurufe von der SPD: Fünf CDU/CSU-Leute
sind anwesend!) Ich schließe die Aussprache
Aber die Sorgen der Menschen interessieren Sie nicht. Sie Wir stimmen jetzt über die Beschlussempfehlung des
wissen gar nicht, dass davon 3 000 Menschen betroffen Innenausschusses zum Antrag der Fraktion der CDU/
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10907
Vizepräsidentin Anke Fuchs

(A) CSU zur Umsetzung der Bonn/Berlin-Beschlüsse auf Nach einer interfraktionellen Vereinbarung werden die (C)
Drucksache 14/2699 ab. Der Ausschuss empfiehlt, den Reden der Kollegen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grü-
Antrag auf Drucksache 14/1004 abzulehnen. Wer folgt nen und der F.D.P. zu Protokoll gegeben1). Die Kollegin
dieser Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthal- Vera Lengsfeld und der Kollege Wolfgang Gehrcke be-
tungen? – Die Beschlussempfehlung ist bei Ablehnung kommen zehn Minuten Redezeit. Sind Sie damit einver-
von CDU/CSU und F.D.P. angenommen. standen? – Dann ist das so vereinbart.
Ich erteile der Kollegin Vera Lengsfeld das Wort.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 17 a bis 17 g
auf: (Widerspruch bei der PDS – Zuruf von der
PDS: Es ist ein PDS-Antrag! Wir fangen mit der
a) Beratung des Antrags der Fraktion der PDS PDS an!)
Straffreiheit für Spionage zugunsten der
– Ich bitte um Entschuldigung; jetzt habe ich schon auf-
Deutschen Demokratischen Republik
gerufen.
– Drucksache 14/3065 –
Überweisungsvorschlag: (Vera Lengsfeld [CDU/CSU]: Ich lasse der
Rechtsausschuss (f) PDS gerne den Vortritt!)
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Wer von Ihnen will zuerst sprechen? – Frau Kollegin, Sie
b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti- können anfangen, bitte sehr.
onsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 144 zu Petitionen Vera Lengsfeld (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe
(Amnestie für Bundesbürger, die für die Aus- Kolleginnen und Kollegen! Die politischen Maßstäbe in
landsnachrichtendienste der DDR tätig waren) Deutschland haben sich in den vergangenen Jahren be-
– Drucksache 14/3002 – denklich verschoben. Ein bisschen Stasispitzelei wird
c) Beratung des Antrags der Fraktion der PDS mittlerweile wie ein Kavaliersdelikt behandelt. Linksra-
dikalismus ist beinahe normal und soll nach dem Willen
Bereinigung von politischen Ungerechtigkei- der PDS heute legalisiert werden. Landesverrat soll nun
ten im Kalten Krieg
als eine Art Ehrensache für die Weltrevolution vom Deut-
– Drucksache 14/3066 – schen Bundestag sanktioniert werden.
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss Die PDS unternimmt mit ihrem heutigen Antrag auf
Straffreiheit für DDR-Spione einen neuen und – ihr Sinn
(B) d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti- für Utopien ist ja wesentlich – besonders bizarren Ver- (D)
onsausschusses (2. Ausschuss) such, endlich die ersehnte Westausdehnung zu erreichen.
Sammelübersicht 128 zu Petitionen Sie macht sich zum Fürsprecher derjenigen, die im Wes-
(Das vom Bundesverfassungsgericht verfügte ten mit dem DDR-Ministerium für Staatssicherheit zu-
Verbot der KPD aufheben) sammengearbeitet haben. Das ist insofern konsequent, als
– Drucksache 14/2716 – sich die PDS ihrer Rolle als „Partei der Spitzel“ schon
lange bewusst ist und sie überzeugend spielt.
e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-
onsausschusses (2. Ausschuss) (Lachen bei der PDS)
Sammelübersicht 129 zu Petitionen – Spitzel, die wesentliche Verantwortung hatten, sitzen ja
(Novellierung des Bundesverfassungsgerichts- auch zwischen Ihnen in diesem Saal.
gesetzes)
Wenn im Westen sonst keine Wähler zu gewinnen sind,
– Drucksache 14/2717 – dann hofft man wenigstens auf die Spione als Klientel.
f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti- (Unruhe bei der PDS – Dr. Ruth Fuchs [PDS]:
onsausschusses (2. Ausschuss) Bravo!)
Sammelübersicht 130 zu Petitionen
– Es ist schön, dass Sie das freut. Sie sehen, ich verstehe
(Aufhebung der Urteile der „politischen Son-
Sie.
derkammern“)
– Drucksache 14/2718 –
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Liebe Kolleginnen
g) Beratung des Antrags der Fraktion der PDS und Kollegen, wir sollten auch diesen Teil der Debatte or-
Beendigung der Strafverfolgung für hoheitli- dentlich miteinander führen, deswegen bitte ich um ein
ches Handeln in der DDR bisschen Ruhe.
– Drucksache 14/3067 –
Überweisungsvorschlag: Vera Lengsfeld (CDU/CSU): Wie sehr der PDS Lan-
Rechtsausschuss (f) desverrat am Herzen liegt, hat sie mehrfach unter Beweis
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
gestellt. Ich erinnere an das peinliche Vorhaben, einen
Zu den Beschlussempfehlungen liegt jeweils ein Än-
derungsantrag der Fraktion der PDS vor. 1) Anlage 25
10908 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Vera Lengsfeld

(A) noch im Strafvollzug befindlichen DDR-Spion, Rainer lich ehrenhafte und dem Fortschritt verpflichtete Aufgabe (C)
Rupp, der für eine halbe Million Mark die gesamte gewesen sein. Nichts lag aber der DDR-Diktatur ferner als
NATO-Militärplanung der Stasi verraten hatte, bei der der Frieden. Die Phrasen sollen dazu dienen, das gesamte
PDS-Fraktion anzustellen. System der SED-Herrschaft zu amnestieren und politisch
zu rehabilitieren. Spionage für einen demokratischen
Ich nenne weiterhin die Tatsache, dass zwei ebenfalls Rechtsstaat wird frech moralisch und politisch mit der
rechtskräftig verurteilte Spione, das Ehepaar George und
Spionage für ein untergegangenes Regime gleichgesetzt.
Doris Pumphrey, die die Grünen-Fraktion ausspioniert
Wir werden aber nicht zulassen, dass sich dieses
hatten, nach der Wende von der PDS-Fraktion eingestellt
geschichtsrevisionistische Verständnis durchsetzt,
wurden. Frau Pumphrey betätigte sich dort bezeichnen-
derweise als Koordinatorin einer Arbeitsgemeinschaft (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
„Kundschafter des Friedens“. Im Bundesvorstand der
vor allen Dingen nicht im Deutschen Bundestag.
PDS sind mit Diether Dehm, der Wolf Biermann im Wes-
ten bespitzelte, die West-IM angemessen vertreten. Viel- Sehr geehrte Damen und Herren, es ist – zumindest auf
leicht dürfen wir bald auf einen Antrag der PDS hoffen den ersten Blick – verwunderlich, dass die relativistischen
und über ein „Mahnmal für den unbekannten Stasispion“ und revisionistischen Forderungen der PDS immer wie-
diskutieren. der auf naives Wohlwollen im Westen hoffen dürfen. Wo
liegen eigentlich die Motive dafür? Dem Westen wurde es
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)
leicht gemacht, seine eigenen Verstrickungen nicht auf-
Ich möchte aber heute diskutieren, welche Folgen es zulösen. Lange konnten Bundesbürger, die für die Stasi
hat, wenn Straftaten und politisches Unrecht nicht geahn- gearbeitet hatten, unentdeckt bleiben, weil die Akten als
det werden. Wer dafür eintritt, Spionage für eine verbre- vernichtet galten. Tatsächlich lag die Agentenkartei von
cherische Diktatur straffrei zu stellen, der lädt dazu ein, Markus Wolf in den Vereinigten Staaten.
dies auch in Zukunft so zu halten. Dabei ist der Rechts-
staat mit seinen Verrätern ausgesprochen milde umgegan- Als im vergangenen Jahr die spät in Gang gekomme-
gen, so milde, dass Spione, die 200 000 Mark Agenten- nen Verhandlungen über eine Rückführung abgeschlossen
lohn von der Staatssicherheit erhalten hatten, nur zu einer wurden, erklärte der Geheimdienstkoordinator der Bun-
Geldstrafe von 8 000 DM verurteilt worden sind. Sie desregierung, Ernst Uhrlau, die Daten kämen in die
konnten sich also 192 000 DM steuerfrei in die Tasche Gauck-Behörde und wären dort genauso zugänglich wie
stecken. alle anderen Stasiakten. Um ihre eigenen Sicherheitsin-
teressen zu schützen, würden die Amerikaner eigens eine
In deutschen Gefängnissen gibt es heute keine ehema- gefilterte Datenkopie für Deutschland anfertigen. Im Ja-
ligen DDR-Spione, zumindest nicht als Gefangene. Der nuar dieses Jahres wurde uns von der Parlamentarischen (D)
(B) Spionagechef Wolf spaziert quietschvergnügt durch die
Staatssekretärin beim Bundesminister des Inneren, Frau
Talkshows und das nennt die PDS dann Siegerjustiz. Sonntag-Wolgast, noch einmal ausdrücklich versichert:
Etwa 20 000 bis 30 000 Westdeutsche haben, so schätzt Eine Einschränkung der Verwertungshoheit über die Da-
der beste Kenner der Materie, Hubertus Knabe, für die ten durch die USA sei weder vereinbart noch beabsichtigt.
HVA, also für die Hauptverwaltung Aufklärung, gearbei- Als dann jedoch die ersten CDs mit den Kartei-
tet. Laut Bundesanwaltschaft wurden nach der Vereini- kartenkopien aus Amerika im Bundeskanzleramt eintra-
gung gegen nur knapp 3 000 von ihnen Ermittlungsver- fen, verkündete Herr Uhrlau plötzlich, die Daten seien
fahren eingeleitet. Etwa 2 750 Verfahren wurden wieder streng geheim.
eingestellt. Nur 253 Angeklagte wurden verurteilt, der Der Parlamentarische Staatssekretär Fritz Rudolf
größte Teil auf Bewährung. Nur 59 Westdeutsche wurden Körper erklärte, die Bundesregierung beabsichtige auch
nach 1990 zu Gefängnisstrafen von mehr als zwei Jahren nicht, die Amerikaner um Aufhebung der Geheimhaltung
verurteilt. zu bitten. Da fällt es schwer, sich des Eindrucks zu er-
Zum Vergleich: In den USA wird Spionage mit bis zu wehren, dass die Bundesregierung gar nicht wissen will –
20 Jahren Haft geahndet. Die Richter in Deutschland zei- oder genauer: es allein wissen will –, wer in diesem Land
gen – dazu bedurfte es der PDS-Propaganda leider nicht – für die Stasi als Agent gearbeitet hat. Erst die Proteste der
meist sehr großes Verständnis für die ehemaligen DDR- Union haben der Bundesregierung die Zusicherung abge-
Spione. Regelmäßig heißt es in den Urteilen, es bestehe rungen, die Agentenkartei der Gauck-Behörde zu überge-
keine Wiederholungsgefahr – Gott sei Dank, möchte ich ben. Doch dort soll sie als geheime Kommandosache un-
hinzufügen –, ter Verschluss genommen werden. Eine Auswertung soll,
wenn überhaupt, nur durch zur Geheimhaltung verpflich-
(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: tete Wissenschaftler möglich sein.
Wiederholungsmöglichkeit!)
Mindestens zwei Jahre, so sagte Ernst Uhrlau kürzlich
oder die Richter sprechen vom Resozialisierungsgebot. in einem Zeitungsinterview, würde es dauern, bis das Ma-
Anschließend engagieren sich die zu Resozialisierenden terial gesichtet worden sei. Wesentliches Material sei von
in der PDS. den Amerikanern klassifiziert worden und die Bun-
Der PDS geht es in ihrem Antrag keineswegs um eine desregierung sei im Rahmen des Geheimschutzabkom-
humanitäre Geste, sondern um eine Botschaft: Spitzel- mens verpflichtet, solches Material unter Verschluss zu
tätigkeit von Bundesbürgern für das Ministerium für halten. Hier wird offenbar bewusst gebremst, boykottiert
Staatssicherheit soll eine vollkommen legitime, womög- und auf Zeit gespielt.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10909
Vera Lengsfeld

(A) In den letzten Wochen war überdies zu erfahren, dass desjenigen aus, der kollaboriert hat. Wer an maßgeblicher (C)
Abschriften der nach Amerika entführten Agentenkartei Stelle in der Bundesrepublik Deutschland freiwillig oder
bereits seit Jahren in den Panzerschränken der Gauck- für Geld mit dem MfS zusammengearbeitet hat, wer beim
Behörde liegen. Niemand hat dort hineingeschaut, wenn gemeinsamen Jagen oder beim Prosecco mit den netten
Westdeutsche auf eine Stasizusammenarbeit überprüft Genossen von drüben Informationen ausgetauscht und
wurden. Nicht einmal Wissenschaftler wurden an das Ma- dabei vielleicht ideologische Nestwärme gespürt hat, ist
terial herangelassen, um das Agentennetz im Westen politisch belasteter und moralisch unmöglicher als ein
transparent zu machen. Das ist ein Unding! Die Akten kleiner IM in der geschlossenen DDR.
westdeutscher Spitzel müssen gemäß Stasi-Unterlagen-
Gesetz genauso zugänglich gemacht werden wie die ehe-
maliger DDR-Bürger. Die Westdeutschen, die sich – im Vizepräsidentin Anke Fuchs: Frau Kollegin, den-
Gegensatz zu vielen Spitzeln in der DDR – meist ohne ken Sie bitte an Ihre Redezeit.
äußeren Druck und fast immer aus Geldgier auf die Stasi
eingelassen haben und genau wussten, was sie taten, und Vera Lengsfeld (CDU/CSU): Die Rosenholz-Akten
genau wussten, dass dies strafbar ist, sind meist gut weg- können zeigen, dass die DDR nicht nur ein Regime von
gekommen. Die Handlanger der DDR nutzten die Libera- Gnaden der Sowjetunion war, sondern dass sie auch von
lität der Bundesrepublik. Leuten im Westen gestützt wurde. Um der historischen
Die Versuchung, die Stasiaufarbeitung auf den Osten Wahrheit willen müssen wir wissen, wer diese Leute ge-
zu beschränken, ist offenbar groß. Wir erinnern uns: Als wesen sind.
ein Mitarbeiter der Gauck-Behörde im vergangenen Jahr (Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt
ein Buch zu diesem Thema ankündigte, wurde er aufge- [Salzgitter] [SPD]: Tief beeindruckend! – Zuruf
fordert, die Arbeit daran einzustellen. Schon damals von der PDS: Eine peinliche Rede!)
drängte sich der Eindruck auf, die Gauck-Behörde werde
immer dann von der Regierung ans Gängelband ge-
nommen, wenn es um westdeutsche Stasiverstrickungen Vizepräsidentin Anke Fuchs: Jetzt erteile ich das
geht, insbesondere um die der SPD. Wort dem Kollegen Gehrcke von der PDS-Fraktion.

(Bernd Reuter [SPD]: Das nehmen Sie sofort


zurück!) Wolfgang Gehrcke (PDS): Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Werte Frau Lengsfeld, ehrlich
So erreichen wir mit Sicherheit keine innere Einheit, erst gesagt: Für die Weltrevolution ist es mir heute Abend ein
recht nicht, wenn westdeutschen DDR-Spitzeln nun im bisschen spät. Außerdem ist mir das Wetter zu gut. Ich will
(B) Nachhinein vom Deutschen Bundestag ihre Lauterkeit es also unterlassen. (D)
bescheinigt würde, wie es die PDS wünscht.
(Vera Lengsfeld [CDU/CSU]: Das dürfte einem
Die Aufarbeitung der Stasiakten wird erfolgreiche Genossen aber nicht passieren! Er muss immer
Emanzipationsgeschichte. Millionen Menschen haben einsatzbereit sein!)
aus diesen Stasiakten neue Erkenntnisse über die DDR-
Diktatur gewonnen. Unzählige Inoffizielle Mitarbeiter Ich werde aber versuchen, diesen späten Abend zu nutzen,
und zufälligerweise auch einige Westspione sind enttarnt, Sie davon zu überzeugen, dass die Vorschläge meiner
die verbrecherischen Praktiken der Stasi sind offen gelegt Fraktion Sinn machen und berechtigt sind.
worden. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die (Beifall bei der PDS)
Zersetzungspläne. Das Stasi-Unterlagen-Gesetz hat nicht
für alle Spitzel Führungspositionen verhindern können, An den Anfang meiner Rede will ich ein paar Zeilen
aber einige Leute sind glücklicherweise von der politi- von Bertolt Brecht stellen; das überzeugt meistens. Im
schen Bühne verschwunden. Zusammenhang mit diesem Thema habe ich nämlich sehr
viel an ein Gedicht von ihm gedacht, aus dem ich Ihnen
Spionage ist bereits verjährt. Allenfalls schwerer Lan- vorlesen möchte:
desverrat kann noch bestraft werden. Doch das Stasipro-
blem im Westen kann kein bloß juristisches oder histori- Auch der Hass gegen die Niedrigkeit verzerrt die
sches sein. Parteien und Verbände, Kirchen und Gewerk- Züge. Auch der Zorn über das Unrecht macht die
schaften, Medien und Universitäten müssen sich dieser Stimme heiser. Ach wir, die wir den Boden bereiten
ihrer Geschichte stellen. Es geht um politische, um ideo- wollten für Freundlichkeit, konnten selbst nicht
logische Affinitäten, die heute allzu gern vertuscht wer- freundlich sein.
den. (Beifall bei der PDS)
Das Rosenholz-Material muss der gesellschaftlichen
Dies gab uns Bertolt Brecht in seinem Gedicht „An die
Diskussion in Deutschland zur Verfügung gestellt wer-
Nachgeborenen“ zu bedenken.
den. Wir wollen wissen, wer die Geschichte der Bundes-
republik im Hintergrund wie mitgesteuert hat und warum, Dass der Hass die Züge verzerrt, auch wenn man freund-
auch, aus welchen Motiven gemeinsame Sache mit der lich sein wollte, erkennt man zuerst beim Gegenüber,
SED gemacht wurde und von wem. Die Kollaboration mit beim politischen Konkurrenten und beim politischen
dem Geheimdienst der SED sagt viel über Verfas- Gegner. Die verzerrten und deformierten Züge erkannten
sungstreue und auch viel über den politischen Charakter wir jeweils beim konkurrierenden System in Ost und
10910 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Wolfgang Gehrcke

(A) West, aber selten im eigenen System. Auch den so oft zi- Und nun, sechs Jahre nach ihrer Befreiung aus der Hölle (C)
tierten Satz von Rosa Luxemburg der KZs und der Zuchthäuser, mussten sie erneut erleben,
dass ihre Partei verboten wurde und sie aus politischen
(Vera Lengsfeld [CDU/CSU]: Ausgerechnet!)
Gründen verfolgt wurden. Sie wurden erneut inhaftiert
über die Freiheit als Freiheit des Andersdenkenden ver- oder mussten das Land, weil sie an ihrer Partei festhielten,
standen wir oft nur als einen Anspruch auf die eigene Frei- verlassen. Welch anderer Begriff als Unrecht wäre dem
heit, solange wir anders dachten, als eine Freiheit der angemessen?
Minderheit und nicht als eine Verpflichtung der Mehrheit.
Ich glaube, das sollten wir uns sagen. (Beifall bei der PDS)

(Beifall bei der PDS) Unrecht waren zweifellos auch die Berufsverbote in
den 70er-Jahren. Es gab 11 000 Berufsverbotsverfahren,
Die Andersdenkenden der 50er- und 60er-Jahre in der 3,5 Millionen Überprüfungen, 2 200 Disziplinarverfah-
Alt-BRD waren Kommunistinnen und Kommunisten und ren, 256 Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst und
andere Linke. Das Verbot der KPD, die Verfolgung von 1 250 Ablehnungen von Bewerbungen.
Gesinnung, die strafrechtliche Auseinandersetzung über
hoheitliches Handeln in der DDR, Strafverfahren betref- (Dr. Eberhard Brecht [SPD]: Und was war im
fend Spionage Ost, soweit sie von Bürgern West began- Osten?)
gen wurden – all das ist aus meiner Sicht nicht nur mora- Davon waren auch die Kinder eben der KZ-Häftlinge be-
lisch inakzeptabel und politisch falsch, es bedrückt auch troffen, die in den 50er-Jahren inhaftiert wurden und nun
nicht nur die direkt Betroffenen, sondern es deformiert in wiederum die politische Verfolgung ihrer Kinder erlebten.
diesem Sinne, wie Brecht es formuliert hat, auch Demo-
kratie und Rechtsstaatlichkeit. (Monika Brudlewsky [CDU/CSU]: Es geht
doch um die DDR!)
(Beifall des Abg. Dr. Heinrich Fink [PDS])
Was ich Ihnen schildere, ist erlebte, auch deutsche Ge-
Unsere Anträge und die vorliegenden Petitionen haben
eine Grundbotschaft: Es mus nicht nur der Kalte Krieg schichte. Sie darf nicht länger verdrängt werden.
zwischen den Staaten beendet werden, sondern auch der Üblicherweise – Gott sei Dank haben Sie so reagiert;
Kalte Krieg in der Gesellschaft, in unser aller Köpfen, ge- dann können wir das nämlich direkt austragen – kommt
rade zehn Jahre nach der deutschen Vereinigung. bei diesem Thema der Hinweis, eine Demokratie müsse
(Beifall bei der PDS) wehrhaft sein und das Unrecht sei doch im Osten gesche-
hen und nicht im Westen. Wehrhaft aber, liebe Kollegin-
Nehmen Sie sich also bitte die geistige Freiheit, aus nen und Kollegen, ist eine Demokratie dann, wenn sie auf
(B) dem Rückblick auf die Geschichte festzustellen, dass das der Überzeugung und dem Wunsch der Bürgerinnen und (D)
KPD-Verbot von 1956 und die Verfolgung Andersden- Bürger beruht, sie verteidigen zu wollen.
kender, die politisch falsch waren, Menschen Unrecht
zugefügt und der Demokratie geschadet haben. Bis zum (Beifall bei der PDS)
In-Kraft-Treten des Achten Strafrechtsänderungsgeset- Wehrhaft ist eine Demokratie, die für alle Teile der Ge-
zes im Jahr 1968 wurden in der alten Bundesrepublik sellschaft sozialen Wohlstand, Teilhabe an der Willensbil-
etwa 200 000 Ermittlungsverfahren wegen Gefährdung dung und Transparenz der Entscheidung bietet, formal
des demokratischen Rechtsstaates oder anderer Delikte wie auch real. Das KPD-Verbot, die politischen Prozesse,
eingeleitet. Rund 10 000 Bürgerinnen und Bürger wur-
die Berufsverbote waren nicht Ausdruck von Stärke der
den mit Untersuchungshaft, Freiheits- und Nebenstrafen
Demokratie, sondern Ausdruck ihrer Schwäche.
beschwert.
(Beifall bei der PDS)
Erinnern wir uns: In den 50er-Jahren drohte der Kalte
Krieg in einen heißen, in einen Atomkrieg umzuschlagen. Sie haben die Demokratie nicht gefestigt, sondern ihr ge-
Die Gräben zwischen Ost und West waren tief. Im Zuge schadet. Das zu erkennen und zu korrigieren haben wir
des Ost-West-Konfliktes, der jeweiligen Systemanbin- mit unseren Vorschlägen die Chance.
dung beider Staaten, verschwand die Wiedervereinigung
mehr und mehr von der Tagesordnung und bildete sich die Auch der Hinweis auf das Unrecht Ost, für das die SED
Zweistaatlichkeit heraus. Hier liegen die tieferen Ursa- die Verantwortung trägt, kann das Unrecht West nicht
chen des KPD-Verbotes. rechtfertigen. Unrecht bleibt Unrecht, Herr Dr. Brecht,
egal wer es begeht. Ich lehne eine Aufrechnung Unrecht
Betrachten Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, die West gegen Unrecht Ost und Unrecht Ost gegen Unrecht
damalige Situation doch bitte einen Moment aus einem West ab. Unrecht bleibt Unrecht, egal wo es passiert.
anderen Blickwinkel: 1945 kehrten die Überlebenden des
Widerstandes gegen die Nazidiktatur aus den KZs und aus (Beifall bei der PDS)
der Emigration zurück, unter ihnen auch viele Kommuni- Kommen wir in diesem Zusammenhang zu der Frage
stinnen und Kommunisten. Diesen Menschen war unvor- der Ungleichbehandlung der deutsch-deutschen Spio-
stellbar Schreckliches angetan worden. Sie waren für nage, aus der der Umstand herrührte, dass Bürgerinnen
mich – das war prägend für meine Biografie – das Wert- und Bürger aus den alten Bundesländern, die sich dem
vollste, was ich in meinem politischen Leben kennen ge-
Nachrichtendienst der DDR verpflichtet hatten, unter
lernt habe.
Strafe gestellt werden konnten, ihre Auftraggeber, soweit
(Beifall bei Abgeordneten der PDS) sie ihrer Tätigkeit von der DDR aus nachgingen, jedoch
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10911
Wolfgang Gehrcke

(A) nicht. Mitarbeiter der westlichen Geheimdienste, die in Es ist doch sonderbar, dass heute ausgerechnet die (C)
der DDR verurteilt wurden, wurden dagegen finanziell Personen der DDR-Staatsführung vor Gericht ste-
entschädigt und beruflich gefördert – eine moralisch, po- hen, die vor zehn Jahren den Beschluss fassten, die
litisch und juristisch unhaltbare Situation. Mauer durchlässig zu machen, die Personen, die kei-
Das wird nicht nur von der PDS so gesehen. Ich möchte nen anderen Weg eingeschlagen und keinen anderen
Ihnen ein Zitat vom Kollegen Schäuble vorlesen, der 1990 Beschluss gefasst haben.
vor dem Bundestagsausschuss Deutsche Einheit sagte: Viele Persönlichkeiten unseres Landes, der Bürger-
Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir im vereinten rechtler Friedrich Schorlemmer, Lothar de Maizière, die
Deutschland die jeweiligen Agenten der anderen Ministerpräsidenten Stolpe und Höppner und andere ha-
Seite ins Gefängnis stecken. Was ich mir auch nicht ben öffentlich über Amnestie nachgedacht. Ihnen wie uns
vorstellen kann, ist, dass wir die Mitarbeiter der DDR wurde entgegengehalten, eine Beendigung der Strafver-
ins Gefängnis stecken und das umgekehrt nicht tun. folgung und eine Amnestie könne von den Opfern nicht
akzeptiert werden. Lothar de Maizière hat sich mit diesem
(Monika Brudlewsky [CDU/CSU]: Wo sitzt Problem auseinander gesetzt. Ich darf ihn zitieren:
denn einer?)
Zu den großen zivilisatorischen Kulturleistungen der
Es handelt sich um teilungsbedingte Straftaten, die Menschheit gehört es, dass sie die Ahndung straf-
außer Verfolgung gestellt werden müssen. rechtlich relevanten Verhaltens aus der Täter-Opfer-
So weit Herr Schäuble. Beziehung herausgenommen und auf den Staat dele-
giert hat, um so die Opferbefindlichkeit nicht zum
(Monika Brudlewsky [CDU/CSU]: Es sitzt
Richter werden zu lassen.
doch keiner! Es hat nie jemand gesessen! – Vera
Lengsfeld [CDU/CSU]: Sagen Sie doch einmal, (Monika Brudlewsky [CDU/CSU]: Ein Glück,
welche Agenten im Gefängnis sitzen!) dass Sie nicht in der DDR gelebt haben!)
Ich könnte Ihnen hier ähnliche Zitate von Herrn Thierse Das sind, glaube ich, sehr weise, durchdachte Worte.
oder von Altbundespräsident Richard von Weizsäcker
vortragen. Bleibt zum Schluss die Frage, ob es vernünftig ist, dass
gerade die PDS diese Probleme aufgegriffen hat. Unab-
Ich glaube, dass ungeachtet der Motive der Betroffe- hängig davon, dass andere das nicht gemacht haben, finde
nen, die sich für eine solche nachrichtendienstliche Tätig- ich, dass gerade unsere geschichtliche Erfahrung das er-
keit entschieden haben, gilt, dass ihre Tat teilungsbedingt fordert.
(B) war und schwerwiegende Folgen für die Betroffenen (Beifall bei der PDS) (D)
hatte: hohe Freiheitsstrafen und soziale Belastungen, Ar-
beitslosigkeit, Geldstrafen und Gerichtskosten, also die Günter Gaus – das ist mein letzter Satz – hat das in ei-
Vernichtung sozialer Existenzen. nem Zeitungsartikel sehr zu Recht und sehr gut darge-
Auch das können wir, weil es teilungsbedingt war, mit stellt:
unseren Vorschlägen korrigieren. Oder machen Sie an- Soll Anpassung, das gute Recht des schwachen
dere, bessere Vorschläge, wie dieses Unrecht korrigiert Einzelnen, der sich nicht anders zu helfen weiß, zum
werden kann. kategorischen Imperativ aus Parteiinteresse werden?
Auch bei unserem dritten Vorschlag bitte ich Sie, vor- Gerade eine Partei mit Mitgliedern, die sich zu oft und zu
gefasste Meinungen für einen Augenblick zu vergessen. unkritisch angepasst haben – dazu zähle auch ich mich –,
Hätten Sie sich zum Beispiel vorstellen können, dass Alt- hat sich entschlossen, sich nicht mehr anzupassen und –
Kanzler Kohl nebenbei, auch in dieser Frage – gegen den Strom zu schwimmen.
(Monika Brudlewsky [CDU/CSU]: Jetzt wird
(Beifall bei der PDS)
der noch ins Spiel gebracht! Das kann doch
nicht wahr sein!)
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Die Reden der SPD-
bei einem seiner vielen Gespräche mit Herrn Egon Krenz –
Fraktion, der F.D.P.-Fraktion und der Fraktion Bünd-
ich weiß nicht, ob sie sich geduzt haben –, diesem mitge-
nis 90/Die Grünen sind zu Protokoll gegeben worden und
teilt hätte: Und nach der Vereinigung, mein Lieber, kom-
dort nachlesbar.1)
men Sie vor Gericht?
Damit schließe ich die Aussprache.
(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Was sind
denn das für Fieberfantasien?) Wir kommen zu den Abstimmungen. Abstimmung
Oder erinnern wir uns an die Festsitzung des Bundes- über Tagesordnungspunkt 17 a. Interfraktionell wird
tages zum zehnten Jahrestag des Mauerfalls, bei der an Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/3065 an die
dieser Stelle Michail Gorbatschow sagte: Ein ehemali- in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
ger Generalsekretär, der Chef, wird gewürdigt, ein ande- schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.
rer sitzt? Auch das ist Realität. Rufen Sie sich einmal in Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Erinnerung, was Gorbatschow hier ausgeführt hat. Er
sagte damals: 1) Anlage 25
10912 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Vizepräsidentin Anke Fuchs

(A) Abstimmung über Sammelübersicht 144, Druck- sowie der Abgeordneten Sabine Leutheusser- (C)
sache 14/3002. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Schnarrenberger und weiteren Abgeordneten der
Fraktion der PDS auf Drucksache 14/3807 vor, über den Fraktion der F.D.P.
wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsan- Humanitäre Grundsätze in der Flüchtlingspoli-
trag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist tik beachten
der Änderungsantrag abgelehnt.
– Drucksache 14/3729 –
Wir stimmen nun über die Sammelübersicht 144,
Drucksache 14/3002, ab. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist trotz der
dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist die Sammelü- späten Stunde eine Aussprache von einer halben Stunde
bersicht 144 angenommen. vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das
so beschlossen.
Wir kommen zum Antrag der Fraktion der PDS,
Drucksache 14/3066. Interfraktionell wird Überweisung Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort Herrn
dieser Vorlage an den in der Tagesordnung aufgeführten Dr. Christian Schwarz-Schilling, CDU/CSU-Fraktion.
Ausschuss vorgeschlagen. – Damit sind Sie einverstan-
den. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Dr. Christian Schwarz-Schilling (CDU/CSU): Frau
Jetzt kommen wir zu weiteren Beschlussempfehlungen Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen!
des Petitionsausschusses. Abstimmung über Sammelü- Wir hatten heute Morgen hier in diesem Saal eine sehr zu
bersicht 128, Drucksache 14/2716. Hierzu liegt ein Ände- Herzen und zum Verstand gehende Aussprache über das
rungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksa- Gesetz zur Errichtung einer Stiftung „Erinnerung, Verant-
che 14/3804 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer wortung und Zukunft“. Wir haben dabei lernen können,
stimmt für diesen Änderungsantrag? –Gegenprobe! – was es bedeutet, wenn in einer Generation die Grundsätze
Enthaltungen? – Damit ist der Änderungsantrag abge- der Menschenwürde und des Rechtsstaates weggescho-
lehnt. ben werden und wie viele Generationen es braucht, um
Leid, Unrecht und Schmerzen, die dadurch angerichtet
Wir stimmen nun über die Sammelübersicht 128, wurden, wieder zu beseitigen, wobei wir alle wissen: Be-
Drucksache 14/2716, ab. Wer stimmt für diese Sammelü-
seitigt werden können sie nie mehr. Das ist ein ganz kom-
bersicht? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
plexer Zusammenhang.
Damit ist die Sammelübersicht 128 angenommen.
Damals, nach dem Zweiten Weltkrieg, haben wir alle
Wir stimmen über die Sammelübersicht 129, Drucksa-
gesagt: Wir wollen dafür sorgen, dass so etwas nie wieder
che 14/2717, ab. Es liegt ein Änderungsantrag der Frak-
vorkommt – nie wieder Konzentrationslager, nie wieder
(B) tion der PDS auf Drucksache 14/3805 vor. Wer stimmt für Unrecht und Ähnliches mehr. 50 Jahre später brannte es (D)
diesen Änderungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Der
in Europa wieder. Europa tat so, als ginge es das gar nichts
Änderungsantrag ist abgelehnt.
an. Denn es handelte sich um eine Randregion Europas,
Wir stimmen über die Sammelübersicht 129, Drucksa- den Balkan. Wir schauten weg; wir waren unbeteiligt, bis
che 14/2717, ab. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dage- die Dinge so schlimm wurden und sich auch die Verei-
gen? – Die Sammelübersicht 129 ist angenommen. nigten Staaten entsprechend involvierten, dass wir dann
Wir kommen zur Sammelübersicht 130, Drucksa- begannen, uns damit zu beschäftigen.
che 14/2718. Auch hierzu liegt ein Änderungsantrag der Milosevic hat eine ganze Region mit einem Krieg
PDS, Drucksache 14/3806, vor. Wer stimmt für diesen überzogen und in einen Abgrund gestürzt. Nun sprachen
Änderungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun- wir alle vom „Bürgerkrieg“. Zunächst einmal eine Fest-
gen? – Der Änderungsantrag ist abgelehnt. stellung: Das war kein normaler Krieg, das war kein Bür-
Wir kommen zur Abstimmung über die Sammelüber- gerkrieg, sondern das war ein Krieg einer hoch gerüsteten
sicht 130, Drucksache 14/2718. Wer stimmt für diese Armee gegen die Zivilbevölkerung; nicht Bürger gegen
Sammelübersicht? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun- Bürger, sondern die einen standen unter dem Befehl eines
gen? – Die Sammelübersicht 130 ist angenommen. Diktators und die anderen waren wehrlose Bürger. Dies ist
nach landläufiger Meinung kein Bürgerkrieg.
Wir kommen zum Antrag der Fraktion der PDS auf
Drucksache 14/3067. Interfraktionell wird Überweisung Männer wurden umgebracht und Frauen vergewaltigt –
dieser Vorlage an die in der Tagesordnung aufgeführten im Übrigen nicht nur aus Spaß, sondern aus ideologi-
Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan- schem Axiom: Die Maxime – man kann die Gründe dafür
den? – Das ist der Fall. schriftlich nachlesen – war, dass auf bosnischem Boden
serbische Kinder geboren werden sollten. Es kam zu Fol-
Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 18 auf: ter und Tod. Es gab Lager, die man sich heute kaum
schlimmer vorstellen kann. Es handelte sich um eiskalt
Beratung des Antrags des Abgeordneten geplanten Völkermord.
Dr. Christian Schwarz-Schilling und weiteren Ab-
geordneten der Fraktion der CDU/CSU, der Abge- 700 000 bis 800 000 Menschen flohen ins Ausland, da-
ordneten Heide Mattischeck und weiteren Abge- von circa 350 000 nach Deutschland. Circa 300 000 sind
ordneten der Fraktion der SPD, der Abgeordneten allein in Bosnien umgebracht worden. 1 Million Men-
Claudia Roth (Augsburg) und weiteren Abgeord- schen wurde in Jugoslawien aus ihren Häusern gejagt, be-
neten der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor sie gesprengt wurden. Da hatten sie dann noch Glück;
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10913
Dr. Christian Schwarz-Schilling

(A) denn bei vielen Menschen war es so, dass sie mit in die Androhung von Zwangsmaßnahmen für den Fall, dass (C)
Luft gesprengt worden sind. man Deutschland nicht bis zum angegebenen Zeitpunkt
Heute vor fünf Jahren, am 6. Juli 1995, begann der An- verlassen hat.
griff auf die UN-Friedenszone Srebrenica. In diesen Ta- Meine Damen und Herren, so haben wir nicht gewet-
gen, vor genau fünf Jahren, war die Jagd auf 30 000 Men- tet. Ich muss ganz offen sagen: Wer für diese Problem-
schen, auch Frauen mit Kindern, eröffnet. 8 000 bis gruppen nur eine Verzögerung der Ausreise vorgesehen
10 000 Männer wurden verschleppt und auf freiem Feld hat und nicht bereit ist, für diese 8 Prozent der einstmals
ermordet. Alle, die ermordet wurden, waren unbewaffnet. 350 000 Flüchtlinge eine sensible Einzelfallregelung zu
Denn die UN hatte ihnen in der so genannten Frie- treffen, wer meint, diese Flüchtlinge seien nun lange ge-
denszone alle Waffen abgenommen. Als es dann ernst nug bei uns gewesen und sollten nun genauso wie die an-
wurde, ist die UN getürmt und einige, die noch da waren, deren nach Hause geschickt werden, der hält seine Zusa-
guckten hilflos zu. gen nicht ein.
Dieses Gemetzel war für diese Menschen die Hölle. (Beifall im ganzen Hause)
Die Aufnahme der 350 000 Flüchtlinge bei uns in
Deutschland war eine großartige Tat und vorbildlich für Aus diesen Gründen liegen sehr viele geradezu tragi-
die ganze Welt. Bund und Länder haben sich daran betei- sche Einzelfälle auf den Tischen der Kolleginnen und
ligt und alle Hilfe geleistet, die man leisten konnte. Vor al- Kollegen des Deutschen Bundestages. Ich möchte nur
len Dingen unsere Bevölkerung war unglaublich ergrif- zwei Fälle nennen. Ich könnte Ihnen hundert Fälle nen-
fen, spendete und half, wo es nur irgend möglich war. Spä- nen; bei mir kommen jeden Tag ungefähr fünf Fälle auf
ter kam auch unsere Bundeswehr dazu und leistete den Schreibtisch – eine Aufgabe, die ich fast nicht mehr
Vorbildliches. Von daher können wir nur alle sagen, dass lösen kann.
wir auch stolz sein können auf das, was Deutschland in
diesen Jahren getan hat. Die Familie Isovic aus Bosanski Brod, Republika
Srpska, kam 1993 nach Deutschland und lebt jetzt in
Dann kam der Friedensvertrag von Dayton, der in München. Eine Tochter ist in der Zwischenzeit in die USA
Paris unterschrieben worden ist. Er war zwar unvollkom- ausgewandert. Herr Isovic hat sich in Deutschland nur
men, aber sicherlich damals kaum anders zu machen. wegen schwerer Verletzungen als Soldat in der Armee be-
Denn die Mörder und Kriegsbrandstifter saßen mit am handeln lassen. Seine Frau und die Tochter – sie war da-
Tisch. Ein Friedensvertrag dieser Art ist meistens etwas mals 14 Jahre alt – waren im KZ Bosanski Brod, einem
schwierig und schief. Für manche deutsche Politiker war
berüchtigten Lager in der Heimatstadt dieser Familie. Sie
dies dennoch der Zeitpunkt, zu sagen, der Frieden sei da
wurden dort mehrere Wochen vergewaltigt und gefoltert.
(B) und nun sollten alle Flüchtlinge so schnell wie möglich hi- Sie haben sich in Deutschland nicht als traumatisierte Per- (D)
naus. Die Abmachungen von Dayton sagten etwas ande-
res: Der UNHCR ist diejenige Organisation, die die Rück- sonen behandeln lassen, weil sie, wie sie mir später gesagt
kehr der Flüchtlinge führend zu organisieren hat. Über die haben, gehofft und gedacht haben, dass sie die schreckli-
Rückkehr der Flüchtlinge wurde das Recht auf Heimat chen Erinnerungen durch Arbeit und Beschäftigung – die
und auf Freiwilligkeit festgeschrieben. Es heißt dort im Eltern waren beide in Lohn und Brot – besser vergessen
Artikel I des Annex 7: könnten.
All refugees and displaced persons have the right Erst nach der Abschiebungsdrohung im Februar dieses
freely to return in their homes of origin. Jahres hat das nicht behandelte Trauma eine schlimme
Entwicklung genommen. Es gab einen Selbstmordver-
Obwohl auch wir diesen Vertrag unterzeichnet haben, such der Mutter. Herr Isovic, der selber in eine furchtbare
wurden diese Rechte der Flüchtlinge schon sehr bald nach Situation geraten ist, erzählte mir, wie er, als er in seine
Dayton einseitig außer Kraft gesetzt. damals noch unbeschädigte Wohnung kam, den Kopf sei-
Wir sind uns dennoch einig gewesen, dass der größte ner Mutter in einer Tüte im Kühlschrank gefunden hat.
Teil dieser Flüchtlinge nicht auf Dauer bei uns bleiben Das ist für sie die Heimatstadt Bosanski Brod.
soll. Darüber gibt es gar keinen Dissens. Wir waren auch
darüber einig, dass eine friedliche, gestaffelte Rückkehr in Diese Familie ist jetzt hier. Das Ehepaar hat natürlich
mehreren Phasen stattfinden soll. Auch darüber gab es den Fehler begangen, sein Trauma nicht sofort behandeln
keinen Dissens. zu lassen. Es ist jetzt in psychotherapeutischer Behand-
lung. Der Vater hat gesagt: Er wird nur tot zurück nach
Aber jetzt kommt der dritte Punkt: Eine sensible Ein- Bosnien gehen. Er wird niemals zu den Tätern nach Bo-
zelfallprüfung bei Problemgruppen wie zum Beispiel sanski Brod zurückkehren.
Traumatisierten, Behinderten, Lagerinsassen, Jugendli-
chen, die hier aufgewachsen sind, wurde vom Innen- Wir kennen die Situation aus dem Zweiten Weltkrieg
minister, mit dem ich allein darüber seit anderthalb Jahren und wissen, dass Menschen, die die Konzentrationslager
korrespondiere, zugesichert. Die Innenministerkonferenz überlebt haben, über Jahrzehnte hinweg gesagt haben:
sagte das Gleiche. Meine Damen und Herren, ich sage Wir werden nie wieder nach Deutschland kommen. Man-
hier ganz klar: Zusagen dieser Art sind nicht eingehalten che haben das bis heute so gehalten, bei anderen hat sich
worden. Im Gegenteil: Seit Februar, März dieses Jahres das gelöst. Eigentlich müsste so etwas bei uns bekannt
erhalten diese Problemgruppen pauschal und ohne Dif- sein. Wir müssten doch wissen, was in diesen Menschen
ferenzierung dieselben Ausreiseaufforderungen mit der vor sich geht.
10914 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Dr. Christian Schwarz-Schilling

(A) Nein, diese Menschen werden vorgeführt, manchmal Das Zweite: Das Ausländergesetz nennt durchaus (C)
sogar in Handschellen zu Polizeiordnungsdiensten, die Möglichkeiten. Warum werden diese nicht genutzt? Das
eine ärztliche Beurteilung abgeben sollen. So etwas hat es Ausländergesetz sagt in § 54, Aussetzungen von Abschie-
nach dem Zweiten Weltkrieg nicht gegeben. In keinem bungen:
Land wurden ehemalige Emigranten in irgendeiner Weise Die oberste Landesbehörde kann aus völkerrechtli-
vorgeführt und wieder zurückgeschickt. chen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung
Meine Damen und Herren, es gibt noch einen zweiten politischer Interessen der Bundesrepublik Deutsch-
Fall, den ich kurz erwähnen will. Eine fünfzehnjährige land anordnen, dass die Abschiebung von Auslän-
Stumme lebt in Sachsen-Anhalt in Möckern, im Land- dern aus bestimmten Staaten ... für die Dauer von
kreis Jerichower Land, und lernt dort seit sechs Jahren in längstens sechs Monaten ausgesetzt wird. Zur Wah-
der Taubstummenschule deutsch. Was konnte sie denn rung der Bundeseinheitlichkeit bedarf die Anord-
sonst lernen? Sie kann nur kommunizieren, wenn sie die nung des Einvernehmens mit dem Bundesministe-
Mundstellungen des Gegenübers beobachten kann. Ganz rium des Innern, wenn die Abschiebung länger als
abgesehen davon, dass die Eltern nicht aus Sarajewo sechs Monate ausgesetzt werden soll.
stammen, wurde gesagt, es gibt auch in Sarajewo eine
Taubstummenschule, dorthin kann sie gehen. Es wurde Vizepräsidentin Anke Fuchs: Herr Kollege, ich
überhaupt nicht darüber nachgedacht, dass die Sprach- muss jetzt doch auf die Redezeit achten.
kenntnis notwendig ist, um an dieser Schule jemals kom-
munizieren zu können. Jetzt müssen wir auf Ministerprä-
Dr. Christian Schwarz-Schilling (CDU/CSU):
sident Höppner, der gerade in den USA weilt, warten, um
Warum macht der Innenminister nicht von sich aus das
das Schlimmste zu verhindern. „Wir müssen eine politi- Angebot an die Länder? Wir haben ein Einvernehmen,
sche Lösung finden.“ wenn wir bei diesen Problemfällen weit über sechs Mo-
Damit komme ich zu einem wichtigen Punkt, den ich nate hinaus bis zu dem Zeitpunkt, zu dem wir eine Blei-
am Schluss ansprechen möchte. Es gibt jetzt nicht mehr beregelung getroffen haben, nicht abschieben. Das wäre
viele Flüchtlinge bei uns und wir sollten denjenigen, die eine Initiative. Sie fällt auch in seinen Zuständigkeitsbe-
jetzt noch hier sind, das Leben nicht so erschweren und sie reich. Er hat sich ebenso wie die Länder in der letzten Zeit
nicht in Angst und Panik versetzen. Diese Menschen ha- sehr bewegt.
ben aufgrund dessen, was ihnen passiert ist, ein Recht, in Ich möchte nur sagen: Es nützt alles nichts, wenn wir
Frieden zu leben, wie auch wir. im Dezember eine Regelung haben und Hunderte oder
(B) (Beifall im ganzen Hause) Tausende vorher in die jetzt dort vorherrschenden Ver- (D)
hältnisse abgeschoben werden. Ich könnte Ihnen zig Fälle
Wir verscherzen jetzt unsere gute Reputation; denn nennen, die so dramatisch sind wie die gerade geschilder-
wir hatten 350 000 Flüchtlinge aufgenommen. Jetzt leben ten. Wenn sie ausreisen müssen, wird ihr Leben, ihre Fa-
noch 35 000 bei uns. In Österreich haben 67 000 ein Blei- milie zerstört. Das sollten wir verhindern, denn unsere
berecht bekommen. In Schweden sind es 53 000 Men- Generation sollte das Recht, die Menschenwürde und all
schen, die ein Bleiberecht bekommen haben. Die USA ha- das, wofür unsere Vorfahren jahrhundertelang gekämpft
ben bis zu 140 000 aufgenommen. Im Vergleich mit der haben, verteidigen. Genauso müssen wir uns auch gegen-
Bevölkerungszahl sind das mehr, als die Bundesrepublik über anderen Ländern verhalten, wenn es nötig ist. Denn
Deutschland aufgenommen hat. Wir können jetzt nicht Menschenrechte durchbrechen auch Landesgrenzen; wie
mehr sagen, wir haben die meisten, denn das hat sich wir auch gegenüber den Nationen sagen, dass dies keine
geändert. Auch die Stimmung der Welt gegenüber innere Angelegenheit der Nationen ist.
Deutschland hat sich geändert. Menschenrechte sind für die ganze Bundesrepublik
Lassen Sie mich zwei Dinge ganz klar sagen. Unser Deutschland da.
Grundgesetz sagt: (Beifall im ganzen Hause)
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu ach-
ten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Vizepräsidentin Anke Fuchs: Sie sind damit einver-
Gewalt. ... Alle Menschen sind vor dem Gesetz standen gewesen, dass ich die Redezeit in diesem Fall ver-
gleich. ... Niemand darf wegen seines Geschlechts, längert habe,
seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache,
seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
religiösen oder politischen Anschauungen benachtei- denn wir wollten Ihre eindrucksvolle Rede gern hören.
ligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen sei- Wir sind stolz darauf, dass wir dieses Thema heute
ner Behinderung benachteiligt werden. Abend noch in dieser eindrucksvollen Weise behandeln
Gilt so etwas für einen Menschen, der seit acht Jahren können.
hier lebt, nur deshalb nicht, weil er einer anderen Heimat, Auch die nachfolgenden Redner würden wahrschein-
einem anderen Volk entstammt? Nach dem Grundgesetz lich gern noch länger reden, als es die Redezeit erlaubt,
gilt es für jeden und nicht nur für einen Deutschen. Das aber ich bitte Sie, sich daran zu halten. In diesem Sinne
muss man endlich wissen. hat die Kollegin Heide Mattischeck das Wort.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10915

(A) Heide Mattischeck (SPD): Frau Präsidentin! Liebe auch die Rede vom Bundespräsidenten Johannes Rau. (C)
Kollegen, liebe Kolleginnen! Ich möchte meinen kurzen – Johannes Rau sagte in seiner viel beachteten Rede über
ich werde mich an die Redezeit halten – Redebeitrag da- Einwanderung und Asyl, dass es zum einen Menschen
mit beginnen, noch einmal all denen Dank zu sagen, die gibt, die wir hier bei uns brauchen und brauchen werden,
in den letzten Jahren den 350 000 Flüchtlingen und Ver- die wir einladen, zu uns zu kommen, und solche, die uns
triebenen aus Bosnien und Herzegowina in unserem Land brauchen. Zu der letzten Kategorie gehören weitgehend
Zuflucht und Aufnahme gewährt haben: dem Bund, den jene, von denen wir heute sprechen. Einige, wenn auch
Ländern, den Kommunen, vor allen Dingen aber den vie- wenige, gehören allerdings durchaus auch zu denen, die
len Menschen, die sich zum Teil in vorbildlicher Weise wir dringend brauchen. Ich denke da zum Beispiel an eine
ganz persönlich um diese Menschen gekümmert haben, Frau aus Bosnien, um deren Verbleib in Deutschland sich
die vor dem schrecklichen Krieg und dem Genozid in ih- der Inhaber einer Änderungsschneiderei in meinem Wahl-
rer Heimat fliehen mussten oder vertrieben worden sind. kreis händeringend bemüht; denn er findet sonst nieman-
(Beifall im ganzen Hause) den.
Der Dank gilt auch den vielen Flüchtlingsorganisationen Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, dass circa 225 Ab-
und Wohlfahrtsverbänden, die sich dieser Not leidenden geordnete den Antrag unterschrieben haben, macht deut-
und gequälten Menschen angenommen und diese vielfäl- lich, dass es für dieses Anliegen eine breite Unterstützung
tig unterstützt haben. im Deutschen Bundestag gibt. Ich bin sehr froh darüber,
dass Innenminister Schily sich eindeutig dafür ausgespro-
300 000 Flüchtlinge sind inzwischen in ihre Heimat
chen hat, für den Personenkreis der Traumatisierten den
zurückgekehrt. Sie sind dabei, die Trümmer wegzuräu-
gesetzlichen Rahmen voll auszuschöpfen.
men, sich eine neue Existenz aufzubauen, ihr Land wie-
der in Ordnung zu bringen. Welch schwere Aufgabe das So viel Deutschland für die Flüchtlinge getan hat, so
ist, wissen wir, wenn wir es wollen. Sie brauchen aber großherzig sollten wir jetzt mit denen umgehen, die die-
noch lange internationale Unterstützung. Auch dies wis- ser schreckliche Krieg am stärksten und wohl auch dau-
sen wir. erhaft betroffen und beschädigt hat.
Die noch verbliebenen Flüchtlinge gehören weitge- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
hend den Problemgruppen an, die wir in unserem Antrag GRÜNEN und der CDU/CSU)
beschrieben haben, die zunächst von einer Rückführung
ausgenommen werden sollten. Seit dem Frühjahr dieses Wir sollten zur Kenntnis nehmen – der Kollege Schwarz-
Jahres – dies war auch der Grund für unsere Initiative – Schilling hat schon darauf hingewiesen –, dass Österreich
werden diese Personen weitgehend unterschiedslos auf- 65 000, Schweden 53 000 und Dänemark 27 000 Bosnier
(B) gefordert, Deutschland kurzfristig zu verlassen. Wer ist und Bosnierinnen dauerhaft aufnimmt. In den USA – auch (D)
nicht schon in seinem oder ihrem Wahlkreis von solchen das wurde gesagt – haben bereits 140 000 Männer und
Personen angesprochen oder angeschrieben worden? Wir Frauen aus Bosnien Aufnahme gefunden. Ich denke, wir
wissen, wie hilflos wir dann oft reagieren müssen. sollten uns davon nicht beschämen lassen.
Wir wissen allerdings auch – dies haben wir in der letz- Wir fordern in unserem Antrag mit den vielen Unter-
ten Woche auch von dem UNHCR-Vertreter bei einer Po- schriften kein neues Gesetz; wir fordern auch keine Ge-
diumsdiskussion gehört –, dass es in den Bundesländern setzesänderung. Wir bringen darin unsere Erwartung
durchaus unterschiedliche Herangehensweisen gibt. Hier zum Ausdruck, im Rahmen bestehender Gesetze und un-
nenne ich Nordrhein-Westfalen und auch Schleswig-Hol- ter Berücksichtigung auch der Genfer Konvention alles zu
stein, die mit Flüchtlingen unterschiedlich umgehen, die unternehmen, damit dem betroffenen Personenkreis keine
zum Kreis der im Antrag genannten gehören. Ausreiseaufforderung, verbunden mit Abschiebungsdro-
Mit unserem Osterappell, den zu unserer Freude und hung, ausgesprochen wird. Sollte dies schon geschehen
Überraschung ganz spontan 100 Abgeordnete unter- sein, dann sollte sie widerrufen werden.
schrieben haben, wollten wir einen neuen Denkanstoß ge- Ich möchte auch die Hoffnung zum Ausdruck bringen,
ben, die begonnene Zwangsrückführung von Traumati- dass die ausführenden Ausländerbehörden das Votum des
sierten, von Alten und Kranken, von Müttern mit kleinen höchsten Souveräns in unserem Lande – ich gehe davon
Kindern, von ethnisch gemischten Ehepaaren einzustel- aus, dass die Abstimmung heute positiv verlaufen wird –
len. zur Kenntnis nehmen, respektieren und danach handeln.
An dieser Stelle erlaube ich mir, auf die besondere (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
Hartnäckigkeit des Kollegen Schwarz-Schilling in dieser GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)
Sache hinzuweisen und mich dafür auch zu bedanken.
Wir fordern die Bundesregierung auf, sich dafür einzu-
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE setzen, dass im Rahmen von Einzelfallprüfungen Mini-
GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.) malkriterien angewendet werden und dass für diesen Per-
Das öffentliche Echo auf den Osterappell – das haben sonenkreis, von dem wir heute sprechen, Möglichkeiten
Sie sicher alle zur Kenntnis genommen – war durchweg auch für einen längerfristigen Aufenthalt mit einem gesi-
positiv. Dies hat uns ermutigt, diesen Gruppenantrag ein- cherten Rechtsstatus in Deutschland geschaffen werden.
zubringen. Ermutigt hat uns – das will ich an dieser Stelle Ich bin fest davon überzeugt, dass uns das gelingen wird,
auch sagen – die Unterstützung von Hans Koschnick und und bitte deshalb um Zustimmung. Ich bedanke mich
10916 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Heide Mattischeck

(A) dafür, dass wir hier heute Abend eine so breite Unterstüt- die politische Entscheidung, dass das Ausländerrecht aus- (C)
zung finden. geschöpft wird, dass nach dem Ausländerrecht nicht nur
Danke schön. eine befristete Duldung erteilt wird, sondern ein verfes-
tigter Aufenthaltsstatus. Dass das möglich ist, zeigt schon
(Beifall im ganzen Hause) die von uns zu begrüßende Bewegung des Bundesinnen-
ministers, was die traumatisierten Flüchtlinge angeht.
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Nun erteile ich der In diesem Zusammenhang erlauben Sie mir ein Wort zu
Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, F.D.P.- der speziellen Berliner Situation. Nach der Praxis des
Fraktion, das Wort. Berliner Innensenates werden fast alle Kriegsflüchtlinge
aus Bosnien, denen anerkannte Fachärzte in Deutschland
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (F.D.P.): eine Traumatisierung bescheinigt haben, seit dem Früh-
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen und Kollegin- jahr 1999 pauschal aufgrund von Anweisungen von Poli-
nen! Herr Schwarz-Schilling, Sie haben als Kenner der zeiärzten noch einmal begutachtet. Diese Gutachten und
Region wirklich treffend, überzeugend und ergreifend die auch ärztliche Bewertungen stehen häufig nicht in Über-
Entwicklung und auch die Situation der derzeit noch in einstimmung mit internationalen Qualitätsstandards. Dies
Deutschland verbleibenden Flüchtlinge geschildert. Des- ist – so haben es auch Verwaltungsgerichte in Berlin fest-
halb darf für uns in dieser Debatte nicht der Satz gelten, gestellt – eine rechtswidrige Praxis. Sie traumatisiert
der die Ausländerpolitik derzeit mitbestimmt, nämlich: diese Flüchtlinge zusätzlich.
Wir wollen die Menschen aufnehmen, die uns nützen, und
nicht die Menschen, die uns ausnutzen. – Dieser Satz galt Wir wollen, dass hiervon ein Signal ausgeht, dass diese
für uns, die Initiatoren dieses Antrages, nicht, denn wir Praxis beendet wird. Die Innenministerkonferenz wird
wollen gerade, dass es in der Flüchtlingspolitik einen an- diese Beendigung auf ihrer nächsten Tagung beraten und
deren Tenor gibt. hoffentlich beschließen.
Wir wollen erreichen – niemand besser als Herr (Beifall bei der F.D.P., der SPD, der CDU/CSU
Schwarz-Schilling hat uns das mit zwei Beispielen vor und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Augen geführt –, dass die zum Teil völlig perspektivlose Deshalb – ich habe nur eine sehr kurze Redezeit – bitte
Situation von einer bestimmten Gruppe von Bürger- ich Sie, diesen Gruppenantrag zu unterstützen; denn er
kriegsflüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien ernst enthält nur Selbstverständliches zum geltenden Auslän-
genommen wird. Es handelt sich um Einzelschicksale. derrecht.
(B) Vielen Dank. (D)
Wir wollen erreichen, dass sich nicht nur Bürgermeis-
ter aller Parteien vor Ort an uns als Parlamentarier wen- (Beifall im ganzen Hause)
den mit dem Ziel einer Aufschiebung der gesetzten Aus-
reisefrist, einer Verlängerung der Duldung für eine Fami-
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Jetzt hat das Wort die
lie mit Kindern, sondern dass dies hier, wo es hingehört,
Kollegin Claudia Roth, Bündnis 90/Die Grünen.
im Bundestag debattiert und auch von der Bundesregie-
rung aufgegriffen wird.
Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Wir wollen, dass die Möglichkeiten des Ausländer-
NEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kolle-
rechtes für die traumatisierten Flüchtlinge, für die Lager-
gen! Der Osterappell und der jetzt von 230 Kolleginnen
insassen, für die Kriegsdienstverweigerer und für die De-
serteure, für Mütter oder Väter allein mit Kleinkindern und Kollegen unterschriebene Gruppenantrag ist für mich
und für unbegleitete Minderjährige ausgeschöpft werden. ein ganz außergewöhnliches Ereignis. Dieses Ereignis be-
wegt mich tief, weil es für die Menschenrechte in unse-
So wie es innerhalb kürzester Zeit möglich gewesen rem Land enorm wichtig ist.
ist, mit der Blue Card in Bayern die Einwanderung von
Facharbeitskräften aus einem bestimmten Bereich auslän- Unsere Debatte heute Abend hat etwas von einer Stern-
derrechtlich großzügig zu regeln, so ist es auch ohne stunde, nicht weil es schon so entsetzlich spät ist.
Problem möglich, diesen Personengruppen, die zudem
zahlenmäßig gar nicht mehr ins Gewicht fallen, einen ver- Vizepräsidentin Anke Fuchs: Gleich ist es wieder
festigten Aufenthaltsstatus nach dem geltenden Auslän- ganz früh.
derrecht zu geben. Dadurch kann ihnen Sicherheit gege-
ben werden, sodass sie nicht von einer Fristsetzung zur
nächsten leben müssen und möglicherweise Familien aus- Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
einander gerissen werden müssen. NEN): Vielmehr ist diese politisch parlamentarische Ini-
tiative, die, wie ich erwarte, positive Änderungen mit sich
(Beifall bei der F.D.P., der SPD, der CDU/CSU bringen wird, für unsere Glaubwürdigkeit wichtig. Glaub-
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) würdigkeit bemisst sich am Umgang mit denen, die ver-
Die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner des Grup- folgt, die vertrieben, die Opfer von ganz schrecklichen
penantrages beantragen ausdrücklich keine Änderung des Verbrechen geworden sind und die bei uns Hilfe und Zu-
Ausländergesetzes. Es ist kein Gesetzentwurf. Wir wollen flucht gesucht und vielerorts gefunden haben. Denen soll
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10917
Claudia Roth (Augsburg)

(A) jetzt genau dieser für ihr Leben und für ihre Zukunft Bosnien keine Möglichkeit, die Behandlung adäquat fort- (C)
nötige Schutz entzogen oder verweigert werden. zusetzen. Von einer freiwilligen Rückkehr zu sprechen ist
Die 230 Abgeordneten sind vielleicht die bisher größte daher purer Hohn.
überparteiliche parlamentarische Menschenrechtsgruppe (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
für die Beachtung humanitärer Grundsätze in der Flücht- bei der SPD und der PDS)
lingspolitik. 230 Abgeordnete mischen sich im allerbesten
Sinne ein und formulieren mit diesem Antrag deutliche Tatsache ist, dass massiver Ausreisedruck ausgeübt
Kritik an der menschenrechtlichen Realität in unserm wird, ohne die Kritik von allen Hilfsorganisationen ernst
Land. Sie schließen nicht die Augen, sie schauen nicht zu nehmen. Im Menschenrechtsausschuss haben alle
weg, sie schweigen nicht, sondern sie leisten damit de- Hilfsorganisationen auf die Situation im Herkunftsland
mokratischen Widerstand gegen die Entrechtung des hingewiesen. Es wird keine Rücksicht auf die Bitten von
Rechts von Flüchtlingen, gegen Ruck-zuck-Abschiebun- UNMIK und UNHCR genommen, die ernsthaft davor
gen in eine völlig unsichere Zukunft. Bayern geht übri- warnen, dass eine unkoordinierte und überstürzte Rück-
gens mit besonders gnadenlosem Beispiel voran. Denn führung von Menschen zum Beispiel in den Kosovo eine
jetzt werden in Bayern selbst ehemalige Lagerhäftlinge in Destabilisierung mit sich bringen würde.
einer wahren Abschiebewut von Abschiebungen nicht Ich erwarte, dass unser Beschluss etwas bewirken wird
ausgenommen. 230 Kolleginnen und Kollegen formulie- und nicht einfach zu den Akten gelegt wird. Ich erwarte,
ren ihren Widerspruch gegen rigorose und unzumutbare
dass die Abgestumpftheit der Politik beendet wird und
Härte und einen unmenschlichen Umgang mit Schutzbe-
dass sich mancher Innenminister darauf besinnt – wie es
dürftigen. Als Beispiel möchte ich nennen, dass in Berlin,
unser Kollege Schwarz-Schilling gesagt hat –, was unser
wie Frau Leutheusser-Schnarrenberger ausgeführt hat,
Grundgesetz zum Ausdruck bringt: Die Würde des Men-
traumatisierte Flüchtlinge in Berlin in Handschellen zu
polizeiärztlichen Gutachtern geführt werden. schen ist unantastbar. Das ist unser moralischer Imperativ,
das ist unsere historische Verantwortung, die sich im Um-
Ich bin froh und stolz, dass es gelungen ist, über Par- gang mit den Menschenrechten zeigen muss.
teigrenzen hinweg ein Bündnis für mehr Humanität zu
schließen und als Deutscher Bundestag die Bundesregie- Es geht nicht nur um das Schicksal von Flüchtlingen
rung aufzufordern, von den Bundesländern das einzu- und Vertriebenen, es geht vor allem um die Stärke unserer
fordern, was seit langem und zu Recht von Kirchen, von Demokratie. Stark ist ein starker Staat nur dann, wenn er
Wohlfahrtsverbänden, von vielen Unternehmen, von die Schwachen schützt und ihnen das gewährt, was sie
Flüchtlingsorganisationen und von Mitbürgern, die uns in brauchen, nämlich Leben und Zukunft. Unsere Initiative
ist also auch ein Beitrag für eine wehrhafte Demokratie in
(B) unzähligen Briefen um Unterstützung in Einzelschicksa- (D)
len bitten, eingefordert wird. Deutschland.
Wir fordern die politisch Verantwortlichen auf, die Lo- (Beifall im ganzen Hause)
gik der Debatte endlich umzudrehen und die Schutzge-
währung wieder in den Vordergrund zu stellen, Vizepräsidentin Anke Fuchs: Jetzt hat das Wort die
(Beifall im ganzen Hause) Kollegin Ulla Jelpke, PDS-Fraktion.
anstatt bürokratische und kalte Erlasse zu exerzieren,
ohne Rücksicht auf die tatsächliche Situation in den Ulla Jelpke (PDS): Frau Präsidentin! Meine Damen
Herkunftsländern oder auf die Realität, die Angst und die und Herren! Als mir dieser Antrag von einigen meiner
Sorgen der Betroffenen zu nehmen. Kollegen zur Unterschrift vorgelegt wurde, dachte ich,
dieser Antrag hätte etwas Besonderes sein können. Ich
Es braucht einen differenzierten Umgang mit spezifi-
dachte, Abgeordnete aus allen Parteien des Deutschen
schen Gruppen, die nicht oder noch nicht zurückkehren
Bundestages hätten sich für Menschen eingesetzt, die in
können. Dabei handelt es sich, wie schon angesprochen
worden ist, um allein stehende, alte, traumatisierte und be- einer Notsituation stehen. Damit wäre der Antrag gera-
hinderte Menschen sowie um ethnische Minderheiten wie dezu ein Lichtblick in der aktuellen Einwanderungsdis-
Roma und Askali. Es handelt sich um Menschen, deren kussion geworden. Es geht hier nämlich nicht um die
Häuser zerstört sind und die beim besten Willen nicht ins Frage der Nützlichkeit von Menschen, sondern um die be-
Nichts zurückkehren können. drohliche Lage von Menschen.

Wir brauchen eine gewissenhafte Einzelfallprüfung Herr Schwarz-Schilling, ich habe großen Respekt vor
und wir brauchen die Gewährung von Bleiberecht für zum Ihnen bezüglich der Rede, die Sie heute gehalten haben.
Beispiel junge Menschen, die faktisch in unsere Gesell- Wenn ich mich hier umschaue, so sehe ich keinen einzi-
schaft integriert sind. Problemfälle – das sind die etwa gen Kollegen Ihrer Fraktion, der dem Innenausschuss an-
50 000 noch verbliebenen Bosnier – sind kein Problem für gehört. Denn sie sind diejenigen, die in den letzten Mo-
unsere Gesellschaft. Sie haben existenzielle Probleme, naten und Jahren immer wieder blockiert haben. Dadurch
bei deren Lösung wir ihnen helfen müssen. ist es zu der Abschiebepolitik gekommen, die Sie heute
kritisiert haben.
Würden zum Beispiel traumatisierte Frauen jetzt
zwangsweise abgeschoben werden, würde ihnen eine Re- (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten
traumatisierung drohen. Ganz abgesehen davon gibt es in der SPD)
10918 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

Ulla Jelpke

(A) Diese Debatte beschämt mich deshalb, weil ich in den schon einige Jahre zurück – an die Große Anfrage von (C)
letzten Wochen und Monaten viele Anträge und Anfragen weiblichen Abgeordneten. Es handelte sich hier um den
zu diesen Problemen gestellt habe. Ich möchte hier deut- internationalen Frauenhandel. Ich erinnere mich auch an
lich sagen, dass ich es nicht gut finde, dass man bei einer die übergreifende Initiative zu dem Vorstoß, die genitale
solchen Frage nicht in der Lage war, PDS-Abgeordnete Verstümmelung schärfer zu ahnden.
bei diesem Antrag einzubeziehen.
Die Initiative, über die wir heute sprechen, verlangt für
(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten bestimmte Flüchtlingsgruppen aus Bosnien und Herzego-
der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- wina und aus dem Kosovo bis auf weiteres das Blei-
NEN) berecht in Deutschland. Das entspricht einer breiten
Dies ist ein wichtiger Antrag, der in die richtige Rich- Stimmung in der Bevölkerung der Bundesrepublik. Ich
tung geht. Auch ich bin der Meinung, dass Behinderte, weiß aus der täglichen Praxis, wie viele solcher Bitten uns
Kranke, alte Menschen, Traumatisierte und Angehörige mündlich und schriftlich erreichen. Gerade Flüchtlinge
bestimmter Ethnien nicht abgeschoben werden dürfen aus Bosnien und Herzegowina haben in Deutschland eine
und dass eine sorgfältige Einzelfallprüfung stattfinden hohe Akzeptanz.
muss. Mit diesem Appell würde der Bundestag ein Zei- Es wird einige von Ihnen überraschen, wenn ich Ihnen
chen setzen, dass die gegenwärtige Abschiebepolitik so sage: Die Bundesregierung fühlt sich durch diesen Antrag
nicht fortgesetzt werden kann. keineswegs auf die Armesünderbank gedrängt, sondern
Auch ich nenne das Beispiel einer kurdischen Familie, sie fühlt sich in mehreren Punkten bestätigt. Sie ist sich
die gerade in das Kirchenasyl gegangen ist. Die Frau der Tatsache bewusst, dass bestimmte Personengruppen
wurde vergewaltigt. Sie war schwanger und verlor ihr besonderen Schutz brauchen.
Kind. Die Ausländerbehörde verlangt trotzdem, obwohl So sind zum Beispiel ethnische Minderheiten aus dem
die Frau traumatisiert ist, dass sie das Land verlässt. Kosovo nach wie vor von dem, was wir „zwangsweise
Dieser Antrag kann nur ein Appell sein. Wir sind der Rückführung“ nennen, ausgenommen. Das Bundesinnen-
Meinung, dass der Schutz von Kranken und Traumati- ministerium hat die zuständigen Landesbehörden schon
sierten vor Abschiebung nicht im Belieben der Auslän- vor einem halben Jahr ausdrücklich gebeten, die freiwil-
derbehörde liegen darf. Wir müssen – das hat auch Herr lige Rückkehr dieser Menschen äußerst behutsam anzu-
Schwarz-Schilling angesprochen – § 53 Abs. 4 des Aus- gehen. Ebenso setzt sich das Bundesinnenministerium
ländergesetzes neu formulieren, und zwar so, dass die Eu- dafür ein, dass Menschen, die als Zeugen vom Internatio-
ropäische Menschenrechtskonvention entsprechend der nalen Strafgerichtshof für das frühere Jugoslawien be-
Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Men- nannt worden sind, mit ihren Familien einen Auf-
(B) schenrechte bei der Entscheidung über eine Abschiebung enthaltstitel in Deutschland bekommen. (D)
beachtet werden muss. Wir werden einen solchen Antrag
erarbeiten und vorlegen, damit das Abschieben nicht im Minister Schily hat sich auch – das wurde schon er-
Belieben der Ausländerbehörde liegt. wähnt – für die schwer Traumatisierten, vor allem
Frauen, und für ehemalige Lagerhäftlinge aus Bosnien-
Wir werden diesem Appell zustimmen. Ich wünsche Herzegowina und aus dem Kosovo eingesetzt mit dem
mir aber einen anderen Umgang mit Abgeordneten, die Ziel, dass die Behörden den gesetzlichen Rahmen voll
sich gerade bei solchen Fragen engagiert eingesetzt ha- ausschöpfen und von den auf drei Monate beschränkten
ben. Duldungen absehen, schon um diesen Menschen eine
Danke. gründliche medizinische und psychotherapeutische Be-
handlung zu ermöglichen.
(Beifall bei der PDS, der SPD und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Chronisch Traumatisierte sollen eine Aufenthaltsbe-
fugnis erhalten, so geht es aus dem Schreiben an die In-
nenminister und Senatoren der Länder hervor. Ich nutze
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Jetzt hat die Parla- die Gelegenheit, um die zuständigen Behörden ausdrück-
mentarische Staatssekretärin Dr. Cornelie Sonntag- lich zu bitten, auch entsprechend zu verfahren. Sensibi-
Wolgast das Wort. lität und der Wille, Ermessensspielräume wirklich und
entschieden auszunutzen, sollten auch vor den Türen der
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, Parl. Staatssekretä- örtlichen Ausländerämter nicht Halt machen.
rin beim Bundesminister des Innern: Frau Präsidentin! (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ein bisschen der CDU/CSU)
schade, dass am Schluss dieser Debatte noch ein partei-
politisches Gegeneinander aufgekommen ist, die eigent- Auch wer schon im Rentenalter ist und keine Angehöri-
lich so wohltuend ungewöhnlich verlaufen ist. gen in Bosnien-Herzegowina hat, ist gegenwärtig eben-
falls von der Rückführung ausgenommen.
Ich finde es schon eindrucksvoll, dass so viele Namen
aus den unterschiedlichen politischen Lagern vereint auf Schließlich möchte ich darauf hinweisen, dass wir im
einem Antrag zu finden sind. Fraktionsübergreifende Ini- Dialog mit dem Bundesministerium für Arbeit und So-
tiativen sind nach wie vor eine parlamentarische Rarität. zialordnung über eine Lockerung des Arbeitsverbotes
Sie kommen am ehesten zustande, wenn es um Fragen der mit Blick auf Flüchtlinge und Asylbewerber beraten und
Menschenrechte geht. Ich erinnere mich noch – das liegt dass wir, so hoffe ich, in allernächster Zeit zu einer Lö-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10919
Parl. Staatssekretärin Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast

(A) sung kommen werden, die den Gegebenheiten auf dem Vizepräsidentin Anke Fuchs: Ich schließe die Aus- (C)
Arbeitsmarkt ebenso gerecht wird wie den berechtigten sprache.
Interessen der Betroffenen. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag mit
Das Prinzip Freiwilligkeit – hier unterscheiden wir dem Titel „Humanitäre Grundsätze in der Flüchtlingspo-
uns vielleicht in Nuancen, Frau Kollegin Roth – hat sich litik beachten“, Drucksache 14/3729. Wer stimmt für die-
bei der Rückkehr doch bewährt. Wer hätte schon vor zwei sen Antrag? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Damit ist
oder drei Jahren gedacht, dass sich von den fast 350 000 der Antrag einstimmig angenommen.
Flüchtlingen der allergrößte Anteil aus freien Stücken (Beifall im ganzen Hause)
wieder in die Heimat begeben würde? Jetzt sind noch et-
was mehr als 38 000 Menschen in Deutschland, die ei- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 c auf:
gentlich ausreisen müssten. Ende des Jahres, so schätzt
Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und
der UNHCR, werden es voraussichtlich noch 21 000 sein.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-
Den entsprechenden politischen Willen der Länder vo-
wurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Zu-
rausgesetzt, könnte zu diesem Zeitpunkt im Rahmen der
sammenarbeit von Arbeitsämtern und Trägern
Innenministerkonferenz eine Altfallregelung für diese
Menschen vereinbart werden. der Sozialhilfe
– Drucksache 14/3765 –
Ich muss genauso deutlich darauf hinweisen, dass wir
Überweisungsvorschlag:
nicht generell auf das Mittel der zwangsweisen Rück- Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
führung verzichten können. Außerdem haben wir es – das
wissen alle, die den Antrag unterzeichnet haben – mit der Ich eröffne die Aussprache. Alle Reden zu diesem Ta-
Kompetenz der Länder zu tun. gesordnungspunkt sind zu Protokoll gegeben.1) Deshalb
schließe ich die Aussprache wieder.
Ich möchte trotzdem klar unterstreichen: Die Bundes-
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
regierung versteht diesen Antrag als eindringlichen Ap-
auf Drucksache 14/3765 an den in der Tagesordnung auf-
pell vieler, die sich aus großer Verantwortung für das
geführten Ausschuss vorgeschlagen. Gibt es anderweitige
Schicksal der betroffenen Menschen zu Wort melden. Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Über-
Dass dieser Aufruf von so vielen Abgeordneten unter- weisung so beschlossen.
schiedlicher politischer Lager getragen wird, stellt unse-
rer parlamentarischen Demokratie, glaube ich, ein gutes Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord-
Zeugnis aus. nung.
(B) (D)
Ich bedanke mich. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf heute, Freitag, den 7. Juli 2000, 9 Uhr, ein.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und der CDU/CSU sowie bei Abge- Die Sitzung ist geschlossen.
ordneten der F.D.P.) (Schluss: 0.14 Uhr)

1) Anlage 26
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10921

(A) Anlagen zum Stenographischen Bericht (C)


Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis


Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Adler, Brigitte SPD 06.07.00* Schily, Otto SPD 06.07.00


Bierling, Hans-Dirk CDU/CSU 06.07.00* Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 06.07.00
Hans Peter
Dr. Blüm, Norbert CDU/CSU 06.07.00
Schumann, Ilse SPD 06.07.00
Bury, Hans Martin SPD 06.07.00
Sothmann, Bärbel CDU/CSU 06.07.00
Carstensen (Nordstrand), CDU/CSU 06.07.00
Peter H. Steen, Antje-Marie SPD 06.07.00

Frankenhauser, Herbert CDU/CSU 06.07.00 Dr. Süssmuth, Rita CDU/CSU 06.07.00*

Friedrich (Altenburg), SPD 06.07.00 Dr. Waigel, Theodor CDU/CSU 06.07.00


Peter Weisskirchen SPD 06.07.00*
(Wiesloch), Gert
Gebhardt, Fred PDS 06.07.00
Wimmer (Neuss), Willy CDU/CSU 06.07.00*
Goldmann, F.D.P. 06.07.00
Hans-Michael Wohlleben, Verena SPD 06.07.00
Götz, Peter CDU/CSU 06.07.00 Zapf, Uta SPD 06.07.00*
Grießhaber, Rita BÜNDNIS 90/ 06.07.00* * für die Teilnahme an der 9. Jahrestagung der Parlamentarischen
DIE GRÜNEN Versammlung der OSZE
(B) (D)
Hauser (Rednitzhem- CDU/CSU 06.07.00
bach), Hansgeorg
Anlage 2
Heyne, Kristin BÜNDNIS 90/ 06.07.00
DIE GRÜNEN Antwort
Dr. Kahl, Harald CDU/CSU 06.07.00 der Parl. Staatssekretärin Brigitte Schulte auf die Fragen
des Abgeordneten Helmut Heiderich (CDU/CSU)
Klose, Hans-Ulrich SPD 06.07.00 (Drucksache 14/3722, Fragen 56 und 57):
Dr. Köster-Loßack, BÜNDNIS 90/ 06.07.00 In welcher Weise beabsichtigt die Bundesregierung die Redu-
zierung der Ausbildung von Grundwehrdienstleistenden – durch
Angelika DIE GRÜNEN die Verkürzung der Wehrpflicht und die geringere Anzahl der Ein-
berufungen – auf die einzelnen Standorte, welche jetzt ausbilden,
Koschyk, Hartmut CDU/CSU 06.07.00 zu verteilen?
Wird die Absicht der Bundesregierung, die Anzahl der Panzer
Lambrecht, Christine SPD 06.07.00 und damit der gepanzerten Truppen um circa ein Drittel zu redu-
zieren, zum prozentual gleichgewichtigen Abzug von Material
Lennartz, Klaus SPD 06.07.00 und Personal aus allen betroffenen Standorten führen?

Lippmann, Heidi PDS 06.07.00 Zu Frage 56:


Moosbauer, Christoph SPD 06.07.00* Die Ausplanungen der im „Eckpfeilerpapier“ von Bun-
desminister Scharping angekündigten Veränderungen der
Müller (Berlin), PDS 06.07.00 Bundeswehr stehen erst am Anfang. Inwieweit die Ver-
Manfred kürzung der Wehrpflicht und die Einberufung einer gerin-
geren Zahl von Wehrpflichtigen Auswirkungen auf die
Niebel, Dirk F.D.P. 06.07.00 Konzeption der Ausbildung und mögliche Standortent-
scheidungen haben könnte, kann derzeit noch nicht gesagt
Oesinghaus, Günter SPD 06.07.00
werden. Sollten als Ergebnis der Untersuchungen kon-
Raidel, Hans CDU/CSU 06.07.00* krete Standortentscheidungen notwendig sein, werden,
wie in der Vergangenheit auch, der Deutsche Bundestag
Romer, Franz CDU/CSU 06.07.00 und die Länderregierungen konsultiert.
10922 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

(A) Zu Frage 57: Anlage 4 (C)


Im Rahmen der Erneuerung der Bundeswehr von
Antwort
Grund auf soll auch ein moderneres Ausrüstungs- und
Materialkonzept für die Streitkräfte entwickelt und stu- der Parl. Staatssekretärin Brigitte Schulte auf die Frage
fenweise umgesetzt werden. Wie sich die im Eckpfeiler- des Abgeordneten Dirk Niebel (F.D.P.) (Drucksache
papier des Bundesministers der Verteidigung angekün- 14/3722, Frage 60):
digte Reduzierung von Großgeräten der Bundeswehr auf Welche Wehrbereichsverwaltungen werden im Rahmen der
Stationierungsorte auswirkt, kann erst dann beantwortet Neustrukturierung der Streitkräfte in Baden-Württemberg aufge-
werden. löst und in welchem Unterstellungsverhältnis sollen die für die
Versorgung der Wehrbereiche IV, V, VI und VII in Stuttgart zu-
sammengefassten Aufgaben verbleiben?

Anlage 3 Nach dem Eckpfeilerpapier „Die Bundeswehr – sicher


ins 21. Jahrhundert“ von Anfang Juni dieses Jahres wird
Antwort die Territoriale Wehrverwaltung im Gleichklang mit der
Territorialen Wehrorganisation gestrafft. Hierzu sollen die
der Parl. Staatssekretärin Brigitte Schulte auf die Fragen Wehrbereichsverwaltungen von sieben auf vier reduziert
des Abgeordneten Karl-Heinz Scherhag (CDU/CSU) werden. Die Zuständigkeitsbereiche und die Standorte der
(Drucksache 14/3722, Fragen 58 und 59): verbleibenden Wehrbereichsverwaltungen werden im
Welche Auswirkungen haben die geplanten Reduzierungs- Rahmen der Feinausplanung festgelegt. Das gilt auch für
und Rationalisierungsmaßnahmen im Bereich der zivilen Be- die Frage, welche Behörden in Zukunft die Versorgungs-
schäftigungsstrukturen der Bundeswehr auf die Anzahl der Be-
schäftigten beim Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung? bezüge zahlen.
Welche Folgen hat die geplante personelle und strukturelle
Neuorganisation der Heeresunterstützungskommandos für die
Bundeswehrstandorte in Rheinland-Pfalz und insbesondere für Anlage 5
den Standort Koblenz?
Antwort
Zu Frage 58:
der Parl. Staatssekretärin Brigitte Schulte auf die Fragen
Im Zusammenhang mit der notwendigen Reform der des Abgeordneten Werner Siemann (CDU/CSU)
Bundeswehr, die Bundesminister Scharping am 14. Ju- (Drucksache 14/3722, Fragen 61 und 62):
ni 2000 nach dem Beschluss der Bundesregierung einge-
An welchen Standorten sollen Frauen im Rahmen der umfas-
hend erläutert hat, ist eine Überprüfung der zivilen senden Öffnung aller militärischen Laufbahnen zum Januar bzw.
(B) Bereiche der Bundeswehr erforderlich. In diesem Zusam- Juli 2001 eingestellt werden, und wie werden die oftmals im Um-
gang mit weiblichen Soldaten unerfahrenen militärischen sowie (D)
menhang werden Entscheidungen zu treffen sein, die ge-
zivilen Angehörigen der Bundeswehr darauf vorbereitet?
gebenenfalls die Prüfung des Personalumfangs und der
Aufgaben des Bundesamtes für Wehrtechnik und Be- Welche finanziellen Auswirkungen hinsichtlich der Versor-
gung mit passender Bekleidung sowie der baulichen und organi-
schaffung in Koblenz nach sich ziehen können. Dabei satorischen Trennung von Wasch-, Dusch-, WC-, Umkleide- und
werden die Belange der Mitarbeiter und deren Familien Ruheräumen hat die umfassende Öffnung der Bundeswehr für
Frauen?
in die Überlegungen einbezogen.

Zu Frage 59: Zu Frage 61:

Nach dem Beschluss der Bundesregierung vom 14. Ju- Der Einberufungsstandort der Soldaten hängt
ni 2000 zu den Eckpfeilern der Bundeswehr sollen die grundsätzlich von der Verwendungsreihe ab. Die Luft-
Aufgaben des Heeresunterstützungskommandos zukünf- waffe hat neben dem bisherigen Standort Bayreuth zu-
tig teilstreitkraftübergreifend in der Streitkräftebasis und sätzlich die Standorte Germersheim, Goslar und Roth und
im Zentralen Sanitätsdienst, teilweise im Heeresfüh- die Marine hat List/Sylt, Eckernförde, Glückstadt, Bre-
rungskommando in Koblenz und im Heeresamt in Köln merhaven, Parow, Plön und Kappeln vorgesehen. Die
wahrgenommen werden. Für das Heeresunterstützungs- Ausbildungstruppenteile/Standorte für die Allgemeine
kommando bedeutet dies seine Auflösung. Eines unserer Grundausbildung und Spezialgrundausbildung des Hee-
Ziele ist es, die Teilstreitkräfte durch die Zusammenfas- res sollten ursprünglich bis Anfang September festgelegt
sung und weitgehend streitkräftegemeinsame Wahrneh- werden. Aufgrund der im Juli anlaufenden Prüfung und
mung von Unterstützungsaufgaben zu entlasten und die Eignungsfeststellung der Bewerberinnen und der geplan-
Wirtschaftlichkeit zu verbessern. Über die Auswirkungen ten Ausbildung der Ausbilder in Vorbereitung auf Solda-
auf die Standorte in Rheinland-Pfalz und speziell in Ko- tinnen in alle Laufbahnen versuchen wir zurzeit die Fest-
legung wesentlich früher durchzuführen.
blenz kann erst eine verlässliche Aussage getroffen wer-
den, wenn die Überlegungen zur Neuordnung der Aufga- Allgemein kann nicht gesagt werden, die militärischen
benbereiche in der Streitkräftebasis und im Zentralen und zivilen Angehörigen der Bundeswehr wären im Um-
Sanitätsdienst, aber auch in den Teilstreitkräften entspre- gang mit Soldatinnen oftmals unerfahren. In der Bundes-
chend festgeschrieben sind. Sollten als Ergebnis der noch wehr ist eine Vielzahl von Frauen als zivile Mitarbeiterin-
notwendigen Untersuchungen konkrete Standortentschei- nen (Beamtinnen, Angestellte und Arbeiterinnen) be-
dungen notwendig sein, werden, wie in der Vergangenheit schäftigt, derzeit arbeiten rund 49 000 Frauen in der
auch, der deutsche Bundestag und die Länderregierungen Bundeswehrverwaltung und in zivilen Funktionen der
konsultiert. Streitkräfte. Dies entspricht etwa 35 Prozent der zivilen
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10923

(A) Mitarbeiter. Aber auch mit Frauen im „Soldatenstatus“ auch andere zivile Dienststellen der Bundeswehr im Rah- (C)
haben zivile und militärische Angehörige der Bundes- men der Feinausplanung der territorialen Wehrverwal-
wehr hinreichend und gute Erfahrungen sammeln kön- tung festgelegt werden. Dann wird man auch genauere
nen: Bereits seit 1975 können sich Ärztinnen, (Zahn- und Kriterien besitzen, ob und wo in Niederbayern und in der
Tierärztinnen) sowie Apothekerinnen freiwillig zum Oberpfalz Kreiswehrersatzämter erhalten bleiben. Um
Dienst als Sanitätsoffiziere verpflichten. 1989 erfolgte Planungssicherheit zu erreichen, bemüht sich das Bun-
die Öffnung der Laufbahn für die Sanitätsoffizieranwär- desverteidigungsministerium, möglichst frühe Standort-
ter, 1991 die Öffnung aller Laufbahngruppen des Sanitäts- entscheidungen festzulegen.
und Militärmusikdienstes für den freiwilligen Dienst von
Frauen. Seit 1992 fördert die Bundeswehr auch Spitzens-
portlerinnen. In den Laufbahnen des Sanitäts- und Mi- Anlage 7
litärmusikdienstes der Streitkräfte dienen heute etwa
4 500 Soldatinnen. Im Rahmen der praktizierten Annah- Erklärung nach § 31 GO
meverfahren für den freiwilligen Dienst in den Streitkräf-
ten werden nicht nur Psychologen und Ärzte, sondern der Abgeordneten Ulrich Adam, Ilse Aigner,
ebenso Psychologinnen und Ärztinnen verwendet. Die Peter Altmaier, Norbert Barthle, Günter
mit der Durchführung von Eignungsfeststellungen beauf- Baumann, Brigitte Baumeister, Meinrad Belle,
tragten Dienststellen haben in der Vergangenheit bereits Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Otto Bernhardt,
Erfahrungen mit Bewerberinnen für den Sanitätsdienst Renate Blank, Dr. Maria Böhmer, Wolfgang
und Militärmusikdienst sammeln können. Sobald Solda- Börnsen (Bönstrup), Dr. Wolfgang Bötsch,
tinnen (außerhalb des Sanitätsdienstes) zur Verfügung ste- Friedrich Bohl, Jochen Borchert, Wolfgang
hen, wird dies in der Besetzung der Zentren Nachwuchs- Bosbach, Dr. Ralf Brauksiepe, Paul Breuer,
gewinnung und der Offizierprüfzentrale berücksichtigt. Klaus Bühler (Bruchsal), Cajus Caesar,
Das Zentrum Innere Führung der Bundeswehr hat ein Wolfgang Dehnel, Hubert Deittert, Renate
Ausbildungskonzept, das die Integration der Frauen in der Diemers, Thomas Dörflinger, Marie-Luise Dött,
Bundeswehr vorbereitet und erleichtert, erarbeitet. Dieses Hansjürgen Doss, Maria Eichhorn, Rainer
Multiplikatorenkonzept wendet sich zunächst an die Eppelmann, Anke Eymer (Lübeck), Ilse Falk,
Kommandeure aller Ebenen, Soldaten aus der Ebene der Dr. Hans Georg Faust, Ulf Fink, Ingrid
Ämter und Kommandobehörden, Inspektionschefs und Fischbach, Dirk Fischer (Hamburg),
Hörsaalleiter der Schulen und Einheitsführer der betroffe- Dr. Gerhard Friedrich (Erlangen), Erich G.
nen Einstellungstruppenteile, in denen Frauen ausgebildet Fritz, Jochen-Konrad Fromme, Dr. Jürgen
werden sollen. Die Ausbildungsinhalte werden durch Gehb, Michael Glos, Dr. Reinhard Göhner, Kurt-
(B) diese Multiplikatoren in der Truppe weitervermittelt. Dieter Grill, Hermann Gröhe, Manfred Grund, (D)
Horst Günther (Duisburg), Carl-Detlev Freiherr
Zu Frage 62: von Hammerstein, Gottfried Haschke (Großhen-
nersdorf), Gerda Hasselfeldt, Norbert Hauser
Die finanzielle Auswirkung durch spezielle Beklei- (Bonn), Klaus-Jürgen Hedrich, Helmut
dung für Frauen kann nicht quantifiziert werden, da die Heiderich, Ursula Heinen, Manfred Heise,
hierzu erforderlichen Daten, zum Beispiel Einstellungs- Siegfried Helias, Peter Hintze, Klaus Hofbauer,
zahlen noch nicht bekannt sind. Hinsichtlich der Kosten Klaus Holetschek, Dr. Karl-Heinz Hornhues,
für infrastrukturelle Maßnahmen sind die Infrastruktur- Susanne Jaffke, Georg Janovsky, Dr.-Ing. Rainer
dienststellen der Abteilung Wehrverwaltung angewiesen, Jork, Irmgard Karwatzki, Eckart von Klaeden,
den entsprechenden Bedarf zu ermitteln. Mit den zur Ver- Ulrich Klinkert, Norbert Königshofen, Manfred
fügung stehenden Planungsdaten ist bis jetzt keine seriöse Kolbe, Eva-Maria Kors, Thomas Kossendey,
Kostenrechnung möglich. Dr. Martina Krogmann, Dr.-Ing. Paul Krüger,
Karl Lamers, Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg),
Dr. Norbert Lammert, Dr. Paul Laufs, Karl-
Anlage 6 Josef Laumann, Vera Lengsfeld, Werner
Lensing, Ursula Lietz, Walter Link (Diepholz),
Antwort Eduard Lintner, Dr. Klaus W. Lippold (Offen-
der Parl. Staatssekretärin Brigitte Schulte auf die Fragen bach), Dr. Michael Luther, Dieter Maaß (Herne),
des Abgeordneten Dr. Klaus Rose (CDU/CSU) (Druck- Wolfgang Meckelburg, Dr. Michael Meister,
sache 14/3722, Fragen 63 und 64): Dr. Angela Merkel, Friedrich Merz, Hans
Denkt die Bundesregierung im Rahmen der Reform der Bun- Michelbach, Bernward Müller (Jena), Bernd
deswehr auch an eine Reduzierung der Zahl der Kreiswehrer- Neumann (Bremen), Claudia Nolte, Günter
satzämter und kann sie eine Bestandsgarantie für die Kreiswehr- Nooke, Friedhelm Ost, Eduard Oswald,
ersatzämter in Niederbayern und in der Oberpfalz geben?
Dr. Peter Paziorek, Anton Pfeifer, Ruprecht
Falls ja, für welchen Zeitraum und für welche Größenord- Polenz, Dr. Bernd Protzner, Thomas Rachel, Dr.
nung?
Peter Ramsauer, Helmut Rauber, Christa
Reichard (Dresden), Katherina Reiche, Erika
Zu Fragen 63 und 64:
Reinhardt, Hans-Peter Repnik, Dr. Heinz
Die Aufgaben und die Standorte der Kreiswehrer- Riesenhuber, Adolf Roth (Gießen),
satzämter werden nach derzeitigen Überlegungen wie Dr. Christian Ruck, Volker Rühe, Heinz
10924 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

(A) Schemken, Gerhard Scheu, Dietmar Schlee, Insbesondere mit Projekten, von denen vor allem junge (C)
Bernd Schmidbauer, Christian Schmidt (Fürth), Menschen profitieren sollen. Weil der Zukunftsfonds auf
Dr.-Ing. Joachim Schmidt (Halsbrücke), Dauer angelegt ist, kann und wird er in den kommenden
Andreas Schmidt (Mülheim), Hans Peter Jahren für ein friedliches Miteinander der Menschen von
Schmitz (Baesweiler), Birgit Schnieber-Jastram, besonderer Bedeutung sein.
Dr. Andreas Schockenhoff, Dr. Rupert Scholz,
4. Wer Zukunft gestalten will, darf sie nicht mit dem
Dr. Erika Schuchardt, Dr. Christian Schwarz-
Schilling, Horst Seehofer, Rudolf Seiters, belasten, was bereits seit langem abgeschlossen ist. Dies
Bernd Siebert, Werner Siemann, Johannes gilt insbesondere für die Frage der Reparationen.
Singhammer, Bärbel Sothmann, Margarete Spätestens seit dem Abschluss des Zwei-plus-Vier-
Späte, Erika Steinbach, Dorothea Störr-Ritter, Vertrages vom 12. September 1990 können derartige For-
Andreas Storm, Thomas Strobl, Edeltraut derungen aus völkerrechtlichen Gründen nicht mehr ge-
Töpfer, Dr. Hans-Peter Uhl, Gunnar Uldall, gen die Bundesrepublik Deutschland geltend gemacht
Angelika Volquartz, Andrea Voßhoff, Peter Weiß werden. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion bekräftigt,
(Emmendingen), Gerald Weiß (Groß-Gerau), dass sich auch durch dieses Gesetz die Frage der Repara-
Annette Widmann-Mauz, Elke Wülfing, tionen nicht neu stellt.
Wolfgang Zeitlmann (alle CDU/CSU) zur Ab-
stimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur 5. Die Bundesregierung hat zugesagt, die Stiftung noch
Errichtung einer Stiftung „Erinnerung, Verant- in diesem Jahr mit einem Anteil in Höhe von 5 Milliar-
wortung und Zukunft“ (Drucksachen 14/3206 den DM auszustatten. Die Stiftungsunternehmen haben
und 14/3459) (Tagesordnungspunkt 7 a ) für die Unternehmen der deutschen Wirtschaft erklärt,
dass sie sich in der Verpflichtung sehen, dass auch der
1. Mit dem Gesetz zur Errichtung einer Stiftung „Erin- von der Stiftungsinitiative zugesagte Anteil in Höhe von
nerung, Verantwortung und Zukunft“ kommt der Deut- 5 Milliarden DM umgehend gezahlt wird.
sche Bundestag seiner von der deutschen Geschichte auf-
gegebenen Verantwortung nach, eines der furchtbarsten Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion dankt allen Unter-
Kapitel unserer jüngsten Vergangenheit – die Entrech- nehmen, die sich bislang bereit erklärt haben, ihren Anteil
tung, Verschleppung, Misshandlung und Ausbeutung von in das Fondsvermögen einzuzahlen. Dieser Dank gebührt
Sklaven- und Zwangsarbeitern – aufzuarbeiten. insbesondere den Gründungsunternehmen der Stiftungs-
initiative der Deutschen Wirtschaft und denjenigen Fir-
Wir bitten die Opfer um Vergebung. Mit diesem Gesetz men, die sich am Stiftungsvermögen beteiligen, obwohl
übernehmen wir erneut und weltweit sichtbar die Verant- sie erst nach 1945 gegründet wurden und deshalb nie in
wortung für die Geschichte. Damit knüpfen wir an das das nationalsozialistische Unrechtssystem verstrickt wa- (D)
(B) Entschädigungs- und Versöhnungswerk an, das von
ren.
Konrad Adenauer begonnen wurde. Insbesondere jene,
die – hoch betagt und vielfach gebrechlich – bis heute Wir sehen es als unbedingt erforderlich an, dass insbe-
noch nicht von den umfangreichen Wiedergutmachungs- sondere diejenigen Unternehmen, die oder deren Rechts-
und Entschädigungsleistungen der Bundesrepublik vorgänger Sklaven- oder Zwangsarbeiter eingesetzt ha-
Deutschland erreicht wurden und als Opfer der Zwangs- ben, unverzüglich ihren Beitrag zur Finanzierung leisten.
arbeit unsäglich gelitten haben, erwarten zu Recht ein Zei- 6. Für uns ist von besonderer Bedeutung, dass mög-
chen der Wiedergutmachung und Versöhnung. lichst rasch mit der Auszahlung der Stiftungsmittel an die
2. Einen Schlussstrich unter das dunkelste Kapitel un- jeweiligen Partnerorganisationen und von dort mit der
serer Geschichte, die Verbrechen der Nazi-Tyrannei, kann Auszahlung der Leistungen an die heute betagten und
und darf es nicht geben. Von der sich daraus ergebenden vielfach kranken oder gebrechlichen Opfer begonnen
besonderen historischen Verantwortung unseres Landes werden kann. Voraussetzung hierfür ist neben der not-
können wir uns weder durch Worte noch durch Geld lö- wendigen Mittelbereitstellung die rechtskräftige Abwei-
sen. Aber dies kann nicht bedeuten, dass wir Jahr für Jahr sung aller vor den US-Gerichten anhängigen Klagen. Wir
in neue Entschädigungsdebatten eintreten und dadurch bitten die Kläger und ihre Rechtsvertreter, dafür Sorge zu
zwangsläufig in vielen Ländern der Welt und bei vielen tragen, dass möglichst rasch mit der Auszahlung der Stif-
Menschen Hoffnungen erwecken, die nicht erfüllt werden tungsmittel an die Opfer begonnen werden kann.
können. Wir gehen dabei davon aus, dass durch dieses Gesetz
Zu Beginn eines neuen Jahrhunderts wollen die Bun- und die damit verbundenen Abkommen und Erklärungen
desrepublik Deutschland und deutsche Unternehmen mit ein ausreichendes Maß an Rechtssicherheit für deutsche
der Bundesstiftung „Erinnerung, Verantwortung und Unternehmen insbesondere in den USA bewirkt wird.
Zukunft“ die bisherigen umfangreichen Wiedergutma- 7. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion fordert die Bun-
chungsregelungen ergänzen und ein Zeichen ihrer mora-
desregierung, das noch zu bildende Kuratorium und den
lischen Verantwortung für diese Geschehnisse setzen. Ab-
Stiftungsvorstand auf, durch geeignete Maßnahmen si-
schließend kann dies nur in finanzieller Hinsicht sein.
cherzustellen, dass die Stiftungsmittel die Leistungsbe-
3. Weil wir den Blick nach vorne richten müssen, ist rechtigten nach Maßgabe des Gesetzes auch tatsächlich in
der noch zu etablierende Zukunftsfonds von überragen- voller Höhe erreichen. Wir fordern die Bundesregierung
der Bedeutung. Ausgestattet mit einem Vermögen von auf, den Deutschen Bundestag jährlich über die Arbeit der
700 Millionen DM muss er jetzt mit Leben erfüllt werden. Stiftung, die Verteilung der Stiftungsmittel sowie über die
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10925

(A) Initiativen und Projekte des „Zukunftsfonds“ zu unter- 11. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion fordert die (C)
richten. Bundesregierung auf, mit denjenigen Staaten, die nach
dem Ende des Zweiten Weltkrieges Deutsche verschleppt
8. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion sieht es als un-
abdingbar an, dass nach diesem Gesetz Leistungsberech- und unter unmenschlichen Bedingungen zur Arbeit ge-
tigte unabhängig von ihrem Wohnsitz sowie unter Be- zwungen haben, oder mit deren Nachfolgestaaten Kontakt
rücksichtigung der gesetzlichen Gestaltungsmöglichkei- aufzunehmen mit dem Ziel, dass auch die noch lebenden
ten die Chance auf gleiche Leistungen erhalten. Wir sind deutschen Opfer von diesen Staaten eine – der deutschen
besorgt über eine mögliche Unterfinanzierung des Pla- Regelung entsprechende – Entschädigung in Form einer
fonds für Personenschäden der in diesem Gesetz bezeich- humanitären Geste erhalten.
neten sechsten Partnerorganisation (IOM), die jene Opfer 12. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion dankt Bundes-
zu betreuen hat, die nicht in Ländern wohnen, für die eine minister a. D. Dr. Otto Graf Lambsdorff für seine hervor-
andere Partnerorganisation zuständig ist. Ob und inwie- ragende Arbeit als Beauftragter der Bundesregierung auf
weit diese Sorge berechtigt ist, kann aber erst nach dem diesem ebenso wichtigen wie sensiblen Gebiet. Sie bittet
Eingang der Anträge von allen Opfern abschließend beur- ihn darum, seine Kenntnisse und Erfahrungen auch wei-
teilt werden. terhin der zu gründenden Stiftung zur Verfügung zu stel-
9. Wir bitten die Unternehmen der deutschen Wirt- len.
schaft, die unter dem NS-Regime Sklaven- und Zwangs-
arbeiter beschäftigt haben, bzw. ihre Rechtsnachfolger so- Zusatz zu der Erklärung des Abgeordneten Dr. Jürgen
wie die Länder und Kommunen, zur geeigneten Umset- Gehb (CDU/CSU):
zung von § 18 des Gesetzes (Auskunftsersuchen) die Trotz Unterstützung der vorstehenden Erklärung kann ich
notwendigen Auskünfte und Unterlagen zum Nachweis dem Gesetz nicht zustimmen; ich werde mit „Nein“ stim-
der Leistungsberechtigung der Opfer so rasch wie mög- men.
lich zu erteilen bzw. herauszugeben. Sofern erforderlich,
sollten sie die Vernetzung der Archive verbessern, um da- Zusatz zu der Erklärung der Abgeordneten Margarete
mit den Opfern und Partnerorganisationen den Nachweis Späte (CDU/CSU):
der Leistungsberechtigung zu erleichtern. Kopien der an- Ich werde mich allerdings bei der namentlichen Schluss-
geforderten und benötigten Unterlagen sollten ebenso wie abstimmung enthalten.
Angaben über bereits an ehemalige Zwangsarbeiter ge-
zahlte Leistungen an die nach diesem Gesetz bezeichne-
ten Partnerorganisationen weitergegeben werden. Anlage 8

(B) Wir bitten die Bundesregierung, durch zusätzliche or- Erklärung nach § 31 GO (D)
ganisatorische, finanzielle oder personelle Maßnahmen
die Leistungsfähigkeit des Archivs des Internationalen der Abgeordneten Max Straubinger, Albert Deß,
Suchdienstes in Arolsen zu erhöhen, um den einzelnen Josef Hollerith, Franz Obermeier, Dr. Wolfgang
Opfern und den Partnerorganisationen den Nachweis der Götzer, Wolfgang Zöller, Ernst Hinsken und
Leistungsberechtigung zu erleichtern. Georg Girisch (alle CDU/CSU) zur Abstimmung
über den Entwurf eines Gesetzes zur Errichtung
10. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion sieht in der Er- einer Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und
richtung des Zukunftsfonds innerhalb der Stiftung eine Zukunft“ (Drucksachen 14/3206 und 14/3459)
besondere Chance, der Verantwortung von Staat, Gesell-
(Tagesordnungspunkt 7 a)
schaft und Privatwirtschaft gerecht zu werden. Hierdurch
wird auch den kommenden Generationen die Möglichkeit Wir begrüßen, dass die Opfer der Zwangsarbeit ent-
eröffnet, die Erinnerung an das NS-Unrecht weiter wach schädigt werden.
zu halten und der Ausbreitung von extremistischem und
rassistischem Gedankengut sowie von totalitären Syste- Der vorliegende Gesetzentwurf enthält jedoch schwer-
men aller Art entgegenzuwirken. wiegende Mängel: Die zur Verfügung gestellten Mittel
werden unter den betroffenen Opfern nicht gerecht aufge-
Wir sehen es deshalb als notwendig an, Schwerpunkte teilt. Auch wurde für die derzeitigen bzw. künftigen Adres-
auf Projekte zu legen, die dem Jugendaustausch, der Ver- saten von Forderungen keine hinreichende Rechtssicher-
söhnung und Völkerverständigung, der Achtung von heit erreicht. Außerdem ist nicht auszuschließen, dass
Menschenrechten und für die Pflege der Beziehungen zu durch dieses Gesetz die Frage von Reparationen neu ge-
überlebenden Opfern dienen. Dabei ist auch die Arbeit stellt wird.
von und mit Zeitzeugen von Bedeutung. Darüber hinaus
können in einer Übergangszeit auch Projekte im Interesse Wir stimmen deshalb dem Gesetzentwurf nicht zu.
der Opfer und ihrer Hinterbliebenen gefördert werden. Zudem können wir bei der Bundesregierung keine Be-
Die Mittel des Zukunftsfonds sind zusätzliche Auf- reitschaft erkennen, mit denjenigen Staaten, die nach dem
wendungen des Bundes und der deutschen Wirtschaft. Sie Ende des Zweiten Weltkrieges Deutsche verschleppt und
dürfen keinesfalls Finanzierungsersatz von bisher durch unter unmenschlichen Bedingungen zur Arbeit gezwun-
die öffentliche Hand geförderten Maßnahmen sein. Das gen haben oder mit deren Nachfolgestaaten, Kontakt auf-
Kuratorium wird gebeten zu prüfen, inwieweit ein eigener zunehmen mit dem Ziel, dass auch die noch lebenden
Beirat für die Konzeption des Zukunftsfonds berufen wer- deutschen Opfer von diesen Staaten eine Entschädigung
den sollte. in Form einer humanitären Geste erhalten.
10926 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

(A) Anlage 9 desregierung, auch die Interessen dieser vergessenen Op- (C)
fergruppe nachhaltig zu vertreten.
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Martin Hohmann, Kurt
Anlage 10
Rossmanith, Benno Zierer, Werner Wittlich,
Hans-Otto Wilhelm (Mainz), Wilhelm Josef
Erklärung nach § 31 GO
Sebastian, Peter Bleser, Norbert Schindler,
Anita Schäfer, Klaus Brähmig und Norbert Geis der Abgeordneten Eva-Maria Bulling-Schröter,
(alle CDU/CSU) zur Abstimmung über den Ent- Carsten Hübner, Dr. Winfried Wolf und
wurf eines Gesetzes zur Errichtung einer Stif- Christina Schenk (alle PDS) zur Abstimmung
tung „Erinnerung, Verantwortung und Zu- über den Entwurf eines Gesetzes zur Errichtung
kunft“ (Drucksachen 14/3206 und 14/3459) (Ta- einer Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und
gesordnungspunkt 7 a) Zukunft“ (Drucksachen 14/3206 und 14/3459)
(Tagesordnungspunkt 7 a)
Hiermit erklären wir, dass wir dem Gesetzentwurf
nicht zustimmen können. Die Ablehnung wird wie folgt in Wir enthalten uns der Stimme bei den Abstimmungen
Kurzform begründet: über den Entwurf eines Gesetzes zur Errichtung einer Stif-
tung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (Druck-
Erstens. Aufgrund der Bindungswirkung der deutsch- sache 14/3206), den Entschließungsantrag der Fraktionen
amerikanischen Verhandlungen war der Gestaltungsspiel- der SPD, Bündnis 90/Die Grünen, F.D.P. und PDS zur
raum der Bundestagsabgeordneten so gering, dass sub- 2./3. Lesung des Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung
stanzielle Verbesserungen zur Schaffung von mehr Ge- einer Stiftung...und begründen dies wie folgt:
rechtigkeit nicht möglich waren.
Wir begrüßen, dass mit diesem Gesetzentwurf mehr als
Zweitens. Die Jewish Claims Conference und Vertreter ein halbes Jahrhundert nach der NS-Zeit der Deutsche
von Russland, der Ukraine, Weißrussland, Polen und der
Bundestag gegenüber den Zwangsarbeiterinnen und
Tschechischen Republik waren mit am Verhandlungs-
Zwangsarbeitern eine eigene Verpflichtung eingesteht
tisch. Sie konnten sich auskömmliche Anteile der 10 Mil-
und dass die deutsche Wirtschaft, insoweit sie die Stiftung
liarden DM sichern, nicht aber der so genannte Rest der
mitträgt und finanziert, sich in allgemeiner Form mitver-
Welt. Für diese große Gruppe ergibt sich eine Unter-
antwortlich für die Verbrechen des NS-Regimes erklärt.
deckung von circa einer halben Milliarde DM. Ein befrie-
digender oder gar abgestimmter Deckungsvorschlag liegt Insbesondere begrüßen wir, dass es mit diesem Ge-
nicht vor. setzentwurf noch in diesem Jahr möglich sein kann,
(B) dass die überlebenden ehemaligen Zwangsarbeiter und (D)
Drittens. Es steht für alle jüdischen Zwangsarbeiter der
Zwangsarbeiterinnen eine bescheidene – aber für alle hin-
Höchstsatz von 15 000 DM bereit. Das wird trotz gleichen
sichtlich der Symbolik und für viele in materieller Hin-
Leidensweges bei anderen Opfergruppen nicht möglich
sicht wichtige – finanzielle Entschädigung erhalten. Und
sein.
wir wissen, dass viele unserer MdB-Kolleginnen und
Viertens. Dieses Missverhältnis begründet sich auch -Kollegen, die für diesen Gesetzentwurf und für den Ent-
aus den von der Bundesregierung zugrunde gelegten Op- schließungsantrag stimmen wollen, dies insbesondere mit
ferzahlen. Holocaustforscher gehen von höchstens Blick auf diesen letzten Aspekt tun.
36 000 überlebenden jüdischen Zwangsarbeitern aus,
Wenn wir dennoch dem Gesetzentwurf nicht zustim-
während die Jewish Claims Conference 162 000 angibt.
men und uns zur Enthaltung entschlossen haben, dann er-
Die Bundesregierung hat es unterlassen, diesen Wider-
folgt dies insbesondere aus fünf Gründen:
spruch im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens aufzu-
klären. Erstens. Wir enthalten uns, weil die Zielsetzung weni-
ger Verantwortung vor der Geschichte als Schutz der deut-
Fünftens. Wegen vorangegangener Entschädigungsleis-
schen Wirtschaft ist.
tungen wird die Zwangsarbeiterentschädigung für eine
Opfergruppe eine weniger bedeutende, eine Zusatzleis- Der Gesetzentwurf verfolgt in erster Linie das Ziel,
tung sein, andererseits werden nicht wenige andere Opfer deutschen Unternehmen, die mit Exporten und Kapitalan-
eine erstmalige und recht geringe Entschädigung erhalten. lagen Interessen im Ausland haben, die Sicherheit für
Zur Vermeidung dieses Missverhältnisses hätte eine An- fortgesetzte profitable Geschäfte zu geben. Das allein
rechnung stattfinden müssen. Dadurch wäre mehr Spiel- war – erklärtermaßen – die Motivation der deutschen
raum für die wirklich bedürftigen Überlebenden gewesen. Wirtschaft, sich an der Stiftung zu beteiligen. Aus diesem
Grund müssen sich ehemalige Zwangsarbeiterinnen und
Sechstens. Das Ausbringen der Stiftungsmittel könnte
Zwangsarbeiter, die in den Genuss einer bescheidenen
als faktische Reparationsleistung missverstanden werden
Entschädigung kommen, verpflichten, für immer auf wei-
und andere Anspruchsteller auf den Plan rufen.
tergehende Schadenersatzansprüche zu verzichten. Der
Siebentens. Auf Anfragen hat die Bundesregierung be- Gesetzentwurf soll einen Schlussstrich ziehen, der weder
kundet, sich derzeit nicht für deutsche nichtjüdische moralisch noch mit der Summe von zehn Milliarden Mark
Zwangsarbeiter einsetzen zu wollen. Das würde aus un- gezogen werden kann. Dass ein solcher Schlussstrich
serer Sicht den Grundsatz „gleiches Leid – gleiche Ent- auch für die vielen hundert Unternehmen gilt, die sich
schädigung“ verletzen. Wir appellieren daher an die Bun- nicht an der finanziellen Absicherung des Fonds beteilig-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10927

(A) ten, aber von Zwangsarbeit profitierten, ist an diesem Ge- te – Verpflichtungserklärung der deutschen Wirtschaft. (C)
setzentwurf in besonderer Weise zu kritisieren. Am Ende kann es also durchaus sein, dass der Steuerzah-
ler zusätzlich zu den 7,5 Milliarden Mark „nachschießen“
Zweitens. Wir enthalten uns, weil der Gesetzentwurf
muss.
und der Entschließungsantrag nur unzureichende Aussa-
gen zur aktiven Unterstützung der deutschen Wirtschaft Fünftens. Wir enthalten uns der Stimme, weil selbst mit
für das NS-Regime enthalten. diesem Gesetz die Unternehmen, die von NS-Zwangsar-
beit profitierten, nicht zur Öffnung ihrer Archive, die
Die deutschen Konzerne, Banken und Versicherungen
diese Zwangsarbeit dokumentieren, gezwungen werden,
haben sich in der NS-Zeit aktiv an dem umfassenden Sys-
und weil ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsar-
tem der Zwangsarbeit beteiligt und das NS-System und
den NS-Krieg direkt durch Spenden an die Nazis und mit beiter Unternehmen nicht juristisch eindeutig verpflichten
einer Rüstungs- und Kriegswirtschaft unterstützt. Sie be- können, die Archive zu öffnen, um ihre Ansprüche bele-
zogen Milliarden-Gewinne aus millionenfacher Zwangs- gen zu können.
arbeit, während sie den Tod von Hunderttausenden Men- Das öffnet aber den deutschen Unternehmen ein weite-
schen in Kauf nahmen und oft selbst aktiv daran beteiligt res Mal die Möglichkeit für ein zynischen Spiel auf
waren. Diese Umstände werden in der Präambel zum Ge- Zeit – eben das, was sie einigermaßen erfolgreich nun seit
setz nur vorsichtig angesprochen, in der Begründung wer- mehr als 55 Jahren beim Thema Zwangsarbeit betrieben
den sie völlig verschleiert. haben.
Drittens. Wir enthalten uns der Stimme, weil die Ent- Unsere Solidarität gehört den Opfern des NS-Regimes.
schädigung, die die ehemaligen Opfer in der Gesamt- Mit unserer Enthaltung stellen wir uns nicht in den Weg,
summe und auf individueller Basis erhalten, viel zu nied- dass möglichst viele von ihnen endlich eine Entschädi-
rig ist. gung erhalten. Mit dieser Erklärung betonen wir jedoch
Seriöse Berechnungen gehen davon aus, dass die deut- unsere Kritik an dem – trotz alledem historischen – Ge-
schen Unternehmen aus der Zwangsarbeit und der Lohn- setzentwurf.
vorenthaltung Vorteile bezogen, die heute einem Betrag
zwischen 100 und 180 Milliarden Mark entsprechen –
also zehn bis 18 mal mehr als nun tatsächlich gezahlt wer- Anlage 11
den soll. Dieser Betrag ist zunächst objektiv berechtigt:
Ihm entsprachen reale Gewinne. Dieser Betrag passt aber Erklärung nach § 31 GO
auch durchaus in die aktuelle Finanzlandschaft: In diesen der Abgeordneten Sylvia Bonitz (CDU/CSU) zur
Tagen werden Summen in dieser Höhe und darüber hi- Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes
(B) naus allein dafür ausgegeben, dass ein Unternehmen ein zur Errichtung einer Stiftung „Erinnerung, (D)
anderes übernimmt (und dabei noch Tausende Arbeits- Verantwortung und Zukunft“ (Drucksachen
plätze zerstört) – im Fall Mannesmann/Vodafone-Air- 14/3206 und 14/3459) (Tagesordnungspunkt 7 a)
touch waren es 240 Milliarden DM. Was auf dieser zer-
störerischen Ebene der Fusionen jedoch als „normal“ gilt, Einen deutschen Beitrag zur Wiedergutmachung des
wird im Fall der gerechtfertigten Forderung zur Wieder- an Zwangsarbeitern begangenen NS-Unrechts befür-
gutmachung von Zwangsarbeit als „überzogen“ darge- worte ich grundsätzlich. Trotz einiger Bedenken, ob dies
stellt. So kommt es dazu, dass mit der gedeckelten Summe nicht eher eine Aufgabe der deutschen Wirtschaft allein
von 10 Milliarden Mark viele Opfer – insbesondere aus gewesen wäre als erneut – zumindest teilweise – des
dem so genannten „Rest der Welt“ – keine oder nur eine Steuerzahlers, hätte ich dem Gesetzentwurf zugestimmt,
marginale Entschädigung erhalten werden. wenn er in entscheidenden Fragen endgültige Klarheit
gebracht hätte. Nach derzeitigem Stand sind zahlreiche
Viertens. Wir enthalten uns der Stimme, weil die wichtige Punkte jedoch nur ungenügend geklärt, sodass
Hauptverantwortlichen, die deutsche Wirtschaft, einen ich dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Errichtung ei-
geradezu lächerlich geringen Betrag zur Verfügung stellt ner Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“
und weil die Hauptsumme von den Steuerzahlenden zur (Entschädigung von NS-Zwangsarbeitern) in Drucksache
Verfügung gestellt werden muss. Nr. 14/3206 nicht zustimmen kann.
Offiziell will die deutsche Wirtschaft 5 der im Fonds In den Verhandlungen mit den USA konnte keine wirk-
vorgesehenen 10 Milliarden Mark bezahlen, das heißt, die lich verbindliche Zusage erreicht werden, dass keine wei-
Hälfte bezahlen ohnehin die Steuerzahlenden. Die von der teren Forderungen an die deutsche Wirtschaft gestellt
Wirtschaft bezahlten Beträge können jedoch von der werden. Trotz der Bereitschaft der deutschen Wirtschaft,
Steuer abgesetzt werden, sodass weitere 2,5 Milliarden dieses Restrisiko tragen zu wollen, dürfen wir uns m. E.
Mark Steuerausfälle für den Fall zu erwarten sind, dass nicht dem Risiko aussetzen, immer wieder mit neuen For-
die deutsche Wirtschaft ihre 5 Milliarden Mark wirklich derungen konfrontiert zu werden.
einzahlt. Doch selbst diese 5 Milliarden bzw. real 2,5 Mil-
liarden Mark Gelder der deutschen Wirtschaft sind nicht Der vorliegende Gesetzentwurf trifft keine Aussage
gesichert. Die deutschen Unternehmen spielen bis zum hinsichtlich des Verzichtes auf weitere deutsche Reparati-
heutigen Tag zynisch auf Zeit. Erst für drei Fünftel des of- onszahlungen. Nach dem bisherigen Verlauf der Verhand-
fiziell erwarteten Betrags liegen Zusagen vor. Für die aus- lungen kann nicht mit hinreichender Sicherheit ausge-
stehende Summe gibt es nicht einmal die – von der Bun- schlossen werden, dass die Reparationsfrage irgendwann
desregierung bis vor kurzem als unabdingbar bezeichne- neu gestellt wird.
10928 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

(A) Während die Jewish Claims Conference, Russland, die schädigungssumme bekommen, die ehemaligen Zwangs- (C)
Ukraine, Weißrussland, Polen und die Tschechische Re- arbeiter in den anderen Ländern aber stark benachteiligt
publik, die am Verhandlungstisch saßen, von einem werden. Es steht zu befürchten, dass diese benachteiligten
großen Teil der 10 Milliarden DM Stiftungsmittel profi- Zwangsarbeitsopfer erneut vor Gericht ziehen werden
tieren werden, sind Opfer aus den übrigen Ländern ein- und damit immer neue finanzielle Auswirkungen auf die
deutig benachteiligt. Es ist daher nicht auszuschließen, Bundesrepublik Deutschland zukommen.
dass diese neue Prozesse anstrengen werden. Im Übrigen
Ein weiteres Problem besteht darin, dass in den Ver-
nehme ich mit Bedauern zur Kenntnis, dass die Verhand- handlungen mit den Vereinigten Staaten von Amerika eine
lungen offenbar in weiten Teilen unter einem übermäßig hundertprozentige Rechtssicherheit für die deutsche Wirt-
großen Einfluss der Jewish Claims Conference gestanden schaft nicht erreicht werden konnte. Dieses Restrisiko ist
haben, sodass eine gerechte Mittelverteilung unter allen meiner Meinung nach nicht vertretbar. Eine Welle von
betroffenen Opfern von Zwangsarbeit fragwürdig ist. neuen Klagen ist zu befürchten.
Nach den ursprünglichen Vorstellungen sollte der Zu- Auch darf im Zusammenhang mit der Verabschiedung
kunftsfonds, dessen Bedeutung ich für besonders wichtig eines Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Erinnerung,
halte, den gleichen Anteil haben wie die Individualent- Verantwortung und Zukunft“ die Frage der Reparationen
schädigungen. Inzwischen sind die Mittel hierfür auf le- nicht noch einmal neu gestellt werden.
diglich 0,7 Milliarden DM zusammengeschrumpft.
Es ist auch eine grobe Ungerechtigkeit, dass die Frage
Es ist nicht glaubwürdig zu begründen, dass deutsche der Entschädigung der ins Ausland verschleppten und
Zwangsarbeiter nicht entschädigt werden. Ich halte es da- dort als Zwangsarbeiter eingesetzten Deutschen nicht zur
her für dringend erforderlich, mit denjenigen Staaten Sprache kommt. Bei den Verhandlungen wurde diese ge-
(oder deren Nachfolgestaaten), die nach dem Ende des rechte Forderung nicht zum Thema gemacht. Das ist ge-
Zweiten Weltkrieges Deutsche verschleppt und unter un- genüber allen betroffenen deutschen Mitbürgern nicht zu
menschlichen Bedingungen zur Arbeit gezwungen haben, verantworten.
zu verhandeln, mit dem Ziel, auch für deutsche Zwangs-
arbeiter Entschädigungsleistungen zu ermöglichen. Diese Gründe veranlassen mich zur Ablehnung des Ge-
setzentwurfes.
Diese Gründe veranlassen mich, den Gesetzentwurf
abzulehnen.
Anlage 13
Anlage 12 Erklärung nach § 31 GO
(B) (D)
Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Hartmut Büttner (Schönebeck)
(CDU/CSU) zur Abstimmung über den Entwurf
des Abgeordneten Georg Brunnhuber (CDU/ eines Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Er-
CSU) zur Abstimmung über den Entwurf eines innerung, Verantwortung und Zukunft“ (Druck-
Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Erinne- sachen 14/3206 und 14/3459) (Tagesordnungs-
rung, Verantwortung und Zukunft“ (Drucksa- punkt 7 a)
chen 14/3206 und 14/3459) (Tagesordnungs-
punkt 7 a) Die NS-Herrschaft hat Sklaven- und Zwangsarbeitern
durch Deportation, Inhaftierung, Ausbeutung bis zur Ver-
Dem Entwurf eines Gesetzes zur Errichtung einer Stif- nichtung durch Arbeit und durch eine Vielzahl von Men-
tung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ – Druck- schenrechtsverletzungen schweres Unrecht zugefügt.
sache 14/3206 stimme ich nicht zu.
Deutsche Unternehmen, die an diesem Unrecht betei-
Ich begrüße es, dass Menschen, die als Zwangsarbeiter ligt waren, tragen eine hohe historische und menschliche
unter der NS-Herrschaft gelitten haben, eine Entschädi- Verantwortung mit.
gung bekommen. Allerdings bin ich mit der konkreten
Ausgestaltung des Gesetzes nicht einverstanden. Zum ei- Deshalb begrüße ich ausdrücklich, dass dieses Leid
nen stört mich die Tatsache, dass die deutschen Steuer- den Betroffenen gegenüber zumindest finanziell wieder-
zahler den größten Anteil am geplanten Stiftungsvermö- gutgemacht werden soll.
gen von 10 Milliarden DM zu zahlen haben, während die Die ungleiche und ungerechte Verteilung der gesamten
Wirtschaft nur 25 Prozent beiträgt. Auf den ersten Blick finanziellen Mittel der Stiftung „Erinnerung, Verantwor-
leisten sowohl die Bundesrepublik Deutschland und die tung und Zukunft“ wird allerdings von mir nicht mitge-
Unternehmen eine Entschädigungssumme von 5 Milliar- tragen.
den DM, die Wirtschaft kann sich aber aufgrund von Steu-
Ich kritisiere vor allem, dass einige Opfergruppen ge-
erabschreibungen wieder 50 Prozent ihres eingezahlten
genüber anderen Opfergruppen privilegiert werden, ob-
Vermögens – 2,5 Milliarden DM – vom Fiskus zurückho-
wohl sie einem gleich schweren Schicksal ausgesetzt wa-
len. So bezahlt der deutsche Steuerzahler also 7,5 Milliar-
ren, dass ein großer Teil der verfügbaren Finanzen für
den DM, die Wirtschaft aber nur 2,5 Milliarden DM.
Anwaltskosten und weitere administrative Kosten aufge-
Zweitens stört mich die Tatsache, dass die jüdische Be- wandt wird, dass deutschen Unternehmen in den USA
völkerung in den Ländern, die an den Verteilungsver- auch weiterhin kein ausreichendes Maß an Rechtssicher-
handlungen beteiligt waren, den Löwenanteil der Ent- heit vor individuellen Verfahren gewährleistet wird.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10929

(A) Die Diskussion um Sklaven- und Zwangsarbeit hat Anlage 15 (C)


auch viele Deutsche, die ähnliche Schicksale zu erdulden
hatten, in ihrem Gerechtigkeitsempfinden getroffen. Lö- Erklärung nach § 31 GO
sungen für alle diese Menschen sind bisher weder in der des Abgeordneten Volker Kauder (CDU/CSU)
Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ noch zur Abstimmung über den Entwurf eines Geset-
an anderer Stelle vorgesehen. zes zur Errichtung einer Stiftung „Erinnerung,
Aus den vorgenannten Gründen enthalte ich mich zu Verantwortung und Zukunft“ (Drucksachen
dem Gesetzentwurf. 14/3206 und 14/3459) (Tagesordnungspunkt 7 a)
Dem Entwurf eines Gesetzes zur Errichtung einer Stif-
tung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ – Druck-
Anlage 14 sache 14/3206 – stimme ich nicht zu.

Erklärung nach § 31 GO Ich begrüße, dass Opfer der Zwangsarbeit entschädigt


werden. Trotz einiger Bedenken, ob dies nicht eher eine
des Abgeordneten Hans-Joachim Fuchtel (CDU/ Aufgabe der deutschen Wirtschaft allein gewesen wäre
CSU) zur Abstimmung über den Entwurf eines als erneut – zumindest teilweise – des Steuerzahlers, hätte
Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Erinne- ich dem Gesetzentwurf zugestimmt, wenn er in entschei-
rung, Verantwortung und Zukunft“ (Drucksa- denden Fragen endgültige Klarheit gebracht hätte.
chen 14/3206 und 14/3459) (Tagesordnungs- In den Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten von
punkt 7 a) Amerika konnte nicht die verbindliche Zusage erreicht
Dem Entwurf eines Gesetzes zur Errichtung einer Stif- werden, dass keine weiteren Forderungen an die deutsche
tung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ – Druck- Wirtschaft erhoben werden. Die deutsche Wirtschaft ist
sache 14/3206 – stimme ich nicht zu. zwar bereit, dieses – nach ihrer Auffassung – Restrisiko
tragen zu können, ich aber bin der Meinung, dass wir nicht
Ich begrüße, dass Opfer der Zwangsarbeit entschädigt immer wieder mit neuen Forderungen konfrontiert wer-
werden. Trotz einiger Bedenken, ob dies nicht eher eine den dürfen.
Aufgabe der deutschen Wirtschaft allein gewesen wäre,
Die zur Verfügung gestellten Mittel werden nicht ge-
als erneut – zumindest teilweise – des Steuerzahlers, hätte recht unter den betroffenen Zwangsarbeitsopfern aufge-
ich dem Gesetzentwurf zugestimmt, wenn er in entschei- teilt. Ist dies schon Grund genug, dem Gesetzentwurf
denden Fragen endgültige Klarheit gebracht hätte. nicht zuzustimmen, befürchte ich darüber hinaus, dass be-
(B) In den Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten von nachteiligte Opfergruppen neue Prozesse anstrengen wer- (D)
Amerika konnte nicht die verbindliche Zusage erreicht den.
werden, dass keine weiteren Forderungen an die deutsche Außerdem hätte ich eine klare Aussage dahin gehend
Wirtschaft erhoben werden. Die deutsche Wirtschaft ist erwartet, dass durch dieses Gesetz die Frage von Repara-
zwar bereit, dieses – nach ihrer Auffassung – Restrisiko tionen nicht neu gestellt wird.
tragen zu können, ich aber bin der Meinung, dass wir nicht
Ich hätte von der Bundesregierung auch erwartet, dass
immer wieder mit neuen Forderungen konfrontiert wer-
sie mit denjenigen Staaten Verhandlungen aufnimmt, die
den dürfen. nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges Deutsche ver-
Die zur Verfügung gestellten Mittel werden nicht ge- schleppt und unter unmenschlichen Bedingungen zur Ar-
recht unter den betroffenen Zwangsarbeitsopfern aufge- beit gezwungen haben oder mit deren Nachfolgestaaten
teilt. Ist dies schon Grund genug, dem Gesetzentwurf mit dem Ziel, dass auch die noch lebenden deutschen Op-
nicht zuzustimmen, befürchte ich darüber hinaus, dass be- fer von diesen Staaten eine der deutschen Regelung ent-
nachteiligte Opfergruppen neue Prozesse anstrengen wer- sprechende Entschädigung in Form einer humanitären
den. Geste erhalten.

Außerdem hätte ich eine klare Aussage dahin gehend Diese Gründe haben mich veranlasst, den Gesetzent-
erwartet, dass durch dieses Gesetz die Frage von Repara- wurf abzulehnen.
tionen nicht neu gestellt wird.
Ich hätte von der Bundesregierung auch erwartet, dass Anlage 16
sie mit denjenigen Staaten, die nach dem Ende des Zweiten
Weltkrieges Deutsche verschleppt und unter unmensch- Erklärung nach § 31 GO
lichen Bedingungen zur Arbeit gezwungen haben, oder des Abgeordneten Julius Louven (CDU/CSU)
mit deren Nachfolgestaaten mit dem Ziel Verhandlungen zur Abstimmung über den Entwurf eines Geset-
aufnimmt, dass auch die noch lebenden deutschen Opfer zes zur Errichtung einer Stiftung „Erinnerung,
von diesen Staaten eine der deutschen Regelung entspre- Verantwortung und Zukunft“ (Drucksachen
chende Entschädigung in Form einer humanitären Geste 14/3206 und 14/3459) (Tagesordnungspunkt 7 a)
erhalten.
Dem Entwurf eines Gesetzes zur Errichtung einer Stif-
Diese Gründe haben mich veranlasst, den Gesetzent- tung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ – Druck-
wurf abzulehnen. sachen 14/3206 – stimme ich nicht zu.
10930 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

(A) Ich begrüße, dass Opfer der Zwangsarbeit entschädigt wandt wird, dass deutschen Unternehmen in den USA (C)
werden. Trotz einiger Bedenken, ob dies nicht eher eine auch weiterhin kein ausreichendes Maß an Rechtssicher-
Aufgabe der deutschen Wirtschaft allein gewesen wäre heit vor individuellen Verfahren gewährleistet wird.
als erneut – zumindest teilweise – des Steuerzahlers, hätte Die Diskussion um Sklaven- und Zwangsarbeit hat
ich dem Gesetzentwurf zugestimmt, wenn er in entschei- auch viele Deutsche, die ähnliche Schicksale zu erdulden
denden Fragen endgültige Klarheit gebracht hätte. hatten, in ihrem Gerechtigkeitsempfinden getroffen. Lö-
In den Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten von sungen für alle diese Menschen sind bisher weder in der
Amerika konnte nicht die verbindliche Zusage erreicht Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ noch
werden, dass keine weiteren Forderungen an die deutsche an anderer Stelle vorgesehen.
Wirtschaft erhoben werden. Die deutsche Wirtschaft ist Aus den vorgenannten Gründen kann ich dem Gesetz-
zwar bereit, dieses – nach ihrer Auffassung – Restrisiko entwurf nicht zustimmen.
tragen zu können, ich aber bin der Meinung, dass wir nicht
immer wieder mit neuen Forderungen konfrontiert wer-
den dürfen. Anlage 18
Die zur Verfügung gestellten Mittel werden nicht ge-
recht unter den betroffenen Zwangsarbeitsopfern aufge- Erklärung nach § 31 GO
teilt. Ist dies schon Grund genug, dem Gesetzentwurf des Abgeordneten Heinz Seiffert (CDU/CSU) zur
nicht zuzustimmen, befürchte ich darüber hinaus, dass be- Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes
nachteiligte Opfergruppen neue Prozesse anstrengen wer- zur Errichtung einer Stiftung „Erinnerung,
den. Darüber hinaus stört mich, dass deutsche Opfer von Verantwortung und Zukunft“ (Drucksachen
Zwangsarbeit keine Chance einer Entschädigungsleistung 14/3206 und 14/3459) (Tagesordnungspunkt 7 a)
haben.
Dem Entwurf eines Gesetzes zur Errichtung einer Stif-
Außerdem hätte ich eine klare Aussage dahin gehend tung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ – Druck-
erwartet, dass durch dieses Gesetz die Frage von Repara- sachen 14/3206 und 14/3459 – stimme ich nicht zu.
tionen nicht neu geregelt wird.
Ich begrüße, dass Opfer der Zwangsarbeit entschädigt
Diese Gründe haben mich veranlasst, den Gesetzent- werden. Trotz einiger Bedenken, ob dies nicht eher eine
wurf abzulehnen. Aufgabe der deutschen Wirtschaft allein gewesen wäre
als erneut – zumindest teilweise – des Steuerzahlers, hätte
ich dem Gesetzentwurf zugestimmt, wenn er in entschei-
(B) Anlage 17 denden Fragen endgültige Klarheit gebracht hätte. (D)
In den Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten von
Erklärung nach § 31 GO
Amerika konnte nicht die verbindliche Zusage erreicht
des Abgeordneten Clemens Schwalbe (CDU/ werden, dass keine weiteren Forderungen an die deutsche
CSU) zur Abstimmung über den Entwurf eines Wirtschaft erhoben werden. Die deutsche Wirtschaft ist
Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Erinne- zwar bereit, dieses – nach ihrer Auffassung – Restrisiko
rung, Verantwortung und Zukunft“ (Drucksa- tragen zu können, ich aber bin der Meinung, dass wir nicht
chen 14/3206 und 14/3459) (Tagesordnungs- immer wieder mit neuen Forderungen konfrontiert wer-
punkt 7 a) den dürfen.
Die NS-Herrschaft hat Sklaven- und Zwangsarbeitern Die zur Verfügung gestellten Mittel werden nicht ge-
durch Deportation, Inhaftierung, Ausbeutung bis zur Ver- recht unter den betroffenen Zwangsarbeiteropfern aufge-
nichtung durch Arbeit und durch eine Vielzahl von Men- teilt. Ist dies schon Grund genug, dem Gesetzentwurf
schenrechtsverletzungen schweres Unrecht zugefügt. nicht zuzustimmen, befürchte ich darüber hinaus, dass be-
nachteiligte Opfergruppen neue Prozesse anstrengen wer-
Deutsche Unternehmen, die an diesem Unrecht betei- den.
ligt waren, tragen eine hohe historische und menschliche
Verantwortung mit. Außerdem hätte ich eine klare Aussage dahin gehend
erwartet, dass durch dieses Gesetz die Frage von Repara-
Deshalb begrüße ich ausdrücklich, dass dieses Leid tionen nicht neu gestellt wird.
den Betroffenen gegenüber zumindest finanziell wieder-
gutgemacht werden soll. Diese Gründe haben mich veranlasst, den Gesetzent-
wurf abzulehnen.
Die ungleiche und ungerechte Verteilung der gesamten
finanziellen Mittel der Stiftung „Erinnerung, Verantwor- Ich hätte von der Bundesregierung auch erwartet, dass
tung und Zukunft“ wird allerdings von mir nicht mitge- sie mit denjenigen Staaten Verhandlungen aufnimmt, die
tragen. nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges Deutsche ver-
schleppt und unter unmenschlichen Bedingungen zur Ar-
Ich kritisiere vor allem, dass einige Opfergruppen ge- beit gezwungen haben oder mit deren Nachfolgestaaten
genüber anderen Opfergruppen privilegiert werden, ob- mit dem Ziel, dass auch die noch lebenden deutschen Op-
wohl sie einem gleich schweren Schicksal ausgesetzt fer von diesen Staaten eine der deutschen Regelung ent-
waren, dass ein großer Teil der verfügbaren Finanzen für sprechende Entschädigung in Form einer humanitären
Anwaltskosten und weitere administrative Kosten aufge- Geste erhalten.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10931

(A) Diese Gründe haben mich veranlasst, den Gesetzent- wiesen und ihrem Unverständnis darüber Ausdruck gege- (C)
wurf abzulehnen. ben, dass von ihnen verlangt wird, dass sie erneut von
dem Land deutsche Gelder zugeteilt bekommen, das sie
50 Jahre lang okkupiert und terrorisiert hat.
Anlage 19
Der Hinweis von deutscher Seite, dass dies bei der Stif-
Erklärung nach § 31 GO tung 1992 auch so gehandhabt wurde, liegt neben der Sa-
che. Auch damals hatte die litauische Regierung prote-
des Abgeordneten Dr. Wolfgang Freiherr von stiert und nur zwangsläufig, weil die Betroffenen sonst
Stetten (CDU/CSU) zur Abstimmung über den nicht an Gelder gekommen wären, haben sie den Weg
Entwurf eines Gesetzes zur Errichtung einer über Moskau bzw. Minsk gewählt. Von deutscher Seite
Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zu- konnte damals auch entschuldigend zum Ausdruck ge-
kunft“ (Drucksachen 14/3206 und 14/3459) (Ta- bracht werden, dass die staatlichen Behörden der erst we-
gesordnungspunkt 7 a) nige Monate wieder frei gewordenen Staaten noch nicht
Das Gesetz zur Errichtung einer Stiftung „Erinnerung, alle in Funktionen waren. Dies trifft heute nicht mehr zu
Verantwortung und Zukunft“ wirft eine Reihe von wich- und es ist höchst bedauerlich, dass eine gute Sache mit ei-
tigen Fragen auf, die derzeit nicht beantwortet werden ner so schweren Hypothek belastet ist.
können und hoffentlich in Zukunft nicht zu ungunsten für Es war ein Versäumnis der drei baltischen Staaten, dass
die Bundesrepublik Deutschland von dritter Seite, Ge- sie sich während der monatelangen schwierigen und
richten oder Regierungen anderer Staaten beantwortet zähen Verhandlungen nicht um diese Frage gekümmert
werden. Dazu gehört unter anderem die Rechtssicherheit haben, sondern die Verteilung erst thematisiert haben, als
für deutsche Firmen und auch die nur vage Zusicherung, die Verhandlungen abgeschlossen waren. Die deutsche
dass damit auch alle Ansprüche anderer Art für die Zu- Seite hat bei den unendlich vielen und schwierigeren Pro-
kunft erledigt sind. blemen, die zu lösen waren und wegen deren die Ver-
Ärgerlich an dem Gesetz ist, dass es Doppelzahlungen handlungen oft auf des Messers Schneide standen, der
gibt für einen Teil der Berechtigten; es ist überhaupt nicht Einfachheit halber auf die bestehenden Partnerorganisa-
einsehbar, dass Opfer, die bereits seit Jahren Renten oder tionen zurückgegriffen. Die Feststellung der Bundesre-
Entschädigungen erhalten haben, nunmehr erneut die gierung, dass neue Verhandlungen nicht mehr möglich
Höchstentschädigung bekommen und damit berechtigte wären, zum Beispiel den Partnerorganisationen der Rus-
Ansprüche von Betroffenen aus den ost- und mittelosteu- sischen Föderation und Belarus die für Litauen, Lettland
ropäischen Staaten, die durch die kommunistische Ge- und Estland vorgesehenen Beträge wieder wegzunehmen,
(B) waltherrschaft von jeglichen Zahlungen in der Vergan- die Gefahr des Scheiterns der gesamten Vertragswerke (D)
genheit ausgenommen wurden, geschmälert werden. Är- nach sich ziehen könnten, ist nicht zu widerlegen. Nach-
gerlich ist auch die Raffgier einiger Rechtsanwälte, die dem in die Begründung aufgenommen wurde, dass der
nicht in vollem Umfang gestoppt werden konnte. Ein be- Deutsche Bundestag davon ausgeht, dass in den betroffe-
sonderer Fehler ist, dass zum Beispiel für die Länder Li- nen Staaten eigene Antrags- und Beschwerdestellen durch
tauen, Lettland und Estland als Partnerorganisationen die Partnerorganisationen errichtet werden, in denen die
nicht eine eigene oder die allgemeine Organisation ge- Betroffenen in der eigenen Landessprache ihre Ansprü-
wählt wurde, sondern sie den Partnerorganisationen Russ- che, gegebenenfalls Beschwerden, geltend machen kön-
lands in Moskau oder Belarus in Minsk zugewiesen wur- nen, habe ich auf weitergehende Anträge verzichtet; das
den. Dies ist zweifellos ein Affront gegen die Souverä- Erreichte ist nicht viel, aber unter den gegebenen Um-
nität, aber auch die Empfindlichkeit dieser Staaten für ständen das noch Machbare.
erlebtes Unrecht in den letzten 60 Jahren. Sicher ist es
übertrieben, wenn in diesen Staaten auf den Molotow- Die Bundesregierung ist aufgefordert, auf die Einhal-
Ribbentrop-Pakt verwiesen wird, aber wieder einmal ha- tung dieser Erwartungen zu drängen und dafür zu sorgen,
ben Deutschland und Russland einen Vertrag über die dass an diese Partnerorganisationen dann keine Gelder
Köpfe der drei souveränen Staaten hinweg beschlossen. mehr ausgezahlt werden, wenn es in Litauen, Lettland und
Eine harte Pille, insbesondere nach den harschen Tönen Estland zu Verzögerungen oder Schikanen kommt.
der letzten Zeit aus Moskau. Es handelt sich zwar um ei-
nen Vertrag zugunsten Dritter, aber ungefragt und daher
mindestens mit einem moralischen Mangel behaftet. Anlage 20
Das Seimas von Litauen hat offiziell dagegen protes- Erklärung nach § 31 GO
tiert.
des Abgeordneten Klaus-Peter Willsch (CDU/
Der Verein für Andenken der Opfer des Faschismus in CSU) zur Abstimmung über den Entwurf eines
Litauen, die Jüdische Gemeinde in Litauen, der Rat des li- Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Erinne-
tauischen Vereines der ehemaligen minderjährigen Häft- rung, Verantwortung und Zukunft“ (Drucksa-
linge in faschistischen Zwangeinkerkerungsorten und der chen 14/3206 und 14/3459) (Tagesordnungs-
Verein der Opfer des Faschismus der ehemaligen Häft- punkt 7 a)
linge der Konzentrationslager haben in einem gemeinsa-
men Brief auf die Mängel des Fonds der Verständigung Ich lehne den Gesetzentwurf einer Stiftung „Erinne-
und Zusammenarbeit der Russischen Föderation hinge- rung, Verantwortung und Zukunft“ ab.
10932 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

(A) Mein im Januar verstorbener Vater war der älteste Sohn Bezüglich der anderen genannten Firmen, deren Zah- (C)
eines Bauern in Krug/Oberschlesien. 1941 wurde er Sol- lungsbereitschaft ich angemahnt habe, handelt es sich um
dat. Meinem Großvater wurde ein polnischer landwirt- Informationen, die uns die Stiftungsinitiative der deut-
schaftlicher Helfer, Stani, zugewiesen. schen Wirtschaft selbst am 4. Juli 2000 auf Anfrage zur
Verfügung gestellt hat. Auch hier würden wir einen Bei-
Auf die Vorhaltungen des NS-Ortsgruppenführers, tritt entsprechend begrüßen.
dass Stani unerlaubterweise mit meiner Familie am glei-
chen Tisch esse, wies mein Großvater ihn zurecht: „Der
Stani arbeitet mit uns, also isst er auch mit uns.“ Anlage 22
Als Krug vor der näher rückenden Front ins Altvater- Erklärung
gebirge evakuiert wurde, begleitete und schützte Stani die
Familie. Nach dem Fall Oberschlesiens kehrte er mit nach der Abgeordneten Monika Griefahn (SPD)
Krug zurück. Als meine Familie vertrieben wurde, wollte zur Abstimmung über den Entwurf eines Ge-
er mitgehen auf den Treck, wurde jedoch von Tschechen setzes zur Errichtung einer Stiftung „Erinne-
rung, Verantwortung und Zukunft“ (Drucksa-
und Polen mit Waffengewalt zurückgehalten. chen 14/3206 und 14/3459) (Tagesordnungs-
Er blieb zurück mit dem Versprechen an meinen Groß- punkt 7 a)
vater, den Hof in Ordnung zu halten. Mein Name ist in der Abstimmungsliste nicht aufge-
Stani bewirtschaftet seitdem unseren Hof. Zweimal führt.
konnte ich mit meinem Vater Stani besuchen. Ich war vom Ich erkläre, dass ich an der namentlichen Abstimmung
freundschaftlichen Respekt und der Ehrenbezeugung, die teilgenommen habe.
Stani meinem Vater entgegen brachte, tief beeindruckt. Mein Votum lautet Ja.
Mögen all jene, die sich an der Arbeitsleistung von Zivi-
listen oder Kriegsgefangenen bereichert haben, ihre Schul-
den begleichen – die Familie Willsch hat keine Rechnun- Anlage 23
gen offen.
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Jörg Tauss (SPD) zur Abstim-
Anlage 21 mung über die Beschlussfassung des Ausschusses
nach Artikel 77 des Grundgesetzes zu dem Ge-
Erklärung setz zur Senkung der Steuersätze u nd zur Re-
(B) form der Unternehmensbesteuerung (Drucksa- (D)
des Abgeordneten Volker Beck (Köln) (BÜND- chen 14/2683, 14/3074, 14/3366, 14/3640 und
NIS 90/DIE GRÜNEN) zur Aussprache über den 14/3760) (Zusatztagesordnungspunkt 4)
Entwurf eines Gesetzes zur Errichtung einer
Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zu- Ich stimme der Beschlussempfehlung des Vermitt-
lungsausschusses zum Gesetz zur Senkung der Steuer-
kunft“ (Drucksachen 14/3206 und 14/3459) (Ta- sätze und zur Reform der Unternehmensbesteuerung zu,
gesordnungspunkt 7 a) obgleich die Senkung der Beteiligungsgrenze für die Be-
In der Debatte ist der Einruck entstanden, ich hätte steuerung von Veräußerungsgewinnen von bisher 10 v. H.
fälschlicherweise zwei namentlich genannte Goslaer Be- auf 1 v. H. als Ergebnis des Vermittlungsverfahrens auf
triebe bezichtigt, nicht Mitglieder der Stiftungsinitiative Initiative der Bundesländer als nicht sachgerecht angese-
hen werden kann, da Erschwerungen im Bereich von Un-
der deutschen Wirtschaft zu sein. Ich habe hingegen in ternehmensgründungen befürchtet werden müssen. Trotz
meiner Rede diesbezüglich alleine eine Frage gestellt: dieser erheblichen Bedenken gegen diese Rege-
Gehören zum Beispiel Harzer Grauhof-Brunnen lungstimme ich den anderen Ergebnissen des Vermitt-
oder die Chemische Fabrik Borchers aus Goslar oder lungsausschusses zu, um auch in Deutschland endlich
ihre Rechtsnachfolger zu den Mitgliedern der Stif- eine Gesamtreform der Besteuerung zu ermöglichen, die
von Beschäftigten und Unternehmen dringend benötigt
tungsinitiative der deutschen Wirtschaft? Wie viel wird.
haben sie gezahlt? Das wüssten wir gerne. In der ver-
öffentlichten Mitgliederliste der Stiftungsinitiative
der deutschen Wirtschaft sind diese Betriebe nicht Anlage 24
verzeichnet.
Ich habe in dieser Frageform bewusst zum Ausdruck Erklärung nach § 31 GO
gebracht, dass die Möglichkeit besteht, sie seien doch in- der Abgeordneten Eva-Maria Bulling-Schröter
direkt Mitglieder der Initiative. Sollte der Hinweis des (PDS) zur Abstimmung über die Verordnung der
Abgeordneten Eckhardt zutreffen, die beiden genannten Bundesregierung: Verordnung über die Erzeu-
Firmen würden heute zu Konzernen gehören, die sich an gung von Strom aus Biomasse (Biomasseverord-
der Stiftungsinitiative beteiligt haben, so nehme ich die- nung – Biomasse V) (Tagungsordnungspunkt
sen Hinweis dankend zur Kenntnis. Es lag und liegt mir 27 f)
fern, Unternehmen zu nahe zu treten, die ihrer histo- Ich werde gegen die Beschlussempfehlung zur Bio-
rischen Verpflichtung gemäß verantwortlich handeln. masseverordnung stimmen. Wir haben uns in den Aus-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10933

(A) schüssen enthalten, sind aber nach einiger Überlegung Ich will an die damalige Debatte im Plenum erinnern, (C)
zum Schluss gekommen, dass die Intention der Verord- in der der heutige Staatsminister im Bundeskanzleramt,
nung dem Sinn der Förderung regenerativer Energien Rolf Schwanitz, diesen Entwurf wie folgt bewertete: Die
nicht entspricht. Einbringung dieses Machwerkes ist erstens eine Provo-
Schon in der Debatte zum EEG habe ich auf das Pro- kation des Deutschen Parlamentes und zweitens ein
blem der Förderung der Verbrennung kontaminierter Höl- neuer Höhepunkt der Desinformationskampagne der
zer im EEG hingewiesen und eine Konkretisierung des PDS über den Alltag in Deutschland, drittens der Ver-
Begriffes „Biomasse“ gefordert, vor allem, dass schad- such, deutsche Geschichte und das Handeln von Teilen
stoffbelastetes Holz ausgeschlossen werden soll. Mit der der Nomenklatur so umzuinterpretieren, dass es in das
Formulierung in § 2 Abs. 3. 1 b, wonach „verleimtes, be- unaufgeklärte Geschichtsbild der PDS-Hinterzimmer
schichtetes, lackiertes oder anderweitig behandeltes Alt- passt, – ein Akt von Geschichtsklitterung –, und viertens
holz“ als Biomasse im Sinne der Verordnung gelten solle, nicht zum Schluss eine Demütigung für all diejenigen,
wird nicht „Biomasse“ gefördert, sondern schadstoffbe- die in der DDR unter Repressionsmaßnahmen persönlich
gelitten haben.
lastetes Holz. Eine energetische Verwertung, also Ver-
brennung, wird heute schon in zahlreichen Müllverbren- Dem ist heute eigentlich nichts hinzuzufügen – bis auf
nungsanlagen und Industrieöfen durchgeführt. Dafür die Bemerkung, dass unterhalb des Straftatbestandes ei-
muss aber bezahlt werden. Jetzt soll die direkte Verfeue- gentlich jeder ehemalige DDR-Bürger – und ich bin einer –
rung von schadstoffbelastetem Altholz Geld einbringen. permanent irgendwelchen Behinderungen, Bevormun-
Schadstoffbelastetes Holz wird damit der „sauberen Bio- dungen, Repressalien oder anderen „Regulierungen“,
masse“ aus der Land- oder Forstwirtschaft gleichgestellt auch indirekten Berufsverboten, ausgesetzt war, die da-
und gilt offenbar als „nachwachsender Rohstoff“, dessen mals „Herstellung von Übereinstimmung von privaten
Verbrennung förderungswürdig ist. Doch seit wann und gesellschaftlichen Interessen“ genannt wurden. Hier-
wächst schadstoffbelastetes Altholz nach? von ist in den vorliegenden Anträgen überhaupt keine
Rede.
Die vorliegenden vier Drucksachen des Petitionsaus-
Anlage 25 schusses belegen mit klaren juristischen Argumenten,
dass den Forderungen und Anliegen der Petenten zur Am-
Zu Protokoll gegebene Reden nestie für Bundesbürger, die für Auslandsnachrichten-
zur Beratung des Antrags: Straffreiheit für Spio- dienste der DDR tätig waren, zum Aufheben des Verbots
nage zugunsten der Deutschen Demokratischen der KPD, zur Änderung des BVVG – nä mlich Möglich-
Republik (Tagesordnungspunkt 17) keiten von Revisionen zu schaffen – und zur Aufhebung
(B) der Urteile so genannter politischer Sonderkammern in (D)
keinem Fall gefolgt werden kann und die Petitionsverfah-
Winfried Mante (SPD): Die uns heute zur Beratung ren abzuschließen sind.
vorliegenden Anträge der PDS zum Umgang mit so ge-
nannten teilungsbedingten Delikten und Straftaten sowie Die SPD-Fraktion des Deutschen Bundestages schließt
die gleichzeitig zu behandelnden Petitionen mit gleich sich den Begründungen und den Beschlussvorschlägen
lautenden Problemen aus der Vergangenheit des geteilten an, und dies umso mehr, als die juristischen Begründun-
Deutschlands reihen sich nahtlos ein bzw. sind sogar gen der Petitionen auch hinreichende Argumente gegen
identisch mit Vorlagen der PDS-Fraktion aus der 12. und die zur Diskussion stehenden PDS-Anträge liefern.
13. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages, was Wenn wir von einer juristischen Filigrandiskussion
mich auch nicht besonders verwundert. einmal absehen, so bleibt festzustellen, dass die vorlie-
So behandelte der Gesetzentwurf auf Drucksa- genden Anträge der PDS im Grundsatz verkennen, dass
che 12/2260 vom 12. März 1990 die Behebung und Wie- das Staatssystem der DDR – eben das System eines Will-
dergutmachung von politischen Ungerechtigkeiten in der kür- und Unrechtsstaates – im so genannten Klassen-
Bundesrepublik Deutschland – allerdings noch ohne Hin- kampf unterlegen war und dessen Folge nunmehr das de-
weis auf den jetzt in Drucksache 14/3066 erwähnten Ra- mokratische Rechtssystem des Rechtsstaates Bundesre-
dikalenerlass. Der Gesetzentwurf der PDS wurde damals publik seine Hoheitsgewalt auf das Gebiet der
an die Ausschüsse überwiesen und dort nicht weiter bera- ehemaligen DDR augedehnt hat – dies auch noch auf ei-
ten. genen Beschluss der ersten und zugleich letzten demo-
kratisch frei gewählten Volkskammer der DDR. Das war
Die Anträge auf den Drucksachen 14/3065 und und ist lediglich eine Ausdehnung der Anwendung von
14/3067 entsprechen Art. 2 und 3 des Entwurfes eines rechtsstaatlichen Prinzipien auf das gesamte und verei-
Strafverfolgungsbeendigungsgesetzes vom 26. Juni 1995, nigte Deutschland, niemals Siegerjustiz. Wer von uns
Drucksache 13/1823. kann sich eigentlich vorstellen, wie die Anwendung von
Allerdings wurde damals im Unterschied zur heutigen DDR-Willkürjustiz bei einem Sieg der Kommunisten
Vorlage nicht vor allem auf den Strafbestand an der inner- über ihren Klassenfeind, der BRD, ausgesehen hätte. Da-
deutschen Grenze abgestellt. Darüber hinaus war keine rüber will ich jetzt lieber nicht spekulieren.
Entschädigung vorgesehen. Der damalige Gesetzentwurf Die meisten Bürgerinnen und Bürger haben den Vor-
der PDS wurde am 14. November 1995 von der großen gang der Wiedervereinigung als Glücksfall der Ge-
Mehrheit des Deutschen Bundestages abgelehnt! schichte empfunden. Und sie empfinden im Gegenteil zur
10934 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

(A) Darstellung der PDS die Anwendung der Rechtsstaatlich- führen. Wenn wir dieses Prinzip in Deutschland oder im (C)
keit, die in zahlreichen Prozessen vorgenommene Recht- Europa der Europäischen Union aufweichen oder gar auf-
sprechung durch die rechtsstaatlichen Strafverfolgungsin- geben, leisten wir Vorschub für die Beschneidung von
strumente, als unzulänglich, wenn nicht sogar als unge- Bürgerrechten und Bürgerfreiheiten, geben wir Raum für
eignet, die Unrechtstaten von „einst“ gerecht zu bewerten. Willkür und Intoleranz. Dem sollten wir uns mit aller
Denn die Täter von einst sind doch bisher meist unge- Macht und aller Kraft widersetzen.
schoren davon gekommen bzw. haben zum Teil Be-
währungsstrafen oder geringfügige Strafen erhalten. Das Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
empfinden die Menschen als zutiefst ungerecht. Anträge der PDS zur „Straffreiheit“ früherer DDR-Amt-
Wenn die PDS in ihrem Antrag zur Beendigung der sträger oder Mitarbeiter des ehemaligen Nachrichtendien-
Strafverfolgung für hoheitliches Handeln in der DDR be- stes sind zumeist mit einem gravierenden Makel behaftet:
hauptet, dass die strafrechtlichen Verfahren die Erfor- Ihr Schein trügt. Selbstverständlich kann man darüber dis-
schung der historischen Wahrheit behindert haben, so ist kutieren, ob noch heute – mehr als zehn Jahre nach Mau-
das schlichtweg falsch und indiskutabel. Die Mauerschüt- erfall und lange nach Ende des Kalten Krieges – die straf-
zenverfahren zum Beispiel haben im Gegenteil dazu bei- rechtliche Sanktionierung der Spionagetätigkeit für die
getragen, dass die Aufarbeitung der Wahrheit nicht behin- DDR notwendig ist. Ein sicherheitspolitisches Interesse
dert, sondern zu einem guten Teil erst ermöglicht und da- der Bundesrepublik an der Ahndung früherer DDR-Agen-
durch das menschenentwürdigende System von Befehl ten ist seit Untergang der DDR sicherlich nicht mehr er-
und Gehorsam in einem autoritären Staat, wie es die DDR kennbar. Aber darum geht es auch nicht: Opfer der Be-
war, entlarvt wurde. Und das gestrige Urteil des 5. Straf- spitzelung war ja nicht nur der Staat Bundesrepublik. Op-
senates des BGH, der die Tötung eines DDR-Grenzpos- fer waren doch auch die bespitzelten Bürgerinnen und
tens durch einen Flüchtling als Mord einstuft, beweist, Bürger der DDR. Und hier eine saubere Trennlinie zu zie-
dass sich der Rechtsstaat nicht nur gegen Täter aus Rei- hen ist sehr schwierig.
hen der ehemaligen DDR-Grenztruppen richtet. Diese Aber seien Sie doch ehrlich: Es geht Ihnen in Wirk-
Wahrheit will die PDS natürlich nicht zur Kenntnis neh- lichkeit ja auch nicht um Amnestie oder um den bloßen
men. Verzicht auf strafrechtliche Ahndung. Sie betreiben hier
Wenn im Antrag steht, der Deutsche Bundestag bitte Etikettenschwindel: Was Sie wollen, ist doch eine Reha-
die Opfer von SED-Unrecht, eine Beendigung der Straf- bilitierung der Täter. Sie wollen sämtliche Strafregister-
verfolgung nicht als schmerzhafte Zumutung zu empfin- eintragungen löschen. Sie wollen also so tun, als habe es
den, sondern als Beitrag zur Aussöhnung, dann frage ich das Unrecht nie gegeben. Eine solche Rehabilitierung, die
mich: Wo bleibt denn die Bitte der PDS als Nachfolge- das Vorgefallene nicht wahr haben will, trägt nicht zur
(B) partei der SED an die Opfer von SED-Unrecht, diese ihre Versöhnung bei. (D)
ureigene Bitte, um Verzeihung und Aussöhnung? Zehn Sie fordern auch nicht nur so genannte Straffreiheit für
Jahre waren und sind offensichtlich noch lange nicht aus- ehemalige Agenten, über die man – wie bereits angedeu-
reichend für diesen Erkenntnisprozess der alten und tet – reden kann – jedenfalls solange damit nicht auch
neuen Sozialisten/Kommunisten.
noch andere Straftaten einhergehen. Sie wollen darüber
Der Petitionsausschuss hat in seiner Begründung unter hinaus die Straffreiheit für sämtliche Amtsträger der ehe-
anderem zu Recht darauf verwiesen, dass es zu keiner Zeit maligen DDR. Also auch für Personen, die an der inner-
eine „politische Justiz“ in der Bundesrepublik gegeben deutschen Grenze schwerste Straftaten begangen haben
hat und auch in Zukunft nicht geben wird. Zum Beispiel oder die sich der Rechtsbeugung schuldig gemacht haben.
konnte nach rechtsstaatlichen Prinzipien in der Bundesre- Diese Forderung geht eindeutig zu weit. Sie verhöhnen
publik gegen Maßnahmen aufgrund des Radikalenerlas- damit die Opfer, die unter der DDR-Diktatur zu leiden
ses geklagt werden, und zwar bis zum Europäischen Ge- hatten.
richtshof – und das durchaus mit Erfolg.
Mit der ewigen Masche, unter dem Deckmantel der
Der Ausschuss weist auch ganz entschieden den Vor- Amnestie in Wahrheit das Unrecht leugnen zu wollen,
wurf zurück, dass in der Bundesrepublik eine „Deformie- schaden Sie in erster Linie denjenigen, denen es ernsthaft
rung des Rechtsstaates“ stattgefunden hat. Mit solchen um Versöhnung und Amnestie geht. Die nämlich werden
Äußerungen und Behauptungen gerade von der PDS kann in der öffentlichen Wahrnehmung sogleich mit denjenigen
man weder die Wiederzulassung der KPD durchsetzen in einen Topf geworfen, für die es den Unrechtsstaat DDR
noch einen Straferlass für die Hauptverantwortlichen von nicht gegeben hat – und das, obwohl diese Menschen sehr
Mauerbau und Schießbefehl erreichen, zumal die „klei- wohl in der Lage sind Unrecht auch als solches zu be-
nen Mauerschützen“ der ehemaligen Grenztruppen der greifen.
DDR ihre Strafen schon längst verbüßt haben. Ich finde
Ein trauriger Höhepunkt Ihrer Forderungen findet sich
das eher unsozial und wenig solidarisch. Und man kann
übrigens in dem Antrag, der sich mit der Agententätigkeit
schon gar nicht die Verfassungsgerichtsbarkeit der Bun-
beschäftigt: Darin fordern Sie sogar eine Art Wiedergut-
desrepublik in ihren Grundfesten erschüttern.
machung für ehemalige DDR-Spione. „Erlass von Rest-
Aufklärung, Anklage und Verfolgung von Straftatde- strafen“, und wie heißt es weiter, „Regelungen, die den
likten und Vergehen, ob im „hoheitlichen Auftrag“, ob in Betroffenen eine angemessene soziale Existenz“ ermögli-
wohlverstandener oder auf Irrtum beruhender Absicht, ei- chen. Sollen DDR-Spione also besser behandelt werden
nem Unrechtsstaat zu dienen, müssen sowohl rückwir- als die anderen Bürgerinnen und Bürger? Das können Sie
kend als auch zukünftig zur Anklage und zur Verurteilung doch nicht ernst meinen. Eine Sonderstellung für diejeni-
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(A) gen, die sich maßgeblich an der Aufrechterhaltung und mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln, auf unter- (C)
Verteidigung eines Unrechtsregimes beteiligt haben, ist schiedlichen Wegen einer ineinander greifenden Finanz-,
abwegig. Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik und in Kooperation
mit den wichtigsten gesellschaftlichen Kräften, zusam-
Jörg van Essen (F.D.P.): Wir beschäftigen uns heute mengeführt im Bündnis für Arbeit und Ausbildung.
mit einer Thematik, von der ich hoffte, sie würde uns fast Grundlage unserer Arbeitsmarktpolitik ist das Prinzip
zehn Jahre nach Vollendung der deutschen Einheit nicht „Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren“. Dazu hat die
mehr beschäftigen. Wir wissen alle, dass sich das Bun- Bundesregierung nicht nur die Ausgaben für die aktive
desverfassungsgericht und der Bundesgerichtshof in den Arbeitsmarktpolitik auf hohem Niveau verstetigt, sondern
letzten Jahren in vielen Urteilen mit der Frage der Straf- auch das Arbeitsförderungsgesetz in einem ersten Schritt
verfolgung für hoheitliches Handeln in der DDR ausein- praxisgerechter gestaltet und verbessert. Mit verschiede-
andergesetzt haben. Durch diese umfangreiche Recht- nen Modellprojekten wird versucht, den unterschiedli-
sprechung haben die Gerichte für umfangreiche und
chen Problemen Arbeitsloser gerechter zu werden.
grundsätzliche Klarheit gesorgt. Insbesondere das Urteil
des Bundesverfassungsgerichts vom 23. Mai 1995 zur Es wird weiter darum gehen, die Arbeitsvermittlung
DDR-Spionage hat erneut die Stärke des Rechtsstaates auszubauen, eine intensive Zusammenarbeit der arbeits-
Bundesrepublik Deutschland unterstrichen. Wer immer marktpolitischen Akteure zu fördern und eine effizientere
von „Siegerjustiz“ gesprochen hat, wurde durch dieses Nutzung und Feinsteuerung der arbeitsmarktpolitischen
Urteil erneut wiederlegt. Die rechtliche Würdigung durch Instrumente, eingebettet in die Strukturpolitik der Regio-
das Bundesverfassungsgericht hat sich immer streng an nen, zu erreichen. Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein
rechtlichen Kriterien orientiert. Natürlich ist es der Poli- weiterer Baustein dazu.
tik nicht verwehrt, andere Bewertungen hinzuzufügen.
Aber nach zehn Jahren deutscher Einheit hatte ich gehofft, Um die beruflichen Eingliederungschancen Langzeit-
dass die PDS endlich die Autorität des Bundesverfas- arbeitsloser zu erhöhen soll erstens die Zusammenarbeit
sungsgerichts akzeptieren würde. Die Entscheidungen der von Arbeits- und Sozialämtern zu einer verpflichtenden
Gerichte zeigen deutlich, dass es bei der heute debattier- Aufgabe werden, will zweitens die Bundesregierung re-
ten Problematik eben keine Ostdeutschen und Westdeut- gionale Modellvorhaben zur Verbesserung der Zusam-
schen gibt, sondern nur Bundesbürger. Wir sollten als menarbeit fördern und drittens durch befristete Experi-
Gesetzgeber alles dafür tun, dass dieses in allen gesell- mentierklauseln außerdem ermöglichen, in Modellpro-
schaftlichen Bereichen geschieht und nicht neue Diffe- jekten auch neue Wege der Zusammenarbeit über die
renzierungen in Ost und West vornehmen. Letztlich han- bestehende Gesetzeslage hinaus zu erproben.
delt es sich bei dem Antrag zur Beendigung der Strafver-
folgung um nichts anderes als den Versuch einer Damit baut die Bundesregierung auf Erfahrungen und
(B) pauschalen Amnestie. Wie wenig Sinn eine vom Parla- Kompetenzen auf, die Arbeits- und Sozialämter mit der (D)
ment zu beschließende Amnestie macht, haben die Grü- Vermittlung Arbeitsloser – früher jeder für sich, dann,
nen vor nicht einmal einem Jahr bereits bei der Debatte insbesondere seit Herausgabe des „Leitfadens für Sozial-
über die von Ihnen geforderte Milleniumsamnestie erle- hilfeträger und Arbeitsämter zur beruflichen Eingliede-
ben dürfen. Dort hat, für mich in besonders überzeugen- rung Arbeitsloser“, zunehmend gemeinsam – erworben
der Weise die Kollegin von Renesse aufgezeigt, welche haben. Daraus hat sich ein „vielfältiges Spektrum ge-
Unrechtsgeister man mit einer Amnestie heraufbeschwört meinsamer Aktivitäten, organisatorischer Absprachen
und dann nicht mehr los wird. und Regelungen zur beruflichen Wiedereingliederung der
gemeinsamen Klientel entwickelt“, wie die Bundesanstalt
Eines ärgert mich an den vorliegenden Anträgen ganz
besonders. Die Anträge begünstigen völlig einseitig die für Arbeit berichtet.
Täter. Sie fordern Straffreiheit für begangenes Unrecht. Weil die Zusammenarbeit aber noch nicht flächen-
Die Opfer werden in den Anträgen so gut wie nicht er- deckend in allen Kommunen erfolgt, soll mit diesem Ge-
wähnt. Die Forderungen der PDS sind daher in Gänze un- setz im BSHG und im SGB III die Zusammenarbeit von
geeignet, zehn Jahre nach Vollendung der deutschen Ein- Sozial- und Arbeitsämtern als Verpflichtung verankert
heit zum inneren Frieden unseres Landes beizutragen. werden.
Solch einseitige Anträge, die nur den Täter im Blick ha-
ben und das Opfer vergessen, kann und wird die F.D.P.- Von der Förderung regionaler Modellvorhaben ver-
Bundestagsfraktion nicht mittragen. spricht sich die Bundesregierung Aufschlüsse darüber,
wie eine bessere Verzahnung und gegenseitige Inan-
spruchnahme von Maßnahmen der Arbeitsförderung und
Anlage 26 der Instrumente der „Hilfe zur Arbeit“ des BSHG dazu
beitragen können, die Vermittlung in den regulären Ar-
Zu Protokoll gegebene Reden beitsmarkt zu erleichtern, Fördermöglichkeiten zu ver-
bessern und bürokratische Hürden abzubauen. Die betei-
Zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur ligten Akteure können sich gegenseitig Aufgaben übertra-
Verbesserung der Zusammenarbeit von Arbeits-
gen oder eine gemeinsame Anlaufstelle für Arbeitslose
ämtern und Trägern der Sozialhilfe (Tagesord-
bilden. Die Aufgaben dieser Anlaufstelle wie Beratung,
nungspunkt 27 c)
Vermittlung und Auszahlung von Leistungen können
auch von einer gemeinsam beauftragten Service-Agen-
Brigitte Lange (SPD): Vornehmstes und oberstes Ziel tur – zum Beispiel in Trägerschaft eines Wohlfahrts-
der Bundesregierung ist es, Arbeitslosigkeit abzubauen – verbandes – wahrgenommen werden. Damit werden die
10936 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

(A) in verschiedenen EU-Staaten gemachten positiven Erfah- feempfänger die Aufnahme zumutbarer Tätigkeiten, kann (C)
rungen mit zentralen Anlaufstellen aufgenommen. die Sozialhilfe um 25 Prozent gekürzt werden. Für mich
ist klar, wir brauchen mehr Anreizsysteme und Hilfen zur
Die Modellvorhaben sind so auszugestalten, dass den
Arbeitslosen durch die Einbeziehung keine rechtlichen Aufnahme einer Arbeit für Langzeitarbeitslose; wir brau-
und finanziellen Nachteile entstehen. Die geförderten chen angemessene Sanktionsmechanismen, wenn eine
Modellvorhaben sollen wissenschaftlich so begleitet und Aufnahme einer Tätigkeit abgelehnt wird; wir brauchen
ausgewertet werden, dass sie eine bundesweite Bewer- weniger Bürokratie, Abbau von Doppelarbeit und eine ef-
tung zulassen. Die Auswertung soll insbesondere Schluss- fizientere staatliche Hilfe. Und deswegen muss Ziel der
folgerungen für eine verbesserte Zusammenarbeit und Politik sein, für arbeitslose Menschen ein möglichst ein-
eine bessere Verzahnung der Arbeitslosenhilfe und Hilfe heitliches Hilfesystem mit einheitlichen Regeln, die für
zum Lebensunterhalt für erwerbsfähige Hilfebedürftige jeden durchschaubar sind, zu schaffen. Doppelarbeit und
ermöglichen. Für die Durchführung der Modellvorhaben Doppelzuständigkeiten sind zu vermeiden. Diesem Ziel
sollen bis Ende 2004 bis zu 30 Millionen DM jährlich ein- dient der im März 1998 von der Bundesanstalt für Arbeit
gesetzt werden. und der Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenver-
bände herausgegebene Leitfaden für Sozialhilfeträger und
Zu dem Gesetzentwurf gibt es positive Signale aus den Arbeitsämter zur beruflichen Eingliederung Arbeitsloser.
Bundesländern wie von den Kommunen, sodass wir mit Die Anwendung des Leitfadens hat zu einer deutlichen
einem reibungslosen Gesetzgebungsverfahren im Bun- Verbesserung der Zusammenarbeit geführt. Auch aus
destag und Bundesrat rechnen und berechtigt hoffen, dass meinem Wahlkreis kann ich über gelungene Vorhaben der
dieses Gesetz noch in diesem Jahr wirksam werden und Kooperation zwischen Arbeitsamt und Sozialamt zur
eine zügige Umsetzung der Modellprojekte erfolgen Wiedereingliederung langzeitarbeitsloser Mitbürgerinnen
kann. und Mitbürger berichten. Diese Kooperationen, die letzt-
lich auch vom guten Willen der beteiligten Behörden ab-
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Eine der hängen, haben eines gezeigt: Wir müssen weitere Schritte
zentralen arbeitsmarktpolitischen Fragen ist: Wie gelingt gehen.
es uns besser, langzeitarbeitslosen Mitbürgerinnen und Der von einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe ausgearbei-
Mitbürgern wieder einen Zugang zum Arbeitsmarkt zu
tete Vorschlag, sowohl im Sozialgesetzbuch III als auch
verschaffen? Langzeitarbeitslose befinden sich in unter-
im Bundessozialhilfegesetz Experimentierklauseln einzu-
schiedlichen staatlich finanzierten Hilfesystemen. Es gibt
fügen, die eine weitergehende Kooperation ermöglichen,
einen großen Teil von Langzeitarbeitslosen, die Arbeits-
liegt heute als Gesetzentwurf der Regierungskoalition zur
losenhilfe beziehen, eine staatlich aus Steuergeldern fi-
ersten Lesung vor. In Modellvorhaben können die Zu-
(B) nanzierte Hilfe, die von den Arbeitsämtern verwaltet ständigkeiten für arbeitsfähige Sozialhilfeempfänger und (D)
wird. Es gibt eine große Zahl arbeitsloser Menschen, die
Sozialhilfe beziehen, eine ebenfalls aus Steuergeldern fi- für Arbeitslosenhilfebezieher in einem Modellbezirk ent-
nanzierte Hilfe, die jedoch von den Kommunen, den Städ- weder einheitlich dem Arbeitsamt oder dem Sozialamt
ten und Landkreisen gewährt wird. Und es gibt die Situa- oder einem Dritten übertragen werden – zweifelsohne ein
tion, dass rund ein Drittel derer, die Arbeitslosenhilfe be- richtiger Schritt, der zu begrüßen ist.
ziehen, gleichzeitig ergänzend Sozialhilfe beziehen, weil Modellvorhaben und Experimentierklauseln sind gut.
die Arbeitslosenhilfe für sie zur Sicherung des Lebensun- Aber sie müssen natürlich so angelegt sein, dass am Ende
terhaltes nicht ausreicht. der Modellphase auch Erkenntnisse gewonnen werden
Was die Vermittlung in Arbeit anbelangt, gelten für können, und zwar Erkenntnisse, die es ermöglichen, dann
Langzeitarbeitslose in den jeweiligen Hilfesystemen un- endlich eine politische Entscheidung darüber zu fällen, ob
terschiedliche Regelungen. Bei der Arbeitslosenhilfe ist eine sinnvolle Zusammenführung von Sozialhilfe und Ar-
die Leistungsgewährung an die Suche eines zumutbaren beitslosenhilfe zu einem neuen Hilfesystem möglich ist.
Arbeitsplatzes gebunden. In der Sozialhilfe ist jeder Nur Symbolpolitik reicht nicht.
Sozialhilfeempfänger im Prinzip zur Aufnahme jeder Nach dem rot-grünen Gesetzentwurf wird lediglich er-
Tätigkeit verpflichtet. In der Arbeitslosenhilfe gelten probt, wie es sich auswirkt, wenn entweder das Arbeits-
großzügigere Anrechnungsvorschriften bei der Bedürftig- amt, das Sozialamt oder eine beauftragte dritte Stelle die
keitsprüfung als bei der Sozialhilfe. Ein Arbeitslosenhil- Aufgaben der Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe je-
feempfänger verliert in jedem Fall bei Aufnahme einer Er- weils insgesamt gegenüber dem Bürger wahrnimmt.
werbstätigkeit von mehr als 15 Wochenstunden seinen Folge wäre, dass ein Sachbearbeiter in der Modellphase
Leistungsanspruch. Sozialhilfeempfänger können, wenn auf ein und denselben Fall zweierlei Recht anwenden
sie einen kleinen oder Teilzeitjob finden, einen Teil des- müsste, nämlich SGB III und BSHG, und dass zudem die
sen, was sie hinzuverdienen, behalten. Sachbearbeiter, die ja bislang nur eines der beiden Hilfe-
In Modellen wie zum Beispiel dem badenwürttember- systeme anwenden mussten, sich in das jeweils andere
gischen Modell des Einstiegsgeldes werden die Grenzen erst noch einarbeiten müssen. Dass der Gesetzentwurf
dessen, was hinzuverdient werden kann, sogar noch wei- also ein Lernprogramm für die Mitarbeiterinnen und Mit-
ter erhöht, um ein Anreizsystem zur Arbeitsaufnahme zu arbeiter in den Sozialämtern und Arbeitsämtern auslöst,
schaffen. Verweigert ein Arbeitslosenhilfebezieher die ist ja gut, aber er wäre besser, wenn er auch ein besseres
Aufnahme einer zumutbaren Tätigkeit, können Sperrzei- Hilfeprogramm für die Bezieher von Sozialhilfe und/oder
ten gegen ihn verhängt werden. Verweigert ein Sozialhil- Arbeitslosenhilfe beinhalten würde.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10937

(A) Die gute Absicht des Gesetzentwurfes bleibt halbher- nanzierten Hilfssysteme ergeben sich naturgemäß hohe (C)
zig, wenn durch die Experimentierklauseln nicht auch in- Reibungsverluste.
haltlich das Recht der Sozialhilfe und das Recht der Ar-
Eine verbesserte Zusammenarbeit zwischen Arbeits-
beitslosenhilfe zumindest in Teilbereichen angeglichen
und Sozialämtern kann die beruflichen Eingliederung-
werden können. Die Modellvorhaben machen nur dann
schancen von Langzeitarbeitsarbeitslosen erhöhen. Mit-
Sinn, wenn sowohl für arbeitsfähige Sozialhilfeempfän-
hilfe von befristeten Experimentierklauseln sollen die
ger als auch für Bezieher von Arbeitslosenhilfe die glei- rechtlichen Grundlagen für vom BMA zu fördernde Mo-
chen Anreizsysteme zur Aufnahme einer neuen Tätigkeit dellvorhaben geschaffen werden, um die Zusammenar-
und die gleichen Sanktionsmechanismen bei Verweige- beit von Arbeitsämter und Trägern der Sozialhilfe zu ver-
rung einer zumutbaren Tätigkeit angewandt werden kön- bessern.
nen. Vergleichbar dem Modell eines Einstiegsgeldes bei
der Sozialhilfe sollte bei der Aufnahme einer Tätigkeit Ziel dieser Modellvorhaben ist es, die Vermittlung von
durch einen Bezieher der Arbeitslosenhilfe die bisherige Arbeitslosen zu erleichtern, das Verwaltungsverfahren zu
15-Stunden-Grenze entfallen und ein höherer finanzieller vereinfachen und – was uns besonders wichtig ist – auch
Eigenbehalt möglich sein. Sozialhilfeempfängern den Zugang zu den Instrumenten
der aktiven Arbeitsförderung zu eröffnen.
Wenn schon die Hilfe für alle Hilfebezieher von einem
zuständigen Amt gewährt werden kann, dann sollten auch Die einzelnen Modellvorhaben sollen in der Regel
für die Hilfebezieher die Doppelzuständigkeiten und die zwei Jahre gefördert werden. Daneben soll eine Pflicht
Doppelfinanzierungen in den Modellversuchen aufgeho- zum Abschluss von Kooperationsvereinbarungen von Ar-
ben werden können. Die Arbeitslosenhilfe, die sich jetzt beits- und Sozialämtern über eine verbesserte Zusam-
nach dem vorher erzielten bzw. noch erzielbaren Arbeits- menarbeit bei der Vermittlung in Arbeit von Empfängern
entgelt richtet, sollte mindestens die Höhe des für den von Hilfe zum Lebensunterhalt und von Leistungsberech-
Arbeitslosen geltenden Sozialhilfesatz erreichen. Dazu tigten nach dem SGB III eingeführt werden.
könnte auch ein Ausgleichsanspruch des Arbeitsamtes ge- Wichtiger Kernpunkt der Modellvorhaben ist die Be-
genüber dem Sozialamt eingeführt werden. Damit würde treuung dieser Langzeitarbeitslosen durch eine gemein-
der Zustand beendet, dass sich zwei Behörden mit der Be- same Anlaufstelle. Die Leistungen sollen entweder vom
streitung des Lebensunterhaltes eines Langzeitarbeitslo- Arbeitsamt, vom Sozialamt oder von einer gemeinsam be-
sen befassen müssen und dass im Rahmen der Modell- auftragten neuen Stelle ausgezahlt werden. Das Verwal-
projekte ein Sachbearbeiter auf ein und denselben Fall tungsverfahren soll einfacher gestaltet und bürgernah
zweierlei Recht anwenden muss. werden.
(B) Wir bieten der Koalition an, gemeinsam in diesen bei- Für die Durchführung und Auswertung der Modellvor- (D)
den Punkten im parlamentarischen Verfahren den Gesetz- haben werden bis Ende 2004 bis zu 30 Millionen DM
entwurf zur Verbesserung der Zusammenarbeit von Ar- jährlich eingesetzt. Sie sollen während ihrer gesamten
beitsämtern und Trägern der Sozialhilfe nachzubessern. Laufzeit und bis zu einem Jahr danach evaluiert werden,
Dann macht das neue Gesetz auch Sinn, weil dann in den wobei mit der Evaluierung ein oder mehrere wissen-
neuen Modellversuchen auch neue Erkenntnisse gewon- schaftliche Forschungseinrichtungen beauftragt werden
nen werden können. Wir wollen den besten Weg finden, sollen.
wie arbeitsfähige Sozialhilfeempfänger und Bezieher von
Arbeitslosenhilfe wieder in ein reguläres Beschäftigungs- Das Vorhaben, durch innovative Modelle die Vermitt-
verhältnis vermittelt werden können. Wir wollen Modell- lung von Arbeitslosen in Arbeit zu erleichtern und das
versuche, in denen doppelte Arbeit, doppelte Bürokratie, Verwaltungsverfahren zu vereinfachen, ist notwendig.
doppelte Zuständigkeiten abgebaut und vermieden wer- Durch eine verstärkte Zusammenarbeit der Arbeitsämter
den. Wir wollen mehr Hilfe, mehr Beratung, mehr Effizi- und der Sozialämter und eine sinnvolle Verknüpfung der
enz, mehr erfolgreiche Vermittlungen von Langzeitar- verschiedenen Instrumente können sich sowohl für er-
beitslosen in den ersten Arbeitsmarkt. Wir wollen Mo- werbsfähige Sozialhilfeempfänger als auch für Arbeitslo-
delle, aus denen man wirklich etwas für die Zukunft senhilfeempfänger Vorteile im Hinblick auf eine bessere
lernen kann. Dazu ist etwas mehr Mut notwendig als der, Eingliederung in den Arbeitsmarkt ergeben.
den die Koalition jetzt aufgebracht hat. Gehen Sie mit uns Entscheidend ist daher, dass die im Gesetzentwurf vor-
einen Schritt weiter! gegebene Zielrichtung der Erleichterung der Vermittlung
von Arbeitslosen in Arbeit bei der Durchführung der Mo-
Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ein
dellvorhaben ohne Einschränkung der bisher bestehenden
Ziel unserer Arbeitsmarktpolitik ist es, die Integration von Ansprüche konsequent verfolgt wird. Ein Anhaltspunkt
Arbeitslosen in den ersten Arbeitsmarkt durch vielfältige für einen positiven Verlauf der Modellprojekte wird sein,
ob Sozialhilfeempfänger tatsächlich auch in Maßnahmen
Strukturen zu fördern. Ziel ist es deshalb, insbesondere
der aktiven Arbeitsförderung integriert werden. Vorran-
Langzeitarbeitslosen eine Brücke in den Arbeitsmarkt zu
gig ist aber, dass Arbeitslosenhilfeempfängern weiterhin
bauen.
auch Maßnahmen der aktiven Arbeitsförderung angebo-
Für Langzeitarbeitslose werden Maßnahmen sowohl ten werden und diese Leistungen nicht etwa zunehmend
von den örtlich zuständigen Arbeitsämtern als auch den durch Angelegenheiten im Rahmen der Hilfe zur Arbeit
Trägern der Sozialhilfe angeboten, um sie in Arbeit zu ersetzt werden, bei denen unter Umständen kein Be-
bringen. Durch dieses Nebeneinander der beiden steuerfi- schäftigungs- und Arbeitsverhältnis begründet wird.
10938 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000

(A) Es ist daher darauf hinzuwirken, dass diese Gesichts- im unteren Einkommensbereich: Denn das deutsche So- (C)
punkte bereits bei der Durchführung der Modellvorhaben zialhilfesystem gibt arbeitsfähigen Hilfeempfängern zu
besonders berücksichtigt werden. Um dieses am Ende be- wenig Anreize, Arbeit aufzunehmen. Das Bundessozial-
urteilen zu können, müssen die Kriterien der wissen- hilfegesetz enthält zwar den Auftrag, für den Hilfeemp-
schaftlichen Begleitung der Projekte diese Fragestellun- fänger Anreize zu schaffen, eine entlohnte Beschäftigung
gen berücksichtigen. aufzunehmen. Dementsprechend kann der Sozialhilfe-
empfänger bis zu einer bestimmten Grenze Geld dazuver-
Eine Politik der Integration in den ersten Arbeitsmarkt
dienen, ohne dass ihm Hilfeleistungen gestrichen werden.
benötigt neue Instrumente, deren Wirksamkeit experi- Einem Alleinstehenden in Westdeutschland wird aber
mentell erprobt werden muss. Das vorliegende Modell ist schon von einem monatlichen Zuverdienst von 137 DM
dabei eines von mehreren, welches den Schritt in das Ar- an die Sozialhilfe gekürzt, bei Haushalten von Verheirate-
beitsleben auch für Langzeitarbeitslose erleichtern soll. ten mit Kindern ist der Anreiz, Arbeit aufzunehmen, noch
geringer. Hier müssen neben der Zusammenführung von
Dr. Irmgard Schwaetzer (F.D.P.): Lassen Sie mich in Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe Lösungen gefunden
der gebotenen Kürze drei für die F.D.P. wesentliche werden.
Punkte hervorheben:
Erstens: Grundsätzlich begrüßen wir den Zweck dieses Dr. Klaus Grehn (PDS): Fünf Minuten vor Beginn der
Gesetzes, die Zusammenarbeit der Arbeitsämter mit den Sommerpause beschert uns die Regierungskoalition einen
Trägern der Sozialhilfe zu verbessern. Erleichterung der Gesetzentwurf mit dem harmlosen Titel „Gesetz zur Ver-
Vermittlung von Arbeitslosen, Abbau überflüssiger Büro- besserung der Zusammenarbeit von Arbeitsämtern und
kratie und Vereinfachung von Verwaltungsverfahren – all Trägern der Sozialhilfe“. Gegen die Verbesserung einer
dies sind Ziele, die wir unterstützen. Dies gilt insbeson- solchen Zusammenarbeit könnte es an sich keine Ein-
dere für die vorgesehene Möglichkeit der gegenseitigen wände geben. Aber in diesem Gesetzentwurf ist nicht die
Übertragung von Aufgaben oder Bildung einer gemeinsa- Verbesserung der Zusammenarbeit, sondern etwas ganz
men Anlaufstelle für Arbeitslose. Gerade Letzteres konnte anderes geregelt: Die Arbeitsämter können im Rahmen
ich auf meiner jüngsten Reise mit dem Ausschuss für Ar- von Modellversuchen bei Arbeitslosenhilfeempfängern
beit und Sozialordnung in die USA sehen: Dort werden so „und anderen einbezogenen Arbeitslosen“ die Aufgaben
genannte One-Stop-Career-Centers eingerichtet, die sich der Beratung, Vermittlung und Auszahlung von Leistun-
dadurch auszeichnen, dass Beratung des Arbeitsamtes, gen der Arbeitsförderung und der aktiven Arbeitsmarkt-
Unterstützung bei der Arbeitssuche, Anleitung zur Arbeit politik an die Träger der Sozialhilfe oder eine „beauftragte
mit dem Computer in einem Haus stattfinden. Stelle“ abgeben. Bleibt die Frage, wer verbirgt sich hinter
(B) dieser „beauftragten Stelle“? Ist dies der Weg in die Pri- (D)
Zweitens: So sehr die Eröffnung dieser Möglichkeiten vatisierung und gilt auch in diesen Fällen die Genehmi-
unterstützenswert ist: Es handelt sich bei diesem Gesetz gung zur Abweichung von Vorschriften über den Daten-
um eine im Wesentlichen organisatorische Maßnahme. schutz sowie von Vorschriften des Sozialgesetzbuches? In
Auch für die vier neuen Modellversuche für Geringquali- jedem Falle aber gelten dabei dann die wesentlich
fizierte und Langzeitarbeitslose gilt: Sie laufen erst im schlechteren Konditionen des Bundessozialhilfegesetzes.
Spätsommer an und ihre Ergebnisse nach der wissen-
schaftlichen Auswertung dürften frühestens in zwei bis Gleichzeitig können Träger der Sozialhilfe ihnen ob-
drei Jahren zu erwarten sein. Ich weiß nicht, ob wir so viel liegende Aufgaben von den Arbeitsämtern wahrnehmen
Zeit haben. lassen – allerdings gelten dabei auch nur die niedrigeren
Standards des BSHG. Ein Trostpflaster gibt es für Emp-
Nach wie vor gilt: Wir brauchen eine beschäftigungs- fänger von Hilfe zum Lebensunterhalt und andere einbe-
orientierte Sozialpolitik, die sich vor allem auf die Gruppe zogene Arbeitslose: Träger der Sozialhilfe können für sie
der gering qualifizierten Arbeitnehmer und deren Integra- in Modellversuchen Leistungen der aktiven Arbeitsförde-
tion in den Arbeitsmarkt konzentriert. Entscheidend hier- rung erbringen aus dem Katalog des Arbeitsförderungs-
für ist eine Verzahnung von Sozial- und Arbeitsmarktpo- rechtes nach dem SGB III. Bis auf die letztgenannte Rege-
litik. In Deutschland laufen die Unterstützungssysteme lung handelt es sich um den Einstieg in eine umfassende
der Arbeitslosen- und Sozialhilfe weitgehend parallel, Verschlechterung der Standards des Arbeitsförderungs-
was in vielen Fällen eine doppelte Bürokratie bedeutet rechts für Arbeitslosenhilfeempfänger „und andere einbe-
und eine zielgerichtete Beratung und Betreuung Gering- zogene Arbeitslose“ – ein dehnbarer und beliebig aus-
qualifizierter erschwert, wenn nicht gar unmöglich macht. weitbarer Personenkreis.
Eine solche inhaltliche Reform muss auch nicht zwingend
finanzielle Leistungskürzungen für die Betroffenen mit Da Modellvorhaben, die schwerpunktmäßig andere
sich bringen. Dass dem nicht so sein muss, zeigen die Er- einbeziehen, nicht gefördert werden, handelt es sich of-
fensichtlich um die stille Reserve, denn die kostet bisher
fahrungen anderer Länder, wie die OECD belegen konnte.
kein Geld und würde bei breiter Einbeziehung das ganze
Arbeitslosen- und Sozialhilfe müssen zusammengefasst
Unternehmen sehr verteuern. Sollte dies verallgemeinert
und auf einen Träger konzentriert werden. Denn Arbeits-
werden, also über das Stadium der Modellversuche hi-
losenhilfe knüpft nicht nur an die Bedürftigkeit, sondern
nausgehen und zum bundesweiten Standard werden, hät-
auch an die frühere Lohnhöhe an.
ten wir es mit einem Paradigmenwechsel im Arbeitsför-
Drittens: Zu einer beschäftigungsorientierten Sozial- derungsrecht zu tun: Arbeitslose generell, nicht nur Ar-
politik gehört auch das Problem hoher Grenzsteuersätze beitslosenhilfeempfängerinnen und -empfänger, würden
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10939

(A) zum großen Teil aus dem Arbeitsförderungsrecht heraus- werbslosen, die von der PDS immer unterstützt wurde und (C)
genommen werden können und unter das Sozialhilferecht wird. Dazu wären jedoch keine aufwendigen Modellver-
fallen – zumindest was die Arbeitsförderung betrifft. Das suche notwendig, sondern es genügte eine kleine Ände-
wäre ein Schritt, der teilweise noch über alte, für die Be- rung des SGB III.
troffenen fatale Absichten der Zusammenlegung von Ar-
beitslosenhilfe und Sozialhilfe hinausgehen würde. Vielleicht verraten Sie übrigens dem Parlament noch,
was in den Geheimverhandlungen ihres „Bündnisses für
Zwischen den Modellprojekten nach diesem Gesetz Arbeit“ noch alles an Segnungen für Arbeitslose geplant
und den Modellprojekten zum Niedriglohnsektor, die die ist, oder bedarf es dazu erst der Zustimmung der Arbeit-
Regierungskoalition plant, besteht ein innerer Zusam- geberverbände? Gegenwärtig haben Sie Glück: Die Ent-
menhang: Sie schaffen sich mit dem vorliegenden Gesetz wicklung der Konjunktur, saisonale Effekte und demo-
ein zusätzliches Instrument, um die Durchsetzung des graphische Faktoren sorgen für eine leichte Erholung am
Niedriglohnsektors zu erproben. Wie mit Kooperations- Arbeitsmarkt. Allerdings wird der Sockel der Massenar-
vereinbarungen zwischen den Arbeitsämtern und den ört-
beitslosigkeit dadurch auch nicht abgebaut, und ob die ge-
lichen Trägern der Sozialhilfe die Arbeitslosigkeit über-
genwärtige glückliche Konstellation lange anhält, ist
wunden werden kann (§ 371 a), bleibt das Geheimnis der
zweifelhaft.
Regierungskoalition.
Wir kritisieren nachhaltig, dass, wenn dieses Gesetz im Bisher haben Sie jedenfalls aus eigenem Zutun nichts
September beschlossen werden sollte, 30 Millionen Mark dazu beigetragen, dass die Massenarbeitslosigkeit merk-
aus dem Haushaltstitel „Förderung neuer Maßnahmen zur lich abgetragen wird. Im Gegenteil: Der vorliegende Ge-
Erprobung zusätzlicher Wege in der Arbeitsmarktpolitik“ setzentwurf dient überwiegend nur der Verschlechterung
vergeben werden, für den noch keine Vergabekriterien der Bedingungen von Arbeitslosen. Dies gilt ebenso für
vorliegen, obwohl er im November 1999 beschlossen die geplante vollständige Reduktion des Bundeszuschus-
worden ist. ses für die Bundesanstalt für Arbeit. Darüber hinaus war-
ten wir bisher vergeblich auf ihre grundsätzlichen Novel-
Dass dies alles nicht die Zustimmung der PDS finden lierungsvorschläge für das SGB III.
wird, versichere ich Ihnen. Gegen die Einbeziehung von
Sozialhilfeempfängern in die Arbeitsförderungsleistun- Sie werden sich mit all dem bei den Betroffenen keine
gen nach SGB III haben wir natürlich nichts einzuwen- Freunde machen. Aber vielleicht ist das ja bei der Politik
den. Im Gegenteil: Dies ist eine alte Forderung der Er- der „Neuen Mitte“ auch gar nicht beabsichtigt.
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ISSN 0722-7980

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