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D
eutscher Bundestag
Stenographischer Bericht
61. Sitzung
Inhalt:
Erweiterung und Abwicklung der Tages f) Erste Beratung des von der Fraktion der
ordnung 5073 A SPD eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Verlängerung des besonde-
Absetzung von Tagesordnungspunkten 5073 D ren Kündigungsschutzes in den neuen
Bundesländern (Drucksache 18/2444)
Absetzung des Zusatztagesordnungs g) Antrag des Abgeordneten Dr. Gregor
punktes 10 . . . . . . . . . . . . . . 5198 D Gysi und der Gruppe der PDS: Entwurf
eines Verfahrensgesetzes zu Artikel 44
Tagesordnungspunkt 3: des Vertrages zwischen der Bundesre-
a) Abgabe einer Erklärung der Bundesre- publik Deutschland und der Deutschen
gierung: Fünf Jahre deutsche Einheit Demokratischen Republik über die
Herstellung der Einheit Deutschlands
b) Unterrichtung durch die Bundesregie- - Einigungsvertrag - vom 31. August
rung: Materialien zur Deutschen Ein- 1990 - (Drucksache 13/1080)
heit und zum Aufbau in den neuen
Bundesländern (Drucksache 13/2280) h) Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara
Höll, Rolf Kutzmutz, Dr. Christa Luft,
c) Unterrichtung durch die Bundesregie- Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der
rung: Aufbau Ost - Die zweite Hälfte PDS: Bestandsaufnahme des Vermö-
des Weges - Stand und Perspektiven - gens der DDR (Drucksache 13/1834)
Bericht der Bundesregierung zur Ent-
wicklung in den neuen Ländern i) Antrag der Abgeordneten Rolf Schwa-
(Drucksache 13/2489) nitz, Hans-Joachim Hacker, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der
d) Erste Beratung des von den Abgeord- SPD: Verbesserungen bei der Rehabili-
neten Dr. Christa Luft, Dr. Gregor Gysi tierung von SED-Unrecht über die
und der Gruppe der PDS eingebrachten Verlängerung von Antragsfristen hin-
Entwurfs eines Gesetzes zur teilweisen aus (Drucksache 13/2445)
Erstattung des bei der Währungsunion
1990 2 : 1 reduzierten Betrages vorerst j) Antrag der Abgeordneten Do ris Oden-
für ältere Bürgerinnen und Bürger dahl, Dr. Ulrich Böhme (Unna), weite- -
sowie Alleinerziehende (Drucksache rer Abgeordneter und der Fraktion
13/1737) der SPD: Novellierung des Gesetzes
zur Errichtung einer Stiftung „Haus
e) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- der Geschichte der Bundesrepublik
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes Deutschland" (Drucksache 13/2367)
zur Verbesserung des Schutzes der
Nutzer und zur weiteren Erleichterung k) Bericht des Rechtsausschusses gemäß
von Investitionen in dem in Artikel 3 § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu
des Einigungsvertrages genannten Ge- dem Antrag der Abgeordneten Dr.
biet (Nutzerschutzgesetz) (Drucksache Uwe-Jens Heuer, Klaus-Jürgen War-
13/2022) nick und der weiteren Abgeordneten
II Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
der PDS: Moratorium zum Schutze der Dr. Wolfgang Gerhardt F.D.P 5093 B
redlichen Nutzer und Nutzerinnen vor Dr. Gregor Gysi PDS 5096D, 5124 D
der zivilrechtlichen Durchsetzung von
Rückübertragungsansprüchen im Bei- Gerald Häfner BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
trittsgebiet (Drucksachen 13/613, 13/ NEN 5098 B
2578) Armin Laschet CDU/CSU . . . . . 5099 B
1) Große Anfrage der Abgeordneten Dr. Dr. Burkhard Hirsch F.D.P. . . . . . 5099 C
Barbara Höll, Rolf Kutzmutz und der Dr. Theodor Waigel, Bundesminister
weiteren Abgeordneten der PDS: Zu- BMF . . . . . . . . . . . . . 5100B, 5112 C
sage der deutschen Kreditwirtschaft Wolfgang Thierse SPD . . . . . 5103A, 5112B, D
„zusätzlich eine Milliarde DM in den
Dr. Theodor Waigel CDU/CSU . . . . 5103C, D
Privatisierungsprozeß von sanierungs-
fähigen Unternehmen der Treuhand- Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU .. 5104 B
anstalt im eigenen Risiko einzubrin- Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister BMWi 5107B
gen" vom Februar 1993 (Drucksachen Dr. Angela Merkel CDU/CSU 5110A
13/589, 13/1568)
Iris Gleicke SPD . . . . . . . . . 5112 D
in Verbindung mit Dr. Michael Luther CDU/CSU . . . 5114 A
Ingrid Matthäus-Maier SPD 5114 B
Zusatztagesordnungspunkt 1: Jürgen Türk F.D.P 5114 D
Erste Beratung des von dem Abgeord- Dr.-Ing. Paul Krüger CDU/CSU 5115 C
neten Manfred Müller (Berlin) und der Hans-Joachim Hacker SPD 5117 D
Gruppe der PDS eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Gleichstel- Dr. Christa Luft PDS 5119 C
lung der Beschäftigten des Bundes mit Gerhard Schulz (Leipzig) CDU/CSU . 5121A
den Beschäftigten des Landes im Land Rolf Schwanitz SPD . . .. . . . . 5122B, 5125 A
Berlin (Drucksache 13/1383)
Tagesordnungspunkt 4:
in Verbindung mit
Große Anfrage der Abgeordneten Ru-
dolf Dreßler, Gerd Andres, weiterer Ab-
Zusatztagesordnungspunkt 2: geordneter und der Fraktion der SPD:
Antrag der Abgeordneten Werner Entwicklung und Stand der Arbeits-
Schulz (Berlin), Steffi Lemke, weiterer zeitflexibilisierung in Deutschland
Abgeordneter und der Fraktion BÜND- (Drucksachen 13/1334, 13/2581)
NIS 90/DIE GRÜNEN: Jährliche Vorla- Rudolf Dreßler SPD 5125D, 5131A
ge eines „Berichtes zur Entwicklung Dr. Gisela Babel F.D.P 5127D
der deutschen Einheit" durch die Bun-
desregierung (Drucksache 13/2572) Andreas Storm CDU/CSU 5129 B
Hans Büttner (Ingolstadt) SPD . . . 5130B
in Verbindung mit Marieluise Beck (Bremen) BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN 5131 D
Zusatztagesordnungspunkt 3: Joseph Fischer (Frankfurt) BÜNDNIS 90/
Antrag der Abgeordneten Rolf Schwa- DIE GRÜNEN 5132B
nitz, Ernst Bahr, weiterer Abgeordneter Katrin Fuchs (Verl) SPD zur GO . 5134A, 5135D
und der Fraktion der SPD: Jahresbe- Clemens Schwalbe CDU/CSU zur GO . . 5134B
richt zum Stand der deutschen Einheit
(Drucksache 13/2586) Dr. Gisela Babel F.D.P 5134 C
Manfred Müller (Berlin) PDS 5136A
in Verbindung mit Horst Günther, Parl. Staatssekretär BMA 5137 C
Rolf Köhne PDS 5138A, 5139C, 5142D
Zusatztagesordnungspunkt 4:
Doris Barnett SPD . . . . . . . . . . 5139 D
Antrag der Abgeordneten Rolf Schwa-
Karl-Josef Laumann CDU/CSU . . . . 5141B
nitz, Dr. Christine Lucyga, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der SPD: Johannes Singhammer CDU/CSU . . 5141 D -
Altschulden ostdeutscher Gemeinden Peter Dreßen SPD 5142 B
auf gesellschaftliche Einrichtungen Marieluise Beck (Bremen) BÜNDNIS 90/
(Drucksache 13/2587) DIE GRÜNEN 5143A, 5147A
Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler . . . 5075C Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär
Rudolf Scharping SPD 5079 C BMWi 5143 D
Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU . . 5085 A Karl-Josef Laumann CDU/CSU 5144 D
Werner Schulz (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE Otto Schily SPD 5145 D
GRÜNEN 5089 A Jörg Tauss SPD . . . . . . . . . . 5146B
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 III
ihrer einnahme- und ausgabemäßigen für den Transrapid und Planung einer
Auswirkungen auf die öffentlichen ICE-Verbindung Hamburg-Berlin
Haushalte (Drucksache 13/2573)
Dr. Theodor Waigel, Bundesminister Dirk Fischer (Hamburg) CDU/CSU . . 5177D
BMF 5151B, 5174D Elke Ferner SPD 5179B
Karl Diller SPD 5155B, 5157B Wolfgang Börnsen (Bönstrup) CDU/
Wilfried Seibel CDU/CSU 5156 D CSU 5180A, 5184B
Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach) Rainder Steenblock BÜNDNIS 90/DIE
CDU/CSU 5157B GRÜNEN ' 5181D
Ludger Volmer BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Horst Friedrich F.D.P. 5182D
NEN 5158D
Dr. Klaus Röhl F.D.P 5185A, 5187C
Carl-Ludwig Thiele F.D.P. 5160A
Eckart Kuhlwein SPD 5186 D
Dr. Otto Graf Lambsdorff F.D.P. . . . . . 5160B
Dr. Herwig Eberhard Haase, Senator
Dr. Uwe-Jens Rössel PDS 5162B (Berlin) 5187 D
Jochen Feilcke CDU/CSU . . . . . . 5163 C Dr. Winfried Wolf PDS 5189D
Albert Schmidt (Hitzhofen) BÜNDNIS Werner Kuhn CDU/CSU 5191B
90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . 5164 C
Rainder Steenblock BÜNDNIS 90/DIE
Dr. Ingomar Hauchler SPD . . . . 5165C, 5176C GRÜNEN 5191D
Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) F.D.P. . . 5167 C Dr. Barbara Höll PDS 5192 D
Oswald Metzger BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Klaus Hasenfratz SPD 5193 B
NEN 5168C
Dirk Fischer (Hamburg) CDU/CSU 5194D, 5195 B
Ingrid Matthäus-Maier SPD 5168 D
Elke Ferner SPD 5195A, 5196C
Dankward Buwitt CDU/CSU 5170A
5171D Matthias Wissmann, Bundesminister BMV
Jörg-Otto Spiller SPD
5172 C 5195D, 5198C
Peter Harald Rauen CDU/CSU . . . . .
Dr. Konstanze Wegner SPD 5173 D Ernst Schwanhold SPD . . . . . . . . 5197 D
Jörg-Otto Spiller SPD 5176A Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch . . . 5191A
Tagesordnungspunkt 5: Tagesordnungspunkt 6:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen Antrag der Abgeordneten Klaus Len-
der CDU/CSU und F.D.P. eingebrach- nartz, Friedhelm Julius Beucher, weite-
ten Entwurfs eines Gesetzes zur Fest- rer Abgeordneter und der Fraktion der
stellung des Bedarfs von Magnetschwe- SPD: Kindergesundheit und Umwelt-
bebahnen (Magnetschwebebahnbe- belastungen (Drucksache 13/1968)
darfsgesetz) (Drucksache 13/2345)
in Verbindung mit
b) Erste Beratung des von den Fraktio-
nen der CDU/CSU und F.D.P. einge- Zusatztagesordnungspunkt 9:
brachten Entwurfs eines Allgemeinen
Magnetschwebebahngesetzes (Druck- Antrag der Abgeordneten Vera Lengs-
sache 13/2346) feld, Gila Altmann (Aurich), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
in Verbindung mit NIS 90/DIE GRÜNEN: Die Notwendig-
keit von ökologischen Kinderrechten;
Zusatztagesordnungspunkt 7: Gefährdung von Kindern durch Um-
weltgifte (Drucksache 13/2574)
Antrag der Abgeordneten Dr. Dagmar
Enkelmann, Dr. Winfried Wolf und der Klaus Lennartz SPD 5199B
Gruppe der PDS: Prüfung von Alter- Editha Limbach CDU/CSU . . . . . . 5200 C
nativen zur Magnetschwebebahn Vera Lengsfeld BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
(Drucksache 13/2570) -
NEN 5202 D
in Verbindung mit Birgit Homburger F.D.P. . . . . . 5204 A, 5208D
Dr. Ruth Fuchs PDS 5205 D
Zusatztagesordnungspunkt 8: Friedhelm Julius Beucher SPD 5207 A
Antrag der Abgeordneten Rainder Editha Limbach CDU/CSU 5207 C
Steenblock, Albe rt Schmidt (Hitz-
hofen), weiterer Abgeordneter und der Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Parl. Staats-
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: sekretärin BMG 5209 B
Stopp der Vorbereitungsmaßnahmen Dr. Wolfgang Wodarg SPD 5211 C
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 V
-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5073
61. Sitzung
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Meine Damen und 9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Vera Lengsfeld,
Herren, die Sitzung ist eröffnet. Gila Altmann (Aurich), Franziska Eichstädt-Bohlig, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN: Die Notwendigkeit von ökologischen Kin-
Ich komme zunächst zu den Amtlichen Mitteilun- derrechten; Gefährdung von Kindern durch Umweltgifte
gen. - Drucksache 13/2574 -
10. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Hal-
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun- tung der Bundesregierung zu den Auswirkungen der Steu-
dene Tagesordnung um die Ihnen in der Zusatz- erausfälle in Höhe von 40 Mrd. DM auf die Haushaltslage
punktliste vorliegenden Punkte zu erweitern. des Bundes
1. Erste Beratung des von dem Abgeordneten Manfred Müller 11. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und
(Berlin) und der Gruppe der PDS eingebrachten Entwurfs F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Ände-
eines Gesetzes zur Gleichstellung der Beschäftigten des rung der Strafprozeßordnung - Drucksache 13/2576 -
Bundes mit den Beschäftigten des Landes im Land Berlin
- Drucksache 13/1383 - Von der F ri st für den Beginn der Beratungen soll,
2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Werner Schulz soweit erforderlich, abgewichen worden.
(Berlin), Steffi Lemke, Antje Hermenau, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Jähr- Darüber hinaus ist vereinbart worden, die Tages-
liche Vorlage eines „Berichtes zur Entwicklung der deut- ordnungspunkte 3 m - Zweiter Tätigkeitsbericht des
schen Einheit" durch die Bundesregierung - Drucksache
13/2572 - Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen -, 19 a -
Agrarsoziales Sicherungsgesetz -, und 20 e - Soziale
3. Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Schwanitz, Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit -
Ernst Bahr, Wolfgang Behrendt, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD: Jahresbericht zum Stand der deut-
abzusetzen.
schen Einheit - Drucksache 13/2586 -
Des weiteren mache ich darauf aufmerksam,
4. Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Schwanitz, daß das Thema der heutigen Regierungserklärung
Dr. Ch ri stine Lucyga, E rnst Bahr, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD: Altschulden ostdeutscher Ge- zur Jahresversammlung des IWF und der Welt-
meinden auf gesellschaftliche Einrichtungen - Druck- bank in Washington erweitert wurde. Es heißt
sache 13/2587 - nunmehr:
5. Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
(Ergänzung zu TOP 19) Jahresversammlung des Internationalen Wäh-
rungsfonds und der Weltbank in Washington un-
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerhard Jütte- ter Berücksichtigung der konjunkturellen Ent-
mann, Roll Kutzmutz, Eva Bulling-Schröter, Dr. Gregor Gysi
und der Gruppe der PDS: Ä nderung des Bundesberggeset- wicklung und ihrer einnahme- und ausgabemäßi-
zes - Drucksache 13/2497 - gen Auswirkungen auf die öffentlichen Haus-
halte
6. Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung: Jahresver-
sammlung des Internationalen Währungsfonds und der
Weltbank in Washington unter Berücksichtigung der kon- Sind Sie mit den interfraktionellen Vereinbarun-
junkturellen Entwicklung gen einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist es so
beschlossen.
7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Dagmar Enkel-
mann, Dr. Winfried Wolf und der Gruppe der PDS: Prüfung
von Alternativen zur Magnetschwebebahn - Drucksache
13/2570 - Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 31 und
8. Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainder Steen-
die Zusatzpunkte 1 bis 4 auf:
block, Albert Schmidt (Hitzhofen), Gila Altmann (Aurich),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE 3. a) Abgabe einer Erklärung der Bundesregie-
GRÜNEN: Stopp der Vorbereitungsmaßnahmen für den rung
Transrapid und Planung einer ICE-Verbindung Hamburg-
Berlin - Drucksache 13/2573 - Fünf Jahre deutsche Einheit
5074 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
Jede dieser Veränderungen berührt uns alle. Ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so-
meinsam tragen wir die Risiken, gemeinsam aber wie des Abg. Markus Meckel [SPD])
nutzen wir auch die Chancen, die sich aus diesen
Veränderungen ergeben. Bei allen Sorgen dürfen wir Manches Mal war es nicht leicht gewesen, dem
nicht vergessen, daß andere mit weitaus größeren Zeitgeist zu widerstehen. Viele hatten an die deut-
Schwierigkeiten zu kämpfen haben. sche Einheit nicht mehr geglaubt, und manche wa-
ren sogar bereit, dieses Ziel zu verraten. Deswegen
50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs danke ich allen Deutschen in Ost und West, die in
empfinden wir Deutschen noch einmal besonders diesen vier Jahrzehnten Geduld und Hoffnung nicht
stark, was für ein Glück es bedeutet, daß wir unsere verloren haben.
Einheit in Frieden und freier Selbstbestimmung er-
reichen konnten. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so Die politische Führung der DDR war im Herbst
wie bei Abgeordneten der SPD) 1989 politisch und moralisch am Ende. Sie stand wirt-
schaftlich vor dem Bankrott. Der Bevölkerung hat sie
Wir verdanken dies vor allem unseren Freunden dies verschwiegen. Manche wollen das auch heute
und Partnern in der Welt. Allen voran nenne ich noch nicht wahrhaben. Sie wollen unser Land erneut
George Bush und Michail Gorbatschow. Ohne sie spalten. Aber ich denke, dies wird ihnen nicht gelin-
hätte es die deutsche Einheit nicht gegeben. gen.
(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. un d (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
der SPD sowie der Abg. Halo Saibold
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Unser ganz besonderer Respekt gilt auch den
Frauen und Männern, die nach dem 18. März 1990
Für die Wiedervereinigung fanden wir die Zustim- als Abgeordnete der erstmals frei gewählten Volks-
mung aller unserer Nachbarn. Dies war auch eine kammer den demokratischen Neuanfang gestalteten
Frucht des Vertrauens, das alle Bundesregierungen, und wagten. Sie haben an gute deutsche Traditionen
das alle meine Vorgänger seit 1949 durch eine Politik angeknüpft und die Länder Mecklenburg-Vorpom-
der Stetigkeit und Verläßlichkeit in Europa und welt- mern, Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Thüringen und
weit gewonnen haben. Sachsen wiedererrichtet. Sie haben sich für den Bei-
tritt zur Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober
Meine Damen und Herren, unsere größte Hoch- 1990 entschieden.
achtung verdienen jene tapferen Frauen und Män-
ner, die wegen ihres Einsatzes für die Achtung der Auch in den Gemeinden und auf der Ebene der
Bürger- und Menschenrechte durch das DDR-Re- Länder haben viele mit großem Engagement Demo-
gime bespitzelt, verfolgt, eingekerkert oder ausge- kratie aufgebaut und gestaltet. Darunter waren nicht
bürgert wurden. wenige - das sollten wir mehr erwähnen und hervor-
heben -, die sich zuvor nie mit politischen Dingen be-
(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der faßt hatten. Sie haben einen ganz ungewöhnlichen
SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) persönlichen Einsatz geleistet,
Wer einmal - wir wollen das nicht vergessen - die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so-
Käfige im Zuchthaus von Bautzen gesehen hat, der wie bei Abgeordneten der SPD und des
weiß, daß das SED-Regime unmenschlich und ver- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
brecherisch war.
und wir haben gesehen, was in den Gemeinden,
(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der Städten, Kreisen und Ländern der früheren DDR ent-
SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) stehen konnte. Dem Föderalismus als einem bewähr-
ten deutschen Verfassungsprinzip wurde eine neue
Diese Tatsache klar und deutlich auszusprechen, Chance eröffnet.
schulden wir allen Opfern der kommunistischen Dik- -
tatur. Schließlich verdanken wir unseren erfolgreichen
Weg seit 1989 den Menschen im Westen Deutsch-
Viel verdanken wir den Menschen der früheren lands: an Rhein und Ruhr, in Hamburg und in Bay-
DDR, die im Herbst 1989 zu Hunderttausenden auf ern, in Holstein und in Württemberg.
die Straße gingen, um gegen das kommunistische
Regime zu demonstrieren. Die Demonstrationen in (Joseph Fischer [Frankfu rt ] [BÜNDNIS 90/
Leipzig, in Dresden und in vielen anderen Orten DIE GRÜNEN]: Die Pfalz hat er vergessen!)
brachten vor den Augen der Weltöffentlichkeit den
Freiheitswillen der Menschen zum Ausdruck. Sie be- Sie haben sich sehr viel solidarischer verhalten, als
wiesen zugleich, daß es richtig war, am Wiederver oft zu hören und zu lesen ist.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5077
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
Die Deutschen in West und Ost haben in den ver- Unternehmensleiter, die in einer Weise Verantwor-
gangenen fünf Jahren Opfer gebracht; es waren für tung übernommen haben, wie wir sie selten im west-
manchen durchaus schmerzliche Opfer. Niemand lichen Teil Deutschlands in diesen Jahren erlebt ha-
sollte die Opfer oder Kosten kleinreden - aber es sind ben.
Kosten, die das Erbe des DDR-Sozialismus verur-
sacht hat: eine marode Wi rtschaft, ein verantwor- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so-
tungsloser Umgang mit der Umwelt, eine hoffnungs- wie bei Abgeordneten der SPD und des
los veraltete Infrastruktur. Das kommunistische Sy- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
stem hat 18 Millionen Deutsche daran gehindert, die
angemessenen Früchte ihrer Leistung und ihres Lei- Wir haben neben den Problemen, die in diesen
stungswillens zu ernten. Jahren mit dem Zusammenbruch der Märkte im
Osten Europas, vor allem der früheren Sowjetunion,
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) über Nacht zu erwarten waren, noch eine weitere
Verschärfung der Situation vor allem auch mit der
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In Folge der Arbeitslosigkeit erfahren. Dies alles gehört
den vergangenen fünf Jahren sind wir bei der in dieses Bild. Unter kaum einer anderen Erblast des
Vollendung der inneren Einheit ein gutes Stück SED-Regimes hatten die Menschen so sehr zu leiden.
vorangekommen. Das sieht jeder, der mit offenen Deswegen war und ist in diesem Felde besondere So-
Augen durch die neuen Bundesländer fährt. Die lidarität geboten. Von 1991 bis 1994 sind im Rahmen
Menschen spüren das in ihrem persönlichen Um- der Systeme der sozialen Sicherung 240 Milliarden
feld. So entspricht die Infrastruktur in den neuen DM von West nach Ost geflossen. Mit Arbeitsbe-
Bundesländern bereits heute vielfach weltweitem schaffungsmaßnahmen und Maßnahmen der Fortbil-
Spitzenstandard. Als Beispiel nenne ich die Tele- dung konnte Millionen von Menschen geholfen wer-
kommunikation, die über ein hochmodernes Netz den. Auf dem Arbeitsmarkt gibt es seit der zweiten
verfügt. Zehn Stunden Wartezeit auf ein Fernge- Jahreshälfte 1993 eine spürbare Aufwärtsentwick-
spräch von Rostock nach Düsseldorf gehören der lung. Seit dem Tiefstand der Beschäftigung hat sich
Vergangenheit an. die Zahl der Erwerbstätigen um rund 240 000 erhöht.
Zahlreiche Industrieunternehmen in den neuen Gewinner der deutschen Einheit - das sage ich mit
Ländern arbeiten heute mit Anlagen, die zu den Nachdruck - sind in den neuen Ländern die Rentner.
modernsten der Welt gehören. Ich brauche hier Wir haben eine selbstverständliche moralische Ver-
nicht nur das Opel-Werk in Eisenach zu erwähnen; pflichtung gegenüber der Generation gesehen, die
es gibt viele solcher Beispiele. Wir wissen, eine zuerst unter dem Krieg und dann unter der kommu-
moderne Verkehrsinfrastruktur ist mitentscheidend nistischen Diktatur zu leiden hatte. Am 30. Juni 1990
für den wirtschaftlichen Aufbau und die Herstel- betrug die Rente höchstens 600 Mark Ost. Das war
lung vergleichbarer Lebensverhältnisse. Die Fort- ein Drittel der verfügbaren Rente eines Durch-
schritte, die seit der Wiedervereinigung erreicht schnittsverdieners in den alten Bundesländern nach
wurden, sind offensichtlich: Tausende Kilometer über 40 Versicherungsjahren. Heute erhält ein Rent-
Schienenwege, Straßen und Wasserstraßen wurden ner in den neuen Bundesländern bei gleichem beruf-
neu gebaut oder erneuert. Die Fahrzeit auf der lichem Werdegang wie ein Rentner im Westen mit
Eisenbahnstrecke von Frankfu rt am Main nach über 1 500 DM fast 80 % der Westrenten. Die Renten-
Dresden wurde um eine ganze Stunde verkürzt, ausgaben in den neuen Bundesländern erhöhten sich
um ein Beispiel zu nennen. Der Standard der von knapp 17 Milliarden Mark Ost im Jahre 1989 auf
Autobahnen ist zwischen den alten und den neuen über 69 Milliarden DM in diesem Jahr. Ich halte dies
Ländern weitgehend angeglichen. für eine der größten sozialen Leistungen in der Ge-
schichte unseres Landes.
Wir wissen, meine Damen und Herren, wenn ich
dies hier sage, daß trotz aller Erfolge noch eine (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so-
schwierige Wegstrecke vor uns liegt und daß Um- wie des Abg. Markus Meckel [SPD])
strukturierungen und Neuaufbau noch lange nicht
abgeschlossen sind. Wir wissen auch, daß vor allem Fünf Jahre nach der Wiedervereinigung hat das
die Männer und Frauen in den neuen Ländern in die- Gesundheitswesen der neuen Länder im wesentli-
sen fünf Jahren viele Opfer bringen mußten, vor al- chen das Niveau Westdeutschlands erreicht. Die Pa-
lem auch die völlige Veränderung ihrer persönlichen tienten können heute ihren Arzt frei wählen, und sie
Lebensverhältnisse nicht nur erfahren und manch- haben Zugang zu moderner Medizintechnik, zu allen
mal erleiden, sondern auch selbst neu gestalten muß- Arzneien, Heil- und Hilfsmitteln. Sie kommen jetzt in
ten. Wer einmal in den großen Industriekombinaten, den Genuß von Leistungen, die in der DDR-Zeit oft
etwa im Chemiedreieck, in Leuna, Bitterfeld oder nur einer kleinen Gruppe von Privilegierten vorbe-
Halle, war und dort mit Bet riebsräten, Bet riebsleitern halten waren.
und den Belegschaften gesprochen hat, der hat eine
Vorstellung davon, was in diesen wenigen Jahren Das jahrzehntelange sozialistische Wirtschaften
den Menschen zugemutet wurde und was sie sich hat zu schlimmen Belastungen von Boden, Luft und
selbst zugemutet haben. Wasser geführt. Um die Planziele zu erreichen, wur-
den gravierende Gesundheits- und Umweltschäden
Deswegen will ich ein besonderes Wo rt des Dan- in Kauf genommen. Wir konnten die ökologischen
kes gerade denjenigen sagen, die vor Ort diese Ver- Belastungen erheblich vermindern und viele Um-
antwortung getragen haben: Bet riebsratsvorsitzende, weltschäden sanieren. Aber, meine Damen und Her-
5078 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ich erinnere auch an die Hunderttausenden, die im
Herbst 1989 auf die Straße gingen und mutig den
Ich habe keinen Zweifel daran, daß wir die Auf- Weg zu freien und demokratischen Wahlen öffneten,
gaben meistern werden. Wir haben gute Grundla- die Voraussetzung für die Einheit der Deutschen wa-
gen für einen gemeinsamen Aufbruch in die Zu ren.
5080 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
Rudolf Scharping
Es ist wahr: Wir sind auch anderen zu Dank ver- Sie haben die Worte „blühende Landschaften" er-
pflichtet: der Sowjetunion unter Michail Gorba- neut bemüht. Nach unserer Auffassung gehört schon
tschow, deren Zustimmung die Gewaltfreiheit der viel dazu, sich erneut auf eine Aussage zu berufen,
SED-Entmachtung erst möglich gemacht hat, die quasi als Schlüsselglied für eine Politik der Täu-
schung und der Übervorteilung der Ostdeutschen
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne steht.
ten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
DIE GRÜNEN)
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
und des Abg. Manfred Müller [Berlin] [PDS]
und den Ungarn und Polen - den Ungarn wegen der - Widerspruch bei der CDU/CSU und der
mutigen Grenzöffnung und den Polen, weil ihre re- F.D.P.)
formerischen Umwälzungen Ermutigung schufen
und innerhalb der DDR Reformbewegungen inspi- Denn entgegen Ihrer späteren Behauptung, diese
rierten. Aussage sei nur vor dem Hintergrund zu verstehen,
daß die Bundesregierung den tatsächlichen Zustand
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. von Infrastruktur, Kapitalstock oder Arbeitsprodukti-
Dr. Heiner Geißler [CDU/CSU]) vität nicht richtig eingeschätzt habe, haben Sie tat-
sächlich um wahltaktischer Vorteile willen mit der
Wir sind auch und insbesondere unseren westli- Hoffnung und mit der Erwartung nicht nur der
chen Pa rtnern, unter ihnen besonders den Vereinig- 16 Millionen Menschen im Osten Deutschlands, son-
ten Staaten von Amerika, zu Dank verpflichtet, die dern aller in Deutschland gespielt und die Unwahr-
entschlossen die deutsche Vereinigung förderten heit über das gesagt, was auf die Menschen zukom-
und entscheidenden Anteil am Abschluß des Zwei- men würde.
plus-Vier-Vertrages hatten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD sowie des Abg.
Dr. Hermann Otto Solms [F.D.P.]) Auch das setzt sich heute fort. Die Arbeitslosigkeit
in Deutschland, namentlich im Osten Deutschlands,
Nicht zuletzt, meine Damen und Herren, will ich ausschließlich auf die Fehler von Planwirtschaft zu-
darauf aufmerksam machen, daß die deutsche Ein- rückzuführen, ist eine grobe historische Täuschung.
heit erst auf den Grundlagen stabiler Westbindung Das spielt eine Rolle, erklärt aber längst nicht alles.
und vertrauensbildender Ostpolitik möglich gewor- (Beifall bei der SPD)
den ist.
Natürlich muß in einem historisch einmaligen wirt-
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. schaftlichen, sozialen und politischen Strukturbruch
Dr. Hermann Otto Solms [F.D.P.] und der manches verändert werden. Wir bestreiten nicht, daß
Abg. Dr. Antje Vollmer [BÜNDNIS 90/DIE dieser radikale Strukturbruch unvermeidbar war.
GRÜNEN]) Was wir allerdings bestreiten, ist, daß die Umstände
so hätten gestaltet werden müssen, wie sie gestaltet
Deshalb sagen wir in allem Freimut: Dazu haben worden sind.
viele beigetragen. Wir wollen weder die Verdienste (Joachim Hörster [CDU/CSU]: Wie hätten
von Willy Brandt und Helmut Schmidt verschweigen Sie es denn gemacht?)
- wir anerkennen sie vielmehr ausdrücklich - noch
die Leistungen der damaligen Bundesregierung, des Deshalb möchte ich doch darauf hinweisen, daß sich
Bundeskanzlers Helmut Kohl und des Bundesaußen- auf der Grundlage dieser Entwicklung eine erhebli-
ministers Hans-Dietrich Genscher. che Veränderung vollzogen hat.
Man kann verstehen, daß in einem solchen Um-
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der bruch auch Mißmut, Enttäuschung und Unzufrieden-
F.D.P. sowie der Abg. Dr. Antje Vollmer heit entstehen. Aber eine solche Diagnose bleibt un-
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) vollständig und oberflächlich, wenn man nicht auch
zur Kenntnis nimmt, daß sich im Osten Deutschlands
Meine Damen und Herren, in einem solchen, histo- eine bedrohlich veränderte Stimmung entwickelt
risch einmaligen, komplexen Prozeß gibt es sicher hat.
auch unvermeidbare Fehler; ich konzediere dies aus-
drücklich. Neben unvermeidbaren Fehlern aller- (Zuruf von der CDU/CSU: Was? - Wolfgang
dings gibt es auch vermeidbare. Zöller [CDU/CSU]: Er spricht von der SPD!) -
Im Juli 1995 haben - demoskopischen Umfragen zu-
Herr Bundeskanzler, wer Ihre Regierungserklä- folge - viele Ostdeutsche gesagt, daß das Gesell-
rung gehört hat, wird den Eindruck nicht los, daß es schaftssystem der Bundesrepublik Deutschland
Ihnen im wesentlichen um die Verbreitung eines Ge- nicht gerecht sei. 50 % der Befragten im Osten hiel-
fühls, nicht aber um die Formulierung von Politik ten die Ordnung in der DDR, aber nur noch 38 % die
geht. Ordnung in der Bundesrepublik Deutschland für ge-
recht. Während 1990 noch die große Mehrheit der
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne befragten Ostdeutschen die Ursache für das Schei-
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) tern des DDR-Sozialismus im System selbst und nur
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5081
Rudolf Scharping
36 % in der Unfähigkeit der Politiker sahen, hat im Das ist, Herr Bundeskanzler, nicht nur eine Frage
Juli 1995 der Anteil derer, die die Politik und nicht der menschlichen Anständigkeit; es ist auch eine
das System für das Scheitern verantwortlich gemacht Frage der politischen Klarheit. Ihr ehemaliger Fi-
haben, mit 79 % eine geradezu erschreckende Größe nanzstaatssekretär Köhler hat jüngst in einem bemer-
erreicht. kenswerten Interview in der Wochenzeitung „Die
Zeit" folgendes formuliert:
Meine Damen und Herren, wer das nicht zur
Kenntnis nehmen will, der weige rt sich, Realität, Ge- Schon vor der Bundestagswahl im Oktober 1990
fühl und Emotionen von Menschen zur Kenntnis zu war klar, daß es nicht ohne Einnahmeverbesse-
nehmen. rungen gehen würde. Die Politik hat halt aus
Gründen der politischen Opportunität entschie-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne den, diese Erkenntnis nicht in den Vordergrund
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zu rücken.
und der PDS) (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: „Keine Steuererhöhun-
Es ist geradezu unfaßbar, wie die Freude und die
Begeisterung der Menschen in Deutschland, auch gen"!)
der Menschen im Osten Deutschlands, über das Den Prozeß der deutschen Einheit, seine Enttäu-
Ende des DDR-Sozialismus in eine Stimmung umge- schungen und Frustrationen kann man trotz aller Er-
schlagen sind, die man als zwiespältig, in der Ten- folge nicht beschreiben, wenn man nicht hinzufügt,
denz allerdings als eindeutig beschreiben muß. Das daß im Jahr 1990 bewußt getäuscht worden ist, wie
ist eine Stimmung, die viel mit enttäuschten Hoffnun- der damalige Finanzstaatssekretär ausdrücklich sagt.
gen zu tun hat.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
ten der PDS) PDS)
Das hat auch mit der Finanzierung der deutschen
Selbst wenn man konzediert - was ich ausdrück- Einheit auf Pump zu tun. Sie wird zu einer immensen
lich tue -, daß es in einem solchen Prozeß unvermeid- Hypothek für künftige Generationen und zugleich
bare Fehler gibt, so ist doch darauf hinzuweisen, daß für eine Belastung des europäischen Integrationspro-
es von Anfang an auch Stimmen gegeben hat, die zesses sorgen.
nachdrücklich und - wie sich herausgestellt hat - zu
Recht auf vermeidbare Fehler und falsche Weichen- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sind Sie also
stellungen hingewiesen haben. dagegen?)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Meine Damen und Herren, mit diesen Weichen-
ten der PDS - Widerspruch bei der CDU/ stellungen begann eine Reihe von Fehlentscheidun-
CSU) gen strategischer Art, die man der Bundesregierung
anlasten muß und die man nicht allein auf den Zu-
Von Anfang an haben Vertreter der Opposition in stand der damaligen DDR zurückführen kann.
der damaligen DDR auf die Größe, die Langwierig- (Beifall bei Abgeordneten der SPD - Wider-
keit und auch auf die immensen Kosten des Umstel- spruch bei Abgeordneten der CDU/CSU -
lungsprozesses hingewiesen. Der damalige Finanz- Zuruf von der CDU/CSU: Das haben Ihnen
minister Romberg ist auf Grund des politischen nicht einmal die eigenen Leute geglaubt!)
Drucks aus der Regierung im Westen Deutschlands
entlassen worden, obwohl seine Zahlen damals we- Diese Fehlentscheidungen haben viele Millionen
sentlich näher an der Realität waren als die der Bun- Menschen in eine tiefe Existenzkrise gestürzt und
desregierung. vor allen Dingen tiefe Zweifel an der Redlichkeit der
Politik hervorgerufen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der SPD - Zuruf von der CDU/
und der PDS) CSU: An Ihrer!)
Es war - ich sage es noch einmal: im Rahmen eines
Man fragt sich: Wo ist denn ein Wo rt des Bedau- notwendigen und unvermeidbaren Strukturbruches -
erns z. B. gegenüber einem ehrlichen Mann, der ge- eine Schocktherapie ohne wirkliche Flankierung. In-
nau - jedenfalls wesentlich genauer als diese Bun- dustrielle Arbeitsplätze sind zusammengebrochen,
desregierung - gesehen hat, welche Aufgaben auf 3,5 Millionen Arbeitsplätze gingen verloren. Es war-
uns zukamen, welche finanziellen Leistungen das er- im Zuge dieser strategischen Fehlentscheidungen
forderte? Ich finde, es gehörte zur Souveränität einer konsequent, der Treuhandanstalt anfangs nur einen
Bundesregierung, die damals die Entlassung dieses Privatisierungsauftrag zu erteilen, der sich aber in
Mannes bewirkt hat, wenigstens heute ein kleines der Praxis häufig als Liquidationsauftrag erwies.
Wort des Bedauerns wegen dieser groben Fehlent-
scheidung auszusprechen. Meine Damen und Herren, wer 1989/1990 als Epo-
chenbruch beschreibt und in der gegenwärtigen Dis-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne kussion hinzufügt, daß der Wandel in der Weltwirt-
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN schaft, mindestens die Europäisierung, häufig die
und der PDS) Globalisierung des Wirtschaftens, ungehemmt voran-
5082 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
Rudolf Scharping
schreitet, muß zugleich die Frage beantworten: Soll den Mut und die Bereitschaft zur Solidarität mit der
es die Leitlinie der Politik sein, die soziale Integra- Täuschung, man könne das aus der Portokasse ma-
tion zu stärken - dann hätten wir eine vernünftige chen, verspielt haben, beginnen Sie erneut, die Bi-
Leitlinie für die Gestaltung des deutschen Einigungs- lanz zu fälschen und schönzufärben und damit Mut
prozesses in der Zukunft -, oder wollen wir ignorant und Solidarität zu untergraben, Mißmut und Enttäu-
die falschen Weichenstellungen weiterverfolgen? schung zu fördern. Diese Regierungserklärung ist ein
Denn eine bloß auf Unternehmen und Erträge - so Hinweis darauf.
notwendig das alles ist - orientierte Politik wird am
Ende nicht fähig sein, die soziale Erosion der Gesell- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
schaft und auch den tiefen emotionalen und kulturel- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
len Graben, den es in Deutschland immer noch gibt, PDS)
zu überwinden.
(Beifall bei der SPD) Die faktische Entindustrialisierung bedeutet für
die Ostdeutschen, daß von hundert Erwerbswilligen
Ich beziehe mich noch einmal auf Ihren früheren ein Drittel keine reguläre Arbeit findet, ein Drittel Ar-
Staatssekretär Köhler, der in dem erwähnten Inter- beitsplätze aus Transferleistungen findet und nur ein
view gesagt hat: Drittel Arbeitsplätze aus eigener Wertschöpfung.
Das Bundeswirtschaftsministerium hat den struk-
turpolitischen Handlungsbedarf unterschätzt und Die fehlerhaften Weichenstellungen der Bundesre-
war in seiner Aufmerksamkeit wohl auch zuwe- gierung zu Lasten und auf Kosten der ostdeutschen
nig auf den Aufbau in Ostdeutschland konzen- Bevölkerung waren eine Konsequenz aus der fal-
triert. schen gestalterischer Zielsetzung in der Vereini-
(Zuruf von der CDU/CSU) gungspolitik, nämlich einer Ausdehnung der alten
Bundesrepublik auf die frühere DDR. Es gab keinen
- Meine Damen und Herren, wenn jetzt aus den Rei- Politikbereich, Herr Bundeskanzler, in dem Sie nicht
hen der Union dazwischengerufen wird, warum ich signalisiert hätten, daß der Osten gefälligst westliche
immer diesen Staatssekretär zitiere, antworte ich: Maßstäbe zu erfüllen habe.
Der Bundeskanzler war stolz auf dessen Sachkunde
in internationalen und anderen Finanzfragen. Die Die politisch-kulturellen Folgen blieben nicht aus.
Tatsache, daß dieser Mann jetzt ein anderes öffent- Viele Menschen sahen sich ihrer eigenen Geschichte
lich wirksames Amt bekleidet, macht ihn etwas und Selbstachtung beraubt. Ihnen wurden generell
freier. Ich kann durchaus verstehen, daß dieser freie Unterlegenheit und Zweitklassigkeit signalisiert. Das
und kritische Geist in der Bilanzierung Ihrer eigenen sind Verwerfungen, die das politische und gesell-
Tätigkeit - das macht diese Regierungserklärung schaftliche Klima zwischen Ost und West in Deutsch-
überdeutlich klar - bei Ihnen ganz und gar uner- land nach wie vor stark belasten und die auch zu der
wünscht ist; denn er müßte zu selbstkritischen Be- beschriebenen Vertrauenskrise im Osten Deutsch-
merkungen führen. lands geführt haben.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Es ist diese Ignoranz, diese Geringschätzung von
und der PDS) Erfahrungen, die ein politisches Milieu ostdeutscher
Befindlichkeit hat entstehen lassen, die einer regio-
Herr Bundeskanzler, was Ihr damaliger Staatsse- nalistischen, regressiven und im Kern unpolitischen
kretär Köhler gesagt hat, halte ich für eine vornehme Partei einen starken Resonanzboden verschafft. Die
Beschreibung von Inkompetenz und Ignoranz. relativen Erfolge der PDS sind ein direktes Ergebnis
von Vereinigungspolitik, wie Sie sie gestaltet haben.
Mindestens ebenso verheerend für die wi rtschaftli-
che Lage im Osten Deutschlands hat sich die Ent-
scheidung der Bundesregierung ausgewirkt, die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
Rückgabe alten Eigentums der Entschädigung für al- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
tes Eigentum vorzuziehen.
Wer, Herr Bundeskanzler, die zurückliegenden
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Leider, lei fünf Jahre bilanziert, wird feststellen: Nach ihren un-
der!) bestrittenen Verdiensten beim Zustandekommen der
Daraus ist das Investitionshemmnis Nummer eins im deutschen Einheit hat die Bundesregierung, hat der
Osten Deutschlands geworden, Bundeskanzler bei der Gestaltung der deutschen
Einheit schwere Fehler gemacht. Im Streit um die -
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne tauglicheren Lösungen gab es bessere Vorschläge.
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
und der PDS) Unbestreitbar richtig war der Vorschlag, die Finan-
zierung der deutschen Einheit auf eine allgemeine
mit allen Folgen für den wi rtschaftlichen Aufbau und
Grundlage zu stellen und von einer realistischen Ein-
die Arbeitsplätze.
schätzung der Schwierigkeiten auszugehen.
So sehr man sich über gute Entwicklungen freuen
kann: Die Bilanz bleibt unvollständig und wird zur Nachweislich war richtig, die Entindustrialisierung
Schönfärberei, wenn man auf solche Entwicklungen nicht so Platz greifen zu lassen und Vorschläge zur
nicht genauso deutlich hinweist. So, wie Sie damals Erhaltung der industriellen Kerne zu machen.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5083
Rudolf Scharping
Nachweislich hatten wir recht, daß ein Sanierungs- Im übrigen gibt es Leute, die Kassandra einen
auftrag für die Treuhand von Anfang an richtiger ge- schlechten Ruf bescheinigen. Aber: Hätten die an-
wesen wäre als der Privatisierungsauftrag. geblich klugen Männer auf sie gehört, wäre Troja
vermutlich nicht untergegangen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD)
Nachweislich hatten wir recht mit der Befürchtung, Es ist nicht richtig, den Eindruck zu erwecken, wir
daß die vorgesehene Behandlung der Eigentums- seien schon über den Berg. Es ist auch nicht richtig,
frage eine fatale Folge für Investitionen und das Ge- den Eindruck zu erwecken, wir könnten auf weitere
rechtigkeitsempfinden vieler Menschen hätte. Finanzhilfen verzichten. Aber mit dem Jahressteuer-
gesetz 1996 wird die steuerliche Förderung von Inve-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne stitionen ab 1997 um fast ein Drittel gekürzt, ab 1999
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) soll sie insgesamt auslaufen. Die Investitionsförde-
Nachweislich haben wir immer noch recht mit der rung geht um 15 Milliarden DM zurück. Im Bundes-
Forderung, daß es eine aktive Arbeitsmarktpolitik haushalt 1996 kommt es zu massiven Kürzungen.
geben muß, um Zeit und Zuversicht für die Men- Der Bewilligungsrahmen für die Gemeinschaftsauf-
schen zurückzugewinnen. gabe „Verbesserung der regionalen Wirtschafts-
struktur" wird auf 7 Milliarden DM gesenkt. Wer sich
(Beifall bei der SPD) den Finanzplan 1995 bis 1999 anschaut, so unse riös
er ist, stellt fest, daß weitere massive Einsparungen
Meine Damen und Herren, vor diesem Hintergrund
vorgesehen sind.
stehen wir vor neuen Herausforderungen und neuen
Entscheidungen. Wohl wahr, in den letzten fünf Jah- Es ist ziemlich absurd, die zehnprozentige Investi-
ren sind über die Steuerkassen hinaus insgesamt tionszulage für den innerstädtischen Handel im Jah-
rund 1 000 Milliarden DM in die neuen Bundesländer ressteuergesetz zu beschließen - ich füge hinzu: auf
geflossen. Niemand kann seriös voraussagen, wann unser Drängen -, auf der anderen Seite im Bundes-
dieser Prozeß zu einem Ende kommt. Eines aber muß haushalt die Städtebauförderung um 100 Millionen
man sagen, und das sage ich Ihnen mit den Worten DM zu kürzen.
von Klaus von Dohnanyi: Von einem selbsttragenden (Beifall bei der SPD)
wirtschaftlichen Aufschwung kann nicht gesprochen
werden. Von Dohnanyi schrieb im „Handelsblatt": Wer den mangelnden überregionalen Absatz ost-
deutscher Produkte beklagt, hat recht, denn die ost-
Das Wachstum ist immer noch vom Westtransfer deutsche Wirtschaft trägt nur einen ganz geringen
geschenkt, und die Ausgangsposition wird durch Teil zu unserem Expo rt bei. Um so unverständlicher
den dramatischen Einbruch markiert, den die ist es, daß die Absatzförderung um ein Drittel ge-
Wirtschaftsunion zwangsläufig auslösen mußte. kürzt wird.
Von diesem geringen Niveau aus bewirken auch
Jeder weiß, daß in Ostdeutschland reichlich For-
hohe Zuwachsraten nur sehr kleine Schritte in
schungs- und Entwicklungspotentiale vorhanden
Richtung auf die Angleichung zum Westen. Sehr
sind. Gleichzeitig werden die Mittel zur Förderung
wenig plus 10 ist zwar mehr, aber zunächst eben
von Forschung, Entwicklung und Innovation ge-
doch nur ein wenig mehr.
kürzt. Jeder redet von der Bedeutung von Umwelt-
(Beifall bei der SPD) schutz, Energiesparen und Fernwärme, gleichzeitig
aber werden die Mittel zur Sanierung der vorhande-
Meine Damen und Herren, man kann stolz sagen, nen Einrichtungen im Bundeshaushalt auf Null ge-
es gibt hohe Zuwachsraten; aber das bleibt unvoll- fahren. Es macht keinen Sinn, schöne Ziele zu be-
ständig und ist schönfärberisch, wenn man nicht das schreiben und dann Haushalte zu verabschieden, die
niedrige Niveau und die Tatsache berücksichtigt, nichts von dem einlösen, was in den Zielen beschrie-
daß viele Regionen im Osten Deutschlands in ihrer ben worden ist.
wirtschaftlichen Kraft hinter den schwächsten Regio-
nen Portugals, Spaniens oder Griechenlands zurück- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
bleiben. DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD) Wir sagen: Jawohl, die ostdeutsche Wi rtschaft
Meine Damen und Herren, die Rede von der dyna- braucht massive staatliche Unterstützung. Sie
misch wachsenden Region ist eine halbe Wahrheit. braucht dauerhafte verläßliche Förderung. Ein abge-
Der Aufschwung do rt steht auf wackeligen Beinen, brochener wirtschaftlicher Aufbauprozeß würde zu
so wie sich leider auch der Aufschwung in Deutsch- noch höheren Arbeitslosenzahlen und im Ergebnis -
land etwas abschwächt. zu einem wachsenden Transfer führen.
(Zuruf von der CDU/CSU: Miesmacher!) Deshalb beschreiben wir fünf Defizite und geben
eine Antwort auf sie.
- Das hat, verehrter Herr Kollege, mit Miesmacherei
überhaupt nichts zu tun, sondern mit einer ehrlichen Erstens. Es klafft eine riesige Lücke zwischen dem,
Bilanz. Sie werden merken, daß eine ehrliche Bilanz was in den neuen Ländern konsumiert wird, und
das einzige Mittel ist, Vertrauen zurückzugewinnen, dem, was dort produziert wird. Diese Produktions-
lücke ist nicht, wie man annehmen könnte, verklei-
das auf eine fahrlässige Weise verspielt worden ist.
nert worden, sondern sie ist von 155 Milliarden DM
(Beifall bei der SPD) auf 211 Milliarden DM gewachsen. Also sagen wir:
5084 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
Rudolf Scharping
Es muß einen klaren Vorrang geben für die Förde- Deutschlands um 90 % zurückgegangen. Manage-
rung gewerblich-industrieller Arbeitsplätze und für mentfehler, unzureichendes Marketing - das alles
die Stärkung des Mittelstandes im Osten Deutsch- kann man beklagen. Vor allen Dingen aber ist die
lands. Eigenkapitalausstattung der Unternehmen zu
(Beifall bei der SPD) schwach. Eine Bundesregierung, die noch nicht ein-
mal in der Lage ist, in Berlin ihre öffentlichen Bauauf-
Zweitens. Das Bruttoanlagevermögen pro Kopf träge unter der Bedingung zu vergeben - wie der
der Bevölkerung ist im Osten heute nur halb so groß Berliner Senat es tut -, daß Menschen anständige Ta-
wie im Westen Deutschlands. Die Produktivität der riflöhne gezahlt bekommen, ruiniert Unternehmen
Arbeitnehmer erreicht deshalb nur etwas über 50 % und Arbeitsplätze. Das ist das praktische Ergebnis
des westdeutschen Niveaus. Die Lohnstückkosten Ihrer Politik.
freilich liegen 30 % über dem westdeutschen Niveau.
Deshalb sagen wir: Es wäre dringend erforderlich, (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei
daß diese Bundesregierung endlich eine Politik be- Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
treibt, die die Gesamtheit der Produzenten von den GRÜNEN)
Kosten der Einheit entlastet und die Einheit so finan-
ziert, wie es richtig ist, nämlich durch die Gesamtheit Meine Damen und Herren, eine Bilanz fünf Jahre
der Steuerzahler. Dazu hat Ihnen immer der Mut und nach der deutschen Einheit bleibt unvollständig,
immer die Konsequenz gefehlt. wenn sie sich nur auf das Gefühl und nur auf die un-
bestreitbar guten Entwicklungen bezieht. Es gibt er-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne hebliche Schwierigkeiten. Sie zu nennen ist die Vor-
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - aussetzung dafür, daß sich Kraft entfaltet, um sie zu
Joachim Hörster [CDU/CSU]: Sie sollten überwinden. Der Satz von Willy Brandt, daß zusam-
dann nur erst die A-Länder fragen!)
menwächst, was zusammengehört, ist unverände rt
Drittens. Die hohe Arbeitslosigkeit ist Ergebnis richtgundbleRsr Handel.Bi
und Ausdruck des wachsenden Maßes an Unterbe- all den Schwierigkeiten und komplizierten Entwick-
schäftigung. Es ist nicht richtig, wenn die Statistik lungen sagen wir: Wir brauchen Zeit. Folglich brau-
signalisiert, nur 13 % der Bevölkerung seien arbeits- chen wir auch Geduld, vor allen Dingen im Osten
los. Tatsächlich haben über 30 % der Menschen Deutschlands, und Solidarität im Westen Deutsch-
keine reguläre Arbeit. Wer verhindern will, daß eine lands.
weitere Auszehrung stattfindet, daß immer mehr
Jüngere in den Westen Deutschlands wandern, daß Wenn wir dazu auffordern, dann tun wir das in
andere ihre Heimat verlassen, wer verhindern will, dem Bewußtsein, daß die schlimmen und tiefen Fol-
daß daraus auch massive Folgen für die westdeut- gen der Spaltung im Inneren überwunden werden
schen Gemeinden und Länder bei den öffentlichen müssen und überwunden werden können im Inter-
Einrichtungen und bei der Infrastruktur entstehen, esse einer stabilen Demokratie und einer anerkann-
der muß dafür sorgen, daß es eine aktive Arbeits- ten Rechtsordnung, die Eckpfeiler inneren Friedens
marktpolitik gibt. Sich hier hinzustellen und zu be- und Wohlstandes sind. Was wir aber ebenfalls brau-
haupten, jeder habe einen Ausbildungsplatz gefun- chen, ist eine Kultur der gegenseitigen Anerken-
den, nung, die auf der enormen Anpassungsleistung der
Ostdeutschen und auf der großartigen Teilungsbe-
(Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: Das ist reitschaft der Westdeutschen aufbaut.
wahr!)
(Beifall bei der SPD)
das ist nicht nur eine Schönfärberei, Herr Bundes-
kanzler, sondern ein Hohn gegenüber den Zehntau- Es kann gelingen, eine gesamtdeutsche Wirklichkeit
senden junger Leute, die bis zuletzt mühsam darum zu gestalten, die ein besseres Deutschland bewirkt.
gerungen haben, überhaupt eine Chance zu bekom- Wenn wir eines Tages nicht mehr von „Westdeut-
men. schen" und „Ostdeutschen" im Sinne eines Spal-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne tungsmerkmales reden, dann haben wir viel erreicht.
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Zur Vollendung der deutschen Einheit auch auf
Viertens. Die ostdeutsche Wirtschaft ist zuwenig politisch-kulturellem Gebiet hat Günter Kunert
exportorientiert; folglich wird man hier helfen müs- jüngst einen richtigen Hinweis gegeben. Er sagte:
sen. Die lediglich 12 Milliarden DM Exporterlöse der
ostdeutschen Wi rt schaft reichen nicht aus. Folglich Es will auch mir nicht einleuchten, warum so et-
sollten Sie mithelfen und Ihre Mehrheit dafür einset- was wie eine Ausschaltung von Gegensätzen und-
zen, daß die Absatzförderung, die Exportförderung Widersprüchen wünschenswert sei - eine Harmo-
und vieles andere nicht gekürzt, sondern aufgestockt nie, die ausschließlich durch Uniformität zu ge-
werden. winnen wäre, eine mentale Gleichheit, wie sie
nur für Zombies vorstellbar ist. Unsere Wertur-
Fünftens. Im Osten Deutschlands erleben wir eine teile und unsere Vorurteile werden wir ohnehin
Pleitewelle, die mittlerweile die Erfolge der ersten nicht los. Wir müßten nur mit ihnen gelassener
Existenzgründungswelle zunichte zu machen droht. umgehen.
Es gibt nach wie vor zuwenig Unternehmer. Es gab
einen Gründungsboom Anfang der 90er Jahre. Aber (Beifall des Abg. Hans Büttner [Ingolstadt]
jetzt sind die Nettogewerbeanmeldungen im Osten [SPD])
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5085
Rudolf Scharping
Auch wenn es vielen in Deutschland schwerfällt: dann muß ich Sie doch einmal fragen: Wie ist es denn
Gelassenheit und Entschlossenheit auf der Grund- 1989/90 gewesen? Kaum war die Mauer offen, haben
lage einer realistischen Bilanz, auf der Grundlage die Sozialdemokraten von Wiedersehen statt von
des festen Willens, begangene Fehler konsequent zu Wiedervereinigung gesprochen. Dann kam Herr La-
korrigieren, sind die Voraussetzungen dafür, daß wir fontaine und wollte das Aufnahmeverfahren für
Schaffenskraft und Gestaltungswillen der Bürgerin- Übersiedler stoppen, damit der Prozeß möglichst wie-
nen und Bürger weiter wecken und fördern. Beides der unterbrochen wird.
brauchen wir in Deutschland mehr denn je.
(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr wahr!)
(Langanhaltender Beifall bei der SPD - Bei
fall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Dann ist man in der damaligen DDR herumgereist
bei Abgeordneten der PDS) und hat gesagt: Es ist viel zuwenig, was der Westen
zahlt. Gleichzeitig hat man im Westen gesagt: Es
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster wird viel zu teuer.
spricht der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU,
Dr. Wolfgang Schäuble. Herr Romberg ist doch nicht auf Druck der Bundes-
regierung abgelöst worden, sondern auf Druck von
Herrn Lafontaine.
Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Frau Präsi-
dentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ei- (Lachen bei der SPD - Wolfgang Thierse
gentlich ist mir an diesem Tag und bei diesem Anlaß [SPD]: Quatsch!)
nicht zum Streiten zumute.
- Herr Thierse, Sie wissen es ganz genau.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
ordneten der F.D.P.) (Wolfgang Thierse [SPD]: Ich weiß es ge-
Ich finde, die deutsche Einheit in Frieden und Frei- nau!)
heit ist auch nach fünf Jahren Grund zur Freude und
Dankbarkeit. Deswegen will ich Sie daran erinnern. Auf Druck von
Herrn Lafontaine ist Richard Schröder als Vorsitzen-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) der der SPD-Fraktion in der Volkskammer an die
Seite geschoben worden, weil man aus der Großen
Deswegen, Herr Bundeskanzler, möchte ich Ihnen Koalition und der gemeinsamen Verantwortung in
für die CDU/CSU-Fraktion für Ihre Regierungserklä- der damaligen DDR herauswollte.
rung danken und unsere Zustimmung ausdrücken.
Sie haben vielen gedankt, die in den dramatischen (Wolfgang Thierse [SPD]: Das ist Unsinn!
Monaten 1989/90 Entscheidendes dazu beigetragen De Maizière war doch nicht der verlängerte
haben, daß die Einheit gelungen ist. Ich füge hinzu: Arm von Lafontaine!)
In diesen Dank schließe ich ausdrücklich Bundes-
kanzler Helmut Kohl ein, ohne dessen mutiges Zu- Ich nutze gerne die Gelegenheit, Lothar de Mai-
packen wir die Einheit auch nicht erreicht hätten. zière und Günther Krause für ihren Beitrag zur deut-
schen Einheit zu danken.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Natürlich muß man immer zwischen Mut und Miß- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
mut unterscheiden können. Für ein so großes Werk,
wie nach 45 Jahren der Teilung und Sozialismus in Ich will es in aller Ruhe sagen. Zu einer ehrlichen
einem Teil Deutschlands in kurzer Zeit die Einheit, Bilanz gehört auch, daß man über die Probleme, über
Soziale Marktwirtschaft, wi rt schaftlichen Wohlstand, das, was noch zu schaffen ist, redet. Aber man darf
soziale Sicherheit in ganz Deutschland herzustellen, bei der ehrlichen Bilanz auch nicht vergessen, was
braucht man mehr Mut als Mißmut. Deswegen sind erreicht worden ist und welches die ungeheuren Vor-
wir mehr für die Regierungserklärung als für das, teile sind. Auch das muß gesagt werden, sonst ist es
was Herr Scharping als Kontrastprogramm geboten keine Bilanz, sonst ist es Miesmacherei. Mit Miesma-
hat. cherei gewinnen wir die Zukunft nicht.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Herr Kollege Scharping, ich will wirklich nicht
noch einmal den Wahlkampf des Jahres 1990 führen. Zu der Bilanz gehört beispielsweise, daß sich die
Sie haben mich in Ihrer Rede streckenweise an Ihren Menschen in Deutschland wieder frei bewegen kön-
Vorgänger als gescheiterten Kanzlerkandidaten aus nen. Was das bedeutet, wissen die Menschen in Ber- -
dem Jahre 1990 erinnert. Dieser hat damals in der lin noch sehr genau. Selbst ich kann mich noch erin-
Ratifizierungsdebatte zum Einigungsvertrag eine nern, was es bedeutet hat, wie man aufgeatmet hat,
Dreiviertelstunde geredet. Aber er hat nicht einmal wenn man aus dem Ostsektor wieder im Westen war
ja zur Einheit gesagt. Man mußte sich wirklich wun- oder wenn man auf der Interzonenbahn die Kontrolle
dern, wozu er redet. So ähnlich war es auch bei Ih- hinter sich gebracht hatte.
nen.
Wir beklagen manchmal zu Recht ein Übermaß an
Wenn Sie aber am Anfang Ihrer Rede - das muß Perfektionismus unseres Rechtsstaates. Aber den
zurückgewiesen werden - von einer Politik der Täu- Druck, den man empfunden hat, wenn man in einem
schung und der Übervorteilung gesprochen haben, System war, wo kein Rechtsstaat herrschte, wo man
5086 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
und der F.D.P.) ordneten der F.D.P.)
Herr Scharping, als Sie von Kassandra und Troja ge-
und unsere Beiträge dazu zu leisten, daß die Europä-
redet haben, habe ich an Magdeburg gedacht. Pas-
ische Union vorankommt, aber zugleich auch die
sen Sie auf, daß Sie mit Ihrer Zusammenarbeit mit
Kraft und Dynamik bewah rt , sich nach Osten zu er-
der PDS nicht zum trojanischen Esel werden, der den
weitern. Wir müssen unseren russischen Freunden
Feinden der Demokratie das Tor neu öffnet!
immer wieder erklären, daß die europäische Eini-
gung nicht gegen sie gerichtet ist, sondern auf Zu- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
sammenarbeit auch mit Rußland angelegt ist. Wir ordneten der F.D.P. - Joseph Fischer
wollen nicht eine Konfrontation, sondern wir wollen [Frankfu rt ] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Zusammenarbeit, weil wir nur in einem Europa der Da habe ich doch heute morgen Herrn Gysi
Zusammenarbeit den Frieden, die Freiheit, die De- und Herrn Kohl zusammen auf einem Foto
mokratie und die Menschenrechte sichern und zum gesehen! Das war in Frankfu rt !)
wirtschaftlichen und sozialen Wohlstand aller beitra-
gen können. - Herr Fischer, zu einer vernünftigen und realisti-
schen Bilanz gehört z. B. auch, einmal zu verglei-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir reden oft dar- chen, was unter dem real existierenden Sozialismus
über: Wie können die Deutschen das, was sie nach an Umweltschäden ange ri chtet worden ist und was
45 Jahren an unterschiedlichen Erfahrungen, an un- die Soziale Marktwirtschaft unter der Regierung von
terschiedlichen Lebenswegen und Lebenswelten Helmut Kohl in den letzten fünf Jahren an Umwelt-
trennt, überwinden? Es ist trennender, als viele, auch schäden beseitigt hat. Darüber ist mit keinem Wo rt
ich, 1990 geglaubt haben. Aber es ist eigentlich lo- gerdtwon.
gisch. Jemand, der so alt ist wie ich, hat bis zur deut-
schen Einheit immer nur in einem geteilten Deutsch- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. -
land bewußt gelebt. Ich bin 1942 geboren. Soweit ich Joseph Fischer [Frankfu rt ] [BÜNDNIS 90/
mich zurückerinnern kann, war Deutschland schon DIE GRÜNEN]: Kommt jetzt die Ökosteuer,
geteilt. Wir waren sehr getrennt, und die Menschen oder kommt sie nicht? - Heiterkeit beim
in der DDR waren eingesperrt. Deswegen sind un- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD
sere Einstellungen und Erfahrungen so unterschied- und der PDS)
lich. Wir müssen aufeinander zugehen, miteinander, - Das ist das Niveau, mit dem Sie über die Probleme
nicht übereinander reden, dürfen nicht auseinander- der deutschen Einheit reden, Herr Kollege Fischer.
treiben, nicht die einen gegen die anderen ausspie-
len und nicht über die Probleme hinwegreden. Wir (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
dürfen aber die Fortschritte, die erreicht worden ordneten der F.D.P.)
sind, nicht vergessen und das Große und Gute neben
Das Allerwichtigste ist, daß wir begreifen - das
dem, was weiter zu tun ist, nicht aus dem Blick ver-
wiederhole ich -, daß es die Verpflichtung für uns
lieren.
selbst in der Mitte Europas, aber auch für unsere
Wir finden, glaube ich, am besten zusammen, Nachbarn in Europa in West und Süd und in Nord
wenn wir über unsere gemeinsamen Aufgaben, über und Ost ist, zum Frieden, zur Freiheit und zur Demo-
unsere gemeinsame Verantwortung für unsere Zu- kratie in Europa beizutragen.
kunft und für die Zukunft Europas stärker nachden- Weil wir die deutsche Einheit der europäischen Ei-
ken. Das Allerwichtigste für die nächsten Jahre wird nigung, dem Mitwirken und dem Einsatz unserer
neben der Fortsetzung der Hilfe für den Aufbau der Nachbarn und Freunde in Ost und West verdanken,
neuen Bundesländer und der Lösung der Probleme, schulden wir die deutsche Einheit dem Frieden in
die noch zu lösen sind und die wir Woche für Woche, Europa. Deswegen müssen wir uns für die europä-
angefangen beim Renten-Überleitungsgesetz, im ische Einigung sowie für die Bewahrung, Wiederher-
Bundestag bearbeiten müssen, sein, zu begreifen, stellung und Sicherung des Friedens in Europa ein-
daß wir eine gemeinsame Verantwortung haben, un- setzen, und zwar, Herr Kollege Fischer, nicht nach
ser Land als eine stabile freiheitliche Demokratie dem Prinzip: Wir kämpfen bis zum letzten Franzosen,
auch in der Zukunft zu bewahren. wie Sie es schriftlich verkünden, sondern nach dem
Prinzip, daß wir das, was wir von anderen fordern,
Für den Rechtsstaat, für den inneren Frieden ist auch selbst zu leisten bereit sind. -
eine Menge zu tun. Man muß den Rechtsstaat z. B.
verteidigen und darf ihn nicht verkommen lassen, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
wie es bei den Chaostagen in Hannover geschehen
ist. Wenn der Rechtsstaat nicht durchgesetzt wird, Wenn wir die Aufgaben und Herausforderungen
verkommen Freiheit und Recht. so verstehen, vor die wir Deutsche uns heute gestellt
sehen, sowie unsere Verantwortung für uns selbst
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) und für andere wahrnehmen, kann uns dies helfen,
zu uns selbst zu finden. Das ist vielleicht der beste
Da gibt es noch anderes. Man sollte z. B. daraus ler Weg, unsere Identität zu erklären; wir sollten nicht
nen, daß man mit denjenigen, die nicht sicher für abstrakt darüber diskutieren.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5089
Dr. Wolfgang Schäuble
Ich bin ganz sicher, daß jeder gemeinsame Erfolg Steuererklärung bis hin zum Rufzeichen im Telefon.
bei diesen Bemühungen die Frage klarer beantwor- Alles, aber auch alles hat sich verändert. Durch die
ten wird, wer wir sind und was wir wollen. Ich bin Art der Vereinigung allerdings, die eine Mischung
sicher, daß wir im Verstand wie im Herzen - denn aus Beitritt und kollektivem Ausreiseantrag war, ist
beides, Ratio und Emotio, gehört zusammen; das Ge- ihnen bei allem Für und Wider zunächst das abver-
fühl der Menschen ist auch wichtig - die Gemein- langt worden, was sie zuallererst abschütteln woll-
schaft begründen, die notwendig ist, schwierige Zei- ten: das erzwungene Anpassungsvermögen.
ten zu bestehen, die in der Zukunft gewiß vor uns lie-
gen. Die Westdeutschen haben diese rasante Lebens-
umstellung teils ganz persönlich und vor allem fi-
Die Herausforderungen und die Veränderungen in nanziell unterstützt. Sie haben hier in dankenswerter
der Welt sind groß. Der Friede und auch die Umwelt Weise Wichtiges und Wertvolles geleistet.
bleiben bedroht. Die Demokratie muß immer neu be-
wahrt werden. Aber mir ist vor diesen Herausforde- Doch für sie ist die neue Bundesrepublik eigentlich
rungen nicht bange. Ich finde, wir haben gerade fünf die alte geblieben. Leider wurde der Aufbruch des
Jahre nach der deutschen Einheit überhaupt keinen Ostens nur als Zusammenbruch des Systems verstan-
Grund zu Pessimismus und Mißmut, sondern wir ha- den, wurde die Chance zur Inventur in Ost und West
ben allen Grund zu Mut und Zuversicht. So - dessen verkannt oder nicht gewollt, wurde die demokrati-
bin ich sicher - dienen wir am besten der Einheit, sche Reformchance vertan. Hätte man den Elan zur
und so sichern wir am besten unsere Zukunft. politischen Veränderung aufgegriffen, wäre schnell
(Langanhaltender Beifall bei der CDU/CSU klar geworden, daß die Ostdeutschen mehr als ein
und der F.D.P.) Dauerlamento, verschlissene Bet riebe oder einen un-
aufgeräumten Keller voller Stasi-Akten in die Einheit
einbringen.
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Es spricht jetzt der
Kollege Werner Schulz. Verschwunden ist der Instant-Glaube, daß man ein
Westkonzentrat nur kräftig umrühren muß, um sofort
Werner Schulz (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- die fertige Lösung zu bekommen. Heute ist klar: Es
NEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! gibt keine schnellen und schon gar keine billigen Lö-
Ich hatte eigentlich geglaubt, daß uns heute bei eini- sungen. Wir Ostdeutschen werden die verlorenen
gem zeitlichen Abstand zum 3. Oktober eine Diskus- Jahre vermutlich erst in Generationen aufholen.
sion mit Feiertagspathos erspart bleibt. Doch warum konnten und können wir uns darüber
nicht verständigen? Politik muß doch Orientierung
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN geben und mehr sein als schnelles Reagieren und
sowie bei Abgeordneten der SPD und der Aussitzen.
PDS)
Die Einheit, Herr Bundeskanzler, war kein Glücks-
Schließlich ist ein Jubiläum ohne großen Jubel vor-
fall, sondern die Selbstbefreiung einer aktiven Gene-
bei. Vielleicht können wir das nächste Mal sogar dar-
ration,
auf verzichten, mit großem Zapfenstreich die Einheit
der Armee als Zeichen unserer wiedererlangten Sou- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
veränität zu demonstrieren. Das brauchen wir am al- und bei der SPD)
lerwenigsten.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die ihre Leistungsbereitschaft ins vereinte Deutsch-
sowie bei Abgeordneten der PDS) land einbringen wollte und zusehen mußte, wie das
Volkseigentum und die Arbeitsplätze verlorengin-
Die Stimmung im Land hat sich zwischen Euphorie gen, wie im Zeitraffertempo ein halbes Volk zum
und Ernüchterung eingependelt. Weder die begei- Hans im Glück geworden ist.
sterten Optimisten noch die Katastrophen vorausse-
henden Pessimisten haben recht behalten. Nach wie Warum konnte diese Bundesregierung den Bürge-
vor gehen im Osten Lage und Stimmung auseinan- rinnen und Bürgern nicht wenigstens die Wohnun-
der. Vielen geht es heute materiell besser als vor fünf gen zum symbolischen Preis überlassen,
Jahren. Sie fühlen sich politisch frei, aber sozial unsi-
cher. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Die demokratischen Grundrechte gehören zur
Grundausstattung dieser Republik, Werte, die ge- wo sie doch weiß, daß Eigentum verpflichtet, wo sie
rade nach Jahrzehnten der Unterdrückung, der ideo- doch weiß, daß es in der DDR keine Vermögensbil-
logischen Bevormundung und der geistigen Enge dung gab, wo heute viele den drastischen Anstieg
zählen. Andererseits sind die alten sozialen Sicher- der Wohnkosten erleben, obwohl sich die Wohnungs-
heiten weggebrochen und die neuen noch nicht qualität oder der Service der Wohnungsverwaltun-
greifbar oder ungewiß. gen nicht verbessert hat? Sie erleben heute Miet-
(Zuruf von der CDU/CSU: Welche denn?) erhöhungen als soziale Bedrohung und nicht als Ein-
bindung in die neue Gesellschaft.
Im Osten wurde Enormes geleistet. Die Ostdeut-
schen mußten in kürzester Zeit die völlige Verände- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
rung ihrer Lebensverhältnisse bewältigen, von der und bei Abgeordneten der SPD)
5090 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
We rn er Schulz (Berlin)
Immerhin wurden ja Banken und Bet riebe für'n Das liegt auch daran, Herr Bundeskanzler, daß Sie
Appel und 'n Ei verkauft - übrigens ein Naturalzah- am 3. Oktober 1990 nicht den Mut hatten, die Neu-
lungsmittel, das seit der Währungsunion offenbar ordnung Deutschlands anzugehen, daß Sie den Epo-
hoch im Kurs steht. cheumbruch nicht als Reformchance begriffen ha-
ben,
(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
daß Sie in einer historischen Umbruchsituation dar-
Ich möchte auch mit einer anderen Legende auf- auf verzichtet haben, die Fülle der in der Gesell-
räumen, Herr Bundeskanzler; auch Herr Schäuble schaft vorhandenen Sachkompetenz und Bereitschaft
bedient das ja immer so wunderbar: „Verrat" und zur Mitverantwortung aufzugreifen, daß Sie die Ein-
„Verweigerer der deutschen Einheit" . Das sind im- heit eben nicht als Gestaltungschance beg riffen, son-
mer diese tollen Verschwörungsdiskussionen. Ich dern als Wahlkampfrennen veranstaltet haben.
will Ihnen sagen, was es gab: keinen Verrat; es gab
keine Visionen für dieses vereinigte Deutschland, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
keinen Bauplan, noch nicht einmal Skizzen. und bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der PDS)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich erinnere: „Allianz für Deutschland" hieß die
Weder Ihre Deutschlandpolitik, die der Union, noch Allunionsversicherung, die sich heute schwertut, ihre
die Strategie „Wandel durch Annäherung" haben Garantien einzulösen und ihre eigenen Schadens-
den Durchbruch geschafft. Selbst die Dissidenten, fälle zu übernehmen. Schon wieder wird der Solidari-
selbst wir, die wir vielleicht die einzigen wenigen wa- tätszuschlag ganz bewußt zum Wahlkampfthema ge-
ren, die dem SED-Regime noch Widerstand entge- macht. Schon wieder werden Sympathietests auf
dem Rücken der Solidarität veranstaltet.
gengebracht haben, haben ja nicht geglaubt, daß
sich der Mauerdurchbruch eines Tages ereignen Nicht die innere Einheit ist unser Problem, meine
könnte, daß ein bis an die Zähne bewaffneter Staat Damen und Herren; das ist eher ein Suchbild mit
plötzlich zusammenbricht wie eine Plattenbausied- fragwürdigem Inhalt. Die innere Einheit, das Zusam-
lung, in der die Armierung durchgerostet ist. mengehörigkeitsgefühl der Deutschen, ist längst da,
stärker, als uns offenbar bewußt ist. Heute läßt sich
(Zuruf von der F.D.P.: Wir aber! - Zurufe feststellen: Die Akzeptanz der staatlichen Vereini-
von der CDU/CSU) gung ist gewachsen, allerdings auch die Kritik an de-
ren Folgen.
Vielleicht wäre es gut gewesen, Herr Bundeskanz-
ler, Sie wären schon früher einmal in den Prenzlauer Niemand will die DDR wiederhaben oder erhebt
Berg zu den mutigen Bürgerrechtlern gefahren. ernsthaft die Forderung nach Zweistaatlichkeit. Den-
noch besteht eine nationale Schieflage.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Was wir brauchen, ist ein inneres Gleichgewicht.
sowie bei Abgeordneten der SPD) Wie weit wir davon noch entfernt sind, kann jeder er-
messen, der einmal drüben war. Vielleicht ver-
Dann hätten Sie etwas über deren Vorstellungen ge- schwindet in einigen Jahren sogar dieses Trennwort
hört, wie sie sich den Weg zur deutschen Einheit vor- aus unserem Sprachgebrauch. Vielleicht ist das ein
gestellt haben, nämlich durch einen demokratischen Kriterium dafür, wie die Einheit entsteht; so wie die
Prozeß, und dann hätten Sie nicht mit dieser Igno- Ostdeutschen lernen, daß die Zeit der Westpakete
ranz das Vermächtnis des Runden Tisches, die Ver- vorbei ist.
fassung des Runden Tisches weggewischt.
Von Anfang an hat ein solider, klar umrissener La-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stenausgleich gefehlt. Er kam durch die Hintertür:
sowie bei Abgeordneten der SPD) Der Kanzler hat den Ostdeutschen versprochen, die
D-Mark zu bringen, und den Westdeutschen gesagt,
Das bleibt als Makel stehen. Der Art. 146 GG zeigt, daß er sie ihnen nicht nehmen will. Das eine hat er
daß Sie über die Köpfe der Leute hinweg die deut- gehalten, das andere nicht. An diesem wunden
sche Einheit gemacht haben. Sie haben den Ruf „Wir Punkt laborieren wir noch heute.
sind das Volk" nicht ernstgenommen, so wie gerade
eine große Volkspartei in Bayern ganz weit neben (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
der direkten Demokratie stand. sowie bei Abgeordneten der SPD)
Es ist wahr, meine Damen und Herren, bisher ist
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN viel erreicht worden: Ohne Fünfjahresplan ist der
sowie bei Abgeordneten der SPD) Aufbau in den neuen Ländern ein gutes Stück voran-
gekommen. Verwaltungen arbeiten, das Rechtssy-
Noch immer fehlt ein politischer Entwurf für das stem funktioniert, Löhne und Renten nähern sich -
vereinte Deutschland. Genauer betrachtet, lebt wenn auch manchem viel zu langsam - dem west-
Deutschland noch immer in zwei Gesellschaften. deutschen Niveau an, die Qualität der Infrastruktur
wird immer besser, die Wiederbelebung der Wi rt
(Widerspruch bei der CDU/CSU) -schaftzeigrsEfolge.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5091
Werner Schulz (Berlin)
Es wäre verbohrte Opposition gegenüber dieser Ausgleich für Bonn kosten? Muß Bonn erst in Berlin
Regierung, nicht anzuerkennen, daß auch ihr Bemü- nachgebaut werden, oder können nicht vorhandene
hen um den Aufbau Ost nicht völlig erfolglos war. Möglichkeiten besser genutzt werden? Welche För-
Der Bundeskanzler hat eine Bilanz geboten, was er dermittel und -maßnahmen erhalten andere Pro-
alles auf der Glanzseite seines Guthabens sieht. Al- blemregionen? Schaffen wir mit Berlin-Bonn nicht ei-
lerdings verdeckt seine Regierungspolitik der Wo rt nen schwer nachvollziehbaren Maßstab?
-undWertschöpfg,aßwieChncvrta
Wie kann der Sozialstaat durch die stärkere Beteili-
hat, z. B., daß mit dem Neuaufbau der Verwaltung in
gung, durch das stärkere Engagement der Staatsbür-
den neuen Ländern auch eine Verwaltungsreform in
ger gesichert werden? Wie können die Renten gesi-
ganz Deutschland hätte durchgreifen können.
chert werden - hier hat die Regierung sicherlich
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht ganz uneigennützig schon vieles getan -, und
sowie bei Abgeordneten der SPD) wie kann gleichzeitig den Kindern und Jugendlichen
eine angemessene Perspektive eröffnet werden?
So wurden die verkrusteten Strukturen, ein Wust an Wieviel Beamte braucht dieser Staat, und wo braucht
Vorschriften einfach unkritisch in den Osten übertra- er sie? Das sind Fragen und vor allen Dingen auch
gen. Hier wurde ein Investitionshemmnis ersten Ran- Versäumnisse.
ges geschaffen. Hätte die alte Bundesrepublik in ih-
ren Gründerjahren auf ein solch kompliziertes Regel- Aber in den letzten Jahren sind auch schwerwie-
werk, auf eine solche Regelungsdichte zurückgreifen gende Fehler passiert: So sieht der Einigungsvertrag
müssen, ich glaube, sie würden noch heute auf das keine Korrektur von Fehlentwicklungen vor. Es gibt
Wirtschaftswunder der 50er Jahre warten. keine Öffnungsklausel, nach der falsche Weichen-
stellungen berichtigt werden können. Er hat sich vie-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lerorts als Korsett für den Gestaltungswillen im Osten
sowie bei Abgeordneten der SPD) erwiesen.
Statt den industriellen Aufbau der neuen Bundes- Oder nehmen Sie z. B. nur die Altschulden. Hier
länder für den ökologischen Strukturwandel in ganz lauert ein Konflikt, gegen den die Zwick-, Schneider-
Deutschland zu nutzen, wurde die schnelle Priva- und Graf-Affären wirklich Peanuts sind. Mit einem
tisierung durch die Treuhand priorisiert und wurden Federstrich wurden aus willkürlichen Verrechnungs-
westdeutsche Gebrauchsmuster übernommen. Statt einheiten D-Mark-Schulden in der Landwirtschaft,
die Hauptstadtfrage eindeutig im Einigungsvertrag beim Wohnungsbau, in den Kommunen oder bei vie-
zu regeln und mit dem schnellen Regierungsumzug len Betrieben der Treuhand. Obwohl ansonsten alles
nach Berlin ein Beispiel für den Umbau zu leisten, abgewickelt wurde, alles negiert wurde, wurde hier
wurde eine quälende Ersatzdebatte zur deutschen einer der fragwürdigsten Posten aus dem Unrechts-
Einheit zugelassen. Statt den Zusammenschluß für staat ohne Abstriche in den Rechtsstaat übertragen.
eine Bestandsaufnahme der sozialen Systeme zu nut-
zen, wurden die Sozialkassen für den Aufbau Ost (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zweckentfremdet. Nicht einmal ansatzweise wurde sowie bei Abgeordneten der SPD)
die deutsche Einheit als Ausgangspunkt für einen Gewinner sind die Banken, über die diese Forderun-
Reformprozeß genutzt. gen gekommen sind wie die Sterntaler im Märchen.
Zwar hat jetzt die Bundesregierung das Haupt- Die gleichen Banken, die die großen Gewinner der
manko des Einigungsvertrages, daß die neuen Län- Einheit sind, lassen heute die ostdeutschen Existenz-
der die ersten vier Jahre nicht in den Länderfinanz- gründer bei der Vergabe von Risikokapital im Stich.
ausgleich einbezogen waren, durch einen Solidar- Wegen der sogenannten kommunalen Altschul-
pakt ausgeglichen, doch war dieser Pakt mehr ein den will der Bundesfinanzminister in der kommen-
Vertrag der Länder zu Lasten des Bundes, wie über- den Woche sogar Mahnbescheide an 1 200 ostdeut-
haupt der Beitrag der Länder zur deutschen Einheit sche Kommunen verschicken. Dabei brauchen wir
nicht gerade ein Ruhmesblatt der föderalen Ge- keine buchhalterische, sondern eine politische Lö-
schichte darstellt. sung.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) sowie bei Abgeordneten der SPD)
Ein wirklicher Solidarpakt im Sinne eines Grundkon- Der Bundesfinanzminister leistet dem Aufbau Ost ei-
senses, im Sinne eines neuen Gesellschaftsvertrages, nen sehr fragwürdigen Dienst, wenn er weiterhin auf
den diese Republik unbedingt braucht, steht aller- seiner sturen Position beharrt und womöglich ein
dings erst noch aus. weiteres Mal durch Karlsruhe belehrt wird.
Eine Regierung im vereinten Deutschland muß Die Bundesregierung hat es bisher vorgezogen,
sich an der Zukunftsdebatte messen lassen. Hier ei- auf eine Gesamtschau der Entwicklung zu verzich-
nige Themen: Können wir unsere föderale Grund- ten. Seit fünf Jahren gibt es keine verbindliche Dar-
ordnung auch angesichts der europäischen Entwick- stellung des Entwicklungsstandes, keine Zielvorga-
lung tatsächlich noch mit 16 bzw. 15 Ländern auf- ben, keine Kriterien, keine Zeithorizonte. So begei-
rechterhalten? Oder sollten nicht dem Beispiel Ber- stert, wie früher der Be richt zur Lage der Nation dis-
lin-Brandenburg andere folgen? Was wird aus dem kutiert wurde, so wenig scheint die Bundesregierung
Aufbau einer modernen Infrastruktur? Was darf sie heute an Klarheit, Verbindlichkeit und Übersicht in-
kosten? Was dürfen der Umzug nach Berlin und der teressiert zu sein. Das Motto des Bundeskanzlers lau-
5092 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
Werner Schulz (Ber li n)
tet: Wer nichts verspricht, dem kann man nachher Geradezu paradox ist es allerdings, daß ausgerech-
auch keine Vorwürfe machen, und der Vorwurf der net der Kanzler, der die höchste Arbeitslosigkeit seit
Steuerlüge bleibt dem erspart, der sich zur Steuer- der Weimarer Republik zu verantworten hat, in einer
politik gar nicht erst äußert. Situation, in der ganze Jahrgänge in den Vorruhe-
stand gehen, über das verdiente Rentenalter hinaus
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einen Dauerarbeitsplatz besetzen will.
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Die politische Entscheidung zur Einheit Deutsch-
Insofern brauchen wir einen Be richt zur Entwick- lands war wi rt schaftlich falsch. Damit wurde ein
lung der deutschen Einheit. Wir sollten nicht aus den Schock ohne Therapie ausgelöst, der viele Bet ri ebe
Sensationsmeldungen deutscher Wochenmagazine die Existenz kostete. Das ist heute unumst ri tten. Da-
über die nächsten Milliardengräber informiert wer- mit ist zwar der Übergang von der Plan- zur Markt-
den, sondern diese Regierung hat die Auskunfts- wirtschaft gelaufen, aber er ist nicht gelungen. In
pflicht. diesem Zusammenhang von einer einzigartigen Er-
folgsstory zu sprechen, wie der Wi rt schaftsminister
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN das tut, ist zumindest für einen ehemaligen Treu-
sowie bei Abgeordneten der SPD) handdirektor ein erschreckender Fall von Verantwor-
tungsvergessenheit.
Die kostenlose Einheit hat sich als grandiose Illu-
sion erwiesen. Im fünften Jahr der deutschen Einheit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
hat die Staatsverschuldung eine neue Rekordmarke
erreicht. Eine Haushaltskonsolidierung ist nicht in Zumindest ein paar Moritaten müßten ihm doch noch
Sicht. Gespart wird allenfalls bei Sozialhilfe und Ar- geläufig sein.
beitslosengeldern, also bei den Ärmsten in dieser im-
mer noch reichen Gesellschaft. Es wäre schon gut ge- Sicher, der Aufschwung Ost findet statt, nur kann
wesen, meine Damen und Herren von der Regie- er nicht alle gebrauchen. Auch das ist eine herbe Er-
rungsbank, die Beamten und Selbständigen an der fahrung aus fünf Jahren Währungs-, Wirtschafts- und
Rentenkasse und damit an der deutschen Einheit zu Sozialunion, von der immerhin mehr erwartet wurde
beteiligen. Dann hätten wir an dieser Stelle kein Mil- als eine Konkursverwaltung mit Sozialplan.
liardenloch.
Noch steht die ostdeutsche Wi rt schaft nicht auf ei-
genen Beinen, noch hängt das Wachstum am Förder-
Ost- und Westdeutsche wurden immer wieder im
mitteltropf. Noch ist die indust rielle Basis zu
unklaren gelassen über die mit der Vereinigung ver-
schwach, und andere Wi rt schaftszweige können
bundenen Umwälzungen und auch Belastungen.
nicht im erforderlichen Umfang wachsen.
Das ständige Theater um Einführung, Abschaffung,
Wiedereinführung und Absenkung des Solidarzu-
Die Wertschöpfung in den neuen Bundesländern
schlags ist ermüdend, frustiert und erzeugt Ableh-
muß steigen, und das unter verschärften weltweiten
nung. Die Regierung muß den Bürgern in Ost und
Konkurrenz- und Wettbewerbsbedingungen. Immer-
West endlich klar sagen, was auf sie zukommt, wel-
hin haben Polen und Tschechien einen selbsttragen-
che Veränderungen notwendig sind und welche La-
den Aufschwung auf niedrigem Niveau erreicht. Die
sten zu tragen sind.
neuen Bundesländer sind hingegen noch weit davon
entfernt, ihr höheres Einkommen selbst zu erzeugen.
Es wäre gut, wenn wir nicht gleich in die nächste Auch das hat Einfluß auf die Stimmung.
Währungsunion hineinstolperten, wenn der Finanz-
minister zumindest aus dieser lernte und durch dis- Fünf Jahre nach der staatlichen Vereinigung
krete Hilfe den osteuropäischen Staaten die Annähe- Deutschlands gibt es noch nicht den Wirtschafts-
rung an die EU ermöglichte, anstatt durch Indiskre- standort Deutschland, sondern deren zwei, einen
tion ein finanzpolitisches Kerneuropa heraufzube- westdeutschen, dessen strukturelle Defizite jetzt ans
schwören. Licht kommen, und einen östlichen, der sich trotz
mancher positiven Entwicklung in einer immer noch
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schwierigen Situation befindet.
Die wichtigste und vorrangigste Aufgabe, an der Heute gibt es kein Ostprodukt mehr mit bundes-
sich jede Regierung im vereinten Deutschland mes- weiter oder gar internationaler Bedeutung, weder im
sen lassen muß, ist die Eindämmung der Arbeits- Konsumgüter- noch im Investitionsgüterbereich.
losigkeit. Es gilt, neue Arbeitsplätze und damit
Vertrauen in die Zukunft zu schaffen. Das ist zual- In Ostdeutschland sind kaum noch größere Unter-
lererst natürlich eine Herausforderung an die Wi rt nehmen. Es gibt keinen einzigen überregional wich-
-schaft. tigen und wirklich ständigen Firmensitz. Infolgedes-
sen zeigt sich die Industrie als die entscheidende
Aber vorhandene Arbeit muß auch gerecht verteilt Schwachstelle der ostdeutschen Wirtschaft. Hier ist
werden. Vielleicht können wir hier mit unseren Er- Strukturpolitik erforderlich. Die Bundesrepublik hat
fahrungen aus der Mangelgesellschaft behilflich es bisher vermieden, diese zu betreiben. Und da, wo
sein, zumindest mit dem Wissen, daß etwas, was sie Strukturpolitik gemacht hat, z. B. beim Stromver-
knapp ist, gerecht verteilt werden muß. trag, hat sie dafür gesorgt, daß ausgerechnet die aus-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5093
Werner Schulz (Berlin)
Betretensten Wege des Westens in den Osten verlän- die Blaupausen gesetzt, die Termine vorbereitet und
gert werden. Gerade mit der jetzt ausgebliebenen Juristen an einen Einigungsvertrag gesetzt? So war
Sanierung des Fernwärmenetzes wird schwerer das doch nicht. Deshalb ist nicht die Kritik ange-
Schaden ange richtet. bracht, es hätte eine große Vision gefehlt, sondern es
war das Glück der Stunde. Ich weiß jedenfalls noch,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN daß seit dem 9. November 1989 wöchentlich 15 000
sowie bei Abgeordneten der SPD) Menschen aus der damaligen DDR in den Westen ka-
Da, wo die Chancen des Ostens eigentlich liegen men. Die sagten nicht nur: „Wir sind das Volk!", son-
könnten, verweigert man ihm den Anschluß. dern sie sagten: „Wir sind ein Volk, und wir wollen
zur D-Mark, wenn die D-Mark nicht zu uns kommt."
Deutsche Einheit - um ein Dichterwort aufzugrei-
fen - ist „ein weites Feld" . Deswegen am Ende mei- Diese kurze historische Stunde unter Beteiligung
ner Rede zwei Überlegungen: schon erwähnter Persönlichkeiten, insbesondere des
damaligen sowjetischen Präsidenten Gorbatschow, in
Erstens. Die Deutschen haben im Osten wie im diesem Zeitfenster der Geschichte genutzt zu haben,
Westen in Nischengesellschaften gelebt. 40 Jahre das war die Stunde von Hans-Dietrich Genscher und
DDR und Bundesrepublik, die Zeit vor und hinter der Helmut Kohl, die die Vorgänge mitgestaltet haben,
Mauer, sind vorbei. Die Politik und politische Gene-
ration des Mauerfalls muß lernen, mit großen Proble- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
men und Konflikten zu leben. und die Stunde der 17 Millionen, die in friedlicher
Zweitens. Wir leben nach den Wendezeiten in Revolution die entscheidenden Anstöße gegeben ha-
West und Ost in einer Zeitenwende, in einer kompli- ben.
zierten ungewissen Umbruchsituation. Noch haben Niemand konnte sich darauf vorbereiten. Niemand
wir Zeit, wenn auch keine mehr zu verlieren. Die Zu- hat damit gerechnet. Wir können es als großes Glück
kunft Deutschlands wird sich daran entscheiden, wie empfinden, daß es gelungen ist. Das war die Situa-
wir den Reformstau auflösen, ob wir daran glauben, tion vor fünf Jahren. Es war keine Vision, keine
daß das westdeutsche Modell nicht nur nach Ost- große Vorbereitung, nur ein Fünkchen Hoffnung -
deutschland, sondern auch ins nächste Jahrtausend und dann das große Glück heute.
übertragen werden kann, oder ob wir eine gemein-
same, eine gesamtdeutsche Antwort auf die verän- Nach fünf Jahren sagen wir: Wir haben vieles un-
derten Bedingungen in Europa und die weltweiten terschätzt. Im Grunde geht es mir nicht nur um die
Herausforderungen finden. Frage, wieviel Finanzen man aufwenden muß. Wir
haben das tiefe Maß der geistigen und seelischen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zerstörung, die das ostdeutsche Regime ange richtet
sowie bei Abgeordneten der SPD) hat, gewaltig unterschätzt.
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU -
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Es spricht als näch-
Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) ,
ster der Kollege Dr. Wolfgang Gerhardt.
Daß es Geld kostet, wissen wir alle. Daß es aber hin-
Dr. Wolfgang Gerhardt (F.D.P.): Frau Präsidentin! ter dem Skelett eines damals zusammenbrechenden
Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute Staates nichts an Infrastruktur, nichts mehr an politi-
über einen Zeitraum von fünf Jahren deutscher Ein- scher Beteiligung an einem Führungssystem und
heit. Ich glaube, es läuft schwieriger, als wir alle am überhaupt kein Funke rechtsstaatlichen Bewußtseins
Anfang ahnen konnten, es läuft aber besser, als wir gab, daß, wie Ch ristian Graf von Krockow in seinem
bereit sind, uns gegenseitig öffentlich zuzugestehen Buch „Die Deutschen vor ihrer Zukunft" schreibt,
und auch offen zu berichten. dieses System in 40 Jahren beim Menschen Antriebs-
armut erzeugt hat, die wir heute überwinden müs-
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) sen, ist die Wahrheit über den inneren Zustand, über
die offen gesprochen werden muß.
Es gab im übrigen auch damals unterschiedliche
Bewertungen. Wir alle haben noch Menschen im Ge- (Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg.
dächtnis, die wirklich die Vereinigung unseres Lan- Eduard Oswald [CDU/CSU])
des nicht wollten. Ich kenne solche und habe wel-
chen gegenübergestanden, die vor der Wiederver- Wenn wir nämlich weiterkommen wollen, genügt
einigung gewarnt haben, wie der hessische Minister- keine Bilanz der wirtschaftlichen Förderprogramme
präsident Eichel; und der Herr Kollege Schäuble hat oder eine Betrachtung der strukturellen Schwächen
zu Recht den saarländischen Ministerpräsidenten oder eine unterschiedliche Diskussion über indu-
Lafontaine zitiert. So war es. strielle Kerne. Vielmehr stellt sich die Frage, ob un-
sere deutsche Gesellschaft die Kraft entwickeln
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) kann, die nächsten Jahre noch erfolgreicher zu ge-
stalten. Da müssen wir über Hemmnisse, Struktur-
Es gab einige, die zwar wußten, daß das historisch probleme und vieles mehr sprechen.
unumgänglich ist, aber sie hatten ernsthafte Pro-
bleme in der Verarbeitung. Und es gab welche, die Herr Schulz, Sie haben zu Recht gesagt, daß es um
hatten - wie auch wir - nicht daran geglaubt, daß die die Erkenntnis geht, daß es kein „vor und hinter der
Vereinigung in diesem Jahrhundert stattfindet. Wer Mauer" mehr gibt; das ist richtig. Wir müßten ge-
hat denn hier zehn Jahre vorher das Datum gewußt, meinsam daran arbeiten, daß sich diese Erkenntnis
5094 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
Das ist nicht wahr. Dieser Staat wird in eine gewal- (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
tige Legitimitätskrise geraten, wenn wir ihn öffent- NEN]: Das verlangt doch keiner!)
lich so darstellen lassen. Er ist nicht allein deswegen
Wer in einer Demokratie lebt und stolz darauf ist,
unser Staat, weil er für jedes Daseinsproblem eine
daß es in ihr verfassungsrechtliche Zuständigkeiten
Lösung anbieten müßte. Er ist ein Staat, der Rahmen-
für Land und Kommune gibt, wer sich stetig darüber
bedingungen zur Verfügung stellen kann und der
freut, daß die Tarifautonomie Wesensgestaltungs-
gerne durch Entbürokratisierung zurückgenommen
kraft in einem freien, marktwirtschaftlichen System
werden kann. Aber dann darf niemand hier im
besitzt, der hat auch Verantwortung für das innere
Hause vor Privatisierung, vor Verwaltungsvereinfa-
Zusammenwachsen dieses Landes und kann sich
chungen und vor Delegation von Aufgaben an an-
keinen schlanken Fuß machen und nur auf die Bun-
dere zurückschrecken.
desregierung verweisen.
(Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Sehr richtig!)
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Dann muß er den Menschen sagen: Wir können
gerne die Bürokratie zurücknehmen, wenn ihr selbst Alle Akteure haben damit zu tun.
in diesem Lande mehr persönliche Verantwortung Ein Stück des Ärgers über Politik und dessen, was
übernehmt. Das ist die Konsequenz. wir an Verdrossenheit wahrnehmen, liegt auch
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) daran, daß allzu viele in unserer Gesellschaft alles
auf Bonn abladen, obwohl sie in der Gesellschaft ei-
Ich will das hier offen aussprechen: Probleme in gene Verantwortung wahrnehmen müßten, eigenes
unserem Land oder in dem gesellschaftlichen Den- Risiko eingehen müßten, eigenes Mißlingen zugeste-
ken sind sicher aus dem schnellen Tempo der Wie- hen müßten und eigene Vorschläge machen müßten.
dervereinigung, aus dem Druck zur Lösung von Pro-
blemen und daraus, daß nicht genügend miteinander (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne-
gesprochen wird, entstanden. Aber vor der Mauer ten der CDU/CSU)
und hinter der Mauer haben sich manchmal Verhal-
(Vorsitz : Vizepräsidentin Dr. Antje Voll-
tensweisen breitgemacht, die die persönliche Verant- -
mer)
wortung von der Freiheit abgekoppelt haben. So
wird eine Gesellschaft das nicht schaffen. Zu einem Der Kollege Schäuble hat darauf hingewiesen: Es
freiheitlichen System gehört untrennbar verbunden darf uns wirklich nicht der Blick auf die tatsächlichen
die zweite Seite der Medaille: die persönliche Ver- Probleme um uns herum verlorengehen. Unser Zu-
antwortungsbereitschaft. sammenwachsen, das wir in den nächsten Jahren
verstärken müssen, wird nicht erfolgreich sein, wenn
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
weiter ein Stück Armutsgrenze durch Europa ver-
Die Menschen in unserer Gesellschaft koppeln - läuft und wenn wir nicht Gesellschaften in den mit-
man muß nach fünf Jahren sagen: das müssen wir tel- und osteuropäischen Staaten beachten, die noch
verändern - viele Problemlösungen von sich persön nach europäischer Orientierung suchen.
5096 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
Wenn Sie immer von der Ineffizienz der Plan- - Aber Sie haben die Sparguthaben der Rentnerin-
wirtschaft sprechen, dann ist das wahr. Aber wenn nen und Rentner zum größten Teil halbiert und ha-
Sie dabei zu erwähnen vergessen, daß natürlich ben ihnen im Vertrag über die Wirtschafts-, Wäh-
keine Volkswirtschaft, auch die der alten Bundes rungs- und Sozialunion und im Einigungsvertrag ver-
5098 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
Der „Economist" schrieb am 30. September 1995 (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
zur deutschen Einheit: ordneten der F.D.P.)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5103
Bundesminister Dr. Theodor Waigel
Wir haben die Einheit mit Überzeugung und Enga- Aber Anlaß zum Jubel gibt es trotzdem nicht, auch
gement gegen alle Widerstände angenommen und nicht Anlaß zu einer A rt nationalem Feldgottesdienst
erfolgreich gestaltet. Mit der gleichen Haltung geht und, Herr Kollege Schäuble, auch nicht Anlaß zur
es jetzt Richtung Europa - für ein neues Jahrtausend Geschichtsfälschung.
in Frieden und Wohlstand.
(Beifall bei der SPD)
Ich danke Ihnen.
Es ist schlicht falsch, daß Oskar Lafontaine es war,
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) der Walter Romberg entlassen hat. Vielmehr war es
Lothar de Maizière auf Drängen von Bundesfinanz-
minister Waigel. Ich weiß sehr genau, wovon ich
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat
rede, und ich erinnere mich noch an die hämischen,
jetzt der Abgeordnete Wolfgang Thierse.
herabsetzenden Äußerungen von Ihnen, Herr Wai-
gel, über Herrn Romberg.
Wolfgang Thierse (SPD): Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Am Anfang einer angemesse- (Beifall bei der SPD - Bundesminister
nen Bilanz nach fünf Jahren Einheit muß Dankbar- Dr. Theodor Waigel: Nein, das stimmt nicht!
keit stehen. Alles andere empfände ich als unanstän- Kein Wo rt !)
dig. Es gibt also Anlaß zu Dankbarkeit, aber zugleich
(Zustimmung bei der SPD) Anlaß zu einer kritischen Bilanz.
Deshalb will ich als Ostdeutscher danke sagen für et-
was, was ich auch nach fünf Jahren Einheit noch im- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie
mer für nicht ganz selbstverständlich halte: für die eine Zwischenfrage des Abgeordneten Waigel?
Solidarität der Deutschen im Westen, mit der sie in-
zwischen die doch beträchtlichen finanziellen Lasten Wolfgang Thierse (SPD): Ja.
für den Aufbau im Osten tragen, nicht immer ganz
freiwillig, aber doch ohne heftigen Protest. Danke
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Bitte.
schön dafür.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU so Dr. Theodor Waigel (CDU/CSU): Herr Kollege
wie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Thierse, können Sie eine einzige herabsetzende Äu-
DIE GRÜNEN und der F.D.P.) ßerung von mir über den früheren Kollegen Romberg
Dieses Dankeschön sage ich um so entschiedener, nennen?
als ihnen ja etwas anderes versprochen worden war.
Am 1. Juli 1990 sagte Bundeskanzler Helmut Kohl: Wolfgang Thierse (SPD): Ich kann es nicht wörtlich
sagen, weil ich die Unterlagen nicht dabeihabe.
... für die Menschen in der Bundesrepublik gilt:
Keiner wird wegen der Vereinigung Deutsch- (Lachen bei der CDU/CSU)
lands auf etwas verzichten müssen.
- Entschuldigen Sie. Sie schleppen auch nicht alle
Trotz der Widerlegung dieses Versprechens ist Soli- Akten mit sich. -
darität geleistet worden. Es waren die Solidarität der (Joachim Hörster [CDU/CSU]: Aber eine
Westdeutschen und der Fleiß, die Leistungsbereit- Behauptung aufzustellen und dann nicht zu
schaft und die Geduld der Ostdeutschen - beides zu- belegen ist unverschämt!)
sammen -, die es ermöglicht haben, daß in den fünf
Jahren viel, wirklich viel erreicht wurde. Aber Sie waren es, der an Walter Romberg in a ll er
Schärfe die Zahlen kritisiert hat, die er über die not-
Ein Zweites will ich, durchaus persönlich, vorweg wendige finanzielle Ausstattung der ostdeutschen
sagen. Noch immer empfinde ich ein nicht auslösch- Kommunen und Länder genannt hat. Sie haben ge-
bares Glücksgefühl über die deutsche Vereinigung. sagt, dies sei unverantwo rtlich. Lothar de Maizière
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU so hat daraufhin wegen dieses Konfliktes mit Ihnen
wie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Walter Romberg verboten, weiter an den Verhand-
DIE GRÜNEN und der F.D.P.) lungen teilzunehmen.
Ich weiß, so wie mir geht es vielen, ja den meisten (Beifall bei der SPD)
Deutschen in Ost und West, trotz aller Probleme, al-
len täglichen Ärgers, aller Widersprüche und aller Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie-
Fehler. Tritt man nur ein paar Schritte zurück und eine zweite Zwischenfrage?
schaut mit fremdem, mit verfremdendem Blick auf
das, was in den fünf Jahren bisher passiert ist, ver- Wolfgang Thierse (SPD): Ja.
gleicht das Land und das eigene Leben mit dem Jahr
1989, blickt zudem nach Osten zu unseren Nach-
barn, die mit uns das gleiche Schicksal im realen Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Bitte.
Kommunismus geteilt haben - beide Blickrichtungen
erst vermitteln den richtigen Vergleichsmaßstab -, Dr. Theodor Waigel (CDU/CSU): Nehmen Sie zur
dann gibt es wahrlich genug Anlaß zu staunender Kenntnis, daß es nicht einen einzigen solchen Aus-
Freude. spruch über Walter Romberg von mir gibt und daß
5104 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
Wolfgang Thierse
hält sie für richtig. Nur eine verschwindende Minder- Ich nenne ein weiteres Beispiel: das unterschiedli-
heit der Ostdeutschen will die DDR zurück - Gott sei che Tarifniveau zwischen Ost und West. Es gibt da-
Dank! Aber ebenso meint eine abnehmende Zahl für eine Menge Gründe. Aber warum gilt nicht der
von Deutschen, daß diese Einheit geglückt sei, daß Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit"? Bun-
wir wirklich ein Volk seien, daß das vereinte deskanzler Kohl hat auf einige wenige Beispiele hin-
Deutschland eine gerechte und soziale Gesellschaft gewiesen, die zeigen, daß in Ostdeutschland mo-
sei. derne, hochproduktive Arbeitsstätten schon entstan-
den sind. Dies gilt auch für gute Teile des öffentli-
Was ist passiert? Ich denke, viele Ostdeutsche er- chen Dienstes. Die Erfahrung, daß trotz gleicher Ar-
fahren die Kälte der Freiheit, nachdem sie die DDR beit, trotz gleich produktiver Arbeit die Ostdeut-
als Diktatur, aber eben auch als eine ökonomisch schen weniger verdienen, erniedrigt. Sie ist nicht nö-
wahnwitzig bezahlte Gesellschaft sozialer Fürsorge tig. Man kann das ändern, schneller als vieles an-
erfahren haben. Da ist etwas entstanden, was ich dere.
nicht kritisieren will: ein Grundbedürfnis nach sozia-
ler Sicherheit. Deswegen meine ich, die Einheit wird (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
nur wirklich gelingen, wenn wir eine Politik betrei- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
ben, die dem legitimen Grundbedürfnis nach sozialer und der PDS - Widerspruch bei der CDU/
Sicherheit - übrigens nicht nur der Ostdeutschen - CSU und der F.D.P.)
gerecht wird.
Ein weiteres Beispiel für etwas, was man schnell
(Beifall bei der SPD) ändern kann: die Anerkennung von Berufsabschlüs-
sen aus Zeiten der DDR. Auch da gilt, daß selbst er-
Was ist passiert? Es gibt die vielfache Erfahrung
fahrene und gut qualifizierte Menschen feststellen
der ungerechten Bewe rtung der eigenen Biographie,
mußten, daß ihre beruflichen und akademischen
d. h. der eigenen Lebensleistungen und Lebenser-
Qualifikationen geringer bewertet wurden und wer-
fahrungen. Ich wiederhole deshalb meine Forde-
den als die vergleichbaren westdeutschen. Das kann
rung, ja meine Bitte: Unterscheiden Sie zwischen
man ändern. Das kostet noch nicht einmal etwas.
dem Urteil über das gescheiterte politische und öko-
Warum tut man es nicht?
nomische System und dem Urteil über die Men-
schen, die in diesem System gelebt haben, über die (Beifall bei der SPD und der PDS)
Biographien, die darin gelebt worden sind. Denn sie
sind nicht alle gescheitert; sie dürfen nicht alle ge- Weil man es nicht tut, bestätigt man das Vorurteil von
scheitert sein. Machen Sie diese Unterscheidung tag- der westlichen Arroganz.
täglich sichtbar; sie ist wichtig.
Ein anderes Beispiel: die Krankenbehandlung von
(Beifall bei der SPD) Ostdeutschen in Westdeutschland. Ein weiteres Bei-
spiel: das Gebaren der Treuhandanstalt und der Ban-
Es gibt des weiteren die vielfache Erfahrung sozia- ken. Ostdeutsche Unternehmen, die durch Manage-
ler Spaltung und Ungerechtigkeit zwischen Ost und ment-Buy-out private Unternehmen wurden, haben
West. Ich will nur ein paar Beispiele nennen, um zu regelmäßig schlechtere Übernahmekonditionen er-
zeigen, wo konkrete Politik sehr schnell Änderungen halten als westdeutsche oder ausländische Interes-
schaffen könnte. senten. Warum ist das notwendig, da wir doch Eigen-
tums- und Vermögensbildung in Ostdeutschland un-
Wir erleben als Ergebnis der wirtschaftlichen terstützen sollten?
Transformation, auch der wirtschaftlichen Vorge-
schichte und der Privatisierung eine Spaltung in Ei- Solche Art Erfahrungen nicht notwendiger west-
gentümer, die eher Westdeutsche sind, und in Eigen- deutscher Dominanz bestätigen das alte, klägliche
tumslose, die eher Ostdeutsche sind. Wir hatten und lähmende Minderwertigkeitsgefühl der Ostdeut-
keine Chance, an Privatisierungsprozessen wirklich schen, das in 40 Jahren DDR entstanden ist. Es hilft
gleichberechtigt teilzunehmen. 40 Jahre Frieden hat dann nichts, ihnen auf die Schultern zu klopfen und
im Westen eine Erbengesellschaft entstehen lassen; zu sagen: Seid schön selbstbewußt.
im Osten wird noch lange nicht viel zu erben sein.
Wir brauchen den grundlegenden Ansatz, daß die
Kurt Biedenkopf drückt das so aus: deutsche Einigung wirklich als ein Reformprojekt
praktiziert wird. Nachdem sich in Ostdeutschland so
Auf sehr lange Zeit wird die Vermögensbildung vieles und so viele ändern mußten, gilt es jetzt end-
unterschiedlich sein. Die ostdeutschen Haushalte lich, zu begreifen, daß der Änderungsbedarf, der Re-
haben keine Chance, die Westdeutschen in ab- formbedarf für ganz Deutschland zunimmt. Dafür
sehbarer Zeit im Bereich der p rivaten Vermö- werden die Erfahrungen von Menschen aus -
gensbildung einzuholen. Dazu ist der westdeut- 40 Jahren DDR und aus fünf Jahren dramatischer
sche Vorsprung zu groß. Wandlung zunehmend wichtiger.
Wir brauchen eine Politik der gerechteren Eigen- Das wäre mein wichtigstes Resümee nach fünf Jah-
tumsverteilung in Deutschland, eine Offensive für ren: aus der deutschen Einheit ein Reformprojekt,
Vermögensbildung gerade in Ostdeutschland. viele Reformprojekte zu machen, z. B., Herr Ger-
hardt, die Entbürokratisierung des Staates. Mein er-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne folgreichster Satz, wenn ich zu Hause, in Ostdeutsch-
ten der PDS) land, Reden halte, heißt: Wir haben in der DDR doch
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5107
Wolfgang Thierse
immer in der Überzeugung gelebt, daß die Mischung Der Aufbauprozeß ist zugleich eine großartige Soli-
aus preußisch-sächsisch-russischer Bürokratie nicht daritätsleistung der Bürger in Ost- und Westdeutsch-
zu überbieten sei. Das war ein großer Irrtum. Da land. Westdeutschland unterstützt diesen Prozeß
ernte ich regelmäßig Jubel. nicht nur mit Geld, sondern auch mit großem persön-
lichen Engagement von Bürgern und vielen Unter-
(Beifall bei der SPD - Joseph Fischer nehmen.
[Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Fortschritt, dein Name sei Kanther!) Eine nüchterne Bestandsaufnahme der Situation
heute zeigt, daß zwei auf den ersten Blick wider-
Aus solcherart Erfahrungen wirklich ein Reformpro- sprüchliche Aussagen die Situation in den neuen
jekt machen, das macht aus den Ostdeutschen Ländern am besten beschreiben. Einerseits sind wir
Gleichwertige und Gleichberechtigte. auf dem Wege zur wirtschaftlichen, sozialen, ökologi-
Meine Damen und Herren, die deutsche Einheit schen und menschlichen Einheit entscheidend wei-
wird gelingen. Davon bin ich überzeugt. Es wird tergekommen. Andererseits ist das Ziel einer Wi rt
aber noch lange dauern. Deshalb fordern wir die -schaft,dieugnrKaftmWebw-
Bundesregierung auf, einen jährlichen Bericht über haupten kann, noch nicht erreicht.
das Erreichte und das Notwendige im Vereinigungs-
Die zweite Hälfte des Weges liegt noch vor uns.
prozeß vorzulegen. Wir werden darüber streiten müs- Das ist auch die Botschaft eines Berichts mit dem Ti-
sen und streiten können. Aber, meine Damen und
tel „Aufbau Ost - die zweite Hälfte des Weges", den
Herren, mögen wir uns auch zu überbieten versu- ich im Kabinett vor zwei Wochen vorgelegt habe und
chen bei der Gestaltung der deutschen Einheit: Wir den die Bundesregierung zum fünften Jahrestag der
Sozialdemokraten halten mit. Meine und unsere Lei- deutschen Einheit verabschiedet hat. Die beiden
denschaft dabei ist nicht geringer als Ihre. Dessen wichtigsten Konsequenzen in diesem Be richt sind
kann ich Sie versichern. klar formuliert:
(Lebhafter Beifall bei der SPD - Beifall beim
Erstens. Die Strategie der Bundesregierung für den
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Aufbau Ost hat sich als richtig erwiesen. Das bezwei-
felt inzwischen kein Beobachter mehr ernsthaft. Es
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat hat nie eine konzeptionelle Alternative zu dem Weg
jetzt für die Bundesregierung Herr Minister Rexrodt. gegeben, den wir eingeschlagen haben, meine Da-
men und Herren.
(Joseph Fischer [Frankfu rt ] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Wann kommt denn endlich Zweitens. Der Aufbau Ost muß auch weiterhin ein
einmal einer aus Ostdeutschland?) Schwerpunkt deutscher Politik sein. Die Politik, die
auf die Stärkung der Wachstumskräfte setzt, wird
fortgesetzt.
Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister für Wirtschaft:
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne-
Herren! Die Deutschen haben die Herausforderung ten der CDU/CSU)
der Vereinigung in den letzten Jahren mit Bravour
angenommen. Auch wi rtschaftlich wird Trennendes Ich habe zum Thema Aufbau Ost einen hochrangi-
überwunden, können wir langsam und kontinuier- gen Gesprächskreis mit Persönlichkeiten aus Ost-
lich eine Angleichung der Lebensverhältnisse fest- und Westdeutschland zusammengerufen, der regel-
stellen. Das wird im übrigen auch im Ausland so ge- mäßig die Entwicklungen in den neuen Ländern er-
sehen. Die SED-Diktatur hatte die Lebens- und Ar- örtern und die Bundesregierung beraten wird.
beitsgrundlagen der Menschen in den neuen Bun-
Ich gehe in diesem Zusammenhang auf etwas ein,
desländern durch ein Gesellschaftssystem zerrüttet,
was vorhin eingeklagt und eingefordert worden ist:
das seine geistigen Wurzeln im 19. Jahrhundert hat
ein Entwurf für die deutsche Einheit in der Zeit vor
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ 1989/90: Meine Damen und Herren, wer sich in der
DIE GRÜNEN]: Der Liberalismus hat seine Zeit vor 1989 mit einem politischen Entwurf für die
Wurzeln im 18. Jahrhundert!) Einheit Deutschlands befaßt und ihn öffentlich oder
auch nur halböffentlich diskutiert hätte, der wäre als
und das zu Mißwirtschaft und zu subtilen Formen der Utopist und kalter Krieger abgestempelt worden.
Korruption, nämlich zur Privilegienwirtschaft, ge- Und heute wird dies eingefordert. Das ist nicht kor-
führt hat. Das wird niemand bestreiten, meine Da- rekt, meine Damen und Herren!
men und Herren. Um so höher ist die Aufbauleistung
im Osten zu bewerten. Die Menschen in den neuen (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Ländern haben den Strukturwandel auf sich genom-
men, und sie haben einen Strukturwandel bewältigt, Ich möchte hier nicht alle Ergebnisse der Bilanz
der ihre gesamten Lebensverhältnisse von Grund auf des Aufbaus im wirtschaftlichen Sinne vortragen,
verändert hat. Ich weiß nicht, ob eine in mancher aber einiges denn doch hervorheben. So möchte ich
Hinsicht behäbig gewordene westdeutsche Gesell- sagen, daß Ostdeutschland die höchsten Wachstums-
schaft dazu so in der Lage gewesen wäre, wie das die raten in Europa hat, aber die Eigenleistungsfähigkeit
Menschen im Osten bewältigt haben. der Wirtschaft ist in der Tat noch nicht ausreichend.
Es gibt eine Diskrepanz zwischen Produktion und In-
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) landsnachfrage von 220 Milliarden DM.
5108 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der Es besteht kein Zweifel: Es gibt viele Unternehmen
CDU/CSU) in den neuen Ländern, die vor Insolvenzproblemen
stehen. Viele Unternehmen beenden ihr kurzes Da-
Es ist die Aufgabe, das wiederherzustellen, was in sein. Dies alles hat verschiedene Ursachen, hat auch
der DDR an Substanz verwirtschaftet worden ist. Ursachen in der Fehleinschätzung des Marktes, in
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne der Tatsache, daß Managementwissen und manches
ten der CDU/CSU) andere nicht in dem Maße vorhanden war, wie wir es
brauchten. Ich appelliere daher von dieser Stelle an
Daß dies nicht von heute auf morgen geht, ist klar. die Banken und Finanzierungsinstitutionen, daß sie
Wir müssen das Haus, das wir errichtet haben, wet- ihren Teil dazu beitragen, daß Unternehmer und
terfest machen. Für ein Ausruhen auf den bisherigen Menschen, die in Selbständigkeit getreten sind, die
Erfolgen besteht kein Anlaß. Unternehmen geht es in Absicherung erhalten, die sie verdienen.
erster Linie um die Verbesserung von Kapitalausstat-
tung und Finanzierungsbedingungen, um die Stär- Es ist aber im übrigen nicht richtig, daß Banken in
kung der Absatzfähigkeit und die Überwindung von diesem Zusammenhang nur versagt haben. Unser
nach wie vor bestehenden Managementdefiziten. Drängen in diesen Sektor hat dazu geführt, daß Ban-
ken in einem ganz erheblichen Umfang ihr Engage-
Wichtig sind vor allem mittelfristig sichere Rah- ment verbreitert und vermehrt haben und daß es
menbedingungen für Investitionen. Deshalb habe heute bei einem ordentlichen Unternehmenskonzept
ich bereits im vergangenen Jahr ein mittelfristiges im allgemeinen möglich ist, an das Kapital heranzu-
Förderkonzept vorgelegt, das jetzt mit dem Jahres- kommen, das man braucht.
steuergesetz in den Haushaltsverhandlungen umge-
setzt worden ist. Die wichtigsten Fördermaßnahmen, (Beifall bei der F.D.P.)
wie z. B. die Investitionszulage und die Sonderab- Ich bin froh, daß es gelungen ist, die jungen Men-
schreibungen, werden bis 1998 modifiziert fortge- schen in den neuen Ländern mit Lehrstellen zu ver-
führt und auf die Indust rie und den Mittelstand kon- sorgen. Das war eine große Kraftanstrengung, eine
zentriert. Anstrengung, die auch in den nächsten Jahren not-
Neu ist die Aufnahme des mittelständischen Han- wendig sein wird. Ich bin stolz darauf, daß dabei das
dels in die 10 %-Zulage. Dies habe ich im Jahre 1994 duale System in seinen Prinzipien nicht in Frage ge-
konzipiert. Die SPD ist, anders als das Herr Schar- stellt worden ist. Mehr als 60 % der Ausbildungsver-
ping heute morgen ausgeführt hat, nachträglich auf hältnisse in den neuen Ländern werden mit öffentli-
diesen Vorschlag aufgesprungen. Das ist die objek- chen Mitteln finanziert. Das ist für eine vorüberge-
tive Wahrheit, meine Damen und Herren. hende Zeit notwendig und nicht vermeidbar gewe-
sen. Auf Dauer können wir uns das nicht leisten. Ich
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne appelliere daher an die Wi rt schaft, daß sie in ihren
ten der CDU/CSU) Anstrengungen nicht nachläßt, jungen Menschen in
-
Neuland für die Verstärkung der Kapitalausstat- den neuen Ländern in ordentlichen Ausbildungsver-
tung betreten wir beispielsweise mit dem Beteili- hältnissen eine Chance zu geben.
gungsfonds Ost, den ich vorgestern in Berlin vorge- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne-
stellt habe. Zwischen 1996 und 1998 werden für mit- ten der CDU/CSU)
telständische Unternehmen jährlich 500 Millionen
DM langfristiges Eigenkapital bzw. nachrangige Dar- Mein Resümee lautet: Das internationale Ver-
lehen für Investitionen, neue Strategien oder For- trauen in die Stabilität und Leistungsfähigkeit der
schungsaktivitäten bereitgestellt. Diese neue Rege- deutschen Wi rt schaft steht trotz der finanziellen La-
lung, die viele andere bestehende Regelungen er- sten des Aufbauprozesses außer Frage. Die Konjunk-
gänzt, lehnt sich an den alten § 16 des Berlinförde- turaussichten der westdeutschen Wirtschaft sind
5110 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
Zweitens. Ich möchte hier einmal darauf hinwei- Es ist für mich kein Zufall, daß sich das Leistungs-
sen, daß die Bürgerinnen und Bürger in den neuen prinzip in den neuen Bundesländern einer höheren
Bundesländern in den letzten fünf Jahren erhebli- Akzeptanz erfreut als in den alten Bundesländern.
chen Belastungen ausgesetzt waren: Umstellungen (Beifall bei der CDU/CSU)
in allen Lebensbereichen, Arbeitslosigkeit, Umschu-
lung, neue Berufsfelder, aber eben auch das Wieder- Meine Damen und Herren, Beispiele von mutigem
gutmachen von Schäden z. B. im Umweltbereich. Herangehen, von schnellem Herangehen, von Er-
kenntnis des Wesentlichen sind von Ostdeutschen
Wir haben 500 neue Kläranlagen gebaut; wir ha- und Westdeutschen gemeinsam geleistet worden.
ben vieles geschafft. Aber wir haben es letztendlich Das möchte ich hier ausdrücklich sagen. Es gab viele
nach den gleichen Prinzipien wie in den alten Bun- Westdeutsche, die in die neuen Bundesländer gegan-
desländern getan. Das heißt, auch in den neuen Bun- gen sind, ohne zu fragen, was aus ihren Familien
desländern gilt das Verursacherprinzip. Dies bedeu- wird und vieles andere mehr. Diese Eigenschaften
tet, daß wir z. B. bei einem Einkommen in Höhe von brauchen wir für die Gestaltung der zweiten Stufe
75 % des Westniveaus erheblich höhere Abwasserge- der deutschen Einheit, und wir brauchen sie für die
bühren als in den alten Bundesländern haben. 5 DM Diskussion in Gesamtdeutschland.
pro Kubikmeter Abwasser sind in den neuen Bundes-
ländern der Normalfall. Dies wird von den Menschen Ich kann nur sagen: Wir haben umweltpolitisch
anerkannt und mitgetragen. vieles geschafft. Wir haben das geschafft, weil wir
bereit waren, den Menschen auch Risiken und Ver-
(Widerspruch bei der SPD) antwortung zuzumuten.
Das geschieht nicht aus Lethargie; vielmehr wird es Das Beispiel von den FCKW-Sprühdosen ist ty-
in weiten Bereichen als Wiedergutmachung für das pisch für unsere völlig unterschiedlichen Herange-
akzeptiert, was 40 Jahre Sozialismus ange richtet hat- hensweisen: Wir haben die FCKW-Produktion in der
ten. Bundesrepublik Deutschland auf Grund von markt-
wirtschaftlichen und technologischen Entwicklungen
(Beifall bei der CDU/CSU - Widerspruch eingestellt.
bei der SPD - Joseph Fischer [Frankfurt]
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach, Frau (Joseph Fischer [Frankfu rt ] [BÜNDNIS 90/
Ministerin!) DIE GRÜNEN]: Zehn Jahre haben wir dafür
gekämpft! Zehn Jahre! - Gegenruf von der
Ich sage an dieser Stelle ganz deutlich: Ich CDU/CSU: Schrei doch nicht so!)
wünschte mir auch in den alten Bundesländern, daß
Wir sind nicht der Meinung, daß man dies irgendwie
beim geforderten höheren Umweltstandard akzep-
durch planwirtschaftliche Mangelwirtschaft errei-
tiert wird, daß dies nicht zum Nulltarif passieren
chen muß.
kann.
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
Wenn sich der BUND auf der einen Seite hinstellt DIE GRÜNEN]: Zehn Jahre hat man dafür
und sagt, die letzte Düngemittelverordnung der Bun- gebraucht! Das hältst du am Kopf nicht
desregierung sei ein Nichts, und auf der anderen aus!)
Seite am Sonntag sagt, es könne nicht sein, daß die
Abwasserpreise für die dritte Reinigungsstufe über- Vielmehr kann man das durch die technologische
haupt steigen, dann halte ich dies für eine A rt des Weiterentwicklung schaffen.
Herangehens, wie man es in den neuen Bundeslän-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
dern in dem Maße nicht findet. Die Menschen waren
ordneten der F.D.P.)
dort sehr bereit, neue Wege zu gehen.
Dies ist doch genau der Punkt: Man kann die FCKW-
(Beifall bei der CDU/CSU) Freiheit im Sozialismus nicht mit der FCKW-Freiheit
in der Bundesrepublik Deutschland vergleichen.
Ein drittes Beispiel: In den alten Bundesländern ist
in 40 Jahren ein relativ hoher Grad an Perfektion und (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
Wohlstand erreicht worden. Ich habe manchmal den DIE GRÜNEN]: Zehn Jahre härteste Aus-
Eindruck, in den neuen Bundesländern hat man in einandersetzungen, und dann kommt sie
den vergangenen fünf Jahren den Blick auf das We- mit der Marktwirtschaft!)
sentliche besser beherrscht, als es hier in den alten
Bundesländern heute an vielen Orten gang und gäbe Meine Damen und Herren, ich meine, wir sollten
ist. aus der deutschen Einheit folgendes lernen: Wir ha-
ben in der alten Bundesrepublik und in den neuen
Ich habe mich in diesen fünf Jahren immer wieder Bundesländern erhebliche Probleme. Wir fassen das
gefragt: Wissen viele in den alten Bundesländern ei- immer unter dem Begriff „Standortdiskussion" zu-
gentlich, daß der Wohlstand auch wieder zerrinnen sammen. Dabei geht es um die Frage: Wie viele Men-
kann? Wissen sie und haben sie die Erfahrung, daß schen werden in Zukunft in dieser Bundesrepublik
5112 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
Wolfgang Thierse (SPD): Liebe Kolleginnen und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
Kollegen! Wir hatten vorhin eine kleine Kontroverse ordneten der F.D.P. - Joseph Fischer
um einen fünf Jahre zurückliegenden Vorgang. Ich [Frankfu rt ] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
habe mir inzwischen ein paar Zeitungen vom August Wir haben gelernt, es war nicht Waigel,
1990 bringen lassen, und ich will aus der „Welt" vom sondern Kohl!)
12. August 1990 zitieren - wie Sie wissen, kein Par-
teiblatt der SPD. Da heißt es: Wolfgang Thierse (SPD): Herr Waigel, ich will aus-
drücklich sagen, daß ich daran festhalte, daß es die
Romberg drohte gestern in einem Inte rview mit Kritik von Ihnen und anderen war
seinem Rücktritt, wenn die offenen Finanzfragen
nicht gelöst würden. Beim jetzigen Stand der Ver- (Zuruf von der CDU/CSU: Kritik? - Weitere
handlungen um den Einigungsvertrag würden Zurufe von der CDU/CSU)
die DDR-Länder mit 90 Milliarden Mark Schul- - lassen Sie mich ausreden -, die dazu geführt hat,
den zu „zweitklassigen Ländern". Würden keine daß Walter Romberg entlassen worden ist. Ich will
wesentlichen Verbesserungen erzielt, müsse die ausdrücklich zurücknehmen, daß ich in meiner Rede
DDR-SPD die Koalition verlassen, sagte Rom- von beleidigenden Äußerungen gesprochen habe.
berg.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Dann heißt es weiter:
Es waren die Schärfe Ihrer Kritik und der Druck aus
Der DDR-Ministerpräsident hatte seinen Finanz- Bonn, der dazu geführt hat. Dabei bleibe ich aller-
minister am Donnerstag nach seinem Treffen mit dings, weil ich sicher bin, daß das der tatsächliche
Bundeskanzler Helmut Kohl in Bonn erstmals öf- Sachverhalt war.
fentlich kritisiert. Nach Informationen von WELT (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
am SONNTAG war von ihm zuvor bei den inter- ten der CDU/CSU)
nen Gesprächen im Kanzleramt bedeutet wor-
den, daß Romberg ständig mit neuen Zahlenan-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat
gaben die DDR-Bürger verunsichere, statt seine
jetzt die Abgeordnete I ris Gleicke.
Amtsgeschäfte solide zu führen.
(Unruhe bei der CDU/CSU - Joseph Fischer Iris Gleicke (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr
[Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Feiern zum
Das ist ja unglaublich!) fünften Jahr der deutschen Einheit liegen erst ein
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5113
Iris Gleicke
paar Tage hinter uns. Es wurde wieder viel von der tät, und das sogar dann, wenn klar ist, daß keine
Vollendung der Einheit geredet und von der notwen- Rückübertragung stattfinden wird. Wir wollen durch
digen Angleichung der Lebensverhältnisse. Aber eine Lockerung dieser Verfügungssperre Investiti-
längst warten nicht mehr alle Menschen in Ost- onsmöglichkeiten verbessern.
deutschland voller Geduld und Gottvertrauen auf die
(Beifall bei der SPD)
versprochenen blühenden Landschaften.
Insgesamt dauern die Verfahren oft quälend lange;
Neben denjenigen, die ungeduldig und zornig auf kein Mensch weiß, wann die Vermögensämter ihre
die Einlösung der gegebenen Versprechen pochen, Arbeit beendet haben werden. Deshalb wollen wir
gibt es die Gruppe derer, die ihre Hoffnungen längst im Falle des redlichen Erwerbs eine Vorabentschei-
begraben haben. Von ihnen, den Verliererinnen und dung durch Teilbescheid. So, wie es bisher ge-
Verlierern der Einheit, wird nicht so gerne gespro- schieht, darf man mit den Menschen nicht weiter um-
chen. Arbeitslose Männer und vor allem Frauen jen- gehen.
seits der 50, Sozialhilfeempfänger, Jugendliche ohne (Beifall bei der SPD)
Ausbildungsplatz: All diese Menschen sind ohne
Hoffnung und Perspektive. Wie man bisweilen mit den Menschen umgeht, hat
sich bis vor kurzem in einer erschreckenden Ent-
Als persönlich Betroffene spüren sie viel stärker als wicklung in der Rechtsprechung gezeigt. Ich rede
andere die soziale Kälte, die in diesem Land um sich von den Fällen, in denen den staatlichen Behörden
greift. Mit einer unglaublichen Brutalität verbreitet der DDR zivilrechtliche Fehler bei Grundstücksge-
sich tagtäglich die Kluft zwischen den Reichen und schäften unterlaufen waren. Hier ging man bis zum
den Armen, zwischen den Gewinnern und den Ver- Juli diesen Jahres davon aus, daß diese Geschäfte
lierern der Einheit. Daß es diese Gewinner und Ver- unwirksam sind. Stellen Sie sich das einmal vor: Sie
lierer natürlich auch im Westen gibt, daß fast aus- kaufen ein Grundstück von einer staatlichen Stelle.
schließlich die kleinen Leute in Ost- und West- Ihr Geschäftspartner, also die DDR, begeht bei Ab-
deutschland die Kosten der Einheit bezahlen, davon schluß des Geschäftes einen mehr oder weniger gra-
wollen natürlich diejenigen nichts hören, die unmit- vierenden Fehler. Davon können Sie natürlich nichts
telbare politische und moralische Verantwortung für wissen; Sie haben keine Ahnung. Sie organisieren
diese Entwicklung tragen. Steine und Zement; das halbe Dorf hilft beim Haus-
bau, und Sie leben do rt glücklich und zufrieden viele
(Beifall bei der SPD) Jahre mit Ihrer Familie. Dann gibt es die DDR auf
einmal nicht mehr, sondern nur noch ein Beitrittsge-
Aus rein ideologischen Gründen setzten Sie das biet. Sie machen sich um Ihren Besitz keine Sorgen,
Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung" durch, des- obwohl man im fernen Bonn beschließt, daß „Rück-
sen verheerende Folgen für die wirtschaftliche Ent- gabe vor Entschädigung" gilt, und obwohl es auch
wicklung Ostdeutschlands noch immer nicht abzuse- für Ihr Grundstück einen Alteigentümer gibt. Denn
hen sind. „Eigentum" selbst ist ein abstrakter Begriff, Sie sind ja ein von Politikern und Ju risten so genann-
und doch wird um diesen Beg riff ein Tanz wie um ter redlicher Erwerber, also ein ganz normaler ehe-
das goldene Kalb veranstaltet. Ist denn die Frage maliger DDR-Bürger, der nun auf den Rechtsstaat
nach dem Wohlergehen desjenigen, der ein Eigen- Bundesrepublik Deutschland vertraut.
tum nutzt, nicht mindestens ebenso wichtig wie die Aber dann kommen die Anwälte des Alteigentü-
Frage nach den Interessen der Eigentümer? mers, durchleuchten die uralten Verträge und su-
chen nach zivilrechtlichen Mängeln. Und da haben
(Beifall bei der SPD) Sie dann Pech. Denn diese gewitzten und gutbezahl-
ten Juristen finden tatsächlich irgendwelche Fehler.
Wir reden hier nicht von irgendeinem x-beliebigen
Dann läuft nämlich auf einmal eine sogenannte zivil-
Eigentum. Wir reden von Häusern und Wohnungen,
rechtliche Herausgabeklage bzw. eine Grundbuch-
in denen sich Menschen ein Heim geschaffen haben.
berichtigungsklage, weil es in diesem vereinten
Deutschland Ge richte gibt, die den so viele Jahre zu-
Die Demokratie verlangt hier einen sozialverträgli-
rückliegenden Kauf eines Grundstücks für unwirk-
chen Ausgleich zwischen den Interessen von Grund-
sam erklären. Sie haben etwas redlich erworben,
stückseigentümern und Grundstücksnutzern. Es ist
ohne es behalten zu dürfen.
jedoch weder mit dem Sachenrechtsänderungsgesetz
noch mit dem Schuldrechtsänderungsgesetz gelun- Mal im Ernst gefragt: Wenn Ihnen, meine lieben
gen, endlich wirkliche Rechtssicherheit und einen Kolleginnen und Kollegen, das so ergangen wäre,
vollständigen Rechtsfrieden in Ostdeutschland zu würden Sie dann noch an den Rechtsstaat, an Ge-
schaffen. Das liegt auch am kaum noch durchschau- rechtigkeit oder an den Sachverstand von politisch
baren Dickicht der Gesetze und an der Rechtspre- Verantwortlichen glauben?
chung.
(Beifall bei der SPD)
(Dr. Uwe Küster [SPD]: Richtig!)
Woher soll ein Mensch auch wissen, was etwa die Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin,
Verfügungssperre des § 3 Abs. 3 des Vermögensge- gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lu-
setzes in ihrer praktischen Konsequenz überhaupt ther?
bedeutet. Diese Verfügungssperre behindert ganz
massiv notwendige Verbesserungen der Wohnquali- Iris Gleicke (SPD): Aber gerne.
5114 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
Dr. Michael Luther (CDU/CSU): Frau Kollegin, Sie Es geht uns mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
haben das ja jetzt sehr anschaulich in einem Beispiel nun wirklich nicht darum, auf Dauer an unterschied-
dargestellt. Für mich steht bloß die Frage im Raum: lichem Recht in Ost und West festhalten zu wollen.
Sind Sie mit mir nicht einer Meinung, daß sich durch Wir wollen verhindern, daß wieder einmal ohne
die jetzt erfolgte, die jüngste Rechtsprechung dieser Rücksicht auf Verluste westdeutsches Recht über ost-
Fall erledigt hat? deutsche Lebensverhältnisse gestülpt wird.
Wenn wir den Kündigungsschutz nicht verlängern,
Iris Gleicke (SPD): Sehen Sie, Herr Kollege Luther, führt das z. B. bei Zweifamilienhäusern dazu, daß
in meinem nächsten Satz wollte ich sagen, daß ich den Mietern ohne Angabe von Gründen und ohne
sehr froh bin, daß der Bundesgerichtshof im Juli den Nachweis eines Eigenbedarfs gekündigt werden
durch eine Grundsatzentscheidung die bisherige kann, wenn der Vermieter selbst im Haus wohnt. Das
Rechtsprechung in dieser Frage korrigiert hat, daß darf ja wohl nicht wahr sein. Wo sollen die Menschen
ich aber trotzdem der Auffassung bin, daß das jetzt bezahlbare Wohnungen finden? Bei der jetzigen
gesetzlich festgeschrieben werden muß, damit die Wohnungssituation ist dies kaum möglich.
Nutzer auch wirklich geschützt sind und damit das Aber angesichts der Fertigstellungszahlen im Woh-
angeschlagene Vertrauen in den Rechtsstaat wieder nungsbau besteht ja durchaus Anlaß zur Hoffnung,
hergestellt wird. daß innerhalb der nächsten drei Jahre so viele Woh-
nungen entstehen, daß kein gekündigter Mieter
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne mehr Angst davor haben muß, keine Bleichgute
ten der PDS) Wohnung zu finden. Ich bleibe dabei: Der Kündi-
gungsschutz kann erst dann auslaufen, wenn wir ihn
nicht mehr brauchen.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie
eine Zwischenfrage der Kollegin Matthäus-Maier? Das Verständnis, das ich für sehr viele Vermieter
habe, die in ihre Häuser einziehen wollen, bringe ich
für den Präsidenten von Haus & Grund offengestan-
Iris Gleicke (SPD): Ja, bitte. den nicht auf. Herr Jahn hat gestern gesagt, eine
Verlängerung des Kündigungsschutzes wäre ein
(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Das „Vertrauensbruch der Politik". Soll das vielleicht hei-
muß doch nicht sein; das muß doch wirklich ßen, daß man in Ostdeutschland die Wohnungsnot
nicht sein!) verschärfen soll, damit das Vertrauen der Hauseigen-
tümer in die Politik keinen Schaden nimmt?
Da bin ich wieder bei dem, was ich eingangs ge-
Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Frau Kollegin, da Sie
sagt habe. In diesem Land wird viel zuviel über Ei-
darauf hingewiesen haben, daß das Gericht so ent-
gentum geredet und viel zuwenig über diejenigen,
schieden hat, möchte ich Sie fragen: Können Sie
die keines haben und vielleicht niemals eine Chance
auch bestätigen, daß die Regierung diese Korrektur
bekommen, welches zu erwerben.
immer wieder abgelehnt hat und erst das Gericht die
Regierung zur Ordnung rufen konnte, obwohl dies (Beifall bei der SPD)
jahrelang thematisiert wurde und die SPD im Deut-
schen Bundestag das immer wieder gefordert hat? Das, meine Damen und Herren, ist eine soziale Kälte,
die schaudern macht.
(Beifall bei der SPD) Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Iris Gleicke (SPD): Frau Kollegin Matthäus-Maier, DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
das will ich Ihnen sehr gerne bestätigen. PDS)
(Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wo rt hat
Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Das ist ja jetzt der Abgeordnete Jürgen Türk.
ein Erfolg, Frau Matthäus-Maier!)
Wo wir gerade beim Vertrauen in den Rechtsstaat Jürgen Türk (F.D.P.): Sehr verehrte Frau Präsiden-
sind: Vor wenigen Monaten wurde in schwierigen tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, bei
und zähen, aber letztlich erfolgreichen Verhandlun- der Bewertung von fünf Jahren deutscher Einheit
gen der Übergang in das Vergleichsmietensystem sich die Stimmen und Meinungen unserer Nachbarn -
auf den Weg gebracht. Der Mieterbund, die SPD und eindringlich anzuhören. In einem Kommentar im pol-
die Bundesregierung haben die Mieterinnen und nischen Rundfunk war dazu zu hören:
Mieter in aufwendigen Kampagnen beraten. Das
Die Deutschen haben innerhalb von fünf Jahren
hier gewonnene Vertrauen wird mutwillig und ohne
unglaublich viel vollbracht ... Man darf die Deut-
Not aufs Spiel gesetzt, wenn sich die Bundesregie-
schen dazu beglückwünschen und sich selbst;
rung nicht endlich dazu durchringt, den besonderen
denn von dem, wie sich die Situation in Deutsch-
Kündigungsschutz um mindestens drei Jahre zu ver-
land entwickelt, von der deutschen Stabilität
längern.
hängt auch die Stabilität in Europa ab, auch
(Beifall bei der SPD) unsere.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5115
Jürgen Türk
Und weiter: Die F.D.P. und wir alle müssen uns für die Rege-
lung der Altschulden der Kommunen einsetzen,
Auf dem Weg in die Moderne läßt sich Ost-
denn wir können nicht einerseits den Kommunen
deutschland praktisch von nichts aufhalten.
Geld für den Infrastrukturaufbau geben und sie an-
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich will dererseits wieder belasten, indem wir ihnen diese
mit diesem Zitat die Probleme, insbesondere die Schulden aufbürden. Letztlich müssen wir auch end-
noch hohe Arbeitslosigkeit, in keiner Weise kaschie- lich in Ost und West begreifen, daß das Festhalten an
ren. Nur sollten wir bei allen schmerzhaften Schwie- verkrusteten Denkstrukturen in Ost und West keine
rigkeiten nicht verkennen, daß wir durch die deut- neuen Arbeitsplätze schafft: Neues Denken tut not.
sche Wiedervereinigung im Vergleich zu den ande- Es gibt noch viel zu tun. Packen wir es weiterhin ge-
ren Ländern im früheren Ostblock nicht nur einen meinsam an.
leichteren Weg hatten, sondern auch eine weitaus Vielen Dank.
stabilere Entwicklung genommen haben.
(Beifall bei der F.D.P.)
Dazu hat eine Investitionsförderung beigetragen,
die in ihrem Umfang beispiellos ist und die rasche
Entwicklung einer leistungsfähigen, modernen Infra- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat
struktur in allen Bereichen ermöglichte. Wer die Ver- jetzt der Abgeordnete Paul Krüger.
änderungen nicht sieht oder sie leugnet, ist entweder
blind oder Opportunist. Dr.-Ing. Paul Krüger (CDU/CSU): Frau Präsidentin!
Die wichtigste Botschaft für die Menschen in den Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich
aus Sicht der heutigen Debatte auf fünf Jahre Einheit
neuen Ländern aber ist: Der Aufbau Ostdeutsch-
lands geht weiter. zurückschaue und darüber nachdenke, ist für mich
persönlich der 9. Oktober 1989 ganz wichtig. Das
(Beifall bei der F.D.P.) war der Tag der ersten Massendemonstration in
Leipzig. Er war für mich persönlich - ich glaube auch
Es hätte auch keinen Sinn gemacht, auf der halben für viele andere in Ostdeutschland - ein ganz ent-
Wegstrecke stehenzubleiben, also Investitionsruinen scheidender, vielleicht sogar der entscheidende Tag
zu schaffen. Niemand hinde rt uns aber daran, es in unserem Leben.
noch besser zu machen und aus Fehlentwicklungen
unsere Lehren zu ziehen. Aber nur wer nichts macht, Zum erstenmal erhob sich in der DDR der Wider-
macht keine Fehler. stand von 70 000 Menschen, ohne daß das System
gnadenlos zurückgeschlagen hätte. Viele von uns
Die Fortführung und Konzentration der Förder- spürten an diesem Abend intuitiv, nichts würde mehr
maßnahmen auf Industrie und Mittelstand sind noch so sein wie vorher. Warum sage ich das? Wenn ich
notwendig; denn Investitionsförderung heißt weiter- manches, was heute gesagt wurde, höre, dann nimmt
hin Arbeitsplätze schaffen. Dazu gehört auch, daß es schon wunder, wie die Einschätzung der Situation
die Kirchturmpolitik der Kommunen aufhört. Sie ist dieser Zeit heute gelitten hat.
ineffizient. Dazu brauchen wir regionale Standortent-
wicklungsgesellschaften, die Synergieeffekte aus- Dieser Durchbruch des 9. Oktobers ließ erstmals
nutzen, die p ri vat, marktwirtschaftlich und erfolgsab- aus einer tiefen Hoffnungslosigkeit für die Menschen
hängig arbeiten. in Ostdeutschland Hoffnung entstehen und wachsen;
Hoffnung zunächst nur auf ein Ende des alten Sy-
Wir brauchen die verstärkte Ausrichtung der Wi rt stems. Damals haben wir überhaupt nicht gewagt,
Forschung, Entwicklung und Aus--schaftpolikauf über Neues nachzudenken. Wir haben nur einen
bildung, denn Köpfe sind nun einmal unser eigentli- Schimmer davon gehabt, daß sich etwas verändern
ches Kapital. Bei der noch vorhandenen Diskrepanz könnte. Uns war Monate später keineswegs klar, wie
zwischen Löhnen und Produktivität in den neuen diese Veränderungen aussehen könnten. Wir haben
Ländern hilft kein Jammern, sondern nur gezielte In- vielleicht in manchen Diskussionen zaghaft gewagt,
novationsförderung beim Produkt, bei der Fertigung darüber nachzudenken, ob es irgendwann einmal
und beim Absatz. Weiterhin ist die Unterstützung ei- eine Wiedervereinigung geben könnte. Wir haben
nes forcierten Aufbaus des Justiz- und Verwaltungs- damals oft gesagt - ich kann mich genau an die Zeit
wesens notwendig. Dem neu entstehenden Mittel- erinnern -: Wir werden von den Veränderungen, die
stand geht finanziell die Puste aus, weil er seine For- jetzt anstehen, überhaupt nichts mehr haben. Viel-
derungen nicht zügig eintreiben kann. leicht werden irgendwann unsere Kinder spüren,
Ich fordere hiermit Bund und Länder auf, entschei- was es hieß, in diesem alten System zu leben, und
dende Schritte gegen die wachsende Zahlungsun- was es heißt, jetzt Veränderungen zu haben.
moral zu unternehmen. Wir dürfen das Leistungs- So war es damals, und so haben wir es empfunden.
prinzip, was sich hier jahrelang bewährt hat, nicht Auch in Westdeutschland, meine lieben Kolleginnen
abschaffen. und Kollegen, waren viele von klaren Zukunftsvisio-
(Beifall bei der F.D.P.) nen weit entfernt. Ich habe mir gestern im Vorfeld
der Rede einige aus der damaligen Zeit aktuellen
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, Zeitschriften besorgt. Egon Bahr sagte am 1. Oktober
Ihre Redezeit ist vorbei. 1989:
Laßt uns um alles in der Welt aufhören, von der
Jürgen Türk (F.D.P.): Ich bin sofort fertig. Einheit zu träumen oder zu schwätzen.
5116 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
Hans-Joachim Hacker
gehenden DDR, an und insbesondere das, was wir lichen mit den Ergebnissen der Enquete-Kommis-
am 7. Oktober 1989 zur Frage der deutschen Einheit sion des Schweriner Landtages, die sich mit dem Le-
gesagt haben! Wenn Sie in einer beweihräuchernden ben in der DDR, mit dem Leben nach 1989 und mit
A rt und Weise die Position der Koalitionsparteien zur der Aufarbeitung und Versöhnung beschäftigt.
deutschen Einheit darstellen und die Situation im
Es sind erhebliche Mängel und Lücken in beiden
Jahr 1989 schildern, dann rate ich Ihnen auch:
SED-Unrechtsbereinigungsgesetzen festzustellen.
Schauen Sie in die Unterlagen des KoKo-Untersu-
Der Gesetzgeber ist dringend gefordert, durch No-
chungsausschusses, wie do rt die Positionen dieser
Regierungskoalition im Oktober 1989 beschrieben vellierung der beiden Gesetze die Situation der Op-
fer zu verbessern.
worden sind! Ihnen würden die Augen aufgehen. Ich
rate Ihnen das dringend. (Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD) Genau diese Zielstellung verfolgt der Ihnen von mei-
Meine sehr verehrten Damen und Herren, eine ner Fraktion vorgelegte Antrag auf Drucksache
Grundsatzdebatte zur Situation in Deutschland fünf 13/2445.
Jahre nach der Herstellung der staatlichen Einheit ist Ich komme an dieser Stelle nicht umhin, festzustel-
für meine Fraktion mit dem Dank an diejenigen len, daß die von den Betroffenen vorgetragene Kritik
Frauen und Männer verbunden, die sich während und deren Forderungen von meiner Fraktion bereits
der Zeit der Teilung für Einigkeit und Recht und Frei- teilweise in der zweiten Lesung der beiden Gesetz-
heit eingesetzt haben und dafür in Gefängnisse und entwürfe als Defizite benannt wurden.
Zuchthäuser der SBZ und DDR geschickt wurden.
Während der Zeit der Teilung wurde in der Öffent- Die SPD-Bundestagsfraktion hatte in der Plenarsit-
lichkeit Westdeutschlands an den Mut dieser Frauen zung am 17. Juni 1992 sowie am 11. März 1994 insbe-
und Männer erinnert und deren Schicksale gedacht. sondere kritisiert, daß im „Strafrechtlichen Rehabili-
Verbunden wurde damit auch die Zusage des freien tierungsgesetz die Vererblichkeit" und die Höhe der
Deutschlands, den Opfern von Unterdrückung und Haftentschädigung unzureichend geregelt sind.
Tyrannei verpflichtet zu sein. Das muß um so mehr Die von meiner Fraktion eingebrachten drei Ände-
für das vereinte Deutschland gelten. Rehabilitierung rungsanträge sind von Ihnen, meine Damen und
und Wiedergutmachung von Unrecht waren auf dem Herren aus der Koalition, damals jedoch abgelehnt
Gebiet der DDR erst nach der f riedlichen Revolution worden.
1989 möglich. Der gesamtdeutsche Gesetzgeber
steht heute in der Pflicht, Defizite in der Rehabilitie- (Ing ri d Matthäus-Maier [SPD]: Leider! -
rungsgesetzgebung endlich zu beseitigen. Wolfgang Thierse [SPD]: Skandalös!)
Ihnen, meine Damen und Herren, liegt heute ein Ebenso ist die vom Rechtsausschuß eingeforderte
Entwurf der SPD-Bundestagsfraktion vor, mit dem Regelung für Opfer von Verschleppungsmaßnah-
wir ein Paket von Maßnahmen zur Verbesserung der men östlich von Oder und Neiße bis heute nicht be-
Situation der Opfer des DDR-Systems vorschlagen. friedigend erfolgt. Dafür trägt diese Bundesregie-
Die Bundesregierung hat dem Bundesrat ebenfalls rung direkt die Verantwortung.
einen Gesetzentwurf zur Änderung der beiden SED- (Beifall bei der SPD)
Unrechtsbereinigungsgesetze zugeleitet. Mit ihm
sollen die Antragsfristen in den beiden Artikelgeset- Während bei der Regelung der offenen Vermö-
zen jedoch lediglich um zwei Jahre verlängert wer- gensfragen im Entschädigungs- und Ausgleichslei-
den. stungsgesetz die Bundesregierung Milliardenbeträge
bewilligt hat, sind die Zahlungen für Schäden an
Die Bewe rtung des Gesetzentwurfs der Bundesre- Leib und Leben sowie die Ausgleiche für oft lebens-
gierung ist auf einen kurzen Nenner zu bringen. Er lange Benachteiligungen sparsam, um nicht zu sa-
wird der Situation der Opfer nicht gerecht, da er die gen kümmerlich ausgefallen - eine dera rtige Schief-
Ergebnisse der bisherigen Umsetzung der Rehabili- lage, die die Frage nach den Wertmaßstäben dieser
tierungsgesetze nicht aufgreift. Bundesregierung aufwirft.
(Beifall bei der SPD) Ich wäre an dieser Stelle gerne auf die Aussagen
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist hand- des Bundeskanzlers eingegangen, der hier richtiger-
werklich nicht zu beanstanden. Seine einsamen zwei weise über Käfige in Bautzen und das gelbe Elend
Artikel bringen für die Betroffenen jedoch in mate- gesprochen hat. Ich hätte ihm gerne die Frage ge-
riell-rechtlicher Hinsicht nichts. stellt: Wo sind die Konsequenzen?
In den letzten Monaten hat sich meine Fraktion in- (Beifall bei der SPD) -
tensiv mit der Frage der Stellung der Opfer nach vor- Welche Maßnahmen schlägt er heute vor, um die Si-
liegender umfangreicher Erfahrung bei der Umset- tuation der Opfer zu verbessern? Es ist Zeit, daß die
zung der Rehabilitierungsgesetze beschäftigt. Die- Bundesregierung und die Koalition in dieser Frage
sem Ziel diente auch eine öffentliche Anhörung am eine moralische Wende vollziehen.
12. September dieses Jahres in Berlin, bei der Betrof-
fenenverbände, Sachverständige, Landesbehörden (Dr. Uwe Küster [SPD]: Worte kosten nichts,
und Vertreter der Bundesregierung ihre Erfahrungen aber die Taten, die gebraucht werden, ko-
darlegen konnten. Die Ergebnisse und Schlußfolge- sten Geld! Deshalb wird es wieder verwei-
rungen aus dieser Anhörung decken sich im wesent gert!)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5119
Hans-Joachim Hacker
Die Zeit der Sonntagserklärungen und Lippenbe- Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Christa Luft,
kenntnisse gegenüber den Opfern muß endlich ein PDS.
Ende haben.
(Beifall bei der SPD)
Dr. Christa Luft (PDS): Herr Präsident! Verehrte
Diese Forderungen an Sie, die Kolleginnen und Kolleginnen und Kollegen! Ehrlich gestanden, nach
Kollegen der Koalition, leuchten wohl jedem ein, der den bisherigen Beiträgen der Regierungsvertreter
sich mit den Ergebnissen der bisherigen Rehabilitie- und der Koalitionsabgeordneten frage ich mich nun
rungsgesetzgebung für die Betroffenen auseinander- schon seit Stunden: Wen wollen und können Sie ei-
gesetzt hat. gentlich nach fünf Jahren deutscher Einheit damit
noch ansprechen oder gar mobilisieren, daß Sie die
Die SPD-Bundestagsfraktion stellt den Antrag auf Abgeordneten hier im Saal und die Wählerinnen und
deutliche Nachbesserungen nicht leichtfertig, weil Wähler, die sie zu vertreten haben, in zwei Schach-
auch wir wissen, daß der zur Diskussion gestellte An- teln tun? Die einen sind die Guten, die Einheitsbefür-
trag in seiner Ausführung Geld kostet. Wir stellen worter, und die anderen sind die Bösen, die gegen
diesen Antrag jedoch vor dem Hintergrund der Ver- die Einheit waren. Ich muß Ihnen sagen, daß dies im
antwortung für die Frauen und Männer, die dem Un- Lande niemanden mehr interessiert; jedenfalls beob-
recht in der damaligen SBZ und der DDR Widerstand achte ich das so. Das ist keine konstruktive Fragestel-
entgegengebracht haben oder die allein wegen der lung, das spaltet künstlich.
Inanspruchnahme bzw. der Einforderung von Bür-
gerrechten politisch drangsaliert und verfolgt wor- (Beifall bei der PDS)
den sind.
Die Einheit gibt es doch inzwischen. Ich kenne in
Es kann nicht sein, daß in Deutschland und insbe- meinem Wahlkreis, in Berlin-Lichtenberg und in Ber-
sondere in der Gesetzgebung dieses Hohen Hauses lin-Friedrichshain, niemanden, der sich ein geteiltes
der Immobilienwert höher eingestuft wird als der Land zurückwünscht. Da malen Sie einfach Schreck-
Wert für Gesundheit, für Lebenschancen, ja der Wert gespenster an die Wand, und Sie stempeln die Bür-
für Leben an sich. gerinnen und Bürger ab, die sich darüber Gedanken
machen, was jetzt noch falsch läuft und was geändert
(Beifall bei der SPD)
werden muß. Das Thema Gestaltung der wirtschaftli-
Meine Damen und Herren, wir fordern erstens die chen und sozialen Einheit ist doch zu schade, als daß
Erhöhung der Kapitalentschädigung im strafrechtli- es als Wahlkampfschlager dient und in Parteienpole-
chen Rehabilitierungsgesetz sowie die Erweiterung mik verkommt, so wie das hier heute geschieht.
der Vererblichkeitsregelung und zweitens die Ein-
führung einer moralischen Rehabilitierung bei Ver- (Hannelore Rönsch [Wiesbaden] [CDU/
waltungsunrecht. Wir wollen dem Schicksal der Be- CSU]: Da müssen Sie Ihr Wahlkampfdreh-
troffenen gerechter werdende Regelungen für die buch aber umschreiben, Frau Dr. Luft!)
Verschleppungsfälle östlich von Oder und Neiße er- Der Bundeskanzler, Herr Schäuble und Herr Wai-
reichen, insbesondere im Wege der Nachbesserung gel haben gesagt, die weltweit anerkannten Fo rt
der Stellung und Möglichkeiten der Stiftung für ehe- -schritenDuladbierUmgstlun
malige politische Häftlinge. Osten unseres Landes solle man nicht zerreden. Das
Zur Situation der Zwangsausgesiedelten könnte ist sicher gut. Aber verstehen Sie denn nicht, daß die
ich an dieser Stelle viel sagen. Hier muß nachgebes- Menschen in den neuen Bundesländern - ich nehme
sert werden. Es geht nicht an, daß eine Rückzahlung an, auch in den alten Ländern - ihre Empfindungen,
für Erstattungsbeträge und für Inventar eingefordert ihre Gefühle, ihre Emotionen, ihre Wertungen nicht
wird, wenn dieses Inventar längst untergegangen ist. daran messen,' ob die Bundesrepublik Deutschland
den Maastricht-Kriterien entspricht oder wie sie in
(Beifall bei der SPD) der ausländischen Presse dargestellt wird?
Zum letzten. Es muß auch bei den Rentenanwart- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Also in
schaften eine Verbesserung für die Verfolgten er- den Sozialismus wollen Sie zurück?)
reicht werden.
Sie machen ihre eigenen Beobachtungen, sie ma-
Es ist heute, wenige Tage nach dem fünften Jah- chen ihre eigenen Erfahrungen. Und da Sie sich gern
restag der Wiedervereinigung, sicher der geeignete mit Ergebnissen von demoskopischen Umfragen
Termin, sich dieser Aufgabe zu stellen. Für viele Be- schmücken, wenn sie Ihnen schmeicheln, müssen
troffene, die auf das Handeln des Bundestages war- Sie nun aber auch aushalten, was sogar Frau Noelle-
ten, ist die mit dem SPD-Antrag eingeleitete Debatte Neumann vor wenigen Tagen herausgefunden hat.
die letzte Möglichkeit, Gerechtigkeit zu erlangen. Sie veröffentlichte in ihrer „Allensbach-Umfrage",
(Beifall bei der SPD) daß im Gegensatz zu 1990, als noch jeder zweite Ost-
deutsche in seiner Erwartungshaltung eine gute Mei-
nung von der Sozialen Marktwirtschaft hatte, es jetzt
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Bevor ich der nur noch jeder dritte ist. Das ist doch ein Signal, das
nächsten Rednerin das Wort gebe, weise ich auf den Politik zur Kenntnis nehmen muß. Ich wi ll überhaupt
neuen § 45 Abs. 4 unserer Geschäftsordnung und keine Debatte über Vorzüge der Planwirtschaft oder
insbesondere darauf hin, daß wir für die Kernzeit-De- der Marktwirtschaft entfalten; das ist nicht das
batten ein bestimmtes Quorum brauchen. Thema. Sie müssen dieses Signal aufnehmen!
5120 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
(Beifall bei der PDS) - Wer das Beispiel mit der Schokolade anführt, muß
eine solche Reaktion vertragen können. Sie können
noch so laut schreien, das wird niemanden überzeu-
Es ist gut, daß jeder ein Recht auf gewerbliche gen.
Freiheit hat. Aber es gibt kein Recht auf Anfangska-
pitalausstattung. Das ist doch eine Wahrheit, der Sie Die jetzt angebotenen Lösungen für die drückend-
sich stellen müssen. Es ist gut, ein Recht auf freie sten sozialen und wi rtschaftlichen Probleme über-
Wahl des Arbeitsplatzes zu haben; niemand möchte zeugen nicht mehr. Daher haben Sie die Menschen
das mehr missen. Aber es gibt für Millionen keine in eine neue Orientierungskrise gestürzt. Das muß
Aussicht, einen Arbeitsplatz zu bekommen, und ich Ihnen sehr deutlich sagen.
schon gar kein Recht darauf. Dieser Frage müssen
Sie sich stellen. (Beifall bei der PDS)
Die D-Mark und - das sage ich ausdrücklich - ihre
(Beifall bei der PDS) Stabilität gilt es zu schützen. Aber sie darf doch nicht
das einzige sein, was die Menschen in Ost und West
Jugendliche in den neuen Ländern und zuneh- verbindet. Wir haben eine gemeinsame Verantwor-
mend in den alten Ländern erkennen, daß dem Aus- tung dafür, mit allem, was in Ost und West vorhan-
bildungsnotstand nicht mit Talkrunden beim Kanzler den ist, sorgsam umzugehen. Wir müssen es zum
oder mit schnell aufgelegten Notprogrammen beizu- wiederholten Male anmahnen: Mit dem, was die ost-
kommen ist, so wichtig sie in der jetzigen Lage auch deutschen Menschen an Arbeit und Opfern einge-
sein mögen. Hier braucht man andere Regelungen. bracht haben, sind Sie verschwenderisch und selbst-
Frauen sind auf dem Arbeitsmarkt zur Manövrier herrlich umgegangen. Dies muß endlich ein Ende ha-
masse geworden. Sie wollen das nicht und werden ben.
mobil machen.
Wenn Sie den jüngsten Bericht des Bundesrech-
nungshofes gelesen haben, dann wissen Sie, wie er
Die Wohnkostenbelastung übersteigt in ihrem den Umgang, z. B. mit dem Auslandsvermögen, das
Tempo das Maß der Einkommenssteigerung. Im übri- die DDR hinterlassen hat, rügt. Viele, viele andere
gen ist diese Entwicklung wider den Einigungsver- Dinge kommen täglich hinzu.
trag. Immer mehr Menschen fürchten um ihr sicheres
Dach. Das müssen Sie zur Kenntnis nehmen, und das
müßte Sie an einem solchen Tage zu politischem Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Zeit, Frau Kolle-
Handeln veranlassen. Viele Handwerker in meinem gin.
Wahlbezirk - insbesondere in Friedrichshain waren
immer massenhaft Handwerker angesiedelt - sagen:
Den Sozialismus mit all den Problemen, die wir dort Dr. Christa Luft (PDS): Sie sind es den westdeut-
hatten, haben wir überstanden. schen Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern schul-
dig, daß Sie mit dem, was brauchbar war und nach
(Hannelore Rönsch [Wiesbaden] [CDU/ wie vor brauchbar ist, ordentlich umgehen.
CSU]: Lesen Sie doch noch einmal den er-
(Beifall bei der PDS)
sten Teil Ihrer Rede durch! Der widersp richt
dem zweiten jetzt!)
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Frau Kollegin,
Jetzt werden wir pleite gehen, weil wir die Gewerbe- Zeit.
raummieten nicht mehr zahlen können. Diese Dinge
müssen Sie zur Kenntnis nehmen. -
Dr. Christa Luft (PDS): Ja. - Sie müssen den west-
deutschen Bürgerinnen und Bürgern reinen Wein
(Hannelore Rönsch [Wiesbaden] [CDU/ einschenken, daß die ostdeutschen Landsleute nicht
CSU]: Sie spalten schon wieder!) nur Schulden mit eingebracht haben. Ich darf Ihnen
zum Abschluß diese Zahl nennen: Selbst wenn man
Frau Merkel, ich kann Ihnen zustimmen. An Scho- alles, was Sie belieben als Altschulden zu betrach-
kolade gibt es wirklich keinen Mangel mehr, auch ten, addiert, dann kommen auf die 16 Millionen ehe-
nicht an Kinderschuhen. Ich finde das gut, was die malige DDR-Bürger 1990, vor der deutschen Einheit,
Kinderschuhe angeht. Schokolade, meine ich, hat es je 13 540 DM.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5121
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Frau Kollegin Dr. Bereitschaft der Menschen in Ostdeutschland, es als
Luft, ich bitte um Entschuldigung. Würden Sie einen notwendig zu ertragen und sich weitgehendst nicht
Augenblick zuhören? - von den Pessimisten und Miesmachern anstecken zu
lassen, sondern optimistisch zu bleiben. Nur noch
Dr. Christa Luft (PDS): Ja. einmal zur Erinnerung: Die CDU hat in Sachsen do rt
diegrößtnWahlfo,wdiePrbmagöß-
ten sind. Die Ostdeutschen haben, wo immer es mög-
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Es geht nicht, lich war, zugepackt. 84 000 in der Mehrzahl neuge-
daß Sie, wenn ich zweimal „Zeit" sage und Sie ja sa- gründete Unternehmen sprechen eine beredte Spra-
gen, einfach weitermachen. che. Hier möchte ich meinen ostdeutschen Landsleu-
ten ein Danke sagen.
Dr. Christa Luft (PDS): Einmal habe ich es gehört!
Ein zweites Mal nicht! (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
ordneten der F.D.P.)
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Sie müssen jetzt Wir können stolz auf das Erreichte sein, zufrieden
zum Schluß kommen. sein können wir nicht. Die Erfolgsmeldungen trüben
mitunter den Blick für das, was noch geschehen muß,
Dr. Christa Luft (PDS): Ich komme zum letzten um das Werk des wirtschaftlichen Zusammenwach-
Satz: Sie müssen den Westdeutschen wie den Ost- sens erfolgreich abzuschließen. Der Schlüssel des Er-
deutschen reinen Wein über die Verhältnisse ein- folgs beim wi rt schaftlichen Aufbau Ost lag und liegt
schenken. Das wird mobilisieren, aber nicht, wenn noch immer in einer Existenzgründungswelle von
dieses Parteiengezänk hier weiter anhält. kleinen und mittelständischen Bet ri eben, die welt-
weit ihresgleichen sucht. Hier wurde das Fundament
(Beifall bei der PDS) für den wi rt schaftlichen Aufschwung geschaffen.
Hier finden die meisten Lehrlinge eine Lehrstelle,
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der und hier gibt es die meisten Arbeitsplätze. Im Kam-
Kollege Gerhard Schulz, CDU/CSU-Fraktion. merbezirk Leipzig z. B. beschäftigt jeder Handwerks-
betrieb im Durchschnitt 13 Mitarbeiter; der Bundes-
Gerhard Schulz (Leipzig) (CDU/CSU): Herr Präsi- durchschnitt liegt bei sieben bis acht Mitarbeitern.
dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Fünf In diesem Bereich hat die Regierungskoalition mit
Jahre deutsche Wiedervereinigung, fünf Jahre Auf- ihrer Förderpolitik bisher hervorragende Arbeit ge-
bau Ost, ich glaube, wir haben allen Grund, uns über leistet. Für die Zukunft wird es aber von maßgebli-
das Erreichte zu freuen. Ich brauche dem, was der cher Bedeutung sein, welche Schwerpunkte wir bei
Bundeskanzler gesagt hat, nicht mehr viel hinzuzufü- der Förderpolitik setzen werden. Dabei muß oberste
gen. Priorität haben, das Fundament, also die kleinen und
Die erbrachten Leistungen haben zwei Gesichter, mittleren Betriebe, in Ostdeutschland zu stabilisie-
und diese zwei Gesichter zeigen, daß Deutschland ren. Wer glaubt, jetzt hier sparen zu können, der ge-
gemeinsam, wenn auch mit unterschiedlichen Mög- fährdet eklatant das, was bisher so erfolgreich aufge-
lichkeiten, daran arbeitet, Trennendes zu beseitigen. baut wurde.
Der eine Teil leistet einen gewaltigen finanziellen Der Bundeswirtschaftsminister hat am Dienstag
Beitrag, um zu erreichen, daß das Aufbauwerk ge- zum Start des Eigenkapitalhilfefonds Ost gegenüber
lingt. Dies erfolgt durch Steuergelder, die für die Ent- der Öffentlichkeit klar und deutlich zum Ausdruck
wicklung der Infra- und Wi rt schaftsstruktur einge- gebracht, daß diese Unternehmen gerade jetzt unter
setzt werden, und durch Beitragsgelder, die die Lei- erheblicher Eigenkapitalschwäche leiden. Er über-
stungen für das Gesundheitswesen und die Rente er- nimmt damit das Ergebnis vieler Analysen. Die mei-
möglichen, die aber auch dafür sorgen, daß es trotz sten Unternehmen in den neuen Bundesländern ha-
des großen Umbruchs keine großflächige Not und so- ben ihr Ziel, wettbewerbsfähig zu werden und sich
ziale Katastrophen gibt. Herr Kollege Scharping hat am Markt behaupten zu können, erst zur Hälfte er-
vorhin mangelndes Solidaritätsbewußtsein angespro- reicht. Der schwierigere Teil des Weges liegt noch
chen. Ich finde: Genau das Gegenteil ist der Fall. vor ihnen. Sie müssen mit neuen Produkten auf den
Auch ich möchte von dieser Stelle aus den westdeut- Markt, die zu entwickeln mitunter viel Aufwand er-
schen Mitbürgern ein recht herzliches Dankeschön fordert, und sie müssen trotz Eigenkapitalschwäche
für diese Leistung sagen. lebens-, ja überlebenswichtige Investitionen tätigen,
um weiterhin wachsen zu können. Diese Unterneh-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) men brauchen Hilfe, um ihre Existenz zu festigen.
Hier kann mit wesentlich weniger Mitteln, als in der
Die andere Seite dieses Gemeinschaftswerkes ist
Vergangenheit für die Gründung aufgebracht wur-
das, was in Ostdeutschland geleistet und - ich muß
den, viel erreicht werden. Es können weniger Mittel
es so sagen - erduldet wurde und erduldet wird.
sein, aber es dürfen nicht zu wenige sein. Ich rede
Wenn es trotz des großen Umbruches - immerhin von Forschungsförderung und Existenzfestigung.
80 % der Indust ri e sind verschwunden, und allein im
Bereich Braunkohle wurden 100 000 Arbeiter arbeits- Das setzt den Maßstab und formuliert die Notwen-
los - zu keinem Aufruhr kam, so hat das zwar auch digkeit unserer zukünftigen Förderpolitik. Es ist zu-
etwas mit der durch viel Geld ermöglichten sozia- gleich die politische Herausforderung, der wir uns
len Abfederung zu tun, aber hauptsächlich mit der stellen müssen. Konkret heißt das: Es ist eine falsche
5122 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU Das haben wir hier aber nicht erlebt.
und der SPD)
Was aus diesem Antrag spricht, ist der blanke
Meine Damen und Herren, wir sind unserem Ziel, Populismus. Natürlich gab es 1990 optimistische - ich
eine wettbewerbsfähige ostdeutsche Wi rt schaft auf- bin versucht, auch zu sagen: naive - Vorstellungen,
zubauen, ein großes Stück nähergekommen. Noch man könne die Privatisierung des früheren Staatsver-
sind wir in den Haushaltsverhandlungen, und ich mögens der DDR, einschließlich der Bet ri ebe, am
denke, daß wir miteinander reden können und reden Ende mit einem Gewinn abschließen. Aber am
müssen, um zu einem vernünftigen Ergebnis zu kom- Schluß standen 360 Milliarden DM, die in den Erb-
men. Die Aufgabe für die nächsten Jahre wird sein, lastentilgungsfonds als Schuldenbetrag eingestellt
die ostdeutschen Unternehmen und vor allem den werden mußten.
Mittelstand zu stabilisieren und Rahmenbedingun-
gen für ein nachhaltiges Wachstum zu schaffen. Daß Haben Sie sich jemals überlegt, daß man, wollte
wir dazu in der Lage sind, zeigen die bisherigen Lei- man dieses angebliche Vermögen heute verteilen, je-
stungen beim wi rt schaftlichen Aufbau. Ich vertraue den Ostdeutschen vom Baby bis zum Greis mit
darauf, daß es dabei bleibt. durchschnittlich 22 500 Mark Schulden pro Kopf be-
lasten müßte?
Vielen Dank.
(Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Sehr
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gut!)
Fünf Jahre nach dem Fall der Mauer ist die Mauer Meine Damen und Herren, wissen Sie eigentlich,
in den Köpfen der Menschen erneut gewachsen. Aus was diesen Menschen angetan wurde, was es bedeu-
Verdruß und Enttäuschung wählt ein Fünftel der Ost- tet, wenn sich Millionen Menschen ausgegrenzt und
deutschen die Erben der kommunistischen Staatspar- nutzlos vorkommen, was das für das Zusammenle-
tei der DDR. Das ist auch ein Stück Verantwortung ben der Menschen in den Städten und Gemeinden
dieser Bundesregierung, meine Damen und Herren. bedeutet?
(Beifall bei der SPD) „Wenn im Westen 80 % aller Industriearbeitsplätze
verlorengegangen wären, dann hätten wir eine revo-
Und was macht die Bundesregierung angesichts lutionäre Situation gehabt, und die Republik hätte in
dieser Lage? Sie verdrängt, sie verharmlost weiter, Flammen gestanden."
anstatt heute hier in dieser Debatte eine schonungs-
lose Bilanz auf den Tisch zu legen. (Iris Gleicke [SPD]: Das ist wohl wahr!)
5124 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
Rolf Schwanitz
Wer das gesagt hat, ist niemand, der die Menschen Deshalb sagen wir: Die Bundesregierung muß das
in Ostdeutschland zu Haß und Gewalt aufstacheln Problem der Altschulden politisch lösen. Was wir
will. Das war vielmehr der Unternehmer und Vize- brauchen, ist die Bereitschaft zu einer pragmatischen
präsident des Bundesverbandes der Deutschen Indu- Lösung; was wir brauchen, ist der Wille zum Kompro-
strie, Tyll Necker. miß auf der Regierungsseite.
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Genau!) Es reicht nicht mehr aus, daß Herr Bohl Sondie-
Er hat offensichtlich eher ein Gefühl für die Tiefe und rungsgespräche mit den Staatssekretären in den
das Ausmaß des Strukturbruches, der den Menschen Staatskanzleien der neuen Länder führt. Die Blocka-
zugemutet worden ist. Sie haben dieses Mitgefühl depolitik des Finanzministers muß beendet werden.
heute jedenfalls nicht gezeigt. Bund, Länder und ostdeutsche Gemeinden müssen
an einen Tisch.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD)
Meine Damen und Herren, ich will gern noch ein
weiteres Beispiel für Ihre Politik des Verdrängens
und Wegschauens nennen. Es ist ein besonders är- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Die Zeit, Herr
gerliches Beispiel, weil die Bundesregierung das Pro- Kollege!
blem nun schon seit Jahren vor sich herschiebt. Ich
meine die Lösung der sogenannten Altschuldenfrage
ostdeutscher Kommunen für gesellschaftliche Ein- Rolf Schwanitz (SPD): Meine Damen und Herren,
richtungen. ich komme zum Schluß. Egal ob es um die Altschul-
den, um die Arbeitslosigkeit oder um Investitionsfra-
(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Der Anfang Ihrer
gen geht - Verdrängen und Beschönigen sind der fal-
Rede war besser!)
sche Weg. Was wir von dieser Bundesregierung er-
Ich kann die Haltung Ihrer Regierung, Herr Bun- warten, sind Wahrheit und Klarheit, und hier werden
deskanzler, in der sogenannten Altschuldenfrage in wir in den nächsten Jahren ansetzen.
der Tat nicht nachvollziehen. Es ist doch überhaupt
nicht einzusehen, warum Rostock, Halle, Magde- (Beifall bei der SPD)
burg, Leipzig und Hunderte anderer Städte Millio-
nen von Altschulden aus DDR-Zeiten bezahlen sol-
len, während Dresden oder Ostberlin und die über- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort zu ei-
wiegende Mehrheit der Städte und Gemeinden ner Kurzintervention hat der Kollege Dr. Gysi, PDS.
schuldenfrei sind. Dabei haben alle genau das glei-
che gemacht, nämlich Kindergä rten, Schulen,
Schwimmhallen und Sportplätze gebaut. Dr. Gregor Gysi (PDS): Herr Präsident! Herr
Schwanitz hat in seiner Rede erneut darauf hinge-
Es ist doch verrückt: Sie, Herr Bundeskanzler, wol- wiesen - das hat er auch schon in einer früheren De-
len Mahnbescheide an Kommunen schicken, die be- batte getan, und dazu will ich mich äußern -, daß die-
reits heute bis zur Halskrause verschuldet sind und jenigen, die jede Zeile des Einigungsvertrags abge-
selbst kaum über eigene Einnahmen verfügen, um lehnt hätten, nicht berechtigt seien, nunmehr Ände-
ihre Pflichtaufgaben erfüllen zu können. Sollen denn rungen und Ergänzungen zu diesem Einigungsver-
diese Gemeinden ihre Verwaltungsaufgaben liegen- trag zu fordern.
lassen und den Bau von Schulen, Straßen und Klär-
anlagen einstellen, damit die dubiosen Altschulden Erstens möchte ich Sie, Herr Schwanitz, bitten,
aus DDR-Zeiten an die Bundesregierung zurückge- meine damalige Rede in der Volkskammer vollstän-
zahlt werden können? Das kann doch nicht Ihr Ernst dig zu lesen. Dann werden Sie bei aller Kritik und
sein. Ablehnung des Einigungsvertrags - übrigens hat
nicht allein die PDS ihn abgelehnt, sondern auch
Ich habe durchaus Sympathie - das sage ich an eine andere Fraktion hat dies getan - auch einen
dieser Stelle ganz offen - für die Auffassung der ost- Satz finden, in dem ich gesagt habe, daß in diesem
deutschen Gemeinden, wenn sie sagen, die soge- Einigungsvertrag auch einiges positiv geregelt ist.
nannten Altschulden seien eigentlich gar keine Obwohl wir ihn heute ablehnen - so habe ich damals
Schulden, sondern gehörten dem Grunde nach als gesagt -, gehe ich davon aus, daß es die PDS ist, die
Zuschüsse aus dem Staatshaushalt der DDR behan- als erste diese Bestandteile verteidigen und auf der
delt und heute als Verbindlichkeiten in den Erb- Einhaltung des Einigungsvertrags bestehen wird.
lastentilgungsfonds eingestellt.
Daß es augenscheinlich schon so gekommen ist,
(Detlev von Larcher [SPD]: Richtig!) zeigt sich - so behaupte ich - zumindest daran, daß
Obwohl ich für diese Position Verständnis habe, diese Abgeordnetengruppe über den Einigungsver-
warne ich vor langwierigen rechtlichen Auseinander- trag wesentlich mehr spricht als die Fraktion da drü-
setzungen auf diesem Gebiet. Heute ist etwas ande- ben, die ihn damals ausgehandelt hat, und das hat
res wichtig: Die betroffenen Gemeinden in Ost- auch Gründe.
deutschland brauchen fünf Jahre nach der Vereini-
gung endlich Klarheit über ihre Finanzen. Zweitens haben Sie gesagt, daß die Bundesregie-
rung die Verantwortung dafür trage, daß ein Fünftel
(Beifall bei der SPD) der Menschen in den neuen Bundesländern PDS
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5125
Dr. Gregor Gysi
wählt. Abgesehen davon, daß ich auch eine gewisse Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich halte eine
Verantwortung bei uns sehe, denke ich, daß Sie mit Mittagspause von 20 Minuten für nicht in Ordnung.
Ihren Reden auch einen Beitrag dazu leisten, daß die Unter Menschenrechtsgesichtspunkten ist eine halbe
Leute PDS wählen. Stunde das mindeste. Ich unterbreche deshalb die
Sitzung für die Mittagspause bis 14.10 Uhr. Wir set-
(Beifall bei der PDS) zen die Beratung dann mit der Großen Anfrage der
Fraktion der SPD zur Arbeitszeitflexibilisierung fo rt .
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege Die Sitzung ist unterbrochen.
Schwanitz.
(Unterbrechung von 13.39 bis 14.10 Uhr)
Rolf Schwanitz (SPD): Herr Gysi, ich hätte mir als
erstes gewünscht, daß Sie hier vor allem etwas zu
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Die unterbro-
dem Thema Mauergrundstücke sagen.
chene Sitzung ist wieder eröffnet.
(Beifall bei der SPD)
Dazu habe ich bei Ihnen kein Wort gefunden. Aber Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
das, denke ich, spricht auch für sich.
Beratung der Großen Anfrage der Abgeord-
Ich will Ihnen ganz klar sagen: Bevor ich einen sol- neten Rudolf Dreßler, Gerd Andres, Robert
chen Satz sage, lese ich selbstverständlich im Proto- Antretter, weiterer Abgeordneter und der
koll der Volkskammer nach. Ich habe Ihre Reden Fraktion der SPD
nachgelesen. Was Sie dort über den Einigungsver-
trag und seinen Inhalt gesagt haben, war das blanke Entwicklung und Stand der Arbeitszeitflexi-
Schüren von Angst, von Verängstigung, von Unsi- bilisierung in Deutschland
cherheit. Sie haben behauptet, die Leute würden ver-
armen, die Rentner würden pauschal zu Sozialhilfe- - Drucksachen 13/1334, 13/2581 -
empfängern mutieren. Ich kann Ihnen nur raten, Ihr
damaliges Manuskript selbst noch einmal nachzule- Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für
sen. Das ist ein Element, das in die Geschichte einge- die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. -
hen wird und das vor der gesamten Diskussion steht, Kein Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
in der Sie sich jetzt sehr bemühen, sich als der
scheinbare Hüter des Einigungsvertrages zu profilie- Ich eröffne die Aussprache. Das Wo rt hat der Kol-
ren. lege Rudolf Dreßler, SPD.
Interfraktionell wird die Überweisung der in der Mythos Nummer eins: Die Arbeitszeitflexibilisie-
Tagesordnung aufgeführten Vorlagen an die dort ge- rung sei der Schlüssel für den Weg der deutschen
nannten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage mit Wirtschaft in eine wettbewerbssichere Zukunft, so
den Materialien zur deutschen Einheit - Drucksache heißt es. Mein Kommentar: Das ist falsch. Denn aus-
13/2280, Tagesordnungspunkt 3 b - soll zusätzlich weislich der Antworten der Bundesregierung weiß
dem Sportausschuß, der Gesetzentwurf der SPD zur die Politik über viele Aspekte der Flexibilisierung
Verlängerung des besonderen Kündigungsschutzes - nichts oder fast nichts, was sich mit Fakten belegen
Drucksache 13/2444, Tagesordnungspunkt 3 f - soll ließe. Auf 29 von insgesamt 49 Fragen meiner Frak-
zusätzlich dem Ausschuß für Familie, Senioren, tion antwortet die Bundesregierung, es gebe hierzu
Frauen und Jugend überwiesen werden. Sind Sie da- kein hieb- und stichfestes, nachprüfbares Material.
mit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so Es handelt sich dabei nicht um Nebenaspekte, son-
beschlossen. dern um zentrale Fragen der Flexibilisierung. Auf die
5126 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
Rudolf Dreßler
Frage, welche Ursachen es habe, daß tarifvertragli- Der zweite Mythos: In den meisten Beiträgen der
che Flexibilisierungsmöglichkeiten nicht genutzt konservativen Politik über die Rolle der Gewerk-
würden, lautet die Antwort: keine empirischen Er- schaften und der Betriebsräte bei der Modernisie-
kenntnisse. rung des Produktionsapparates wird eine eigentüm-
lich starre, man könnte auch sagen: fortschrittsgeg-
(Heiterkeit des Abg. Otto Schily [SPD]) nerische Haltung unterstellt. Dieser Mythos will
weismachen, es stünden sich kluge, Innovation und
Nicht einmal die Frage, wie lange Schichten in
Märkte witternde Unternehmer auf der einen Seite
Deutschland im Schnitt dauerten, kann beantwortet
und betonköpfige Gewerkschafter, die Bet riebsräte,
werden. Wieder heißt es: keine empirischen Erkennt-
auf der anderen Seite gegenüber.
nisse. So geht es weiter.
Aber stets ist bei Vertretern der Regierung zu hö- Auch dieser Mythos zerbröselt. Die Regierung si-
ren, viel mehr Flexibilisierung sei notwendig, gnalisiert nun selber, daß in Gewerkschaften und Be-
triebsräten eine große Willigkeit steckt, sich durch
(Otto Schily [SPD]: Die Bundesregierung Vorschläge und Regelungen mit den neuen Formen
muß flexibilisiert werden!) der Verteilung von Arbeit während der wöchentli-
chen Produktionsperiode auseinanderzusetzen.
die Arbeitsstrukturen müßten gehörig umgekrempelt
werden. Oft genug ist in diesem Zusammenhang zu Ich frage: Wann schlägt sich diese Einsicht in den
hören, die Arbeitnehmerschaft sei zu träge und zu gesellschaftspolitischen Manuskripten der Konserva-
anpassungsunwillig geworden. tiven und der Wirtschaftsliberalen nieder?
Wie kommen Repräsentanten der Bundesregie- (Otto Schily [SPD]: Laß jede Hoffnung fah
rung dazu, so etwas zu sagen, wenn sie nicht einmal -ren!)
wissen, wie lange heute im Schnitt ein Schichtarbei-
ter oder eine Schichtarbeiterin in Deutschland an Mythos Numero drei: Ein Dreh- und Angelpunkt
den Maschinen stehen muß? der Regierungsposition ist die Behauptung, die Ma-
schinen laufen in Deutschland nicht lange genug.
(Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Weil sie das Jetzt wird klar, daß die seit 1989 immer wieder aufge-
noch nie gemacht haben!) stellte Behauptung, in Deutschland drehen sich die
Räder im Schnitt und pro Woche lediglich 53 Stun-
Beschäftigt die Regierung Hellseher, die den Mi- den, auf zweifelhaften Annahmen basiert.
nistern stecken, was die Statistik nicht hergibt? Was
ich nicht weiß, kann ich nicht zur Grundlage von Anderen, höheren Werten für das verarbeitende
Politik machen. Gewerbe wird jedenfalls nicht mehr die Gültigkeit
von vornherein abgesprochen. Damit zertrümmert
(Beifall bei der SPD)
die Regierung einen Mythos, an dessen Entstehen
Das ist an sich kein Grund zur Traurigkeit, aber - so sie selbst eifrig beteiligt war. Ich begrüße das und
denke ich - ein Anlaß, sich zu besinnen. füge hinzu: Große Schadenfreude will sich bei mir
nicht einstellen; dazu ist die Lage der Wi rtschaft und
Ich halte den Materialband zum jüngsten Agrarbe- von Millionen arbeitswilliger Menschen zu ernst.
richt der Bundesregierung in der Hand - wie alle se-
hen können, ein voluminöses Werk, das fast keine Längere Maschinenlaufzeiten können notwendig
Frage zur Agrarwirtschaft sachlich unbeantwo rtet sein. Sie sind aber andererseits keineswegs ein Zei-
läßt. Ist es nicht erstaunlich, daß das schon klassische chen höchst effizienter Arbeitsorganisation. Oft ge-
Exportland Bundesrepublik Deutschland über den nug steht hinter der Forderung nach längeren Ma-
Sektor Landwirtschaft ein fast lückenloses Netz von schinenlaufzeiten die Tatsache, daß Unternehmer es
Daten zu werfen weiß, aber auf dem angeblichen Kö- nicht schaffen, dem eingesetzten Kapital im gegebe-
nigsweg zur Sicherung der Wettbewerbsstärke in In- nen Rahmen eine höhere Produktivität zu geben.
dustrie und Dienstleistung himmelschreiend große
weiße Flecken hinnehmen muß? Müßte eine Regie- Ich finde es daher, milde gesagt, erstaunlich, daß
rung, die seit Jahren landauf, landab den Segen man generell längere Maschinenlaufzeiten verlangt,
wachsender Flexibilisierung predigt, nicht ein enor- daß aber andererseits nur gut 30 % der im Schichtbe-
mes Interesse daran haben, solche Wissenslücken zu trieb arbeitenden Unternehmen über den Einschicht-
tilgen? Ich frage: Warum tut sie das nicht? betrieb hinausgekommen sind. Wie paßt das alles ei-
gentlich zusammen?
(Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Gute Frage!)
(Beifall des Abg. Otto Schily [SPD])
Könnte es sein, daß diesem Zustand ein gestörtes,
auch oberflächliches Verhältnis zu den Wissenschaf- Mythos Numero vier: Die Antworten der Regie-
ten zugrunde liegt, die sich mit den realen Bedingun- rung vermitteln ein sehr differenziertes Bild über den
gen an den Arbeitsplätzen beschäftigen? Oder ist es Komplex der Samstags- und Sonntagsarbeit. Wenn
einfach so, daß die Bundesregierung nicht wissen ich mir die hysterische Diskussion der vergangenen
will, welche betriebliche Wirklichkeit in Deutschland Monate über die Notwendigkeit einer Erhöhung der
gegeben ist? Zahl der Werktage vor Augen führe, dann konnte
man den Eindruck haben, allein an dieser Frage ent-
(Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: So ist es!) scheide sich das Schicksal der deutschen Wirtschaft.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5127
Rudolf Dreßler
Davon kann jetzt überhaupt keine Rede mehr sein. - Frau Babel, Sie sollten ganz, ganz ruhig sein. Wer
Auch dieser frische Mythos verblüht. Tatsächlich exi- 1981 mit seiner Stimme
stiert lediglich ein sektoral sehr eingeschränkter, von
Branche zu Branche höchst unterschiedlicher Druck (Dr. Diet rich Mahlo [CDU/CSU]: Sind Sie
in Richtung Samstag und Sonntag. hier der Oberlehrer, oder was sind Sie?)
in diesem Parlament ohne mit der Wimper zu zucken
Erkennbar wird freilich, daß das Arbeitszeitgesetz auf die Arbeitslosenversicherung zweieinhalb Punk-
der Regierung einen Dammbruch in dieser Frage te knallt
herbeiführt. Es ist ein Dammbruch, für den es keinen (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: 1991!)
zwingenden ökonomischen Grund gibt. Wer heute
dafür plädiert, die tarifvertraglichen Grenzen der - 1991, Entschuldigung -, damit die Lohnnebenko-
Samstagsarbeit zu beseitigen, damit der Samstag ein sten jährlich um über 20 Milliarden DM nach oben
voll gültiger Werktag werden kann, und wer den treibt und sich hier hinstellt und die Unschuld vom
Sonntag zum Reparatur- und Einrichtetag der Pro- Lande mimt, ist, um es höflich zu sagen, Frau Babel,
duktion machen will, der hat in Wahrheit eine kultu- desavouiert.
relle Revolution im Sinn.
(Beifall bei der SPD und der PDS)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Gestatten Sie
eine Zwischenfrage?
Auch der Sonntag wird dann unter dem angebli-
chen Zwang der betrieblichen Verhältnisse aus dem
Reparatur- und Einrichtetag heraus- und in den regu- Rudolf Dreßler (SPD): Ja, bitte.
lären Werktag hineinwachsen.
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Bitte.
(Otto Schily [SPD]: Was sagen denn die Kir
chen dazu?)
Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Herr Kollege Dreßler,
Das ist wie bei den nebeneinandergestellten Domi- mein kleiner Zwischenruf, daß auch die SPD bei der
nosteinen: Fällt der erste, dann fallen alle anderen Steigerung der gesetzlichen Lohnnebenkosten betei-
auch. Wie dann der Zusammenhalt der Familien ge- ligt war, bezog sich auf die von uns allen beschlos-
wahrt wird, wie sich eine Gesellschaft entwickelt, die sene Pflegeversicherung. Da waren die Skrupel, die
ihren Leim verliert, bleibt ungewiß. gesetzlichen Lohnnebenkosten zu steigern, auf Ihrer
Seite überhaupt nicht entwickelt. Sie haben damals
Ich frage mich, ob sich der Fraktionsvorsitzende sogar die Kompensation, den Ausgleich, um den wir
der CDU/CSU ähnliche Fragen stellt; denn er ist uns immerhin bemüht haben, den wir dann auch ge-
doch derjenige, der für seine Partei den großen Dis- meinsam gefunden haben, abgelehnt. Bezüglich der
kurs über das Menschsein aus christlicher Sicht in Skrupellosigkeit, die Nebenkosten zu steigern, kann
der heutigen Zeit anführt. Wenigstens Problembe- sich die SPD nicht aus der Verantwortung ziehen.
wußtsein scheint in der Regierung vorhanden zu
sein, ausweislich ihrer Antworten.
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Fragezeichen!
Warum ist die weiter voranschreitende Flexibilisie-
rung der Arbeitszeit dennoch so wichtig? - Weil es Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Sind Sie dieser Meinung,
für unser Land unabdingbar ist, die zentrale Größen- Herr Dreßler?
ordnung der Lohnstückkosten auf einem Pfad zu hal-
ten, der unsere Konkurrenzfähigkeit sichert. Löhne
Rudolf Dreßler (SPD): Ich habe das schon als Frage
und die lohnbezogenen Zusatzkosten, die Produkti-
verstanden. Frau Kollegin Babel, ich glaube, daß Sie
vität und die Maschinenlaufzeiten sowie die Struktu-
und die F.D.P. in dieser Frage die Propo rt ionen wie-
ren der Arbeitsteilung laufen wertmäßig in der zen-
der einmal auf den Kopf stellen. Sie haben im März
tralen Richtgröße der Lohnstückkosten zusammen.
1991 für eine Steigerung von zweieinhalb Punkten in
Über die Löhne entscheiden die Tarifvertragspar- der Arbeitslosenversicherung freudig Ihre Hand ge-
teien. Sie haben das bis heute in gesamtwirtschaft- hoben. Die Bundesvereinigung der Deutschen Ar-
lich verantwortungsbewußter Weise getan. Von die- beitgeberverbände und der Bundesverband der
ser Seite gibt es nachweisbar keinen schädigenden Deutschen Indust rie protestierten nicht einmal mit ei-
Einfluß auf die Entwicklung der Lohnstückkosten. ner Presseerklärung. Dann wollte die SPD, zugege-
-
Über die Lohnnebenkosten entscheiden die Tarifver- benermaßen mit der CDU/CSU und gegen Sie, 0,7 %
tragsparteien und vor allem der Gesetzgeber. Wäh- Beitragspunkte zusätzlich draufsatteln, um Millionen
rend der Kostendruck durch tarifvertragliche Neben- von Pflegebedürftigen zu helfen.
kosten merklich zurückgegangen ist, hat die Bundes- (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: 1,7 %!)
regierung hingegen immer weiter draufgesattelt. Be-
triebswirtschaftlich gesehen war die Lohnnebenko- Daraufhin sagten Sie, das sei die Zerrüttung der
stenpolitik der Regierung ein echter Konkurstreiber. deutschen Volkswirtschaft. Frau Babel, wer soll Ih-
nen eigentlich diesen Unsinn noch abnehmen? Wer,
(Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Mit der SPD zu bitte schön?
sammen!) (Beifall bei der SPD)
5128 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
Rudolf Dreßler
Ich habe gesagt, betriebswirtschaftlich - und das harren und einer mangelnden Bereitschaft zur geisti-
ist nachzuweisen - war die Lohnnebenkostenpolitik gen Beweglichkeit - sie sind interessengeleitet, vor
der Regierung ein echter Konkurstreiber. Vorräte für allem aber taktisch - versucht man nach wie vor von
eine weitere Steigerung der Produktivität und zur Si- seiten der Koalition, einen Popanz aufzubauen.
cherung einer akzeptablen Lohnstückkostenent-
wicklung stecken zweifelsfrei im Übergang zum (Beifall bei der SPD)
Mehrschichtsystem, also in der Maschinenlaufzeit Die angeblichen Fortschrittsgeister und selbster-
und in weiteren Verbesserungen der Organisation nannten Modernisierer wollen den Standort Deutsch-
von Arbeitszeit. Hier ist übrigens bei den Tarifver- land sichern. Ich habe eher den Eindruck, wir müs-
tragsparteien eine Menge in Bewegung gekommen. sen die Zukunft des Standortes Deutschland vor ih-
Sie haben keine neuen Mythen aufgebaut, sondern nen schützen.
Tabus beiseite geschoben. Ich wünschte, daß dies
von der Regierung endlich einmal angemessen ge- (Beifall bei der SPD - Uwe Lühr [F.D.P.]: Ge-
würdigt würde. Heute wäre die Gelegenheit dazu. rade Sie!)
Wir kennen die in diesem Zusammenhang geführ-
Es geht meiner Fraktion darum, diesen Prozeß so- ten Debatten um die Arbeitskosten in Deutschland:
zialrechtlich abzusichern, zu ergänzen und auch vor- Sie seien zu hoch, und das gefährde unsere interna-
anzutreiben, wo immer es im Konsens mit den Tarif- tionale Wettbewerbsfähigkeit.
vertragsparteien möglich ist. Wir werden arbeitszeit-
rechtlich, mitbestimmungsrechtlich und arbeits- (Uwe Lühr [F.D.P.]: Das ist wahr!)
schutzrechtlich initiativ werden. Die SPD-Fraktion
- Hoch sind sie, das ist richtig.
sieht sich übrigens durch die Bundesregierung in ih-
rer Auffassung bestätigt. Der von der Bundesregie- Ich fürchte, bei manchen Teilnehmern an dieser ei-
rung modellhaft wiedergegebene Zusammenhang gentümlichen Diskussion hilft noch nicht einmal ein
zwischen der Zahl der Erwerbstätigen seit 1984, der Ökonomiestudium, um ihnen begreiflich zu machen,
Arbeitszeit je Erwerbstätigem und der Entwicklung daß nicht die Arbeitskosten, sondern ausschließlich
des Arbeitsvolumens belegt, daß sich hohe Löhne, ihr Verhältnis zum Wert der Gütermenge, die mit die-
kürzere individuelle Arbeitszeiten und flexible Ar- ser Arbeit produziert wurde, Aufschluß über die
beitszeiten heute und in der Zukunft sehr wohl mit- Wettbewerbsfähigkeit gibt.
einander vereinbaren lassen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) ten der PDS)
Frau Dr. Babel, Lohnstückkosten sind dazu eben
Ein Risikofaktor auf diesem Weg ist gewiß die Poli- die Maßgröße. Aber wer von den selbsternannten Er
tik der Bundesregierung. Sie ist zu einer Art Hemm- -neurdtschVolkwirafmtsch
schuh für eine schnelle Entwicklung der Produktivi- schon die Mühe, die Fakten zur Kenntnis zu neh-
tät unter sozial akzeptablen Bedingungen geworden. men? Wer will denn noch wissen, daß die Lohnquote
Jüngst hat ein Bonner Mittelstandsinstitut errechnet, in Deutschland in den 90er Jahren unter den Stand
daß auf den Unternehmen bürokratisch verursachte in der Mitte der 60er und zu Beginn der 70er Jahre
Kosten in einer Größenordnung von 58 Milliarden gefallen ist? Wer von dieser Regierung will denn
DM liegen. Hauptsächlich sind dies Kosten, die auf noch zur Kenntnis nehmen, daß die Lohnstückkosten
eine komplizierte Steuergesetzgebung zurückgehen. in Deutschland zwischen 1973 und 1994 um 94 %, in
Das sind, von der Größenordnung her gesehen, unseren wichtigsten Konkurrenzländern aber um
4,5 Beitragspunkte in der Rentenversicherung. Die 270 % gestiegen sind?
Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft sind ja
bereits in dieser Sache tätig geworden; von der Re- (Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt doch
gierung, von den Koalitionsfraktionen sieht man nur gar nicht!)
Wegtauchen. Sie stellen sich dieser Sache nicht; sie Modernisierung auf der Basis von Tatsachenver-
wollen nach der Melodie „weiter so" operieren. Aber drängung: Wozu soll das eigentlich im Ergebnis füh-
es sind Kosten. ren? Ich habe den Eindruck, daß die Diskussion um
den Standort Deutschland im Hinblick auf die Moti-
Sagen nun heute vielleicht dem Bundestag die Re- vation, mit der sie geführt wird, bei Ihnen minde-
gierung oder die Koalitionsfraktionen, was sie denn stens soviel mit Lohndrückerei zu tun hat wie mit der
zu tun beabsichtigen, um von dieser hypothekengro- Sicherung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit.
ßen Last wieder herunterzukommen? Die Antworten Wer von Ihnen nimmt denn noch zur Kenntnis, daß
der Regierung zur Arbeitszeitflexibilisierung sind un- unser Handel mit den oft als Vergleich herangezoge- -
zureichend. Es wurde die Chance vertan, einer au- nen „Tiger" -Staaten Südostasiens und mit den lohn-
ßerordentlich wichtigen Debatte den nötigen Sach- günstigeren Staaten Süd- und Osteuropas nicht nur
stand zu geben. Daher fürchte ich, daß sich die Koali- sprunghaft gestiegen ist, sondern daß auch die Bi-
tionsfraktionen und die Regierung entschlossen ha- lanz dieses Handels ausgeglichen ist? Sieht so ei-
ben, das böse Treiben mit ungerechtfertigten Schuld- gentlich eine mangelnde Wettbewerbsfähigkeit aus?
zuweisungen fortzusetzen.
Welcher der sogenannten Modernisierer weiß ei-
Es gibt, meine Damen und Herren, keine aufrich- gentlich, daß die deutsche Handelsbilanz gegenüber
tige gesellschaftspolitische Gewinn- und Verlust- Japan beim besonders hart umkämpften Automobil-
rechnung in Deutschland mehr. Mit Formeln vom Be bau mittlerweile positiv ist, der Wert der deutschen
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5129
Rudolf Dreßler
Automobilexporte nach Japan also größer ist als der Die jüngsten Arbeitsmarktdaten zeigen nach län-
Wert der japanischen Expo rte nach Deutschland? Ich gerer Zeit erstmals wieder einen Anstieg der Arbeits-
frage: Liegt auch das an mangelnder Wettbewerbsfä- losigkeit im Vorjahresvergleich an. Aber nicht erst
higkeit? - Ich sehe an den erstaunten Gesichtern: Die seit der Bekanntgabe der Septemberzahlen muß al-
Herrschaften haben sich um diese Daten bis heute len Beteiligten zweifelsfrei klar sein: Die derzeitige
nicht gekümmert. Wir haben heute nachmittag also Krise unterscheidet sich fundamental von den Rezes-
auch eine Art Nachhilfestunde. sionen der 70er und 80er Jahre. Wer dafür die Schuld
bei der Bundesregierung sucht, Herr Dreßler, der
(Beifall bei der SPD - Karl-Josef Laumann zeigt, daß er weder das Ausmaß noch die Ursachen
[CDU/CSU]: Herr Dreßler, das war gerade der Probleme auf dem Arbeitsmarkt wirklich begrif-
wirklich sehr zynisch! - Dr. Gisela Babel fen hat.
[F.D.P.]: Arroganter Oberlehrer! - Wolfgang
Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/CSU]: Ihre (Beifall bei der CDU/CSU)
Arroganz ist nicht zu übertreffen!)
Dazu gehört, Herr Dreßler, daß in den Statistiken
Aber ich frage: Ist es nicht eine Schande, daß über die Lohnstückkosten, die Ihnen vorschweben,
Deutschland bei den Investitionen in Humankapital natürlich alle unsere traditionellen Konkurrenten
- hat das nicht irgend etwas mit Sozialstaat zu tun? - auftauchen, unsere neuen Konkurrenten im Osten
weit, weit zurückgefallen ist und heute unter „ferner aber überhaupt noch nicht aufgeführt sind.
liefen" rangiert? Dies nämlich ist ein Zeichen man-
gelnder Modernisierungsbereitschaft der Bundesre- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn in den letz-
gierung und der sie tragenden Fraktionen. ten Monaten immer mehr Industrieunternehmen
dazu übergegangen sind, über eine mögliche Verla-
(Beifall bei der SPD) gerung von Teilen ihrer Produktion nach Polen, Un-
garn oder in die Tschechische Republik nicht mehr
Nichts darf beschönigt werden; nichts darf ver- nur zu reden, sondern dies auch in die Tat umzuset-
tuscht werden. Wenn wir die Wettbewerbsfähigkeit zen, dann ist dies wirklich eine dramatische Situa-
unseres Landes für die Zukunft sichern wollen, dann tion.
müssen wir uns kräftig ins Zeug legen, müssen den
Wandel organisieren und die Hindernisse beiseite Denn wir sind uns hier im Hause sicherlich darin
räumen, die zukünftiger Prosperität entgegenstehen. einig, daß eine radikale Lohnkürzung - eine Sen-
Aber das kann nur gelingen, wenn die Analyse der kung auf das Lohnniveau unserer mittel- und osteu-
Gegenwart unsere derzeitigen Vorzüge und ropäischen Nachbarländer - als Lösungsweg wohl
Schwächen korrekt widerspiegelt. Auf der Grund- ausscheidet. Aber diese konkurrierenden Standorte
lage einer mißinterpretierten Gegenwart können haben ja mittlerweile nicht mehr nur den gewaltigen
keine fruchtbaren und erfolgreichen Prognosen für Kostenvorteil. Auch im Hinblick auf die Qualität der
zukünftige Politik wachsen. produzierten Waren und auf die Leistungsfähigkeit
der Arbeitskräfte stehen sie uns in den meisten Fäl-
Wer Weichen zum Erfolg stellen will, der muß zu- len nicht mehr nach.
allererst das Gleis kennen, auf dem der Zug des Er-
folges fährt. Mit der Beantwortung der Großen An- Eine zweite Herausforderung kommt hinzu: Wenn
frage hat sich die Bundesregierung, wie man sieht, es in jüngster Zeit gleich mehreren südkoreanischen
bei 29 Fragen geweigert, dieses Gleis zu betreten. Automobilproduzenten gelungen ist, innerhalb von
Das ist das eigentlich Schlimme an der Beantwortung nur wenigen Monaten auf dem deutschen Absatz-
unserer Großen Anfrage. markt Fuß zu fassen, dann macht das deutlich: Das
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wort von der Globalisierung der Märkte ist längst
DIE GRÜNEN sowie des Abg. Manfred kein Schlagwort mehr, das ist mittlerweile Realität
Müller [Berlin] [PDS]) geworden. Wenn heute hochwertige Dienstleistun-
gen, z. B. Ingenieurleistungen, aus Indien bezogen
werden können, dann zeigt dies die dramatischen
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Darf ich die Par- Folgen der revolutionären Entwicklung auf dem Ge-
lamentarischen Geschäftsführer bitten, einmal zu biet der Informationstechnologien weltweit an. So et-
uns zu kommen? - was war vor zehn Jahren noch völlig unvorstellbar.
Das Wort hat der Kollege Andreas Storm, CDU/ (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: So ist es!)
CSU-Fraktion. -
Vor dem Hintergrund dieser völlig veränderten
Rahmenbedingungen müssen auch alte, liebgewor-
Andreas Storm (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine dene Besitzstände zur Disposition gestellt werden.
Damen und Herren! Unsere heutige Debatte zum ge- Wer glaubt, alles könne so bleiben, wie es ist, der
genwärtigen Stand der Arbeitszeitflexibilisierung ist verkennt den Ernst der Lage.
natürlich vor dem Hintergrund der Frage zu sehen:
Kann durch eine andere Organisation der individuel- (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)
len wie auch der betrieblichen Arbeitszeiten ein Bei-
trag zur Bewältigung der drückenden Beschäfti- Treffend hat dies der Bundespräsident Roman Her
gungskrise geleistet werden? zog vor wenigen Tagen auf den Punkt gebracht, als
5130 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
Andreas Storm
er sagte: Was wir brauchen, ist eine neue Wagniskul- fach nicht genügend Auslastung haben, um ihre be-
tur. trieblichen Nutzungszeiten entsprechend wahrneh-
men zu können, die ihnen sowohl Tarifverträge als
(Otto Schily [SPD]: Vor allen Dingen eine
auch gesetzliche Möglichkeiten geben.
neue Bundesregierung! Wo ist denn die
Wagniskultur bei der Bundesregierung?)
Andreas Storm (CDU/CSU): Herr Kollege, das ist
Dabei sind gerade für die Arbeitszeit drei Dinge nicht nur eine Frage der Auslastung der Bet riebe.
ganz besonders zu beachten. Das hat die Beantwor- Aber ich gebe Ihnen in einem Punkt recht. Wir müs-
tung der Anfrage gezeigt. Erstens. Die westdeutsche sen in der Tat überlegen, warum die Möglichkeiten
Indust ri e hatte 1994 mit rund 1565 Stunden pro Ar- der Flexibilisierung nicht alle genutzt werden. Damit
beitnehmer die kürzeste Jahresarbeitszeit aller Indu- bin ich beim Punkt Teilzeitarbeit. Die Bundesregie-
strieländer. Zweitens. Von 1980 bis 1994 wurde die rung hat zu Recht in ihrer Antwort festgestellt, daß
effektiv geleistete Jahresarbeitszeit in der Industrie auch im Management die Vorteile der Arbeitszeitfle-
in den alten Bundesländern um 10 % gekürzt. xibilisierung, insbesondere auch von Teilzeitarbeit in
Verbindung mit längeren Betriebszeiten, noch nicht
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege alle erkannt sind. Deswegen müssen wir hier Aufklä-
Storm, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kolle- rungsarbeit leisten, denn die Vorteile sind mit den
gen Köhne? Händen zu greifen.
Das Konzept der Mobilzeit, also die Verbindung
Andreas Storm (CDU/CSU): Nein. von Teilzeitarbeit, Arbeitszeitflexibilisierung und ver-
Das ist nicht nur die stärkste relative Arbeitszeit- längerter Bet riebszeit, ist ein wichtiges Instrument
verkürzung aller Industrieländer. Das bedeutet im zur Lösung der Beschäftigungskrise. Es ist ein intelli-
Vergleich von Westdeutschland zu den Vereinigten gentes, weil offensives Konzept. Die traditionellen
Staaten, die die Arbeitszeit auf 2 000 Stunden pro Vorschläge zur generellen Arbeitszeitverkürzung
Jahr verlängert haben, daß der Abstand mittlerweile sind in dem radikal veränderten Umfeld, das ich skiz-
58 Arbeitstage beträgt. Das sind 12 Arbeitswochen. ziert habe, kein geeigneter Weg. Es handelt sich
nämlich um defensive Strategien.
Drittens. Gleichzeitig, Herr Dreßler, leisten wir uns
immer noch die niedrigsten Betriebszeiten. Das sind Herr Dreßler, da Sie heute gerne Untersuchungser-
in der Tat nicht 53, sondern 60 Stunden pro Woche. gebnisse hören möchten: Das Institut der deutschen
Aber nach der aktuellen Arbeitsmarktumfrage der Wirtschaft hat in einer Untersuchung über die Zu-
EU liegt Westdeutschland mit diesen 60 Stunden sammenhänge zwischen Arbeitszeit, Produktivität
9 Stunden unter dem Durchschnitt der Europäischen und Beschäftigung seit 1980 folgendes festgestellt.
Union und am unteren Ende der Rangskala. Erstens. In Deutschland hat die starke Arbeitszeit-
(Zuruf von der SPD: Wo haben Sie denn verkürzung weder den erwarteten Beschäftigungs-
diese Zahlen her?) schub noch den entsprechend hohen Produktivitäts-
schub gebracht.
- Diese Zahlen stammen aus der Beantwortung der
Großen Anfrage. Lesen Sie sie nach. Zweitens. Dagegen haben jene Länder, deren
Wirtschaftswachstum über dem internationalen
Diese Zahlen zeigen, es gibt ein erhebliches Flexi- Durchschnitt liegt, ihre Arbeitszeiten entweder ver-
bilisierungspotential bei Arbeits- und Maschinen- längert - das waren die USA oder Kanada -, unver-
laufzeiten, das zur Stärkung der Wettbewerbsfähig- ändert gelassen - das war beispielsweise Norwegen -,
keit genutzt werden könnte. Hier liegt in der Tat eine oder sie hatten ein sehr hohes Arbeitszeitniveau am
große Chance in der Schaffung von Teilzeitplätzen, Ausgangspunkt, nämlich Japan.
bei der uns die Niederlande ein ganzes Stück weit
voraus sind, denn in den Niederlanden ist heute je- Drittens. Die Niederlande - ich habe sie vorhin
der dritte Arbeitsplatz ein Teilzeitplatz. Bei uns ist es schon genannt - hatten zwar eine vergleichsweise
erst jeder sechste. geringe Arbeitszeitverkürzung, aber sie hatten auch
die größten Beschäftigungserfolge. Das ist keines-
wegs auf eine globale tarifliche Arbeitszeitverkür-
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege zung zurückzuführen, sondern auf gezielte Flexibili-
Storm, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kolle- sierungsstrategien, beispielsweise die massiv ver-
gen Büttner? stärkte Teilzeitarbeit.
Meine Damen und Herren, all dieses zeigt: Defen-
Andreas Storm (CDU/CSU): Ja, gern.
sive Strategien, die allein auf die Umverteilung des-
vorhandenen Arbeitsvolumens zielen, sind der fal-
Hans Büttner (Ingolstadt) (SPD): Herr Kollege sche Weg. Es gilt vielmehr, durch offensive Mobili-
Storm, ungeachtet der Tatsache, daß Ihre Zahlen tätsstrategien zu einer besseren Auslastung der Ma-
sehr umstritten sind, doch einmal folgende Frage: schinen und einer höheren Produktivität beizutra-
Würden Sie mir nicht zugestehen, daß es heute in der gen; denn erst dadurch kommen ein Beitrag zur Si-
Bundesrepublik möglich ist, sowohl über 24 Stunden cherung der Wettbewerbsfähigkeit der bei uns be-
als auch nur über 6 Stunden einen Bet rieb laufen zu stehenden Unternehmen und damit mehr Wettbe-
lassen? Das ist also nicht eine Frage der Rahmenbe- werbschancen für deren Produkte und Dienstleistun-
dingungen, sondern es ist so, daß die Bet riebe ein gen zustande. Dadurch werden Beschäftigungspo-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5131
Andreas Storm
tentiale erschlossen; denn es ist ein Beitrag sowohl Durchschnitt von 66 Stunden Betriebszeit pro
für ein höheres als auch - und darum muß es uns in Woche auf 72 Stunden.
erster Linie gehen - für ein beschäftigungsintensive-
res Wachstum. (Zuruf von der F.D.P.: Ist das eine Lese-
stunde?)
Gerade auf dem Feld der Arbeitszeitflexibilisie- Die Betriebszeit in der Bundesrepublik liegt also
rung helfen die alten Klamotten von der branchen- über dem europäischen Durchschnitt.
weiten tariflichen Stange oft nicht mehr weiter.
Für die Politik sind solche fehlerhaften Untersu-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) chungen gefährlich: Sie muß sich auf die Richtig-
keit von Daten verlassen können, um zu tragfähi-
Hierbei gilt es, Maßanzüge zu schneidern, die auf die gen Schlußfolgerungen zu gelangen.
speziellen Bedürfnisse des jeweiligen Bet riebes ab-
gestellt sind. Dazu sind Kreativität, Phantasie und In- Genau das ist der Punkt: Die Daten der Bundesregie-
novationsbereitschaft bei allen Beteiligten vonnöten. rung sind nicht tragfähig; sie sind falsch. Darum
Das ist unsere große Chance zur Krisenbewältigung kann man auch nicht - wie gerade von Ihnen bewie-
in Deutschland. Nutzen wir sie. sen - zu richtigen Schlußfolgerungen kommen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
ordneten der F.D.P. - Zuruf von der CDU/ ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
CSU: Eine äußerst sachliche Rede!) und der PDS - Otto Schily [SPD]: Jetzt bin
ich gespannt, was die Bundesregierung
sagt!)
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort zu
einer Kurzintervention hat der Kollege Dreßler. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege
Storm.
Nach wie vor wird der Popanz angeblich zu kurzer Durch eine flexiblere Arbeitsorganisation werden
Jahresarbeitszeiten und knapp bemessener Maschi- Unternehmen in die Lage versetzt, das in die Produk-
nenlaufzeiten aufgezogen, um nichts anderes zu er- tionsanlagen investierte Kapital besser zu nutzen.
reichen als einen weiteren Ang riff auf die Tarifver- Dadurch sinken die Kapitalkosten, und die Wettbe-
träge und die Handlungsfähigkeit der Gewerkschaf- werbsfähigkeit steigt.
ten.
Zudem schafft Arbeitszeitflexibilisierung mehr
Ja, Sie müssen sogar zugeben, daß die tarifvertrag- Zeitsouveränität für den Arbeitnehmer, z. B. zur bes-
lichen Flexibilisierungsmöglichkeiten weitaus größer seren Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Ich be-
sind, als sie von den Unternehmen genutzt werden. grüße, daß wenigstens bei dieser Einschätzung Ei-
In der Bundesrepublik gibt es längst schon eine Ent- nigkeit herrscht.
koppelung von Arbeitszeit und Maschinenlaufzei-
ten. Nach Angaben des WSI-Tarifarchivs stiegen die Auch die Gewerkschaften haben die Chancen der
Betriebszeiten von 1984 bis 1990 um mehr als sieben Arbeitszeitflexibilisierung erkannt.
Stunden, obwohl die persönliche Arbeitszeit im glei- (Zuruf von der CDU/CSU: So ist das!)
chen Abschnitt um 2,4 Stunden sank.
Die Rollen der Beteiligten bei der Gestaltung der
Nun gibt die Bundesregierung in ihrer Antwort Arbeitszeit sind aber klar, um auch hier Mißverständ-
selbst zu, auf welch schwankendem Boden die Be- nisse, die in den Redebeiträgen schon aufgetaucht
hauptung von den zu kurzen deutschen Betriebszei- sind, auszuräumen. Der Gesetzgeber ist aus Grün-
ten steht. Verläßt man sich jedoch nicht auf die eine den des Gesundheitsschutzes für den unverzichtba-
oder andere Interpretation oder gar den Vergleich ren Rahmen verantwortlich.
völlig unvergleichlicher Untersuchungen, sondern
verläßt sich ausschließlich auf das Statistische Amt Die Tarifvertragsparteien entscheiden unter Be-
der Europäischen Union, dann sieht die Sache mit rücksichtigung der branchenspezifischen Erforder-
den deutschen Maschinenlaufzeiten schon gänzlich nisse über die regelmäßige Wochenarbeitszeit, Frau
anders aus. Beck. Und die Festlegung der konkreten Betriebs-
und Arbeitszeiten ist Sache der Betriebspartner.
Nach den Angaben der amtlichen Statistik liegen
die wöchentlichen Betriebszeiten in der deutschen
Industrie bei 73 Stunden und damit sogar noch um Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Staatsse-
eine Stunde über dem europäischen Durchschnitt. kretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abge-
Daß dies die eigentliche Realität ist, erhellt noch eine ordneten Köhne?
5138 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
Horst Günther, Parl. Staatssekretär beim Bundes- sten Ausnahmegenehmigungen für die Sonntagsar-
minister für Arbeit und Sozialordnung: Bitte schön. beit erteilt zu haben.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Rolf Köhne (PDS): Herr Staatssekretär! Ihre Rech- Lieber Kollege Dreßler, vielleicht nehmen Sie auch
nung, daß die Kapitalkosten dann sinken, wenn hö- das einmal zur Kenntnis.
here Maschinenlaufzeiten durch flexiblere Arbeits-
zeit eingeführt werden, kann ja nur dann aufgehen, Wichtig ist: Wir brauchen mehr maßgeschneiderte
wenn gleichzeitig mit diesen Maschinen der Absatz Arbeitszeiten, keine von der Stange. Das neue Lo-
steigt. Ist das richtig? sungswort sozialen Fortschritts und zukunftsorien-
tierter Beschäftigungspolitik heißt Differenzierung:
Differenzierung in Tagesteilzeit, Wochenteilzeit,
Horst Günther, Parl. Staatssekretär beim Bundes- Jahresteilzeit, von mir aus bis hin zu dem vom Mi-
minister für Arbeit und Sozialordnung: Natürlich nister genannten Sabbatjahr. An die Stelle von star-
müssen die entsprechenden Arbeitszeiten auch ge- ren Zeiten muß mehr Mobilzeit treten. Wir brauchen
nutzt werden können, und ich unterstelle, daß es unterschiedliche Lösungen für unterschiedliche Be-
auch nur da geschieht, wo sie genutzt werden kön- dürfnisse.
nen. Deshalb haben wir das ja auch auf die Sonn-
Die Automobilindustrie ist längst auf diesen Zug
tagsarbeit ausgedehnt, wo das in vielen Textilbetrie-
aufgesprungen. Hier ist von atmenden Fabriken -
ben heute gut funktioniert.
das Wort „atmend" wurde von Frau Beck gerade et-
(Beifall bei der CDU/CSU) was kritisiert; wir haben es nicht erfunden, sondern
VW selbst -, schwingenden Vier-Tage-Wochen bei
Meine Damen und Herren, der Gesetzgeber hat BMW und Arbeitszeitkorridoren bei Opel die Rede.
seine Hausaufgabe gemacht und die Rahmenbedin-
gungen für die flexible Gestaltung der Bet riebs- und Lassen Sie mich auch kritisch anmerken, daß viele
Arbeitszeiten mit dem neuen Arbeitszeitgesetz ver- andere Unternehmen noch nicht die Chancen nut-
bessert. Mit diesem Gesetz haben wir im Juli 1994 zen, die ihnen der Gesetzgeber einräumt. Vorhan-
dene Spielräume zur Flexibilisierung sind nämlich
einen allein am Gesundheitsschutz orientierten Ar-
beitszeitrahmen geschaffen, den die Tarifpartner und da. Trotzdem wird weiterhin an der Verbandsmauer
Betriebe ausfüllen müssen. Die Spielräume der Tarif- geklagt und gejammert, im Bet rieb aber praktisch
und Betriebspartner für eine flexiblere und intelli- zuwenig gemacht.
gentere Verteilung von Arbeitszeiten wurden erwei- Viele Unternehmen nutzen auch die Chancen
tert, der Gesundheitsschutz bei Nachtarbeit wurde nicht, die ihnen schon die Tarifverträge bieten. Es ist
verbessert. modern geworden zu behaupten, viele Tarifverträge
hinkten der bet rieblichen Realität hinterher. Sicher-
Bei der Sonntagsarbeit haben wir zur Stärkung der lich stimmt das für einige, längst aber nicht für alle.
Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und zur Si- Vor allem muß man zunächst einmal in die Verträge
cherung der Beschäftigung eine vorsichtige Öffnung schauen und sie lesen.
vorgenommen. Bilanziert man heute, nach einem
Jahr, die Auswirkungen der neuen Regelungen, so Viele Tarifverträge regeln zwar die Dauer der Wo-
läßt sich feststellen, daß alle Bundesländer in verant- chenarbeitszeit - das ist richtig -, sie schreiben des-
wortlicher Weise von ihren Genehmigungsmöglich- halb aber noch längst nicht vor, daß die Arbeitszeit in
keiten Gebrauch gemacht haben. Der von vielen Kri- jeder Woche gleich verteilt sein muß. Die Tarifver-
tikern vorhergesagte Dammbruch bei der Sonntags- träge lassen in der Regel die ungleichmäßige Vertei-
arbeit ist ausgeblieben, meine Damen und Herren. lung der Arbeitszeit auf Tage, Wochen oder Jahres-
Dort aber, wo es nötig war, ist dies möglich gewor- zeiten zu. Die Ausgleichszeiträume, innerhalb deren
den, und das zum Nutzen der Bet riebe und der Ar- die durchschnittliche Arbeitszeit erreicht sein muß,
beitsplätze. betragen überwiegend zwölf Monate. In der chemi-
schen Indust rie ist bei projektbezogenen Tätigkeiten
(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. sogar ein Zeitraum bis zu 36 Monaten zulässig.
Dr. Gisela Babel [F.D.P.])
Darüber hinaus bieten Tarifverträge vielfach Flexi-
Die Zahlen belegen den Ausnahmecharakter. In bilisierungsmöglichkeiten durch die Einbeziehung
den ersten elf Monaten seit Inkrafttreten des Arbeits- des Samstags in die Regelarbeitszeit, soweit die Zu-
zeitgesetzes wurden 175 Ausnahmegenehmigungen stimmung der Betriebsparteien dafür vorliegt. Sonn-
für Sonn- und Feiertagsarbeit erteilt. Dadurch hat und Feiertagsarbeit wird durch die Tarifverträge
sich die Gesamtzahl der Arbeitnehmer, die an Sonn- dort, wo sie ausnahmsweise gesetzlich zulässig ist,
-
und Feiertagen arbeiten, um gerade einmal 0,05 % ebenfalls nicht ausgeschlossen.
erhöht. Die Arbeitsplätze der rund 14 000 betroffe-
Hans-Joachim Gottschol von Gesamtmetall hat
nen Arbeitnehmer aber wurden gesichert; minde-
recht, wenn er die arbeitszeitpolitische Phantasielo-
stens 3 000 neue Arbeitsplätze wurden geschaffen.
sigkeit vieler Betriebe bei der Umsetzung der Tarif-
(Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Sehr gut!) verträge beklagt. In dieses Bild paßt, daß nach der
1994 von der EU-Kommission durchgeführten Erhe-
Der neue SPD-Bundesgeschäftsführer Müntefe- bung zu den Betriebszeiten Deutschland auf einem
ring, noch im Amt als Sozial- und Arbeitsminister des der hinteren Plätze liegt. Diese Zahl haben wir über-
Landes Nordrhein-Westfalen, rühmt sich ja, die mei nommen, Kollege Dreßler. Es sind nicht Zahlen der
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5139
Parl. Staatssekretär Horst Günther
Bundesregierung, die Sie kritisiert und als falsch be- Rolf Köhne (PDS): Herr Staatssekretär, Sie haben
zeichnet haben, sondern es sind Zahlen, die wir von eben gesagt, daß die Samstagsarbeit rückläufig sei.
der EU-Kommission übernommen haben. Sie müssen Das ist sicherlich richtig. Nach meiner Kenntnis der
die Kommission entsprechend anklagen. betrieblichen Situation ist es aber so, daß Samstags-
arbeit dann vor allen Dingen Sonderschichten sind,
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge wenn mehr Waren abgesetzt werden können. Jetzt
ordneten der F.D.P.) stelle ich die Frage: Wie paßt das denn zusammen
Es gibt leider in vielen Bet rieben Mängel in der Be- mit Ihrer Antwort auf meine vorhergehende Frage?
triebs- und Arbeitsorganisation, die sich im schärfer Ist es nicht einfach so, daß momentan Überkapazitä-
werdenden internationalen Wettbewerb fatal auswir- ten vorhanden sind, beispielsweise vor allem in der
ken können. Als Ersatz müssen in vielen Bereichen Automobilindustrie, so daß die Frage der Kapitalver-
die Lohnnebenkosten als Diskussionspunkt herhal- wertung eine ganz andere und überhaupt nicht das
ten. Problem von flexiblen Arbeitszeiten ist?
Doris Barnett
Mit Bedauern muß ich jetzt feststellen, daß sich die Daß flexible Arbeitszeit mit einem Jahresarbeits-
Bundesregierung dieser Mühe nur mit Unlust unter- zeitkonto auch in der Produktion und selbst im 24-
zogen hat. Stunden-Schichtbetrieb funktioniert und von den Ar-
beitnehmern angenommen wird, beweist inzwischen
Wie mein Kollege Rudolf Dreßler Ihnen bereits vor- ein großer Süßwarenhersteller in Süddeutschland,
rechnete, gibt es auf etwa die Hälfte unserer Fragen wo auf diese A rt saisonale Produktionsschwankun-
- ich komme darauf zurück -, nämlich 29 aus 49, gen ausgeglichen werden.
nicht die erbetenen, mit Zahlenmaterial belegten
Antworten. Das zeigt nur zu deutlich, daß die Bun- Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Beispiele
desregierung offensichtlich dazu neigt, eher auf zeigen doch, daß unser Tarifvertragssystem einen
Grund von Vermutungen und alten Glaubenssätzen idealen Rahmen für Reformen bietet, die beide Sei-
denn auf Grund von harten Fakten ihre Politik zu for- ten wollen und akzeptieren.
mulieren.
(Beifall bei der SPD) (Zustimmung bei Abgeordneten der CDU/
CSU)
Herr Günther, wenn Sie die hohen Kosten kritisieren,
die solche Statistiken erfordern, sage ich: Mein Gott, Aber: Veränderte Pflichten für die Beschäftigten er-
auf welcher Grundlage sollen wir denn Entscheidun- fordern auch eine Anpassung ihrer Rechte. Das heißt
gen treffen, wenn wir keine Fakten haben? ganz konkret: Ein Mehr an Arbeitszeitflexibilität er-
fordert ein Mehr an Verantwortung. Die Arbeitneh-
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Joseph mer müssen intensiver als bisher an der Betriebsor-
Fischer [Frankfu rt ] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ ganisation beteiligt sein und bessere Mitbestim-
NEN]) mungsrechte erhalten.
So erscheint es mir reichlich absurd, den Gewerk- (Beifall bei der SPD)
schaften bzw. der SPD mangelnden Willen zur Ar-
beitszeitflexibilisierung vorzuwerfen. In der Realität Als im letzten Jahr das neue Arbeitszeitrecht ver-
sieht es nämlich so aus, daß nicht nur die Beschimpf- abschiedet wurde, haben die Koalitionsparteien
ten, sondern auch die Wi rt schaft bereits sehr viel wei- CDU/CSU und F.D.P. die Einbeziehung der SPD-Vor-
ter sind als die Bundesregierung, die, wie ich fürchte, schläge im Hinblick auf enger gefaßte Schutzbe-
Gefangene ihres alten Denkens ist. stimmungen verhindert. Versprochen wurde uns da-
für eine neue ökonomische Perspektive. Vergessen
(Beifall bei der SPD) wurden aber wesentliche Ziele wie die Verbesserung
der Arbeitsbedingungen und ein wirksamer Arbeits-
Denn wie mir scheint, will die Bundesregierung nach
schutz. Eine arbeitsmarktpolitische Initiative blieb
wie vor über den Hebel Mobilzeit erreichen, daß
ganz außen vor.
Lohnverzicht und jederzeit abrufbare Springertätig-
keit denkbare Arbeitsmodelle werden. Was wir in Wenn wir heute über die Folgen diskutieren, die
Deutschland aber nicht brauchen, insbesondere die Flexibilisierung der Arbeitszeit mit sich bringt,
nicht für unsere sozialen Sicherungssysteme, sind sollten wir meiner Meinung nach fünf wichtige
noch mehr „Mc-Jobs", und das schließt die Schein- Aspekte nicht aus den Augen verlieren:
selbständigkeit mit ein.
Erstens. Der Arbeits- und Gesundheitsschutz muß
Tatsächlich ist vieles zwischen den Tarifvertrags- bei allen Überlegungen Priorität haben. Intelligente
parteien bereits geregelt, ohne daß der Gesetzgeber Schichtmodelle führen, wie jüngere arbeitsmedizini-
eingreifen muß bzw. gefragt wird. Deshalb fand ich sche Untersuchungen zeigen, zu niedrigeren Kran-
den Beitrag „Tarifvertragssysteme: Beweglich und kenständen.
innovativ" im „Bundesarbeitsblatt" von diesem Mo-
nat sehr interessant, Herr Blüm. Er zeigt nämlich Zweitens. Die bereits in vielen Firmen und Behör-
deutlich, wie individuell die Arbeitszeit von den Ta- den praktizierten Arbeitszeitmodelle setzen eine
rifpartnern bereits formuliert wird. Gerade in diesem stärkere Eigenverantwortung der Beschäftigten vor-
Fall bedeutet eine Öffnung nämlich einen echten aus; Eigenverantwortlichkeit stärkt und motiviert.
Fortschritt, vorausgesetzt, daß dabei nicht wichtige Drittens. Teilzeitbeschäftigung kann arbeitsmarkt-
soziale Rechte auf der Strecke bleiben. politisch sehr wirksam sein. Es hat mich jedoch, offen
Nicht nur die Unternehmensleitungen, sondern gestanden, etwas verwundert, daß in Ihrer Antwort
auch die Beschäftigten sind bereit, neue Konzepte ausgerechnet der öffentliche Dienst als vorbildlich
mitzutragen. Verschiedene Arbeitszeitmodelle in un- dargestellt wird.
terschiedlichen Branchen zeigen das deutlich. In (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Das hat mich auch
meiner Heimatstadt Ludwigshafen läuft zur Zeit bei -
ein bißchen gewundert!)
der BASF ein Versuch: Hier können die Informatiker
innerhalb ihrer Projektgruppe ihre Arbeitszeit bis zu Gerade die Teilzeitbeschäftigung aus arbeitsmarkt-
zehn Stunden täglich je nach Bedarf frei einteilen. politischen Gründen, von der Bundesregierung im
Sie können so im Verlauf des Jahres ein Arbeitszeit- Frühjahr 1994 der Presse gegenüber als großer Wurf
konto von bis zu 75 Stunden ansparen. Das kommt gefeiert, entpuppt sich in der Praxis eher als Flop. In
daher - darauf wurde schon hingewiesen -, daß der meinem Wahlkreis wurde einer Bundesbeamtin
Tarifvertrag der chemischen Indust ri e es den Tarif- lange Zeit - mit dem nachweislich nicht stichhaltigen
partnern vor Ort überläßt, die Regelarbeitszeit inner- Argument der dienstlichen Erfordernisse - eine Re-
halb eines Zeitkorridors festzulegen. duzierung ihrer Arbeitszeit um 40 % verweigert.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5141
Doris Barnett
Viertens. Ein selbstbestimmtes Zurückfahren der men, in dem man sich ausdrücklich gegen den Sonn-
Arbeitszeit kann einen gleitenden Übergang vom tag als Regelarbeitstag ausspricht.
Arbeitsleben in den Ruhestand ermöglichen. Wich-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
tig ist mir aber, daß Teilzeitarbeit keinen sozialen Ab-
sturz im Alter nach sich zieht. Deswegen sage ich hier: Ausnahmegenehmigungen
nur mit ganz hohen Meßlatten, wenn es unbedingt
Fünftens. Ich sage ausdrücklich, daß mich Sonn- sein muß, aber doch nicht als Lösung der Probleme.
tags- und Feiertagsarbeit als Patentrezept für höhere Man darf das doch nicht als Möglichkeit betrachten,
Produktivität nicht überzeugt. die Arbeitszeit weiter zu flexibilisieren.
(Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD)
Die Bundesregierung stellt in ihrer Antwort - Herr Wenn Sie mir da recht geben, bin ich Ihrer Meinung.
Günther hat das hier auch vorgetragen - auf unsere
diesbezügliche Frage selbst fest, daß innerhalb des (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
letzten Jahres auf Grund von Ausnahmegenehmi- DIE GRÜNEN]: Genauso sieht das der Hei-
gungen - man sollte Ausnahme und Regel unter- lige Vater auch!)
scheiden - zur Sonntagsarbeit bundesweit lediglich Wir Sozialdemokraten treten zusammen mit den
3 000 neue Stellen geschaffen wurden. Ist die Steige- Gewerkschaften dafür ein, daß die Chancen konse-
rung von 0,01 % tatsächlich die Aushöhlung eines quent genutzt werden, die flexiblere Arbeitszeitmo-
wichtigen kulturellen und gesellschaftlichen Gutes delle bieten. Sie, meine Damen und Herren von der
wert? Ich glaube nicht. Koalition, verwechseln das aber permanent mit der
(Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Sind 3 000 nichts?) arbeitszeitlichen Verfügbarkeit von Arbeitskräften
für Unternehmen.
- Das sind Ausnahmen. Wollen Sie denn den Sonn-
Auch Betriebszeiten sind - entgegen den sattsam
tag plötzlich als Regelarbeitszeit einführen? 3 000
bekannten Überzeugungen der Koalition - kein
neue Stellen sind im Verhältnis zu fast 6 Millionen
Maßstab für die Wettbewerbsfähigkeit und Produkti-
Arbeitslosen nicht allzuviel, Frau Babel.
vität der deutschen Wi rtschaft. Die Vorteile des
(Beifall bei der SPD) Standorts Deutschland beruhen nicht zuletzt auf gut
ausgebildeten Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
Ich persönlich sehe größere Potentiale, wenn es mern. Wenn es uns gelingt, diese durch attraktive
uns gelänge, die 1,6 Milliarden Überstunden pro Arbeitszeitregelungen zu motivieren, tun wir mehr
Jahr anzugehen. für die Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen
als mit einfallslosem Lohn- und Sozialdumping.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Joseph
Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Gestatten Sie NEN])
eine Zwischenfrage, Kollegin Barnett?
Meine Hoffnung ist, daß wir zusammen mit den
Gewerkschaften und vielen fortschrittlichen Betrie-
Doris Barne tt (SPD): Ja. ben zu einer flexiblen Arbeitszeit und somit zu einer
besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie kom-
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Bitte schön. men und - darin stimme ich mit den Gewerkschaften
und Personalvorständen überein - daß wir es schaf-
fen, die Schichtarbeiter aus ihrer gesellschaftlichen
Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Frau Kollegin, Isolation herauszulösen.
Sie wissen genausogut wie ich, daß der Deutsche
Bundestag vor einem Jahr relativ hohe Meßlatten Eine Menge guter Vorschläge für mehr Zeit-
aufgelegt hat, bevor man sonntags im produzieren- souveränität sind bei uns in der Erprobung oder so-
den Gewerbe arbeiten kann. Eine Bedingung sind gar schon im praktischen Einsatz. Es liegt jetzt an
z. B. 144 Stunden Maschinenlaufzeit. uns Parlamentariern, die dafür notwendigen Rah-
menbedingungen zu formulieren. Packen wir es an!
Ich möchte Sie fragen, ob Sie mir nicht recht ge-
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
ben, daß die 3 000 zusätzlichen Arbeitsplätze nicht
GRÜNEN und der PDS)
das einzige Argument bei der Betrachtung dieser
Frage sind. Wir haben z. B. dadurch, daß in der Tex-
tilindustrie, wo die Einrichtung eines Arbeitsplatzes Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile dem
in einer Spinnerei oft 13 Millionen DM kostet, sonn- Abgeordneten Johannes Singhammer das Wo rt .
tags die Maschinen laufen können, eine Menge Ar-
beitsplätze erhalten. Johannes Singhammer (CDU/CSU): Herr Präsi-
(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) dent! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Hier
und heute im Deutschen Bundestag geht es nicht
niehr darum, das Für und Wider von flexiblen Ar-
Doris Barnett (SPD): Herr Kollege Laumann, dar- beitszeiten zu erörtern. Vielmehr geht es darum, die
auf möchte ich Ihnen nur eines antworten: Ich habe - Tarifpartner zu ermuntern, durchzusetzen, was not-
wie sicherlich auch Sie - einen B rief der KAB bekom- wendig ist. Flexible Arbeitszeiten, mobile Arbeitszei-
5142 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
Johannes Singhammer
ten sind ein Eckstein einer vernünftigen Arbeits- schinenlaufzeiten - auch wenn Sie die Zahlen an-
marktpolitik, einer zukunftsgerichteten Gesell- zweifeln -, das dichtestgeknüpfte soziale Netz und
schaftspolitik und einer gerechten Familienpolitik. die höchsten Umweltstandards. Die damit verbunde-
nen hohen Kosten bedrohen unseren Standort - man
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
kann es wenden, wie man will -, indem sie die Inve-
ordneten der F.D.P.)
storen abschrecken. Die Konsequenz kann doch
Die Essenz des Schlagworts „Globalisierung der nicht heißen, Stundenlöhne von 3,70 DM wie in der
Wirtschaft", das heute schon gefallen ist, bedeutet Tschechischen Republik zu zahlen oder an die niedri-
doch, daß das Tempo des ökonomischen Wandels gen Umweltstandards ehemals realsozialistischer
nicht mehr von uns allein bestimmt werden kann, Wirklichkeit anzuknüpfen. Ein Ausweg - deswegen
sondern vielfach von anderen vorgegeben wird. Und diskutieren wir heute - heißt: optimierter Einsatz
wer stehenbleibt, gerät bald in einen uneinholbaren vorhandener Produktionsmittel. Dies bedingt mo-
Rückstand. Der internationale Standortwettbewerb bile Arbeitszeiten. Die Beantwortung der Anfrage
wird schärfer. Es muß uns doch zu denken geben, der SPD durch die Bundesregierung zeigt eindeutig,
wenn sich 75 Regionen als Produktionsort für einen daß hier noch ein großer Schatz an Ressourcen in
neuen Kleinwagen bewerben, aber Mercedes sich Deutschland auf seine Hebung wartet; das Wachs-
nicht für die Errichtung eines Werkes in Deutsch- tumspotential längere Maschinenlaufzeiten ist bei
land, sondern in Frankreich entscheidet. Es muß uns weitem nicht ausgeschöpft. Nach einer Untersu-
zu denken geben, wenn Siemens in Großbritannien chung der Unternehmensberatung McKinsey kön-
ein neues High-Tech-Werk errichtet und Deutsch- nen in Deutschland 2 Millionen neue Arbeitsplätze
land zunehmend Arbeitsplätze exportiert, gleichzei- allein dadurch entstehen, daß vorhandene Arbeits-
tig aber immer noch plätze flexibler gestaltet werden.
(Zuruf des Abg. Joseph Fischer [Frankfu rt ] Als ein Indiz für die Richtigkeit dieser Feststellung
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) möchte ich Ihnen eine Zahl nennen: Die Arbeitslo-
senquote bei den Frauen war in der Vergangenheit
- ich komme noch dazu, Herr Fischer - jährlich viele immer deutlich höher als bei den Männern. In die-
Tausende von Arbeitskräften importiert. sem Jahr liegt sie erstmals darunter. Einen Grund
sehe ich dari n, daß die Quote der mobilen Arbeits-
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege plätze bei den Frauen von 24 % im Jahre 1970 auf
Singhammer, gestatten Sie eine Zwischenfrage? 33 % im Jahre 1993 gestiegen ist.
Johannes Singhammer (CDU/CSU): Ja, gerne. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege
Singhammer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Peter Dreßen (SPD): Herr Kollege Singhammer, Sie
Abgeordneten Köhne?
haben gerade die Tarifpartner ermuntert, mehr Flexi-
bilität zuzulassen. Ist Ihnen eigentlich bekannt, daß Johannes Singhammer (CDU/CSU): Gerne.
es bei VW z. B. heute schon 200 diverse Arbeitszeit-
modelle gibt? Oder können Sie mir einen Tarifvertrag
Rolf Köhne (PDS): Herr Kollege, können Sie ein-
nennen, der z. B. die Samstagsarbeit verbietet? Geht
es Ihnen denn wirklich nur um mehr Flexibilität, oder mal illustrieren, wie dadurch, daß Arbeitsplätze fle-
geht es Ihnen in Wirklichkeit um die Zuschläge, die xibler gestaltet werden, neue Arbeitsplätze geschaf-
unter Umständen für Überstunden bezahlt werden fen werden? Vor allen Dingen: Wie begründen Sie
müssen? Dann sollten Sie das auch sagen. die Zahl von zwei Millionen?
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das fragt
GRÜNEN und der PDS) der jetzt schon zum 15. Mal! Der begreift
das nicht!)
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege, Wir brauchen hier vor allem auch bei den Tarifpar-
gestatten Sie eine Zwischenfrage von Frau Beck? teien Bewegung. Nichts wäre fataler als eine „Ty-
rannei des Status quo".
Ich gehöre dem Deutschen Bundestag nun seit fünf (Otto Schily [SPD]: Wer hat denn die höch-
Jahren an und habe hier in dieser Zeit manche Ar- sten Abgabenlasten zustande gebracht?)
beitsmarktdebatte erlebt. Die Leute können und wollen das nicht mehr ertra-
gen. Auch laufen wir Gefahr, nicht mehr wettbe-
(Zuruf von der SPD: Aber Sie haben sie werbsfähig zu sein. Das ist die Wahrheit!
nicht beg riffen!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Wissen Sie, ich stelle mir manchmal die Frage, was
die vier oder viereinhalb Millionen Arbeitslosen ei- Setzen wir uns um Gottes willen einmal zusam-
gentlich von uns erwarten, ob sie es wirklich so toll men, um diese Probleme in den Gemeinden, in den
finden, daß die CDU der SPD die Schuld zuschiebt, Ländern und im Bund anzugehen! Gemeinsames
die SPD der CDU, die Gewerkschaften den Unter- Handeln ist hier erforderlich.
nehmern, die Unternehmer den Gewerkschaften. (Zuruf von der SPD: Wer regiert denn?)
Haben diese Menschen nicht einfach einen An-
spruch darauf, daß man die Situation analysiert? Muß - Wir regieren im Bund, in manchen Ländern und
man in einem föderalen Staatsaufbau, in dem jeder vielen Gemeinden regieren Sie. Aber dieses Hin-
weiß, daß der Bund allein die Dinge auch nicht im- und Herlavieren bringt uns nicht weiter. Doch ich
mer umsetzen kann, in dem man auch weiß, daß ge- habe die Hoffnung, daß die vielen Debatten, die wir
rade in diesem Bereich Unternehmensverbände und im Bundestag und woanders über die Arbeitszeitpro-
Gewerkschaften - schlicht: die Tarifvertragsparteien - blematik geführt haben, bei der größten Oppositions-
eine Riesenrolle spielen, nicht versuchen, zu einem partei langsam auf fruchtbaren Boden fallen. Denn
gemeinsamen Handeln zu kommen, um die Voraus- wenn ich mir vor Augen führe, was Herr Spöri sagt,
setzung für mehr Arbeit in Deutschland zu schaffen? was Herr Jens und Herr Schröder erklären, dann
Ich bin es leid, daß wir uns hier im Bundestag in im- stelle ich fest, das dies das ist, was wir in der CDU
mer zahlreicher werdenden Diskussionen damit ab- seit vielen Jahren in diesem Hohen Hause vertreten.
finden, den Mangel anders zu verteilen. Vielmehr In Wahrheit sind ein paar Probleme, die Sie zur
stellt sich doch zunächst einmal die Aufgabe, alles zu Zeit haben, wohl auch damit verbunden, daß diese
unternehmen, um möglichst viel sozialversicherungs- verschiedenen Meinungen aufeinanderprallen und
pflichtige Arbeit in Deutschland zu organisieren. Sie sehen müssen, wie Sie das bewältigen. Bitte war-
ten Sie nicht so lange, diesen Streit zu schlichten, da-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so mit wir endlich gemeinsam entscheiden und die
wie bei Abgeordneten der SPD und der Dinge anpacken können, die die Arbeitnehmer in
PDS) Deutschland brauchen, um mehr Arbeitsplätze zu
Entscheidend in diesem Zusammenhang ist, daß bekommen.
das, was man produziert, was man anbietet, am Ende (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
auch einen Preis braucht. Also hat es mit Geld, mit ordneten der F.D.P.)
Kosten zu tun, und da sind nicht der Lohn und die
Sozialversicherungsbeiträge die einzigen Kostenver-
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege,
ursacher. Da müssen wir uns über Strom, über ökolo-
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
gische Standards und über viele andere Fragen un-
Schily?
terhalten, die zusammen eine Kostenbelastung aus-
machen.
Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Ja, gut. Machen
(Joseph Fischer [Frankfu rt ] [BÜNDNIS 90/ wir!
DIE GRÜNEN]: Worüber redet der eigent
lich?)
O tt o Schily (SPD): Herr Kollege Laumann, ich
Ich glaube schon, daß wir uns einmal stärker die verstehe, daß Sie Kostenfaktoren mit uns gemeinsam
Frage stellen sollten, ob es uns in der Politik nicht diskutieren wollen. Das ist in Ordnung. Was ich nicht
besser und billiger gelingen müßte, das Zusammen- ganz verstehe, ist, daß Sie ökologische Standards of-
leben von 80 Millionen Menschen zu organisieren. fenbar als Kostenfaktoren diskutieren wollen. Sie ha-
Denn ich finde, bei 850 Milliarden DM Steuereinnah- ben anscheinend nicht den Blick dafür, daß gerade
men durch Bund, Länder und Gemeinden muß es die Verbesserung ökologischer Standards die Er-
doch möglich sein, das Zusammenleben in einem tragssituation erheblich verbessern und sogar zu Ko--
Land von 80 Millionen Menschen auf Dauer kosten- stenminimierung führen kann.
günstiger zu organisieren, um im internationalen (Widerspruch bei der CDU/CSU und der
Kampf um Arbeit bessere Chancen zu haben. F.D.P.)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU Es ist immer schlecht, wenn wir uns gegenseitig
und der F.D.P.) Lektüre abfragen. Aber ich darf Sie doch fragen:
Kennen Sie das Buch von E rnst Ulrich von Weizsäk-
Die Sozialdemokraten haben in der Vergangenheit ker „Faktor 4", in dem genau dieser Zusammenhang
wirklich Meisterleistungen hingelegt., Entsteht ein angesprochen wird? Es besagt, daß man einen dop-
5146 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
Otto Schily
pelten Wohlstand durch einen halbierten Naturver- ligung von Arbeitnehmern, Arbeitgebern und ande-
brauch zustande bringen kann. Das ist dann kein Ko- ren systematisch Dialoge zu organisieren, um Pro-
stenfaktor, sondern eine Verbesserung der Kostensi- bleme zu lösen, und daß Sie erst damit begonnen ha-
tuation. ben, als die Krise da war, als das Kind also bereits in
den Brunnen gefallen war?
Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Sehr geehrter
Herr Schily, ich bekenne hier freimütig, daß ich die- Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Lieber Kollege,
ses Buch nicht kenne. wissen Sie, wir sind da, wo ich herkomme, nicht auf
den Kopf gefallen. Deswegen kennen wir schon die
(Zuruf von der F.D.P.: Schadet nichts!)
Möglichkeiten des Recyclings und haben da auch
Aber ich kenne in meinem Wahlkreis eine Gießerei, eine Menge getan.
die ich als Beispiel anführen will.
Schließlich steht man aber doch irgendwann vor
(Zuruf von der F.D.P.: Und die kennt der der Frage der Endlagerung. Mit dem Beispiel, stell-
nicht!) vertretend für viele andere, wollte ich nur deutlich
machen, daß die Endlagerung für die betreffende
Da arbeiten 200 Menschen. In dieser Gießerei fällt Firma durchaus ein Problem ist.
nun einmal Formsand, wenn man ihn auch oft re-
cycelt hat, irgendwann als Abfallprodukt an und muß
entsorgt werden. Diese Firma hat vor sieben oder Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege
acht Jahren für die Entsorgung der Formsande um Laumann, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage
die 200 000 DM bezahlt. Die gleiche Firma bezahlt von Frau Beck?
dafür heute fast 1 Million DM.
Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Ich muß die von
(Zuruf von der CDU/CSU: So ist das!)
Herrn Tauss noch beantworten.
Wenn eine solche Gießerei gegen Gießereien in Po-
len, in Tschechien, auch in Holland oder Frankreich Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Oh, ich dachte,
antreten muß, ist das für denjenigen, der sich Gedan- Sie wären fertig.
ken über die Auftragseingänge machen muß, damit
200 Leute jeden Tag Arbeit bekommen, ein Punkt.
Darüber denke ich nach; und dafür brauche ich nicht Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Dem, was Sie
unbedingt ein solches Buch zu lesen. über den Dialog gesagt haben, entgegne ich: Ich
halte sehr viel davon, daß man in den unterschiedli-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge chen gesellschaftlichen Gruppen, in den unter-
ordneten der F.D.P. - Zurufe des Abg. Otto schiedlichen Verbänden Dialoge führt. Das ist in der
Schily [SPD]) Demokratie eine ganz wichtige Sache.
Schauen Sie einmal, was zur Zeit im Bundeskanz-
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege, leramt stattfindet. Die Spitzengespräche beim Bun-
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten deskanzler zwischen DGB, Wirtschaftsspitzen und
Tauss? den Spitzen der Bundesregierung
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Beck, Sie Ich stelle mir wirklich die Frage: Müssen wir denn
haben eine Zwischenfrage. zur gleichen Zeit auch noch alle anderen möglichen
Standards Gott weiß wie erhöhen, um die letzten 2
oder 3 % Umweltschutz zu erreichen?
Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Herr Laumann, ich möchte gern auf die Frage Ich glaube, wenn wir do rt neue Kläranlagen bauen
der ökologischen Kostenbelastung zurückkommen. und dafür sorgen, daß die Formsände überhaupt re-
Dabei ist es ziemlich egal, welche Bücher man gele- cycelt werden können, ist es sinnvoll, große Mengen
sen hat. Das wissen Sie doch wohl; denn soviel weiß Geld in diese Projekte zu stecken. Dann muß man
doch jeder in diesem Haus und muß es wissen: Es aber - ich will es einmal mit meinen Worten sagen -
kann natürlich niemand bestreiten, daß es betriebs- hier neune gerade sein lassen, um die Dinge finan-
wirtschaftlich für diese Gießerei im Jahre 1980 oder zierbar zu halten.
1990 billiger ist, für 200 000 DM zu entsorgen. Wir (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
wissen aber auch und können wissen, daß die näch-
ste Generation oft herangezogen wird, diese billige Man muß das abwägen! Alles auf einmal geht selbst
Entsorgung, wenn es überhaupt noch geht, in Ord- in einem so modernen Land wie Deutschland nach
nung zu bringen und dafür die Kosten zahlt. Wir wis- meiner Auffassung nicht.
sen, daß wir oft unverantwortlich auf Kosten der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
nächsten Generation leben, und zwar auch ökono- ordneten der F.D.P.)
misch, nicht nur moralisch. Ist Ihnen das auch be-
wußt? Meine Damen und Herren, ich möchte jetzt auf die
Arbeitszeiten eingehen. Seit gut einem Jahr ist das
(Otto Schily [SPD]: Nein, das weiß er nicht!) neue Arbeitszeitgesetz in Kraft. Ich möchte für meine
Fraktion feststellen, daß sich dieses Gesetz in der Tat
bewährt hat. Wir haben damals gesagt, wir müssen
Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Sie erzählen die Arbeitszeiten soweit regeln, wie sie mit dem Ge-
einem Christdemokraten überhaupt nichts Neues, sundheitsschutz der Arbeitnehmer zu tun haben.
wenn Sie sagen, daß wir mit unseren natürlichen Le-
bensgrundlagen, Frau Kollegin Beck, sehr vorsichtig Ich glaube allen Ernstes daran, daß es besser ist,
umgehen müssen und daß wir Menschen sie in einer daß die Sozialpartner in den Bet rieben, also Be-
großen Verantwortung für die, die nach uns kom- triebsräte und Geschäftsleitungen, gemeinsam über-
men, nutzen müssen. legen, wie die Arbeitszeiten in ihrem Bet rieb für
beide Seiten am besten festzulegen sind. Wir befin-
(Joseph Fischer [Frankfu rt ] [BÜNDNIS 90/ den uns in dieser Frage voll in der Mitbestimmungs-
DIE GRÜNEN]: Aber?) pflicht. Arbeitszeiten können in einem Bet rieb nur
mit dem Einverständnis des Bet riebsrates und im
Das ergibt sich schon aus einem ganz normalen reli- Einvernehmen mit ihm festgesetzt werden. Das ist
giösen Verständnis heraus. Ich will Ihnen das deut- gut so. Ich glaube, daß die Vielfältigkeit, die wir in
lich sagen. den Betrieben haben, von den Sozialpartnern in den
Betrieben viel besser beurteilt werden kann als vom
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Deutschen Bundestag und auch - das ist meine An-
Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ sicht - von den Tarifvertragsparteien.
DIE GRÜNEN]: Aber?)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Viele Dinge, die es eigentlich immer schon gege-
ben hat und die Sie jetzt als neu bezeichnen, sind in Es ist in der Tat so, daß die Arbeitszeiten in
der Tradition, in der ich großgeworden bin, immer Deutschland viel bunter und unterschiedlicher sind,
schon eine Selbstverständlichkeit gewesen. als man das landauf und landab in der Diskussion
hört. Das ist doch ein Zeichen dafür, daß die Sozial-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) partnerschaft in den Bet rieben funktioniert.
Da haben Sie nichts Neues erfunden, und wir wollen Ich möchte heute auch noch etwas zur Sonntagsar
das ja auch machen. beit sagen. Als wir vor gut einem Jahr das Gesetz be-
raten haben und ich es für meine Fraktion vertreten
Aber natürlich gibt es Zielkonflikte. habe, da sind wir von der SPD als „Sonntagskiller"
bezeichnet worden.
(Otto Schily [SPD]: Aha!)
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ -
Wir müssen sehen, daß wir die Dinge Schritt für DIE GRÜNEN]: Nicht von der SPD! Vom
Schritt überbrücken; das geht nicht alles auf einmal. Heiligen Stuhl!)
Wir beschäftigen uns zur Zeit in großem Maße mit - Sie waren damals noch gar nicht da, Herr Fischer.
der Wiedervereinigung, und das, was in Ostdeutsch- Da konnten Sie so etwas noch gar nicht sagen.
land geschieht, ist - das behaupte ich - eines der
größten ökologischen Programme, die jemals in Dieser Vorwurf war - das gilt nach wie vor - bösar-
Europa stattgefunden haben. tig und ungerecht. Es zeigt sich, nachdem dieses Ge-
setz ein Jahr in Kraft ist, daß diese Vorwürfe unge-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge rechtfertigt waren. Schauen Sie einmal: In ganz
ordneten der F.D.P.) Deutschland haben rund 175 Firmen bei den zustän-
5148 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
Karl-Josef Laumann
digen Landesbehörden Sonntagsarbeit genehmigt Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Es liegt keine
bekommen. Davon sind etwa 14 000 Arbeitnehmer Wortmeldung zu diesem Tagesordnungspunkt mehr
betroffen. Das bedeutet, daß wir eine Ausweitung vor. Ich schließe damit die Aussprache. Eine Be-
der Sonntagsarbeit um 0,05 % gehabt haben. Sicht- schlußfassung ist nicht vorgesehen.
barer dagegen ist, finde ich, der erhoffte Arbeits-
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 b und 19 c
platzeffekt. Auch wenn Sie sagen, 3 000 Arbeits-
und den Zusatzpunkt 5 auf:
plätze bundesweit seien für Sie kein Thema,
19. Überweisungen im vereinfachen Verfahren
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Sie können doch nicht mit b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Arbeitsplätzen gegen die Bibel argumentie Rolf Kutzmutz, Dr. Christa Luft und der
ren!) Gruppe der PDS
Flexiblere Gestaltung der Förderpro-
ich bin froh um jeden Arbeitsplatz, den wir do rt hal-
gramme
ten konnten, und ich freue mich darüber, daß 3 000
Männer und Frauen das Brot für ihre Familien in die- - Drucksache 13/1798 —
sen Arbeitsplätzen verdienen können und damit eine Überweisungsvorschlag:
Zukunft haben. Haushaltsausschuß (federführend)
Ausschuß für Wirtschaft
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung,
Technologie und Technikfolgenabschätzung
Joseph Fischer [Fr ankfurt] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Am siebten Tag sollst du ru c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
hen, heißt es in der Bibel! Wo seid ihr denn Ge rt Weisskirchen (Wiesloch), B rigitte Ad-
hingekommen?) ler, Dr. Ulrich Böhme (Unna), weiterer Ab-
Wir alle wissen, daß die Genehmigung bei einem geordneter und der Fraktion der SPD
namhaften deutschen Reifenhersteller in diesem Be- Verhandlung vor dem Internationalen Ge-
reich allein in einer Einzelmaßnahme 200 Ar- richtshof zur Frage der völkerrechtlichen
beitsplätze gesichert hat. Da kann man sagen, das Legalität des Einsatzes oder der Andro-
seien Peanuts. Aber ich glaube, daß sich die Men- hung des Einsatzes von Atomwaffen
schen in dieser Fabrik und in dieser Region freuen, - Drucksache 13/1879 —
daß das gelingen kann und daß sie die Möglichkeit Überweisungsvorschlag:
zu arbeiten haben, weil ansonsten ihre Firma einfach Auswärtiger Ausschuß
nicht zu halten gewesen wäre. Bei der Abwägung,
ob der Arbeitsplatz verlorengeht oder behalten wer- ZP5 Weitere Überweisung im vereinfachten Ver-
den kann, halte ich es als überzeugter und praktizie- fahren
render Katholik auch vor dem lieben Gott für verant- (Ergänzung zu TOP 19)
wortbar zu sagen: Dann muß sonntags halt gearbei- Beratung des Antrags der Abgeordneten Ger-
tet werden. hard Jüttemann, Rolf Kutzmutz, Eva Bulling-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Schröter, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der
Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ PDS
DIE GRÜNEN]: Oh, oh, oh! In der katholi Änderung des Bundesberggesetzes
schen Kirche entscheidet aber nicht jeder
selbst, was der liebe Gott sagt! Das ent - Drucksache 13/2497 —
scheidet immer noch Rom!) Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft (federführend)
Ich glaube, daß wir in diesem Hohen Hause gut be- Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
raten sind, uns - auch im Interesse der Zukunftsfä- Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
higkeit unseres Landes und der Stabilisierung der so- Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen
zialen Sicherungssysteme für die Bedürftigen - stär- an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
ker um die Voraussetzungen dafür zu kümmern, Ar- zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich
beit in Deutschland zu behalten. Da brauchen wir sehe und höre keinen Widerspruch. Dann sind die
nicht nur sozialpolitische Ideen, wir brauchen auch Überweisungen so beschlossen.
Ideen der Wirtschaftspolitiker; das sage ich einmal
ganz deutlich. Da muß etwas mehr kommen als nur Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20a bis 20d und
eine Debatte über den Ladenschluß. 20f bis 20n auf:
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) 20. Abschließende Beratungen ohne Aussprache
-
Da muß auch einmal beraten und überlegt werden, a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung
wo es Investitionsstaus gibt. Alle Ausschüsse des des von der Bundesregierung eingebrach-
Deutschen Bundestages sollten sich darüber einmal ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver-
Gedanken machen. Dann müßte ein Bündel ge- trag vom 2. April 1993 zwischen der Bun-
schnürt werden, das wir dann gemeinsam durchset- desrepublik Deutschland und der Repu-
zen. Ich glaube, dann hätten wir Erfolg. blik Belarus fiber die Förderung und den
gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
Danke schön. - Drucksache 13/2047 -
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Erste Beratung 55. Sitzung)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5149
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- - zu dem Vorschlag für eine Verord-
schusses für Wirtschaft (9. Ausschuß) nung (EG) des Rates über ein Gemein-
- Drucksache 13/2448 - schaftsprogramm zur finanziellen
Unterstützung der Förderung europäi-
Berichterstattung: scher Energietechnologien 1995-1998
Abgeordneter Christian Müller (Zittau) („THERMIE II")
- zu dem Geänderten Vorschlag für eine
b) Zweite Beratung und Schlußabstimmung
Verordnung (EG) des Rates über ein Ge-
des von der Bundesregierung eingebrach-
meinschaftsprogramm zur finanziellen
ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver-
Unterstützung der Förderung europäi-
trag vom 20. April 1993 zwischen der Bun-
scher Energietechnologien 1995-1998
desrepublik Deutschland und der Repu-
(„THERMIE II")
blik Lettland über die Förderung und den
gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksachen 13/269 Nr. 2.3, 13/1096
- Drucksache 13/2046 - Nr. 2.4, 13/1962 -
(Erste Beratung 55. Sitzung) Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Otto Schmiedeberg
Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- Bodo Seidenthal
schusses für Wirtschaft (9. Ausschuß) Simone Probst
- Drucksache 13/2449 - Dr. Karlheinz Guttmacher
Wolfgang Bierstedt
Berichterstattung:
Abgeordneter Erich G. Fritz g) Beratung der Beschlußempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Wi rtschaft
c) Zweite Beratung und Schlußabstimmung (9. Ausschuß)
des von der Bundesregierung eingebrach- - zu dem Antrag der Abgeordneten Hein-
ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver- rich Graf von Einsiedel, Dr. Willibald
trag vom 24. September 1992 zwischen der Jacob, Andrea Lederer und der weiteren
Bundesrepublik Deutschland und Jamaika Abgeordneten der PDS
über die gegenseitige Förderung und den
Schutz von Kapitalanlagen Verbot der Rüstungsexporte und Kon-
version der Rüstungsindustrie
- Drucksache 13/2045 -
- zu der Unterrichtung durch die Bundes-
(Erste Beratung 55. Sitzung) regierung
Beschlußempfehlung und Be richt des Aus- Bericht der Bundesregierung zum Stand
schusses für Wirtschaft (9. Ausschuß) der EG-Harmonisierung des Exportkon-
- Drucksache 13/2450 - trollrechts für Güter und Technologien
mit doppeltem Verwendungszweck
Berichterstattung: (Dual-use-Waren)
Abgeordneter Christian Müller (Zittau)
- Drucksachen 13/584, 12/8368, 13/725
Nr. 92, 13/2545 -
d) Zweite Beratung und Schlußabstimmung
des von der Bundesregierung eingebrach- Berichterstattung:
ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- Abgeordneter E rich G. Fritz
kommen vom 15. März 1994 zwischen der
h) Beratung der Beschlußempfehlung und des
Bundesrepublik Deutschland und der Re-
Berichts des Finanzausschusses (7. Aus-
publik Litauen über die gegenseitige Hil-
schuß) zu der Unterrichtung durch die Bun-
feleistung bei Katastrophen oder schwe-
desregierung
ren Unglücksfällen
MwSt - geänderter Richtlinienvorschlag
- Drucksache 13/1665 -
betr. Personenbeförderung
(Erste Beratung 47. Sitzung) - Drucksachen 13/1234 Nr. 1.2, 13/2403 -
Beschlußempfehlung und Be richt des Berichterstattung:
Innenausschusses (4. Ausschuß) Abgeordnete Reiner Krziskewitz
- Drucksache 13/2517 - Detlef von Larcher
Berichterstattung: i) Beratung der Beschlußempfehlung des
Abgeordnete E rika Steinbach Petitionsausschusses (2. Ausschuß)
Bernd Reuter
Sammelübersicht 63 zu Petitionen
Manfred Such
Dr. Burkhard Hirsch - Drucksache 13/2465 -
Karl Diller (SPD): Herr Präsident! Meine sehr ver- Auf Grund der Konjunktur- und Arbeitsmarktent-
ehrten Damen und Herren! Nach diesen Ausführun- wicklung wird die Bundesanstalt für Arbeit im näch-
gen des Herrn Finanzministers verstehe ich, warum sten Jahr sicherlich nicht ohne Zuschuß auskommen.
er den ganzen Vormittag hinter den Kulissen massiv Denjenigen Menschen, die hoffen, im nächsten Jahr
versucht hat, die für morgen eigentlich vereinbarte aus ihrer Arbeitslosigkeit wieder in eine Erwerbstä-
Aktuelle Stunde zur Lage der Staatsfinanzen zu ver- tigkeit zu kommen, wird Herr Waigel - das hat er im
hindern. Haushaltsausschuß eingeräumt - ihre Hoffnungen
nicht erfüllen können. Er geht davon aus, daß die Ar-
(Beifall bei der SPD sowie der Abg.
beitslosigkeit auf dem jetzigen Niveau bleibt. Dies
Dr. Barbara Höll [PDS])
bedeutet, daß viele Leute kein Arbeitslosengeld
Denn erneut hat er sich über die Deckungsmöglich- mehr beziehen werden und in die Arbeitslosenhilfe
keiten und die wahren Risiken seines Haushalts ge- fallen, d. h. ein Haushaltsrisiko beim Bund werden.
genüber der Öffentlichkeit völlig ausgeschwiegen.
Hinsichtlich der addierten Haushaltslöcher geben
(Beifall bei der SPD - Steffen Kampeter Sie selbst für nächstes Jahr 12 Milliarden DM zu. Für
[CDU/CSU]: Wir diskutieren doch jetzt dar die restlichen 6 bis 8 Milliarden DM fehlt ebenfalls
über!) jede glaubwürdige Deckung.
Die Koalition kneift. Heute soll dieses Thema unter
„ferner liefen" behandelt werden. Ihr Versuch, bei 60 Milliarden DM Nettoneuver-
schuldung zu bleiben, müßte jetzt eigentlich unter-
(Günther Friedrich Nolting [ F.D.P.]: Sie ha mauert werden. Seit 14 Tagen sprechen Sie öffentlich
ben doch die Möglichkeit, jetzt etwas dazu dieses Problem an; bis heute sind Sie jeden Beweis -
zu sagen!) schuldig geblieben, wie Sie diese Deckungslöcher
konkret stopfen wollen.
Es ist ein mieses Stück, die wahre Finanzlage des
Bundes zu vertuschen.
(Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Sehr rich
Sehr geehrter Herr Waigel, es ist auch ein mieses -tig!)
Stück Ihres Hauses, zum gleichen Zeitpunkt, zu dem
Sie die Bundestagsfraktion der CDU/CSU und in ei- Dann ist ein solcher Regierungsentwurf natürlich
nem Hintergrundgespräch eine Auswahl von Journa- Makulatur. Wir bestehen darauf, daß die Bundesre-
listen über die Haushaltsrisiken des Jahres 1996 in gierung nach der Bundeshaushaltsordnung eine se-
5156 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
Karl Diller
riöse Ergänzungsvorlage zu ihrem Haushaltsentwurf Rest geht zum überwiegenden Teil auf eine völlige
vorlegt. Fehleinschätzung Ihres Hauses hinsichtlich der Mög-
lichkeiten der Steuerverkürzung durch Abschrei-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
bungsvergünstigungen und der Gestaltungsmöglich-
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN keiten im Steuerrecht zurück.
und der PDS)
Die neuesten Daten bezüglich der veranlagten Ein-
Gestern konkret genagelt, ist er wie Pudding.
kommensteuer und der Körperschaftsteuer weisen
(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Was? Un eine Erwartung für das laufende Haushaltsjahr von
glaublich! Nehmen Sie das zurück!) 26 Milliarden DM aus. Eingegangen sind 2,4 Mil-
liarden DM,
Da sagt er: Also, wir streben eine globale Minderaus-
gabe nicht an, wir schließen sie aber auch nicht aus. (Zurufe von der SPD: Hört! Hört!)
Eine solche globale Minderausgabe, d. h. ein Strei-
d. h., 9 % des von Ihnen Erwarteten sind erst einge-
chen quer über den gesamten Haushalt, ist dann
gangen. Diese Entwicklung läßt nur einen Schluß zu:
mindestens in einer Größenordnung von 5 Milliarden
Die ungerechte Verteilung der Steuerlast in diesem
DM fällig.
Lande hat sich dramatisch verschärft.
(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]:
(Beifall bei der SPD und der PDS - Helmut
Wenn sie sein muß! - Wolf-Michael Caten
Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Das ist doch
husen [SPD]: Das ist doch kein geordnetes
System!)
Haushaltsverfahren!)
Nun müssen wir befürchten, daß die Koalition in
Deshalb ist die Behauptung des Kollegen Roth, nun
den weiteren Beratungen keine konkreten Dek-
sei es Aufgabe der Koalition im Haushaltsausschuß
kungsvorschläge vorlegen wird, daß sie aber die
und des Parlaments insgesamt, für eine Deckung zu
durch Steuerverkürzungen und Übersubventionie-
sorgen, kühn.
rung in die öffentliche Haushalte gerissenen Löcher
Bisher haben die Beratungen des Haushaltsaus- durch weitere Belastungen breiter Kreise der Bevöl-
schusses - wir waren gestern mit der Hälfte fertig - kerung in letzter Minute zu stopfen versuchen wird,
eine Haushaltsverbesserung von 380 Millionen DM möglicherweise in Form einer globalen Minderaus-
erbracht. gabe, durch Eingriffe in Sozialleistungen, aber auch
durch Kürzungen im Investitionsbereich.
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Nicht durch
Ihr Zutun, Herr Diller!) Meine Damen und Herren, das jetzige Steuerdesa-
ster ist das Ergebnis Ihrer Politik, die denen hilft, die
Gestern haben wir anschließend den Verteidigungs- sich eigentlich selber helfen können müßten.
haushalt beraten.
(Beifall bei der SPD sowie des Abg.
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sie wollten Dr. Winfried Wolf [PDS])
ihn erhöhen!)
Das Schreckliche, das Unsoziale, das Unchristliche
Kürzungsvorschläge der SPD-Fraktion in der Grö- und das Unsolide Ihrer Politik ist, daß Sie die nötigen
ßenordnung von rund 400 Millionen DM haben Sie Deckungsmassen für diese Politik wieder durch zu-
abgelehnt. Man kann angesichts einer solchen Ent- sätzliche Einschnitte bei den breiten Bevölkerungs-
wicklung der Staatsfinanzen einen solch großen kreisen holen wollen.
Haushalt wie den Verteidigungshaushalt nicht von
Kürzungen ausnehmen, meine Damen und Herren. (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei
Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
GRÜNEN und der PDS - Paul Breuer [CDU/
CSU]: Das merke ich mir!) Einer solchen Politik werden wir unseren entschiede-
nen Widerstand entgegensetzen, Herr Waigel, darauf
Der Wohnungsbauminister verspricht inzwischen können Sie sich verlassen.
eine Erhöhung des Wohngeldes. Er verschweigt völ-
lig, woher das Geld dafür kommen soll. Der Verteidi- (Beifall bei der SPD - Lachen bei der CDU/
gungsminister bittet den Haushaltsausschuß, seinen CSU - Zuruf von der CDU/CSU: Da haben
Haushalt von Kürzungen auszunehmen. Der Ver- wir aber Angst!)
kehrsminister bittet heute den Haushaltsausschuß,
ihm doch 500 Millionen DM zusätzlich zu bewilligen, Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Zu einer Kurz-
weil er sonst im nächsten Jahr überhaupt nichts intervention erteile ich dem Abgeordneten Wilf ried -
Neues anfangen könne. Das wird noch ein Hauen Seibel das Wort.
und Stechen im Kabinett bzw. in der Koalition geben,
(Günther F riedrich Nolting [F.D.P.]: In der Wilfried Seibel (CDU/CSU): Herr Präsident! Ich
SPD vor allem!) möchte auf die Ausführungen des Kollegen Diller
um diese Geschichte glattzuziehen. kurz Bezug nehmen. In dem erwähnten Berichterstat-
tergespräch wurden auf Nachfragen aus der Runde
Herr Waigel, von den Steuerausfällen sind allen- an den Staatssekretär keine aktuellen Zahlen über
falls - da waren wir uns gestern im Ausschuß einig - die vorliegenden Tendenzen für die Steuerschätzung
7 bis 8 Milliarden DM konjunkturell erklärbar. Der gegeben. Als ich an dem Abend nach Hause kam,
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5157
Wilfried Seibel
den Fernseher anstellte und die Pressemeldung des ginnen und Kollegen! Herr Diller, das, was Sie von
Ministeriums hörte, die maximal eine Stunde nach den Einsparungen im Rahmen des Jahressteuerge-
Ende unseres Berichterstattergesprächs herausgege- setzes gesagt haben, meinen Sie doch wohl selber
ben worden sein kann, habe ich mich in der Tat geär- nicht ernst. Was an Einsparungsvorschlägen ge-
gert. macht wurde, wäre für die Wi rt schaft eine Horrorliste
zur Vernichtung von Arbeitsplätzen gewesen. Das
(Dr. Barbara Hend ri cks [SPD]: Mißachtung wollen wir hier doch weiß Gott nicht beschließen.
des Parlaments!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
- Ich sagte ja, daß es mich geärgert hat. Nehmen Sie
es doch hin. Die Jahrestagungen von IWF und Weltbank sind
Ich bin im Detail zwar etwas anderer Meinung, nun schon seit mehr als einem halben Jahrhundert
aber Kollege Diller hat ein paar Analysen gegeben, ein wichtiges Forum für Fragen der internationalen
die zu diesem Ergebnis führen. Nun könnte es pas- Wirtschafts-, Währungs- und Entwicklungspolitik.
sieren - wir wissen, daß es nicht passieren wird -, Auch wenn hier in erster Linie globale Probleme auf
daß Sie, Herr Diller, in die Verantwortung geraten der Tagesordnung stehen, bleibt doch ein enger Be-
könnten, in der Herr Waigel heute steht. zug zur nationalen Politik jedes einzelnen Teilneh-
merstaates.
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Gott be
wahre uns davor!) Angesichts der Globalisierung der internationalen
Finanz- und Devisenmärkte, die in den letzten Jah-
Da wäre ich dankbar, wenn Sie uns noch ein paar ren in einem geradezu atemberaubenden Tempo zu-
Anmerkungen dazu machen könnten, wo die genommen hat und wo Tag für Tag unvorstellbare
20 Milliarden DM, die jetzt fehlen, von der SPD er- Summen rund um den Globus bewegt werden, hat
wirtschaftet würden. Durch neue Steuern oder durch auch die nationale Wirtschafts-, Finanz- und Wäh-
Einsparungen an welcher Stelle? rungspolitik unmittelbar internationale Auswirkun-
Wenn Sie uns dazu etwas sagen könnten, würde gen. Die internationalen Märkte reagieren in kürze-
das die Glaubhaftigkeit Ihres Vortrags wesentlich er- ster Zeit auf nationale wi rt schaftspolitische Fehlent-
höhen. wicklungen. Es ist deshalb richtig, daß auch Abge-
(Zustimmung bei der CDU/CSU) ordnete des Deutschen Bundestages aller Parteien,
die über diese nationale Politik zu befinden haben,
an den Jahrestagungen teilnehmen.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege
Diller, Sie haben die Möglichkeit zu antworten. Die Bilanz der nunmehr 51 Jahre des Bestehens
von IWF und Weltbank ist unter dem Strich als Erfolg
(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: zu we rt en. Sicherlich gab es Krisen - ich erwähne
Jetzt kommen die Vorschläge! - Steffen hier nur die Mexiko-Krise -, und sicherlich wird es
Kampeter [CDU/CSU]: Jetzt sind wir aber auch weiterhin Krisen geben. Aber dies ist zu mei-
gespannt!) stern, weil sich alle - ich denke hier insbesondere an
die führenden Industrienationen - ihrer gemeinsa-
Karl Diller (SPD): Herr Präsident! Auf die Frage des men Verantwortung bewußt sind und - ich füge das
Kollegen Seibel eine einfache Antwort: Sie regieren, hinzu - sich auch gegenseitig informieren. Zumin-
und es ist Ihre Bringschuld. dest haben sie sich das gegenseitig so versichert.
(Beifall bei der SPD - Dr. Wolfgang Weng Es geht dabei sicherlich nicht nur um finanzielle
[Gerlingen] [F.D.P.]: Ausrede!) Leistungen. Mich hat insoweit der Satz aus der Eröff-
nungsrede des neuen Weltbankpräsidenten Wolfen-
Wenn Sie außerdem Anregungen für vernünftige
sohn schon beeindruckt, daß das Lächeln eines Kin-
Vorschläge suchen, dann schauen Sie einmal nach,
des der wahre Maßstab für ein erfolgreiches Ent-
was im Zuge der Beratungen über das Jahressteuer-
gesetz alles an Einsparmöglichkeiten durch die Ver- wicklungsprojekt sei. Aber Geld ist nun einmal erfor-
derlich, und gemeinsame Verantwortung bedeutet
minderung von Abschreibungsmöglichkeiten und
insoweit eben auch, daß alle Mitgliedsländer ihren
ähnlichen Dingen durch die Bundesländer vorge-
finanziellen Verpflichtungen nachkommen. Das
schlagen worden ist. Dort finden Sie ein großes Feld,
schließt nicht aus, die Notwendigkeit der Bereitstel-
das weit über die Summe hinausgeht, die jetzt zur
lung neuer Mittel und deren Verwendung kritisch zu
Debatte steht. Wenn Sie davon nur einen Teil umset-
hinterfragen und notfalls auch einmal Mittel zu sper-
zen, werden Sie den in Rede stehenden Betrag ein-
ren, um zu verhindern, daß Geld zum Fenster hinaus-
sparen können. Obendrein hätten diese Maßnahmen
geworfen wird. Ich glaube aber, daß die Weltbank-
den Vorteil, daß jedenfalls nicht die kleinen Leute ge-
aus Fehlern der Vergangenheit gelernt hat und Präsi-
troffen würden.
dent Wolfensohn mit seinem Rezept der Entbürokra-
(Beifall bei der SPD) tisierung einer stärkeren Effektivitätskontrolle und
einer gesteigerten pa rt nerschaftlichen Ausrichtung
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile nun der Arbeit auf dem richtigen Weg ist.
dem Abgeordneten Hansgeorg Hauser das Wort. Meine Damen und Herren, die diesjährige Jahres-
tagung von IWF und Weltbank hat aber auch eine
Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach) (CDU/CSU): eindrucksvolle Bestätigung der deutschen Finanz-
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Kolle- politik und die Anerkennung der persönlichen Lei-
5158 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
Vor einem Jahr wäre beinahe die Volkswirtschaft (Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Wieso
Mexikos kollabiert, und alle schrien: „Eine Schulden- das denn?)
krise ", als wäre nicht das gleiche 15 Jahre vorher Das geschieht unter dem Vorwand, daß Amerika
schon einmal passiert, mit ähnlichen Auswirkungen. nicht zahlt. Es ist ein Skandal, daß die USA nicht zah-
Das zeigt uns eigentlich nur, daß die gesamte Finanz- len. Aber es ist doch die absolut falsche Konsequenz,
politik in den Jahren zwischen 1980 und 1995 auf der wenn die Bundesregierung, unterstützt durch den
internationalen Ebene nichts anderes war als eine Haushaltsausschuß, den wir herzlich bitten, seine
Durchwurstelei, die es nicht im mindesten geschafft Entscheidung noch einmal zu überdenken, nun be-
hat, die strukturellen Probleme zu beseitigen. schließt, ebenfalls nicht zu zahlen bzw. die Zahlungs-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) quote so weit herunterzudrücken, daß man nicht
mehr zahlen muß als die USA. Und das zu einem
In diesem Zusammenhang gibt es einen Haupt- Zeitpunkt, wo die IDA-Fazilität gerade zu greifen be-
skandal. Er besteht da rin, daß die 40 ärmsten Länder, ginnt und der IDA-Topf revolviert, d. h. sich selber
die ich gerade erwähnt habe, mittlerweile zu Nettofi- wieder auffüllt, so daß das jährliche „replenish-
nanziers von IWF und Weltbank geworden sind. Die ment", die Wiederauffüllung, immer geringer aus-
multilateralen Organisationen leben mittlerweile auf fällt. Warum machen Sie das einzige im Moment
Kosten der ärmsten Länder. Diese Länder sind mit wirklich funktionsfähige entwicklungspolitische In-
30 Milliarden DM bei IWF und Weltbank verschul- strument auf der multilateralen Ebene kaputt? Dar-
det, und ihre Schuldenlastquote, gemessen am Ex- auf möchte ich eine Antwort haben.
port , beläuft sich mittlerweile auf 220 %. Das muß
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
man sich einmal vorstellen. Das ist der Hauptskan-
sowie bei Abgeordneten der SPD und der
dal. Da kann man sich nicht hinstellen und sagen: Es
PDS)
geht bergauf in der Weltwirtschaft. - Vielmehr muß
nach Wegen gesucht werden, wie diesen ärmsten Zum Schluß noch einen Satz zur Haushaltspolitik
Ländern die Schulden erlassen werden können. und zur Arbeitsmarktpolitik bei uns. Sie haben keine
Schuldenstrategie, sondern sie setzen immer noch
Nun will ich gar nicht so weit gehen und sagen, darauf, daß der Internationale Währungsfonds mit
daß man dem Vorschlag der Grünen folgen und den seiner Auflagenpolitik alle Länder dazu zwingt,
ärmsten Ländern die Schulden insgesamt erlassen möglichst viel für den Export zu produzieren und den
soll und den Ländern mit mittlerem volkswirtschaftli- Schuldendienst zu leisten, auch dadurch, daß in den
chem Einkommen die Hälfte ihrer Schulden; zur Fi- Ländern die Löhne gesenkt und die Sozialausgaben
nanzierung dessen sollten die Weltbank und der IWF weiter heruntergedrückt werden. Sie zwingen teil-
teilweise ihre Goldreserven verkaufen. So weit will
weise die Schwellenländer zum Lohn- und Sozialko-
ich gar nicht gehen. stendumping und beschweren sich dann hinterher,
(Hansgeorg Hauser [Rednitzhembach] die Löhne seien überall so niedrig, daß wir mit unse-
[CDU/CSU]: Warum schlagen Sie es dann ren angeblich zu hohen Löhnen nicht mitkommen.
vor? - Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Ziehen Dies wiederum nehmen Sie zum Vorwand, um auch
Sie Ihren Vorschlag zurück!) hier Lohndrückerei und Sozialabbau durchzusetzen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vielmehr will ich nur den Vorschlag einbringen, der
in der Weltbank selber erarbeitet wurde. Do rt wurde Sie sollten Ihre Weltwirtschaftsstrategie gründlich
vorgeschlagen, daß ein internationaler Entschul- überdenken. Sie sollten eine Schuldenstrategie ent-
dungsfonds eingerichtet wird, der mit 11 Milliarden wickeln, die es allen Ländern der Welt erlaubt, eine
DM finanziert werden soll. Damit hätte die Entschul- nachhaltige Entwicklung zu betreiben. Ich glaube,
dung der Ärmsten finanziert werden können. Für die dann werden sich die sogenannten Standortpro-
Gläubigerseite hätte das nicht einmal einen Schul- bleme der Bundesrepublik völlig anders darstellen.
denverzicht bedeutet. Damit wäre das internationale Es ist teilweise die kleinkrämerische Ängstlichkeit
Finanzsystem nicht einmal tangiert worden. Aber dieser Bundesregierung, die konservative Phantasie-
selbst zu diesem maßvollen Vorschlag hat die Bun- losigkeit, die dazu führt, daß die Standortprobleme
desregierung nein gesagt. Diese Bundesregierung geschaffen werden durch eine falsche internationale
blockiert, wo sie nur blockieren kann, verhindert Finanzpolitik, die sie angeblich lösen will.
jede vernünftige Schuldenstrategie oder läßt sie
höchstens insoweit zu, als die Kuh, die man melken Wir fordern die Bundesregierung auf, diese Politik
will, nämlich die sogenannte Dritte Welt, nicht kre- gründlich zu überdenken. Es zeigt sich auch bei der
pieren darf, sondern noch ein bißchen Milch gibt, so Entwicklungsfinanzierung und bei der Schuldenpoli-
daß die reichen Industriestaaten und insbesondere tik: Eines der Hauptprobleme für den Standort
5160 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
Ludger Volmer
Deutschland ist die falsche Politik der Bundesregie- Ich verstehe ja, wie sehr Sie mit sich selbst beschäf-
rung. tigt sind. Aber es gibt noch etwas außerhalb der SPD
und auch außerhalb der Bundesrepublik.
Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne-
und der PDS) ten der CDU/CSU)
Professor Allan Meltzer vom Ame rican Enterp rise (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Ja!)
Institute und andere haben daraus längst Schlußfol- - Danke schön.
gerungen gezogen und fordern die Abschaffung des
IMF. Für sie ist der IMF degene riert . Er sei zum Um- Was Herr Camdessus dort will, ist eine Ausdeh-
verteilungsmechanismus zwischen Staaten gewor- nung der Liquidität. Es mangelt uns nicht an Liquidi-
den. Undemokratisch sei er, heize Inflation an und tät auf der Welt. Die Vertagung auf eine Experten-
vermindere den Druck auf Reformen. Diese Kritik gruppe ins Frühjahr 1996 erscheint mir eher als halb-
kann man nicht leichtfertig abtun. Der IWF scheint herziger Versuch, sich da um eine klare Entschei-
nach dem Verlust seiner traditionellen Aufgaben auf dung zu drücken.
der Suche nach neuen Betätigungsfeldern zu sein. Er Ist auf der Jahrestagung des Fonds die Rolle der
gerät mit seinen Entwicklungsaktivitäten zuneh- Industrieländer für die Weltwirtschaft erörtert wor-
mend in Konkurrenz zur Weltbank. Wollen wir das den? Was wurde über die Konsequenz ihrer Schul-
unterstützen oder hinnehmen? denpolitik und ihrer geringen Sparquoten festge-
stellt? Treiben die Industrieländer nicht zunehmend
Der Ablauf der Mexiko-Krise unterstützt die Skep-
ein Crowding out auf den Weltkapitalmärkten, das
sis, die Meltzer, andere und auch ich über die
dann zu Lasten der Entwicklungsländer geht? Sind
künftige Rolle des IWF haben. War es sinnvoll, IWF-
es damit nicht die Industrieländer, die die Mittel für
Mittel bereitzustellen, um die Spekulation institutio-
andere begrenzen?
neller amerikanischer Investoren in Peso-Bonds ab-
zusichern? Das war ganz etwas anderes, Herr Vol- Zu welchen Ergebnissen ist die IWF-Tagung bei
mer, als die Krise vor 15 Jahren, eine völlig andere der Beurteilung der Lage Japans gekommen? Japan
Ursache. Es wäre Aufgabe der USA gewesen, den ist in kürzester Zeit vom Musterknaben zum Schluß-
Wechselkurs Peso/Dollar zu stützen. licht der G 7 geworden. Ein Weg aus der Krise ist
nicht sichtbar. Die Geldpolitik ist ausgereizt. Defizite
(Beifall bei der F.D.P. und beim BÜNDNIS 90/ des öffentlichen Haushalts begrenzen den Spielraum
DIE GRÜNEN) der Finanzpolitik. In der japanischen Entwicklung
Sie konnten nicht einfach nationale Aufgaben auf in- schlummern zunehmend größere Risiken, die welt-
ternationale Institutionen abwälzen. Die Globalisie- weit mehr Gefahr bedeuten können, als sie von Me-
rung der Finanzmärkte bedeutet nicht die Globalisie- xiko jemals ausgingen.
-
rung von Spekulationsrisiken über den Währungs- Die Jahrestagung von IWF und Weltbank mag ein
fonds. Erst recht nicht ist der deutsche Steuerzahler schönes gesellschaftliches Ereignis - das ist sie jedes-
der „lender of last resort" für Währungsspekulatio- mal - gewesen sein. In sachlicher Hinsicht war sie
nen. aber eine rechte 08/15-Veranstaltung. Das zeigt die
Menge der bedeutenden Fragen, die nicht beantwor-
Außerdem zeigt sich in der Mexiko-Krise klar das
tet wurden.
Problem des sogenannten „moral hazard", der durch
das IWF-Einspringen entsteht. Es wird noch leichter Eine letzte Bemerkung zur konjunkturellen Ent-
für Staaten und für private Spekulanten, höhere Risi- wicklung: Herr Bundesfinanzminister, die deutsche
ken einzugehen. Ihr Engagement muß nur groß ge Wirtschafts- und Finanzpolitik haben gute Noten
5162 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
Jochen Feilcke
die Finanzierungskrise, mit der sich die konzessio- zuständigen Entwicklungsausschuß zu konsultieren.
näre Schwestergesellschaft der Weltbank, die Inter- Wir sollten im Entwicklungsausschuß dieses Thema
nationale Entwicklungsorganisation, IDA, konfron- intensiv diskutieren.
tiert sieht.
Im neuesten Weltbankbericht heißt es dazu, daß Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie
für die dreijährige IDA-10-Periode 1994 bis 1996 ein eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schmitt?
Teil der zweiten Rate der zugesagten Beiträge noch
nicht verfügbar ist, da die US-Zahlungen ungefähr Jochen Feilcke (CDU/CSU): Ja, gerne.
8 % weniger als die Zusage betragen und weil zwei
andere Geber, Deutschland und Kanada, von ihrem Wolfgang Schmitt (Langenfeld) (BÜNDNIS 90/DIE
Recht Gebrauch machen, die Verfügung über ihre GRÜNEN): Herr Kollege Feilcke, kann ich nach Ih-
Beiträge proportional zu den US-Kürzungen zu sper- ren begrüßenswerten Aussagen zur deutschen Zah-
ren. lungspraxis zu IDA 10 davon ausgehen, daß Sie auch
Wir müssen uns in diesem Zusammenhang verge- innerhalb Ihrer Fraktion gegenüber den Haushältern
genwärtigen, daß 90 % der IDA-Kredite an Länder darauf hinwirken werden, daß der von Ihnen er-
mit einem jährlichen Pro-Kopf-Einkommen von unter wähnte Haushaltsvermerk aufgehoben wird?
600 US-Dollar gehen. Die Internationale Entwick-
lungsorganisation ist für die ärmsten Länder der Jochen Feilcke (CDU/CSU): Lieber Herr Kollege
wichtigste Partner bei den Wirtschaftsreformen, bei Schmitt, ich habe nicht von der Zahlungspraxis ge-
ihren Bildungs- und Umweltprogrammen und auch sprochen; denn die deutschen Beiträge fließen. Es
auf einigen anderen Gebieten, wie z. B. bei der Be- handelt sich hier um eine Sperre. Es ist ein Verhal-
kämpfung von Aids. Für ganz Hartgesottene sage ten, das ich nicht begrüße, insbesondere weil mir im
ich: Wenn wir diese Länder nicht dabei unterstützen, zuständigen Ausschuß dafür keine plausiblen
auf die Beine zu kommen, dann machen sich die Be- Gründe dargelegt worden sind und ich bisher auch
wohner dieser Länder auf die Beine und kommen zu keine vernünftigen Gründe kenne. Sie können sicher
uns. sein, daß ich mich entsprechend meinen Worten ver-
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) halte.
Es ist sehr bedauerlich, daß die Haushaltskürzun- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und
gen im US-Kongreß zum Zahlungsverzug gegenüber dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
der IDA geführt haben. Die USA haben 20 % der Ge- Die Weltbank hebt hervor, daß nur bei ausreichen-
samtbeiträge zugesagt, und sie erheben auch den der Verfügbarkeit von IDA-Ressourcen der mit den
Anspruch, die IDA-Politik weitgehend zu bestimmen bisherigen Instrumenten und Maßnahmen verfolgte
und die entsprechenden Positionen in dieser Institu- Ansatz, die ärmsten Länder bei der Bewältigung ih-
tion zu besetzen. rer multilateralen Schuldendienstbelastung zu unter-
stützen, auch in Zukunft tragfähig ist. Ich begrüße,
Hinzu kommt, daß jeder Dollar, den die Amerika-
daß die Bundesregierung, daß Sie, Herr Entwick-
ner zurückhalten, dazu führen kann, daß die IDA
lungsminister Spranger, in Washington ausdrücklich
über fünf Dollar weniger verfügt, wenn sich die Ge-
erklärt haben, daß Sie bereit sind, auch über unkon-
ber so verhalten wie Deutschland und Kanada. Ich
ventionelle Lösungen nachzudenken und an der
halte es nicht nur für legitim, sondern geradezu für
Realisierung mitzuwirken.
geboten, darüber nachzudenken, wie die USA dazu
gedrängt, vielleicht sogar gezwungen werden kön- Ein durchaus unkonventioneller und schon viel-
nen, ihre Verpflichtungen zu erfüllen. fach erwähnter Vorschlag einer Arbeitsgruppe der
Weltbank ist ein multilateraler Schuldenreduzie-
Die Zurückhaltung der deutschen Beiträge bestraft rungsfonds.
jedoch nicht die Amerikaner, sondern bestraft die
Ärmsten in der Welt, nach dem Motto: Die Ärmsten (Ludger Volmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
haben selbst schuld, daß die deutschen Beiträge aus- NEN]: Sehr gut!)
bleiben; warum sorgen sie nicht dafür, daß die Ame-
Dieser Vorschlag muß ernsthaft diskutiert werden.
rikaner ihre Verpflichtungen erfüllen? Es ist nicht die
Ich meine, wir sollten im Parlament darüber spre-
alleinige Verpflichtung der Amerikaner, den Ärm-
chen, welchen Rat wir der Bundesregierung in dieser
sten zu helfen. Unsere Sperre bedeutet kaum einen
Frage geben.
Druck auf die Amerikaner. Sie bedrückt die Hilflose-
sten in der Welt. Festzuhalten ist, daß die Arbeitsgruppe der Welt-
bank entsprechend der Forderung des G-7-Gipfels in
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und Halifax gearbeitet hat, der
dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
die Entwicklung eines umfassenden Konzeptes
Ich empfehle dringend, den rechtlichen Rahmen, durch die Bretton Woods Institutionen, um Län-
der durch den Haushaltsvermerk im Einzelplan 23 der mit multilateralen Schuldenproblemen durch
formuliert worden ist, nicht mehr auszufüllen. den flexiblen Einsatz vorhandener Instrumente
und erforderlichenfalls neuer Mechanismen zu
Hinzu kommt, daß ich es für schlecht halte, daß die unterstützen
Regierung im vorauseilenden Gehorsam gegenüber
dem Haushaltsausschuß handelt, ohne den fachlich gefordert hat.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5165
Jochen Feilcke
61 % der Auslandsverschuldung der ärmsten Län- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wo rt hat
der sind bilaterale Verpflichtungen, 14 % sind Schul- jetzt der Abgeordnete Ingomar Hauchler.
den gegenüber p rivaten Gläubigern und 25 % ge-
genüber multinationalen Institutionen. Diese 25 %
sind zwar ein begrenztes, aber für einige Länder Dr. Ingomar Hauchler (SPD): Frau Präsidentin!
doch gravierendes Problem. Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Fi-
nanzminister ist nicht mehr da. Offenbar interessie rt
(Beifall des Abg. Wolfgang Schmitt [Lan ersichfüdTmantsoiev,wd
genfeld] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) von uns erwartet wird.
- Dazu kann ich mir, ehrlich gesagt, gar keinen Bei- (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Doch, doch,
fall wünschen, lieber Herr Kollege Schmitt. er ist schon da!)
(Wolfgang Schmitt [Langenfeld] [BÜND - Gut, Sie sind wieder da.
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das muß aber ein
mal gesagt werden!) Herr Finanzminister, Sie haben hier keinen Be richt
über die Weltbanktagung und die IWF-Tagung gege-
- Man muß das sagen, aber ich finde das ein bedrük- ben, sondern Sie haben eine Jubelarie gesungen.
kendes Thema. Dabei kann ich keinen Beifall guthei-
ßen. - Ich finde, das ist schlimm; das ist für viele Län- (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Was wahr ist,
der sehr schlimm. ist wahr! - Zuruf von der F.D.P.: Er kann das
Parlament doch nicht belügen!)
Deshalb ist über den aufgelaufenen Schuldenüber-
hang unkonventionell nachzudenken. Viele Entwick- Ich erinnere Sie daran, daß das Hauptthema von
lungsländer haben hier dera rt ige Probleme, so daß IWF- und Weltbanktagung nicht ist, daß man sich
wir über grundsätzliche Lösungen nachdenken müs- wie bei einem Klassentreffen über den Primus unter-
sen. Ich halte das für unumgänglich, zumal selbst die hält, sondern daß das Hauptthema ist, daß man ge-
Weltbank - übrigens ebenso wie die Bundesregie- meinsam Probleme löst. Da haben Sie schwer ver-
rung - inzwischen der Auffassung ist, daß mit dem sagt.
traditionellen Instrumenta rium eine „dauerhaft trag-
bare Schuldenbelastung" - „overall debt sustainabi- (Beifall bei Abgeordneten der SPD - Hans-
lity" - dieser Länder nicht mehr zu erreichen ist. Im georg Hauser [Rednitzhembach] [CDU/
Vergleich hierzu haben die bilateralen Geber hin- CSU]: Sie haben den Be richt nicht gelesen!)
sichtlich ihrer Forderungen gegenüber diesen Län-
dern schon seit langem durch zweiseitige Entschul- Sie treten hier als P rimus unter den Nationen auf.
dungsmaßnahmen zu einer substantiellen Entlastung Sie sagen, die Transformationsländer seien auf einem
beigetragen. guten Weg, bei uns sei sowieso alles „roger". Die
ärmsten Länder erwähnen Sie gar nicht in Ihrer
Der Vorschlag der Weltbank, einen multilateralen Rede, nicht mit einem Wo rt . Das zeigt den Geist, in
Schuldenfonds einzurichten, ist daher im Grundsatz dem Sie internationale Finanzpolitik betreiben.
zu begrüßen. Er sieht vor, multilaterale Schulden mit
finanziellen Mitteln abzulösen, die etwa zur Hälfte (Ludger Volmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
aus bilateralen und zur anderen Hälfte aus multilate- NEN]: Waigel hält alle für reich!)
ralen Quellen stammen. Die Konstruktion des Schul-
denfonds ist so angelegt, daß die hohe Kreditwürdig- In Washington wurden keine wirklichen Fo rt
keit der Weltbank sowie ihr bevorzugter Gläubiger- -schritebgnd räestFagnd
status nicht in Mitleidenschaft gezogen werden. internationalen Finanz- und Entwicklungspolitik ge-
macht. Die Spekulation wird neue Blüten treiben.
Die Bundesregierung sollte sich daher an den nun Die Währungen bleiben höchst instabil. Gegen de-
beginnenden Erörterungen zur Einrichtung und Aus- stabilisierende Finanzkrisen à la Mexiko ist keine
gestaltung des Fonds konstruktiv beteiligen. Dabei wirkliche Vorsorge getroffen worden. Die ärmsten
ist aber sicherzustellen, daß dies nicht zu Lasten der Länder bleiben auf unbezahlbaren Altschulden sit-
bilateralen und multilateralen Beiträge zur Wieder- zen. Die Entwicklungsfinanzierung wird zurückge-
auffüllung von IDA 11 geht. fahren, obwohl Armut, Migration, Umweltzerstörung
und die Weltbevölkerung dramatisch wachsen. Die
Die Weltbankpolitik befindet sich mit der deut- internationalen Finanzinstitutionen sind finanziell
schen Entwicklungspolitik in weitgehender Überein- geschwächt. Die Struktur und Aufgaben von Wäh-
stimmung. Das ist ein gutes Ergebnis. Herr Minister rungsfonds und Weltbank werden nicht reformiert. -
Spranger, dazu gratulieren wir Ihnen. Es gibt keinerlei Ansätze in dieser Richtung.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Da sagen Sie: alles „roger" , ziehen Jubelarien ab
Wir haben die Hoffnung, daß wir mit Präsident und beschäftigen sich im größten Teil Ihrer Rede da-
Wolfensohn bei seinem Besuch diese Fragen im AWZ mit, über Ihre internen Haushaltsprobleme und Ihre
intensiv diskutieren können. Defizite, die Sie in der Haushaltspolitik haben, zu
schwadronieren und uns vorzumachen, auch auf die-
Vielen Dank. sem Gebiet sei alles in Ordnung.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der SPD)
5166 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
Und die Bundesrepublik legt sich zurück, be- Was der Finanzminister mit seinen Äußerungen
schränkt sich auf die Rolle des Kassenwarts, des ganz sicher nicht erreichen wollte, Herr Kollege Dil-
Bremsers und übernimmt nicht die ihr mögliche ler, ist eine Unterbrechung des geordneten Haus-
Rolle, in dieses Vakuum von Führungslosigkeit auf haltsverfahrens, das die Koalition mit ihrer Mehrheit
diesem Gebiet hineinzugehen und konstruktive seit vielen Jahren durchsetzt. Es ist - ich sage das mit
Ideen vorzutragen. Blick auf den Ablauf in diesem Jahr - schlimm ge-
nug, daß der SPD-majorisierte Bundesrat den Bun-
(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Bei Führungs desetat 1995 so lange verzögert hat, daß tatsächlicher
losigkeit kennt er sich aus!) Schaden entstanden ist.
5168 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
Oswald Metzger
Diese Erfahrung muß man als Haushaltspolitiker Wir werden uns dieser Bankrotterklärung der SPD
auch in der eigenen Fraktion immer wieder vertre- nicht anschließen und haben deshalb gestern diesen
ten. Antrag im Haushaltsausschuß auch zurückgewiesen.
Wir haben die feste Absicht, die heute erkennbare
(Hansgeorg Hauser [Rednitzhembach]
Belastung im vorgegebenen Rahmen aufzufangen.
[CDU/CSU]: Das sollten Sie beherzigen!)
Die Nettokreditaufnahme soll auch nach unserer
Das aber müssen Ihre Haushaltspolitker genauso Ih- Auffassung die Größenordnung von rund 60 Mil-
ren Fachpolitikern gegenüber vertreten. liarden DM nicht überschreiten.
Vielen Dank. Ich denke, es muß hier noch einmal gesagt wer-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den: Es ist ein starkes Stück, wenn Herr Scharping
sowie bei Abgeordneten der SPD) der Bundesregierung vorwirft, sie habe die Öffent-
lichkeit belogen, die bisherige Schönfärberei sei eine
Beruhigungspille für die Öffentlichkeit. Der PDS-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat Redner hat das übrigens genauso gemacht.
jetzt der Abgeordnete Dankward Buwitt.
Die bisherigen Annahmen zu den Steuereinnah-
Dankward Buwitt (CDU/CSU): Frau Präsidentin! men in den Jahren 1995 und 1996 beruhen - wie hier
Meine Damen und Herren! Ich halte die Entschei- gesagt worden ist - auf den Angaben des Arbeits-
dung des Altestenrats - und da werden nach meiner kreises Steuerschätzung, in dem neben der Bundes-
Information unsere Tagesordnungen besprochen - regierung und den Sachverständigen selbstverständ-
für völlig richtig. Alles steht ja in einem großen Zu- lich die Länder, und hier mehrheitlich die SPD-re-
sammenhang. Wir können nicht über unseren Bei- gierten Länder, vertreten sind. Diese übernehmen
trag zum IWF und zur Weltbank reden, wenn wir dann ja auch diese Zahlen für ihre Haushalte. Ich
dies nicht geradlinig aus der Finanzpolitik hier in kann verstehen, daß es Auseinandersetzungen mit
diesem Land entwickeln und diese nicht einbezie- den Landesfürsten gibt, aber die Länder werden
hen. doch nicht so dumm sein, sich selber zu belügen. Das
wäre doch der größte Blödsinn, den man sich vorstel-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) len kann.
Es ist doch wahrscheinlich kein Zufall, daß der er-
ste Redner der SPD diesen Themenbereich völlig (Beifall bei der CDU/CSU)
ausgeklammert und sich sofort auf das Thema ge-
Es ist schon bezeichnend, daß die SPD denjenigen
stürzt hat, dessentwegen die ganze Veranstaltung
als Lügner bezeichnet, der als erster öffentlich eine
hier überhaupt gemacht wird.
Fehleinschätzung korrigiert. Im übrigen erweckt der
Ich dachte, Herr Diller, Sie würden neue Vor- SPD-Vorsitzende wissentlich und zu Unrecht den
schläge machen. Ich dachte, Sie würden sich an der Eindruck, die Steuerausfälle beträfen allein den
Lösung der Fragen beteiligen. Wenn es für Sie nur Bund. Tatsächlich sitzen die Länder und die Gemein-
eine Bringschuld ist, den fast mit der Hälfte im selben Boot.
(Karl Diller [SPD]: Ja!) Nun holt Herr Diller wieder die alte Leier über die
dann meine ich: Warten Sie doch die Steuerschät- „Umverteilung von unten nach oben" heraus. Als wir
zung ab; warten Sie ab, welche Lösungen wir brin- die Sonderabschreibungen beschlossen haben, war
gen, und dann können Sie diese immer noch kritisie- uns natürlich klar, daß sie Geld kosten. Sie sollten ei-
ren. Aber wahrscheinlich befürchten Sie, daß dann nen Anschub für Investitionen in den neuen Bundes-
für Ihre Rede nicht mehr viel übrigbleibt. ländern geben. Diejenigen, die durch diese Investi-
tionen Arbeit und Wohnung gefunden haben, wer-
Nein, im Prinzip geht es wahrscheinlich um etwas den das wahrscheinlich nicht wie Herr Diller als un-
anderes: Sie suchen den Strohhalm, um von inner- christlich bezeichnen.
parteilichen Schwierigkeiten abzulenken. Aber man
muß kein Biologe sein, um Ihnen zu sagen, daß es (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU
solche Strohhalme nicht gibt. und der F.D.P.)
Ich halte es genauso wie Herr Weng für einen be-
Wir wollten diesen Anschub und haben jetzt die
sorgniserregenden Vorgang, daß die SPD gestern im Möglichkeit, Reduzierungen vorzunehmen, nach-
Haushaltsausschuß versucht hat, die Beratungen des dem dieser Anschub erfolgt ist.
Haushalts 1996 abzubrechen.
(Uta Titze-Stecher [SPD]: Das war richtig!) Wir haben keinen Anlaß, die solide Arbeit des Bun-
desfinanzministers zu kritisieren.
Das war ein sehr, sehr durchsichtiges Manöver und
keinesfalls richtig. Denn ohne die Situation zu ver- (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Im Gegenteil!)
niedlichen - auf die Risiken ist bereits mehrmals hin-
gewiesen worden -, ist es doch so: Es fehlen uns Do rt , wo neue Erkenntnisse punktuelle Nachbesse-
knapp 2 % der Einnahmen, und schon erklärt die rungen des Regierungsentwurfs erforderlich ma-
SPD ihren haushaltspolitischen Bankrott. Sie folgt chen, werden wir das Notwendige tun. Mitte näch-
damit dem leuchtenden Beispiel der offenkundig un- ster Woche werden wir die Ergebnisse des Arbeits-
fähigen rot-grünen Koalition in Hessen. kreises Steuerschätzung vorliegen haben. Die Ein-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5171
Dankward Buwitt
zelheiten zu notwendigen Anpassungen des Haus- Haushalten, sei es beim Bund, bei den Ländern oder
haltsplanentwurfs werden dann rechtzeitig zur Berei- den Gemeinden.
nigungssitzung und zur zweiten und dritten Lesung
auf dem Tisch liegen. Wir haben vorhin über die Arbeitszeitflexibilität
gesprochen, wir haben über die Frage der Maschi-
Herr Waigel hat bereits angesprochen - aber die nenlaufzeiten, die damit natürlich zusammenhängt,
SPD ist wahrscheinlich schon zu lange in der Opposi- diskutiert. Die Genehmigungsverfahren bei den Be-
tion und hat das mit Sicherheit vergessen -, daß es im hörden müssen sich dem unterwerfen. Das Abstands-
Haushalt nicht nur Mindereinnahmen und Mehraus- gebot muß durchgesetzt werden, um Arbeit attraktiv
gaben gibt, sondern genauso Mehreinnahmen und zu machen, und viele andere Dinge müssen gesche-
Minderausgaben. Minister Waigel hat ausgeführt - hen.
das ist richtig -, daß Minderausgaben in Milliarden- (Abg. Dr. Ingomar Hauchler [SPD] meldet
höhe z. B. bei den Zinsausgaben und bei den Zinser- sich zu einer Zwischenfrage)
stattungen anfallen. Die nachdrückliche Konsolidie-
rungspolitik der Bundesregierung hat dazu geführt - Ich denke, daß es notwendig ist, daß man sich dieser
auch dies ist hier falsch dargestellt worden -, daß wir Diskussion stellt und nicht nur kritisiert und alles als
1994 und 1995 insgesamt 40 Milliarden DM weniger gottgegeben hinnimmt.
Schulden gemacht haben als ursprünglich geplant.
(Dr. Ingomar Hauchler [SPD]: Frau Präsi-
Die Stabilitätspolitik der Koalition hat nicht nur bei dentin!)
internationalen Organisationen, wie heute ausge- Der Deutsche Bundestag wird den Haushalt 1996
führt worden ist, z. B. bei der Weltbank oder bei der Ende dieses Monats mit der Mehrheit der Koalition
OECD, sondern vor allen Dingen auch auf den inter- verabschieden. Dieser Haushalt wird die Entwick-
nationalen Finanzmärkten Vertrauen gefunden und lung der letzten Wochen und Monate berücksichti-
Vertrauen für die D-Mark geschaffen. Dieses Ver- gen. Aber er wird ohne jeden Zweifel in der Konti-
trauen spiegelt sich im langfristig steigenden Wert nuität der Stabilitäts-, Wachstums- und Konsolidie-
der D-Mark im Verhältnis zu fast allen Partnerwäh- rungspolitik der letzten Jahre stehen.
rungen wider. Hierauf beruht auch der deutliche
Zinsrückgang der vergangenen Monate, der uns ne-
ben den geringeren Schulden dieses und des vergan- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege,
genen Jahres Minderausgaben in Milliardenhöhe er- gestatten Sie eine Zwischenfrage?
möglicht.
Dankward Buwitt (CDU/CSU): Recht herzlichen
1996 werden uns nicht nur die schon 1995 wirksa- Dank.
men Entlastungen bei Zinsen und Zinserstattungen
behilflich sein, sondern auch zusätzliche einmalige (Beifall bei der CDU/CSU)
Einnahmen wie beispielsweise die gerade jetzt in der
Öffentlichkeit diskutierte Veräußerung der Anteile Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, es
des Bundes an der Postbank. Wir haben heute nach- gab eben den Wunsch nach einer Zwischenfrage;
mittag im Haushaltsausschuß darüber gesprochen. aber nun ist es vorbei.
Ich denke, man kann sich nicht immer nur hinstellen
und klagen. Vielmehr wird man auch die Möglich- Das Wort hat jetzt der Kollege Jörg-Otto Spiller.
keiten zur Entlastung des Haushalts wahrnehmen (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Nach dem Dil-
müssen, z. B. die Privatisierung. Die Privatisierung ler kommt der Spiller!)
bringt nicht nur Geld in die Kassen des Bundes; viel-
mehr legt sie auch in vielen Bereichen die Aufgaben
in Hände, die sie letztendlich besser und kostengün- Jörg-Otto Spiller (SPD): Frau Präsidentin! Meine
stiger erfüllen können, als es der Bund selber kann. Damen und Herren! Daß Deutschland im jüngsten
IWF-Be richt gute Noten erhalten hat, erfreut natür-
Es gibt bei weitem keine Entwa rnung. Wir werden lich auch die Sozialdemokraten.
alle Sparmaßnahmen, die irgendwie möglich und
(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Dann müßt ihr
vertretbar sind, ausnutzen müssen. Hierbei jedoch
das auch einmal sagen!)
gerade den Verteidigungshaushalt heranzuziehen,
der in den letzten Jahren den größten Beitrag zur Aber wir überlesen nicht wie Sie, Herr Minister Wai-
Einsparung im Bundeshaushalt gebracht hat, halte gel, die Zusatzbemerkung des IWF, daß auch in
ich schlicht und einfach für falsch. Deutschland noch viel zu tun bleibe, damit die viel
zu hohe Arbeitslosigkeit und die viel zu schwere
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Steuer- und Abgabenlast der Bürger abgebaut wür-
Denn man kann nicht die Opfer jedes Jahr neu ver- den.
langen. Man muß einsehen, daß irgendwann eine (Beifall der Abg. Ingrid Matthäus-Maier
Grenze erreicht ist. [SPD])
Zu unseren Aufgaben gehört natürlich auch, alle Wir sind nicht bereit, die Augen davor zu verschlie-
Möglichkeiten zur Erhöhung der Einnahmen wahr- ßen, daß Ihr Entwurf des Haushalts 1996, Herr Mini-
zunehmen. Dazu gehört natürlich die Ertüchtigung ster, auf ausgesprochen dünnem Eis basiert, weil er
des Wirtschaftsstandorts Deutschland. Sie führt auto- Steuereinnahmen in Ansatz bringt, an die Sie offen-
matisch zu einer Einnahmeerhöhung bei unseren sichtlich inzwischen selbst nicht mehr glauben.
5172 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
Jörg-Otto Spiller
Die jetzt aufgetretenen Steuerausfälle werfen eine Ein höheres Maß an Wechselkursstabilität erreichen
Vielzahl von Fragen auf. Wendet man sich den Ursa- wir nicht mit internationalem Kräftemessen, sondern
chen zu, dann sieht man, daß die Steuerausfälle aus- nur durch internationale Zusammenarbeit.
schließlich im Bereich der veranlagten Einkommen-
steuer und der Körperschaftsteuer auftreten. Es hat (Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Das wird
also eine weitere Verschiebung in der Steuerlastver- doch gemacht, Herr Stiller!)
teilung gegeben. Die Arbeitnehmer, denen die Lohn- Herr Hauser, Sie haben davon berichtet, daß sich
steuer direkt vom Arbeitslohn abgezogen wird, und bei der Rede des Bundesfinanzministers auf der Ta-
die Verbraucher, die bei jedem Einkauf Umsatz- gung von IWF und Weltbank im Saal andächtige
steuer zahlen müssen, werden immer mehr zum Stille ausgebreitet habe. Vielleicht haben Sie trotz Ih-
Hauptfinanzier des Staates. rer Ergriffenheit auch das Aufatmen am Ende der
Rede gehört, und zwar darüber, daß der Herr Mi-
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Leider!) nister diesmal weder unbedachte noch schulmeister-
liche Bemerkungen über andere Länder gemacht
Dagegen geht der Beitrag, den Unternehmen, Selb- hat.
ständige und Vermögensbesitzer leisten, immer wei-
ter zurück. (Beifall bei der SPD - Jochen Feilcke [CDU/
CSU]: Er wollte damit sagen, daß es eine
Wir hatten 1994 in Deutschland ein Körperschaft- gute Rede war! - Dr. Karl H. Fell [CDU/
steueraufkommen von nur noch knapp 20 Milliarden CSU]: Spiller wäre besser stiller gewesen!)
DM. Im Vergleich dazu: Das Lohnsteueraufkommen
lag bei 266 Milliarden DM, 13mal soviel. Im bisheri-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat
gen Verlauf des Jahres 1995 ist das Körperschaft-
jetzt der Abgeordnete Peter Rauen.
steueraufkommen nochmals deutlich gesunken. Bei
der veranlagten Einkommensteuer ist im bisherigen
Jahresverlauf die Summe der Erstattungen sogar Peter Harald Rauen (CDU/CSU): Frau Präsidentin!
höher gewesen als die Summe des Steueraufkom- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach dem
mens. internationalen Lob für die deutsche Finanzpolitik
beim G-7-Treffen fällt es mir schwer, mich auf die
Mir ist unbegreiflich, wie bei diesem Hintergrund Frage der Steuerschätzung zu beschränken, aber ich
das einzige, was der Koalition im Zusammenhang will es tun, damit die Opposition nicht sagen kann,
mit Steuern einfällt, immer nur die Ankündigung ist, wir von der Union wollten darüber nicht reden.
wir brauchten eine neue Steuerentlastung im Unter-
nehmensbereich und im Bereich der Selbständigen. Die Steuereinnahmen von Januar bis August 1995
Wir reden über andere Belastungen, über Abgaben deuten darauf hin, daß die Steuereinnahmen in die-
von Arbeitnehmern überhaupt nicht mehr. sem Jahr gegenüber der Mai-Schätzung um etwa
20 Milliarden DM nach unten korrigiert werden müs-
(Beifall bei der SPD) sen. Das hat uns heute der Finanzminister mitgeteilt.
Durch den Basiseffekt 1995 müssen mit großer
Wir vermissen bei der Bundesregierung, aber Wahrscheinlichkeit dann auch die Steuereinnahmen
auch bei der sie tragenden Koalition eine größere für 1996 nach unten korrigiert werden. Das ist bedau-
Wahrhaftigkeit. Es geht nicht an, daß Sie je nach erlich, aber nicht zu ändern. Daraus politisch Honig
Gelegenheit und politischem Bedarf bittere Weh- saugen zu wollen, wie das die Opposition versucht,
klage über den Niedergang Deutschlands als Wi rt ist in der Sache total daneben und ein untaugliches
-schaftndorüe busLandge- Manöver, um von den eigenen Schwierigkeiten ab-
radezu zum ökonomischen Musterknaben hochlo- zulenken.
ben, an dessen Wesen, wenn schon nicht die ganze
Welt, so doch wenigstens alle Industrieländer gene- In der Mai-Schätzung wurde für 1995 für alle Ge-
sen können. bietskörperschaften noch mit Steuereinnahmen von
rund 846 Milliarden DM gerechnet. Wenn diese nun
„Das Arsenal der deutschen Finanzdiplomatie", um 20 Milliarden DM oder 2,3 % nach unten korri-
schrieb kürzlich die „International Herald T ribune", giert werden müssen, dann liegt dies durchaus im
„enthält kein Florett, sondern nur schwere Säbel." Rahmen üblicher Fehlerquellen von Schätzungen.
Solche Kommentare, Herr Waigel, kommen nicht von Man muß auch den Schätzern konzedieren, daß bei
ungefähr, und sie müssen auch uns beunruhigen. der Einführung einer neuen Steuerart wie der des So-
lidaritätszuschlags oder bei Erstattungen aus Rezes-
(Zuruf von der CDU/CSU: Lieber schwere sionsjahren, die ja jetzt veranlagt werden, das Ver-
Säbel als Leimrute!) halten und die Reaktion von Steuerpflichtigen
schwer vorausschaubar sind und deshalb die Schät-
Behutsamkeit und leisere Töne wären für Deutsch- zung erschwert wird. Von daher ist es verständlich,
land angemessener. Sie wären um so angemessener, daß die größten Korrekturen bei der veranlagten Ein-
als die internationalen Finanzmärkte in ihrer derzei- kommensteuer und bei der Körperschaftsteuer vorzu-
tigen Verfassung ohnehin zu nervösen Überreaktio- nehmen sind.
nen neigen.
Aus konstant bleibenden Lohnsteuereinnahmen
(Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Vorher jedoch zu schließen, die Bundesregierung verlagere
innerhalb der SPD abstimmen!) die Steuerlast planmäßig von den Unternehmen zu
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5173
Peter Harald Rauen
den Arbeitnehmern, wie der finanzpolitische Spre- gleichzeitiger Senkung der Steuer- und Abgaben-
cher der SPD-Fraktion, Herr Poß, dies im August ge- quote.
tan hat und heute in Ansätzen auch Karl Diller, läßt
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
darauf schließen, daß bei beiden erhebliche Defizite
ordneten der F.D.P.)
bei der Beurteilung steuerrechtlicher und steuertech-
nischer Tatbestände bestehen. In den 80er Jahren stieg in den alten Bundeslän-
dern die Beschäftigtenzahl um 3,5 Millionen Men-
Die Lohnsteuer ist keine eigenständige Steuer, schen deshalb an, weil die Staatsquote verringert
sondern eine besondere Erhebungsform der Einkom- und die Steuern und Abgaben reduziert wurden. Die
mensteuer. Sämtliche Anrechnungen und Erstattun- Finanzierung der deutschen Einheit hat vorüberge-
gen der Arbeitnehmer werden heute im Rahmen der hend eine Konsolidierung der Staatsfinanzen über
Pflicht- oder Antragsveranlagung verrechnet und die Einnahmenseite erforderlich gemacht, also über
kürzen in erheblichem Umfang die kassenmäßigen höhere Steuern und Abgaben. Das war nicht anders
Einnahmen bei der veranlagten Einkommensteuer. zu machen.
Die Erstattungen betrugen z. B. in 1983 gerade
13 Milliarden DM, heute sind es bereits 36 Milliarden (Karl Diller [SPD]: Herr Kollege, wo sehen
DM. Sie denn jetzt die Deckungsmöglichkeiten?)
Dennoch muß mit Blick auf mehr Beschäftigung
Heute werden zwei Drittel des Lohnsteueraufkom- die Steuer- und Abgabenbelastung wieder reduziert
mens vom oberen Viertel der Lohnsteuerpflichtigen werden. Das geht nur durch die Konsolidierung der
getragen. Dies sind Besserverdiener wie leitende An- Finanzen über die Ausgabenseite, um die dadurch
gestellte im weitesten Sinne, aber auch Hunderttau- geschaffenen Finanzspielräume in Form von Steuer-
sende von ehemals Selbständigen, die heute Ge- und Abgabensenkungen an die arbeitenden Men-
schäftsführer von GmbHs sind. Damit wird deutlich, schen weitergeben zu können.
daß die Lohnsteuer nicht mehr die Steuer des klassi-
schen Arbeitnehmers ist. Der Bundesfinanzminister leistet zur Erreichung
dieses Zieles Vorbildliches.
Darüber hinaus - das hat Herr Kollege Buwitt
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
schon gesagt - bringen eine Reihe von bef ri steten
ordneten der F.D.P.)
Fördermaßnahmen im Interesse des Aufbaus und
der Umstrukturierung in den neuen Bundesländern Der Haushalt 1996 und die mittelfristige Finanzpla-
zwangsläufig aktuell Mindereinnahmen bei der Kör- nung sehen eine durchschnittliche Ausgabensteige-
perschaftsteuer und der veranlagten Einkommen- rung bis 1999 von jährlich lediglich 1,3 % vor. Wenn
steuer mit sich. neben dem Bund auch die Länder, die Gemeinden
und die Sozialversicherungsträger den politischen
Meine Damen und Herren, die jüngst veröffent- Willen und die Kraft aufbringen, die jährlichen Aus-
lichten Daten des Statistischen Bundesamts für das gabensteigerungen deutlich unter dem Zuwachs des
erste Halbjahr 1995 signalisieren eine Verlangsa- nominalen Bruttosozialprodukts zu halten, werden
mung des Wirtschaftswachstums um rund 0,7 % vom die notwendigen Finanzspielräume geschaffen, mit
Bruttosozialprodukt gegenüber der Projektion der denen Steuern und Abgaben in Deutschland gesenkt
Bundesregierung vom Frühjahr 1995. Hierdurch ist werden können, damit wieder mehr Beschäftigung
ein Teil der Steuermindereinnahmen erklärt, denn erreicht werden kann.
ein Prozent Wirtschaftswachstum bringt rund
15 Milliarden DM Steuern und Abgaben in die staat- Es wäre gut, wenn die Opposition dort, wo sie in
lichen Kassen. Ländern und Kommunen Verantwortung trägt, a lles
tun würde, dieses Ziel zu erreichen.
Mich besorgt besonders, daß wir nach den Daten (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
des Statistischen Bundesamts in Deutschland trotz
Wirtschaftswachstum einen Rückgang der Beschäfti-
gung haben. Statt mit plus 0,25 % nach der Projek- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wo rt hat
tion vom Frühjahr müssen wir nach Angaben des jetzt die Abgeordnete Konstanze Wegner.
Statistischen Bundesamts mit einem Rückgang um
0,5 % rechnen. Das wären rund 240 000 Beschäftigte Dr. Konstanze Wegner (SPD): Frau Präsidentin!
weniger als projektiert und damit weniger Steuer- Meine Damen und Herren! Der Bundeshaushaltsent-
und Abgabenzahler als für die Steuerschätzung an- wurf 1996 steckt voller Risiken. Das haben wir hier
genommen. mehrfach gesagt. Durch die Steuerausfälle werden
diese Risiken noch verschärft, und zwar ganz beson- -
Hier liegt für alle Parteien die größte Herausforde ders auch im Bereich des Arbeitsmarktes.
rung überhaupt. Es muß gelingen, für mehr Beschäf-
tigung in Deutschland zu sorgen. Das wird nicht (Joachim Hörster [CDU/CSU]: Wir sind
durch mehr, sondern nur mit weniger Staat gesche- doch alle risikobewußt!)
hen. Die Regierung hat noch vor kurzem einen Rückgang
(Beifall bei der CDU/CSU) der Arbeitslosenzahl für 1996 um 350 000 prognosti-
ziert, und zwar um 200 000 in den alten Ländern, und
Die Bundesregierung geht mittelfristig hier den ein um 150 000 in den neuen. In den Unterlagen, die ich
zig richtigen Weg: Senkung der Staatsquote bei als Berichterstatterin zu meinem Einzelplan bekom-
5174 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Minister, Dr. Ingomar Hauchler (SPD): Frau Präsidentin! Herr
einerseits ist die angemeldete Redezeit vorbei. Sie Finanzminister, Sie zwingen mich zum Nachsitzen,
wissen natürlich, daß Sie jederzeit länger sprechen denn Sie haben die Gelegenheit genutzt, einiges von
dürfen. Andererseits - ich weise Sie nur darauf hin - dem nachzuholen, was Sie in Ihrer Rede versäumt ha-
besteht der Wunsch bei Herrn Spiller nach einer Zwi- ben. Sie sind jetzt auf einige Punkte eingegangen, die
schenfrage. - Bitte. das inte rn ationale Finanzsystem betreffen.
Ich bin damit aber nicht zufrieden. Sie haben viele
Jörg-Otto Spiller (SPD): Herr Minister, sind Sie be- Fragen, die ich und andere gestellt haben, nicht be-
reit, zu bestätigen, daß Sie niemand in diesem Hause antwortet: die nach der Leistungsfähigkeit des Inter-
wegen Ihrer Äußerungen im Finanzausschuß kriti- nationalen Währungsfonds, ob wir genügend Reser-
siert hat? Ich habe selbst auch im Plenum bestätigt, ven haben, um Spekulationswellen begegnen zu
daß ich nicht davon ausgegangen bin, daß Sie damit können, ob wir die Finanzierung für die Entwicklung
gerechnet haben, daß Ihre Äußerungen in der nicht- der ärmsten Länder werden leisten können. Sie ha-
öffentlichen Sitzung des Finanzausschusses vergrö- ben nicht gesagt, welche Haltung die Bundesregie-
bert und verkürzt von einem Pressedienst in die Welt rung zu diesen Fragen einnehmen will. Sie haben
gesetzt werden. sich in der Sache gedrückt.
(Zuruf von der CDU/CSU: Weitergegeben Eine Sache sollten Sie wirklich einmal überprüfen:
worden sind!) Sie sollten vorsichtig sein, die Anpassungspro-
gramme des IWF, die nach der Mexiko-Krise gelau-
Aber, Herr Minister, sind Sie mit mir der Meinung,
fen sind, als Hauptleistung des Internationalen Wäh-
daß Ihr Interview, das Sie anschließend der „Bild"-
rungsfonds anzusehen. Statistiken besagen, daß es in
Zeitung gegeben haben, in Italien und in anderen
vielen dieser Länder, in denen die Anpassungspro-
Ländern Europas noch mehr Wirbel verursacht hat
gramme gelaufen sind, zu einem rasanten Herunter-
als zuvor die Äußerungen in der nichtöffentlichen
fahren der Sozialhaushalte gekommen ist, zu einem
Sitzung?
Anstieg der Arbeitslosigkeit, zu einem Zurückfallen
der Investitionsquote, der Bildungsprogramme und
Dr. Theodor Waigel, Bundesminister der Finanzen: der Gesundheitsprogramme und zu einer Steigerung
Zunächst bin ich Ihnen, Herr Kollege Spiller, aus- armutsbedingter Umweltzerstörung.
drücklich dankbar, daß Sie richtig, korrekt und fair
die Diskussion Alle Anpassungsprogramme des Internationalen
Währungsfonds zielten von Anfang an - und so wur-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU den sie weitergeführt - darauf ab, eine internationale
und der F.D.P.) Finanzkrise zu verhindern und mit allen Mitteln, die
möglich sind, und unter allem Druck der Industrie- -
und auch die Tatsache, daß ich für die Transformation
länder letzten Endes zu erreichen, daß die Entwick-
einer Äußerung keine Verantwortung trage, darge-
lungsländer zahlungskräftig bleiben. Es wurde in de-
stellt haben. Aber: In der „Bild"-Zeitung habe ich mit
ren Haushalten an Stellen geschnitten, an denen ihr
Sicherheit nichts gesagt, was zu irgendeiner Verwir- eigenes Potential zerstört wird. Das wird uns langfri-
rung beitragen könnte. Vielmehr hat - ich habe Ver-
stig schaden, Herr Minister.
ständnis dafür; es läßt mich relativ ruhig - Ihr Frakti-
onsgeschäftsführer zuvor gesagt, ich hätte damit unge- Anpassungsprogramme müssen sein. Zum Teil ha-
heuren Schaden ange richtet, der Bundeskanzler ben sie gute Früchte getragen. Aber sie müssen in
müsse mich abmahnen und das nächste Mal entlassen. Zukunft, sozial und ökologisch orientiert, flankie rt
Ihr Fraktionsvorsteher sprach von volkswirtschaftli werdn.IchbitS,serfünzut.
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5177
Dr. Ingomar Hauchler
Nicht nur die Entwicklungsländer brauchen An- ZP7 Beratung des Antrags der Abgeordneten
passungsprogramme, sondern auch die Industrielän- Dr. Dagmar Enkelmann, Dr. Winfried Wolf und
der. Da hat der Inte rn ationale Währungsfonds über- der Gruppe der PDS
haupt nichts geleistet: im Hinblick auf die Haushalts- Prüfung von Alternativen zur Magnetschwe-
defizite, im Hinblick auf die Währungsstabilisierung, bebahn
im Hinblick auf die Möglichkeit, daß die Realwirt-
schaft das weltwirtschaftliche Geschehen dominiert - Drucksache 13/2570 -
und nicht die internationalen Finanzströme über Überweisungsvorschlag:
Wechselkurse Standorte gefährden und bestimmen, Ausschuß für Verkehr (federführend)
ob Arbeitslosigkeit entsteht oder nicht. Da gibt es Rechtsausschuß
noch eine Menge zu tun. Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuß
Kommen Sie herunter von der deutschen Arro-
ganz! Wir Deutsche brauchen nach der Vereinigung ZP8 Beratung des Antrags der Abgeordneten
nicht wieder Militärphantasien und Geldarroganz. Rainder Steenblock, Albe rt Schmidt (Hitz-
Wir machen uns sonst unbeliebt in der Welt. Wir hofen), Gila Altmann (Aurich), weiterer Ab-
brauchen Freunde, wir brauchen Kooperation vom geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
Ansatz her, aber nicht ein ewiges schulmeisterliches DIE GRÜNEN
Getue auf den internationalen Konferenzen. Stopp der Vorbereitungsmaßnahmen für den
Viele Leute aus Entwicklungsländern und aus an- Transrapid und Planung einer ICE-Verbin-
deren Ländern können es manchmal nicht mehr hö- dung Hamburg-Berlin
ren. Ich kann den Kollegen Spiller verstehen, der ge- - Drucksache 13/2573 -
sagt hat, die Delegierten auf der Jahrestagung in Überweisungsvorschlag:
Washington hätten nicht nur die Hörer aufgesetzt,
Ausschuß für Verkehr (federführend)
um Ihnen intensiv zuzuhören, sondern am Schluß Finanzausschuß
auch aufgeatmet, weil sie von deutscher Arroganz Ausschuß für Wirtschaft
nichts mehr wissen wollten. Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung,
(Zuruf von der CDU/CSU: Du warst doch Technologie und Technikfolgenabschätzung
gar nicht dabei!) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für
- Ich habe alles genau verfolgt. die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgese-
hen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so be-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne schlossen.
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
und der PDS - Widerspruch bei der CDU/ Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
CSU) der Abgeordnete Dirk Fischer.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich schließe da- Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU): Frau Präsi-
mit die Aussprache und rufe die Tagesordnungs- dentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
punkte 5 a und 5 b und die Zusatzpunkte 7 und 8 auf: Die Verwirklichung der Magnetschwebebahn zwi-
schen Hamburg und Berlin verlangt konsequent die
5. a) Erste Beratung des von den Fraktionen der Schaffung der dafür notwendigen planerischen und
CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Ent- rechtlichen Voraussetzungen. Nachdem bereits in
wurfs eines Gesetzes zur Feststellung des der letzten Legislaturperiode das Magnetschwebe-
Bedarfs von Magnetschwebebahnen (Ma- bahnplanungsgesetz verabschiedet worden ist, ist es
gnetschwebebahnbedarfsgesetz - MsbG) wichtig, jetzt das Magnetschwebebahnbedarfsgesetz
und das Allgemeine Magnetschwebebahngesetz
- Drucksache 13/2345 —
ohne Verzögerung zu verabschieden.
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr (federführend) Der Transrapid erhielte dann die gleichen Chan-
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und cen wie Straße und Schiene, für die durch das Schie-
Reaktorsicherheit nenwegeausbaugesetz, das wir neu erarbeitet ha-
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO ben, und das Fernstraßenausbaugesetz, das sich be-
reits bewährt hat, die gleiche Rechtsgrundlage ge-
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der schaffen wurde. Ein entsprechendes Gesetz für die
CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Ent- Bundeswasserstraßen ist in Vorbereitung. -
wurfs eines Allgemeinen Magnetschwebe-
bahngesetzes (AMbG) Unumstrittene verkehrspolitische Vorteile des
Transrapid sind ein attraktives, schnelles Fahrlei-
- Drucksache 13/2346 —
stungsangebot, die Entlastung der Straße, die Verrin-
Überweisungsvorschlag: gerung des Flugverkehrs auf den Kurzstrecken, freie
Ausschuß für Verkehr (federführend) Kapazitäten für den wachsenden Güterverkehr auf
Rechtsausschuß bestehenden Schienenwegen, deutlich geringerer
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Energieverbrauch als im Bereich von Straße, Flugver-
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit kehr und Schiene, Entlastung der Umwelt von
Haushaltsausschuß Schadstoffen und Lärmemissionen.
5178 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Frau ren Wahlkreisen erzählen: Das Projekt ist wichtig, I
Kollegin, Sie behaupten, daß für die Strecke Ham- das kommt sofort. Gemacht wird es nicht, weil
burg-Berlin kein Bedarf besteht. Wie bringen Sie 2,3 Milliarden DM weniger zur Streckung oder zum
Ihre Behauptung überein mit dem Standpunkt der Nichtbau von Schienenprojekten führen werden.
Hansestadt Hamburg wie auch des Bundeslandes
Hessen, die sich beide vehement für die Durchset- (Zuruf von der F.D.P.: Woran liegt das
zung der Referenzstrecke ausgesprochen haben und denn?)
deutlich machen, daß es die idealste Strecke unter al- Ihre Kürzungsentscheidungen verstecken Sie hin-
len möglichen Varianten ist? ter dem Vorwand leerer Kassen. Ich sage bewußt
„Vorwand"; denn wenn für den mindestens
5,6 Milliarden DM teuren Transrapid Geld da ist,
Elke Ferner (SPD): Ich werde nachher noch etwas kann es nur ein Vorwand sein. Es ist offensichtlich
zum Bundesrat sagen, Herr Kollege Börnsen. Im übri- Geld da, und dann braucht man im Schienenbereich
gen hat das Land Hessen, in dem die Grünen in der nicht zu kürzen.
Regierung sind - das haben Sie richtigerweise ge-
sagt -, dem Antrag im Bundesrat zugestimmt und ihn Sie wollen eine Entscheidung, die den Bundes-
nicht abgelehnt. haushalt unwiderruflich mit nicht absehbaren Risi-
ken belastet: 1997 mit einer halben Milliarde DM,
Es gibt allerdings noch einen Zusatz, den der Bun- 1998 mit 843 Millionen DM, 1999 und 2000 mit je-
desrat beschlossen hat und den ich in meiner Rede weils über 1 Milliarde DM.
nachher noch vortragen will. Das bedeutet: Bei einem gesamten Schieneninve-
stitionsetat von 4 Milliarden DM im Jahr soll 1 Mil-
Ich behaupte zunächst einmal, daß es Ländern, die liarde DM für ein einziges Projekt bereitgestellt wer-
von dieser Verbindung profitieren und die eine den, durch das bis 2005 überhaupt kein verkehrspoli-
schnelle Verbindung haben wollen, zunächst einmal tischer Beitrag geleistet werden wird. Die üblichen
egal ist, ob das Transportmittel Transrapid oder ICE Preissteigerungen kalkulieren Sie noch nicht einmal
heißt, wenn in ähnlicher Zeit ein.
(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Fahr Was passiert aber dann? Für Schiene und Straße
rad!) gibt es gesetzliche Regelungen, mit denen im Falle
knapper werdender Mittel haushaltsmäßige Reißlei-
- Herr Kollege, seien Sie doch einmal sachlich - eine nen gezogen werden können. Für den Transrapid gilt
solche Verbindung auch über die Rad-Schiene-Tech- das nicht. Künftig soll der Transrapid weitgehende
nik herzustellen wäre. Privilegien vor allen anderen Verkehrsträgern genie-
ßen. Alle Verkehrsinfrastrukturplanungen können
(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das ist nur nach Maßgabe der „zur Verfügung stehenden
aber nicht so!) Mittel" realisie rt werden; für den Transrapid wollen
Sie das nicht. Sie wollen auch keine Instrumente zur
Wenn die Länder aber aus eigener Tasche nichts Kontrolle des Ausbaufortschrittes wie die Berichts-
dazuzahlen müssen, wie sie glauben - ich werde Ih- pflicht des Ministers bzw. eine „regelmäßige 'O ber-
nen nachher noch beweisen, daß das sehr wohl zu prüfung des Bedarfs" an Hand der „zwischenzeitlich
Lasten der Länder geht -, muß ich sagen, ist es nichts eingetretenen Wirtschafts- und Verkehrsentwick-
anderes als Kirchtumspolitik. Davon kann man keine lung" .
Landesregierung freisprechen, egal ob sie rot, grün,
schwarz oder sonstwie aussieht. Das ist nun einmal Die Bahn ist bei zinslosen Investitionsdarlehen so-
so, Herr Kollege Börnsen, und das wissen Sie ge- gar zu Leistungen an den Bund in Höhe von jähr-
nauso gut wie ich. lichen Abschreibungen gesetzlich verpflichtet. Beim
Transrapid wollen Sie mit irgendeinem Betreiber
(Beifall bei der SPD) irgendwann irgendeine Vereinbarung treffen. Das ist
Ihr Konzept für den Transrapid. Das ist nicht nur
Ich habe gefragt: Was tut die Bundesregierung für unverantwo rt lich, sondern Sie trauen offenbar auch
die Zukunft unseres Verkehrssystems? Ihren eigenen Prognosen über den finanziellen Er-
folg des Projekts selbst nicht mehr.
(Zuruf von der F.D.P.: Sehr viel!) Im Klartext heißt das: Nur weil Sie den Transrapid
auf Biegen oder Brechen auf dieser Relation wollen,
- Ja, sie kürzt gegenüber den bisherigen Planungen wird p ri vaten Investoren die Tür zum Bundeshaus--
die Mittel für Schieneninvestitionen um 16 Mil- halt weit geöffnet. Diese Investitionen sollen ohne
liarden DM für die Jahre 1996 bis 1999. Rücksicht auf die Situation künftiger Bundeshaus-
halte durchgepeitscht werden: rund 60 % zu Lasten
Schon im nächsten Jahr werden die Investitionen des Verkehrshaushalts, Herr Kollege Börnsen, und
für das Schienennetz gegenüber heute um knapp 40 % zu Lasten der übrigen Investitionshaus-
2,3 Milliarden DM gekürzt. Welche Schienenprojekte halte.
dabei auf der Strecke bleiben, Herr Wissmann, hüten
Sie wie ein Staatsgeheimnis, weil Sie den Menschen Nur weil Sie den Transrapid bauen wollen, gibt es
vor Ort bisher immer etwas anderes erzählt haben, weniger oder keine neuen Ortsumgehungen, Ein-
inklusive aller Kolleginnen und Kollegen, die in ih- schnitte beim Schienenbau, weniger Geld für den
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5181
Elke Ferner
Wohnungs- und Hochschulbau sowie Kürzungen bei Wenn das Transrapid-Projekt schiefgeht, soll die
den Forschungs- und Umweltinvestitionen. Diese Bahn auch noch mit für Verluste einstehen. Das,
Kürzungen, liebe Kolleginnen und Kollegen, betref- liebe Kolleginnen und Kollegen, ist nun wahrlich
fen alle investiven Bereiche des Bundeshaushalts eine Perversion der Bahnreform.
und gehen zu Lasten der Länder, der alten wie der
neuen, auch zu Lasten des Landes Berlin. (Beifall bei der SPD)
Sie verschleudern Milliarden von Steuergeldern,
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
wenn nicht alle Bestfallannahmen eintreffen. Norma-
In Ihrem eigenen Finanzierungskonzept aus der lerweise rechnet ein guter Kaufmann mit dem „worst
12. Wahlperiode sagen Sie: „Die Kostenrisiken für case" und nicht mit dem „best case". Da sollten Sie
den Bundeshaushalt sind zur Zeit zahlenmäßig nicht sich vielleicht noch einmal überlegen, ob Sie auf dem
abschätzbar." Ich ergänze: Diese Risiken sind weder richtigen Wege sind.
jetzt noch zukünftig vertretbar. Sie erweisen damit auch der Industrie einen Bären-
dienst. Ein Verkehrssystem, das allein für den Bau
Auch der Bundesrat hat erhebliche Zweifel an der 5,6 Milliarden DM kostet, nicht vor zehn Jahren in
Wirtschaftlichkeit. Bei aller Kirchturmpolitik in dieser Betri eb geht und auf unabsehbare Zeit am öffentli-
Frage hat er empfohlen, den § 2 wie folgt zu ändern: chen Tropf hängt, ist für keinen potentiellen Kunden
„Die Betriebslasten sind nicht aus öffentlichen Mit- attraktiv.
teln zu finanzieren. "
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
Die alten Planannahmen für dieses Projekt ent- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
sprechen nämlich mehr Ihrem Wunschdenken als be- und der PDS)
triebswirtschaftlicher Kalkulation: Da geistern immer
noch Fahrgastprognosen von 14 Millionen Passagie- Meine Fraktion hat deshalb von Anfang an ein ab-
ren jährlich herum; das sind 1 600 Passagiere jede gespecktes, überwiegend privat finanzierbares Pro-
Stunde bei Tag und bei Nacht. Bei der Vorstellung, jekt auf einer kürzeren Strecke befürwortet. Sie hin-
wie 1 600 Leute auf einem Bahnsteig stehen und war- gegen vernachlässigen die Märkte und die Weiter-
ten und ein- und aussteigen, kann ich nur sagen: entwicklung der Rad-Schiene-Technik und damit
Viel Vergnügen! In den Spitzenzeiten werden es ja die Sicherung und Neuschaffung von Arbeitsplätzen.
dann wohl noch mehr sein. Industriepolitisch geht es nicht darum, ob unter
irgendwelchen Extrembedingungen und mit hohem
(Vorsitz : Vizepräsident Dr. Burkhard finanziellem Aufwand Höchstgeschwindigkeiten
Hirsch) technisch realisie rt werden können. Entscheidend
wird allein sein, ob sie auch wirtschaftlich machbar
Solche Annahmen sind einfach lächerlich. Eine sind.
Ameisenwanderung zwischen Hamburg und Berlin
wäre ein Klacks dagegen. Die Strecke Hamburg-Berlin erfüllt diese Voraus-
setzungen nicht. Ein ICE-Ausbau, wie wir ihn schon
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne beim Bundesverkehrswegeplan gefordert haben,
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN macht verkehrspolitisch und wirtschaftlich mehr
und der PDS) Sinn.
Bis zur Stunde zögert die Bahn AG, sich an der ge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
planten Betriebsgesellschaft zu beteiligen. Nachdem ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
die Lufthansa definitiv nein gesagt hat, soll die Bahn Nur weil Sie den Transrapid bauen, wird im ICE-
jetzt 300 Millionen DM beisteuern. Netz auf Dauer bei der Strecke Hamburg-Berlin eine
große Lücke klaffen. Sie sehen hier Hamburg-Berlin,
(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist eine fal und die Eisenbahn fährt in der Hochgeschwindig-
sche Behauptung!)
keitsphase schön drumherum.
Sie verlangt dafür zu Recht eine Kompensation, weil Offensichtlich ist Ihnen, meine Damen und Herren
die Fahrgäste des Transrapid der Bahn fehlen wer- in der Koalition - das kann man zum Schluß wirk lich
den. sagen -, der Realitätssinn völlig abhanden gekom-
men, zumindest in bezug auf die Zahlen des Bundes-
Sie verlangen von der Bahn, sich selbst Konkur- haushaltes. Sie tragen damit die Verantwortung für
renz zu machen, und hängen ihr den Transrapid als eine neue Investitionsruine.
Klotz ans Bein, weil das Engagement der Bahn für -
die Privatindustrie unverzichtbar ist. Warum denn (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
eigentlich? Sachverstand und Planungs-Know-how DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
ließen sich doch wohl auch einkaufen. Nein, die PDS)
privaten Investoren wissen nur zu genau, daß das
Transrapid-Projekt gestorben wäre, bevor es ange-
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile dem
fangen hat, wenn die Bahn auf der Relation Ham-
Abgeordneten Rainder Steenblock das Wo rt .
burg-Berlin selbst ein gutes Angebot gewährleistete.
(Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
DIE GRÜNEN) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
5182 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
Rainder Steenblock
Herren! Lieber Kollege Fischer, wenn man sich Ihre - Ja, ja. Das ist festgelegt. Aber diese Festlegung
Rede gerade anhören mußte, dann weiß man gar schauen Sie sich einmal an! Das würde kein Kauf-
nicht, ob man Ihnen Borniertheit, Unkenntnis oder mann unterschreiben.
Naivität vorwerfen soll oder schlicht und einfach bös-
Diese 2,4 Milliarden DM erhöhen sich nach Anga-
artige Demagogie, die Sie hier soeben haben walten
ben der Betreibergesellschaft mit den Bauzeitzinsen
lassen. Ich will zu Ihren Gunsten annehmen, daß Ihre
und sonstigen Kosten, die hinzukommen, auf
Ausführungen von keiner großen Kenntnis getrübt
3,7 Milliarden DM. Die übrigbleibenden 3,2 Mil-
worden sind, weil das ein Zustand ist, den man behe-
liarden DM erhöhen sich - ich mache es kurz - auf
ben kann.
4,5 Milliarden DM, auch nach Angaben der Betrei-
Ich möchte abweichend von dem, was ich mir bergesellschaft.
eigentlich vorgenommen habe, versuchen, Ihnen zu
Wenn Sie das einmal zusammenrechnen, kommen
sagen, was gerade die finanzpolitischen Bedenken Sie auf 13 Milliarden DM, die die Magnetschwebe-
bei diesem Konzept sind. Ihre Ausführungen zeigen
bahn-Planungsgesellschaft als Kosten nach dem
deutlich, warum der Finanzminister dieses Landes
Preisstand von 1993 schon heute zugrunde legt.
mit dem Rücken zur Wand steht, wenn Sie so leicht-
fertig mit Steuergeldern umgehen, wie Sie das bei (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: So
diesem Projekt wieder vorhaben. ist es!)
Die Kosten für den Transrapid - wir haben nie Nicht berücksichtigt, lieber Herr Fischer, sind da-
etwas anderes behauptet - liegen nach Angaben der bei die zusätzlichen Kosten, die durch eine Anbin-
Betreibergesellschaft und der Magnetschwebebahn dung in die Innenstädte von Hamburg und Berlin
Planungsgesellschaft ungefähr bei 9 Milliarden DM. entstehen werden. Weil es dafür noch keine Trassen
Diese Summe setzt sich zusammen aus 5,6 Milliarden gibt, sind auch noch keine Berechnungsgrundlagen
DM, die der Bund zu tragen hat, und 3,3 Milliarden vorhanden. Diese Kosten kommen dazu.
DM, die die Betreibergesellschaft trägt.
(Zuruf von der F.D.P.: Das ist ein ausge-
(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Sie machter Stuß!)
behaupten, das sind Fahrweginvestitionen! Nicht berücksichtigt sind die gesamten Infrastruk-
So ein Unsinn!) turkosten, wenn, wie beim Transrapid beabsichtigt,
- Seien Sie einmal ganz ruhig, Herr Fischer! Es geht 50 % des Zubringerverkehrs mit dem Auto erzielt
weiter. werden sollen. Das ist Berechnungsgrundlage auch
der Planungsgesellschaft. Für die sieben Millionen
(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Kön Autofahrer, die zu den Transrapid-Bahnhöfen, und
nen Sie Fahrweg und Rollmaterial unter zwar nicht in die Hamburger City und nicht in die
scheiden?) Berliner City, sondern zu den Vorortbahnhöfen in
Hamburg-Billwerder und in Berlin-Westkreuz, fah-
- Ich kann Fahrweg und Rollmaterial unterscheiden.
Sie wissen vielleicht, was Fahrweg beim Transrapid ren sollen,
bedeutet. Das ist nämlich etwas anderes als eine (Horst Friedrich [F.D.P.]: Das ist doch
Schienenstrecke. Dahinter steht eine ganz andere schlicht falsch!)
Technologie.
brauchen Sie Infrastruktureinrichtungen, brauchen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Sie Riesenparkplätze, wenn Sie diese Bestfallannah-
Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Dann men überhaupt erfüllen wollen.
dürfen Sie auch nicht zusammenrechnen!)
Lieber Herr Wissmann, Sie wissen ganz genau:
- Herr Kollege Fischer, hören Sie jetzt einfach einmal Wenn Sie diese Infrastrukturleistung nicht erreichen
zu. Sonst lasse ich Sie eine Zwischenfrage stellen; - das sagen auch die Planer in ihrem Gutachten -,
das können Sie gerne machen. Dann geht das nicht dann wird ein anderer Fall eintreten. Wenn es näm-
von meiner Redezeit ab. lich zu Staus kommt, wird die Sache unattraktiv
werden. Dann sinkt die Zahl der Benutzer von
Es geht um 3,3 Milliarden DM Investitionen der 14,5 Millionen nach der Bestfallannahme auf
Betreibergesellschaft. Nach Aussagen der Betrei- 9,2 Millionen.
bergesellschaft kommen noch sonstige Kosten hinzu.
Mit den Bauzeitzinsen und sonstigen Kosten erhöht
sich diese Summe auf 4,8 Milliarden DM nach offi- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege,
zieller Mitteilung der Betreibergesellschaft. gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen F ried-
rich? -
(Horst Friedrich [F.D.P.]: Wer zahlt sie denn?)
- Ich komme gleich darauf zurück. Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ja.
Die Kosten von 5,6 Milliarden DM, die der Bund
tragen soll, werden aufgesplittet, u. a. in einen
2,4 Milliarden-DM-Kredit, der am Sankt-Nimmer- Horst Friedrich (F.D.P.): Herr Kollege Steenblock,
leins-Tag zurückgezahlt werden soll. ist Ihnen entgangen, daß die Betriebsgesellschaft für
die Magnetschwebebahn Berlin-Hamburg nach Ih-
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: rem Interview festgestellt hat, daß die Magnetschwe-
Festgelegt ist das!) bebahn von Hamburg-Hauptbahnhof zu den großen
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5183
Horst Friedrich
Berliner Bahnhöfen, entweder Papenstraße oder Hier ist eine Zwischenfrage gestellt worden. Diese
Lehrter Bahnhof, geht, und daß Ihre Meinung, die Zwischenfrage wird beantwortet. So lange halte ich
Anbindung würde in Billwerder oder irgendwo am die Uhr an. Aber wenn Sie dauernd dazwischen-
Stadtrand stattfinden, deswegen einfach falsch ist? rufen, so daß der Redner nicht antworten kann,
Sind Sie bereit, diese Aussage der Magnetschwebe- werde ich die Redezeit verlängern. Ich bitte, das zur
bahngesellschaft zu akzeptieren, oder negieren Sie Kenntnis zu nehmen.
das weiterhin?
Bitte, Herr Steenblock, fahren Sie fo rt .
Rainder Steenblock
Ich möchte noch eine Sache kurz darstellen, um Haben Sie diese Bedenken auch Ihren Kollegen in
auch dieses Finanzgebaren deutlich zu machen. Die Hessen mitgeteilt, die ja im Bundesrat zweimal - ein-
deutsche Industrie beteiligt sich an diesem minde- mal hat sich ja Ihr Kollege Fischer klammheimlich
stens 13 Milliarden DM teuren, vielleicht aber sehr dort versteckt - dem zugestimmt haben? Treffen
viel teureren Projekt mit der gigantischen Summe denn diese Argumente Ihren Kollegen in Hessen ge-
von 500 Millionen DM, die Banken noch einmal zu- genüber nicht zu?
sätzlich mit 200 Millionen DM, und sie brauchen eine
Risikoabsicherung.
Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Der Vorschlag, den sie sich ausgedacht haben, ist Herr Börnsen, ich will Ihnen einmal sagen, was ich
folgender: Die Magnetschwebebahn ist eine Insel- den Kollegen in Hessen zu sagen versucht habe bzw.
technologie. Das weiß jeder. Da denkt man natürlich gesagt habe: Liebe Leute, der Transrapid wird als
auch an Inselförderung. Es wird also vorgeschlagen, Hochtechnologie gehandelt. Völlig unbest ritten ist
die alte Berlinförderung wieder aus dem Kasten zu aber, daß die Montage des Fahrweges unklar ist,
ziehen. Bei Investitionen der Indust rie soll es eine weil es überhaupt noch keine Schrauben gibt, die
zwanzigprozentige Absetzbarkeit der Kapitalkosten den Druck aushalten. Sie brechen in der Versuchsan-
nach dem Modell der Berlinförderung aus der Zeit lage ständig ab. Die Planungsgesellschaft oder die
geben, als Berlin nicht konkurrenzfähig war. Überle- Betreiber haben zugegeben, daß sie es vom Mate rial
gen Sie einmal, was das für die ökonomische Beurtei- her nicht hinkriegen. Sie bauen diesen Fahrweg nun
lung dieses Projekts bedeutet. Wenn Sie sich auf die- so, daß sie immer den doppelten Schraubensatz be-
ses Fördermodell für Berlin - das aus guten Gründen nutzen, nicht weil diese Fahrwegsmontage dann
eine ganze Zeitlang als Standort nicht konkurrenzfä- hält, sondern nur, weil dann die Reparaturtrupps
hig war - bei der Transrapidförderung beziehen, schnell genug da sind, um diese Schrauben tatsäch-
dann sagt das alles über die ökonomische Qualität lich wieder ersetzen zu können.
dieses Projekts aus. Das zeigt nicht nur, daß die Befürworter dieses Sy-
stems ab und zu einmal eine Schraube locker haben,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der SPD und der PDS) (Beifall des Abg. Joseph Fischer [Frankfu rt ]
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Wir haben Alternativen dazu vorgelegt. Wir haben
auch deutlich gemacht, daß der Transrapid - Frau sondern zeigt auch, daß die technische Qualität die-
Ferner hat es angesprochen - Investitionshemmnis ses Systems hochbrisant ist.
Nummer eins werden wird, weil er Haushaltslöcher Ich habe den Hessen noch etwas anderes gesagt:
aufreißt und eine Technologie ist, die in diesem Be- Liebe Leute, wenn ihr das System unterstützen wollt,
reich eher hinterwäldlerisch ist. Das, was Herr Fi- dann schaut euch doch auch einmal die zentralen
scher gesagt hat, hätte er 1937 zur Patentanmeldung ökologischen Kriterien an, die immer genannt wer-
des Transrapids oder der Magnetschwebebahn sa- den: Lärm, Energie. Die Untersuchungen, auch die
gen müssen. So alt ist mittlerweile die Technologie, offiziellen Untersuchungen der MVP, sagen, daß bei
und sie hat sich nirgendwo auf der Welt durchge- einer typischen, systembedingten Geschwindigkeit
setzt. des ICE, und zwar des ICE der ersten Generation,
nicht des neuen, der Lärm 83 Dezibel beträgt, und
Deshalb: Setzen Sie auf die Rad-Schiene-Technik! zwar bei seiner typischen Betriebsgeschwindigkeit.
Das ist eine Technik, die Sie exportieren können, das Das steht in den Unterlagen der Magnetschwebe-
ist eine Technik, mit der Sie eine schnelle Anbindung bahn-Planungsgesellschaft.
bekommen, und das ist eine Technik, mit der hier in
Deutschland zukunftssicher Arbeitsplätze geschaffen Bei einem ICE, lieber Herr Börnsen - ich sage Ih-
werden können. nen doch nur, was ich den Hessen gesagt habe -, be-
trägt die systembedingte Lärmemission 93 Dezibel,
10 Dezibel mehr. Das entspricht einer Verdoppelung
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege des Lärms.
Steenblock, gestatten Sie eine weitere Zwischen-
frage? Bei einer Systemgeschwindigkeit des ICE der er-
sten Generation beträgt der Energieverbrauch pro
Sitzplatz 78 Wattstunden. Bei dem Transrapid mit 400
Stundenkilometern, so wie er jetzt geplant ist, be-
Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
trägt der Energieverbrauch pro Sitzplatz 150 bis
Ja.
160 Wattstunden. Das heißt: Dieser ICE ist im Nor-
malbetrieb doppelt so laut und verbraucht doppelt so
viel Energie wie ein ICE der alten Generation.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Bitte schön,
Herr Kollege. Wenn Sie versuchen, den ICE technisch zu opti-
mieren, kommen Sie auf sehr viel geringere Werte.
Wenn Sie zudem beachten, daß der Transrapid nach
Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Herr Angaben der Planungsgesellschaft über 400 Ki-
Kollege Steenblock, Sie haben ja nun in aller Schärfe lometer pro Stunde fährt - das habe ich den Hessen
deutlich zu machen versucht, wo die Schwachpunkte gesagt -, nämlich 430 Kilometer, dann kommen wir
dieser Strecke und auch des Systems liegen. bei der Lärmemission - -
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5185
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege Der Individualverkehr in unserem Land stößt an
Steenblock, bei aller Liebe zur Sache: Sie müssen seine Grenzen, das Mobilitätsbedürfnis aber wächst
jetzt zum Schluß kommen. weiter. Nur mit neuen, über die bisherigen Maßstäbe
hinausgehenden Lösungen können wir dieses Pro-
Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): blem bewältigen.
Dann bekommen wir eine Tieffliegerlärmemission. Es gibt keine bahntechnische Alternative zum
Die hessischen Grünen haben deshalb gesagt: Wir Transrapid. Die Rad-Schiene-Technik der Eisenbahn
als Grüne lehnen dieses Projekt ab. Das tun auch wir hat den Endpunkt ihrer Evolution erreicht. Mit dem
im Bundestag. Wir haben eine Alte rnative. Transrapid ist ein innovativer Verkehrsträger ent-
standen, der in allen Eigenschaften und technischen
Ich bitte Sie im Interesse der Finanzen dieses Lan- Daten der bisherigen Bahn-Spitzentechnologie über-
des und der Exportorientierung unserer Wi rtschaft, legen ist.
dem zuzustimmen.
Es gibt keinen umweltfreundlicheren Verkehrsträ-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, ger.
bei der SPD und der PDS)
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile dem Der Fahrweg des Transrapid verbraucht, gleichgül-
Abgeordneten Dr. Klaus Röhl das Wo rt . tig, ob aufgeständert oder ebenerdig, weniger Fläche
als die Fahrwege des ICE und des IC. Das ist eine
Tatsache. Es ist doch ökologisch, weniger Fläche zu
Dr. Klaus Röhl (F.D.P.): Herr Präsident! Meine lie-
verbrauchen.
ben Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon hochin-
teressant: Nachdem der Transrapid zuerst ein techno- (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Das haben die
logisches und ökonomisches Monstrum war, ist er Grünen noch nicht gemerkt!)
jetzt zu einem finanziellen und zudem zu einem re-
paraturtechnischen Monstrum geworden. Ich bin ge- Im übrigen strotzt der Antrag vom BÜNDNIS 90/
spannt, was es für ein Monstrum darstellen soll, DIE GRÜNEN vor Falschaussagen und Ungereimt-
nachdem Sie sich für ein halbes Jahr zurückgezogen heiten. Der Antrag der PDS hängt sich übrigens, wie
haben. Darauf bin ich sehr neugierig. üblich, nur an den vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
an. Das ist also nur noch reine Mitfahrertendenz.
Ich komme nun erst einmal zum Sachlichen; strei- Zeigt sich hier eine Wahlverwandtschaft? Hoffentlich
ten können wir uns später. In der heutigen ersten Be- nicht!
ratung stehen zwei Gesetzentwürfe der Fraktionen
der CDU/CSU und der F.D.P. zum Bau der Transra- Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN behaup-
pidstrecke Berlin-Hamburg zur Beratung an: erstens tet, die Fahrgastzahlenschätzung von 14,5 Millionen
der Entwurf eines Magnetschwebebahnbedarfsge- Fahrgästen pro Jahr sei unrealistisch. Die jüngsten
setzes und zweitens der Entwurf eines Allgemeinen Planungsergebnisse haben aber eine Absicherung
Magnetschwebebahngesetzes. Das Bedarfsgesetz der aufgestellten Prognosen ergeben. Durch ein
soll den Bedarf, das Allgemeine Magnetschwebe- neues Rechenmodell von Intraplan München ist das
bahngesetz den Bet rieb sicherstellen. voll bestätigt worden. Die Herren Steenblock und
Schmidt sind wie immer offensichtlich nicht auf dem
Die leistungsstarke und vor allem umweltfreundli-
aktuellsten Stand, wie aus ihrer Presseerklärung vom
che Magnetschwebebahnverbindung trägt nicht nur
10. Oktober zu erkennen ist. Da steht das wunderbar
dem Ziel der Verlagerung des Verkehrs von der
drin.
Straße und der Luft auf die Schiene und der Entla-
stung der Bahnstrecken zugunsten des Regional- Aber lassen Sie mich noch ein paar Vergleichszah-
und Güterverkehrs Rechnung, Frau Ferner, sondern len nennen. Für das völlig neue ICE-Projekt Köln-
beweist auch den hohen Technologievorsprung der Rhein/Main erwartet man im Jahr 2000 pro Tag und
deutschen Industrie und sichert den Wirtschafts- Richtung 26 000 Reisende und im Jahr 2050 sogar
standort Deutschland. 40 000. Und da bezweifeln die Kolleginnen und Kol-
Wir dürfen uns beim Bau des Transrapid keine Zeit legen von den Grünen die realistischen Prognosen
lassen. Japan wird im nächsten Jahr eine für den Transrapid von 14,5 Millionen! Eine rot-
42,8 Kilometer lange Magnetstraße für den Probebe- grüne Brille verdunkelt eben alles.
trieb freigeben. Diese ist gleichzeitig Teilabschnitt ei- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU -
ner zukünftigen Langstreckenverbindung. Das Ver- Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) -
suchsprogramm soll im Jahre 1999 abgeschlossen
sein, so daß dann die rund 500 Kilometer lange Weiterhin wird behauptet, der Transrapid bringe
Strecke zwischen Tokio und Osaka in Ang riff genom- noch nicht einmal einen Zeitvorteil für die Fahrgä-
men wird. So macht man das woanders. ste, da die S-Bahn-Fahrt vom Ankunftsbahnhof bis
Wir dürfen diese Entwicklung nicht verschlafen. zum Berliner Zentrum weitere 20 Minuten dauere.
Wir müssen die hervorragenden Exportchancen für Als Berliner kann ich Ihnen nur empfehlen, einen Be-
den Transrapid endgültig sichern. such vor Ort zu machen oder einen Stadtplan zur
Hand zu nehmen. Der Lehrter Bahnhof ist im Zen-
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne trum, und es sind nur drei Stationen mit der S-Bahn
ten der CDU/CSU) zum Bahnhof Zoo oder zum Alex und nur eine zur
5186 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
Sehr geehrte Kollegen, noch etwas zu zwei anderen Wir sagen ganz klar, daß es für uns keine Alterna-
Punkten des Antrages der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE tive zur geplanten Transrapid-Strecke gibt. Der
GRÜNEN. Da werden tatsächlich die ökologischen Transrapid ist ein umweltfreundliches, energiespa-
Vorteile geleugnet. Der Transrapid ist der energie- rendes Verkehrssystem, das allein uns in die Lage
freundlichste Verkehrsträger. Der Energieverbrauch versetzt, Verkehrsprobleme der Zukunft speziell auf
beim Betrieb ist um ein Drittel geringer als beim ICE. der Strecke Hamburg-Berlin zu lösen. Mut statt
Kleinmut bringt uns voran!
(Beifall bei der CDU/CSU)
(Zustimmung bei Abgeordneten der F.D.P.
Auch beim Lärmpegel erreicht der Transrapid erst und der CDU/CSU - Widerspruch bei Ab-
oberhalb 400 km/h die Spitzenwerte des ICE, die bei geordneten der SPD - Elke Ferner [SPD]:
diesem schon bei 250 km/h auftreten. Gemäß Bun- Das ist der Mut der Verzweiflung!)
desimmissionsschutzgesetz, wonach z. B. in der
Nacht an Krankenhäusern und Schulen ein Immissi- Die Fraktion der F.D.P. steht zu beiden eingebrach-
onsgrenzwert von 47 dB (A) nicht überschritten wer- ten Gesetzentwürfen. Wir lehnen daher die Anträge
den darf, kann der Transrapid in 25 m Entfernung des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS mit
fahren. Der ICE müßte bei gleichen Bedingungen ei- aller Entschiedenheit ab.
nen Abstand von 120 m einhalten.
Danke schön.
(Zuruf von der CDU/CSU: Das sind Argu
mente!) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
(Zuruf von der CDU/CSU: Ausführlich hat (Beifall bei der SPD - Zuruf von der F.D.P.:
er das gesagt!) Ihr blamiert euch nur!)
Beim Schienenwegeausbaugesetz wird der verkehrs- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Dr. Röhl,
politische Bedarf festgestellt. Beim Fernstraßenaus- Sie haben die Möglichkeit zu antworten.
baugesetz wird der verkehrspolitische Bedarf festge-
stellt. Hier wird über Technologie geredet, über
Standortpolitik, über Industriepolitik. Ob es Bedarf Dr. Klaus Röhl (F.D.P.): Herr Kollege Kuhlwein, erst
für diese Strecke gibt, wo es doch eine Eisenbahn- einmal herzlichen Dank für Ihre vorbereitete Rede.
strecke gibt, die Hamburg und Berlin verbindet, ist Da ich jede Meinung achte, bin ich stehengeblieben.
bisher nicht nachgewiesen worden. Das konnte uns Das ist ganz klar.
auch der Bundesverkehrsminister heute im Haus- Sie haben da etwas aus der großen Sammlung der
haltsausschuß nicht sagen. Anhörung vorgelesen.
(Abg. Dr. Klaus Röhl [F.D.P.] hört den Aus (Ecka rt Kuhlwein [SPD]: Nein, nein! Sein
führungen des Abg. Kuhlwein stehend zu) Wissenschaftlicher Beirat!)
- Sie dürfen sich ruhig hinsetzen. Bei Kurzinterven- Genausogut könnten wir andere Gutachten vorlesen.
tionen muß man nicht stehenbleiben. Wir haben Ihnen hier vorgetragen, wie die jüngsten
Beurteilungen und Gutachten lauten. Auch das kön-
Finanzpolitisch führt Ihr Expe riment ins Chaos. Es nen wir nachlesen; dafür können wir uns einmal zu-
birgt gewaltige finanzpolitische Risiken. Entweder sammensetzen.
wird es ein Grab für Dauersubventionen oder eine
Bauruine auf Stelzen. Das hat dem Bundesverkehrs- Ich bitte Sie ganz herzlich, sich einfach einmal
minister schon im Januar 1994 die Gruppe Verkehrs- ganz still für sich hinzusetzen
wirtschaft des Wissenschaftlichen Beirats beim Bun- (Ecka rt Kuhlwein [SPD]: Ich stehe doch ge-
desminister für Verkehr nachgewiesen. Die Zahlen rade!)
sehen heute vermutlich eher noch etwas schlimmer
aus. Ich will das wiederholen, was damals gesagt und nachzudenken: Was ist günstiger für die Lösung
wurde: der Verkehrsprobleme und für die Lösung der Pro-
bleme der deutschen Wi rtschaft und die Arbeits-
1. Die in dem Betreibermodell durchgeführten plätze? Machen Sie das bitte ohne Voreingenom-
Wirtschaftlichkeitsberechnungen basieren auf menheit. Ich weiß, wie schwer es ist, von voreinge-
unrealistischen Annahmen. nommenen Positionen herunterzukommen. Sie tun
dann Ihren Parteimitgliedern und den Leuten aus der
2. Die für Ostdeutschland und Berlin zugrunde Arbeiterschaft, die Sie vertreten, einen größeren Ge-
gelegten Entwicklungszahlen sind Zielpro- fallen, als wenn Sie hier dagegen reden.
gnosen, deren Eintreffen wenig wahrschein-
lich ist. (Zustimmung bei der F.D.P. und der CDU/
CSU - Ecka rt Kuhlwein [SPD]: Die können
3. Die Zahlen zum Fahrgastaufkommen einer auch den ICE bauen!)
Magnetschnellbahn entstammen einer inkon-
sistenten Kombination von „Bestfall-Annah- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile dem
men" . Berliner Senator für Verkehr und Bet riebe, Professor
Dr. Haase, das Wo rt .
4. Die Erlösrechnung basiert auf einer unzulässi-
gen Verknüpfung von Preis und Absatz.
Senator Dr. Herwig Eberhard Haase (Berlin): Herr
-
5. Notwendige Zusatzkosten, unter anderem für Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren
Verknüpfungseinrichtungen, wurden nicht Abgeordneten! Am Anfang steht der Dank Berlins an
berücksichtigt. die Mitglieder des Deutschen Bundestages.
Heute werden die Feudalfürsten der Wi rtschaft be- Es handelt sich um eine 10 Milliarden DM teure Dop-
pelinvestition;
dient. Das Magnetschwebebahnbedarfsgesetz de-
kretiert in § 1 schlicht: (Zuruf von der CDU/CSU: Auch falsch!)
Es besteht Bedarf für den Neubau einer Magnet- gerade wurde die Strecke Hamburg - Berlin für vier
schwebebahnstrecke von Berlin nach Hamburg. Milliarden DM ausgebaut.
In § 2 heißt es ex cathedra weiter, diese Bedarfsfest- (Zuruf von der CDU/CSU: Noch ein größe-
stellung sei sakrosankt, also „verbindlich". rer Unsinn!)
Die Welt steht Kopf. Die Marktwirtschaft verläuft Unsere Gesellschaft wird sich den Bet rieb am Ende
nach Plan gegen den Bedarf und an die Wand. Da schlicht nicht leisten können. Oder in den Worten
fördert die Eisenbahn die Konkurrenz Magnetbahn, des ehemaligen SPD-MdB Daubertshäuser aus dem
just seit sie als Aktiengesellschaft, also angeblich Jahr 1983: „Ich sehe rund vier Milliarden DM Sub-
dem Markt verpflichtet, daherkommt. Da untersagt ventionen pro Jahr auf den Staat zukommen".
Bahnchef Heinz Dürr den Abdruck einer vernichten-
den Kritik am Transrapid in einer bahnnahen Zeit- Schließlich bedient der Transrapid eine eng be-
schrift. grenzte Klientel, den Geschäftsreisefernverkehr, und
eine künstlich produzierte neue Form des Vergnü-
(Zuruf von der CDU/CSU: Na hoffentlich! - gungsverkehrs, das sogenannte City-hopping: Die
Gegenrufe von der SPD) Berliner sausen nach Hamburg ins „Phantom der
Oper", die Hamburger verlustieren sich in Berlin an
Da wird plötzlich eine Magnetbahn mit zwei Kopf- „Miß Saigon" mit Berliner Weiße. In beiden Städten
bahnhöfen gebaut, wo uns doch soeben anhand des wird gleichzeitig dezentrale Kultur abgebaut, um
Berliner Lehrter Bahnhofs erklärt wird, daß nur noch diese langen Wege zu fördern.
Durchgangsbahnhöfe postmodernen Sinn machten.
Da soll die Deutsche Bahn AG gar Mitbetreiberin des (Zuruf von der F.D.P.: Wir dürfen nicht mehr
Transrapid werden, d. h. die eigene Konkurrenz för- reisen!)
dern.
Sicher, es gibt noch die Argumente „Referenz-
Letzteres hat übrigens Tradition: Auf Geheiß der strecke", „Weltmarkt" und „Geschwindigkeit". Dazu
NS-Führung mußte die Reichsbahn das Tochterun- lassen sich ein paar ernsthafte Fragen stellen.
ternehmen Reichsautobahn-Gesellschaft gründen,
Warum sollen fünf und mehr Milliarden DM Steu-
also die Konkurrenz durch den Straßenverkehr för-
ergelder für private Interessen der Indust rie aufge-
dern.
wandt werden? Und wenn das schon sein muß:
Da stellt dieses Hohe Haus als Bedarf fest: Minde- Warum nicht gleich die Referenzstrecke als feudales
stens fünfmal mehr Menschen aus Hamburg haben Geschenk in die saudische Wüste setzen? Dann
nach Berlin und umgekehrt fünfmal mehr Berliner bleibt immerhin das Problem „Wintertauglichkeit"
Schnauzen haben an die Alster zu schweben, fünf- ausgeklammert. Ist es nicht grotesk, daß in der jüngst
mal mehr, als die Summe aller heutigen Fahrten mit hier debattierten Lateiname rika-Resolution der Bun-
Auto, Flugzeug und Bahn ausmacht. desregierung ernsthaft der Expo rt des noch nicht ein-
mal real schwebenden Transrapid nach Südamerika
(Zuruf von der CDU/CSU: Ja, und?) proklamiert wurde? Als ob die dort nicht andere Pro-
Die Wissenschaft wird für unzuständig erklärt. bleme hätten!
Man verbittet sich jedes Hineinreden eines Profes- Schließlich wäre zu fragen: Sollten wir statt des
sors Aberle und des Wissenschaftlichen Beirats des Anhimmelns eines Geschwindigkeitsrausches und
Verkehrsministeriums als Eingriffe in ein immerhin statt des machistischen Glaubens an „Natur- und
im Wortsinne „schwebendes Verfahren". Technikbeherrschung" nicht den Forderungen nach
Die Erde ist eine Scheibe. Galilei grüßt mit „Over, „Entschleunigung", nach „Entdeckung der Lang-
Roger". Gegeben wird das Stück „Dinosaurier im Ju- samkeit" und damit nach gedanklicher Ruhe und ei-
rassic Park" . nem Zugewinn an Demokratie Gehör gewähren, For-
derungen, wie sie übrigens zuerst von dem Jesuiten-
(Zustimmung bei der PDS) pater Ivan Illich aufgestellt wurden?
Ja, auf die Magnetbahn trifft der Beg riff „ Dinosau- Meine Damen und Herren, auslaufende Gesell-
riertechnik " zu. Sie widersp richt so gut wie allen An- schaftsmodelle haben die Eigenart, sich nicht nur in
forderungen moderner Verkehrsplanung: Die Ma- Kriegen zu erschöpfen, sondern sich auch in abstru-
gnetbahn ist nicht kompatibel mit anderen Verkehrs- sen Techniken totzulaufen. Die NS-Herren Speer
mitteln. Sie eignet sich nur für Personenverkehr und und Hitler wollten pa rtout eine gigantische Breit-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5191
Dr. Winfried Wolf
spureisenbahn in die Welt setzen. Die sowjetischen Herr Dr. Wolf, Sie haben für die PDS den Platz von
Bürokraten planten, den Flußlauf der Wolga umzu- Frau Dr. Enkelmann im Verkehrsausschuß einge-
kehren. Und hier soll dekretiert werden, daß ein Be- nommen, nachdem sie ausgeschieden ist, und baten
darf an gesellschaftlicher Mobilität besteht wie in ei- um Nachsicht, daß Sie „fachlich noch nicht so gut
nem Hamsterrad mit Kugellager. drauf" seien, so daß wir Ihnen einiges nachsehen
müßten. Heute haben Sie einen Beitrag abgeliefert,
den man Ihnen nicht einfach nachsehen kann. Sie
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Sie müssen haben Äpfel mit Birnen verglichen und nicht ein biß-
zum Schluß kommen. chen Verständnis von Verkehrspolitik gezeigt. Das
war reiner Populismus, reine Ideologie.
Dr. Winfried Wolf (PDS): Letzter Satz: Der Antrag Sie als SED-Nachfolgepartei können es ja auch
der Grünen findet unsere volle Unterstützung. Der nicht anders. Früher in der DDR haben Sie einen Par-
Antrag der PDS bietet die einmalige Gelegenheit, teitag einberufen, als der 1-Megabit-Chip von Carl-
Vernunft zu beweisen - durch die einfache Feststel- Zeiss-Jena entwickelt werden sollte. Wissen Sie, wie
lung, daß Wissenschaft nicht, wie bei Galilei, ausge- lächerlich das war? Als Sie ihn dann fertig hatten,
klammert werden kann. waren bei den anderen längst 8-Megabit-Chips pro-
Danke schön. duktionsreif. Diese Scheuklappen haben Sie immer
noch.
(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne
ten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
GRÜNEN) ordneten der F.D.P. - Zuruf vom BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN: Noch kein einziges Argu-
ment zum Transrapid!)
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Dr. Wolf,
Sie haben, wie mir von mehreren Seiten bestätigt Meine sehr verehrten Damen und Herren, heute
wird, in Ihrem Beitrag zwei Kollegen des Hauses als sind schon viele richtige Dinge genannt worden,
„Betonbolschewisten" bezeichnet. auch von Herrn Röhl. Aber wenn Sie, Herr Steen-
block, nicht zwischen einer Geschwindigkeit von
(Lisa Peters [F.D.P.]: Drei Kollegen!) 50 Kilometern in der Stunde und einer Geschwindig-
keit von 200 Kilometern in der Stunde unterscheiden
Dieser Ausdruck kann in einer parlamentarischen können, tun Sie mir leid. Denn es ist eindeutig nach-
Debatte nicht akzeptiert werden. Ich erteile Ihnen ei- weisbar: Die Geräuschemission des Transrapid be-
nen Ordnungsruf. trägt bei einer Geschwindigkeit von 200 ein Drittel
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, von der der herkömmlichen Rad-Schiene-Verbin-
der SPD und der F.D.P. - Beifall bei der dung.
PDS) (Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Aber der fährt nicht mit 200!)
Ich erteile nun dem Abgeordneten We rn er Kuhn
das Wort. Sie als Grüne müßten mich normalerweise umarmen
und sagen: Jawohl, endlich haben wir die richtige
Technologie.
Werner Kuhn (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Diese Debatte (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
ufert für meine Begriffe in Unsachlichkeit aus und
befaßt sich überhaupt nicht mehr mit dem eigentli- Ihre spezifische Energie ist umweltschonend, sie hat
chen Problem, neue Technologien in Deutschland geringere Schallemissionen.
einzuführen. (Elke Ferner [SPD]: Soll der mit 200 fahren?)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) - Ist ja in Ordnung, Frau Ferner. Ihr Rechenmodell
hinkt eh; denn Sie haben immer vergessen, daß die
Daß wir bei der Rad-Schiene-Technik absolut am Betreibergesellschaft für die Nutzungsgebühr im
Ende angekommen sind, sagt Ihnen jeder Fach- Fahrweg 2,4 Milliarden DM zahlt. Dann müssen wir
mann. nur noch 3,3 Milliarden DM finanzieren.
(Elke Ferner [SPD]: Was?)
Herr Steenblock, ich war über Ihren Beitrag hier eini- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege
germaßen bestürzt. Eine solche technische Naivität Kuhn, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
und derartiger kaufmännischer Dilettantismus haben Steenblock? -
mich vom Hocker gerissen. Wenn die Ingenieure und
Kaufleute vor 150 Jahren solche Berichte beim Bau Werner Kuhn (CDU/CSU): Von Herrn Steenblock
der Eisenbahn in Deutschland abgeliefert hätten, gern.
hätte der Kaiser die Eisenbahn verboten; denn es
gab ja genügend Pferdekutschen.
Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Das freut mich. - Lieber Kollege, sind Sie bereit, mir
Ernst Schwanhold [SPD]: Das hat aber noch zuzugestehen, daß man die erzeugten Lärmemissio-
nichts mit kaufmännischer Kompetenz zu nen der Betriebssysteme ICE und Transrapid nur
tun!) hinsichtlich ihres jeweiligen systemspezifischen Be-
5192 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
Rainder Steenblock
reichs vergleichen kann? Sie dürfen nicht ständig - Jawohl, die Zahl wird sich verzehnfachen. Da kön-
Äpfel und Birnen miteinander vergleichen, nen Sie sämtliche Fachleute noch einmal konsultie-
ren. Ich sage Ihnen: Intraplan als entsprechendes In-
(Elke Ferner [SPD]: Ja, das müssen Sie ge genieurbüro hat eindeutig unsere Aussage noch ein-
nau erklären, das versteht er sonst nicht!) mal bestätigt und gezeigt: Jawohl, die Prognose
sondern müssen von den Lärmemissionen, die ein 14,5 Millionen Menschen an Fahrgastaufkommen in
ICE und die ein Transrapid normalerweise im Bet rieb zehn Jahren ist absolut real. So werden wir auch pla-
erzeugen, also jeweils von den systembedingten Ge- nen und werden uns von Ihnen davon nicht abbrin-
schwindigkeiten ausgehen. gen lassen. Das Finanzierungskonzept steht eben-
falls.
(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Der (Dr. Barbara Höll [PDS]: Das stimmt nicht!)
ICE ist lauter, sagt der TÜV Rheinland!)
- Das stimmt!
Ich habe nichts anderes gesagt als das: Wenn man
die Lärmemissionen im Bereich der systembedingten (Dr. Barbara Höll [PDS]: Das ist unver-
Geschwindigkeiten vergleicht, dann ist der Transra- schämt!)
pid doppelt so laut wie der ICE. Wenn Sie es mit dem Umbau des Verkehrssystems
(Dr. Klaus Röhl [F.D.P.]: Das stimmt doch in Richtung Ökologie wirklich ehrlich meinen, darin
nicht!) müssen Sie einfach sagen: Der Umstieg aus dem
Flugverkehr ist sehr wichtig. Es wurde heute schon
gesagt: Die Expreßflüge, die wir haben, können wir
Werner Kuhn (CDU/CSU): Darüber lache ich ja. uns einfach nicht mehr leisten. Sie sagen doch selber
Eine Rad-Schiene-Verbindung ist formschlüssig; sie immer wieder: Kerosinbesteuerung, CO2-Erzeugung
alleine erzeugt schon Lärm. Beim ICE erzeugt zum usw.
einen der Luftwiderstand, der überwunden werden
(Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE
muß, durch das Entstehen von Turbulenzen und Ver-
GRÜNEN]: Die gehören auf die Schiene!)
wirbelungen Geräuschemissionen, zum anderen die
Rad-Schiene-Verbindung. Beim Transrapid fällt letz- - Aber die Magnetschwebetechnik ist doch eine
teres durch die Magnetschwebetechnik weg. Das Analogie dazu.
Magnetpolster ist absolut geräuschlos. Es muß nur
noch der Luftwiderstand - der natürlich Schallemis- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege
sionen erzeugt - energietechnisch überwunden wer- Kuhn, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
den.
(Elke Ferner [SPD]: Man kann nur sagen: Werner Kuhn (CDU/CSU): Ja, bitte.
Frage nicht verstanden!)
Dabei müssen Sie die gleichen Geschwindigkeiten Dr. Barbara HöII (PDS): Herr Kollege, heute war im
auf eine Basis setzen. Dann werden Sie sagen: Ja- Haushaltsausschuß genau der Verkehrshaushalt
wohl, der Kuhn hat recht. Thema der Beratung in der ersten Lesung, beglei-
tend dazu natürlich die Gesetze, die den Transrapid
(Beifall bei der CDU/CSU - Rainder Steen betreffen. Wären Sie bitte so freundlich, zur Kenntnis
block [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur zu nehmen, daß selbst im Gesetzestext steht, daß die
Unsinn, wirklich!) Finanzierung erst noch durch Vertrag vereinbart
werden muß. Es ist bisher nur ein Rahmen festgelegt,
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will der im Gesetz steht.
mich jetzt diesbezüglich nicht weiter über die Vor-
teile der Magnetschwebetechnik auslassen. Fakt ist (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist kein Wi-
einfach: Wenn jetzt nicht das Magnetschwebebahn- derspruch!)
planungsgesetz und das Allgemeine Magnetschwe- Aber es steht im Text, daß das erst vertraglich ausge-
bebahngesetz, nämlich für die Betriebszulassung, handelt werden muß. Bevor dies nicht geschehen ist,
hier zügig beschlossen werden, dann werden wir im würde ich mich an Ihrer Stelle hüten zu behaupten,
Know-how, in der High-Tech weiter an Boden verlie- daß die Finanzierung gesichert wäre.
ren.
Es ist Eile geboten. Die Zeit läuft uns davon. Wir Werner Kuhn (CDU/CSU): Sie sollen eine Frage
müssen letztendlich auch auf Passagierzahlen rea- stellen.
-
gieren, die sich in den nächsten zehn Jahren zwi-
schen diesen beiden Ballungsräumen Hamburg und Dr. Barbara Höll (PDS): Könnten Sie mir dazu bitte
Berlin entwickeln werden. Wir haben zur Zeit 1,5 bis Ihre Meinung sagen?
1,8 Millionen Passagiere, die im Regionalverkehr auf
der jetzt noch nicht einmal auf 160 Kilometer pro
Stunde ausgebauten ganz normalen Eisenbahn- Werner Kuhn (CDU/CSU): Passen Sie einmal auf:
strecke fahren. Diese Zahl wird sich verzehnfachen. Wir haben Rahmenbedingungen dafür beschlossen,
daß wir die Finanzierung und den Bau einschließlich
(Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE der Planung insgesamt in den nächsten zehn Jahren
GRÜNEN]: Quatsch! Das ist ein Märchen!) durchbekommen. Wenn Sie weiter die Blockierer
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5193
Werner Kuhn
spielen und tausend Einwände dagegen haben, ein- setze ich die knappen Mittel so intelligent ein, daß
mal hü, einmal hott, im Bundesrat zum Teil ja, dann erstens die zukünftige Leistungsfähigkeit unserer
wieder nein, dann werden wir nie dazu kommen, Verkehrssysteme ökonomisch und ökologisch opti-
diesen Rahmen auszugestalten und hinzubekom- mal erreicht wird und zweitens die dazu notwendi-
men. gen Innovationen für den Industriestandort
Deutschland ein weltweiter Erfolg werden?
Deshalb lade ich Sie herzlich dazu ein: Arbeiten
Sie mit daran, daß wir das Modell auch zusammenbe- Mit Ihrer Entscheidung, Herr Wissmann, die Ma-
kommen, ansonsten werden wir, gerade im Städte- gnetschwebebahn ausgerechnet zwischen Berlin
schnellverkehr, in der entsprechenden Städteschnell- und Hamburg fahren zu lassen, erweisen Sie dem In-
verbindung, weiter an Boden verlieren. Wenn Sie sa- dustriestandort einen Bärendienst.
gen: Der ICE ist enorm besser, ökonomischer, und
ich brauche dann auch nicht den Individualverkehr, (Zustimmung bei der SPD)
wie wollen Sie das denn hinbekommen? Selbst wenn Ich möchte Ihnen kurz darlegen, warum.
Sie eine Hochgeschwindigkeitsstrecke im ICE-Be-
reich bauen, Herr Steenblock, brauchen Sie immer Erstens. Die von der Projektlobby angenommene
noch die 14,5 Millionen Fahrgäste, die Sie transpor- Zahl von 14,5 Millionen verkauften Tickets im Jahre
tieren wollen. 2010 - das sind 40 000 pro Tag - ist illusionär.
(Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei Abgeordneten der SPD, des
GRÜNEN]: Der ICE ist doch billiger!) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
PDS)
- Natürlich müssen Sie sie haben!
Wenn Sie sich dazu unterschiedliche Zahlen von un-
(Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE terschiedlichen Instituten holen, soll das dem Schön-
GRÜNEN]: Quatsch!) rechnen Ihrer Darlegung der Wirtschaftlichkeit die-
Billiger? Auch da kommen die Leute mit ihrem Pkw nen. Ihr eigener Wissenschaftlicher Beirat hat die
angefahren, stellen sich auf den Parkplatz und stei- Zahl schon auf 11 Millionen Tickets korrigiert. Damit
gen um. fällt die gesamte Rentabilitätsrechnung in sich zu-
(Zurufe von der SPD) sammen.
- Von wegen Insellösung, Frau Ferner. Es ist keine Zweitens. Ihre Hoffnungen auf Tausende neuer Ar-
Insellösung. Oder werden Sie denn in der Sänfte im beitsplätze sind bereits von einer Studie der Deut-
Hamburger Bahnhof vom ICE in den Regionalexpreß schen Genossenschaftsbank als irreal bezeichnet
getragen? Genausogut können Sie doch umsteigen. worden. Wegen der EU-weiten Ausschreibungen ist
keineswegs sicher, daß die beteiligten deutschen Un-
(Beifall des Abg. Dr. Klaus Röhl [F.D.P.]) ternehmen den Löwenanteil des Milliardenprojektes
Das ist doch kompatibel. Etwas anderes kann mir unter sich aufteilen können.
doch keiner erzählen! Drittens. Der Transrapid ist ein Fremdkörper, nicht
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin nur im Übergang zur Eisenbahn, sondern auch ge-
am Ende meiner Rede. genüber den Verkehrssystemen der beiden Städte
wie S-Bahn und U-Bahn. Kommt der Autofahrer mit
(Elke Ferner [SPD]: Am Ende sind Sie in der dem Auto zum Transrapidbahnhof, wird es eng.
Tat!) Wenn die Hälfte der erwarteten 15 000 Passagiere
Lassen Sie uns die Transrapid-Projekte zügig in An- mit dem Auto käme, müßten an den Stadtrandstatio-
griff nehmen! Wir dürfen nicht anderen den Techno- nen jeweils mindestens 190 000 Quadratmeter für
logievorsprung überlassen. Eile ist geboten. Ich habe Parkflächen entstehen - ein städtebaupolitischer
es Ihnen gesagt. Uns läuft die Zeit weg. Schwachsinn.
Klaus Hasenfratz
solides Planungs- und Bedarfskonzept zu erstellen, Von der Vielzahl internationaler Systemvergleiche
können und wollen Sie nicht nachkommen; denn in Brasilien, Taiwan oder China hat der Transrapid
dann müßten Sie den verkehrs- und finanzpoliti- keinen einzigen gewonnen. Das sollten Sie sich ein-
schen Offenbarungseid leisten. mal zu Gemüte führen. Der Transrapid mag das Non-
plusultra für Nevada oder Australien sein, aber nicht
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) für die Strecke zwischen Hamburg und Berlin.
Fünftens. Sie zwingen die DBAG mit dem Transra- Man sollte sich noch einmal klarmachen, wie ab-
pid in die Rolle ihres eigenen Totengräbers. DIW-Be- surd es ist, fast parallel zu einer existierenden Eisen-
rechnungen zufolge drohen der Bahn durch Umstei- bahnlinie Betonpfeiler in den Boden zu rammen, auf
ger mögliche Umsatzausfälle von bis zu 300 Millionen dem ein „Neunmilliardending" mit einem Nachfra-
DM jährlich. Der Transrapid-Berechnung liegt ein gepotential verkehrt, das in irgendwelchen Wolken-
weitestgehend zurückgeschraubtes Bahnangebot zu- kuckucksheimen errechnet wurde.
grunde: ein Interregio-Takt von zwei Stunden - mehr
ist nicht mehr d rin. Die Bahn wird davon abgehalten, (Beifall bei Abgeordneten der SPD, des
für die Strecke Hamburg-Berlin ein vernünftiges, at- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
traktives Angebot für die nächsten Jahre zu entwik- PDS)
keln.
Ich frage Sie noch einmal: Wo um Himmels willen
(Elke Ferner [SPD]: Das ist geschäftsschädi sollen denn die Fahrgastmassen für dieses zusätzli-
gend!) che Verkehrsmittel herkommen, wenn sie jeden Zeit-
vorteil durch umständliche Zufahrts- und Zugangs-
Die Bürger von Hamburg und Berlin werden auf die- wege verlieren?
ser Strecke vom Schnellverkehrsschienennetz auf
Dauer abgekoppelt. Dies steht eindeutig im Wider-
spruch zur Bahnreform und wird garantiert durch Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Gestatten Sie
ausländische Anbieter konterkariert, etwa den Dä- eine Zwischenfrage des Kollegen Fischer?
nen oder den Schweden.
Klaus Hasenfratz (SPD): Ja.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Diese werden auf Grund der diskriminierungsfreien Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU): Herr Kollege
Zulassung Dritter zum Schienennetz mit der her- Hasenfratz, wie können Sie sich als Abgeordneter
kömmlichen Rad-Schiene-Technik die Strecke Ham- der SPD aus Nordrhein-Westfalen angesichts Ihrer
burg-Berlin bedienen. Sie werden uns dann vorfüh- doch sehr harten Philippika erklären, daß die neue
ren, wie man es macht. Landesregierung, gestellt von SPD und Grünen, die
ansonsten an Verkehrsfeindlichkeit kaum zu über-
Ich prophezeie Ihnen: Spätestens in zwei oder drei
bieten ist, in dieser Frage den beiden Gesetzen im
Jahren wird eine neue Diskussion vom Zaun gebro-
Bundesrat nicht ein Nein entgegengesetzt, sondern
chen. Eine alternative ICE-Verbindung zwischen den
sich lediglich der Stimme enthalten hat?
beiden Städten ist nur eine halbe Stunde langsamer,
aber bis zu 6 Milliarden DM billiger.
Klaus Hasenfratz (SPD): Es ist schon eigenartig,
(Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt doch daß Sie sich bei der Abstimmung der einzelnen Län-
nicht!) der immer die Pickmethode zu eigen machen: Wenn
Sie hängen der DBAG einen Klotz ans Bein. Die die Länder Ihren Gesetzentwürfen nicht zustimmen,
Bahn soll ihre Systemvorteile nicht nutzen, darf nicht sondern dagegen stimmen, dann erwähnen Sie diese
investieren und muß nach Ihrem Willen die Preise Länder überhaupt nicht. Wenn es Ihnen nach der
hochhalten. Am bösen Ende muß sie die Finanzlö- Pickmethode paßt, wenn sich ein Land enthalten hat
cher stopfen, die Sie mit Ihrem unseriösen Verhalten oder - wie Hessen - dafür gestimmt hat, dann treten
aufgerissen haben. Sie hier groß auf.
(Zustimmung bei der SPD) (Dr. Klaus Röhl [F.D.P.]: Das ist gerade das
Interessante am Verhalten der SPD!)
Die SPD hat daher beantragt, die Strecke Ham-
burg-Berlin auf keinen Fall von dem europäischen Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege
Hochgeschwindigkeitsnetz der Bahn abzukoppeln, Hasenfratz, gestatten Sie eine zweite Frage des Kol-
sondern auf eine Entwurfsgeschwindigkeit von legen Fischer?
200 km/h zu verbessern. -
(Zuruf von der F.D.P.: Welche SPD?) Klaus Hasenfratz (SPD): Ja, bitte.
Sechstens. Industriepolitisch ist das Referenzpro-
jekt Berlin-Hamburg äußerst kritisch zu bewe rt en. Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU): Herr Kollege
Ich sehe beim besten Willen nicht, daß das Ausland Hasenfratz, wollten Sie mit dieser Bemerkung zum
für den angeblichen Verkaufshit Schlange steht. Da Ausdruck bringen, daß im Kabinett Rau keine inhalt-
nicht zu erwarten ist, daß auf dieser Referenzstrecke liche Meinungsbildung zu dem Bundesratsvotum
alle nichttechnischen Ziele erreicht werden, muß die stattgefunden hat, sondern im Bundesrat rein nach
Sache nach hinten losgehen. dem Zufallprinzip votiert worden ist?
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5195
Klaus Hasenfratz (SPD): Nein, das meine ich nicht Dafür fehlt Ihnen das Geld, wenn Sie ein neues
damit. Milliardengrab für ein technisches Unikum schau-
feln, das wir nicht brauchen und das auch sonst kei-
ner wi ll . Wer wie Sie im zusammenwachsenden Eu-
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege ropa technische Insellösungen fördert, verhält sich in
Hasenfratz, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Wahrheit technikfeindlich.
Kollegin Ferner?
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
Elke Ferner (SPD): Herr Kollege Hasenfratz, kön- PDS)
nen Sie mir bestätigen, daß es im Bundesrat, um ei- Wir halten daran fest, daß das vorrangige ver-
nem Gesetz, einem Gesetzentwurf die Zustimmung kehrs- und industriepolitische Ziel in Europa sein
zu erteilen, auf Ja-Stimmen ankommt und daß Nein- muß, ein leistungsfähiges, vollkompatibles gesamt-
Stimmen genauso wie Enthaltungen keine Zustim- europäisches Schienennetz zu schaffen. Es hat mit
mung sind und so das erforderliche Quorum nicht zu- solider Finanzpolitik zu tun, wenn wir feststellen, daß
stande kommt? die finanziellen Risiken des Transrapids dem Steuer-
zahler aufgebürdet werden. Es ist vorausschauende
Industriepolitik, wenn wir sagen, daß auf Dauer der
Klaus Hasenfratz (SPD): Das kann ich bestätigen. internationale Markt für spurgebundene Hochge-
schwindigkeitssysteme von der Rad-Schiene-Tech-
(Elke Ferner [SPD]: Danke schön!) nik dominiert sein wird. Deshalb haben doch auch
Sie, Herr Wissmann, im Juli anläßlich des Besuchs
des chinesischen Staatspräsidenten den ICE in höch-
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Gestatten Sie sten Tönen gelobt - oder?
noch eine Frage des Kollegen Fischer?
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
Das ist auch richtig!)
Klaus Hasenfratz (SPD): Ja, bitte.
Sie sind in einem Erklärungszwang, wenn Sie den
ICE jetzt als die zweitbeste Lösung abstempeln. Wir
Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU): Herr Kollege haben gute Gründe, warum wir gegen den Bau einer
Hasenfratz, darf ich also Ihre Bemerkung so verste- 285 km langen und mindestens 9 Milliarden DM
hen, daß das Kabinett Rau mit Beteiligung von schweren Transrapid-Referenzstrecke zwischen
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD nach einer Hamburg und Berlin sind.
Meinungsbildung im Kabinett sehr bewußt das Bun-
desratsvotum so abgegeben hat, daß nicht mit Nein Ich stelle noch einmal fest: Die Bundesregierung
gestimmt worden ist, sondern daß man sich der stürzt sich in ein neues unseriöses finanzpolitisches
Stimme enthalten hat? Abenteuer. Alle Abweichungen von den Planannah-
men der sogenannten Wirtschaftlichkeitsberechnung
gehen zu Lasten des Steuerzahlers. Dieses überdi-
mensionierte Projekt ist verkehrspolitisch unsinnig,
Klaus Hasenfratz (SPD): Sie können noch hundert
in seinen finanziellen Risiken für den Steuerzahler
Fragen stellen, das können Sie trotzdem weder mir
nicht zu vertreten und indust ri e- und exportpolitisch
noch dem Ministerpräsidenten Rau unterstellen.
verfehlt.
(Dr. Klaus Röhl [F.D.P.]: Hic Rhodos, hic Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
salta!)
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
Ich frage Sie, Herr Wissmann: Wie wollen Sie das GRÜNEN und der PDS - Dr. Klaus Röhl
dringendste Verkehrsproblem - den Straßengüter- [F.D.P.]: Und die SPD wie immer auf der fal-
verkehr - lösen? Es ist doch vor allem der rasant zu- schen Spur!)
nehmende Straßengüterverkehr, der uns mehr und
mehr die Luft abschnürt. Nur das Rad-Schiene-Sy-
stem bietet die Chancen, die Güterströme langfristig Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile das
ökonomisch und ökologisch zu bewältigen. Wo rt dem Bundesminister für Verkehr, Matthias
Wissmann.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
PDS) Matthias Wissmann, Bundesminister für Verkehr:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist von
Um aber Güter von der Straße auf die Schiene und einigen Rednern von der SPD und dem BÜNDNIS 90/
das Binnenschiff zu bekommen, brauchen wir nicht DIE GRÜNEN der Eindruck erweckt worden - einer
nur ein leistungsfähiges Schienensystem, sondern hat gar das Wort „hinterwäldlerisch" gebraucht -,
auch neue Container- und Verladetechniken, neue wir würden eine provinzielle Entscheidung treffen.
Logistiksysteme. Kurz gesagt: viel Geld für zukunfts-
trächtige technologische und organisatorische Inno- (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/
vationen. Hier liegen unsere Exportchancen. DIE GRÜNEN]: Patent 1937!)
5196 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
E rn st Schwanhold
- Lassen Sie es einmal sein! Ich versuche doch, eine Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Minister
Antwort zu finden, auf die man sich verständigen Wissmann, Sie können dazu Stellung nehmen.
kann. Ich bitte Sie, dies nicht durch Zwischenrufe zu
unterbrechen. Sie können mir ja hinterher ant-
worten. Ma tt hias Wissmann, Bundesminister für Verkehr:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man
Dies scheint das eigentliche Standortrisiko der stellt bei den Ausführungen des Kollegen Schwan-
Bundesrepublik Deutschland zu sein. Das hat etwas hold fest, daß sich die Argumente der SPD ständig
mit kurzen Amortisationszeiten bei der Einführung auf unterschiedlichen Ebenen bewegen.
von Techniken zu tun. Es hat aber auch etwas mit
menschlichen Ängsten zu tun, die man nicht mit Re- (Elke Ferner [SPD]: Überhaupt nicht!)
den, wie Sie sie hier gehalten haben, abbauen kann. Die einen sind gegen die Technik an sich,
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Klaus Lennartz [SPD]: Wer? - E rnst
Schwanhold [SPD]: Wer hat das erzählt?)
Deshalb bitte ich Sie sehr herzlich, auf die anstehen-
den Probleme angemessen einzugehen und auch die - beispielsweise der Kollege Kuhlwein, der vorhin
ökonomischen Probleme so zu würdigen, daß sich und heute morgen im Haushaltsausschuß eine Philip-
die Menschen, die sich darüber Sorgen machen, pika gegen das Konzept des Transrapid gehalten
darin wiederfinden. hat -, die anderen stellen die Frage nach der be-
triebswirtschaftlichen Seite. Die Dritten stellen die
Ich mache noch eine Vorbemerkung: Ich bin für Frage nach der genauen Fahrtstrecke. Was soll ich
den Wettbewerb von Verkehrssystemen. Aber ich eigentlich hinter einer Sozialdemokratie vermuten,
bin nicht für einen Wettbewerb um Subventionen, die nach genau 20 Jahren Tests, nach mehreren Jah-
'wenn parallele Strecken gebaut werden, die zwangs- ren Streit über die Frage, wo die Strecke herlaufen
läufig beide in Defizite abgleiten müssen. soll, nach der Vorlage eines klaren Finanzierungs-
konzepts am Ende noch immer unfähig ist, eine klare
(Beifall bei der SPD) Antwort auf die anstehende Frage zu geben?
Deshalb: Suchen Sie nach einer Strecke, die sich ren- (Beifall bei der CDU/CSU)
tabel betreiben läßt. Es ist ein gutes Verkaufsargu-
ment, eine Strecke vorzuführen, die sich selbst trägt Meine Damen und Herren, ich bitte Sie darum:
und mit der man Geld verdienen kann. Entscheiden Sie, was Sie wollen, aber wechseln Sie
nicht ständig die Ebenen Ihrer Argumente!
Lassen Sie bitte die Bemerkung sein, daß die Be-
triebsräte zu Ihnen kommen und sagen, wir sollten (Elke Ferner [SPD]: Es gibt leider so viele
den Transrapid bauen. Natürlich kommen Betriebs- Argumente gegen die Strecke Berlin!)
räte auch zu uns und sagen, wir sollten dieses oder
Denn am Ende stellt sich auch die Modernisierungs-
jenes machen. Teilweise werden sie von den Unter-
frage der Sozialdemokratie in Deutschland.
nehmensleitungen geschickt, die in ihren eigenen
Unternehmen Mißmanagement bet rieben haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Was ist denn mit der DASA, was ist denn mit den Per-
sonalräten der Eisenbahn gewesen? Die sind doch zu
uns gekommen, aber nicht, weil es Probleme mit der Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich schließe
Technik gab, sondern weil es Probleme mit Mißma- damit die Aussprache.
nagement sowie damit gegeben hat, daß keine Be-
reitschaft bestand, die Eisenbahn zu entschulden Interfraktionell wird die Überweisung der Vorla-
und das Bet riebssystem von den Fahrwegkosten zu gen auf den Drucksachen 13/2345, 13/2346, 13/2570
befreien. und 13/2573 an die in der Tagesordnung aufgeführ-
ten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
Insofern bitte ich Sie sehr herzlich, dafür zu sorgen, verstanden? - Ich sehe und höre keinen Wider-
daß Technikakzeptanz hergestellt werden kann und spruch. Dann sind die Überweisungen so beschlos-
wir den Wettbewerb um intelligente Systeme eröff- sen.
nen und nicht versuchen, ihn zu erschlagen. Ich möchte noch mitteilen, daß die ursprünglich für
Nehmen Sie bitte die betriebswirtschaftlichen Ar- morgen als erster Punkt der Tagesordnung vorgese-
gumente außerordentlich ernst. Diese halte ich noch hene Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
nicht für ausgeräumt. SPD zu den Auswirkungen der Steuerausfälle auf die
Haushaltslage des Bundes, wie im Ältestenrat verein- -
Hinsichtlich der ökologischen Argumente würde bart, entfällt, weil das Thema in der heutigen Regie-
ich Herrn Röhl bitten, das, was er in der vergangenen rungserklärung des Bundesfinanzministers erörtert
Periode in der Enquete-Kommission, der er angehört worden ist.
hat, eigentlich hätte hören sollen, nachzulesen. Dann
hätten Sie vielleicht die eine oder andere Flanke Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 und den Zu-
nicht so offengelegt. satzpunkt 9 auf:
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne 6. Beratung des Antrags der Abgeordneten
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Klaus Lennartz, Friedhelm Julius Beucher,
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5199
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
Dr. Angelica Schwall-Düren, weiterer Abge- Dabei liegen die Fakten auf der Hand. Die Zusam-
ordneter und der Fraktion der SPD menhänge werden immer klarer. Wie neue Forschun-
gen ergeben, sind Schadstoffe in der Luft und im
Kindergesundheit und Umweltbelastungen
Wasser, Chemikalien in der Nahrung, Blei im Trink-
- Drucksache 13/1968 - wasser sowie Lärm und Streß in großem Umfang an
Überweisungsvorschlag:
der Entstehung von Krankheiten beteiligt.
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Die Bundesregierung hat seit 1987 etwa 60 Mil-
Ausschuß für Gesundheit (Federführung strittig) lionen DM in die Allergieforschung gesteckt. Inzwi-
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend schen sind fast acht Jahre vergangen. Nachfragen
beim Bundesumweltamt in Berlin ergeben allerdings,
ZP9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Vera daß noch immer keine präzisen Ergebnisse und Aus-
Lengsfeld, Gila Altmann (Aurich), Franziska wertungen vorliegen sollen. Oder sollen diese Ergeb-
Eichstädt-Bohlig, weiterer Abgeordneter und nisse verschwiegen werden? Soll verschwiegen wer-
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den, daß die Zahl seit der letzten Untersuchung be-
reits um das Vierfache gestiegen ist? Hier erwarten
Die Notwendigkeit von ökologischen Kinder-
wir von Ihnen, Frau Staatssekretärin, eine Antwort,
rechten; Gefährdung von Kindern durch Um-
warum Sie diese Daten verschweigen.
weltgifte
Die Forschung muß neu orientiert werden und ein
- Drucksache 13/2574 —
größerer Praxisbezug, etwa durch intensive Zusam-
Überweisungsvorschlag: menarbeit mit Organisationen wie der „Arbeitsge-
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit meinschaft allergiekrankes Kind" und anderen her-
Ausschuß für Gesundheit gestellt werden. Statt dessen flüchtet sich die Regie-
(Federführung strittig) rungskoalition in Hilfsargumentationen, die ihre Un-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für tätigkeit nur abstützen sollen. Forschungsdefizite
werden beklagt. Aber ein umfassendes Forschungs-
die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgese-
hen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so programm zum Thema Kindergesundheit und Um-
weltbelastungen ist nach wie vor nicht in Sicht.
beschlossen.
Dies gilt auch für die Erforschung von Zusammen-
Ich eröffne die Aussprache. Das Wo rt hat der Ab- hängen zwischen hohen gesellschaftlichen Anforde-
geordnete Klaus Lennartz. rungen wie der alltäglichen Reizüberflutung, schuli-
schem Leistungsdruck oder sozialer Desorientierung
und dem Konsum von Suchtmitteln wie Alkohol und
Klaus Lennartz (SPD): Herr Präsident! Meine sehr
Zigaretten.
verehrten Damen und Herren! Nach neuen Unter-
suchungen sind in den letzten Jahren bestimmte (Editha Limbach [CDU/CSU]: Und Ha-
Formen von Gesundheitsbeeinträchtigungen und schisch!)
Krankheiten in der jungen Generation sehr stark an-
gewachsen, insbesondere auch chronische Erkran- - Selbstverständlich, Frau Kollegin. Da werden Sie
kungen. Besonders im Bereich der Allergien sind meine Unterstützung haben. Ich wollte aber gern Ih-
alarmierende Entwicklungen eingetreten. Heute lei- ren Vorschlag aus der CDU/CSU-Fraktion hören,
den nach Erkenntnissen der Bielefelder Universität was von der strafrechtlichen Verfolgung freizuhalten
etwa 5 % der Jugendlichen eines Jahrgangs unter ist und was nicht.
Asthma. Weitere 5 % haben Neurodermitis. Etwa Rauchen ist unter Kindern und Jugendlichen sehr
10 % klagen über Heuschnupfen und fast 15 % über stark verbreitet. Ein Drittel der Jugendlichen von 14
andere allergische Erkrankungen. 70 % aller Kinder bis 17 Jahren bezeichnen sich als Gelegenheits- oder
leiden nach Erkenntnissen des Deutschen Kinder- sogar als ständige Raucher. Mehr als die Hälfte der
schutzbundes an psychosomatischen Beeinträchti- rauchenden Jugendlichen haben nach einer Studie
gungen. Immer mehr Kinder und Jugendliche leiden der Bundeszentrale für politische Bildung den Slogan
sogar unter Bluthochdruck. „Ich rauche gern" verinnerlicht. Gerade Kinder sind
aus ihrer unterlegenen gesellschaftlichen Situation
Gegenüber den 50er Jahren haben sich die Ver- heraus für eine Werbung mit dera rt igen Att ri buten
breitungsdaten von Kinderkrankheiten verdoppelt, besonders empfänglich. Deshalb müssen - ich sage
manche Wissenschaftler sprechen sogar von einer das sehr hart - die Schnittstellen zwischen Nikotin-
Verdreifachung. konsum und Kindern gekappt werden.
Bei den allergischen Erkrankungen handelt es sich Tabakwerbung ist auf die Produktinformation zu
eindeutig um Erkrankungen, die ihre Ursachen in beschränken. Um Kindern den Zugang zu Tabak zu
der Umweltverschmutzung haben. Allein - oder bes- erschweren, müssen Zigarettenautomaten aus dem
ser formuliert: mehr als - 1,5 Millionen Kinder leiden öffentlichen Straßenraum verschwinden.
an chronischen Halshautreizungen - Alarmsignale,
meine Damen und Herren, die sich zwar in wohlge- (Beifall bei der SPD)
setzten Worten zum Weltkindertag niederschlagen, Tabakprodukte dürfen grundsätzlich nicht an Min-
nicht aber in praktischer Arbeit dieser Bundesregie- derjährige abgegeben werden. Ich formuliere das
rung. sehr klar: Es muß ein Vergabeverbot für Tabakpro-
(Beifall bei der SPD) dukte ausgesprochen werden; sie dürfen nicht an
5200 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
Klaus Lennartz
Kinder weitergegeben werden. Es ist ein Ding der Meine Damen und Herren, ich darf einen Satz zi-
Unmöglichkeit, daß das noch immer der Fall ist, ob- tieren: „Auch dürfte keine politische Entscheidung,
wohl die gesundheitlichen Schäden und Risiken be- etwa in der Verkehrs- und Umweltpolitik, ohne
kannt sind. Rücksicht auf die Kinder getroffen werden. Die Zu-
(Beifall bei der SPD) kunft unserer Kinder muß Maßstab unserer Politik
sein. " Das ist richtig. Frau Bergmann-Pohl, dies kön-
Überall do rt , wo sich Kinder bevorzugt aufhalten, nen Sie Ihrer Ministe rin ausdrücklich mitteilen. Die-
muß ein striktes Rauchverbot herrschen. Dies gilt be- ser Satz steht. Aber ich bitte Sie: Dann handeln Sie
sonders für Spielplätze und auch für Schulen. Wir auch danach, was Sie auf dem Weltkindertag formu-
wissen heute, daß nicht nur Rauchen, sondern auch liert haben! Unterstützen Sie diesen Antrag, wie er
passives Mitrauchen zu großen Gesundheitsrisiken hier vorliegt! Gehen Sie auf diese Punkte ein, und
führt. halten Sie nicht nur Sonntagsreden am 26. September
Nicht vergessen werden darf in diesem Zusam- 1995!
menhang der Schutz des werdenden Lebens im Mut-
Meine Damen und Herren, in der Verfassung des
terleib vor gesundheitlichen Beeinträchtigungen.
Freistaates Bayern steht geschrieben: „Gesunde Kin-
Hier ist noch viel Aufklärungsarbeit nötig. Konkrete
der sind das köstlichste Gut eines Volkes." Danach
Schritte hierzu sind zur Zeit leider nicht absehbar -
sollten Sie handeln, meine Damen und Herren. Wir
ein Makel, der diese Koalition ja in vielen Politikfel-
sind der Anwalt der Kinder nicht nur am Weltkinder-
dern prägt.
tag, sondern an 365 Tagen im Jahr. Darum geht es.
Die SPD-Bundestagsfraktion bekräftigt deshalb
heute ihre Forderung nach mehr Aktion, nach mehr (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
Aufklärung, nach mehr konkretem Handeln auf dem ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Feld der Kindergesundheit. Wir sind fest davon über- und der PDS)
zeugt, daß ein Generationenvertrag über eine ge-
sunde Umwelt und über intakte Lebensbedingungen
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile das
mit unseren Kindern erforderlich ist, wenn die übri-
Wort der Kollegin Editha Limbach.
gen Generationenverträge morgen überhaupt noch
akzeptiert werden sollen. Ich spreche hier von den
ökologischen Kinderrechten, die von uns förmlich
Editha Limbach (CDU/CSU): Herr Präsident!
eingeklagt werden müssen. Hier geht es darum -
Meine Damen und Herren! Vor einigen Wochen
und wir bitten Sie, sich auch dazu zu bekennen -,
nahm ich an einer Podiumsdiskussion teil, bei der es
wie Sie dazu außer in Ihren Reden zum Weltkinder-
auch um solche Fragen ging. Dort berichtete ein Kin-
tag stehen.
derarzt von einer Untersuchung, bei der Kinder in
Die junge Generation von heute ist die Gesellschaft den Vereinigten Staaten von Amerika und Kinder in
von morgen. Wir sind der Auffassung, daß sich eine der Bundesrepublik Deutschland befragt wurden.
positive Zukunftshaltung unserer Kinder, eine posi- Sie wurden nicht danach befragt, wie sie sich verhal-
tive Grundhaltung zur Technik nur fördern lassen, ten, was sie machen, wie sie mit ihren Eltern zurecht-
wenn die konkrete Umwelt unsere Kinder nicht krank kommen, sondern sie wurden schlicht und einfach
machen wird. Ansonsten besteht doch förmlich eine gefragt: Was fällt dir beim Stichwort Gesundheit ein?
Angst vor der Zukunft. Hier gilt es, Akzeptanz zu
schaffen, umzudenken, und zwar gemeinsam. Den amerikanischen Kindern fiel ein: kein Junk
food essen, nicht soviel Fernsehen gucken - ich sagte
(Beifall bei der SPD) ja, sie wurden nicht gefragt, ob sie es tun oder nicht,
sondern sie wurden gefragt, was ihnen einfällt -, viel
Die SPD-Bundestagsfraktion fordert deshalb heute draußen spielen, Spo rt treiben. Und was fiel den
die Bundesregierung auf, ein umfassendes For- deutschen Kindern ein? Arzt, Krankenhaus, Apo-
schungsprogramm „Kind, Gesundheit und Umwelt" theke, Sp ritze, Krankenschwester.
aufzulegen, um die ökologischen Kinderrechte auf
ein gesundes Leben zu verwirklichen. Wir fordern als Ich meine, das zeigt etwas, was mit dem heute zu
ersten Schritt die Einrichtung einer Informations- behandelnden Thema zu tun hat. Unabhängig da-
und Datensammelstelle beim Umweltbundesamt. von, wie sie sich verhalten, wissen amerikanische
Kinder offenbar besser, was ihrer Gesundheit guttut
Wir fordern eine umweltmedizinische Wirkungs-
als deutsche Kinder. Das ist aber nicht allein Schuld
forschung, z. B. durch die Aufstellung entsprechen-
der Politik, sondern das ist natürlich auch Schuld der
der Wirkungskataster durch ein Monitoringpro-
Eltern, der Umwelt, des Fernsehens; da kann man
gramm zur Erhebung der Gesundheitsdaten, die öf-
jetzt eine ganze Menge Leute und Faktoren aufzäh-
fentlich zugänglich zu machen sind.
len.
Wir fordern eine Qualitätskennzeichnung für kin-
dergerechte Nahrungsmittel. Ich denke z. B. auch an Ich hatte nur so ein bißchen den Eindruck, als hät-
den „Blauen Engel" für dera rtige Produkte. Darum ten die Kinder in Amerika den Gesundheitsbericht
geht es doch. der Europäischen Kommission gelesen, in dem über
die Determinanten, also die Dinge, die die Gesund-
Dies sind nur einige Punkte aus unserem Antrag, heit bestimmen, folgendes steht. Negativ: Mißbrauch
den wir Ihnen heute mit 27 Punkten vorlegen. Die von Alkohol, von Tabak, von Drogen, von Arzneimit-
Gesundheit unserer Kinder sollte uns das we rt sein. teln, zu wenig Bewegung und falsche Ernährung.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5201
Editha Limbach
Und positiv dann natürlich genau das Umgekehrte - Eltern eine große Rolle. Wie sonst soll das gemacht
darunter sind viele Faktoren, die in der Fami lie eine werden?
Rolle spielen -: Zuwendung, Interesse, sich beheima-
tet fühlen und viele Dinge, die in einer Gesellschaft (Beifall bei der CDU/CSU - Klaus Lennartz
eine Rolle spielen, ob man nämlich die Kinder ver- [SPD]: Sie können es technisch lösen!)
jagt, weil sie ein bißchen Lärm machen, oder ob man Ich will Ihnen einmal etwas sagen: Wenn es bei-
in der Gaststätte fast Angst haben muß, ein Kind bei spielsweise so außerordentlich schwer ist, den
sich zu haben, weil es ja vielleicht kleckern oder den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz durch-
Ober einmal dumm angucken könnte. Gerade wenn zusetzen, dann wundere ich mich nicht, daß manche
man die Umwelt betont, muß man diese sehr umfas- Eltern, durch alle möglichen Dinge überlastet, in ih-
send betrachten. Ich selbst tue dies. rer Verzweiflung die Kinder gelegentlich einmal eine
Ich habe mich etwas gewundert, Herr Lennartz, Stunde vor den Fernseher setzen, um sie ruhigzustel-
daß Sie in Ihrem Antrag zu diesem Thema, das natür- len. Hätten wir z. B. genügend Kinderbetreuungs-
lich und richtigerweise hochemotional ist, weil Um- plätze, hätten die Kinder wenigstens in der Zeit ge-
welt und Kindergesundheit zusammentreffen, arg nug andere Anregungen und müßten nicht vor das
negativ begonnen haben. Ich finde, daß man immer Fernsehgerät gesetzt werden.
dann, wenn man den Leuten erst Angst macht und (Beifall bei der CDU/CSU)
anschließend sagt, was man dagegen macht, wenig
Echo findet. Kommen wir nun zu etwas anderem. Sie haben ge-
sagt, Sie wüßten praktisch schon, welche Umwelt-
(Klaus Lennartz [SPD]: Frau Kollegin, stim
schäden auf die Gesundheit einwirkten. Allerdings
men meine Zahlen, oder stimmen sie nicht?)
haben Sie gesagt, es müsse mehr erforscht werden.
Ich hätte mir gewünscht, Sie hätten darauf hinge- Das ist wahr. Wenn man aber auf der einen Seite
wiesen, daß z. B. die Kindersterblichkeit Gott sei sagt, da muß viel mehr erforscht werden, auf der an-
Dank und erfreulicherweise enorm zurückgegangen deren Seite aber schon weiß, welche Folgen auftre-
ist. Ich hätte mich auch gefreut, wenn Sie darauf hin- ten, dann frage ich mich: Wie ernst ist Ihnen eigent-
gewiesen hätten, daß wir durch Vorsorgeuntersu- lich das eine oder das andere?
chungen, Impfschutzmaßnahmen und dergleichen
auf vielen Gebieten im Umgang mit Kinderkrankhei- Wenn ich das richtig gelesen habe, hat der Aus-
ten sehr viel weiter sind, als es der Fall war, als wir schuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Techno-
kleine Kinder waren. Dann hätte ich gesagt: Heute logie und Technikfolgenabschätzung auf Anregung
aber haben wir neue Gefährdungen, über die wir des Umweltausschusses das Büro für Technikfolgen-
nachdenken müssen, und zwar präventiv. Deshalb ist abschätzung beauftragt, eine Studie zu einem Pro-
es richtig, wenn wir sagen: Auch eine gesunde Um- jekt „Umwelt und Gesundheit" zu entwickeln. Die
welt gehört zu den Voraussetzungen, damit Kinder Ergebnisse sollen im Mai 1996 vorliegen. Ich wäre
und Erwachsene gesund leben können. froh, es kämen solche Ergebnisse dabei heraus, daß
wir uns anschließend gemeinsam im Deutschen Bun-
Ich bin aber ein bißchen traurig über Ihren Antrag, destag daranmachen könnten, daraus Folgerungen
weil ich dachte, wir hätten uns gemeinsam einige zu ziehen und diese dann auch umzusetzen.
kluge Schritte vornehmen können.
Natürlich haben Sie auch einige Punkte dargelegt,
(Klaus Lennartz [SPD]: Machen Sie ein paar bei denen wir völlig mit Ihnen übereinstimmen:
Vorschläge!) Grenzwerte beim Trinkwasser, Grenzwerte in ande-
ren Bereichen. Selbstverständlich ist das dringend
In diesem Antrag stehen eine ganze Menge von nötig. Das ist auch eine staatliche Aufgabe. In Erfül-
Punkten. Dort ist einfach alles, was nur geht, zusam- lung dieser Aufgabe setzt sich die Bundesregierung,
mengepackt. vom Bundestag unterstützt, auf der europäischen
Ich möchte hier keineswegs alle diese Punkte be- Ebene für vernünftige Regelungen ein. Das ist alle-
urteilen, nehme aber einmal einen Punkt heraus, und mal besser, als wenn wir nur versuchten, etwas natio-
zwar Punkt 18: nal zu entwickeln und dies überall sonst nicht so
funktioniert.
Maßnahmen gegen die ständig zunehmende
Reizüberflutung von Kindern müssen ergriffen Genauso richtig ist Ihre Anregung bezüglich der
werden. Kinder im Alter von zehn Jahren sehen Ausbildung der Mediziner, mehr zur Umweltmedizin
durchschnittlich zweieinhalb bis drei Stunden überzugehen.
pro Tag fe rn . -
(Friedhelm Julius Beucher [SPD]: Danke!)
Das ist leider wahr. Ich frage mich aber: Was soll
denn die Bundesregierung dagegen machen? Soll sie - Selbstverständlich ist das richtig. Wie Sie aber wis-
verbieten, daß Kinder fernsehen? Dann müßten wir sen, bestimmt nicht die Bundesregierung und auch
in jedem Haushalt jemanden neben das Fernsehge- nicht der Bundestag per Gesetz darüber, was in die-
rät stellen, der aufpaßt. sem Bereich passiert. Das heißt, wir müssen auf allen
Ebenen dafür sorgen, daß das erfolgt.
(Klaus Lennartz [SPD]: Quatsch!)
Sie können nicht einfach hierherkommen und im
Bei dieser Frage spielen Erziehung, ein anderes in Bundestag den Eindruck erwecken, als könne und
teressantes Angebot und übrigens auch Hilfen für müsse die Bundesregierung bzw. der Bundestag in
5202 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
Editha Limbach
allen Feldern, vor allem auch do rt, wo sie bzw. er es - Ja, das will ich Ihnen sofort sagen. Es gibt viele
gar nicht kann, tätig werden. hunderttausend Vorschriften für einen Spielplatz mit
der Folge, daß er so sicher eingerichtet wird - ich
(Klaus Lennartz [SPD]: Es muß doch einmal weiß, daß da Haftungsgründe eine Rolle spielen; da-
ein Anstoß gegeben werden, Frau Kolle für war ich lange genug in der Kommunalpolitik tä-
gin!) tig -, daß das Kind ein normales Verhalten - wenn es
Es gibt eine Menge Punkte in Ihrem Antrag - ich stolpert, rutscht, fällt oder sonst etwas - gar nicht
führe sie jetzt nicht einzeln auf -, wo es heißt: in Be- mehr lernt. Ich kenne keinen Baum, der gleichmäßig
nehmen mit den Ländern. Wenn man einmal genau dicke Äste hat, die kein bißchen dicker sein dürfen.
hinschaut, dann stellt man fest, daß es sich gerade Ich fände es viel schöner, wenn man den Kindern auf
um Länderaufgaben handelt. Über die Gesundheits- die Spielplätze Bäume setzte, auf denen man herum-
erziehung in der Schule können wir hier im Bundes- klettern darf und, weil man nicht so hoch klettert,
tag soviel reden und uns so einig sein, wie wir wol- sich allenfalls das Knie aufschürft, wenn man einmal
len. Ich glaube auch, wir sind uns einig. Wenn das herunterfällt.
aber auf der Länderebene von den Kultusministern
nicht umgesetzt wird, dann stehen wir da. Ich habe das nur gesagt, weil ich denke, daß vieles
von dem, was Sie beklagen, auch eine Folge dessen
(Beifall der Abg. Ilse Falk [CDU/CSU]) ist, wie wir uns als Erwachsene und als Verantwort-
liche innerhalb der Politik, aber auch außerhalb der
Wir können hier beschließen, was wir wollen, weil Politik auf die Situation von Kindern einstellen und
nicht wir die Kompetenz haben, sondern andere. diese erleichtern. Da gibt es den Bereich, in dem wir
gesetzliche Möglichkeiten haben. Da gibt es den Be-
Ich meine, es gehört auch zur Fairneß, daß man in
reich, in dem wir mit Einfluß ausüben können. Da
einen solchen Antrag nach Möglichkeit nicht alles
gibt es den Bereich, in dem Länder oder Kommunen
Wünschenswerte hineinschreibt, sondern sehr kon-
gesetzliche Möglichkeiten haben. Und es gibt auch
kret sagt: Da ist der Punkt, für den wir verantwortlich
den Bereich, in dem Eltern, Erzieher, Verwandte
sind, und das wollen wir machen.
selbst verantwortlich sind. Das trifft auch für Rau-
Deshalb, meine ich, ist es zwingend erforderlich, chen, Trinken, Medikamentenmißbrauch und der-
daß wir uns in den Ausschüssen mit diesen Punkten gleichen zu.
befassen, damit wir wirklich zu dem Ergebnis kom-
men, das wir für unsere Kinder brauchen. Deshalb, meine ich, sollte man nicht, wie Sie das
gemacht haben, immer wieder sagen, die Regierung
Weil Sie so sehr auf die Umwelt hingewiesen ha- müsse dieses und jenes tun, sondern statt dessen sa-
ben, möchte ich folgendes sagen: Aus dem Be richt gen, was wir alle gemeinsam auf allen Ebenen, auf
der EU-Kommission geht hervor, daß die häufigste denen wir Verantwortung haben, tun müssen, damit
Todesursache bei Kindern im Alter zwischen einem auch in Zukunft die Berichte, die wir über die Ge-
Jahr und 14 Jahren Unfälle sind. sundheit unserer Kinder bekommen, so sind, daß wir
uns freuen können, daß heute mehr Kinder gesund
(Klaus Lennartz [SPD]: Ein trauriger Rekord sind als vor vielen, vielen Jahren.
in der Bundesrepublik! 53 000 Unfälle pro
Jahr!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
- Ja, und das hängt durchaus mit der Umwelt zusam-
men, weil es natürlich auch Unfälle in den Räumen
gibt, in denen Kinder spielen, auf den Straßen, auf Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile der
denen sie sich aufhalten. Aber bis zum fünften Le- Kollegin Vera Lengsfeld das Wo rt .
bensjahr finden die meisten Unfälle von Kindern zu
Hause statt.
Auch da frage ich mich: Sind das alles Dinge, die Vera Lengsfeld (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr
wir als Bundestag beschließen können? Natürlich Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen!
können wir beschließen: Es finden ab sofort keine Frau Kollegin Limbach, ich muß wirklich sagen, daß
Unfälle mehr statt! mich Ihre Rede fassungslos gemacht hat. Sie hat
mich fassungslos gemacht, weil Sie sich hier hinstel-
(Klaus Lennartz [SPD]: Das ist doch len und so tun, als debattierten wir dieses Thema das
Quatsch!) erste Mal in diesem Hohen Hause. Tatsache ist aber,
daß wir die gleichen Anträge vor zweieinhalb Jahren
- Ja, natürlich ist das Quatsch, Herr Lennartz. Des- schon einmal auf der Tagesordnung hatten. Die-
halb sage ich es ja auch. Aber so etwas könnte man große Schande dabei ist, daß ich meine Rede, die ich
Ihrem Antrag gelegentlich entnehmen. im Mai 1993 gehalten habe, hier wortwörtlich wie-
Nein, wir müssen dazu beitragen, daß die Unfall- derholen könnte, und sie hätte nichts an Aktualität
gefahr gemindert wird. Das gehört auch zur Umwelt. eingebüßt.
Aber da frage ich mich z. B. auch, ob nicht manche
Regelung auf Landesebene eher zu Unfällen bei- Dann stellen Sie sich hier hin und sagen: Warum
trägt, statt sie zu verhindern. handelt ihr denn nicht? Die Einzelfallstudien sind
alle da, die Daten kennen wir. - Aber wenn Sie die
(Klaus Lennartz [SPD]: Wo denn?) Daten kennen, was hat Sie dann veranlaßt, zweiein-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5203
Vera Lengsfeld
halb Jahre lang untätig zu bleiben? Sie stellen doch genüber unser aller Kinder gerecht werden will,
die Regierung. dann brauchen wir nicht irgendwelche Reparaturen,
sondern den ökologischen Umbau der Industriege-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sellschaft.
sowie bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wie kommen Sie dazu, uns ständig Schwarzmale-
rei vorzuwerfen und zu sagen, wir würden die Situa- Es ist klar, daß hinter ökologischen Kinderrechten die
tion zu negativ beschreiben? Es ist doch eine Tat- Frage nach den Prämissen der Industriegesellschaft
sache, daß die schleichende Vergiftung der Kindheit und nach den Grundlagen der politischen Ethik
gravierende Folgen bei der heranwachsenden Gene- steht. Ich will das einmal sagen, um die Dimension
ration hat. Es ist doch keine Schwarzmalerei, son- deutlich zu machen, um die es geht.
dern Tatsache, daß 10 bis 15 Prozent der Kinder an Wenn wir uns darüber klar sind, daß wir in diesen
Asthma erkrankt sind und daß sich die Zahl der an Dimensionen zu denken haben, dann hinde rt uns
Asthma erkrankten Kinder in den vergangenen Jah- das doch keineswegs daran, konkrete erste Schritte
ren mehr als verzehnfacht hat. vorzuschlagen. Ich kann nur wiederholen: Wir haben
das bereits vor zweieinhalb Jahren getan. Wir haben
Es ist doch einfach eine Tatsache, daß rund das unter anderem deswegen getan, we il wir eine
10 Prozent aller Kinder unter Bronchitis leiden und tiefe Mitverantwortung für das fühlen, was unseren
daß 11 Prozent der Zehnjährigen bereits Heuschnup- Kindern passiert. Weil wir gemerkt haben, daß die
fen haben und jedes zweite Kind bei Allergietests Regierungskoalition unfähig ist, mit den entspre-
empfindliche Reaktionen zeigt. chenden Vorschlägen zu kommen, haben wir als
Opposition entsprechende Vorschläge gemacht. Sie
Es ist keine Schwarzmalerei, sondern Tatsache,
hätten diese Vorschläge aufgreifen können, und wir
daß 1,2 Millionen Kinder an Neurodermitis leiden
hätten dann heute auf einem ganz anderen Niveau
und sich die Zahl der Kinder, die an dieser chroni-
diskutieren können, z. B. über die Umsetzung dieser
schen Hautreizung erkrankt sind, seit 1975 verdop-
Vorschläge und darüber, was sie gebracht haben.
pelt hat. In München haben mittlerweile 11 Prozent
der Schulanfänger Neurodermitis; in Hamburg sind (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
es sogar 20 Prozent. und bei der SPD)
Es ist keinerlei Schwarzmalerei, wenn man diese Weil aber das alles nicht passiert ist und we il Sie,
Tatsachen einmal nennt. Man kann das doch nicht Frau Kollegin Limbach, eingefordert haben, wir soll-
wegdiskutieren, indem man sagt: Die Kindergesund- ten unserer Verantwortung gerecht werden, wi ll ich
heit hat sehr viel mit Umwelt und auch mit der Ihnen sagen, was unsere Fraktion als erste Schritte -
Schadstoffbelastung zu tun. Das ist alles richtig. Bloß: aber wirklich nur als erste Schritte - vorschlägt. Das
Wo sind denn Ihre CDU-Stadträte, wenn es um hätten Sie übrigens auch unserem Antrag entneh-
Tempo 30 in Wohngebieten geht men können; aber ich sage es hier noch einmal.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Wir brauchen als erstes verbindlich einklagbare
Editha Limbach [CDU/CSU]: In Bonn gilt Vorsorgewerte für alle Umweltschadstoffe, die den
Tempo 30 in Wohngebieten, bei CDU-Mehr Schutz der Kinder garantieren. Diese Vorsorgewerte
heit eingeführt!) müssen Langzeiteffekte, Kombinationswirkungen
und kurzzeitige Spitzenwerte sowie die besondere
aus Sorge um die Abgasbelastung, der Kinder ausge- Empfindlichkeit der Kinder berücksichtigen. Die
setzt sind? Denn Kinder schlucken auf Grund ihrer Schadstoffe müssen do rt gemessen werden, wo die
geringeren Größe ein Zigfaches der Menge an Abga- Kinder ihnen ausgesetzt sind, und zu Zeiten, zu de-
sen, die Erwachsene einatmen. nen Kinder hauptsächlich unterwegs sind.
Ich frage mich wirklich seit zweieinhalb Jahren, Ärzte, Krankenschwestern und Medizinstudenten
was Sie daran hindert, diese Probleme endlich zu er- müssen für die Behandlung allergologischer und um-
kennen und zu handeln. Ich muß sagen, daß ich nach weltbedingter Kinderkrankheiten aus- und weiterge-
Ihrer Rede diese Frage immer noch nicht beantwor- bildet werden. Wir halten für Kinderärzte eine toxi-
ten kann. Ich halte es für eine typische Reaktion der kologische Grundausbildung für notwendig.
Regierungskoalition, daß damals in der Debatte Herr Versorgungseinrichtungen, auch mobile Umwelt-
Rüttgers folgenden Zwischenruf fabriziert hat: „Das stationen, zur Behandlung von Kindern und Jugend-
Leben ist halt lebensgefährlich!" Das ist eigentlich lichen müssen eingerichtet und Selbsthilfegruppen -
eine Äußerung, die ihn nicht gerade als Zukunfts- für umweltgeschädigte Kinder gefördert werden.
minister qualifiziert.
Schließlich müssen die Daten über die Belastung
(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ der Kinder durch Umweltgifte endlich, wie wir auch
DIE GRÜNEN]: Zynisch!) schon vor zweieinhalb Jahren gefordert haben, an
zentraler Stelle gesammelt und ausgewertet werden.
Ich gebe gerne zu, daß wir es mit einem Problem
zu tun haben, das nicht sehr einfach zu lösen ist; Ich fordere auch noch einmal das Langzeitfor-
denn wenn man ökologische Kinderrechte wirklich schungsprogramm „Kind und Umwelt" ein, das auch
ernst nimmt und wenn man der Verantwortung ge- längst hätte in Gang gesetzt werden müssen.
5204 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
Vera Lengsfeld
Frau Kollegin Limbach, da Sie gesagt haben, daß die, wie ich nach wie vor finde, der Sache gerecht
die Regierungskoalition in Zukunft tätig werden will, wird. Deswegen bin ich der Meinung, daß es einfach
bin ich optimistisch, daß Sie diese Forderungen nun- nicht redlich ist, solche Sachen noch einmal aufzu-
mehr aufgreifen werden, und freue mich auf die De- führen.
batte in den Ausschüssen.
Es zeigt sich auch, daß Sie - wir haben zum Ozon-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gesetz sogar eine Anhörung im Umweltausschuß
und bei der SPD und der PDS) durchgeführt - gegenüber vernünftigen Gründen
überhaupt nicht aufgeschlossen sind, daß Sie über-
haupt nicht bereit sind zuzuhören. Es gibt für Tempo-
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile der limits zur Reduzierung bodennahen Ozons keine
Kollegin Birgit Homburger das Wort. wissenschaftliche Grundlage. Das haben wir in die-
sem Plenarsaal mehrfach diskutiert, in der Anhörung
diskutiert, im Umweltausschuß diskutiert. Und den-
Birgit Homburger (F.D.P.): Herr Präsident! Liebe noch betreibt die SPD permanent weiter den Versuch
Kolleginnen und Kollegen! Die Anträge - es ist von der Volksverdummung, weil sie ständig ohne halt-
meiner Vorrednerin schon gesagt worden - sind nicht bare wissenschaftliche Grundlage Einschränkungen
neu. Vor allem der Antrag der SPD ist zu fast 100 % verhängen will.
aus der letzten Legislaturpe riode übernommen. Das Ziel, die Gesundheit der Kinder stärker zu
schützen, ist, wenn es ernsthaft verfolgt wird, sicher-
(Klaus Lennartz [SPD]: Sie wissen doch wie lich viele Überlegungen we rt . Dem verschließen wir
das ist, wenn eine Legislaturpe riode zu uns überhaupt nicht.
Ende ist! - Weiterer Zuruf von der SPD:
Quatsch!) (Beifall bei der F.D.P.)
- Ich habe mir das sehr wohl angeschaut. Ich kann Schließlich ist die Feststellung richtig, daß Erkran-
Ihnen auch die Drucksachennummer nennen. Ich kungen bei Kindern, z. B. Allergien oder Atemweg-
kann es Ihnen hier vorführen. Das ist nicht wortwört- erkrankungen, zunehmen. Häufig sind solche Er-
lich abgeschrieben. Sie haben zumindest soviel Krea- krankungen aber nicht auf eine einzige Ursache oder
tivität bewiesen, daß Sie es etwas umgeschrieben ha- einen Schadstoff zurückzuführen.
ben, aber inhaltlich ist es das gleiche geblieben. Das (Vera Lengsfeld [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
ist jedenfalls festzuhalten. Damals ist dieser Antrag NEN]: Eher einen Schadstoffmix!)
nach Beratung abgelehnt worden. Ich muß mich
manchmal wirklich fragen, was hier alles noch ein- Gerade bei Allergien, die häufig unerkannt bleiben,
mal eingebracht wird, ob wir vielleicht eine A rt Be- ist oft schwer der Allergieauslöser herauszufinden.
schäftigungsprogramm brauchen.
Vermehrt werden umweltbedingte Faktoren als
Ich sage Ihnen ganz deutlich: Ich habe den Ein- mögliche Ursachen für Erkrankungen in Betracht ge-
druck, daß es Ihnen bei diesem Antrag nicht um die zogen. Aber auch hier ist Vorsicht geboten, denn die
Sache geht, sondern um Aktionismus. Das kann man Wissenslücken sind noch zu groß, als daß man die
auch an einzelnen Stellen ganz klar nachweisen. Zunahme von Erkrankungen auf einzelne Faktoren
zurückführen könnte.
(Vera Lengsfeld [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Zu der ersten Forderung im SPD-Antrag sage ich:
NEN]: Lächerlich! - Editha Limbach [CDU/ Datensammelstellen gibt es teilweise schon. Die Kol-
CSU]: Den Eindruck habe ich auch!) legin Limbach hat das Nötige zu einem entsprechen-
den Auftrag an das TAB auch schon ausgeführt. Inso-
Wenn Sie von der SPD schon der Meinung sind, ei- fern kann man nicht sagen, daß wir hier überhaupt
nen alten Antrag noch einmal aufwärmen zu müssen, nichts getan hätten.
dann aktualisieren Sie ihn doch wenigstens! Damit
meine ich vor allem die Forderung nach einer Som- Es wurde auch gerade auf einem Allergiekongreß
mersmogverordnung. Als Sie Ihren Antrag stellten, in Bad Lippspringe klargestellt, daß vor allen Dingen
war das Ozongesetz bereits vom Deutschen Bundes- Hausstaubmilben zu den häufigsten Auslösern aller-
tag verabschiedet worden. Es war auch abzusehen, gischer Atemwegerkrankungen wie Asthma und
daß es mit der Mehrheit der SPD-geführten Bundes- Schnupfen gehören. Diese Parasiten findet man in
länder im Bundesrat ein paar Tage später eine Mehr- nahezu allen Wohnbereichen, vor allem aber in Tep-
heit bekommen würde. Sie greifen hier also etwas pichböden, wo bis zu 10 000 Milben pro Quadratme-
auf, was längst verabschiedet wurde, zwar nicht mit ter leben. Ich sage dazu: Es ist unsere moderne Zivili- -
Ihren Ideen, nicht mit Ihren Werten, sation, es sind unsere Wohnungsansprüche, die die
Ausbreitung solcher Allergien begünstigen,
(Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Damit ist das
Problem aber nicht gelöst!) (Vo rs it z : Vizepräsident Hans-Ulrich Klose)
weil mit mehr Wohnraum natürlich auch mehr Bela-
aber es ist von uns eine Lösung gefunden worden, stung durch solche Schädlinge besteht. Das muß
man einfach sehen.
(Vera Lengsfeld [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
NEN]: Aber keine kindergerechte, Frau (Lachen bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/
Kollegin!) DIE GRÜNEN und der PDS)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5205
Birgit Homburger
Die Umweltbelastungen in den letzten Jahren sind gungsmitteln, Lacken, Teppichmaterialien, Möbeln
geringer geworden. Es ist nicht richtig, daß wir nichts und Spielzeug darauf achten können, daß diese
getan haben. schadstoffarm oder schadstofffrei sind. Dazu können
wir sie aber nicht zwingen.
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Natürlich haben Sie auch recht, wenn Sie in Ihrem
Das hat die Bundesregierung in der Antwort auf die
Antrag feststellen, daß Eltern unverantwo rt lich han-
Große Anfrage der SPD 1993 bereits ausgeführt. Die
deln, die ihre Kinder dem Passivrauchen aussetzen.
Schadstoffeinträge in die Luft, in das Wasser, in den
Hier gibt es überhaupt keinen Dissens, aber das Rau-
Boden und in Lebensmittel sind erheblich zurückge-
chen im Haus oder im Auto wollen wir doch nicht
gangen. Dies gilt für eine ganze Reihe von Schadstof-
verbieten. Kontrollieren könnten wir das sowieso
fen, und das können Sie in der Antwort der Bundes-
nicht. Deswegen verstehe ich nicht, was Sie do rt auf-
regierung auf Ihre Anfrage nachlesen.
geschrieben haben. Ich füge noch hinzu: Wie verhält
Diese rückläufige Entwicklung spiegelt sich in es sich eigentlich mit Ihrer Forderung in Punkt 17, es
den Belastungen der Menschen wider. Es wird z. B. sei eine Lärmbegrenzung bei Walkmen vorzusehen?
schon seit einiger Zeit nicht mehr davon abgeraten Ich frage mich wirklich bei manchen Dingen, die Sie
zu stillen, denn die Konzentration von chlorierten hier hineingeschrieben haben, nach dem Realitäts-
Kohlenwasserstoffen und auch Dioxinen in der Mut- gehalt, der bei Ihnen vorhanden ist.
termilch hat abgenommen.
Ich will noch einmal zu der Aufklärung der Eltern
(Vera Lengsfeld [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ zurückkommen. Zu einer solchen Aufklärung gehört
NEN]: Sie haben wirklich keine Ahnung!) sicherlich auch eine Ausweitung der Kennzeichnung
von Lebensmitteln und Gebrauchsgütern. Aber wir
Der Vorteil des Stillens überwiegt eindeutig gegen-
müssen auch aufpassen, daß wir zum Schluß eine
über eventuellen Belastungen der Muttermilch.
sinnvolle und verständliche Kennzeichnung haben,
Um die Umweltbelastungen zu verringern, wurde und nicht, was Sie in Ihrem sechsten Punkt aufzäh-
also schon einiges getan. Es gibt hier etliche Bei- len, den Verbraucher so mit Informationen zuschüt-
spiele, z. B. die Verwendung von DDT, PCB, BCD ten und verunsichern, daß der Laie kapituliert und
und flüchtigen chlorierten Kohlenwasserstoffen überhaupt nichts mehr damit anfangen kann. Damit
wurde verboten, oder aber mit der 17. Bundes-Immis- helfen wir niemandem. Deswegen muß, wenn über-
sionsschutzverordnung wurden Dioxin- und Furan- haupt, dies eine vernünftige Sache werden.
Emissionen aus den Müllverbrennungsanlagen be-
Es gäbe noch eine ganze Reihe von Punkten, die
grenzt. Sie können sich hier doch nicht hinstellen
man in diesem Antrag aufgreifen muß. Ich möchte
und sagen: Es hat sich nichts getan.
abschließend dazu sagen: Ich denke, daß der Antrag
Aber es bleibt trotzdem noch etwas zu tun. Da von der SPD insbesondere eine Zusammenstellung
gebe ich Ihnen recht. Die F.D.P. fordert weiterhin die ist, einerseits einzelner in Beratung befindlicher An-
Einführung des Bundesbodenschutzgesetzes, träge wie z. B. bei Pyrethroiden oder Sachen, die uns
im Grunde auf Bundesebene nicht betreffen, oder
(Beifall bei der F.D.P.)
aber eine Zusammenstellung - das sind die rechtli-
damit endlich auch für die Bodenbelastung verbindli- chen Punkte - von alten Kamellen unter neuem Da-
che Grenzwerte einheitlich festgelegt und Vorsorge- tum. Das, meine Damen und Herren, kann doch wohl
maßnahmen getroffen werden können. Ich habe den nicht das sein, womit sich der Deutsche Bundestag
Eindruck, daß wir hier vor einem Durchbruch stehen. ernsthaft beschäftigen soll. Ich denke, daß sich der
Ich sage Ihnen auch: Ihre Forderung, die Sie unter Gesundheitsausschuß sicher noch ausführlich über
Punkt 14 aufgezählt haben, daß Sie allgemeingültige Einzelheiten wird unterhalten können und dabei die
Grenzwerte für den Schadstoffgehalt, z. B. für Sand- Punkte aufgreift, die vielleicht noch als Empfehlun-
füllungen haben wollen, wäre eine klassische Auf- gen weitergegeben werden können und wo wir noch
gabe für die TA Boden. Deswegen sind wir auch für weiterarbeiten müssen. Da gibt es einige; ich habe
das Bundesbodenschutzgesetz und für die unterge- welche aufgezählt.
setzlichen Regelungen dazu. Das werden wir mit Si-
Vielen Dank.
cherheit auch in dieser Legislaturperiode verwirkli-
chen. (Beifall bei der F.D.P.)
Ich kann Ihnen aber auch sagen: Das, was Sie un-
ter anderem auch in diesem Antrag regeln wollen, Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wo rt hat die
daß Sie sagen, wir wollen die Kommunen auffordern, Kollegin Dr. Ruth Fuchs, PDS.
Mindestvorgaben für die Häufigkeit des Wechselns -
von Sand in den Sandkästen vorzuschreiben, dafür
Dr. Ruth Fuchs (PDS): Herr Präsident! Meine Da-
sind wir bei aller Liebe nicht zuständig.
men und Herren! Mit der heutigen Aussprache zum
Und ich sage auch ganz klar: Nicht nur der Staat Thema „Kindergesundheit und Umweltbelastungen"
hat Verantwortung zu tragen. Gerade was die Forde- wird auch im 13. Deutschen Bundestag die Debatte
rung zum Schutz der Kinder angeht, dürfen wir die über dieses extrem wichtige Politikfeld fortgesetzt.
Verantwortung der Eltern nicht vergessen. Es ist Das kann nur begrüßt werden. Mit der Frage, wie es
richtig, was Sie sagen, daß verstärkte Aufklärungsar- um die gesundheitliche Entwicklung der Kinder an-
beit den Eltern bei ihren Entscheidungen helfen gesichts bestehender und neu hinzukommender Um-
kann, so daß sie z. B. bei einer Auswahl von Reini weltbelastungen, aber auch anderer gesundheitsab-
5206 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der Editha Limbach (CDU/CSU): Herr Kollege, ist Ih-
Kollege Friedhelm Julius Beucher, SPD. nen nicht aufgefallen, daß ich deutlich gemacht
habe: Ich halte es für falsch, Kinder zur Beruhigung
vor das Fernsehgerät zu setzen? Ich habe nur darauf
Friedhelm Julius Beucher (SPD): Herr Präsident! hingewiesen, daß sich manche Eltern - auch mangels
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir debat- der Möglichkeit ordentlicher Betreuung für ihre Kin-
tieren heute einen Antrag, den die SPD bereits vor der - leider nicht anders zu helfen wissen. Ist Ihnen
zwei Jahren eingebracht hat. Der ist nicht abgelehnt nicht bewußt, daß das Problem der Gewaltdarstel-
worden - der Kollegin Homburger ist wohl das Erin- lung im Fernsehen sehr häufig, auch auf politischer
nerungsvermögen abhanden gekommen -, Ebene, auch von der Bundesregierung, auch von
meiner Fraktion, angesprochen wurde, und zwar ge-
(Klaus Lennartz [SPD]: Wie so oft!) nau mit dem Hinweis, daß zumindest zu den Zeiten,
zu denen Kinder üblicherweise vor dem Bildschirm
sondern der Diskontinuität zum Opfer gefallen, d. h.,
Sie haben ihn einfach ignoriert. Er ist in der letzten sitzen, obwohl sie lieber draußen spielen sollten, sol-
che Sendungen nicht ausgestrahlt werden sollten?
Legislaturperiode nicht mehr behandelt worden. Das
ist ein fast so großer Skandal wie die Tatsache, daß
wir eine so wichtige, die Zukunft unserer Gesell- Friedhelm Julius Beucher (SPD): Frau Kollegin, ich
schaft betreffende Fragestellung erst zu dieser spä- weiß, daß es so ist, nur habe ich das Ihren Worten
ten Stunde am Tag diskutieren müssen. nicht entnehmen können.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Die Zahl der umweltbedingten Krankheiten hat in
DIE GRÜNEN) den letzten zehn Jahren dramatisch zugenommen.
Kinder sind davon besonders betroffen. Der Kollege
Ausgehend von den unzähligen Hilferufen von El- Lennartz hat dafür einzelne Beispiele genannt. Ich
tern , den ernsten Warnungen und Notrufen besorg- will noch eine ganz aktuelle Zahl hinterherschieben:
ter Kinderärzte, die allerdings von der Gesellschaft Bei den Schuluntersuchungen, die ja bundesweit
vielfältig in den Wind geschlagen werden, haben wir durchgeführt werden, wurde festgestellt, daß 1993
uns erneut an die Formulierung des Antrags ge- von mehr als 900 000 Schulanfängern mehr als
macht, nachdem auch die Antwort der Bundesregie- 180 000 Kinder nicht gesund waren. Wer da nicht
rung auf unsere Große Anfrage so viele Fragen offen- handelt, der macht seine Hausaufgaben nicht. Das
gelassen hatte. gilt auch für dieses Haus. Egal ob das Land oder der
Kinderrechte - das wissen Gott sei Dank immer Bund dafür zuständig ist: Wir müssen das öffentlich
mehr Menschen - brauchen ständig eine neue aufgreifen und einklagen.
Lobby. Das immer wieder einzuklagen ist eine der (Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/
vornehmsten und wichtigsten Zukunftsaufgaben. Ein DIE GRÜNEN)
weiterer Grund dafür, daß wir den Antrag neu formu-
lieren mußten, liegt in der Tatsache, daß wir heute Wir müssen auch sehen, wo die Ursachen zu fin-
einfach mehr über den kausalen Zusammenhang den sind. Weltweit wird sowohl in den Entwicklungs-
von Umweltbelastungen und Erkrankungen des ländern als auch in den Industrienationen durch Um-
menschlichen Organismus wissen. Umweltbelastun- weltzerstörung und Umweltverschmutzung die Ge-
gen rücken glücklicherweise immer mehr in das Be- sundheit der Kinder und nachfolgender Generatio-
wußtsein einer breiteren Öffentlichkeit. Deshalb ist nen gefährdet. An der Entstehung chronischer
es gut, daß dieser Antrag heute wieder auf der Ta- Krankheiten sind Schadstoffe in der Luft und im
gesordnung steht. Wasser, Chemikalien in der Nahrung und im Trink-
wasser sowie Lärm und Streß in erheblichem Umfang
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ beteiligt. Umweltgifte und Umweltbelastungen be-
DIE GRÜNEN) drohen Kinder mehr, weil sich Kinder mehr bewe-
gen, schneller atmen und im Vergleich zu Erwachse-
Wir haben hier keinen Anlaß zum Optimismus. nen ein Vielfaches an Stoffmengen umsetzen. Da-
Frau Kollegin Limbach, sehen Sie es mir bitte nach: durch nehmen sie zwangsläufig erheblich mehr auch
Geradezu Angst muß ich allerdings empfinden, an Schadstoffen auf.
wenn Sie so einfach dahersagen - das wird einen
Aufschrei geben, wenn die Leute das lesen -, daß Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich frage Sie an-
man Kinder eine Stunde vor den Fernseher setzt, um gesichts dieser Zahlen und wissenschaftlicher Er-
sie „ruhigzustellen". Ich muß Sie allen Ernstes fra- kenntnisse: Können wir es wirklich länger hinneh-
gen, ob Sie nicht wahrgenommen haben, was die men, daß die Zahl der umweltbedingten Kinderer-
Kinder da an Gewalt konsumieren, welchen „Kram" krankungen weiter steigt? Vergessen wir nicht, daß
Kinder da sehen. Das führt zu immer mehr psychi- sich hinter diesen Zahlen tragische Einzelschicksale
schen Störungen und beeinträchtigt die Kinderge- verbergen; Kinder, die durch diese Erkrankungen
sundheit. isoliert werden, einen Teil oder ihre gesamte Lebens-
5208 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
Es bleibt nicht aus, daß sie nach Lösungen fragen. Herr Lennartz, es wäre unheimlich nett, wenn Sie
Sie hinterfragen aber auch kritisch das Verhalten der einmal zuhören würden. Ich habe Ihnen auch zuge-
Eltern, der Lehrer und anderer Erwachsener. Wir alle hört.
werden daran gemessen, ob sich unser persönliches
Verhalten immer mit dem Ziel verträgt, die Umwelt (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU -
und damit auch die Gesundheit der Kinder zu schüt- Zuruf des Abg. Klaus Lennartz [SPD])
zen. - Wahrscheinlich paßt Ihnen nicht, was ich sage, weil-
es Ihnen viel zu konform ist.
Diese Gedanken und Besorgnisse der Kinder sind
keineswegs von der Hand zu weisen. Schadstoffe Politik, Bund, Länder und Verwaltung müssen bei
und andere Belastungen sind Teil unserer Realität. Es ihren Maßnahmen grundsätzlich die besondere Risi-
ist unsere Aufgabe, Wege zu finden, um vorhandene kosituation bei den jungen und ganz jungen Men-
gesundheitsbelastende Umwelteinflüsse zu verrin- schen beachten.
gern und vielleicht auch zu vermeiden, soweit wir sie
als neue Belastungen erkennen können. Ich glaube, (Klaus Lennartz [SPD]: Wenn Sie langsamer
soweit gibt es auch Konsens innerhalb der Fraktio- sprechen würden, könnte ich besser zuhö-
nen. ren!)
5210 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
Es wirkt ein wenig unverantwortlich: Bevor wir Aber ich sehe bei Ihnen keine Konzepte, die be-
neue Wachstumsmärkte in medizinischen Dienstlei- reits operationalisiert sind; ich sehe nur Ideen. Auf
stungsbereichen regeln, sollten wir zuerst an die Ver- der anderen Seite sehe ich, daß in Bayern, Herr See-
hinderung von Krankheiten und Schäden bei Kin- hofer, die CSU sogar versucht hat, den Schulärztli-
dern denken. chen Dienst abzuschaffen. Die Berufsverbände der
Kinderärzte haben daraufhin Alarm geschlagen und
(Beifall bei der SPD) mit Hilfe der SPD dann verhindert, daß diese wich-
tige öffentliche Aufgabe der Lobby der Kassenärzte
Wir brauchen deshalb Lebensräume für Kinder geopfe rt wurde. Die wollten nämlich die U 9 an die
und für ihre Eltern, die gesundheitsfördernd sind, Stelle der schulärztlichen Untersuchung setzen.
und zwar deshalb, weil sie die Kinder nicht mit
Schadstoffen belasten, sondern deren soziale Kompe-
tenz fördern und zu Gemeinsamkeit ermuntern, weil Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Zeit, Herr Kol-
sie dem natürlichen Bewegungsdrang von Kindern lege.
Platz geben und Erfahrungen ermöglichen, die eine
selbstverantwortliche Lebensgestaltung begünstigen, Dr. Wolfgang Wodarg (SPD): Danke, ja. - Ich
statt die Kinder mit akustischem und visuellem Müll meine, daß wir auch in der Epidemiologie noch viel
zuzuschütten. machen müssen, daß wir eine Task Force brauchen;
das Bundesgesundheitsamt hatte sie schon gefordert.
Es sind nicht nur Schadstoffe - da gebe ich Ihnen
recht, Frau Limbach -, die krank machen. Fast 20 % Wir können im Umweltschutz auch ganz einfache
der Schulkinder sind bei schulärztlichen Untersu- Dinge machen. Ein Beispiel dafür möchte ich noch
chungen verhaltensauffällig. Das ist in Bezug zu set- zum Schluß nennen: Die Tankstellen, an denen sich
zen mit der Tatsache, daß Zehnjährige heute im heute immer mehr das tägliche Leben in kleinen Ge-
Schnitt etwa zweieinhalb Stunden vor dem Fernse- meinden und auch des Nachts abspielt, sind benzol-
her sitzen - das sind statistische Erhebungen, die im- verseuchte Orte. Do rt wird gelesen, dort wird ge-
mer wieder zum gleichen Ergebnis kommen - und kauft. Es wäre ein leichtes, hier eine bekannte krebs-
daß sie zu ausweichendem Verhalten und zu Sucht erzeugende Noxe zu minimieren, indem man sich
durch die Werbung täglich verführt werden. endlich dafür einsetzt, daß das Benzol aus dem Treib-
stoff herausgeholt wird, soweit es geht.
Die Folgen sind soziale Desintegration, Aggressio-
nen und Verhaltensstörungen. Dagegen kommt auch Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege - -
die beste Aufklärungskampagne der Bundeszentrale
für gesundheitliche Aufklärung nicht an, wenn man
Dr. Wolfgang Wodarg (SPD): Herr Präsident, der
sieht, welchen Aufwand die Werbung für schädi-
letzte Satz, wenn ich darf.
gende Substanzen, für Gifte wie Alkohol und Nikotin
sowie für akustischen und visuellen Müll betreibt.
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Ja, aber wirk-
Die Aids-Kampagne hat allerdings beispielhaft lich.
aufgezeigt, daß es lohnt, sich ein wenig mehr anzu-
strengen. Hier hat man durch Prävention, durch In- Dr. Wolfgang Wodarg (SPD): Meine Damen und
vestitionen in Aufklärung viel erreichen können. Das Herren, nur 1 % der Mittel im Gesundheitswesen
ist ein Beispiel dafür, was wir auch in anderen Gebie- werden für Prävention ausgegeben. Angesichts des-
ten hervorholen und nutzen sollten. sen darf man sich später nicht wundern, wenn ein-
mal die 99 % für die Schadensbekämpfung nicht
Damit wir wissen, an welcher Stelle gezielt Präven- mehr ausreichen.
tion zu betreiben ist, brauchen wir eine vernünftige
Gesundheitsberichterstattung auf allen Ebenen. Da (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
muß viel investiert werden. Wir kommen mit 1 % der ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Mittel nicht aus. Es lohnt sich, um die Allokationen und der PDS)
später richtig zu betreiben, jetzt zu schauen: Wo sind
die prioritären Gesundheitsziele und die Brenn- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Ich schließe die-
punkte, wo wir die Kinder vor krankmachender Um- Aussprache.
welt schützen müssen?
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen
Die Bundesregierung muß für all diese Dinge die auf Drucksachen 13/1968 und 13/2574 an die in der
Rahmenbedingungen schaffen. Dazu gehört, daß sie Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überwei-
die nötigen Budgets für Prävention sicherstellt. Es sen. Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktion
nützt nichts, darüber zu reden. der SPD wünscht Federführung beim Ausschuß für
Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, die
Ich erwarte vom Gesundheitsminister, daß er sich Fraktion der CDU/CSU beim Ausschuß für Gesund-
für ein Budget für Prävention einsetzt, welches min heit.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5213
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
Wer stimmt für den Überweisungsvorschlag der aber in vielen Fällen auch ausreichende Standards
SPD? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Überwei- hinausgehen. Es geht um die Baulandausweisung,
sungsvorschlag ist mit den Stimmen der Koalition ge- die im Endeffekt zurückhaltend bet rieben wird und
gen die Stimmen der Opposition abgelehnt. die dadurch zwangsläufig zur Verteuerung beiträgt.
Wer stimmt für den Überweisungsvorschlag der Die Einsparungspotentiale sind, so sagen die Gut-
CDU/CSU? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der achter, besonders im Eigenheimbereich sehr groß.
Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der Ko- Sie lägen bei etwa 50 %, und davon entfielen je 20 %
alitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition auf Standardreduzierungen und auf Effizienzverbes-
angenommen. Die Federführung liegt damit beim serungen und etwa 5 % auf die Deregulierungen im
Ausschuß für Gesundheit. Normenbereich. Damit könnten wir ein niedriges
Baukostenniveau erreichen, wie es in den Niederlan-
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: den und in Skandinavien längst Realität ist.
Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung Die Bundesregierung hat aus dieser Analyse Kon-
sequenzen gezogen und den heute zu diskutieren-
Handlungsrahmen der Bundesregierung für
den Handlungsrahmen zur Kostensenkung im Woh-
eine Initiative zum kosten- und flächenspa-
nungsbau vorgelegt. Ich glaube, die aktuelle Lage
renden Bauen
am Wohnungsmarkt begünstigt spürbarere Erfolge.
- Drucksache 13/2247 - Denn bisher haben sich Baukostensenkungen nicht
Überweisungsvorschlag: immer in den Preisen für die Nachfrager niederge-
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
schlagen. Wir kennen das: Ein überhitzter Immobi-
(federführend) lienmarkt hat eine Nachfrage, die ein besseres, ko-
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend stengünstigeres Angebot brachte, eher in höhere Ge-
winne umgeschlagen.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Kein Wider- Der Wohnungsmarkt - das können wir heute sehr
spruch? - Dann ist es so beschlossen. deutlich einschätzen - hat sich inzwischen gewan-
Ich eröffne die Aussprache, sobald es etwas ruhi- delt. Ursache für diesen Investitionsboom der letzten
ger geworden ist. - Ich warte immer noch auf etwas Jahre ist - auch wenn das einige nicht gerne hören -
mehr Ruhe. eine kontinuierliche Wohnungspolitik, die diese Koa-
lition durchgeführt hat. Künftig schaffen niedrigere
Das Wo rt hat der Parlamentarische Staatssekretär Kosten, so hoffen wir, auch für normale Bürger eine
Joachim Günther. notwendige Voraussetzung, daß sie in die Eigen-
(Anhaltende Unruhe) heimbautätigkeit einsteigen können.
- Darf ich die Kolleginnen und Kollegen in dem mitt- Die Kostensenkungsinitiative ist daher auch mit
leren Gang noch einmal bitten, sich etwas schneller der Stoßrichtung der Reformierung der Eigenheim-
zu entfernen, damit wir zur Ruhe kommen? förderung, die wir ja gegenwärtig im Ausschuß dis-
kutieren, verzahnt. Ich hoffe im Interesse aller, daß
Bitte, Herr Staatssekretär. sie rechtzeitig fertig wird, um am 1. Januar 1996 in
die Tat umgesetzt werden zu können.
Joachim Günther, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
desministerin für Raumordnung, Bauwesen und Der Bund verfolgt eine Doppelstrategie zur Durch-
Städtebau: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Da- setzung kostengünstiger Bauprodukte am Markt:
men und Herren! Die Expertenkommission „Ko-
stensenkung" hat im Jahre 1994 den Abschlußbe- Zum einen geht es um die Nachfrager. Die Tradi-
richt „Mehr Wohnungen für weniger Geld" vorge- tion des teueren Bauens hat viel mit Einstellungen
legt. Diese Analyse hat deutlich gemacht, daß das unserer typischen Eigenheimbauer zu tun. Sie gehen
deutsche Baukostenniveau deutlich über dem euro- davon aus: Ich baue einmal im Leben, dann baue ich
päischen Standard liegt, und von Anfang an für viel richtig, möchte möglichst viele Extras haben und das
Diskussionsstoff gesorgt. Haus voraussichtlich bis zum Lebensende behalten.
Was ist das Ergebnis aus dieser Sicht? Es wird entwe-
Im deutschen Wohnungsbau fehlt ein preisgünsti- der gewartet, bis man das Eigenheim finanzieren
ges Marktsegment, und es herrscht ein gewisser kann, oder man baut oft spät bzw. zum Teil über-
Zwangskonsum, den viele Nachfrager gar nicht haupt nicht.
mehr bezweifeln.
Es gibt eine verfestigte Tradition des teuren Bau- Unser Ziel muß es sein, den Eigenheimerwerb
ens, die allein von der Nachfrageseite her nicht mehr schon in einer jüngeren Lebensphase vorstellbar zu
umgangen werden kann. Die auf deutschen Baustel- machen, vor allem wenn die Kinder noch klein sind;
len zwangsläufig verfestigten Abläufe haben zu die- denn sie benötigen vordringlich ein Eigenheim. Not-
sem teuren Bauen mit beigetragen. wendig dazu ist, daß man Starthäuser oder Einstiegs-
modelle, wie es diese auch auf dem Automarkt gibt,
Es geht um das Nebeneinander der Gewerke auf baut oder verkauft, die hinsichtlich der Ausstattung
den Baustellen, es geht um Regelungen auf allen fö- und Wohnfläche preiswert sind, damit sie auch von
deralen Ebenen, um Regelungen, die über einfache, jüngeren Bürgern finanziert werden können.
5214 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
(Beifall bei der SPD) (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)
Fest steht, daß wir in Deutschland im Vergleich zu
Aber, meine Damen und Herren, was nützt uns
unseren europäischen Nachbarländern auf Grund
eine Kosteneinsparung von beispielsweise 100 000
der enorm hohen und allein in den letzten zehn Jah-
DM pro Wohneinheit, sei es im Eigenheim oder bei
ren um 40 % gestiegenen Baukosten zum einen eine
der Mietwohnung, wenn diese Kosteneinsparung
recht traurige Wohneigentumsquote - sie beträgt in
nicht an den Käufer oder an den Mieter weitergege-
den alten Bundesländern 41 % und in den neuen
ben wird? Neue Vertriebswege zu finden, über Ge-
Bundesländern 24 % - und zum anderen ein recht ho-
nossenschaften, Bauherrengemeinschaften, Grup-
hes Bauherrenalter von durchschnittlich 38 Jahren
penbaumaßnahmen, ist ein ganz wesentlicher
haben.
Aspekt bei der Förderung des kostengünstigen Bau-
ens. Fest steht auch, daß unsere nächsten Nachbarn,
insbesondere Holland, Vorbild im kosten- und flä-
Fazit: Der Handlungsrahmen der Bundesregierung chensparenden Bauen sein können und müssen.
läßt viele wichtige Fragen unbeantwortet. Sie sollten
ihn zurückziehen und neu formulieren. Wir sind gern (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr wahr!)
zur Hilfe dabei bereit. So kosten in Holland die eigenen vier Wände im
Schnitt nur vier bis fünf Jahresgehälter, in Deutsch-
Vielen Dank.
land dagegen neun. In Holland ist ein kleines Rei-
(Beifall bei der SPD) henhaus schon ab 130 000 DM zu haben, ein entspre-
chendes Haus in Deutschland kostet mehr als das
Doppelte.
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wo rt hat die Die Bauwerkskosten bei vergleichbaren Häusern
Kollegin Margarete Späte, CDU/CSU. liegen in Holland 40 bis 50 % unter denen in
Deutschland, wobei 25 % durch geringere Ausstat-
tungsstandards, z. B. durch Verzicht auf Unterkelle-
Margarete Späte (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr rung, erreicht werden, 5 % auf Grund vereinfachter
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine oder fehlender Normierung und Reglementierung
Damen und Herren! Die Bundesregierung hat für und 20 % durch Rationalisierung bei der Planung
diese Legislaturperiode eine Kostensenkungs- und und Ausführung des Bauvorhabens. Junge Familien
Wohnbaulandinitiative angekündigt, eine konzer- mit Kindern brauchen in unserem Land schätzungs-
tierte Aktion von Bund, Ländern und Gemeinden. weise 500 000 Wohnungen pro Jahr, die sie sich fi-
Dank der hervorragenden Arbeit der Kostensen- nanziell leisten können.
kungskommission, deren Be richt schon im Juli letz-
ten Jahres vorlag, und besonders dank des großen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Engagements von Herrn Minister Töpfer befinden
Daß dies keine Illusion bleiben muß, daß und wie
wir uns heute mit der Vorlage des Handlungsrah- kostengünstiges Bauen in Deutschland gefördert
mens der Bundesregierung nach erstaunlich kurzer
werden kann, belegt nicht zuletzt, alle bisherigen Er-
Zeit schon mittendrin.
kenntnisse - nicht nur aus Modellprojekten - und
Festgestellt werden muß, daß zu einer wirkungs- auch Erfahrungen der Nachbarländer zusammenfas-
vollen Förderung des kostengünstigen Bauens vor send, der Kommissionsbericht. Wie in diesem Zusam-
dem Hintergrund eines steigenden Wohnungsbe- menhang der politische Handlungsbedarf ganz kon-
darfs und knapper öffentlicher Haushalte und gerade kret aussehen soll, daran wird derzeit auf den unter-
auch unter familienpolitischen Gesichtspunkten schiedlichsten Ebenen gearbeitet.
dringender politischer Handlungsbedarf besteht, Die Bundesregierung hat in einem ersten Schritt
wenn sich kostengünstiges Bauen auch in Deutsch- auf der Grundlage des Kommissionsberichts, den ich
land und über Modellprojekte hinaus durchsetzen an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich würdigen
soll. möchte,
Fest steht, daß in Phasen von Wohnungsknappheit (Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Der ist ge-
immer besondere Anstrengungen auf dem Gebiet lungen! Der ist sehr gut!)
der Kostensenkung unternommen wurden, die aber
einen ersten Handlungsrahmen vorgelegt. Dabei ist
in der nächsten Entspannungsphase der Marktent-
zu betonen, daß sowohl mit dessen Konkretisierung
wicklung erlahmten. Fest steht: Kosteneinsparungs-
als auch mit dessen Ausfüllung und Umsetzung Mi-
kataloge liegen als Ergebnis ungezählter Modellpro-
nister Töpfer vor der Behandlung hier im Plenum be-
jekte, initiiert von Bund, Ländern und Verbänden,
gonnen hat - und das ist auch sehr gut so.
seit langem und zuhauf vor. Allein zwischen 1980
und 1985 wurden insgesamt 485 Projekte als Modell- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. -
vorhaben des kosten- und flächensparenden Bauens Zuruf von der F.D.P.: Der vorauseilende Ge-
realisiert, und der Kommissionsbericht listet allein für horsam!)
5218 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
Margarete Spate
Denn Zeit kostet bekanntlich Geld, gerade im Baube- günstig bei rationeller Flächenausnutzung, zu er-
reich. Wir dürfen einfach keine Zeit mehr verlieren, schließen.
wenn wir unser Ziel erreichen wollen, daß die Ko-
stensenkung beim Endverbraucher tatsächlich an- (Achim Großmann [SPD]: Alles zusammen
kommt. beschlossen!)
Wir haben sowohl für den sozialen Wohnungsbau Ziele unserer Kostensenkungs- und Wohnbauland-
als auch für die Wohneigentumsförderung nur be- initiative sind die Erweiterung des Angebots preis-
grenzte Mittel zur Verfügung. Aber wir wissen - und günstiger Wohnungen durch Etablierung des „jun-
Sie von der Opposition wissen es auch -: Es geht gen Hauses", die Erleichterung der Wohneigentums-
günstiger, und es geht effektiver. Hier und jetzt ha- bildung über die staatliche Förderung hinaus, damit
ben wir die Chance, es zu beweisen und das Effektiv- bis zum Jahr 2000 jeder zweite in Deutschland - hof-
ste aus den uns zur Verfügung stehenden Mitteln zu fentlich bereits in der Familiengründungsphase - in
machen, auch und gerade im sozialen Wohnungs- den eigenen vier Wänden lebt, und der effizientere
bau. Daher steht als Bestandteil der Kostensenkungs- Einsatz öffentlicher Mittel.
initiative in dieser Legislaturpe riode das gesamte An diesem ersten und frühen Punkt der Diskussion
Förderregularium vom Grund her auf dem Prüfstand. plädiere ich für eine intensive Auseinandersetzung
Unsere Wohnungspolitik der nächsten Jahre steht mit der Regierungsvorarbeit und für eine konstruk-
unter dem obersten Gebot der Kostensenkung und tive Beratung und Bearbeitung der Thematik im Aus-
Kostenkontrolle. Wir werden damit sowohl die neue schuß, für die Anberaumung einer öffentlichen An-
Wohneigentumsförderung nachhaltig unterstützen hörung und für die Beteiligung des Ausschusses im
und effektiver gestalten als auch und gerade die für Koordinierungsausschuß Baukostensenkung im
den sozialen Wohnungsbau bereitstehenden Mittel BMBau.
gezielter und effektiver einsetzen, beim ersteren Abschließend bleibt mir nur, uns viel Arbeit mit
durch mehr einkommensorientierte Förderung und diesem komplexen Anliegen zu wünschen, viel von
beim letzteren durch Einführung von Kostenober- Erfolg gekrönte Arbeit zugunsten aller.
grenzen im sozialen Wohnungsbau.
Ich danke Ihnen.
Mit öffentlichen Mitteln wird nicht selten Luxusso-
zialwohnungsbau zu horrenden Quadratmeterprei- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
sen bet rieben. Zum Beispiel Frankfu rt - Sie erwähn-
ten es - hat daraus endlich Konsequenzen gezogen. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wo rt hat der
Heute wird do rt der soziale Wohnungsbau von einem Kollege Helmut Wilhelm, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
privaten Kostenkontroll- und Rationalisierungsunter- NEN.
nehmen mit großem Erfolg überwacht.
(Zuruf von der CDU/CSU: Das war in Helmut Wilhelm (Amberg) (BÜNDNIS 90/DIE
Frankfu rt überfällig!) GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Her-
Übrigens ist in einer Studie der F riedrich-Ebe rt ren! Wohnen als menschliches Grundbedürfnis ist in-
-StifungzrWohspltiknOdeuchafol- zwischen etwas teuer geworden. Die Analyse der
gendes nachzulesen: derzeitigen Baukostensituation wird im Be richt zu-
treffend wiedergegeben, die Konsequenzen hieraus
Als Kernpunkt einer sozialen Wohnungspolitik im übrigen im wesentlichen auch. Ich zitiere:
wird immer wieder ein möglichst umfangreicher
sozialer Mietwohnungsbau gefordert. Eine sol- In Deutschland baut man teuer. Holländer, Eng-
che Position wird für Ostdeutschland in den mei- länder, Franzosen und Dänen schaffen es, mit 1 %
sten Fällen nicht adäquat sein. ihres Bruttoinlandsprodukts 2,5 bis 3,5 Woh-
nungen auf 1 000 Einwohner zu errichten. In
Warum denn diese Aufregung bei der notwendigen Westdeutschland waren es gerade 1,5 Woh-
Haushaltskonsolidierung? nungen.
-
Alles in allem loben Sie in dieser Studie die Arbeit Dabei entspricht das Angebot an bezahlbarem
der Bundesregierung im voraus und auch im nach- Wohnraum schon lange nicht mehr der Nachfrage.
hinein. Dort steht: Wir brauchen tatsächlich keine Bauherren- oder Ar-
chitektenunikate auf hohem Standard, sondern be-
Durch die Veränderungen im Baugesetzbuch zahlbaren Wohnraum für die breite Masse der Bevöl-
sind mit den städtebaulichen Entwicklungsmaß- kerung.
nahmen und dem Vorhaben- und Erschließungs-
plan rechtliche Instrumente geschaffen worden, Dieses Wissen ist natürlich nicht neu, doch verhin-
die es erlauben, im großen Stil Baugebiete für dert ein Geflecht verschiedener Regulierungen, Nor-
einfache Reihenhäuser, entsprechend kosten- men, eingefahrener Interessen und Planungsverhal-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5219
Helmut Wilhelm (Amberg)
ten kostengünstiges Bauen. Es gibt Modellprojekte, von Kosten von oben auf die Gemeinden schwierig. I
die bewiesen haben, daß Kostensenkungen bis zu 30 Viele Gemeinden sind im Gegenteil bereits gezwun-
oder 40 % erreichbar sind. Das Wissen um die Wege gen, ihre Vorräte an Grund und Boden zu verkaufen,
ist also vorhanden. um das nötige Kapital zur Abdeckung ihrer Haus-
halte zu erwirtschaften.
Das Festhalten am hohen Kostenniveau war auch
nicht ganz folgenlos. Der Druck auf Wohngeld und (Zuruf von der CDU/CSU: Wo denn?)
Sozialhilfe hat gewaltig zugenommen. Fälle von
Mietschulden, Räumungsklagen, Wohnungs- und Wir brauchen eine Mieterbeteiligung bereits im
Obdachlosigkeit haben sich gehäuft. Die finanzielle Planungsstadium. Es ist schon etwas merkwürdig,
Hauptlast traf dabei die Gemeinden, das schwächste daß am Bau eines Wohngebäudes sehr viele beteiligt
Glied in der Kette. sind: Architekten, Handwerker, Notare usw., nur ei-
ner nicht: der spätere Nutzer einer Wohnung, der
Nachdem das Problem der hohen Baukosten be-
Mieter. Hier wäre ein Einsparungspotential gegeben,
reits seit dem Ersten Weltkrieg bekannt ist - es gab
auch dadurch, daß man Mietern Freiräume bei der
nach dem Ersten Weltkrieg bekanntlich eine Vielzahl
Gestaltung des Wohnumfeldes, z. B. bei den Grünan-
von Siedlungsmodellen zur Kostenersparnis - und
lagen, zugesteht und ihnen auch die spätere Pflege
nachdem gerade in den letzten Jahren die Baukosten
überträgt.
explosionsartig gestiegen sind, sieht nun auch die
Bundesregierung dankenswerterweise Handlungs- Ich denke auch an die Möglichkeit genossen-
bedarf. Zeit war's. schaftlichen Bauens durch „Muskelhypothek".
Dabei stimmen wir mit den Zielvorgaben durchaus
Umsetzungsinstrumente für ökologisches Bauen
überein: Senkung der Baukosten auf unter 2 000 DM
sind endlich verbindlich festzuschreiben. Dazu zäh-
je Quadratmeter, Berücksichtigung ökologischer
len verpflichtende Vorgaben für verdichtetes Bauen.
Standards, sparsamer Flächenverbrauch.
Flächensparendes Bauen heißt nämlich auch kosten-
Ebenso ist richtig, daß die Honorarordnung für sparendes Bauen. Wir haben einen Gesetzentwurf
Architekten und Ingenieure kostensenkende Maß- zur Wohneigentumsförderung eingebracht, der diese
nahmen bisher bestraft hat. Eine Novellierung in Komponenten berücksichtigt, was im Regierungsent-
Richtung Erfolgshonorare bei Kostensenkung - in ei- wurf fehlt.
nigen Städten musterhaft praktiziert, z. B. in Langen-
hagen bei Hannover - ist dringend erforderlich. An- Vereinfachungen des Baurechts hingegen werden
sonsten gehen nämlich die besten Absichten ins die Baukosten nicht senken. Das steht explizit auf
Leere. Seite 1, Spalte 2 des Berichts der Experten. Im Ge-
genteil: Erfahrungen mit dem Modell des Herrn
Auch stimmt es, daß die Erschließungskosten ge- Beckstein in Bayern haben gezeigt, daß meist sogar (
senkt werden müssen. Dabei liegt allerdings unserer Kostensteigerungen die Folge solcher Maßnahmen
Ansicht nach der wesentliche Handlungsbedarf nicht sind, ganz einfach deswegen, weil notwendige Prü-
zuletzt im sinnvollen Umgang mit der „heiligen Kuh" fungen, die bisher die Gemeindebehörden vorge-
Auto. Ich nenne beispielhaft die Reduzierung des nommen haben, nunmehr von p rivaten Sachverstän-
Ausbaus der Erschließungsstraßen auf ein vernünfti- digen durchgeführt werden müssen und damit in
ges Maß - es muß nicht unbedingt so sein, daß sich den Kosten wesentlich höher liegen.
auf einer Anliegerstraße zwei Lkws begegnen kön-
nen müssen; so stand es einmal in der Richtlinie für Warum Herr Minister Töpfer seine in den letzten
den Ausbau von Stadtstraßen - und den Verzicht auf Tagen veröffentlichte Presseerklärung gerade hier-
kostenintensive Tiefgaragen. Statt dessen sollte die auf abstellt, weiß ich nicht. Der Kostensenkung dient
Standortplanung für Wohnsiedlungen unter dem es, siehe der Bericht, jedenfalls nicht.
Aspekt bestehender oder ausbaufähiger ÖPNV-Sy-
steme erfolgen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Nach unserer Überzeugung sind die Baukosten im
wesentlichen auch durch folgende Maßnahmen zu
reduzieren: Wir brauchen die Einführung eines Bo- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Franken-
denrechts, das spekulative Planungsgewinne bei hauser, Sie können keine Zwischenfrage mehr stel-
Baulandausweisungen verhindert. Ich erinnere hier - len. Wenn Sie möchten, gebe ich Ihnen die Möglich-
das wurde heute bereits angesprochen - an § 154 des keit zu einer Kurzintervention. Möchten Sie?
Baugesetzbuches, der allerdings nur im Bereich von
Städtebauförderungsmaßnahmen gilt. (Herbe rt Frankenhauser [CDU/CSU]: Ja!)
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Sie sind ganz Die Baunutzungsverordnung meint nun, daß eine
frei, wie Sie die Kurzintervention machen wollen, solche bauliche Verdichtung die Lebensqualität all-
aber machen Sie sie. zusehr einschränke und daher unzulässig sei. Merk-
würdig, daß die Münchener in Schwabing und Haid-
hausen dies ganz anders sehen.
Herbert Frankenhauser (CDU/CSU): Herr Kollege
Wilhelm, ich möchte hier ausdrücklich feststellen,
Der Dachgeschoßausbau wird noch in vielen Groß-
daß Sie nicht in der Lage waren, ein einziges Objekt
kommunen negativ gesehen und nicht ausreichend
zu benennen, bei dem auf Grund der richtungswei-
unterstützt. Daumenschrauben in Form von Anforde-
senden neuen Baumöglichkeiten, die der Freistaat
rungen in bezug auf nachträglich kaum mehr zu
Bayern geschaffen hat, Kostensteigerungen eingetre-
schaffende Stellplätze werden immer wieder be-
ten sind.
kannt. Richtig ist natürlich, daß der Dachgeschoßaus-
bau deutlich billiger ist als der Bau auf unbebauten
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Möchten Sie Grundstücken: Die Erschließung ist längst vorhan-
dazu etwas sagen, Herr Wilhelm? Sie müssen das den; die existierenden Ver- und Entsorgungsleitun-
aber nicht. gen lassen sich in der Regel verlängern, so daß der
Aufwand entsprechend gering ist.
Helmut Wilhelm (Amberg) (BÜNDNIS 90/DIE
Eine Senkung der Grundstückspreise wäre in all
GRÜNEN): Herr Kollege, ich empfehle Ihnen, an Ta-
den Gemeinden möglich - das sind über 99 % der
gungen von Baufachleuten und auch kommunalen
Gemeinden in Deutschland -, die über Flächen ver-
Baubeamten teilzunehmen. Die werden es Ihnen
fügen, die ohne gefährliche Eingriffe in die Natur
nämlich sehr deutlich sagen, auch unter Zugrundele-
und den Landschaftsschutz zur Verfügung gestellt
gung zahlreicher Beispiele.
werden könnten.
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wo rt hat der (Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Genau!)
Herr Kollege Braun, F.D.P.
Grundstücke, auch und gerade solche in öffentlicher
Hand, als Wohnbauland ausweisen und sie auch für
Hildebrecht Braun (Augsburg) (F.D.P.): Wertes Prä-
den Markt verfügbar machen, das ist das Gebot der
sidium! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Stunde.
Wer wie wir Liberalen niedrige Mieten will, muß da-
für sorgen, daß viel gebaut wird. Wer viel bauen will, (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
braucht viele Käufer. Diese können aber nur kaufen,
wenn die Häuser und Wohnungen billig sind, jeden- Ein gewaltiger Kostenfaktor, der sich aber speziell
falls billiger als bisher. Wir haben die höchsten Preise bei Behörden noch zu wenig herumgesprochen hat,
der Welt, und darauf sind wir gar nicht stolz. sind die Kosten der Vorfinanzierung von Grundstük-
Wir haben auch die höchsten Anforderungen an ken bis zur Baugenehmigung. Wir hören immer wie-
Wohnbauten. Darauf sind wir schon eher stolz, aber, der, daß Baugenehmigungsbehörden Anträge in ei-
ehrlich gesagt, mit Einschränkungen. Wir wünsch- ner Weise prüfen, als seien sie Bauverhinderungsbe-
ten, alle Bürger in unserem Land könnten Eigen- hörden.
tümer ihrer vier Wände werden. Dann müssen wir
uns aber ernsthaft um die angestrebte Verbilligung (Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Genau!)
kümmern.
Die Gemeinden und Landkreise sind aber aufgeru-
Wir leisten uns den Luxus, den Wohnungsbau, der fen, die Verfahrensdauer deutlich zu verkürzen. Dies
gegenüber dem gewerblichen Bau aus vielerlei spart Zinsen und natürlich auch Baukosten, da diese
Gründen teurer ist, z. B. durch viel mehr Sanitäranla- regelmäßig nach Verzögerungen nicht niedriger, son-
gen, durch Kinderspielplätze, durch kompliziertere dern höher liegen. Grundbuchämter, die zu langsam
Grundrisse usw., nochmals beträchtlich zu verteuern, arbeiten, verursachen horrende Kosten.
da wir die Bauherren von Wohnungsbauten nicht
zum Vorsteuerabzug berechtigen. Dies ist ein äu- (Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Das stimmt
ßerst unglücklicher Aspekt. Der Staat steuert hier wohl!)
durch Steuern in eine gefährliche Richtung: Gewer-
bebauten führen bei den Gemeinden zu Gewerbe- Die Regelungsdichte der Bauordnungen, die in
steueraufkommen, Wohnungen führen statt dessen weiten Bereichen vom Bild des unmündigen Bürgers
zu beträchtlichen Nachfolgelasten wie Kindergärten, geprägt sind, der vor sich selbst geschützt werden
Schulen, öffentlichem Nahverkehr usw. Wir dürfen müsse, tut ein übriges.
uns nicht wundern, wenn in vielen Gemeinden die
zu den Arbeitsplätzen gehörigen Wohnungen nicht (Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Genau!)
geschaffen werden. Falsche Strukturpolitik rächt sich
aber. Kleine Stückzahlen verhindern oft Kostensenkung
durch rationelle Vorfertigung. Gewiß wollen wir
Kostensparendes Bauen erfordert ein Umdenken. nicht die Rückkehr zum Plattenbau unseligen Ange-
Manche Stadtviertel aus der Jahrhundertwende mit denkens. Wer aber preiswertes Bauen wünscht, darf
einer außerordentlich hohen Akzeptanz weisen eine Rationalisierungsbestrebungen nichts in den Weg
durchschnittliche Geschoßflächenzahl von 2,0 auf. stellen.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5221
Hildebrecht Braun (Augsburg)
Wir fordern eine Rückbesinnung auf den heimi- Fragen auf Grund fehlender Analysen auch nicht be-
schen Baustoff Holz, der unter Umweltgesichtspunk- antworten kann und statt dessen nur fragmentarisch
ten positiv zu bewe rten und preiswert zu haben ist. Hypothesen nebeneinanderstellt, zum anderen, weil
Allerdings würden Holzhäuser wohl eine drastische nun weitere berufene Experten an einzelnen Vor-
Verschärfung der Wärmeschutzverordnung nicht schlägen arbeiten sollen, statt daß die Regierung
überstehen. Hier ist Vorsicht geboten. endlich zu handeln beginnt.
(Achim Großmann [SPD]: Schauen Sie ein Im Bericht wird dokumentiert, wie seit dem Ersten
mal nach Skandinavien!) Weltkrieg erfolglos am Problem der Baukosten her-
Ein Problem sind schließlich die deutschen DIN- umlaboriert wird. Zwei volle Seiten umfaßt allein die
Standards. Nach § 13 Nr. 1 VOB, Teil B, muß das Auflistung ausgewählter Projektdokumentationen
Bauwerk zum Zeitpunkt der Abnahme nach den an- und Einsparungskataloge aus den letzten 15 Jahren.
erkannten Regeln der Technik erstellt sein. Sind die Etliche Experten konnten damit ihre Brötchen ver-
DIN-Normen eingehalten, so gilt die allerdings wi- dienen - ich denke, nicht schlecht -, nur geändert
derlegbare Vermutung, daß diese Regeln eingehal- hat sich nichts.
ten worden seien. Die Gerichte behandeln die DIN-
(Gert Willner [CDU/CSU]: Es soll sich etwas
Normen aber quasi als gesetzliche Mindeststan-
ändern!)
dards. Dies erscheint außerordentlich bedenklich.
Richtig wäre wohl, nur die DIN-Normen, die der Bau- Im Gegenteil: Die Kosten für Bauland, Mietwoh-
sicherheit dienen, als Mindeststandards zu betrach- nungen und Eigenheime stiegen unter dieser Koali-
ten. Soweit es aber um Qualitätsstandards geht, müs- tion schneller als die Einkommen der Lohnabhängi-
sen die Vertragspartner in der Lage sein, aus Kosten- gen und die allgemeinen Lebenshaltungskosten.
gründen auch niedrigere Standards zu vereinbaren. Dies ist ein Eldorado für Banken, Bausparkassen, Im-
Wir werden daher prüfen, ob der Gesetzgeber hier mobilienbesitzer, Architekten und große Baufirmen.
tätig werden muß. Überhöhte Kosten für den Käufer auf der einen Seite
Zusammenfassend will ich feststellen: Die Phanta- bedeuten immens hohe Gewinne der Hersteller und
sie und die Tatkraft aller irgendwie mit dem Bauen Anbieter auf der anderen Seite.
befaßten Menschen sind gefordert, um Wohnungen
erschwinglich zu machen. Staatliche Subventionen Es ist eine richtige und zentrale Erkenntnis der
ersetzen nicht richtiges Handeln. Sie verführen häu- Kommission: Nicht überzogene Baunormen, sondern
fig nur zu geistiger und wirtschaftlicher Trägheit, die die Interessenlage der am Bau Beteiligten, alte Ge-
wir uns im Bausektor schon gar nicht leisten können. wohnheiten und Monopole - statt Wettbewerb - sind
die Hauptprobleme. Kartellmentalität, flächendek-
Vielen Dank. kende Korruption und ein dichter Filz von Politik und
Wirtschaft kommen hinzu. In dem Buch „Die deut-
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
sche Wohnungsmisere", erschienen im August 1995,
beschreibt Johannes Ludwig diese Misere sehr ein-
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der drucksvoll.
Kollege Klaus-Jürgen Warnick, PDS.
Schlußfolgerungen sind nach unserer Meinung in
zwei Richtungen möglich: Erstens. Der Staat hat dem
Klaus-Jürgen Warnick (PDS): Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Als sechster Redner in Kapital in seinem Drang nach maximalen Gewinnen
dieser Runde kann ich vieles meiner Vorredner nur bisher zuviel Raum gelassen, muß also stärker regu-
wiederholen und will deswegen einiges weglassen. lierend eingreifen. Das ist unsere Meinung. Zwei-
tens. Der Staat regelt zuviel, macht dadurch das
(Herbe rt Frankenhauser [CDU/CSU]: Sehr Bauen zu teuer, muß also dem freien Spiel der Markt-
lobenswert!) kräfte mehr Raum geben. Das ist die typische F.D.P.-
Meinung.
In einem sind wir uns ja einig: daß Bauen in Deutsch-
land viel zu teuer ist, daß es für zunehmend mehr Auf einem Kongreß in der vorigen Woche zum
Menschen unbezahlbar ist und auch gutverdienende Thema „Innenstädte contra grüne Wiese" mußte sich
Familien kaum noch eine Möglichkeit haben zu aber auch die F.D.P. eines Besseren belehren lassen.
bauen. Dies festzustellen reicht aber nicht. Man muß Herr Rexrodt hat dort keine besonders gute Figur ge-
Konsequenzen ziehen, man muß dem Taten folgen macht. Es sollte Ihnen zu denken geben, daß auch
lassen. Handel und Industrie dort der Meinung waren: Es ist
(Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Das ist soweit, daß der Staat eingreifen muß; der Markt kann-
wahr!) nicht alles regeln.
Der Bericht der vom Bundesbauministerium einge- Geringes oder gar kein Interesse an niedrigen Bau-
setzten Kommission liegt seit dem Sommer 1994 vor. kosten haben - unser Kollege Schulz hat schon dar-
Ein Jahr benötigte die Bundesregierung, um den Be- auf hingewiesen - Grundstücksverkäufer, deren Ge-
richt als Drucksache in den Bundestag einzubringen winn direkt vom Preis abhängt, Makler, die durch
- nun gut, angereiche rt mit einer fünfseitigen Stel- Cou rt age verdienen, Architekten und Ingenieure,
lungnahme der Bundesregierung. Wer denkt, das deren Honorar mit den Kosten steigt, Banken, an Ab-
Problem sei damit gepackt und werde nun gelöst, der schreibungsprojekten Beteiligte. Das Kräftegefüge
irrt, zum einen, weil die Kommission die wichtigsten und das Interessengeflecht sprechen hier für sich.
5222 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
Klaus-Jürgen Warnick
Interessanter ist schon die Frage, wer Interesse am mehr Eigenheime zu schaffen, um die Eigentums-
preiswerten Bauen hat: Eigenheimer, Genossen- quote zu erhöhen.
schaften, Mieter - wobei diesen kaum die Zusam-
menhänge zwischen den einzelnen Faktoren der (Beifall bei der CDU/CSU)
Baukosten und ihrer späteren Miete bewußt sind -,
Richtig ist, daß die Bodenpreise einen bedeuten-
mit Einschränkungen auch Wohnungsunternehmen,
die die Baukosten aber zum Teil via Miete abwälzen den Anteil an den Baukosten ausmachen.
können. (Zuruf von der SPD: Bis zu 50 %!)
Es gäbe auch Alternativen. Nicht untersucht
- Bis zu 50 % in wenigen Ausnahmesituationen.
wurde z. B., ob gemeinnützige Unternehmen, Genos-
senschaften, Selbsthilfeprojekte oder auch kommu- Ich möchte Ihnen aus meiner weiteren Heimat
nale Eigenbetriebe kosten- und flächensparender zwei Beispiele geben, wie Kommunen mit diesem
bauen könnten. Es paßt logischerweise nicht in Ihr Problem umgehen: ein Beispiel der Nichtlösung und
Weltbild, einmal darüber nachzudenken, ob man ein Beispiel der Lösung dieses Problems. Es ist die
nicht auch Erfahrungen aus der DDR nutzen könnte. Stadt Ingolstadt, die offensiv die Instrumente des
Staatssekretär Günther hat darauf hingewiesen, daß Baugesetzbuch-Maßnahmengesetzes nutzt, Bauland
junge Familien nicht mehr in der Lage sind zu ausweist, damit die Bauwirtschaft anregt, zusätzli-
bauen. In der DDR war dies zum Teil möglich. Was in chen Wohnungsbau ermöglicht und im Ergebnis eine
der armen DDR möglich war, sollte doch auch in der Senkung der Mietpreise von Neubauwohnungen um
reichen Bundesrepublik möglich sein. bis zu 30 % bewirkt hat.
(Herbe rt Frankenhauser [CDU/CSU]: Ach
(Beifall bei der F.D.P.)
du grüne Neune!)
Es gab z. B. Modelle, daß man die Architekten da- Auf der anderen Seite steht das Beispiel der Stadt
durch sparen konnte, daß durch den Staat mehrere München mit ihrer rot-grünen Mehrheit.
Modelle entwickelt wurden, auf die man dann ganz (Zurufe von der CDU/CSU: Pfui! - Igitt!)
kostengünstig und billig zurückgreifen konnte. Aber
es ist mir klar, es paßt nicht in Ihr Weltbild, es darf Dort findet genau das Gegenteil statt. Do rt wird Bau-
nicht sein, weil in der DDR natürlich nichts funktio- landausweisung behindert, verzögert, verhindert.
niert hat.
(Lisa Peters [F.D.P.]: Sie findet gar nicht
Zum Schluß noch zu meinem Lieblingsthema Bo- statt!)
denpolitik.
Ein konkretes Beispiel ist die Panzerwiese, wo 6 000
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das muß aber Wohneinheiten nach langem Zerreden jetzt endlich
ganz kurz sein. entstehen werden, obwohl 12 000 Wohneinheiten
ohne Beeinträchtigung der Landschaft und Natur
möglich gewesen wären.
Klaus-Jürgen Warnick (PDS): Die Wohnungspro-
bleme in Deutschland kann man nur lösen, wenn (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)
man die Bodenpolitik ändert. Die Bodenspekulation
muß hoch besteue rt werden. Aber ich denke, das Dort findet eine Nichtausweisungspolitik, eine Nicht-
läuft hier nicht. Man verschenkt auf der einen Seite verdichtungspolitik statt, die im Ergebnis die Rei-
Milliarden und sagt dann auf der anderen Seite, im chen reicher macht und die weniger Begüterten, die
Haushalt ist kein Geld da. Das bestätigt immer wie- Geringverdiener aus der Stadt vertreibt. Das verant-
der meine Vermutung: Diese Regierung denkt und wortet eine Partei, die Sozialdemokratische Partei
fühlt zuallererst im Interesse der wenigen, die haben, Deutschlands heißt und den Beg riff „sozial" in ihrem
und nicht im Interesse der vielen, die Hilfe benöti- Parteinamen hat. Das ist eine unverantwo rtliche Poli-
gen. tik.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Abg. Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.]
meldet sich zu einer Zwischenfrage)
Ich bin sicher: Mit einer verantwortlichen Politik, - Herr Braun, Sie brauchen sich nicht zu bemühen.
mit einer In-die-Pflichtnahme aller am Bauprozeß Be- Sie wollen nur immer zusätzliche Redezeit. Ich habe
teiligten werden wir die Probleme lösen. keine Lust, Ihnen dabei zu helfen, wirklich nicht.
Ich danke. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ich möchte meine Befürchtungen an zwei Beispie-
len deutlich machen.
Angelika Mertens
Sie beklagen in Ihrer Initiative zu Recht den Zu- Wir sollten uns auf eine verstärkte Mobilität der
stand, daß die Preise in den letzten zehn Jahren um Menschen einstellen. In den verschiedenen Lebens-
40 % zugenommen haben. Aber diese Erhöhung ist phasen gibt es auch verschiedene Bedürfnisse im
schließlich nicht vom Himmel gefallen. Sie ist das Er- Hinblick auf das Wohnen. Aufwachsen in einer über-
gebnis der Wohnungsbaupolitik dieser Bundesregie- schaubaren, gesunden, Freiräume bietenden Umge-
rung in den letzten zehn Jahren. bung ist etwas sehr Schönes. Ständige soziale Kon-
trolle durch wohlbekannte und gut informierte Nach-
(Beifall bei der SPD - Josef Holle rith [CDU/ barn ist für junge Menschen so ungefähr das Nervtö-
CSU]: Das kann man so nicht sagen!) tendste, was es gibt.
Das Angebot an Wohnungen wurde bewußt redu- Wenn Arbeitsplatz und Wohnort weit auseinander-
ziert. Man hat ein wichtiges Instrument des Woh- liegen, wenn Kinder keine Ausbildung am Ort erhal-
nungsbaus, nämlich das Baugebot, durch die Weg- ten können, mag der Wohnwert noch so hoch sein,
nahme der Gemeinnützigkeit zerschlagen und wun- die Lebensqualität sinkt.
dert sich jetzt, warum die Preise so hoch sind. Ich (Beifall bei der SPD)
kann Ihnen nur sagen: Das ist Marktwirtschaft.
Wenn der längere Urlaub im Rentenalter größere
Wenn man glaubt, ein Grundrecht, nämlich das auf Freundlichkeiten gegenüber den Nachbarn voraus-
Wohnen, frei-marktwirtschaftlich einlösen zu kön- setzt, weil einer den Schnee schippen oder den Ra-
nen, braucht man entweder viel Ideologie oder viel sen mähen muß, dann wird sich bei manchem auch
Geld. Man kann dem natürlich auch entgehen, in- der Wunsch nach einer Zweizimmermietwohnung
dem man sagt, es gibt gar kein Grundrecht auf Woh- verstärken.
nen.
Weil die meisten Menschen aber fast ihr Leben
Nun wollen wir das real existierende Problem, daß lang ein Haus abbezahlen müssen, sind sie zwangs-
nämlich Wohnraummangel besteht und der Wohn- weise auch immobil. Man trennt sich nicht gern von
raum gleichzeitig unnötig teuer ist, alle im Hause ge- Dingen, die teuer waren. Es macht aber keinen Sinn,
meinsam angehen. Das haben wir uns versprochen. allein und einsam in einem 140-Quadratmeter-Haus
Das ist eine gute Ausgangsbasis für eine Lösung. zu hocken oder die Hälfte des Gehaltes für die Miete
ausgeben zu müssen.
Ich möchte dabei auf zwei Aspekte eingehen. Im
Wir werden uns also auf neue und sehr unter-
vorliegenden Papier ist ganz viel von Eigentum die
schiedliche Wohnwünsche einstellen müssen. Wir
Rede, aber ganz wenig von Mietwohnungen. Als Ab-
werden uns nicht auf die Quantität der Einsparung
geordnete eines Ballungsgebietes möchte ich ver-
zurückziehen können; wir werden auch die soziale
ständlicherweise erstens eine Aussage, welchen Stel-
Brauchbarkeit einer Wohnung definieren müssen.
lenwert der Mietwohnungsbau bei Ihnen erhalten
soll, und zweitens wissen, wie sich die - ich formu- Das, was wir jetzt bauen, wird wohl auch in den
liere das sehr vorsichtig - „Eigentumseuphorie" mit nächsten 100 Jahren noch stehen. Wir sollten also
der Umwelt verträgt. alle zusammen nicht den Fehler machen, zu kurz zu
springen, indem wir glauben, alle Probleme könnten
Innerstädtische Bebauungen, Verdichtungen und durch junge Häuser gelöst werden. Preiswerte Lö-
Ergänzungen werden einen wesentlichen Beitrag bei sungen j a, billige nein.
der Versorgung mit preiswertem Wohnraum leisten
müssen. Flächen sparen zu wollen und gleichzeitig (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
in die Fläche zu gehen ist ein Widerspruch, der mei- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
ner Meinung nach auch mit den intelligentesten Lö-
sungen nur zum Teil aufgelöst werden kann. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wo rt hat der
Kollege Gert Willner, CDU/CSU.
Bauen ist immer ein Kompromiß zwischen Wün-
schen und finanziellen Möglichkeiten. Unsere finan- (Zuruf des Abg. Achim Großmann [SPD])
ziellen Möglichkeiten kennen wir; wir können dar-
über streiten, wie die Verteilung erfolgt. Unser Defi- Gert Willner (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine
zit liegt woanders. Die uns von interessierter Seite Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kolle-
definierten Wohnwünsche bewegen sich fast aus- gen! Ich gehe davon aus, daß Übereinstimmung be-
schließlich in den Kategorien von Keller und zusätzli- steht, kosten- und flächensparendes Bauen zu unter-
chem WC und natürlich Eigentum um jeden Preis. stützen. Es gibt mehrere wichtige Gründe, daß wir
uns heute damit befassen. Die eigene Wohnung ist
Die Kategorien „bewußter Umgang mit Geld und
ein hohes Gut. Ausreichender Wohnraum, breit ge-
Raum" , „sparsamer Verbrauch von Umwelt" , „so-
streutes Eigentum ist ein Beitrag zum sozialen Frie-
ziale Netze und Kommunikation" spielen in der Re-
den. Dem Thema Wohnungen ist in der Koalitions-
gel nur unter Fachleuten eine Rolle. Hier haben wir
vereinbarung deshalb ein hoher Stellenwert einge-
einen Nachholbedarf, und hier müssen wir Konzepte
räumt worden.
für die Regel und nicht für die Ausnahme entwickeln
und umsetzen. Diese werden vor allem in einer ver- Der Vermittlungsausschuß hat zum Jahressteuer-
dichteten Bauweise umgesetzt. Dies zu vernachlässi- gesetz 1996 entschieden, die Abschreibungen für
gen ist fahrlässig, und ich glaube, Sie befinden sich den frei finanzierten Wohnungsbau zu senken. Wir
genau auf diesem Weg. bedauern dies. Dadurch und durch verringerte Haus-
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5225
Gert Willner
haltsansätze für den öffentlich geförderten Woh- sein Erscheinen zugesagt hat und sich persönlich da-
nungsbau in Bund und Ländern müssen wir mit we- von überzeugen kann, daß do rt eine sehr gute Lei-
niger Geld beim Wohnungsbau auskommen. Des- stung und ein Beitrag zum kostengünstigen Bauen
halb ist es erstens nötig, die öffentlichen Mittel zu erbracht wird.
konzentrieren, Stichwort einkommensorientierte För-
derung. Zweitens ist es erforderlich, p ri vates Kapital Preiswertes Bauen, sehr geehrte Damen und Her-
zu mobilisieren, z. B. über die Revitalisierung der ren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist wohl, wie
Städtebauförderung für die alten Länder. Drittens gilt Biedenkopf sagt, im wesentlichen ein Denkproblem.
es, alle Möglichkeiten des kosten- und flächenspa- Ich sage sehr deutlich: Der Preis von morgen ist das
renden Bauens auszunutzen, denn hier sind zusätzli- Ergebnis des Nachdenkens von heute.
che Ressourcen zu mobilisieren, ohne daß es Geld (Beifall bei der CDU/CSU)
kostet. Um dieses Ziel geht es insgesamt: Mit weni-
ger Geld den Wohnungsbau auf möglichst hohem „Bauen muß in Deutschland zur Sicherung eines
Stand fortzuführen. breiten Wohnungsangebotes für alle Bevölkerungs-
schichten wieder preisgünstiger werden". Dies „er-
Der zweite Grund ist: Viele und gerade junge Fa- leichtert zugleich die Wohnungseigentumsbildung
milien mit Kindern stehen vor der Alternative, preis- und trägt ... zur Verstetigung der gesamten Woh-
günstig oder gar nicht zu bauen. Wenn wir mit dem nungsbautätigkeit bei." Dies schafft „sichere Ar-
Ziel, mehr Wohnungseigentum zu schaffen, Erfolg beitsplätze". So hat sich Minister Töpfer geäußert.
haben wollen, muß kosten- und flächensparendes Wo der Minister recht hat, hat er recht.
Bauen nicht nur Wunsch, sondern tägliche Realität
werden. (Beifall bei der CDU/CSU)
Ein dritter Grund ist, deutlich zu machen: Wir wol- Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freunde,
Sie haben die Eingangsbemerkung des Kollegen
len bereits geltendem Recht im Rahmen dieser öf-
Großmann gehört.
fentlichen Diskussion in der Verwaltungs- und Hand-
lungspraxis mehr Beachtung verschaffen. Denn das Entsprechend der Bitte
Wohnungsbauförderungsgesetz 1994 verpflichtet von Kollegen aus zwei Fraktionen
ausdrücklich im sozialen Wohnungsbau zu kosten- schließe ich gereimt
und flächensparendem Bauen, und für Bund, Länder — und bin sicher: im Ziel vereint —,
und Gemeinden besteht nach dem Zweiten Woh- denn unser Ziel ist Kosten senken,
nungsbaugesetz eine Rechtspflicht zur Beschaffung in der Planung keine Zeit verschenken —
von Bauland. Das Gesetz sagt klar: Bund, Länder deutlich kostensparend denken.
und Gemeinden haben die Aufgabe, geeignetes Bau-
land für den Wohnungsbau, nicht nur für den sozia- Vielen Dank.
len Wohnungsbau, bereitzustellen. Die Gemeinden (Beifall bei der CDU/CSU)
haben darüber hinaus die Aufgabe, für eine Bebau-
ung mit Familienheimen geeignete Grundstücke zu
beschaffen, baureif zu machen und zu überlassen. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Ich schließe die
Wir brauchen kein neues Recht, wir brauchen keine Aussprache.
Grundsteuer C. Wir wollen, daß das geltende Recht Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vor-
verstärkt beachtet und umgesetzt wird. Es mangelt lage auf Drucksache 13/2247 an die in der Tagesord-
an einem Angebot an Bauland. nung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit
Wie wichtig der Kostenfaktor Bauland auch im so- einverstanden? — Dann ist die Überweisung so be-
zialen Wohnungsbau ist, wird daran deutlich, daß auf schlossen.
Grundstückskosten immerhin 12 %, auf Gebäudeko-
sten dagegen nur 66,5 %, auf Stellplätze und Außen- Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:
anlagen 6 %, auf Baunebenkosten einschließlich Ar-
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ge rt
chitekten- und Ingenieurleistungen 15 % entfallen.
Weiskrchn(lo),D.WfganFrei-
Für die Grundstückskosten sind das bei sehr preis-
herr von Stetten, Gerd Poppe und weitere Ab-
werter Erstellung pro Quadratmeter 400 bis 500 DM.
geordnete
Deshalb sind die Städte und Gemeinden gefordert,
bereits bei der Bauleitplanung einen Beitrag zu ratio- Humanitäre Geste für die Opfer des UN-Un-
nellerem und kostengünstigerem Bau zu leisten, z. B. rechts in den baltischen Staaten Litauen, Lett-
durch sparsame Erschließung. Das Ziel heißt: kosten- land und Estland
günstig planen, kostengünstig bauen.
— Drucksache 13/1294 —
Es gibt auch in der Bundesrepublik sehr gute Bei- Überweisungsvorschlag:
spiele für kostengünstiges Bauen und für eine prakti- Innenausschuß (federführend)
zierte Zusammenarbeit am Bau, ein wichtiger Ge- Auswärtiger Ausschuß
sichtspunkt, um zu günstigeren Kosten zu kommen. Rechtsausschuß
Ich verweise auf eine Zusammenarbeit auf freiwilli- Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Haushaltsausschuß
ger Grundlage im Rahmen der Bauwirtschaft in
Schleswig-Holstein bei der Arbeitsgemeinschaft für Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die
zeitgemäßes Bauen, die in diesem Jahr immerhin Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — Kein
50 Jahre besteht und bei der auch Minister Töpfer Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
5226 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
Bis auf die Unterwäsche entkleidet, mußten die Ich meine, daß diese bisherige Verweigerungshal-
Juden in gleichbleibendem Fluß auf die Gruben tung der Bundesregierung tatsächlich auf eine „bio-
zurücken, die sie dann über eine Schräge betre- logische Lösung" hinausläuft, und der Bundestag,
ten mußten. In den Gruben mußten sich die Ju der hier vor Monaten so würdig und bewegend der
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5229
Winfried Nachtwei
Befreiung von Auschwitz, des Kriegsendes und der einzelnen Ausgleichsvoraussetzungen, die Auszah-
Millionen Opfer gedacht hat, darf, denke ich, nicht lungsmodalitäten, die Organisationsfragen etc. wäre
zulassen, daß die ärmsten der überlebenden NS-Op- sicherlich noch zu sprechen. Dabei müssen sicherlich
fer bewußt vergessen werden. auch die Präzedenzwirkungen, das Gesamtvolumen,
der jeweils staatspolitische Kontext und ähnliches
(Beifall im ganzen Hause)
eine Rolle spielen. Das mag angesichts des erlittenen
Wenigstens ein Lebensabend ohne materielle Not, Leids der Menschen immer rasch als engherzig und
das ist die Selbstverständlichkeit, die wir mit unse- bürokratisch erscheinen, ist aber für einen haushalts-
rem Gruppenantrag für die NS-Opfer im Baltikum mäßig so durchreglementierten Korpus wie den deut-
bewirken wollen. Bürgerinnen und Bürger in Frei- schen Staat unumgänglich.
burg, Göttingen, Münster, Lingen, Bielefeld, Ham-
Jedoch muß wieder darauf hingewiesen werden,
burg, Bremen, Lübeck, Berlin, Leipzig und anderen
daß es sich wirklich nur um wenige Fälle handelt
Städten setzen sich inzwischen sehr engagiert und
und die zu bedenkenden Menschen ein Alter er-
persönlich für diese Menschen ein. Ich meine, wir als
reicht haben, das jedes weitere Zuwarten verbietet.
Parlament und die Bundesregierung sollten diesem
vorzüglichen Vorbild von Bürgerinnen und Bürgern Für den Antrag spricht also vieles, wenn nicht sehr
in diesem Land endlich nachkommen. vieles. Es gilt, ihn mit den fortgeschrittenen Verhand-
Danke schön. lungen und deren Resultaten noch irgendwie in Ein-
klang zu bringen. Man bedauert, daß sich die Bera-
(Beifall im ganzen Hause) tungen nicht früher, aus welchen Gründen auch im-
mer, in diese Richtung bewegen konnten.
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wo rt hat jetzt Ich hoffe sehr, daß es für eine zusammenführende
der Kollege Professor Dr. Schmidt-Jortzig. Lösung noch nicht zu spät ist und daß am Ende ein
für die betroffenen Menschen wirklich gedeihliches
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig (F.D.P.): Frau Präsiden- Ergebnis steht. Ich persönlich jedenfalls würde dies
tin! Meine Damen und Herren! Das ist nun - nament- sehr gern unterstützen.
lich für einen Abgeordneten der Regierungskoali- Danke.
tion - mit diesem Antrag wirklich einigermaßen (Beifall im ganzen Hause)
schwierig. Im Grundsatz kann es ja überhaupt nie-
manden geben, der dagegen ist, daß sich die Bun-
desrepublik Deutschland weiter für jene Opfer des Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächste hat die
Nationalsozialismus engagiert, die bisher noch ohne Kollegin Ulla Jelpke das Wo rt .
oder jedenfalls ohne angemessene Entschädigung
geblieben sind. Das gilt namentlich bezüglich derje-
nigen Menschen, die erst nach dem Fall des Eisernen
Ulla Jelpke (PDS): Frau Präsidentin! Meine Damen
Vorhangs überhaupt in die Lage kamen, eigenstän- und Herren! Das Gute an dem uns heute vorliegen-
dig und individuell ihre Ansprüche vorzubringen. den Antrag ist, daß er nicht versucht, die Lage zu be-
schönigen, daß er in klaren Worten sagt, worum es
Ich will auch persönlich sagen, daß sich die Wie- geht, nämlich lediglich um eine humanitäre Geste in
dergutmachung nicht nur aus Gründen der Gleich- Richtung der baltischen NS-Opfer.
behandlung, sondern aus unmittelbarem Gerechtig-
keitsempfinden an dem messen lassen muß, was an- Der Staat BRD hat in den zurückliegenden
dere Opfer bereits erhalten bzw. erhalten haben. Ich 50 Jahren nie ein Hehl daraus gemacht, für wen er
denke insbesondere an die Fälle in Rußland, Polen sich in Lettland verantwortlich fühlt und für wen er
und Weißrußland. Do rt werden zwar insgesamt weni- die Rechtsnachfolge übernommen hat. 50 Jahre lang
ger Mittel pro Entschädigungsfall ausgezahlt, weil hat man den Opfern mit größtem Zynismus und in al-
die Stiftungsförderung mit dem Kapitallimit die Lei- ler Konsequenz Hilfeleistungen verwehrt. Nicht ein
stungen begrenzt, dafür gibt es aber individuelle einziger hat eine Entschädigung ausgezahlt bekom-
Entschädigungen, was bei der Armut in jenen Län- men. Ganz offensichtlich haben die diversen Regie-
dern sicherlich noch besonderes Gewicht hat. rungen dieses Bundes auf die biologische Lösung des
Problems gesetzt, nämlich auf das langsame Dahin-
Andererseits: Wie paßt das jetzt noch, wo die Ver- sterben der NS-Opfer.
handlungen mit Estland, Lettland und Litauen abge-
schlossen sind bzw. kurz vor dem Abschluß stehen? 80 000 Jüdinnen und Juden haben die Nazi-Scher-
Freilich zählte die deutsche Verhandlungslinie dort gen während ihres Terrorregimes in Riga umge-
nur auf institutionelle Förderung. Dreimal 2 Millio- bracht. Nach der systematisch bet riebenen Vernich- -
nen Mark sollten in die baltischen Staaten gehen. tung der Jüdinnen und Juden durch die SS folgte die
Damit werden Altersheime, Pflegeeinrichtungen, Verweigerungshaltung der Verantwortlichen in der
Krankenhäuser finanziert, aber das kann im Grunde BRD.
nicht zufriedenstellen. Von den KZ-Häftlingen lebten 1993 nur noch
(Beifall im ganzen Hause) 124 Menschen in Litauen. Heute leben sie unter den
schlimmsten materiellen Bedingungen; das haben
Denn Wiedergutmachung für persönlich erlittenes wir hier schon von einigen Kolleginnen gehört. Sie
Unrecht bedarf nun einmal individueller Entschädi sind teilweise nicht einmal in der Lage, ihre medizini-
gung. Über die Höhe der Ausgleichsleistungen, die sche Versorgung zu finanzieren.
5230 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
Ulla Jelpke
Das rührt die Bundesregierung wenig. Selbst heute Hilfe für die Opfer der nationalsozialistischen Ge-
wird mit allen bürokratischen Schlichen versucht, waltherrschaft in den baltischen Staaten zu leisten,
sich der Entschädigungszahlungen zu entziehen. die vorher nicht entschädigt werden konnten. Sie
Nichts charakterisiert dieses Verhältnis krasser als kennen die Gründe.
die Tatsache, daß die Täter, die lettischen Angehöri-
gen der Waffen-SS, selbstredend Ansprüche auf eine (Zuruf von der CDU/CSU: Auch von der
Kriegsversehrtenrente haben. Während die Opfer DDR nicht!)
leer ausgehen, bekommen die Veteranen der SS
gleich das Siebenfache der normalen lettischen Ich will das jetzt nicht zu einer Gegenpolemik ma-
Rente durch die BRD ausgezahlt. Hier hat die BRD chen, sondern nur feststellen, aus welchen Gründen
sofort die Rechtsnachfolge übernommen; den Tätern die Opfer do rt im Gegensatz zu denen in anderen
gilt die Fürsorgepflicht dieses Staates. Staaten nicht früher entschädigt werden konnten.
(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ Das Entschädigungsangebot - Sie versuchen hier
CSU]: Sie sind sehr hilfreich!) schon wieder die Dinge zu verdrehen - heißt nicht
2 Millionen DM für die drei baltischen Staaten, son-
Nichts charakterisiert diese Verbundenheit besser dern es heißt jeweils 2 Millionen DM für jeden einzel-
als die Äußerung eines SS-Rentners mit Namen Bo ris nen baltischen Staat.
Michailows gegenüber dem Fernsehteam von
„Panorama". Er bedankte sich bei der deutschen Re- Dieses Angebot - ich muß das sagen, sosehr ich
gierung dafür, daß sie die alten Kämpfer der Waffen- mir bewußt bin, wie wenig populär es sein wird -
SS nicht vergessen hat. Er sagte, er hätte nie ge- liegt im Vergleich zu den do rt noch lebenden Opfern
dacht, daß einmal wieder eine Zeit kommen werde, natürlich erheblich höher als die Mittel, die wir für
in der seine Dienste für Hitler vom deutschen Staat Moskau, für Minsk, für Kiew zur Verfügung stellen
honoriert würden. konnten, und Sie müssen das wirklich auch beden-
ken. Wenn Sie diese Mittel individuell auszahlen
Die Bundesregierung will sich nun mit einer ein- wollen, werden - darüber sind wir uns völlig im kla-
maligen Zahlung von 2 Millionen DM an die drei bal- ren - Nachforderungen kommen. Es wird dann ein
tischen Staaten von den Entschädigungsforderungen Präzedenzfall ausgelöst, über den man hier nachden-
freikaufen. Das tatsächlich erfahrene Leid, der tat- ken muß.
sächlich entstandene Schaden der Opfer wird damit
weiterhin nicht berücksichtigt und bis zum bitteren Meine Damen und Herren, es ist mit allen drei bal-
Ende ignoriert. tischen Regierungen Einigkeit darüber erzielt wor-
den, daß mit den Projekten, die durch die jeweils
Ich hoffe dennoch, daß dieser Antrag in diesem 2 Millionen DM, die wir jedem der baltischen Staaten
Haus eine Mehrheit finden wird; denn ich denke, zur Verfügung stellen werden, den individuellen Be-
daß meine Gruppe ihn unterstützen wird. dürfnissen der NS-Opfer nahegekommen wird, so
Danke. wie es in Ihrem Antrag auch heißt.
(Beifall bei der PDS) Wir haben am 22. Juni 1995 eine Regierungsver-
einbarung über die Finanzierung solcher Projekte
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als letzter zu die- abgeschlossen. Wir schaden uns außenpolitisch,
sem Tagesordnungspunkt spricht der Staatsminister wenn nunmehr von neuem mit Estland verhandelt
Helmut Schäfer. werden sollte, obwohl Estland davon Gebrauch ge-
macht hat und einverstanden ist. Solche Neu- und
Nachverhandlungen würden auch die laufenden
Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen Verhandlungen mit Lettland und Litauen verzögern.
Amt: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Ich glaube, daß dieses Thema zu ernst ist - das war ja Die litauische Regierung ist mit der von uns vorge-
auch bei den Ausführungen der ersten drei Redner schlagenen Lösung einer humanitären Geste einver-
deutlich -, als daß es für Versuche ausgenutzt wer- standen und will ein konkretes Projekt vorlegen. Das
den könnte, die Bundesregierung in irgendeiner dortige Außenministerium drängt darauf, daß bereits
Weise anzugreifen. Ich muß hier sowohl die vom auf der nächsten Kabinettssitzung dieses Thema ab-
Redner der Grünen geäußerte Behauptung zurück- schließend beraten wird. Die lettische Regierung hat
weisen, wir warteten eine biologische Lösung ab, als angekündigt, in Kürze einen konkreten Vorschlag
auch Ihre Ausführungen zur Waffen-SS, die schlicht vorzulegen, sobald die Regierung dort neu gebildet
falsch sind. Erkundigen Sie sich bitte über die ge- wird. Die deutsche Botschaft in Riga ist angewiesen,
nauen Einzelheiten, dann werden Sie sehen, daß den neuen Minister sofort darauf anzusprechen.
Ihre Ausführungen unzutreffend sind.
Der Bundesregierung ist die Situation durchaus be-
Meine Damen und Herren, ich muß Ihnen sagen, kannt, Herr Kollege Weisskirchen. Ich teile Ihre Be-
daß die Entschließung, die am 29. Juni 1994 im Deut- schreibung des grauenvollen Unrechts; denn ich war
schen Bundestag verabschiedet wurde, von der Bun- bei meiner allerersten Reise, die mich jemals in die
desregierung von Anfang an begrüßt worden ist. Sie Sowjetunion geführt hat, 1968 schon in Litauen. Ich
wissen, daß es in diesem Zusammenhang Verhand- war auch in Wäldern, in denen solches Unrecht ge-
lungen auch mit der Zielsetzung dieses Antrages ge- schehen ist. Ich erinnere mich sehr wohl, auch wenn
geben hat, und zwar sehr deutlich, um humanitäre das schon sehr lange zurückliegt.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5231
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Staatsmi- Ich wäre dankbar, wenn das Signal von der Regie-
nister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen rung käme. Wir machen uns in persönlichen Ver-
Volker Beck? handlungen mit den dafür Zuständigen in Litauen
und in Lettland dafür stark, eine Zustimmung zu ei-
ner wie auch immer gearteten Individuallösung ne-
Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen ben der stationären Lösung zu erreichen.
Amt: Ich möchte gern meine Rede fortsetzen.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und
Ich darf Ihnen sagen, daß es auch für die drei balti- dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
schen Regierungen nicht einfach war, die zum Teil
erheblich divergierenden Meinungen der Betroffe-
nen zum deutschen Angebot angemessen zu beant- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Eine weitere Kurz-
worten. Wir wollen diese Schwierigkeiten der balti- inte rv ention vom Kollegen Volker Beck.
schen Regierungen und auch die hier aufgezeigten
Schwierigkeiten in keiner Weise ignorieren, aber ich Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
muß hier sagen: Es ist vor allem auch Sache der Re- Herr Schäfer, ich hätte Sie gerne zu der Verhand-
gierung der baltischen Staaten, eine für möglichst lungsstrategie der Bundesregierung gegenüber den
alle Opfer des nationalsozialistischen Regimes zufrie- baltischen Staaten befragt. Wir hatten ein Berichter-
denstellende Lösung zu finden. stattergespräch im Innenausschuß mit einer Vertrete-
rin Ihres Ministeriums, bei dem ich den Eindruck ge-
Ich bin der letzte, Herr Kollege Schmidt-Jortzig, wonnen habe, daß man mit Estland prioritär dahin
der hier nicht auch die Meinung vertritt, daß man bei gehend verhandelt hat, daß es zu einem Notenaus-
den Beratungen, die noch anstehen und die sich tausch kommt, mit dem Estland für seine Staatsbür-
auch mit dem uns zur Verfügung stehenden Finanz- ger auf weitere Ansprüche gegenüber der Bundesre-
rahmen beschäftigen müssen - das muß eine Bun- publik Deutschland verzichtet. Das klingt meines Er-
desregierung hier auch sagen dürfen -, Überlegun- achtens danach, daß man mehr an einem außenpoli-
gen anstellen kann, in welcher Weise man dieses tischen Ablaßhandel als an einer Entschädigung der-
oder jenes noch verändern wird. jenigen Menschen Interesse hat, die so unendliches
Wir sind uns durchaus bewußt, wie die Interessen- Leid durch einen deutschen Staat, dessen Rechts-
lage ist und welche dringenden Probleme von Ihnen nachfolger wir sind, erlitten haben.
erkannt und hier auch dargestellt worden sind. Aber Ich meine, es gibt einfache Lösungen. Die
ich muß noch einmal sagen: Wir haben bei den bishe- Deutsch-Baltische Parlamentariergruppe und die
rigen Verhandlungen versucht, das, was uns zur Ver- Claims Conference haben angeboten, die individu-
fügung steht, einigermaßen sinnvoll anzuwenden, im elle Entschädigung dieses Personenkreises zu orga-
Gespräch mit den Regierungen zu einer Einigung zu nisieren. Das ist neben den Vereinbarungen über die
finden. Wenn Sie im Deutschen Bundestag der Auf- 2 Millionen DM für die jeweiligen Staaten organisier-
fassung sind, das sei so nicht richtig, muß das hier bar. Wenn Sie die Summen, die in Rußland und in Be-
neu bedacht und im Verlauf der Beratungen, die lorußland an die Opfer individuell über die Stiftung
noch anstehen, auch neu diskutiert werden. Ich ausgezahlt werden, auch diesen 340 noch lebenden
weise nur darauf hin, daß es Bedenken gibt, die ich NS-Opfern zukommen lassen, wird die Bundesrepu-
hier zumindest vorsichtig angedeutet habe und die blik davon nicht arm. Ich denke, sie nützt ihrem in-
nicht mit den einzelnen Opfern do rt, sondern mit Fol- ternationalen Ansehen dadurch sehr und wird dieser
gewirkungen, die nicht auszuschließen sind, in Zu- historischen Aufgabe gerecht.
sammenhang stehen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Vielen Dank. bei der CDU/CSU, der SPD und der PDS)
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Damit schließe ich
die Aussprache.
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wo rt zu einer
Kurzintervention hat der Kollege Wolfgang von Stet- Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vor-
ten. lage auf Drucksache 13/1294 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit
einverstanden? - Dann ist die Überweisung so be-
Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten (CDU/CSU): schlossen.
Herr Staatsminister Schäfer, wenn von der Bundesre-
publik Deutschland ein Signal gegeben wird, daß ein Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Teil dieser Gelder - mit oder ohne Aufstockung - für
individuelle Maßnahmen zur Verfügung steht, ma- Erste Beratung des von den Fraktionen der
chen wir von der Deutsch-Baltischen Parlamentarier- CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs
gruppe uns dafür stark, die Regierung in Litauen und eines ... Strafrechtsänderungsgesetzes -
Lettland dazu zu bringen, dem zuzustimmen, und §17bis9StGB(.rÄnd)
sorgen dafür, daß die Regierung in Estland, die jetzt - Drucksache 13/2463 -
wieder gewechselt hat, keine Inte rvention macht; Überweisungsvorschlag:
denn die Sache mit Estland ist abgeschlossen, und Rechtsausschuß (federführend)
Estland hat das Problem auch nicht. Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
5232 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
Hans-Joachim Hacker
Etwas anderes ist es, befristete Sonderregelun- Norbert Geis (CDU/CSU): Kollege Hacker, würden
gen für Ballungsräume zu ermöglichen und Sie mir zugestehen, daß wir entsprechend dem Vor-
durch Änderung im Gesetz für Milderung der schlag aus dem Jahre 1992, den Sie zitiert haben, die
Folgen zu sorgen. Zu der letztgenannten Mög- Kündigungsfrist auf sechs Monate verlängert haben
lichkeit zähle ich die bei uns vorhandene Bereit- und daß wir entsprechend diesem Schreiben auch in
schaft, die Kündigungsfrist für gewerbliche der letzten Rechtsausschußsitzung vorgegangen
Räume von bislang drei auf sechs Monate zu ver- sind, als wir darum gebeten haben, dieses Problem
doppeln. Denkbar ist auch eine auf bestimmte nicht nur bezogen auf Berlin und Brandenburg zu se-
Ballungsräume beschränkte Regelung hinsicht- hen, sondern auch bezogen auf andere Ballungszen-
lich der Miethöhe bei gewerblichen Objekten. tren in der Bundesrepublik Deutschland, beispiels-
weise Frankfu rt , München und Stuttgart?
Meine Damen und Herren, genau dies ist die Ziel-
richtung des Gesetzentwurfes der Länder Berlin und
Brandenburg. Fast könnte man meinen, Herr Geis, Hans-Joachim Hacker (SPD): Vielen Dank, Herr
Sie wären der Inspirator des Bundesrates. Geis, für die Frage. Selbstverständlich haben Sie in
der letzten Rechtsausschußsitzung diese Forderun-
(Norbe rt Geis [CDU/CSU]: Eine Rolle, die gen gestellt. Diese Forderung kam für mich aber aus
mir durchaus zustehen würde!) heiterem Himmel.
- Das wäre schön. (Norbert Geis [CDU/CSU]: Das kam sie
Auch die Liberalen setzen auf verbale Erklärun- schon im Jahre 1992!)
gen. In einem Brief vom 18. April dieses Jahres er- - Sie haben das im B rief von 1992 dargestellt.
klärt der Bezirksvorsitzende der F.D.P. Spandau an
die Abgeordnete des Berliner Abgeordnetenhauses, Die Argumentation, die ich seit vier Monaten bei
Frau Gerlinde Schermer, folgendes: dem Versuch, Berichterstatterrunden zu organisie-
ren, gehört habe, lautete, daß sich Ihre Fraktion zu
Zu Ihrer freundlichen Kenntnis darf ich Ihnen dem Antrag der Länder Berlin und Brandenburg
mitteilen, daß der letzte Landesparteitag der Ber- keine einheitliche Meinung gebildet habe. Die Vor-
liner F.D.P. auf meinen Antrag hin fast einstimmig schläge könnten in einer Berichterstatterrunde und
folgenden Satz in die Wahlplattform der F.D.P. daher auch im Rechtsausschuß nicht abschließend
Berlin für die Abgeordnetenhauswahl 1995 auf- zur Abstimmung gestellt werden. Daher ist es in der
genommen hat: Zugleich setzt sie sich dafür ein, letzten Ausschußsitzung nicht zur Abstimmung ge-
den Schutz der Atelier- und Gewerbemieter nach kommen, unabhängig von den Hakeleien vorher. In
Beispielen anderer Staaten der Europäischen der letzten Ausschußsitzung haben Sie die Forde-
Union zu verbessern. Es wäre nett, wenn Sie rung der SPD-Bundestagsfraktion und der Fraktion
noch einmal nach der Zusammenstellung der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, zur Abstimmung zu
Schutzbestimmungen für Gewerbemieter suchen kommen, abgelehnt mit dem Hinweis, Sie seien nicht
könnten. Ich würde den zum offiziellen Pro- beschlußfähig.
gramm erhobenen Schutz der Gewerbemieter
gern mit Beispielen aus der Europäischen Union Entscheidend ist für mich: Das Argument, es be-
ausfüllen. stehe noch Diskussionsbedarf, greift nach meiner
Auffassung nicht. Alle Argumente sind bei der Anhö-
Die F.D.P. geht also noch deutlich weiter, als Herr rung ausgebreitet worden. Wir hätten die Chance ge-
Geis 1992 zu gehen bereit war. Warum nur will die habt, in der Zeit von der Anhörung am 24. April 1995
F.D.P. gleich einheitliches europäisches Schutzrecht bis in den September hinein das Problem auszudis-
schaffen? Die Vorschläge der Länder Berlin und kutieren. Ich habe zweimal das Angebot einer Be-
Brandenburg sind doch für die Lösung der vorliegen- richterstatterrunde gemacht, aber wenig Resonanz
den Probleme völlig ausreichend. erfahren.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist ein Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will
Zickzackkurs, den die Koalition in dieser Sache fährt. mich ausdrücklich noch einmal gegen die Auffas-
Mit dem Gesetzentwurf der Länder Berlin und Bran- sung wenden, mit diesem Gesetzentwurf sollten In-
denburg wird nicht die Einführung der Planwirt- vestitionsblockaden aufgerichtet werden; denn
schaft bei den Gewerberaummieten beabsichtigt, Mietvereinbarungen sollen bei neugeschaffenem
auch Investitionen werden nicht gefährdet; denn nur oder umfassend modernisiertem Geschäftsraum wei-
für bestimmte Gebiete sollen die Regelungen gelten, terhin frei aushandelbar sein. Es gibt also keine Inve-
die erst nach Rechtsverordnung bestimmt werden. stitionsbremse.
Der Kern der beabsichtigten Regelung, nämlich
Nachweis eines berechtigten Interesses des Vermie- Im Sommer erklärte Ihre Parteikollegin Frau Wöhrl
ters bei Kündigung und Kappungsgrenze bei Neu- zu dem Gesetzentwurf - daraus wird noch einmal
vermietung in Höhe von 30 %, ist vertretbar. deutlich, welche Position Ihre Partei dazu einnimmt -,
man müsse den Regenschirm nicht mehr aufspan-
nen, wenn es nicht mehr regnet. Das waren ihre
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Hacker, ge- Worte.
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Geis?
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Hacker, ge-
Hans-Joachim Hacker (SPD): Von Herrn Geis statten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeord-
gerne. neten Feilcke?
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5235
Hans-Joachim Hacker (SPD): Ja, bitte. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt
der Kollege Gerald Häfner.
Jochen Feilcke (CDU/CSU): Herr Kollege, würden
Sie mir als Nichtjuristen folgende Frage beantwor- Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau
ten: Würde es der von mir unterstützten Intention Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
dieses Gesetzentwurfes helfen, wenn bei der Formu- denke, zur Sache selbst sollte ich nicht mehr allzuviel
lierung nicht der Begriff der Gewerberaummieten, sagen. Das ist zum Teil schon vorgetragen worden.
sondern der Begriff der Geschäftsraummieten be- Wir haben es mit einem Gesetzentwurf zu tun, der
nutzt wird? Denn es geht ja in der Tat nicht allgemein uns seit Jahren vorliegt; einem Gesetzentwurf, der
um alle Gewerberäume - sie stehen teilweise leer -, ebenso notwendig wie überfällig ist; einem Gesetz-
sondern um Läden, um Geschäftsräume. Wäre das entwurf, der vernünftig ist. Es geht um ein nicht
nicht möglicherweise ein hilfreicher Vorschlag, um mehr schleichendes, sondern galoppierendes Pro-
hier zu einem Erfolg zu kommen? blem: den Verlust der Urbanität der Stadt, ganz be-
sonders in Berlin und im Speckgürtel um Berlin, aber
Hans-Joachim Hacker (SPD): Seitens der SPD ist auch in anderen Bereichen.
von Anfang an Gesprächsbereitschaft signalisiert Das kleinere und mittlere Gewerbe geht kaputt,
worden. Ich räume ein, daß es unterschiedliche Miet- wird verdrängt. Man kann sich do rt die exorbitanten
preisentwicklungen gibt - nicht nur in den neuen Mietsteigerungen nicht mehr leisten. Damit stirbt -
Ländern, auch in den Ballungsgebieten der alten ich glaube, das wissen alle hier im Raum - ein Stück
Länder - und die Preisentwicklung bei Büroräumen Stadt, ein Stück Leben. Das betrifft den Bäcker wie
wohl anders zu bewerten ist als die Preisentwicklung den Klempner, den Kinderladen wie den Frisör. Das
bei Mieträumen für Handwerksbetriebe und die Ent- ist schlimm, besonders für alte Menschen. Es ist
wicklung der Ladenmieten. schlimm für Familien, für Menschen mit Kindern. In
Das hätten wir im Berichterstattergespräch ausdis- manchen Stadtteilen sind gegenwärtig 40 bis 50 %
kutieren können. Wir hätten uns dazu die Meinung der Ladengewerbe in ihrer Existenz bedroht.
des zuständigen Bundesministeriums einholen kön- Nun liegt uns seit Jahren ein Gesetzentwurf des
nen. Wenn verfassungsrechtliche Bedenken gegen Bundesrates vor, der, wie ich meine, eine maßvolle
eine solche Formulierung beständen, hätten wir eine und vernünftige Lösung vorschlägt: Begrenzung der
solche Differenzierung nicht vornehmen können. Wir Mietpreissteigerungsmöglichkeiten, Einschränkung
hätten das, wie gesagt, im Berichterstattergespräch des Kündigungsschutzes - und dies nur in begrenz-
wohl ausdiskutieren können. Ich hatte zweimal dazu ten Gebieten für eine Übergangszeit. Nun reden wir
eingeladen, aber die CDU war der Meinung, der Re- seit Jahr und Tag über diesen Gesetzentwurf - ohne
genschirm sei nicht mehr nötig, die Probleme seien jedes Ergebnis.
verflogen wie der Nebel in der Sommersonne.
Es gibt in manchen anderen Parlamenten die Me-
(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Das kann man thode des Filibusterns, also so lange zu reden, bis es
so nicht sagen!) zu spät ist.
Frau Wöhrl, die Berichterstatterin zu diesem
(Michaela Geiger [CDU/CSU]: Das gibt es
Gesetzentwurf, hat gesagt, es bestehe kein Hand-
manchmal auch bei uns!)
lungsbedarf. Dann verstehe ich allerdings nicht die
Forderung, die jetzt, nach mehreren Monaten, vorge- Die Menschen sitzen dann gebannt und lauschen, ob
tragen wird, es bestehe neuerlicher Handlungsbe- es dem Redner gelingt, tatsächlich so lange zu reden,
darf, man müsse weitergehende Analysen über die bis der Zeitpunkt der Entscheidung verstrichen ist
Mietenentwicklung von Gewerberaum in anderen und man in der Sache nichts mehr tun kann. Es hat
Ballungsgebieten der Bundesrepublik einholen; dazu wenigstens noch einen gewissen sportlichen Aspekt,
solle die Bundesregierung nun endlich Unterlagen solchen Debatten zu folgen. Ich glaube, nicht jeder
vorlegen. im Bundestag wäre den sportlichen Anforderungen
Um es auf den Punkt zu bringen - Herr Eylmann eines solchen Filibusterns gewachsen. Aber manche
Reden - ich denke gerade an die Reden des Kollegen
hat das angesprochen, und ich meine, es ist auch so -:
Die Koalition verzögert die Debatte bis zur Wahl in Scharping - würden von daher einen ganz anderen
Stellenwert bekommen. Die Fraktion könnte froh
Berlin. Sie will ihren Anspruch, eine mittelstands-
sein, über solche Redner zu verfügen. Auch Herr
freundliche Politik zu betreiben, nicht auf den Prüf-
Kleinert hätte da wieder Möglichkeiten. Doch das
stand stellen lassen. Ansonsten hätten Sie sich längst
empfinden wir zu Recht als undemokratisch und un-
den Forderungen der Handwerker, Ladenbesitzer -
parlamentarisch. Deswegen machen wir das nicht.
und der kleinen Geschäftsleute im Ballungsgebiet
Berlin/Brandenburg angeschlossen und bereits vor Aber ich stelle fest: Es gibt bei uns eine andere A rt
der Sommerpause die Beratung des Gesetzentwurfes desFilbutrn.EgaheimlcFbustrn.
zu einem positiven Abschluß gebracht. Genau darum Das findet dann im Ausschuß statt. - Insofern ist es
geht es hier; das sollte auch jeder wissen. richtig, dies einmal ins Plenum zu bringen. - Das
Vielen Dank. sieht im vorliegenden Fall so aus, daß eine Anhörung
mit einem bestimmten Fragenkatalog beantragt
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne wurde, die wir im Ap ril 1995 durchgeführt haben.
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Wenn wir dann nach der Anhörung entscheiden wol-
und der PDS) len, geht das nicht immer, weil die zuständigen Her-
5236 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
Gerald Häfner
ren im Ausschuß nicht anwesend sind. Wenn ihr Heinz Lanfermann (F.D.P.): Frau Präsidentin!
dann gar nichts mehr einfällt, erklärt die Union - wie Meine Damen und Herren! Der Hinweis auf die
in der letzten Ausschußsitzung - sie wolle eine wei- Stunde gibt mir tatsächlich Gelegenheit, meinen Ein-
tere Anhörung - Herr Geis, Sie haben das vorge- druck wiederzugeben, daß das Ganze hier jetzt zu
schlagen - im Frühjahr nächsten Jahres über die Mitternacht doch ein bißchen gespenstisch wirkt,
Frage durchführen, ob man nicht das, was hier vor- wenn man sich die Argumente anhört.
geschlagen ist, auf andere Gebiete ausweiten könne.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie waren gar
nicht dabei!) Herr Kollege Häfner, ich habe nur die Erinnerung,
daß der Kollege Geis - da wir jetzt bei der Vergan-
- Da irren Sie, Herr Geis. Ich bin dabei gewesen und genheitsbewältigung der letzten Ausschußsitzungen
habe mich mit Ihnen heftig auseinandergesetzt. Sie sind - sehr wohl die Frage aufgeworfen hat, wie das
können das im Protokoll nachlesen, wenn Ihre E ri n- Verhältnis zu anderen Zentren sei und ob die Bun-
nerung versagt. desjustizministerin nicht etwas dazu berichten
könne, vor allen Dingen vor dem Hintergrund, ob es
Also Herr Geis, Sie haben gesagt, das Problem - auch aus verfassungsrechtlichen Gründen oder
stelle sich auch in Frankfurt und München; Sie woll- überhaupt aus rechtlichen Gründen, wie ich es vor-
ten jetzt gerne eine Anhörung durchführen, um zu sichtig sagen wi ll - angehen könne, für einen Bal-
klären, ob man das nicht ausweiten könne. Ich habe lungsraum an solche Maßnahmen zu denken, das bei
Sie dann daran erinnert, daß just diese Frage in der anderen aber nicht zu tun. Das ist eine ernste Frage;
Anhörung vom April dieses Jahres bereits gestellt das wird niemand bestreiten. Von einer Anhörung
worden ist. - So können wir weder mit uns selbst war da keine Rede. Sie sollten es auch nicht übertrei-
noch mit Sachverständigen umgehen: daß wir sie ben.
einladen, ausladen und wieder einladen, nur um Zeit
zu gewinnen. Ich habe insbesondere auch an der Rede des Kolle-
gen Hacker bis auf die Tatsache, daß in Berlin in
Was Sie wollen, ist doch klar: Sie wollen dieses Kürze Wahlen sind, so manches nicht verstanden. Ich
Thema bis nach der Wahl in Berlin verschieben, um grüble immer noch darüber nach, wie der Kollege
dann den Gesetzentwurf hier zu beerdigen. Das Mahlo es geschafft haben soll, nicht anwesend zu
heißt auch, Sie wollen sich endgültig von dem, wofür sein, obwohl der Vorsitzende des Rechtsausschusses
Sie früher einmal eingetreten sind, verabschieden: uns gerade berichtet hat, er sei herausgegangen. Ir-
vom kleineren und mittleren Gewerbe, von der Urba- gendwie habe ich das noch nicht ganz erfaßt.
nität und der Lebensqualität in der Stadt. Sie wollen
die Stadt Berlin großen Investoren ausliefern, Sie sagen, die Diskussion sei eine Einbahnstraße
gewesen. Ich weiß nicht, warum der Wirtschaftsaus-
(Zurufe von der CDU/CSU: Das können Sie schuß dann entschieden hat. Er hat gegen die Sache
uns nicht vorwerfen! - Das versteht der Häf entschieden. Wenn Sie meinen, im Wahlkampf poli-
ner doch nicht!) tisch verwerten zu müssen, daß eine eindeutige Stel-
lungnahme der Koalitionsfraktionen vorgelegen hat,
die mit gigantischen Bauprojekten das Leben und
dann tun Sie das ruhig; denn die besseren Argu-
die Lebensqualität in dieser Stadt, gerade im Zen- mente in dieser Angelegenheit sind keineswegs auf
trum der Stadt, Stück um Stück zerstören. Ihrer Seite. Das wird auch nicht dadurch erreicht,
Ich denke, die Menschen sollten wissen, zwischen daß ein solches Ziel jahrelang verfolgt wird.
welchen verschiedenen politischen Ansätzen sie hier Im übrigen wird es Ihnen nicht gelingen, die F.D.P.
zu entscheiden haben. Es steht in der Bibel - Sie ken-
Berlin auf Ihre Seite zu reden. Daß der Parteitagsbe-
nen das -: Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. - Ein schluß, den Sie erwähnt haben - selbstverständlich
besserer Stil wäre es gewesen, Sie hätten den Mut
im Sinne des „gutgemeint"; so verstehe ich Ihren An-
besessen, hier zu dem Gesetzentwurf Stellung zu trag auch -, nur ein Tendenzbeschluß sein kann und
nehmen, ihn abzulehnen, wenn Sie das ohnehin vor-
keine klare inhaltliche Aussage hat, geht doch aus
haben, und nicht mit fadenscheinigen Begründun-
dem von Ihnen zitierten alten B ri ef hervor. Wenn der
gen das Ganze seit Jahren zu verschleppen, um
Kollege von der F.D.P. in dem B ri ef darum bittet, man
dann, wenn die Berliner gewählt haben, die Sache zu
möge die europäische Rechtslage eruieren, kann der
beerdigen und die Menschen in der Stadt sozusagen Hinweis in dem Parteitagsbeschluß auf die europä-
erneut im Regen stehenzulassen. ische Rechtslage nur als Tendenz gemeint sein und
Ich danke Ihnen. nicht als etwa eine Zustimmung zu Ihren Vorschlä- -
gen. Deswegen hat es keinen Sinn, alte B riefe vorzu-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lesen. Man muß sich vielleicht doch einmal um die
sowie bei Abgeordneten der SPD und der Sache selbst kümmern.
PDS)
Abgesehen von dem ganzen Drumherum, was be-
schrieben worden ist, ist doch ganz klar, daß Ihr An-
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Zu Mitternacht trag bei uns nicht auf Gegenliebe stoßen kann. Er ist
werden wir sehr munter. mit diesen dirigistischen Mitteln gar nicht geeignet,
das von Ihnen dargestellte Ziel zu erreichen, ganz im
Herr Kollege Lanfermann. Gegenteil: Er ist sogar kontraproduktiv. Wenn Sie
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5237
Heinz Lanfermann
das nicht glauben wollen, dann müssen Sie nur in Das Mietrecht ist für die Ziele bezüglich der La-
Berlin selbst in die Vergangenheit schauen. denmieten nicht geeignet. Diese klare Überzeugung
will ich hier ausdrücken. Der Versuch, über das Miet-
Was haben wir dort erlebt? Wir haben die endlose recht Politik zu machen, stellt sich vordergründig -
Geschichte der langjährigen und immer wieder ver- siehe die Überschrift des Antrags „Schutz der Mieter
längerten Mietpreisbindungen für Wohnraum erlebt. von Geschäftsräumen" - als Wohltat für eine Gruppe
Dieser staatliche Eingriff hat in Berlin einen funktio- von Menschen dar, hat aber als Kehrseite der Me-
nierenden Markt für ganz lange Zeit verhindert; erst daille auch einen Nachteil für andere.
nach Auslauf der Mietpreisbindung hat sich das
Mietniveau für Wohnraum einigermaßen marktwirt- Man muß natürlich sehen, daß das mit der vorgeb-
schaftlich eingependelt. Viele Wohnungen wurden lich sozialen Politik immer so ist: Der Schutz des ei-
so genutzt, daß die Familien zu kleine Wohnungen nen ist die Last des anderen. Anders als im Vertrags-
hatten und daß große Wohnungen von einzelnen Per- recht, wo das verboten ist bzw. zur Nichtigkeit führt,
sonen bewohnt wurden, die aber darauf vertrauen neigt die Politik immer dazu, Politik zu Lasten Dritter
konnten, daß der Staat dauernd seine schützende zu machen. Ich habe den Eindruck, daß diese Nei-
Hand über sie hält. Diese Mieten konnten nicht stei- gung auf der einen Seite des Hauses in der Tendenz
gen, wodurch es sogar zu Renovierungsstaus größe- etwas stärker vertreten ist.
ren Umfanges kam. Das alles scheinen Sie jedenfalls Intelligente Politik muß etwas mehr als Umvertei-
nicht in Erinnerung und auch nicht zur Grundlage lung leisten. Sie schafft und gestaltet Rahmenbedin-
Ihrer Überlegungen gemacht zu haben. gungen, unter denen sich dann nach den Regeln der
Natürlich müssen Sie auch zugeben, daß Ihr An- Marktwirtschaft die besten, weil ausgeglichensten,
trag, zumindest vom Zeitablauf her, in vielem über- Lösungen entwickeln, und zwar zum besten Nutzen
holt ist; denn Sie wissen ganz genau, was der Markt für alle Bürger.
z. B. für Büromieten nach den anfangs übertriebenen Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Vorstellungen hergibt. Die Büromieten haben sich
ebenfalls marktwirtschaftlich entwickelt. Auch in gu- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
ten Lagen sind sie rapide gesunken. Nach Zeitungs-
berichten ist Berlin mit fast 30 % sogar Spitzenreiter Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ich erteile jetzt das
bei den Preisrückgängen in den vergangenen zwei Wo rt dem Abgeordneten Dr. Uwe-Jens Heuer.
Jahren, gefolgt von München, Leipzig und Dresden
mit minus 20 %. Die Marktwirtschaft ist also etwas
klüger als manches, was in diesem Hause an Anträ- Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS): Frau Präsidentin!
gen fabriziert wird. Meine Damen und Herren! Herr Lanfermann, ich
möchte Ihnen empfehlen, sich anzusehen, was in
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Berlin wirklich passiert. Da spielt sich etwas in einem
urbanen Ballungsraum ab, in dem durch die Vereini-
Meine Damen und Herren, neben den Büromieten gung wie in keinem anderen Teil Deutschlands fast
ist - das ist selbstverständlich ein wichtiger Punkt - alle Verhältnisse umgewälzt wurden.
auch das Problem der Ladenmieten angesprochen.
Aber ich denke, bei den Ladenmieten geht es darum, Viele Gebiete liegen jetzt plötzlich wieder mitten
zu überlegen, wie man erreichen kann, daß sich in im Zentrum einer Metropole. Viele p rivate Einzel-
guten Lagen - nicht nur in guten, aber insbesondere händler, kleine Gewerbebetriebe und Handwerker,
in guten Lagen - Geschäfte, Gaststätten und anderes häufig alte Familienbetriebe, die die DDR mehr oder
ansiedeln, weil man sich das für ein erfreuliches weniger gut überstanden hatten, sind von diesen
Stadtbild und die Lebensqualität einer Stadt Mieten schon hinweggefegt worden oder stehen vor
wünscht. Schließlich will man die Innenstädte attrak- existentiellen Problemen. Ich kann mich noch gut er-
tiv halten oder noch attraktiver gestalten. innern, mit welchem Enthusiasmus viele von ihnen
die Marktwirtschaft begrüßt haben und wie viele von
Das ist aber zunächst einmal eine Forderung an die ihnen bei den Wahlen des Jahres 1990 die Parteien
Politik des Gemeinwesens, um das es geht, nämlich der heutigen Regierungskoalition gewählt haben.
der Stadt Berlin. Da muß man sich natürlich etwas in-
telligentere Gedanken darüber machen, wie man Nun haben die Regierungen von Berlin und Bran-
Strategien entwickeln kann, solche Lagen zu entwik- denburg einen Gesetzentwurf über den Bundesrat
keln. Man muß sich überlegen, ob man do rt selber eingebracht, der diese Kreise vor der Eliminierung
eingreift und als Kunde am Markt auftritt. durch spekulative Mietforderungen schützen soll.
Die Koalitionsparteien verhindern mit allen Mitteln
Das ist eine Frage, die man vor Ort bitte ernsthaft seine Annahme, während die demokratischen Sozia-
diskutieren soll, um anschließend zu entscheiden. listen und die Sozialdemokraten, die ja nun nicht ge-
Das kennen andere Städte auch, aber die schreien rade typische Mittelstandsparteien sind, für seine
nicht gleich danach, daß man für sie ein spezielles Annahme eintreten.
Gesetz schneidern soll.
Die Debatte findet noch dazu unmittelbar nach der
Ich glaube, die Horrorszenarien, die der Kollege Behandlung eines Antrags derselben Koalitionsfrak-
Häfner heute entwickelt hat, müßten direkt zu einer tionen unter der Überschrift „Den Mittelstand entla-
Massenflucht aus Berlin führen, wenn das nur halb- sten" statt. Man fragt doch, wenn man Logik hat, wie
wegs so zuträfe, wie er das übertrieben dargestellt das eine und das andere Verhalten der Koalitions-
hat. fraktionen unter einen Hut zu bringen ist.
5238 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
Joachim Gres
Anliegen der mittelständischen Einzelhändler, Hand- und wenn ich mich an die hochemotionale Debatte
werker und Gewerbetreibenden in den großen Städ- bei der ersten Lesung der Anträge der SPD und von
ten der Republik sind uns genauso wichtig wie BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Gesetzent-
Ihnen. wurfes der PDS erinnere, dann hätte diese Debatte
eigentlich heute morgen als ein Teil der Debatte zum
Ich danke Ihnen.
Rückblick auf fünf Jahre deutsche Einheit stattfinden
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge müssen;
ordneten der F.D.P.)
(Beifall bei der SPD, beim BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und bei der PDS) _
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ich schließe die
Aussprache. denn im Kern der Diskussion um eine Korrektur des
RentenÜberleitungsgesetzes geht es doch darum,
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: wie wir mit dem Leben, das in der DDR gelebt
wurde, umgehen.
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Für viele Menschen ist der Rentenbescheid nicht
das Bundeskriminalamt und die Zusammenar- nur ein Papier, das den Zahlbetrag ihrer Rente aus-
beit des Bundes und der Länder in kriminal- weist. Für viele ist der Rentenbescheid auch eine A rt
polizeilichen Angelegenheiten (Bundeskrimi- BilanzhresAbt,inWruelübds
nalamtgesetz - BKAG) Arbeitsleben. Das erklärt vielleicht auch die Emotio-
nen, die dieses Thema auslöst, und es erklärt ganz
- Drucksache 13/1550 -
sicher die vielen langen handschriftlichen Briefe, in
Überweisungsvorschlag: denen ein ganzes Leben erzählt wird und die uns,
Innenausschuß (federführend) die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, auf-
Rechtsausschuß
fordern, das Urteil, das in der Kürzung der Renten
Die zu Tagesordnungspunkt 11 gehörigen Debat- liegt, endlich zu revidieren.
tenbeiträge sind zu Protokoll gegeben worden * ).
Die SPD hat die Notwendigkeit einer Korrektur
Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Geset- des Renten-Überleitungsgesetzes von Anfang an ge-
zentwurfs auf Drucksache 13/1550 an die in der Ta- sehen.
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der (Dr. Uwe-Jens Heuer [PDS]: Falsch! - Wei-
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. tere Zurufe von der PDS - Gegenruf von
der CDU/CSU: Ruhe da drüben!)
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Wir haben deshalb in der letzten Legislaturpe riode
Beratung des Berichts des Ausschusses für Ar- das Rentenüberleitungs-Ergänzungsgesetz durchge-
beit und Sozialordnung (11. Ausschuß) gemäß setzt und jetzt erneut einen Antrag und einen Ge-
§ 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dem setzentwurf eingebracht.
von den Abgeordneten der PDS eingebrach- (Dr. Dagmar Enkelmann [PDS]: Wir haben
ten Entwurf eines Gesetzes zur grundlegen- ihn doch eingebracht!)
den Korrektur des RentenÜberleitungsgeset-
zes (Rentenüberleitungs-Korrekturgesetz Vor der Sommerpause waren die Anträge der SPD
-Rü-KG) und von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Ge-
setzentwurf der PDS Grundlage einer großen öffent-
- Drucksachen 13/216, 13/2549 -
lichen Anhörung. Nach dieser Anhörung ist für die
(Erste Beratung 15. Sitzung) SPD eine Korrektur und eine Ergänzung des Renten-
Berichterstattung: Überleitungsgesetzes noch dringlicher geworden.
Abgeordnete Ulrike Mascher
Leider sieht es auf der Seite der Regierungskoali-
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die tion anders aus. Da darf zwar eine Gruppe von CDU-
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei Abgeordneten aus Ostdeutschland mit einem Grup-
die Gruppe der PDS fünf Minuten erhalten soll. - Ich penantrag in der Öffentlichkeit auftreten; aber offen-
sehe keinen Widerspruch. Wir verfahren so. bar gibt es dafür keine Mehrheit in der CDU und
schon gar keine in der CSU, so daß ich den Eindruck
Es beginnt die Kollegin Ulrike Mascher.
habe, es handelt sich dabei vor allem um Spielmate-
rial für den 22. Oktober 1995, für den Wahltag in Ber-
Ulrike Mascher (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kol- lin.
leginnen! Liebe Kollegen! Warum befassen wir uns -
heute kurz nach Mitternacht mit einer Korrektur des (Beifall bei der SPD, beim BÜNDNIS 90/DIE
Renten-Überleitungsgesetzes? Wenn ich die mate- GRÜNEN und bei der PDS)
rielle Bedeutung des Renten-Überleitungsgesetzes Aber ich lasse mich gerne überraschen, sollten die
für viele Menschen in den neuen Bundesländern be- CDU und die CSU eine Korrektur des Geburtsfehlers
trachte, wenn ich die vielen B riefe lese, die mich als des RentenÜberleitungsgesetzes versuchen.
Ausschußvorsitzende zu diesem Gesetz erreichen,
Es muß doch auch für Sie bitter sein, daß die große
Die zu Protokoll gegebenen Reden werden als Anlage 3 zum Leistung, die rasche Angleichung der ostdeutschen
Stenographischen Be richt über die 62. Sitzung abgedruckt. Renten, die ganz erhebliche Verbesserung der mate-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5241
Ulrike Mascher
riellen Situation der großen Mehrheit der Rentner ten diese Debatte ganz bewußt heute oder, besser
und Rentnerinnen, durch die Vermischung von gesagt, gestern vor allem und auch, weil uns Ihr Ge-
Rentenrecht und politischem Werturteil verdunkelt klingel mit der Rentenüberleitung im Berliner Wahl-
wird. Die Folgen sind fatal. Viele Menschen in Ost- kampf langsam unerträglich wird.
deutschland haben durch diese Vermischung von
(Beifall bei der PDS)
Rentenrecht und politischem Werturteil das diffuse
Gefühl, ihnen sei bei der Überleitung des Rentensy- Sie vermitteln über die Medien, in Veranstaltungen
stems der DDR in die gesetzliche Rentenversiche- und die Koalition in sogenannten Wohnzimmerge-
rung etwas weggenommen worden, selbst wenn sie sprächen ein Bild, als wären wir mitten im gesetzge-
von den Kürzungen gar nicht persönlich betroffen berischen Prozeß und als käme zum 1. Januar 1996
sind. Das ist angesichts der erheblichen Transferlei- eine Gesetzesänderung. Nicht nur in Berlin, sondern
stungen der gesetzlichen Rentenversicherung sicher in allen neuen Bundesländern werden die Betroffe-
nicht gerechtfertigt. Aber dieses Gefühl läßt sich poli- nen derart getäuscht. Die Befürchtung liegt nahe,
tisch vortrefflich ausbeuten. daß der „heiße Herbst" in Sachen Rente am
22. Oktober beendet sein wird.
Damit komme ich zum formalen Anlaß unserer mit-
ternächtlichen Debatte. Die PDS hat einen Be ri cht Wie groß waren die Wahlversprechen vor der Bun-
über den Stand der Beratungen gemäß § 62 der Ge- destagswahl? Ein Jahr ist herum, doch passiert ist
schäftsordnung verlangt. Dieser Berichtswunsch hat nichts. Einzig der Gesetzentwurf der PDS befindet
mich als Ausschußvorsitzende etwas verwundert, sich in der parlamentarischen Beratung. Warum ha-
ben Sie von der SPD Ihren Gesetzentwurf vom 31.
(Dr. Dagmar Enkelmann [PDS]: Das steht
Mai heute nicht zur Debatte gestellt,
uns zu!)
(Beifall bei der PDS)
da von der PDS bisher nicht der Antrag gestellt
wurde, ihren Gesetzentwurf im Ausschuß zu beraten warum nicht die Koalitionsfraktionen den lange an-
und damit auch eine zweite und dritte Lesung im Ple- gekündigten und nun mit dem 6. Oktober datierten
num zu erreichen. Antrag von 57 im Osten und in Berlin gewählten Ab-
geordneten?
(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist
ja interessant!) Was den heutigen Zeitpunkt betrifft, muß ich sa-
gen: Es gibt eine Mehrheit im Ältestenrat. Ihre Parla-
Ich habe Zweifel, ob diese Debatte zur Geister- mentarischen Geschäftsführerinnen und -führer ha-
stunde eine Ergänzung, eine Korrektur des Renten-
ben letztlich beschlossen, daß der Tagesordnungs-
Überleitungsgesetzes voranbringt punkt hier zu so später Stunde diskutiert wird.
(Dr. Dagmar Enkelmann [PDS]: Wir hätten Wie ernst ist es Ihnen tatsächlich mit einer Korrek-
das gerne eher gehabt!)
tur? Oder frönen Sie bereits wieder Ihrer Gepflogen-
- wenn Sie es gerne eher gehabt hätten, dann hätten heit, daß einige wenige Herren im stillen Kämmer-
Sie die Aufsetzung verlangen müssen; ihre Obfrau lein etwas aushandeln, was die Masse der Abgeord-
hat das nicht getan - oder ob wir heute nacht nach neten im Eilverfahren schlucken so ll, wie es im Juni
der Melodie „Zwölfmal werden wir noch wach, und 1991 zwischen den Herren Blüm, Seehofer und Dreß-
dann ist Wahltag in Berlin" antreten durften. ler beim sogenannten Kompromiß zum Renten-Über-
leitungsgesetz geschah? Heute ist jedenfalls Gele-
(Birgit Homburger [F.D.P.]: Sehr richtig!) genheit, einigermaßen offiziell Position zu beziehen,
Jedem auf allen Seiten dieses Parlaments, der sich auch wenn die Debattenzeit mit 30 Minuten wieder
ernsthaft mit den schwierigen Fragen einer Korrek- sehr kurz und die nächtliche Stunde der Dimension
tur des Renten-Überleitungsgesetzes beschäftigen des Problems keineswegs angemessen ist.
will, empfehle ich die Lektüre des Protokolls der gro- (Beifall bei der PDS)
ßen Anhörung am 21. Juni. Denn dabei wird, unab-
hängig von kurzatmiger Wahltaktik, deutlich: Der Meine verbleibende Redezeit will ich dazu nutzen,
Bundestag hat beim Renten-Überleitungsgesetz Ihnen unseren Standpunkt zu Ihren bisher bekannt-
noch etwas nachzuarbeiten. Ich hoffe im Interesse gewordenen Vorschlägen mitzuteilen. Neben den
der deutschen Einheit noch immer, daß wir das auch bereits genannten beziehe ich mich auch auf den Ge-
schaffen. setzentwurf des Berliner Senats, der morgen im Bun-
desrat beraten wird.
Danke.
Lassen Sie mich eines vorausschicken: Bei der Ab-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne schaffung des politischen Strafrechts im Rentenrecht-
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ist unsere unerbittliche Forderung, die allgemeine
Bemessungsgrenze für alle ohne Abstriche und Ein-
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Vom Geschrei wer- schränkungen anzuwenden.
den die Renten nicht korrigiert. (Beifall bei Abgeordneten der PDS)
Jetzt hat die Abgeordnete Petra Bläss das Wo rt . Bemerkenswert finden wir, daß die SPD hier im
Bundestag und in Berlin unterschiedliche Wege geht.
Petra Bläss (PDS): Frau Präsidentin! Meine Damen Während im Gesetzentwurf der Bundestagsfraktion
und Herren! Ich sage es Ihnen ganz offen: Wir woll die allgemeine Bemessungsgrenze pur gefordert
5242 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
Petra Bläss
wird, gestaltet der Senatsentwurf den Ansatz aus, tel der Rentnerinnen und Rentner im Osten erhalten
das Einkommen von bisher als staatsnah Eingestuf- sonst zum Teil bis ins nächste Jahrtausend hinein
ten von Überhöhungen zu bereinigen. Leider verläßt keine Rentenerhöhungen mehr. Das bet rifft rund
Frau Stahmer dabei ihre am 10. Mai hier in Bonn ge- 400 000 Männer und mehr als 1,7 Millionen Frauen.
äußerte Position, und sie führt für die Angehörigen Das empfinden wir als skandalös.
des ehemaligen MfS per Einkommensbereinigung
noch eine gesonderte Bemessungsgrenze bei 1,4 ein. (Beifall bei der PDS)
Das bleibt Willkür.
Hinter vielen Auffüllbeträgen verbergen sich auch
Der Vorschlag der Ost-CDU vermittelt den An- sozialpolitisch progressive Elemente des DDR-Ren-
schein von rentenrechtlicher Akribie. Danach sollen tenrechts, insbesondere für Frauen, die eine Gnaden-
für MfS-, zusatz- und sonderversorgte Personen, die frist erhielten.
- ich zitiere - „auf Grund eigener politischer Verant-
wortung ein überhöhtes Einkommen bezogen", Ta- Unser Vorschlag zur weiteren Gewährung des So-
bellenwerte des SGB VI Anlage 14 angewendet wer- zialzuschlags für Niedrigstrenten soll einen Anstoß
den. für die dringend erforderliche Verbesserung des
Aber der Teufel steckt bekanntlich im Detail. Frauenrentenrechts in Ost und West geben. Dazu hat
Wenn statt der dort aufgeführten, das gesamte ge- sich dieses Haus bekanntlich über alle Parteigrenzen
sellschaftliche Tätigkeitsspektrum umfassenden hinweg im Juni 1991 anläßlich der Verabschiedung
23 Tabellen nur die mit den jeweils niedrigsten Ver- des Rentenüberleitungsgesetzes verpflichtet. Packen
diensten angewandt werden, kommt verschärftes wir es also endlich an!
Strafrecht heraus, nämlich Entgeltpunkte von 0,5 bis
(Beifall bei der PDS)
maximal 1,15. Einige kommen aus dem Strafrecht
heraus, für andere wird es verschärft. Wie wollen Sie
das alles mit der Wertneutralität des Sozialrechts
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt
vereinbaren?
der Abgeordnete Volker Kauder.
In Berlin wird propagiert, der Senatsentwurf
schaffe das Versorgungsunrecht ab, indem ergän-
zend zur Überführung der Zusatz- und Sonderversor- Volker Kauder (CDU/CSU): Frau Präsidentin!
gungen in die gesetzliche Rentenversicherung eine Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist
zusätzliche Altersversorgung geschaffen werden soll. nicht verwunderlich, daß die PDS einen Antrag auf
Allerdings bleibt der Gesetzentwurf des Senats bei Änderung des Rentenüberleitungsgesetzes im Ja-
der Absichtserklärung stehen, das für „noch zu be- nuar dieses Jahres einbringt - es sind keine zwölf
stimmende Personenkreise" in einem besonderen Nächte mehr, sondern nur noch zehnmal müssen wir
Gesetz zu tun. Es scheint also wieder einmal so, als aufwachen, einschließlich heute, bis die Wahl in Ber-
müsse die PDS die Initiative ergreifen und detail- lin ist -, um vor der Wahl noch ein bißchen Rabatz für
lierte Vorschläge machen. sich zu machen. Aber, Frau Bläss, der wahre Skan-
dal, den Sie angesprochen haben, ist nicht der, daß
Uns erfreut, daß sich inzwischen alle für die Über- wir unser bewährtes Rentensystem in die neuen Bun-
führung der Dienstbeschädigten- in Unfallrenten ein- desländer übertragen haben, sondern als den wah-
setzen. Ein kleiner Hinweis am Rande für die Kolle- ren Skandal habe ich immer empfunden, daß Ihre
ginnen und Kollegen der CDU: Es geht hierbei nicht Vorgänger - und viele von Ihnen haben dazugehört -
um Dienst „beschäftigungen", wie Sie seit dem Früh- die alte Generation, die älteren Menschen in der ehe-
jahr schreiben, sondern um Dienstbeschädigungen, maligen DDR in die Armut getrieben haben
also Arbeitsunfälle im Dienst bei bewaffneten Orga-
nen. Ebenso erfreulich ist, daß Beschwernisse für (Beifall bei der CDU/CSU)
Bahn- und Postbeschäftigte auch vom SPD- und Se-
natsentwurf aufgegriffen wurden. und die alten Menschen so gedemütigt haben, daß
Unerklärlich bleibt uns aber Ihre permanente Ver- sie nur dann in die Bundesrepublik Deutschland aus-
weigerungshaltung gegenüber einem wesentlichen, reisen konnten, wenn die Verwandten in der Bundes-
in unserem Gesetzentwurf angepackten Problem- republik auch garantiert haben, daß sie sie finanziell
kreis, den sogenannten Überführungslücken, die unterhalten.
sich aus DDR-typischen, mit bundesdeutschen Ver-
Dies war die Demut. Das war ein Skandal und
hältnissen nicht vergleichbaren Sachverhalten erge-
nichts anderes. Da brauchen Sie gar nicht so hochnä-
ben. Wenn rentenrechtliche Zeiten hier anerkannt sig zu lachen.
würden, avancierte ein Großteil der derzeitigen Auf- -
füllbeträge in anpassungsfähige Renten. Wir fordern (Zurufe von der PDS - Gegenrufe von der
Sie deshalb auf, schnellstens gesetzgeberisch tätig CDU/CSU)
zu werden, damit der rentenrechtliche Skandal, der
sich ab 1. Januar 1996 anbahnt, vermieden wird. - Ja, es ist immer so. Sie wollen nicht an das erinnert
(Beifall bei der PDS) werden, was Sie da drüben angerichtet haben, aber
das werden wir Ihnen immer wieder sagen. Es ist
Die Auffüllbeträge dürfen jetzt, wo die Anglei- auch bezeichnend für die PDS, daß sie nicht von den
chung der Einkommensverhältnisse noch in weiter 99 % der Rentner spricht, die durch die Überleitung
Ferne steht, nicht abgeschmolzen werden. Zwei Drit des Rentenrechtes von den alten Bundesländern auf
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5243
Volker Kauder
die neuen in ganz hervorragender Weise begünstigt führen. Entweder Herr Kauder kann jetzt reden - -
werden, sondern daß sie sich immer noch um große Herr Kauder, darf ich zuvor fragen, ob Sie eine Zwi-
Teile derjenigen kümmert, die zu ihren alten Kadern schenfrage der Abgeordneten Höll zulassen?
gehören.
(Beifall bei der CDU/CSU - Zurufe von der Volker Kauder (CDU/CSU): Ich lasse auch keine
PDS) Zwischenfrage zu. Die PDS spricht schon genügend
im Deutschen Bundestag, sie braucht nicht noch Fra-
Durch das Rentenüberleitungsgesetz gilt ein ein-
gen zu stellen. Wir hätten Fragen an sie zu stellen,
heitliches Rentenrecht in ganz Deutschland: Gleiche
nicht sie an uns.
Altersgrenze, gleiche Witwenversorgung, gleiche Be-
wertungsmaßstäbe. (Dr. Barbara Höll [PDS]: Das ist eine ganz
Das bewährte System der lohn- und beitragsbezo- konkrete Sachfrage, die ich stellen möchte!)
genen Rente wurde auch in den neuen Bundeslän- Unrichtig ist auch die Behauptung, daß die Zusatz-
dern eingeführt, und das Rentenüberleitungsgesetz
versorgung nicht in das neue Rentenrecht überge-
brachte für die Rentnerinnen und Rentner in den
führt worden sei. Richtig ist vielmehr, daß der Ge-
neuen Bundesländern entscheidende Verbesserun- samtanspruch aus Sozialversicherung und Zusatzver-
gen. Seit Juli 1995 beträgt die verfügbare Eckrente in
sorgung an der Beitragsbemessungsgrenze orientiert
den neuen Bundesländern rund 80 % der Westrente,
werden muß, der in der Rentenversicherung auch im
während es im Juli 1990 noch knapp 30 % waren. Westen gilt. So kam es zu den Begrenzungen, die im
Die Witwenrente wurde entscheidend verbessert. System liegen und bei deren Nichtanwendung eine
150 000 Witwen erhielten erstmals eine Rente; das Bevorzugung gegenüber den Rentnern in den alten
hat es früher gar nicht gegeben. Bundesländern stattfinden würde.
Die allermeisten Rentnerinnen und Rentner - und Die PDS soll dann mit ihrem Antrag auch offen sa-
dies sage ich ganz klar - sind deshalb auch zufrie- gen, daß es ihr darum geht, beispielsweise die Ange-
den. Sie können mit ihrer Rente jetzt erstmals über- hörigen der früheren Stasi besserzustellen, als sie
haupt etwas anfangen. jetzt dastehen. Dies müssen Sie klar sagen, und dies
müssen Sie dann vor allem auch vor denen vertreten,
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) um die Sie sich als Opfer des ehemaligen Systems
bisher nicht gekümmert haben.
Durch die ständigen Attacken auf das Rentenüber-
leitungsgesetz versucht die PDS den Eindruck zu er- Wir haben uns in der Koalitionsvereinbarung ver-
wecken, als ob den Rentnerinnen und Rentnern in pflichtet, die bisherigen Begrenzungen im Renten-
den neuen Ländern etwas genommen wurde. Richtig überleitungsgesetz zu überprüfen. Herauskommen
ist aber, daß den Rentnern etwas gegeben wurde, kann bei dieser Überprüfung allerdings allenfalls
was sie bisher gar nicht hatten. Genommen wurde eine größere Feinsteuerung, aber keine Umkrempe-
denen etwas, die in der roten Diktatur bevorzugt wa- lung des ganzen Systems. Voraussetzung dafür ist
ren. Es war der Wi ll e des Einheitsvertrages, daß Privi- aber - und dies, Frau Mascher, sage ich vor allem
legien aus dem alten System nicht in die Rente fort- auch in Ihre Richtung -, daß die neuen Bundesländer
gesetzt werden dürfen. Es handelt sich also nicht, sich auf einen einheitlichen Vorschlag einigen.
wie die PDS behauptet, um eine Strafe, sondern um
ein Abschneiden von Privilegien. Wir haben auf Antrag der CDU/CSU und der F.D.P.
eine Anhörung im Sozialausschuß durchgeführt. Da
So wurden die Renten bei der Stasi gekürzt und
hat sich gezeigt, daß die Meinungen unter den
bei denjenigen, die auf Grund einer herausragenden
neuen Bundesländern meilenweit auseinanderlie-
Funktion beim Staat oder bei den Parteien gemessen
gen. Vor allem hat sich gezeigt, daß die Vorstellun-
an anderen Positionen überhöhte Gehälter bezogen
gen von SPD-regierten Bundesländern und die der
haben. SPD-Bundestagsfraktion meilenweit auseinanderlie-
(Zuruf des Abg. Dr. Gregor Gysi [PDS]) gen. Sie können also nicht behaupten, daß die Dis-
kussion um die Änderung des Rentenüberleitungs-
- Herr Gysi, Sie hätten Ihren Mut zum Widerspruch gesetzes an Diskussionen innerhalb der Koalition
in der ehemaligen DDR beweisen können, nicht hier scheitert. Sie selbst sind nicht in der Lage, einen ein-
in der Freiheit des Deutschen Bundestages. heitlichen Vorschlag zu präsentieren.
(Beifall bei der CDU/CSU - Erneuter Zuruf Deswegen fand ich es etwas eigentümlich, daß
des Abg. Dr. Gregor Gysi [PDS]) sich die Vorsitzende des Sozialausschusses hier hin-
gestellt und behauptet hat, die SPD habe überhaupt
An diesem Grundsatz lassen wir deshalb auch nicht
keinen Anteil an den Diskussionen gehabt. - Ich bin
rütteln.
schon sehr darauf gespannt, wie die Kolleginnen und
(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Sie sind das Kollegen aus der Fraktion und die aus den neuen
Fettauge auf der roten Suppe!) Bundesländern zusammenkommen werden.
Volker Kauder
nämlich einen ganz erheblichen Teil der Kosten tra- Dr. Christa Luft (PDS): Herr Abgeordneter Kauder,
gen. Sie haben uns mit dem, was Sie gesagt haben, wirk-
lich nicht enttäuscht. Es war abzusehen, daß Sie die-
(Jörg Tauss [SPD]: Wie sehen denn Ihre
ses Thema in Richtung Fürsorge für alte Kader schie-
Vorschläge aus?)
ben würden. Wir fragen uns aber natürlich, weshalb
- Warten Sie es einmal ab. Sie noch am 6. Oktober einen Antrag zur Korrektur
der Renten eingebracht haben, wenn Sie meinen,
Wir führen zur Zeit eine Reihe von Gesprächen dies alles habe nichts mit Wahlkampf zu tun.
darüber, ob wir bei den Beurteilungen von Privile-
gien noch treffsicherer werden können. Einzelfall- Lassen Sie mich aber ein Wort zu den alten Kadern
überprüfungen, die vielfach gefordert werden, um sagen. Ich bin kein Spezialist im Rentenrecht; das
eine größtmögliche Gerechtigkeit erreichen zu kön- gebe ich zu.
nen, werden nicht möglich sein. Das wissen Sie,
(Zurufe von der CDU/CSU: Aber für die al-
meine Damen und Herren von der SPD, ganz genau.
ten Kader!)
Dies würde so viel Zeit in Anspruch nehmen, daß die
allerwenigsten in den Genuß einer überprüften Ich habe aber - nun hören Sie doch einmal zu - sehr
Rente kämen. viel Zulauf in meinem Wahlkreisbüro und fahre
durchs Land. Zwei Beispiele will ich Ihnen nennen.
Die Fortführung der Privilegien der Stasi bezüglich
der Rente - dies sage ich ganz klar - wird es mit uns Erstes Beispiel: Zu mir ist ein Mediziner gekom-
nicht geben. Deswegen lehnen wir auch den Antrag men, der vor zehn Jahren, also noch zu DDR-Zeiten,
aus Berlin und Brandenburg ab. berentet worden ist. Er war ein bekannter Mediziner.
Er war im Ausland anerkannt; um seinen Rat wird
(Beifall bei der CDU/CSU)
auch heute noch gefragt. Heute aber, sagte er mir,
Die PDS, deren Vorgängerin, die SED, die Men- könne er sich nicht mehr die Literatur kaufen, die er
schen in die Altersarmut entlassen hatte, hat ohnehin brauche, um in seinem Beruf fit zu sein und als Rat-
jede Berechtigung verloren, die Rente im geeinten geber auftreten zu können. Er sagte, er könne auch
Deutschland herunterzureden. keine Kongresse mehr besuchen. Dies alles konnte er
von seiner DDR-Rente bezahlen. Heute kann er dies
Nachdem die Meinungen der neuen Länder noch nicht. Heute erhält er ein Drittel dessen, was ein
weit auseinanderliegen, kann ich eine zeitliche Vor- westdeutscher, gleichqualifizierter Kollege erhält.
stellung noch nicht entwickeln. Ich halte es jedoch
für dringend erforderlich, daß wir sehr bald zu einem Was hat das mit irgendwelchen alten Kadern zu
Ende der Diskussion kommen. Die Menschen brau- tun? Außer der Tatsache, daß der Mann hinsichtlich
chen Klarheit, und die wenigen, die mit der Renten- seines Lebensalters alt ist, hat das mit dem, was Sie
überleitung nicht zufrieden sind, dürfen nicht stän- „alte Kader" nennen, nichts zu tun.
dig Irritationen bei den Rentnerinnen und Rentnern
hervorrufen. Wir werden uns deshalb zusammen mit Ein zweiter, noch gravierenderer Fall: Wenn ich in
den neuen Bundesländern bemühen, recht bald die meiner mecklenburgischen Heimat zu Besuch bin,
in der Koalitionsvereinbarung festgelegte Überprü- komme ich durch die Dörfer und treffe viele Bäuerin-
fung abzuschließen. nen. Das sind zumeist Umsiedlerinnen aus Schlesien.
Sie haben nach 1945 ein Stück Bodenreformland be-
Ich sage aber an die Kolleginnen und Kollegen von kommen. Sie sind nicht gleich in den 50er Jahren mit
der PDS: Was Sie hier machen, ist durchsichtig. Sie wehenden Fahnen in die landwirtschaftlichen Pro-
kümmern sich um einige wenige Bürger und meinen, duktionsgenossenschaften gegangen, sondern erst
damit könnten Sie Stimmen fangen. Wir haben aber Anfang der 60er Jahre. Folglich fehlen ihnen heute
gerade in den von Ihnen so gefürchteten Wohnzim- die Jahre, die sie als mithelfende Ehefrauen auf ih-
mergesprächen deutlich machen können, worum es rem privaten Grundstück gearbeitet haben. Das sind
wirklich geht. Wir werden nicht zulassen, daß Sie nicht zwei, drei Jahre, sondern das sind zehn, fünf-
Ihre alten Kader in bessere Situationen bringen und zehn Jahre.
dies mit unwahren Behauptungen auch hier, im
Deutschen Bundestag, noch zu verbrämen versu- Sie können das doch nicht unter „alte Kader" ab-
chen. buchen. Sie müssen diesen Frauen erklären, wie das
mit Ihren Prinzipien übereinstimmt und wie Sie
Wir wollen, soweit dies überhaupt geht, Gerechtig- grundsätzlich diese Problematik lösen wollen. Sie
keit haben. Einzelfallgerechtigkeit wird es wegen müssen die ideologischen Scheuklappen endlich ab-
der Probleme der Überprüfung nicht geben. Wir wer- legen und nicht weiter ein Flickwerk hier vorneh-
den aber nicht zulassen, daß diejenigen, die über men.
viele Jahre hinweg in der DDR die Opfer waren, jetzt (Beifall bei der PDS)
auch noch mit ansehen, daß die Täter hohe Renten
kassieren und sie selbst leer ausgehen. Dies machen
Sie mit uns nicht! Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wo rt zu einer
Kurzintervention hat der Kollege Volker Kauder.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Volker Kauder (CDU/CSU): Frau Kollegin von der
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wo rt zu einer PDS, ich muß Ihnen nach den Fragen, die Sie gestellt
Kurzintervention hat die Abgeordnete Frau Luft. haben, leider bescheinigen, daß Sie wirklich keine
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5245
Volker Kauder
Ahnung vom Rentenrecht haben; denn ansonsten für den Rechtsstaat gekämpft, und das ist für uns ein
hätten Sie solche Fragen nicht stellen können. sehr hoher Wert; ihn werden wir anwenden, und sei
es auch gegen unsere ehemaligen Feinde.
Es geht um die Begrenzung, um das, was Sie
fälschlicherweise immer in übler Polemik als „Ren- Dies ist die Haltung, mit der wir herangehen, und
tenstrafrecht" bezeichnen. Genau die Fälle wie der ich empfinde es als eine große Ehre, diese Politik
des Arztes, den Sie eben genannt haben, sind davon meiner Freundinnen und Freunde aus der Bürgerbe-
überhaupt nicht betroffen. wegung fortzuführen.
(Lachen bei der PDS)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Da findet die Begrenzung nicht statt. Das müssen Sie
jetzt einmal anhören. Es wäre gut, wenn sich noch Wir reden seit vier Jahren darüber, seitdem diese
ein paar mehr in unserem Ausschuß mit diesen Fra- Rentenkürzung damals in das Rentenüberleitungs-
gen beschäftigen würden als eben nur ein oder zwei gesetz hineingenommen wurde. Ich glaube, alle Be-
Kollegen. Man kann nicht reden wie der Blinde von teiligten, aber vor allen Dingen die betroffenen Rent-
der Farbe, wenn es um Sachthemen geht. nerinnen und Rentner sind es inzwischen unglaub-
Wir haben dort keine Begrenzung vorgenommen. lich müde, daß sich da so wenig bewegt. Es ist so viel
Es sind zunächst einmal vorläufige Zahlbeträge, bis darüber geredet worden. Ich sage es jetzt hoffentlich
die Renten in all diesen Fällen ganz konkret ausge- zum letztenmal in diesem Hause: Das Rentenrecht ist
rechnet werden. Die BfA ist ja gerade dabei, dies mit ein denkbar schlechter Ort für Vergangenheitspoli-
tik. Mit den bestehenden Regelungen wird nicht Ge-
einer großen Kraftanstrengung zu bewältigen. Es
werden auch ganz beachtliche Summen nachge- rechtigkeit hergestellt. Vielmehr werden bei dem
zahlt, wenn die tatsächlichen Renten festgestellt wor- Versuch, frühere Privilegien zurückzuführen, neue
den sind. Ungerechtigkeiten geschaffen.
(Zurufe von der PDS)
Manchmal werden sogar die falschen getroffen.
Bringen Sie also nicht alles durcheinander, son- Ich habe vor einigen Tagen den B rief eines Bürgers
dern bemühen Sie sich zumindest, den Sachverhalt bekommen. Er war 27 Jahre lang NVA-Offizier. 1982
zu klären. Wir haben - um es untechnisch zu sagen - ist er nach Verhören durch die Stasi unehrenhaft ent-
im staatsnahen Bereich und bei der Stasi begrenzt, lassen worden. Die üblichen Begründungen: zuviel
bei denen also, die für das System Verantwortung ge- Westkontakte mit der Familie, Feindsender abgehört
tragen haben, bei der NVA usw. Dort haben wir be- und die falschen Gedanken gehegt. 1990 wurde die-
grenzt. ser Mann durch Minister Eppelmann rehabilitie rt .
(Widerspruch bei der PDS) 1995 schreibt ihm das Bundesministerium der Vertei-
digung, daß er vermutlich Ansprüche nach dem
Sie können an den Fakten nicht vorbei! Bei den an- Zweiten SED-Unrechtsbereinigungsgesetz habe. Ein
deren haben wir vorläufige Zahlbeträge. Wir haben Jahr vorher mußte ihm der Rentenversicherungsträ-
dann gesagt, daß nach der Einzelfallüberprüfung, ger mitteilen, daß er für seine 27 Jahre NVA drastisch
wie das bei jedem Rentner in den alten Bundeslän- gekürzte Einkommen für die Rentenberechnung zu-
dern auch ist, die Renten bis zur Beitragsbemes- grunde gelegt bekommt.
sungsgrenze ausbezahlt werden. Diese Renten sind
weit höher, als Sie es in verschiedenen Veröffentli- Es gibt etliche Opfer des SED-Regimes - Sie wis-
chungen sagen. sen, daß sie sich häufig an uns wenden -, die solche
Reden wir also nur von den Begrenzungen, und und ähnliche Fälle geschildert haben. Ich glaube,
dann kommen wir auch sehr schnell zu den Kadern, auch an diesem Fall kann man deutlich machen, daß
von denen ich gesprochen habe. Irritieren Sie die das so nicht gewollt sein kann.
Menschen nicht dadurch, daß Sie sagen, es werde
begrenzt, wo gar nicht begrenzt wird.' (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall bei der CDU/CSU - Zurufe von der
PDS) Die Koalition hat längst den Handlungsbedarf zu-
gegeben. Allerdings haben Sie inzwischen eine der-
art heillos unübersichtliche Lage geschaffen, daß
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Jetzt hat Andrea
selbst eine wirklich hochinteressierte Zeitgenossin
Fischer das Wort.
wie ich den Überblick verloren hat. Da schlagen ost-
deutsche Bundestagsabgeordnete etwas vor, dann ir-
Andrea Fischer (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gendwelche ostdeutschen Ministerpräsidenten, dann
NEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! ostdeutsche Sozialminister. Offensichtlich ist es bei
Herr Kauder hat eben ins Feld geführt, daß die For- der CDU ohnehin ein reines Ostthema, und West-
derung nach Rücknahme der Kürzungen gerade vor deutsche interessieren sich dafür gar nicht.
den Opfern nicht zu vertreten sei. Die Position vom
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wurde in der vergange- (Zurufe von der CDU/CSU: Na, na, na!)
nen Legislaturperiode von unseren Freundinnen und
Freunden aus der Bürgerrechtsbewegung der DDR Fakt ist jedenfalls, daß wir inzwischen überhaupt
entwickelt. Ich habe große Hochachtung vor den Op- nicht mehr wissen, was Sie damit wollen, was Ihre
positionellen der DDR, die gesagt haben: Wir haben Vorschläge sind. Wir erwarten von Ihnen, daß Sie
5246 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
Ich empfehle Ihnen sehr dringend, sich nicht nur (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
mit den Menschen zu befassen, sondern auch mit
und dem Anspruch des Mannes auf der anderen
den Leuten zu sprechen, die aus der Bürgerbewe- Seite, der unter den Nazis gelitten, sich dann am Auf-
gung kommen, Frau Bohley und anderen. Sie sind
bau eines anderen Deutschland beteiligt hat und
hell entsetzt über das, was Sie gerade wieder vorha-
jetzt auf Grund pauschalierter Staatsnähe Kürzungen
ben, daß eben nicht über die Opfer geredet wird,
seiner Rente hinnehmen muß. Rentenrecht darf nicht
sondern über die, die 40 Jahre dafür Verantwortung
Strafrecht sein, Rentenrecht darf aber auch nicht un-
getragen haben, daß Opfer in der roten Diktatur ent-
gerechtfertigt begünstigen.
standen sind. Deswegen können wir es uns nicht so
leicht machen wie Sie und einfach nach dem Motto Die Bewe rt ung der unterschiedlichen Facetten der
darüber hinweggehen: Die CDU, die F.D.P. und an- DDR-Wirklichkeit und die Umsetzung in anwend-
dere, die sind für die Opfer zuständig, und wir küm- bare Gesetze stellt uns nicht nur vor technische
mern uns um die anderen. So einfach geht die Rech- Schwierigkeiten, sondern auch vor emotionale. Das
nung in diesem Deutschen Bundestag nicht auf. ist zeitraubend. Das ist bedauerlich, aber das ist Rea-
lität. Soweit ich das sehe, ist das in allen Fraktionen
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU -
anzutreffen - in der PDS natürlich nicht; das war
Dr. Gregor Gysi [PDS] meldet sich zur Ent
auch nicht zu erwarten. Im Gegenteil: Für den Ber-
gegnung)
lin-Wahlkampf werden charakterlose Schauanträge
gestellt, die unerfüllbare Erwartungen bei den Be-
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Gysi, wir ha- troffenen wecken sollen.
ben inzwischen 1 Uhr. Bitte! Ich habe die Kurzinter-
ventionen bis jetzt zugelassen. (Beifall bei der CDU/CSU)
(Dr. Gregor Gysi [PDS]: Frau Präsidentin, Die Anträge, die im übrigen erst am 9. Oktober im
wieso muß ich das auf mir sitzen lassen? - Ausschußsekretariat eingegangen sind, belaufen
Zurufe von der CDU/CSU: Setz dich doch sich - jetzt hören Sie genau hin - auf mehr als
mal!) 6,3 Milliarden DM.
Uwe Lühr
einen Änderungsantrag zu ihrem eigenen Gesetzent- Grundwerten der Demokratie verpflichtet sind, so
wurf eingebracht. Von Verschleppung kann hier also wie Sie es, Herr Verteidigungsminister, anläßlich der
wahrlich nicht die Rede sein. Einweihung der Julius-Leber-Kaserne am 5. Januar
1995 in Berlin ausgedrückt haben - ich zitiere -:
Meine Fraktion, die F.D.P.-Fraktion, wird sich wei-
ter darum bemühen, daß der Kappungskatalog auf- Der Soldat der Bundeswehr ist bereit, sein Vater-
gehoben wird und rechtmäßig erworbene Ansprüche land zu schützen und den Frieden zu sichern; er
und Anwartschaften aus Zusatz- und Sonderversor- steht ein für unsere Verfassung, und er über-
gungssystemen und die Versorgungszusagen bei nimmt Verantwortung für Freiheit und Würde an-
Post, Reichsbahn und Gesundheitswesen berück- derer. Julius Leber kämpfte gegen Nationalsozia-
sichtigt werden. lismus und Diktatur - offen, unerschrocken, mit
prinzipientreuer Kraft und vor allem: von Anfang
Ich gehe davon aus, daß die Bundesregierung in an. Das unterscheidet ihn von vielen anderen, bei
allernächster Zeit einen Novellierungsentwurf, der denen Einsicht und Mut zur Gegnerschaft erst im
mit den neuen Bundesländern abgestimmt ist, vor- Laufe der Zeit wuchsen.
legt, und ich hoffe weiterhin, daß dazu ein fraktions-
übergreifender Konsens in diesem Haus möglich ist, 1965 hatte der damalige Verteidigungsminister
wie es bei Rentenfragen üblich ist. Kai-Uwe von Hassel die Gebirgsjägerkasernen in
Füssen und Mittenwald nach Generaloberst Dietl
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. und General Kübler benannt, ohne damals die örtli-
chen Stadt- und Gemeinderäte vorher auch nur zu
(Beifall bei der CDU/CSU)
befragen. Seitdem tragen diese Kasernen die Namen
zweier Militärführer, die ausweislich aller jetzt vorlie-
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ich schließe die genden Studien und nachlesbaren Veröffentlichun-
Aussprache. gen überzeugte Nationalsozialisten der ersten
Stunde waren und die auch dann noch mit Durchhal-
teparolen treu zu ihrem Führer standen, als - um Sie
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
noch einmal zu zitieren - bei anderen „Einsicht und
Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans Mut zur Gegnerschaft im Laufe der Zeit wuchsen".
Büttner (Ingolstadt), Gerd Andres, Klaus Bar- Diet! war bereits maßgeblich am Kapp-Putsch im
thel und weiterer Abgeordneter der Fraktion Frühjahr 1920 beteiligt. Ihm war „bei der Durchfüh-
der SPD rung des Putsches in München eine tragende Rolle
Umbenennung der Generaloberst-Dietl-Ka- zugedacht" - so selbst die in vielen Bereichen unvoll-
serne in Füssen und der General-Kübler-Ka- ständige Studie des Militärgeschichtlichen For-
serne in Mittenwald schungsamtes der Bundeswehr. Er war ein Anhänger
Hitlers der ersten Stunde und hat ihm bereits 1919
- Drucksache 13/1628 - seine Soldaten als Saalschutz zur Verfügung gestellt
Überweisungsvorschlag: und, so die Studie, war zeit „seines Lebens
Verteidigungsausschuß (federführend)
überzeugter Anhänger jener menschenverachtenden
Rechtsausschuß Bewegung" . Deutlich wird dies anhand mehrerer Re-
den, die Diet' u. a. im November 1943 in Süddeutsch-
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die land hielt. Eine Rede Dietls ist z. B. in der Ausgabe
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich des „Donauboten" aus Ingolstadt vom 15. November
sehe keinen Widerspruch. 1943 nachzulesen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wo rt hat der Kol- Im Zusammenhang mit dem sogenannten Kommis-
lege Hans Büttner. sarbefehl, nach dem alle gefangenen sowjetischen
politischen Kommissare zu erschießen waren, stellt
die Studie fest:
Hans Büttner (Ingolstadt) (SPD): Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Bundesminister Waigel Unbestritten ist ..., daß man in den Stäben des
hat heute früh während der Aussprache über die Gebirgskorps Norwegen .. .
fünfjährige Wiedervereinigung unter anderem er-
klärt: Die Aufklärung über das SED-Unrechtsystem - dessen kommandierender General war Dietl seit
bleibt eine zentrale Aufgabe. Recht hat er. Juni 1940 -
Zum Schluß der Tagesordnung steht nun ein Punkt von der Existenz des Befehls und von Erschießun-
an, der ebenso zur Aufarbeitung der deutschen Ge- gen im unterstellten Bereich gewußt hat und daß
-
schichte gehört, nämlich der Umgang mit den Nazi- in dem ihm unterstellten Bereich 1941 und 1942
verbrechen, die Ursache für die Teilung dieses verschiedentlich nach diesem Befehl verfahren
Deutschlands waren. wurde.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Schließlich ist die Verantwortung Dietls für zwei
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Feldstraflager in Finnland festzuhalten. Die Lager
unterstanden der Armee und damit Dietl, der also für
Die Bundeswehr feiert in diesen Tagen ihr 40jäh- die Zustände do rt verantwortlich war. Auf einem von
riges Bestehen als Armee in einem demokratischen Diet! in einer Ansprache als „Bewährungsmarsch"
Deutschland, eine Armee, deren Soldaten den bezeichneten Marsch über 500 km, die von den Ge-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5249
Hans Büttner (Ingolstadt)
fangenen in 30 Tagen zurückzulegen waren, wurden grunde gelegt werden. Ausschlaggebend ist viel-
mindestens 16 Menschen erschossen, entsprechend mehr, ob ihre Gesamtpersönlichkeit und ihr Ge-
der Ankündigung DietIs: „Meine Herren, wer nicht samtverhalten beispielgebend in unsere Zeit hin-
mitkommt, der fällt. " einwirken.
Obwohl die Studie einige fragwürdige Wertungen (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
zugunsten Dietls trifft, ist ihr Ergebnis doch eindeu-
tig: Deshalb ist es mehr als bedauerlich, daß es über-
haupt dieses Antrages auf Umbenennung dieser bei-
Neben sie den Kasernen im Parlament bedarf.
- gemeint ist die „vorbildliche Menschenführung" (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
Dietls - ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
und der PDS)
tritt aber die - auch persönliche - Verstrickung in
die Unrechtstaten des nationalsozialistischen Re- Es muß erwartet werden, daß sich alle demokra-
gimes, die ihn aus der Masse der Wehrmacht tischen Parteien in unserem Land darüber einig sind,
deutlich heraushebt. Nach einem modernen Ge- daß überzeugte Nationalsozialisten nicht Pate für Ka-
schichtsverständnis ist bei der Beurteilung von sernennamen der Bundeswehr stehen können.
Persönlichkeiten eine Reduzierung auf einzelne
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
Elemente - im Fall Dietls auf nur soldatische und
militärische Haltungen und Leistungen - nicht ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
möglich. und der PDS sowie des Abg. Hildebrecht
Braun [F.D.P.])
Kübler, der „Bluthund von Lemberg", war ab Ok-
Das Festhalten an den Namen der beiden national-
tober 1943 Befehlshaber der Operationszone adria-
sozialistischen Generäle ist ein falsches Signal für die
tisches Küstenland. Er wurde 1947 von einem jugo-
Bundeswehr. Den jungen Soldatinnen und Soldaten
slawischen Militärgericht als Kriegsverbrecher zum
Tode verurteilt und hinge richtet. Die Studie des Mili- werden dadurch falsche Vorbilder vermittelt. Das ist
eine gefährliche und auch den eigenen Richtlinien
tärgeschichtlichen Forschungsamtes stellt bei Kübler
widersprechende Traditionspflege, für die Sie, Herr
eine „äußerst positive Einstellung zum Nationalsozia-
lismus" fest. Minister Rühe, die alleinige Verantwortung tragen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
Im Rußlandfeldzug forderte Kübler, als Vergeltung
PDS)
für die Ermordung von 19 verwundeten deutschen
Soldaten sämtliche gefangenen russischen Oberbe- Es ist scheinheilig, rechtsextremistische Vorkomm-
fehlshaber, Kommandeure und Stabsoffiziere zu er- nisse in den Streitkräften in Weisungen zu verurtei-
schießen. len und gleichzeitig ausgewiesene Nazi-Offiziere in
Kasernennamen der Bundeswehr zu dulden. Ganz
Im Kampf gegen die jugoslawischen Partisanen offensichtlich sollen damit rechte Wähler bei der
zeichnete sich Kübler, so die Studie, durch „überzo-
Stange gehalten werden. Deshalb ist es wohl auch im
gene Härte und Brutalität" aus. So ließ er Frauen und
Interesse von bestimmten Vertretern der CDU/CSU,
Kinder erschießen.
diese Debatte zur Geisterstunde durchzuführen,
In seiner Wertung über General Kübler kommt (Zuruf von der CDU/CSU: Die ist schon vor-
selbst das Militärgeschichtliche Forschungsamt der
bei, die Geisterstunde!)
Bundeswehr zu dem Ergebnis:
in der Hoffnung, dieses schäbige und verantwor-
Er
tungslose Spiel unter Ausschluß der Öffentlichkeit
- gemeint ist Kübler - betreiben zu können.
trieb seine Truppen ohne Rücksicht auf perso- (Günther F riedrich Nolting [F.D.P.]: Auch
nelle Verluste an und erweckte damit den Ein- eure Geschäftsführer haben dem zuge-
druck der menschenverachtenden Brutalität ei- stimmt!)
nes Hasadeurs. Die allermeisten Vorgesetzten der Bundeswehr, die
Im Traditionserlaß der Bundeswehr aus dem Jahre ein integraler Bestandteil unserer Demokratie gewor-
1982 heißt es u. a.: den ist, stehen fest und überzeugt zu den Grundwer-
ten unseres Staates. Es ist feige, wenn die politische
Kasernen ... können ... nach Persönlichkeiten Führung der Bundeswehr diese Männer nun unter
benannt werden, die sich durch ihr gesamtes Wir- dem Vorwand angeblicher demokratischer Entschei- -
ken oder eine herausragende Tat um Freiheit und dungsprozesse den Konflikt mit den CSU-nahen Re-
Recht verdient gemacht haben. servistenverbänden austragen läßt, der durch eine
In den Richtlinien für die Benennung von Kaser- skandalöse und von der politischen Führung zu ver-
nen wird ergänzt: antwortende falsche Traditionspflege ausgelöst wor-
den ist.
Bei der Beurteilung, ob Persönlichkeiten der
deutschen Militärgeschichte für die Bundeswehr (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist grotesk!)
überlieferungswürdig sind, können nicht nur sol- Das 40jährige Bestehen der Bundeswehr ist der ge-
datische Haltung und militärische Leistungen zu eignete Anlaß, die Generaloberst-Dietl-Kaserne in
5250 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE soweit dies unter den mörderischen Umständen ei-
GRÜNEN und der PDS) nes Krieges möglich ist. Die Tragik der Soldaten im
Zweiten Weltkrieg bestand ja gerade darin, daß sie
sich in dem Glauben, für die Heimat zu kämpfen,
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wo rt hat jetzt von einem skrupellosen Regime mißbrauchen ließen.
der Kollege Benno Zierer.
(Dr. E ri ch Riedl [München] [CDU/CSU]: Das
ist die Wahrheit!)
Benno Zierer (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Ver-
ehrte Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich, Den heute noch lebenden Soldaten zur Ehre sei ge-
bevor ich zum Thema selbst Stellung nehme, eine sagt, daß ihre Verstrickung in das dunkelste Kapitel
Bemerkung machen: Gibt es für die Opposition am deutscher Geschichte in den wenigsten Fällen auf
Ende des 20. Jahrhunderts, gibt es für die Opposition persönlicher Schuld beruhte.
im Jahre fünf nach der deutschen Einheit keine be- (Dr. E ri ch Riedl [München] [CDU/CSU)]:
wegenderen Themen, Genauso ist es! Das ist die Wahrheit!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Anders - differenzierter - ist der Anteil persönlicher
Widerspruch bei der SPD) Schuld beim deutschen Offizierskorps zu sehen, wo
keine wichtigeren Probleme als die Umbenennung viele zu Komplizen der Nazis wurden.
von Kasernen? Wer aber mit den Maßstäben von heute das Ver-
halten von damals mißt, der handelt unredlich.
(Detlev von Larcher [SPD]: Unglaublich!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Soll 50 Jahre nach dem Krieg mit einer zweiten Ent-
nazifizierung, mit einer Entnazifizierung von Gebäu- Es ist einfach, aus dem Schutz gesicherter demokrati-
den, begonnen werden? scher Grundrechte heraus Menschen zu verurteilen,
(Detlev von Larcher [SPD]: Was reden Sie (Detlev von Larcher [SPD]: Es geht nicht um
für einen Unsinn!) eine Verurteilung, es geht um Namensände-
rung!)
Hängt denn die Qualität unserer Demokratie von der
Unzweifelhaftigkeit eines militärischen Namenspa- denen ein solcher Schutz damals nicht zuteil war.
trons ab? Das sogenannte Dritte Reich hat viele mitschuldig
werden lassen, die mit dem Ungeist der braunen
Ich meine, dieser Antrag ist der durchsichtige Ver- Machthaber an sich nichts gemein hatten. Als Bei-
such, die Traditionspflege der Bundeswehr - spiel mag der von vielen von uns verehrte General-
(Jörg Tauss [SPD]: Nicht zu fassen! - Wei feldmarschall Rommel dienen,
tere Zurufe von der SPD) (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Von wem
denn?)
den Genossen schon immer ein Dorn im Auge - als
„rückwärtsgewandt", „mit braunen Flecken" zu dif- der aus Einsicht, daß er mit seinem demokratischen-
famieren. Einsatz den Nazis den Weg ebnen half, die tragische
Konsequenz zog.
(Detlev von Larcher [SPD]: Haben Sie nicht
zugehört? - B rigitte Schulte [Hameln] (Uwe Hiksch [SPD]: Das ist ja reaktionär!)
[SPD]: Herr Zierer, so ein Unfug!)
Auch ein Generaloberst Diet! glaubte, seinem
Unsere Bundeswehr als Armee im demokratischen Land dienen zu können
Staat ist über einen dera rt igen Verdacht erhaben.
(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Und den
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Nazis!)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5251
Benno Zierer
und galt bei den Soldaten als großes Vorbild. Er irrte. der auf fast 40 Dienstjahre ohne Krieg stolz war. Das
Aber er glaubte wie so viele in der Wehrmacht und ist angesichts der langen deutschen Militärge-
auch im deutschen Volk an den sogenannten Führer schichte, denke ich, ein sehr erfreuliches Novum. In
und an seinen militärischen Auftrag. den Traditionsrichtlinien der Bundeswehr von 1982
heißt es:
(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Und das
sind die Vorbilder für die Bundeswehr! Das In den Nationalsozialismus waren Streitkräfte
ist unglaublich!) teils schuldhaft verstrickt, teils wurden sie
schuldlos mißbraucht. Ein Unrechtsregime, wie
Ich gebe zu: Aus heutiger Sicht wäre er als Na- das Dritte Reich, kann Tradition nicht begründen.
mensgeber für eine Einrichtung der Bundeswehr un-
geeignet. Das hat auch der Bundesminister der Ver- Am 5. Januar dieses Jahres gab Minister Rühe der
teidigung wiederholt erklärt. größten Kaserne in Berlin den Namen von Julius Le-
(Zuruf von der SPD: Also umbenennen!) ber. Diese begrüßenswerten Bemühungen um demo-
kratisches Selbstverständnis und demokratische Tra-
Es ist eine andere Frage, ob die Einwände gegen ditionspflege in der Bundeswehr werden allerdings
seine Person wie auch gegen General Kübler so groß z. B. durch solche Namen konterkariert.
sind, daß eine Umbenennung der Kasernen in Füs-
sen und Mittenwald zwingend ist. Es ist richtig: Sol- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
che Entscheidungen sollen nicht auf oberster politi- bei der SPD und der PDS)
scher Ebene getroffen werden, sondern sie sollen von Die Belege dafür, daß die Namen gerade von Ge-
unten, von der Bevölkerung, von den do rt gewählten neral Diet! und Kübler im Rahmen einer solchen Tra-
Vertretern der Kommunen kommen. ditionspflege völlig ungeeignet sind, sind gerade
(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Die wur vom Kollegen Büttner genannt worden, auch nach
den nicht gefragt, als die Namen den Kaser den letzten Studien des Militärgeschichtlichen For-
nen gegeben wurden!) schungsamtes. Ich brauche sie nicht zu wiederholen.
General Winfried Wolf hat als Kenner ähnliche Aus-
Das von Ihnen, meine Herren von der Opposition, führungen dazu gemacht.
viel strapazierte Wo rt von der Basisdemokratie bietet
hier die beste Gelegenheit, sie zu praktizieren, oder Wir müssen allerdings feststellen: Das Ministe rium
in Bayern bei der geschaffenen Möglichkeit eines prüft inzwischen sieben Jahre diesen ganzen Kom-
Bürgerentscheids. plex. Ich habe den Eindruck, man versteckt sich im
Grunde hinter dem, was lokal an unzweifelhafter Zu-
Ich darf abschließend sagen: Die CDU/CSU-Frak- stimmung zu diesen Namen vorhanden ist.
tion legt keinen gesteigerten Wert darauf, die be-
stehende Benennung zu ändern. Zwingender Anlaß
besteht nicht. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Nachtwei, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Gysi?
Vielen Dank.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Zuruf von der SPD: Unverschämtheit, so Ja, bitte schön.
eine Rede hier zu halten!)
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster Dr. Gregor Gysi (PDS): Zu den beiden Namen ha-
spricht der Kollege Winfried Nachtwei. ben Sie ausreichend Stellung genommen. Aber Ihr
Vorredner hat darauf hingewiesen, daß man die
Wehrmacht sehr differenzie rt beurteilen müsse und
Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): daß viele dachten, daß sie sozusagen die Heimat ver-
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- teidigen, obwohl sie in Wirklichkeit mißbraucht wur-
gen! Guten Morgen! Herr Kollege Zierer, Sie fragen, den, um einem System zu dienen. Er hat dabei insbe-
ob es kein wichtigeres Thema gibt. Natürlich gibt es sondere Herrn Rommel hervorgehoben.
viele wichtige Themen. Allerdings ist Traditions-
pflege für die Bundeswehr insofern enorm wichtig, Würden Sie mir in der Annahme folgen, daß, wenn
weil es da um eigenes Selbstverständnis und eigene man in Afrika kämpft, man ahnt, daß man nicht seine
Identität geht. Das hat natürlich ganz stark mit der Heimat verteidigt, weil man das eigentlich nur in der
eigenen Vergangenheit zu tun. Zweitens geht es Heimat kann? Wenn man nach Polen, in die Sowjet-
hier, glaube ich, den meisten im Saale nicht darum, union und in viele andere Länder marschiert, muß-
die Traditionspflege bei der Bundeswehr pauschal zu man zumindest davon ausgehen, daß man einen Er-
diffamieren. Da müssen wir genau hinschauen. Das oberungskrieg führt.
werde auch ich versuchen.
(Beifall bei der PDS - Widerspruch bei der
(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Ihnen geht CDU/CSU)
es um etwas ganz anderes, um die Presseer
klärung von dem Büttner!)
Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Vor wenigen Wochen erlebte ich in meiner Heimat- Eine kurze Antwort darauf: Grundsätzlich ja. Ich will
stadt Münster, daß ein General pensioniert wurde, jetzt aber nichts zur Wehrmacht sagen. Es geht hier
5252 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
Winfried Nachtwei
um konkrete Namen. Ich glaube, da kommt man wei- Von 443 deutschen Kasernen tragen nur 40 die Na-
ter. men von Soldaten der ehemaligen Wehrmacht. Von
diesen Soldaten waren 13 allerdings Angehörige des
(Beifall bei der SPD - Dr. Erich Riedl [Mün militärischen Widerstands. Die anderen 27 Namen
chen] [CDU/CSU]: So eine Scheinheiligkeit! schaffen uns mehr Probleme als die Namen der ver-
Sie waren in Kuba, in Angola, in Mosam bleibenden 416 Kasernen zusammen.
bik!)
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P., Der
- Herr Riedl, darf ich um Ruhe bitten? - Danke schön. SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
und der PDS)
Allerdings muß ich feststellen, daß diese beiden
Kasernennamen nicht einfach nur als Fall von viel- Diese sind nach Landschaften, nach historischen Per-
leicht militaristischer Folklore abgetan werden kön- sönlichkeiten oder nach der jewei ligen Waffengat-
nen, sondern daß sie auch etwas wie die Spitze eines tung benannt.
Eisberges sind. Wenn wir uns Kasernennamen ins-
gesamt ansehen, müssen wir feststellen, daß ein gro- Ich bin selbst Reserveoffizier der Gebirgstruppe.
ßer Teil dieser Kasernen nach sogenannten Helden Als ich in Mittenwald diente, hieß die Kaserne noch
des Ersten Weltkrieges, von Kolonialkriegen und an- nicht General-Kübler-Kaserne, sondern Pionierka-
deren sogenannten Helden des Zweiten Weltkrieges serne. In Füssen gab es die Jägerkaserne und keine
benannt ist. Sehr viele Namen wurden aus der hitler- Generaloberst-Dietl-Kaserne. Aber die Bundeswehr,
schen Traditionsoffensive von 1936/1937 übernom- eine Friedensarmee mit einem völlig neuen Auftrag,
men und dann beibehalten. suchte Traditionen, die sie betrüblicherweise bei den
Generälen Kübler und Diet' fand.
Wenn solche Namen als Kasernennamen gewählt
werden, hat das Symbolkraft; denn die Bezeichnung Kübler als erster Kommandeur der 1. Gebirgsdi-
von Kasernen nach bestimmten Personen soll vision erfüllte sicher die Vorstellung vieler von einem
Schlichtweg Vorbilder markieren. Wenn man solche deutschen Truppenführer. Er war ein echter Haude-
Art von Kriegshelden in Mengen als Vorbilder dar- gen, der die Gebirgsjäger kompromißlos zu einer Eli-
stellt, soll man sich allerdings nicht wundern, daß tetruppe der deutschen Wehrmacht machte. Daß er
sich an der Basis in einzelnen Einheiten Beunruhi- dabei keinerlei Schranken kannte, störte die Traditi-
gendes tut. Das wurde im letzten Be ri cht des Wehr- onssucher in den 60er Jahren nicht. Die militärge-
beauftragten dargestellt, und zwar in dem Kapitel schichtliche Forschung von heute entlarvt Kübler mit
„Traditionspflege". seiner äußerst positiven Einstellung zum Nationalso-
zialismus allerdings als menschenverachtenden, bru-
Herr Minister Rühe, meiner Meinung nach ist es an talen Hasardeur.
der Zeit, daß Sie in Sachen Kasernennamen endlich
Führungsstärke beweisen. Dafür wäre die Umbenen- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der
nung dieser beiden Kasernen ein sehr wichtiger er- CDU/CSU sowie bei der SPD und der PDS)
ster Schritt. Ansonsten muß sich der Eindruck auf-
drängen, daß Ihr Eintreten für eine demokratische Ich zitiere aus einer offiziellen Untersuchung. Es ist
Traditionspflege in der Bundeswehr nicht ganz ernst nicht meine persönliche Bewertung; aber ich stimme
gemeint ist. ihr zu.
Kübler hat als Vergeltung - hören Sie mir bitte zu -
Danke schön.
für die Ermordung von 19 deutschen Soldaten durch
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Partisanen nachhaltig die Erschießung sämtlicher ge-
bei der SPD und der PDS) fangener russischer Oberbefehlshaber, der komman-
dierenden Generäle, der Kommandeure und Stabs-
offiziere gefordert. General Kübler hat damit unmiß-
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt verständlich zu offensichtlichen Kriegsverbrechen
der Kollege Hildebrecht Braun. erster Ordnung aufgerufen. Er taugt nicht zum Vor-
bild für die Bundeswehr.
Hildebrecht Braun (Augsburg) (F.D.P.): Wertes Prä- (Beifall bei der F.D.P., der SPD, dem BÜND-
sidium! Die Deutschen sind schon ein undankbares NIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS sowie
Volk. Da kämpfen die Generäle Kübler und Dietl jah- bei Abgeordneten der CDU/CSU)
relang mit großem Erfolg. Sie besiegen den bösen
Feind reihenweise, der einfach nicht verstehen will, Er war ein Kriegsverbrecher.
-
daß es der göttlichen Vorsehung entsprechen soll, Die Kübler-Kaserne in Mittenwald mit der Winter-
wenn deutsche Soldaten sein Land besetzen. Sie sor- kampfschule der Bundeswehr wird laufend von Dele-
gen für einen Ruf der neugebildeten 1. Gebirgsdi- gationen aus aller Welt besucht. Sie darf seinen Na-
vision wie Donnerhall. Sie stellen den P rimat der men nicht mehr tragen. Es ist unverständlich, warum
Politik nicht in Frage, sondern lesen dem Führer die das Verteidigungsministerium nicht schon längst ge-
Wünsche von den Lippen ab - und das auch noch mit handelt hat.
glühendem Herzen. - Und dann das! Da kommen
50 Jahre später Politiker und wünschen, daß Kaser- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, des
nen, die man in den 60er Jahren nach den früheren BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
Helden der Truppe benannt hat, umbenannt werden. PDS)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5253
Hildebrecht Braun (Augsburg)
Sehr viel schwieriger ist die Sache mit der Dietl- nämlich Ludwigs II., heranzuziehen, der der Stadt
Kaserne. Diet! zeichnete sich nicht nur durch große Füssen durch seine Schlösser jährlich weit über eine
militärische Leistung aus, sondern auch durch solda- Milli on Touristen beschert und der in den Herzen der
tische Haltung. Er ging anständig mit seinen Unter- Bayern viel tiefer verankert ist, als es Dietl trotz sei-
gebenen um. So nimmt es nicht wunder, daß er vie- nes Charismas je schaffen konnte?
len noch heute als ehrenhafte Persönlichkeit, ja als
väterlicher Freund in Erinnerung ist. Er hatte ein Vielen Dank.
herzliches Einvernehmen mit großen Teilen der Be-
völkerung, die ihm noch heute einen Heiligenschein (Beifall bei der F.D.P., der SPD, dem BÜND-
umhängen wollen. Es ist aber an der Zeit, Heiliges NIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS sowie
von Unheiligem zu trennen. bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Gerhard Zwerenz
Beispiel Kübler, Korpstagesbefehl vom 7. August Die Panzergrenadiere nehmen das Telefonge-
1941: bäude zum dritten Mal. Der Mut ist ungeheuer.
Das Gemetzel ist riesig.
Soldaten! Größer
Die Schlacht von PODWYSSOKOJE ist siegreich Ist der Mut dessen, der dem Befehl
beendet. Widersteht.
Der Feind ist vernichtet.
Ich danke Euch allen. Das ist allerdings nicht die Lyrik von diesen Gene-
Wir neigen uns in Ehrerbietung vor unseren To- rälen, nicht von Kübler und nicht von Dietl. Das ist
ten und grüßen unsere Verwundeten. die Lyrik, das sind sechs Zeilen von Brecht. Nach ihm
Wir grüßen die Heimat. sollte die Dietl-Kaserne jetzt benannt werden.
Es lebe der Führer!
Unterschrift: Kübler Ich danke Ihnen.
Dies ist die typische Kriegslyrik in der Zeit, in der (Beifall bei der PDS und dem BÜNDNIS 90/
gesiegt wurde. Als dann die Niederlage kam, hat DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
man geheult, als die andere Seite, die nun der Sieger SPD)
war, so ha rt in der Lyrik wurde.
Aus Dietls Nazi-Reden und Hitlers Lobreden auf
Dietl brauche ich nichts zu zitieren. Dies hieße nicht Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Es spricht der Bun-
Eulen nach Athen tragen, nein, das hieße Verlegen- desminister der Verteidigung, Volker Rühe.
heiten auf die Hardthöhe tragen. Es wurde schon ge-
sagt - zur Ehre von Minister Rühe kann es noch ein-
mal erwähnt werden -: Er hat sich mehrfach distan- Volker Rühe, Bundesminister der Verteidigung:
ziert. Er hat gesagt, er würde eine Kaserne heute na- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
türlich nicht nach Dietl benennen. Derjenige, der das Gutachten in Auftrag gegeben
hat, bin ich. Nachdem es vollständig war und auch
Als Goebbels 1943 zum „totalen K rieg" aufrief, die völkerrechtlichen Untersuchungen vorlagen,
sandte Dietl ihm dazu aus Norwegen ein Glück- habe ich es unverzüglich dem Verteidigungsaus-
wunschtelegramm. Am selben Tag wurden in Mün- schuß sowie den Kommandeuren vor Ort und auch
chen die Geschwister Scholl verhaftet. Ich meine, den Gemeinden zugeleitet. Der Streit, um den es ei-
hier zeigen sich Zusammenhänge, die bisher ausge- gentlich nur gehen kann, ist: Soll ich entscheiden,
blendet worden sind. Alle diese Zusammenhänge, bevor ich die Betroffenen gehört habe? Ich glaube,
die für sich selbst sprechen, sind leider auch in den das wäre falsch. Das würde im übrigen auch den Re-
beiden Gutachten nicht erwähnt. Ich zitiere aus geln widersprechen, an die ich mich zu halten habe.
Dietls Ingolstädter Rede vom November 1943:
Der Frontsoldat weiß ..., daß sich die Juden der Der sozialdemokratische Verteidigungsminister
ganzen Welt zusammengeschlossen haben zur Hans Apel hat 1982 festgelegt, daß die Traditions-
Vernichtung Deutschlands und ganz Europas. pflege in der Verantwortung der Kommandeure und
Einheitsführer liegt. Bestehende Kasernennamen
Ich verzichte darauf, noch sehr viel schlimmere an- können auf Antrag der Truppe und im Einvernehmen
tisemitische Stellen zu zitieren. Sie sind bekannt. Ich mit den betroffenen Gemeinden geändert werden.
habe sie dutzendfach veröffentlicht. Sie sind vom
„Spiegel" bis zur „Frankfu rter Rundschau" und in Die Kommandeure in Füssen und Mittenwald ha-
Büchern veröffentlicht worden. Sagen Sie mir nicht, ben deshalb von mir den Auftrag erhalten, im Lichte
daß Sie davon nichts gewußt haben! Sie stellen sich der Untersuchungsergebnisse des Militärgeschichtli-
trotzdem auf die Seite dieser Generäle. chen Forschungsamtes zu prüfen und Stellung zu
nehmen, ob sie - und zwar erstmals auf der Grund-
Der CSU-Abgeordnete Rossmanith, der heute hier lage dieser eindeutigen Dokumente - die Namen ih-
auch allerhand zu sagen hat, schrieb über Dietl: rer Kasernen noch für vertretbar halten. Die Gemein-
Generaloberst Dietl war und ist auch heute noch den sollen in die Diskussionen einbezogen werden.
für mich ein Vorbild in menschlichem und soldati- Auch sie haben die Studien erhalten.
schem Handeln.
Ich denke, es ist in der Demokratie guter Brauch
(Zurufe von der SPD und der PDS) und vernünftig, die Betroffenen vor einer Entschei-
dung an der Meinungsbildung zu beteiligen, um De-
Dies wird auch vom weit überwiegenden Teil der krete von oben zu vermeiden.
Bevölkerung im Südbayerischen und dem daran
angrenzenden Gebiet so gesehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. -
Ich frage mich: Wieso beleidigt er eigentlich diese Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: So macht
Bevölkerung? man das!)
Ich lese voller Verzweiflung, voller Trauer in sol- Die Menschen vor Ort müssen notwendige Ent-
chen Situationen etwas anderes. Ich lese zum Bei- scheidungen mittragen, wenn wir unnötige Verhär-
spiel: tungen vermeiden wollen. Denn Tradition muß von
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5255
Bundesminister Volker Rühe
den Menschen in der Bundeswehr, in den Gemein- zogen - sie haben übrigens auch tapfer an der Front
den und Regionen gelebt werden, wenn sie in der gekämpft, um das einmal deutlich zu sagen - und
Zukunft tragen soll. aus voller Überzeugung daran mitgewirkt, die Bun-
deswehr im demokratischen Staat zu verankern.
(Zuruf von der SPD: Aber doch nicht jede
Tradition! — Abg. Gerald Häfner [BÜND Sie haben die Innere Führung mit dem Leitbild
NIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer des Staatsbürgers in Uniform für die Armee in der
Zwischenfrage) Demokratie entwickelt. Darauf baut die eigene Tra-
dition auf, die unsere Bundeswehr in den letzten
- Warten Sie doch ab, Sie können ruhig Platz neh- 40 Jahren gebildet hat und auf die sie stolz sein
men. kann.
Bei der Frage, ob die Dietl-Kaserne in Füssen und Daher habe ich auch Kasernen nach Persönlichkei-
die Kübler-Kaserne in Mittenwald umbenannt wer- ten der Gründergeneration der Bundeswehr be-
den sollen, geht es im Kern darum, wie die Bundes- nannt: die Generalleutnant-Graf-Baudissin-Kaserne
wehr mit der Geschichte, mit der militärischen Tradi- in Hamburg und die Johannes-Steinhoff-Kaserne in
tion und dabei insbesondere mit der Wehrmacht um- Berlin-Gatow.
geht. Das hat auch die Debatte gezeigt.
Von den 368 Kasernen der Bundeswehr sind der-
Die Bundeswehr stellt sich der ganzen deutschen zeit 179 nach Persönlichkeiten der Geschichte be-
Geschichte mit ihren Höhen und Tiefen. Tradition ist nannt. Die Namen umfassen Politiker, Wissenschaft-
aber nicht Geschichte. Tradition ist verantwortungs- ler, Schriftsteller, Künstler und Soldaten aus den letz-
bewußte Auswahl aus der Geschichte. Sie orientiert ten drei Jahrhunderten. Alle sind Ergebnis eines
sich am Werterahmen unserer Verfassung. Die Bun- Meinungsbildungsprozesses von unten. Häufig sind
deswehr stützt sich deshalb vor allem auf die freiheit- regionale Bezüge für die Namensvorschläge maß-
lichen Werte der deutschen Militärgeschichte. Die geblich gewesen.
preußischen Reformen und der deutsche Widerstand
gegen Hitler stehen daher im Zentrum der Traditi- Stets hat es dabei engagierte Befürworter und
onspflege der Bundeswehr. Gegner gegeben, bei einigen Namensgebern mehr,
bei anderen weniger. Das liegt in der Natur der Sa-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so che. Wo immer Namensgebungen nach Persönlich-
wie bei Abgeordneten der SPD) keiten der Geschichte erfolgen, ist der Grat schmal,
auf dem man sich bewegt. Es geht um Menschen mit
Ich habe mit der Wahl des Bendler-Blocks zum ihren Vorzügen und ihren Fehlern. Deshalb ist die
zweiten Dienstsitz in Berlin, den Namensgebungen Gesamtpersönlichkeit so wichtig und nicht nur be-
für die Dr.-Julius-Leber-Kaserne, die Henning-von- stimmte Facetten.
Treskow-Kaserne in Potsdam und gerade in den letz-
ten Tagen für die Wilhelm-Leuschner-Kaserne in Dies war ein maßgeblicher Grund für den Auftrag
Hennickendorf entsprechende Akzente gesetzt. an das Militärgeschichtliche Forschungsamt, zu Küb-
ler und Dietl geschichtswissenschaftliche Untersu-
Die Wehrmacht war als Organisation des Dritten chungen vorzulegen, die umfassende Aussagen zu
Reiches, in ihrer Spitze, mit Truppenteilen und mit ihrer Persönlichkeit machen. Und daß Sie hier heute
Soldaten in Nazi-Verbrechen verstrickt. Daran gibt so breit zitieren konnten, haben Sie allein mir zu ver-
es keinen Zweifel. Als Institution Wehrmacht kann danken, der diese Gutachten do rt in Auftrag gege-
und darf sie deshalb keine Tradition begründen. ben und sie vollständig dargelegt hat.
Nicht die Wehrmacht, aber einzelne Soldaten kön- (Zuruf von der SPD)
nen traditionsbildend sein, wie die Offiziere des
20. Juli, aber auch wie viele Soldaten im Einsatz an - Gut, ich w ill das nicht weiter hochstilisieren; aber
der Front. Wir können diejenigen, die tapfer, aufopfe- es ist eine Tatsache.
rungsvoll und persönlich ehrenhaft gehandelt haben,
(Erneuter Zuruf von der SPD)
aus heutiger Sicht nicht pauschal verurteilen.
- Es ist etwas anderes, wenn Sie aus der Presse zitie-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, ren, als wenn Sie hier aus den Dokumenten des Mili-
der F.D.P. und der SPD) tärgeschichtlichen Forschungsamtes der Bundes-
Ich nehme auch nicht an, daß das irgend jemand ma- wehr zitieren. Das gibt eine ganz andere Autorität,
chen würde. und es war mir wichtig, eine solche Autorität zu
schaffen.
Immer geht es um die Frage nach der individuel- -
len Schuld oder dem individuellen Verdienst. Dabei (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
dürfen wir uns natürlich nicht nur auf rein militäri-
sche Haltungen und Leistungen beschränken. Ent- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Minister, ge-
scheidend sind Gesamtpersönlichkeit und Gesamt- statten Sie jetzt eine Zwischenfrage des Abgeordne-
verhalten. ten Häfner?
Ehemalige Soldaten der Wehrmacht haben die
Bundeswehr mit aufgebaut. Offiziere wie die Gene- Volker Rühe, Bundesminister der Verteidigung: Ja,
rale de Maiziere, Graf Baudissin und Graf Kiel- da ich kurz vor dem Ende bin, hat er vielleicht jetzt
mannsegg haben die Lehren aus der Geschichte ge die letzte Chance. Bitte.
5256 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich Deswegen verdient es auch zu dieser Stunde, daß Sie
bedanke mich herzlich, Herr Minister, daß Sie gesagt eine kurze Inte rvention auch noch von denen, die
haben, Sie wollen dies alles demokratisch gestalten. sich um diese Debatte bemüht haben, bekommen.
Da freue ich mich, daß auch noch eine Frage zulässig
ist. Ich möchte darauf hinweisen, daß in Ihren Ausfüh-
rungen die Frage offengeblieben ist, warum Sie wäh-
Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß ich rend Ihrer Amtszeit so lange gebraucht haben, um
dieses Thema in der 11. Legislaturpe riode des Bun- die Entscheidung des Petitionsausschusses und die
destages hier im Hause zum Gegenstand der Diskus- Entscheidung des Hauses über die Empfehlung des
sion gemacht habe, daß dann nach langen Debatten Petitionsausschusses, nämlich die Namen abzulegen,
im Ausschuß der Bundesminister der Verteidigung vorzubereiten.
beschlossen hat, beim Militärgeschichtlichen For-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
schungsamt ein Gutachten in Auftrag zu geben, daß
wir über dieses Gutachten, das ausgesprochen um- Sie haben, Herr Bundesminister, zu Recht ausge-
fangreich und im Ergebnis sehr klar war, hier im führt, Tradition sei verantwortungsvolle Auswahl der
Deutschen Bundestag ausführlich diskutiert haben, Geschichte. Ich möchte Sie mit einem Satz unseres
daß der damalige Bundesminister der Verteidigung geschätzten verstorbenen Kollegen Hugo Brandt aus
dann gesagt hat, er wolle mit den Bürgermeistern, einer ähnlichen Debatte über Tradition konfrontie-
mit den Standortältesten usw. in ein Gespräch eintre- ren, in der er gesagt hat: „Du bist nicht frei in der
ten, und daß heute, sieben Jahre später, nichts ge- Wahl deiner Geschichte, aber frei in der Wahl der
schehen ist, und können Sie mir vor diesem Hinter- Tradition, in der du Geschichte pflegen willst."
grund sagen, wie lange der Nachdenkensprozeß
jetzt noch dauern wird, bis ein Ergebnis zu verkün- Glauben Sie, Herr Bundesminister, daß die Namen
den ist? Baudissin oder Leuschner nicht in ihrer Würde ange-
tastet werden, wenn sie neben Diet! und Kübler ste-
hen?
Volker Rühe, Bundesminister der Verteidigung:
Das Gutachten ist nicht vergleichbar. Ich glaube, das, (Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/
was wir jetzt vorgelegt haben, ist wirklich eine ver- DIE GRÜNEN sowie des Abg. Gerhard
nünftige Basis für eine Entscheidung. Wenn Sie noch Zwerenz [PDS])
einen Augenblick gewartet hätten, hätten Sie auch Sie haben, was auch eine Auseinandersetzung ver-
alles erfahren. dient, auf die Demokratie von unten nach oben hin-
Diese Gutachten sind jetzt Grundlage für eine fun- gewiesen. Wir begegnen uns hier mit unterschied-
dierte und verantwortliche Diskussion vor O rt . Dieser lichen Auffassungen. Auch Demokratie von unten
Prozeß ist in beiden Garnisonen im Gange. Ich habe nach oben hat Schranken. Sie hat Schranken, Herr
einen Termin gesetzt: Ich erwarte die Stellungnah- Bundesminister, liebe Kolleginnen und Kollegen,
men der Truppe bis zum Ende dieses Monats. Durch wenn dabei Verbrechen und eine Gesinnung im
eine simple Frage hätten Sie das von mir auch vorher Spiel sind, die unser Land in den Untergang geführt
erfahren und sich überlegen können, ob Sie zu dieser haben. Deswegen liegt unser Antrag vor.
Stunde über dieses wichtige Thema - wir haben (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
überhaupt keinen Anlaß, die Diskussion zu scheuen - ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
diskutieren müssen. Ich habe einen Termin bis Ende und der PDS)
dieses Monats gesetzt. Danach werde ich den Vertei-
digungsausschuß unterrichten und entscheiden.
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als letzter in dieser
(Zuruf von der CDU/CSU: So wird das ge Debatte hat der Kollege Kurt Rossmanith das Wo rt .
macht!)
- So ist der Ablauf. Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn wir
Ich bedanke mich. in diesen Tagen das 40jährige Jubiläum unserer Bun-
deswehr feiern, dann können wir mit Recht stolz sein
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
auf eine Armee, die mit ihrem Auftrag und mit dem
Selbstverständnis ihrer Soldaten in unserem demo-
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort zu einer kratischen Rechtswesen und Staatswesen tief ver-
Kurzintervention hat der Kollege Kolbow. wurzelt ist.
Diese Bundeswehr hat einen ganz entscheidenden-
Walter Kolbow (SPD): Herr Bundesminister, mit Beitrag zur Friedenssicherung in Europa geleistet.
Ihrer Rede und mit Ihren Argumenten kann und muß Dieser Einsicht können sich selbst eingefleischte,
man sich auseinandersetzen. Sie haben wesentlich selbsternannte sogenannte Pazifisten heute nicht
bessere und diskussionswürdigere Argumente auch mehr versperren. Die Soldaten unserer Bundeswehr
hinsichtlich dessen, was Sie veranlaßt haben, hier verdienen deshalb unseren Dank und von ihren Kriti-
vorgetragen, als in der bedauernswerten Rede des kern zumindest Fairneß im Umgang.
Kollege Zierer zum Ausdruck kamen.
Was die Herren Kolbow und Büttner in dieser Wo-
(Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ che in ihrer Pressemitteilung mit der Überschrift
DIE GRÜNEN) „Falsche Traditionspflege in der Bundeswehr" von
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5257
Kurt J. Rossmanith
sich gegeben haben, zeigt ein Horrorgemälde, als raus" gerufen haben? Eine Verurteilung hat statt-
gäbe es beunruhigende Entwicklungen in der Bun- gefunden. Beim Panzergrenadierbataillon 212 in
deswehr in Richtung einer Radikalisierung nach Augustdorf wurden Gewaltakte und Schikanen ge-
rechts. Das ist Polemik in Reinkultur. Das muß ich in meldet.
aller Deutlichkeit sagen. Gerade von Ihnen, Herr
Kolbow, hätte ich das nicht erwartet. Wären Sie bereit, auf Grund dieser bedauernswer-
ten Einzelfälle mit mir darüber nachzudenken, wie
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wir Konsequenzen im Sinne der Verbesserung der
politischen Bildung ziehen könnten?
Dies darf schlicht und einfach so nicht stehenblei-
ben. Die Bundeswehr ist ein Teil unserer Gesell- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
schaft. Eine 1992 vom Sozialwissenschaftlichen Insti- ten der PDS)
tut der Bundeswehr vorgelegte Studie hat richtiger-
weise auf ein damals gehäuftes Vorkommen rechts- Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Herr Kollege Kol-
radikaler Vorfälle unter Jugendlichen insbesondere bow, ich bin nicht nur bereit, darüber nachzudenken
in den neuen Bundesländern hingewiesen. Es kann und mit Ihnen diese Fälle aufzuarbeiten und die ent-
nicht verwundern, daß dies natürlich auch in der sprechenden Konsequenzen zu ziehen, sondern ich
Bundeswehr in Einzelfällen seinen Niederschlag ge- bin der Meinung, es ist unsere verdammte Pflicht
funden hat. Denn die Bundeswehr ist ja ein Teil unse- und Schuldigkeit, das zu tun. Nur: In Ihrer Presseer-
rer Gesellschaft und in vielen Bereichen, da alle ihre klärung - gemeinsam mit Herrn Büttner - haben Sie
Wehrpflicht leisten, ein Spiegelbild dieser Gesell- die Bundeswehr in toto in einer A rt und Weise in die
schaft. Ecke gestellt, als wenn der größte Teil der Bundes-
wehr und der Wehrpflichtigen rechtsradikalen Ten-
Doch was gibt Ihnen das Recht, dies hier zu gene- denzen nachhinge.
ralisieren und die Soldaten der Bundeswehr pau-
schal zu diffamieren? (Zuruf von der SPD: Diffamierung!)
(Widerspruch bei der SPD) Dagegen verwahre ich mich mit allem Nachdruck.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU -
Den Lehrsatz „Wehret den Anfängen", mit dem Sie
Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Rossma-
Ihre Verallgemeinerungen rechtfertigen, nehme ich
nith, Sie sind ein Rechtsradikaler!)
sehr wohl ernst. Doch für mich hat er in diesem Fall
eine andere Bedeutung: Wehret den Anfängen, eine Die Bundeswehr und die Soldaten, die in der Bun-
falsche Legende in die Welt zu setzen. deswehr Dienst leisten, haben in diesen 40 Jahren
auch ein gutes Stück demokratischer Gelassenheit
erworben. Ich persönlich vertraue auf das Prinzip der
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Rossmanith, Inneren Führung, und ich vertraue auch auf die Vor-
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten gesetzten in der Bundeswehr. Ich vertraue darauf,
Kolbow? daß es ihnen gelingt, die Einzelfälle, die Sie, Herr
Kollege Kolbow, noch einmal aufgeführt haben und
die Sie mit Recht beklagen, zu bewältigen und nicht
Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Selbstverständ-
zum Schaden ihrer Truppe ausarten zu lassen. Ich
lich.
traue es den Unteroffizieren und den Offizieren die-
ser Bundeswehr auch zu, daß sie die Besonnenheit
Walter Kolbow (SPD): Herr Kollege Rossmanith, haben, sich in aller Ruhe und Sachlichkeit mit der
wären Sie bereit, den Vorwurf der pauschalierten Geschichte des Generaloberst Dietl auseinanderzu-
Verunglimpfung der Bundeswehr zurückzunehmen setzen.
unter Hinweis auf unsere Erklärungen, in denen wir Jetzt zitiere ich auch aus dieser Studie, aber nicht
von Einzelfällen und unserem Bemühen, den Anfän- wie Sie, Herr Kollege Büttner, sektiererhaft, sondern
gen zu wehren, gesprochen haben? Wären Sie bereit, einen ganzen Absatz. In dieser Studie kommt der Au-
die Fälle, auf die wir uns bezogen haben, gemeinsam tor zu folgender Bewertung:
mit mir durchzugehen, um gemeinsame Konsequen-
zen zu ziehen? (Zuruf von der SPD)
Sind Ihnen folgende Beispiele bekannt? „Schon- - Wollen Sie hören, was in der Studie steht, oder
gauer Nachrichten" vom 4. Juli 1995 mit der Über- nicht?
schrift „Erst flogen Gläser, dann ertönte ein ,Sieg (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Es ist
Heil!' " . Bei einem studierenden Offizier der Univer- schon fast zwei Uhr! Da nehmen wir Sie
sität München bestand der begründete Verdacht auf nicht mehr ganz ernst!)
Gefährdung des demokratischen Rechtsstaats wegen
rechtsradikaler, antijüdischer und rassistischer Äuße- Wenn Sie es gelesen hätten, hätten Sie es gleich ge-
rungen. Durch die Initiative von Herrn Bundesmini- wußt, aber Sie haben es nicht gelesen.
ster Rühe wurde er Gott sei Dank sofort aus dem
Ich zitiere aus der Studie über Generaloberst Dietl:
Dienst entfernt. - Angehörige des Wachbataillons
sind in einem Siegburger Linienbus gegenüber an- Dietls menschlicher Umgang über Dienstgrade
deren Fahrgästen handgreiflich geworden. Ist Ihnen hinweg, seine auf die Vermeidung von menschli-
bekannt, daß sie „Juden vergasen" und „Ausländer chen Verlusten bedachte Führungsweise und sei-
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Kurt J. Rossmanith
ne Fürsorge, wie sie in vielen Einzelschilderun- - Ich betone noch einmal, daß ich den Fall Dietl und
gen dargestellt werden, können auch nach heuti- den Fall Kübler nicht über einen Kamm scheren will,
gen Maßstäben als vorbildlich gelten. sondern daß hier eine differenzie rte Betrachtungs-
weise not tut.
Genau das, Herr Zwerenz, habe ich gesagt und
nichts anderes. Ich finde es schon erstaunlich, daß (Zuruf von der SPD: Alte Nazis!)
Sie die Dreistigkeit haben, aus einem B rief zu zitie-
Aber ich sehe auch heute noch keinen Grund, der
ren, den ich einem Mitglied des Bundestages ge-
Dietl-Kaserne einen anderen Namen zu geben,
schrieben habe. Ich wi ll nicht fragen, woher Sie den
Brief haben. Er kann jedenfalls nicht auf legale A rt (Detlev von Larcher [SPD]: Das hätte mich
undWeisaSgltn.DeochabSi bei Ihnen auch gewundert!)
die Dreistigkeit, aus diesem Brief auch noch zu zitie-
ren. Aber ich habe in dem B rief genau das gesagt, wobei ich aber auch hier ganz klar zum Ausdruck
was auch das Ergebnis der Studie ist. bringen möchte - -
(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Das ist die
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Rossmanith, Nazi-Tradition, in der Herr Rossmanith
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten steht!)
Zwerenz? - Das ist eine Unverschämtheit, was Sie hier sagen,
eine Unverschämtheit! Wenn Sie wüßten, Herr Bütt-
Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Nein, von Herrn ner, wie meine Familie in der Zeit des Nationalsozia-
Zwerenz nicht. lismus und danach unter dieser Zeit gelitten hat,
würden Sie diese Unverschämtheit, die Sie jetzt von
Heute, 50 Jahre und mehr danach, halte ich es ge- sich geben, nicht wiederholen. Das muß ich Ihnen in
radezu für vermessen, wenn Sie sich zum Richter von aller Deutlichkeit sagen.
Geschehnissen aufspielen, ohne auch nur den ge-
ringsten direkten Bezug zu den damaligen Vor- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU -
kommnissen zu haben. Zeitzeuge sind Sie, Herr Bütt- Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Wie kön-
ner, ebensowenig wie ich, und leider gibt es nur noch nen Sie einen Nazi als Vorbild für die De-
wenige aus der Erlebnisgeneration, die dokumenten- mokratie darstellen!)
echt berichten könnten.
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Rossmanith,
(Zuruf des Abg. Hans Büttner [Ingolstadt] Ihre Redezeit ist beendet.
[SPD])
(Zuruf von der SPD: Gott sei Dank!)
- Ich weiß schon: Wenn jemand eine andere Mei-
nung hat als Sie, dann ist es nach Ihrem Demokratie-
verständnis natürlich nicht berechtigt, daß er diese Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Ich bin der Mei-
Meinung auch von sich gibt. nung, daß die in unserer Demokratie verwurzelten
Soldaten der Bundeswehr sehr wohl auch dieses poli-
Lassen wir die Angelegenheit doch in den Händen tische Selbstbewußtsein haben, daß sie selbst ent-
der unmittelbar betroffenen Soldaten und Bürger. scheiden können und daß sie sich mit der histori-
Dabei will ich auf die Beschlußlage des Stadtrats schen Person Dietl auch vor dem Hintergrund seiner
Füssen vom 29. März 1993 verweisen, der sich da- Zeit auseinandersetzen und die richtigen Lehren zie-
mals mit 20 Stimmen einschließlich der Stimmen von hen können.
SPD-Stadträten - auch hier sagen Sie in Ihrer Presse-
erklärung die Unwahrheit, Herr Büttner - gegen fünf (Zuruf von der SPD: Unbelehrbar! - Weitere
Stimmen für die Beibehaltung des Namens „Gene- lebhafte Zurufe von der SPD)
raloberst-Dietl-Kaserne" ausgesprochen hat. Die jungen Männer unserer Bundeswehr haben
heute sicher andere Vorbilder. Aber ich glaube, wir
(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
unterschätzen unsere Soldaten, wenn wir es für not-
Und wie haben die Grünen gestimmt? -
wendig halten würden, wie dies die SPD vorschlägt,
Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Gegen die
sie von jeder Auseinandersetzung auch mit histori-
Stimme des Oberbürgermeisters!)
schen Personen - -
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Rossmanith, Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Rossmanith,
kommen Sie bitte zum Schluß. ich bin dazu nicht bereit! Ich habe Sie jetzt dreimal
(Detlev von Larcher [SPD]: Diese Rede ist gebeten, aber Sie machen stur weiter. Sie haben be-
eine Blamage für das ganze Haus! - Hans reits um vier Minuten überzogen.
Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Sie sollten sich (Zuruf von der CDU/CSU: Der ist laufend
schämen!) gestört worden! - Zuruf von der SPD: Jetzt
ist Schluß!)
Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Ich will den Fall
Dietl und den Fall Kübler nicht über einen Kamm Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Frau Präsidentin,
scheren. ich darf in aller Bescheidenheit sagen: Die anderen
(Zurufe von der SPD) Redner haben wesentlich länger überzogen.
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Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Nein, das ist nicht Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Liebe Kolleginnen
wahr. und Kollegen, nach dieser erregten Debatte - ich
bitte auch Herrn Zwerenz, von der Kurzintervention
Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Ich habe die Na- jetzt abzusehen; es ist bereits 2 Uhr - schließen wir
mensliste vorliegen. Aber ich beende jetzt natürlich die Debatte.
meine Rede gerne. Ich danke, daß Sie so lange ausgehalten haben. Ich
halte dies für eine wichtige Debatte, die wir geführt
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Büttner, ich haben.
gebe Ihnen das Wo rt zu einer Kurzintervention.
(Zuruf von der F.D.P.: Wenn das das Ergeb-
(Zuruf von der CDU/CSU: Frau Präsidentin, nis der Parlamentsreform ist, tut es mir
das können Sie doch nicht stehenlassen! wirklich leid!)
Das kann doch nicht so stehenbleiben!)
Ich bitte Sie, heute morgen um 9 Uhr wieder anwe-
- Ich muß sagen, bei diesem Lärm muß ich zunächst
send zu sein.
einmal prüfen, um welchen Zwischenruf es geht.
(Zuruf von der CDU/CSU: In der Nazi-Tra Einen Punkt habe ich im Eifer des Gefechts verges-
dition sein!) sen. Wir müssen die Vorlage auf Drucksache 13/1628
noch an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
- Dann frage ich: Wer hat den Zwischenruf gemacht? schüsse überweisen. Ich hoffe, es gibt keinen Wider-
(Zuruf von der CDU/CSU: Der Büttner!) spruch. - Einverstanden.
- Herr Büttner, dann würde ich Sie bitten, dazu Stel- Die Reden zu Tagesordnungspunkt 18 wurden zu
lung zu nehmen. Protokoll gegeben.*) ier wird interfraktionell die
Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache
13/2575 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Hans Büttner (Ingolstadt) (SPD): Herr Rossmanith,
Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es Gegenvor-
ich will Ihnen nicht unterstellen, daß Sie persönlich
im Verhältnis zur Nazi-Tradition stehen. Ich wi ll aber schläge? - Nein. Damit ist die Überweisung so be-
deutlich machen: Wer sich hier hinstellt und behaup- schlossen.
tet, ein Nazi-General wie Dietl, der von Anfang an Ich hoffe, daß Sie noch einige Stunden Nachtruhe
bis zum Schluß ein glühender Verfechter der Nazis haben werden.
war, könne ein traditionsbildendes Element und ein
Vorbild für Soldaten der Bundeswehr sein, der liegt Die Sitzung ist geschlossen.
falsch, und der müßte sich gefallen assen, daß man
ihm einen solchen Vorwurf macht. (Schluß der Sitzung: 2.01 Uhr)
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