Sie sind auf Seite 1von 196

Plenarprotokoll 13/61

D
eutscher Bundestag
Stenographischer Bericht

61. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Inhalt:

Erweiterung und Abwicklung der Tages f) Erste Beratung des von der Fraktion der
ordnung 5073 A SPD eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Verlängerung des besonde-
Absetzung von Tagesordnungspunkten 5073 D ren Kündigungsschutzes in den neuen
Bundesländern (Drucksache 18/2444)
Absetzung des Zusatztagesordnungs g) Antrag des Abgeordneten Dr. Gregor
punktes 10 . . . . . . . . . . . . . . 5198 D Gysi und der Gruppe der PDS: Entwurf
eines Verfahrensgesetzes zu Artikel 44
Tagesordnungspunkt 3: des Vertrages zwischen der Bundesre-
a) Abgabe einer Erklärung der Bundesre- publik Deutschland und der Deutschen
gierung: Fünf Jahre deutsche Einheit Demokratischen Republik über die
Herstellung der Einheit Deutschlands
b) Unterrichtung durch die Bundesregie- - Einigungsvertrag - vom 31. August
rung: Materialien zur Deutschen Ein- 1990 - (Drucksache 13/1080)
heit und zum Aufbau in den neuen
Bundesländern (Drucksache 13/2280) h) Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara
Höll, Rolf Kutzmutz, Dr. Christa Luft,
c) Unterrichtung durch die Bundesregie- Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der
rung: Aufbau Ost - Die zweite Hälfte PDS: Bestandsaufnahme des Vermö-
des Weges - Stand und Perspektiven - gens der DDR (Drucksache 13/1834)
Bericht der Bundesregierung zur Ent-
wicklung in den neuen Ländern i) Antrag der Abgeordneten Rolf Schwa-
(Drucksache 13/2489) nitz, Hans-Joachim Hacker, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der
d) Erste Beratung des von den Abgeord- SPD: Verbesserungen bei der Rehabili-
neten Dr. Christa Luft, Dr. Gregor Gysi tierung von SED-Unrecht über die
und der Gruppe der PDS eingebrachten Verlängerung von Antragsfristen hin-
Entwurfs eines Gesetzes zur teilweisen aus (Drucksache 13/2445)
Erstattung des bei der Währungsunion
1990 2 : 1 reduzierten Betrages vorerst j) Antrag der Abgeordneten Do ris Oden-
für ältere Bürgerinnen und Bürger dahl, Dr. Ulrich Böhme (Unna), weite- -
sowie Alleinerziehende (Drucksache rer Abgeordneter und der Fraktion
13/1737) der SPD: Novellierung des Gesetzes
zur Errichtung einer Stiftung „Haus
e) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- der Geschichte der Bundesrepublik
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes Deutschland" (Drucksache 13/2367)
zur Verbesserung des Schutzes der
Nutzer und zur weiteren Erleichterung k) Bericht des Rechtsausschusses gemäß
von Investitionen in dem in Artikel 3 § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu
des Einigungsvertrages genannten Ge- dem Antrag der Abgeordneten Dr.
biet (Nutzerschutzgesetz) (Drucksache Uwe-Jens Heuer, Klaus-Jürgen War-
13/2022) nick und der weiteren Abgeordneten
II Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

der PDS: Moratorium zum Schutze der Dr. Wolfgang Gerhardt F.D.P 5093 B
redlichen Nutzer und Nutzerinnen vor Dr. Gregor Gysi PDS 5096D, 5124 D
der zivilrechtlichen Durchsetzung von
Rückübertragungsansprüchen im Bei- Gerald Häfner BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
trittsgebiet (Drucksachen 13/613, 13/ NEN 5098 B
2578) Armin Laschet CDU/CSU . . . . . 5099 B
1) Große Anfrage der Abgeordneten Dr. Dr. Burkhard Hirsch F.D.P. . . . . . 5099 C
Barbara Höll, Rolf Kutzmutz und der Dr. Theodor Waigel, Bundesminister
weiteren Abgeordneten der PDS: Zu- BMF . . . . . . . . . . . . . 5100B, 5112 C
sage der deutschen Kreditwirtschaft Wolfgang Thierse SPD . . . . . 5103A, 5112B, D
„zusätzlich eine Milliarde DM in den
Dr. Theodor Waigel CDU/CSU . . . . 5103C, D
Privatisierungsprozeß von sanierungs-
fähigen Unternehmen der Treuhand- Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU .. 5104 B
anstalt im eigenen Risiko einzubrin- Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister BMWi 5107B
gen" vom Februar 1993 (Drucksachen Dr. Angela Merkel CDU/CSU 5110A
13/589, 13/1568)
Iris Gleicke SPD . . . . . . . . . 5112 D
in Verbindung mit Dr. Michael Luther CDU/CSU . . . 5114 A
Ingrid Matthäus-Maier SPD 5114 B
Zusatztagesordnungspunkt 1: Jürgen Türk F.D.P 5114 D
Erste Beratung des von dem Abgeord- Dr.-Ing. Paul Krüger CDU/CSU 5115 C
neten Manfred Müller (Berlin) und der Hans-Joachim Hacker SPD 5117 D
Gruppe der PDS eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Gleichstel- Dr. Christa Luft PDS 5119 C
lung der Beschäftigten des Bundes mit Gerhard Schulz (Leipzig) CDU/CSU . 5121A
den Beschäftigten des Landes im Land Rolf Schwanitz SPD . . .. . . . . 5122B, 5125 A
Berlin (Drucksache 13/1383)
Tagesordnungspunkt 4:
in Verbindung mit
Große Anfrage der Abgeordneten Ru-
dolf Dreßler, Gerd Andres, weiterer Ab-
Zusatztagesordnungspunkt 2: geordneter und der Fraktion der SPD:
Antrag der Abgeordneten Werner Entwicklung und Stand der Arbeits-
Schulz (Berlin), Steffi Lemke, weiterer zeitflexibilisierung in Deutschland
Abgeordneter und der Fraktion BÜND- (Drucksachen 13/1334, 13/2581)
NIS 90/DIE GRÜNEN: Jährliche Vorla- Rudolf Dreßler SPD 5125D, 5131A
ge eines „Berichtes zur Entwicklung Dr. Gisela Babel F.D.P 5127D
der deutschen Einheit" durch die Bun-
desregierung (Drucksache 13/2572) Andreas Storm CDU/CSU 5129 B
Hans Büttner (Ingolstadt) SPD . . . 5130B
in Verbindung mit Marieluise Beck (Bremen) BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN 5131 D
Zusatztagesordnungspunkt 3: Joseph Fischer (Frankfurt) BÜNDNIS 90/
Antrag der Abgeordneten Rolf Schwa- DIE GRÜNEN 5132B
nitz, Ernst Bahr, weiterer Abgeordneter Katrin Fuchs (Verl) SPD zur GO . 5134A, 5135D
und der Fraktion der SPD: Jahresbe- Clemens Schwalbe CDU/CSU zur GO . . 5134B
richt zum Stand der deutschen Einheit
(Drucksache 13/2586) Dr. Gisela Babel F.D.P 5134 C
Manfred Müller (Berlin) PDS 5136A
in Verbindung mit Horst Günther, Parl. Staatssekretär BMA 5137 C
Rolf Köhne PDS 5138A, 5139C, 5142D
Zusatztagesordnungspunkt 4:
Doris Barnett SPD . . . . . . . . . . 5139 D
Antrag der Abgeordneten Rolf Schwa-
Karl-Josef Laumann CDU/CSU . . . . 5141B
nitz, Dr. Christine Lucyga, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der SPD: Johannes Singhammer CDU/CSU . . 5141 D -
Altschulden ostdeutscher Gemeinden Peter Dreßen SPD 5142 B
auf gesellschaftliche Einrichtungen Marieluise Beck (Bremen) BÜNDNIS 90/
(Drucksache 13/2587) DIE GRÜNEN 5143A, 5147A
Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler . . . 5075C Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär
Rudolf Scharping SPD 5079 C BMWi 5143 D
Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU . . 5085 A Karl-Josef Laumann CDU/CSU 5144 D
Werner Schulz (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE Otto Schily SPD 5145 D
GRÜNEN 5089 A Jörg Tauss SPD . . . . . . . . . . 5146B
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 III

Tagesordnungspunkt 19: zu dem Abkommen vom 15. März 1994


Überweisungen im vereinfachten Verfah- zwischen der Bundesrepublik Deutsch-
ren land und der Republik Litauen über
die gegenseitige Hilfeleistung bei Ka-
b) Antrag der Abgeordneten Rolf Kutz- tastrophen oder schweren Unglücks-
mutz, Dr. Christa Luft und der Gruppe fällen (Drucksachen 13/1665, 13/2517)
der PDS: Flexiblere Gestaltung der
Förderprogramme (Drucksache 13/1798) f) Beschlußempfehlung und Bericht des
Ausschusses für Bildung, Wissenschaft,
c) Antrag der Abgeordneten Ge rt Weiss- Forschung, Technologie und Technik-
kirchen (Wiesloch), Brigitte Adler, wei- folgenabschätzung
terer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD: Verhandlung vor dem Inter- zu dem Vorschlag für eine Verordnung
nationalen Gerichtshof zur Frage der (EG) des Rates über ein Gemein-
völkerrechtlichen Legalität des Einsat- schaftsprogramm zur finanziellen Un-
zes oder der Androhung des Einsatzes terstützung der Förderung europäi-
von Atomwaffen (Drucksache 13/1879) scher Energietechnologien 1995-1998
(„THERMIE II")
in Verbindung mit zu dem Geänderten Vorschlag für eine
Verordnung (EG) des Rates über ein
Zusatztagesordnungspunkt 5: Gemeinschaftsprogramm zur finan-
ziellen Unterstützung der Förderung
Weitere Überweisungen im verein-
europäischer Energietechnologien 1995
fachten Verfahren
bis 1998 („THERMIE II") (Drucksachen
Antrag der Abgeordneten Gerhard 13/269 Nr. 2.3, 13/1096 Nr. 2.4, 13/1962)
Jüttemann, Rolf Kutzmutz, Eva Bulling-
g) Beschlußempfehlung und Be richt des
Schröter, Dr. Gregor Gysi und der
Gruppe der PDS: Änderung des Bun- Ausschusses für Wi rtschaft
desberggesetzes (Drucksache 13/2497) 5148 C zu dem Antrag der Abgeordneten
Heinrich Graf von Einsiedel, Dr. Willi-
Tagesordnungspunkt 20: bald Jacob, Andrea Lederer und der
weiteren Abgeordneten der PDS: Ver-
Abschließende Beratungen ohne Aus-
bot der Rüstungsexporte und Konver-
sprache
sion der Rüstungsindustrie
a) Zweite Beratung und Schlußabstim-
mung des von der Bundesregierung zu der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung: Bericht der Bundesregie-
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Vertrag vom 2. April 1993 zwi- rung zum Stand der EG-Harmonisie-
schen der Bundesrepublik Deutsch- rung des Exportkontrollrechts für Gü-
ter und Technologien mit doppeltem
land und der Republik Belarus über
die Förderung und den gegenseitigen Verwendungszweck (Dual-use-Waren)
Schutz von Kapitalanlagen (Drucksa- (Drucksachen 13/584, 12/8368, 13/725
Nr. 92, 13/2545)
chen 13/2047, 13/2448)
b) Zweite Beratung und Schlußabstim- h) Beschlußempfehlung und Bericht des
mung des von der Bundesregierung Finanzausschusses zu der Unterrich-
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes tung durch die Bundesregierung: MwSt
zu dem Vertrag vom 20. April 1993 - geänderter Richtlinienvorschlag betr.
zwischen der Bundesrepublik Deutsch- Personenbeförderung (Drucksachen
land und der Republik Lettland über 13/1234 Nr. 1.2, 13/2403)
die Förderung und den gegenseitigen i) bis n)
Schutz von Kapitalanlagen (Drucksa-
chen 13/2046, 13/2449) Beschlußempfehlungen des Petitions-
ausschusses: Sammelübersichten 63
c) Zweite Beratung und Schlußabstim- bis 68 zu Petitionen (Drucksachen 13/
mung des von der Bundesregierung 2465, 13/2466, 13/2467, 13/2468, 13/
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes 2469, 13/2470) 5148D
zu dem Vertrag vom 24. September
1992 zwischen der Bundesrepublik Zusatztagesordnungspunkt 6:
Deutschland und Jamaika über die ge-
genseitige Förderung und den Schutz Abgabe einer Erklärung der Bundesre-
von Kapitalanlagen (Drucksachen 13/ gierung
2045, 13/2450)
Jahresversammlung des Internationa-
d) Zweite Beratung und Schlußabstim- len Währungsfonds und der Weltbank
mung des von der Bundesregierung in Washington unter Berücksichtigung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes der konjunkturellen Entwicklung und
IV Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

ihrer einnahme- und ausgabemäßigen für den Transrapid und Planung einer
Auswirkungen auf die öffentlichen ICE-Verbindung Hamburg-Berlin
Haushalte (Drucksache 13/2573)
Dr. Theodor Waigel, Bundesminister Dirk Fischer (Hamburg) CDU/CSU . . 5177D
BMF 5151B, 5174D Elke Ferner SPD 5179B
Karl Diller SPD 5155B, 5157B Wolfgang Börnsen (Bönstrup) CDU/
Wilfried Seibel CDU/CSU 5156 D CSU 5180A, 5184B
Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach) Rainder Steenblock BÜNDNIS 90/DIE
CDU/CSU 5157B GRÜNEN ' 5181D
Ludger Volmer BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Horst Friedrich F.D.P. 5182D
NEN 5158D
Dr. Klaus Röhl F.D.P 5185A, 5187C
Carl-Ludwig Thiele F.D.P. 5160A
Eckart Kuhlwein SPD 5186 D
Dr. Otto Graf Lambsdorff F.D.P. . . . . . 5160B
Dr. Herwig Eberhard Haase, Senator
Dr. Uwe-Jens Rössel PDS 5162B (Berlin) 5187 D
Jochen Feilcke CDU/CSU . . . . . . 5163 C Dr. Winfried Wolf PDS 5189D
Albert Schmidt (Hitzhofen) BÜNDNIS Werner Kuhn CDU/CSU 5191B
90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . 5164 C
Rainder Steenblock BÜNDNIS 90/DIE
Dr. Ingomar Hauchler SPD . . . . 5165C, 5176C GRÜNEN 5191D
Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) F.D.P. . . 5167 C Dr. Barbara Höll PDS 5192 D
Oswald Metzger BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Klaus Hasenfratz SPD 5193 B
NEN 5168C
Dirk Fischer (Hamburg) CDU/CSU 5194D, 5195 B
Ingrid Matthäus-Maier SPD 5168 D
Elke Ferner SPD 5195A, 5196C
Dankward Buwitt CDU/CSU 5170A
5171D Matthias Wissmann, Bundesminister BMV
Jörg-Otto Spiller SPD
5172 C 5195D, 5198C
Peter Harald Rauen CDU/CSU . . . . .
Dr. Konstanze Wegner SPD 5173 D Ernst Schwanhold SPD . . . . . . . . 5197 D
Jörg-Otto Spiller SPD 5176A Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch . . . 5191A

Tagesordnungspunkt 5: Tagesordnungspunkt 6:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen Antrag der Abgeordneten Klaus Len-
der CDU/CSU und F.D.P. eingebrach- nartz, Friedhelm Julius Beucher, weite-
ten Entwurfs eines Gesetzes zur Fest- rer Abgeordneter und der Fraktion der
stellung des Bedarfs von Magnetschwe- SPD: Kindergesundheit und Umwelt-
bebahnen (Magnetschwebebahnbe- belastungen (Drucksache 13/1968)
darfsgesetz) (Drucksache 13/2345)
in Verbindung mit
b) Erste Beratung des von den Fraktio-
nen der CDU/CSU und F.D.P. einge- Zusatztagesordnungspunkt 9:
brachten Entwurfs eines Allgemeinen
Magnetschwebebahngesetzes (Druck- Antrag der Abgeordneten Vera Lengs-
sache 13/2346) feld, Gila Altmann (Aurich), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
in Verbindung mit NIS 90/DIE GRÜNEN: Die Notwendig-
keit von ökologischen Kinderrechten;
Zusatztagesordnungspunkt 7: Gefährdung von Kindern durch Um-
weltgifte (Drucksache 13/2574)
Antrag der Abgeordneten Dr. Dagmar
Enkelmann, Dr. Winfried Wolf und der Klaus Lennartz SPD 5199B
Gruppe der PDS: Prüfung von Alter- Editha Limbach CDU/CSU . . . . . . 5200 C
nativen zur Magnetschwebebahn Vera Lengsfeld BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
(Drucksache 13/2570) -
NEN 5202 D
in Verbindung mit Birgit Homburger F.D.P. . . . . . 5204 A, 5208D
Dr. Ruth Fuchs PDS 5205 D
Zusatztagesordnungspunkt 8: Friedhelm Julius Beucher SPD 5207 A
Antrag der Abgeordneten Rainder Editha Limbach CDU/CSU 5207 C
Steenblock, Albe rt Schmidt (Hitz-
hofen), weiterer Abgeordneter und der Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Parl. Staats-
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: sekretärin BMG 5209 B
Stopp der Vorbereitungsmaßnahmen Dr. Wolfgang Wodarg SPD 5211 C
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 V

Tagesordnungspunkt 7: Gerald Häfner BÜNDNIS 90/DIE GRÜ


Unterrichtung durch die Bundesregierung: NEN 5235C
Handlungsrahmen der Bundesregierung Heinz Lanfermann F.D.P 5236C
für eine Initiative zum kosten- und flä- Dr. Uwe-Jens Heuer PDS 5237 D
chensparenden Bauen (Drucksache 13/
2247) Joachim Gres CDU/CSU 5238 B
Joachim Günther, Parl. Staatssekretär Dr. Uwe-Jens Heuer PDS 5239B
BMBau 5213B Hans-Joachim Hacker SPD 5239 C
Volkmar Schultz (Köln) SPD . . . . . 5214 D
Tagesordnungspunkt 11:
Hildebrecht Braun (Augsburg) F.D.P. 5215D, 5216A
Margarete Späte CDU/CSU 5217 B Erste Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines
Helmut Wilhelm (Amberg) BÜNDNIS 90/ Gesetzes über das Bundeskriminalamt
DIE GRÜNEN 5218D, 5220A und die Zusammenarbeit des Bundes
Herbe rt Frankenhauser CDU/CSU . . . 5219D und der Länder in kriminalpolizeilichen
Hildebrecht Braun (Augsburg) F.D.P. . . 5220A Angelegenheiten (Bundeskriminal
amtgesetz) (Drucksache 13/1550) .. 5240A
Klaus-Jürgen Warnick PDS 5221 B
Josef Hollerith CDU/CSU 5222 B Tagesordnungspunkt 12:
Angelika Mertens SPD 5223 B Bericht des Ausschusses für Arbeit und
Gert Willner CDU/CSU 5224 D Sozialordnung gemäß § 62 Abs. 2 der
Geschäftsordnung zu dem von den Ab-
Tagesordnungspunkt 8: geordneten der PDS eingebrachten
Antrag der Abgeordneten Ge rt Weiss- Entwurf eines Gesetzes zur grund-
kirchen (Wiesloch), Dr. Wolfgang Frei- legenden Korrektur des Renten-Über-
herr von Stetten und weiteren Abge- leitungsgesetzes (Rentenüberleitungs-
ordneten: Humanitäre Geste für die Korrekturgesetz) (Drucksachen 13/216,
Opfer des NS-Unrechts in den balti- 13/2549)
schen Staaten Litauen, Lettland und Ulrike Mascher SPD 5240 B
Estland (Drucksache 13/1294) Petra Bläss PDS 5241 B
Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten CDU/ Volker Kauder CDU/CSU . 5242 C, 5244 D, 5246 D
CSU 5226A, 5231B
Dr. Christa Luft PDS . . . . . . . . . 5244 C
Gert Weisskirchen (Wiesloch) SPD . . . 5227 B
Andrea Fischer (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE
Winfried Nachtwei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 5245 B
GRÜNEN 5228 B
Dr. Gregor Gysi PDS 5246 B
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig F.D.P. . . . 5229A
Uwe Lühr F.D.P 5247 B
Ulla Jelpke PDS 5229 D
Helmut Schäfer, Staatsminister AA . . 5230 B Tagesordnungspunkt 13:
Volker Beck (Köln) BÜNDNIS 90/DIE
Antrag der Abgeordneten Hans Büttner
GRÜNEN 5231C
(Ingolstadt), Gerd Andres und weiterer
Abgeordneter der Fraktion der SPD:
Tagesordnungspunkt 9:
Umbenennung der Generaloberst
Erste Beratung des von den Fraktionen Füssen und der Ge--DietlKasrnei
der CDU/CSU und F.D.P. eingebrach- neral-Kübler-Kaserne in Mittenwald
ten Entwurfs eines ... Strafrechtsände- (Drucksache 13/1628)
rungsgesetzes — §§ 177 bis 179 StGB Hans Büttner (Ingolstadt) SPD . . 5248B, 5259A
(Drucksache 13/2463) 5231D
Benno Zierer CDU/CSU 5250 A
Tagesordnungspunkt 10: Winfried Nachtwei BÜNDNIS 90/DIE
Bericht des Rechtsausschusses gemäß GRÜNEN 5251 B
§ 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu Dr. Gregor Gysi PDS 5251D -
dem vom Bundesrat eingebrachten Ent- Hildebrecht Braun (Augsburg) F.D.P. . 5252 B
wurf eines Gesetzes zum Schutz der
Gerhard Zwerenz PDS 5253 C
Mieter von Geschäftsraum in den Län-
dern Berlin und Brandenburg (Druck- Volker Rühe, Bundesminister BMVg . 5254 C
sachen 13/206, 13/2529) Gerald Häfner BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
Horst Eylmann CDU/CSU 5232 A NEN 5256A
Hans-Joachim Hacker SPD 5233 B Walter Kolbow SPD 5256 B
Norbert Geis CDU/CSU 5234 C Kurt J. Rossmanith CDU/CSU 5256 D
Jochen Feilcke CDU/CSU 5235 A Walter Kolbow SPD 5257 B
VI Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Tagesordnungspunkt 18: Anlage 1


Erste Beratung des von den Fraktionen Liste der entschuldigten Abgeordneten . 5261* A
der CDU/CSU und F.D.P. eingebrach-
ten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes
zur Änderung des Gesetzes zur Ände-
Anlage 2
rung des Strafgesetzbuches, der Straf-
prozeßordnung und des Versamm- Entwicklung einer Friedensordnung für
lungsgesetzes und zur Einführung das ehemalige Jugoslawien unter Einbe-
einer Kronzeugenregelung bei terro- ziehung der Russischen Föderation
ristischen Straftaten (Zweites Kronzeu-
gen-Verlängerungs-Gesetz) (Druck MdlAnfr 19, 20 - Drs 13/2407 -
sache 13/2575) 5259 C Gernot Erler SPD

Nächste Sitzung 5259 C SchrAntw StMin Helmut Schäfer AA . . 5261* C

-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5073

61. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Beginn: 9.00 Uhr

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Meine Damen und 9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Vera Lengsfeld,
Herren, die Sitzung ist eröffnet. Gila Altmann (Aurich), Franziska Eichstädt-Bohlig, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN: Die Notwendigkeit von ökologischen Kin-
Ich komme zunächst zu den Amtlichen Mitteilun- derrechten; Gefährdung von Kindern durch Umweltgifte
gen. - Drucksache 13/2574 -

10. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Hal-
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun- tung der Bundesregierung zu den Auswirkungen der Steu-
dene Tagesordnung um die Ihnen in der Zusatz- erausfälle in Höhe von 40 Mrd. DM auf die Haushaltslage
punktliste vorliegenden Punkte zu erweitern. des Bundes

1. Erste Beratung des von dem Abgeordneten Manfred Müller 11. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und
(Berlin) und der Gruppe der PDS eingebrachten Entwurfs F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Ände-
eines Gesetzes zur Gleichstellung der Beschäftigten des rung der Strafprozeßordnung - Drucksache 13/2576 -
Bundes mit den Beschäftigten des Landes im Land Berlin
- Drucksache 13/1383 - Von der F ri st für den Beginn der Beratungen soll,
2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Werner Schulz soweit erforderlich, abgewichen worden.
(Berlin), Steffi Lemke, Antje Hermenau, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Jähr- Darüber hinaus ist vereinbart worden, die Tages-
liche Vorlage eines „Berichtes zur Entwicklung der deut- ordnungspunkte 3 m - Zweiter Tätigkeitsbericht des
schen Einheit" durch die Bundesregierung - Drucksache
13/2572 - Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen -, 19 a -
Agrarsoziales Sicherungsgesetz -, und 20 e - Soziale
3. Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Schwanitz, Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit -
Ernst Bahr, Wolfgang Behrendt, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD: Jahresbericht zum Stand der deut-
abzusetzen.
schen Einheit - Drucksache 13/2586 -
Des weiteren mache ich darauf aufmerksam,
4. Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Schwanitz, daß das Thema der heutigen Regierungserklärung
Dr. Ch ri stine Lucyga, E rnst Bahr, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD: Altschulden ostdeutscher Ge- zur Jahresversammlung des IWF und der Welt-
meinden auf gesellschaftliche Einrichtungen - Druck- bank in Washington erweitert wurde. Es heißt
sache 13/2587 - nunmehr:
5. Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
(Ergänzung zu TOP 19) Jahresversammlung des Internationalen Wäh-
rungsfonds und der Weltbank in Washington un-
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerhard Jütte- ter Berücksichtigung der konjunkturellen Ent-
mann, Roll Kutzmutz, Eva Bulling-Schröter, Dr. Gregor Gysi
und der Gruppe der PDS: Ä nderung des Bundesberggeset- wicklung und ihrer einnahme- und ausgabemäßi-
zes - Drucksache 13/2497 - gen Auswirkungen auf die öffentlichen Haus-
halte
6. Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung: Jahresver-
sammlung des Internationalen Währungsfonds und der
Weltbank in Washington unter Berücksichtigung der kon- Sind Sie mit den interfraktionellen Vereinbarun-
junkturellen Entwicklung gen einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist es so
beschlossen.
7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Dagmar Enkel-
mann, Dr. Winfried Wolf und der Gruppe der PDS: Prüfung
von Alternativen zur Magnetschwebebahn - Drucksache
13/2570 - Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 31 und
8. Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainder Steen-
die Zusatzpunkte 1 bis 4 auf:
block, Albert Schmidt (Hitzhofen), Gila Altmann (Aurich),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE 3. a) Abgabe einer Erklärung der Bundesregie-
GRÜNEN: Stopp der Vorbereitungsmaßnahmen für den rung
Transrapid und Planung einer ICE-Verbindung Hamburg-
Berlin - Drucksache 13/2573 - Fünf Jahre deutsche Einheit
5074 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth


b) Beratung der Unterrichtung durch die Bun- f) Erste Beratung des von der Fraktion der
desregierung SPD eingebrachten Entwurfs eines Geset-
Materialien zur Deutschen Einheit und zes zur Verlängerung des besonderen
zum Aufbau in den neuen Bundesländern Kündigungsschutzes in den neuen Bundes-
ländern
- Drucksache 13/2280 —
-
- Drucksache 13/2444
Überweisungsvorschlag:
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß (federführend)
Rechtsausschuß Rechtsausschuß (federführend)
Finanzausschuß Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Gesundheit g) Beratung des Antrags des Abgeordneten
Ausschuß für Verkehr Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit Entwurf eines Verfahrensgesetzes zu Arti-
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau kel 44 des Vertrages zwischen der Bundes-
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, republik Deutschland und der Deutschen
Technologie und Technikfolgenabschätzung
Sportausschuß
Demokratischen Republik über die Her-
stellung der Einheit Deutschlands - Eini-
gungsvertrag - vom 31. August 1990
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bun-
desregierung - Drucksache 13/1080 —
Aufbau Ost - Die zweite Hälfte des Weges Überweisungsvorschlag:
- Stand und Perspektiven - Rechtsausschuß (federführend)
Innenausschuß
Bericht der Bundesregierung zur Entwick-
lung in den neuen Ländern
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten
- Drucksache
- 13/2489 Dr. Barbara Höll, Rolf Kutzmutz, Dr. Christa
Überweisungsvorschlag: Luft, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der
Ausschuß für Wirtschaft (federführend) PDS
Innenausschuß
Bestandsaufnahme des Vermögens der
Rechtsausschuß
Finanzausschuß DDR
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
- Drucksache 13/1834 —
Ausschuß für Gesundheit Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Haushaltsausschuß (federführend)
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Rechtsausschuß
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Technologie und Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuß
i) Beratung des Antrags der Abgeordneten
d) Erste Beratung des von den Abgeordneten Rolf Schwanitz, Hans-Joachim Hacker,
Dr. Christa Luft, Dr. Gregor Gysi und der E rn st Bahr, weiterer Abgeordneter und der
Gruppe der PDS eingebrachten Entwurfs Fraktion der SPD
eines Gesetzes zur teilweisen Erstattung Verbesserungen bei der Rehabilitierung
des bei der Währungsunion 1990 2:1 redu- von SED-Unrecht über die Verlängerung
zierten Be tr ages vorerst für ältere Bürge- von Antragsfristen hinaus
rinnen und Bürger sowie Alleinerziehende
- Drucksache 13/2445 —
-
- Drucksache 13/1737 Überweisungsvorschlag:
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß (federführend)
Finanzausschuß (federführend) Innenausschuß
Rechtsausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Haushaltsausschuß
j) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Doris Odendahl, Dr. Ulrich Böhme (Unna),
e) Erste Beratung des vom Bundesrat einge-
Stephan Hilsberg, weiterer Abgeordneter
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ver-
und der Fraktion der SPD
besserung des Schutzes der Nutzer und zur
weiteren Erleichterung von Investitionen in Novellierung des Gesetzes zur Errichtung
dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages einer Stiftung „Haus der Geschichte der
genannten Gebiet (Nutzerschutzgesetz - Bundesrepublik Deutschland"
NutzSchG) - Drucksache 13/2367 —
- Drucksache 13/2022 — Überweisungsvorschlag:
Überweisungsvorschlag: Innenausschuß (federführend)
Rechtsausschuß (federführend) Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung,
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Technologie und Technikfolgenabschätzung
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5075
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
k) Beratung des Berichts des Rechtsausschus- ZP4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf
ses (6. Ausschuß) gemäß § 62 Abs. 2 der Schwanitz, Dr. Christine Lucyga, Ernst Bahr,
Geschäftsordnung zu dem Antrag der Ab- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
geordneten Dr. Uwe-Jens Heuer, Klaus- SPD
Jürgen Warnick und der weiteren Abgeord- Altschulden ostdeutscher Gemeinden auf ge-
neten der PDS sellschaftliche Einrichtungen
Moratorium zum Schutze der redlichen - Drucksache 13/2587 —
Nutzer und Nutzerinnen vor der zivilrecht-
Überweisungsvorschlag:
lichen Durchsetzung von Rückübertra-
gungsansprüchen im Beitrittsgebiet Innenausschuß (federführend)
Haushaltsausschuß
- Drucksachen 13/613, 13/2578 -
Berichterstattung: Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind
Abgeordnete Dr. Michael Luther für die gemeinsame Aussprache im Anschluß an die
Hans-Joachim Hacker Regierungserklärung drei Stunden vorgesehen. -
Heinz Lanfermann Auch dazu sehe ich keinen Widerspruch. Wir verfah-
ren so.
1) Beratung der Großen Anfrage der Abgeord- Das Wo rt zur Abgabe einer Regierungserklärung
neten Dr. Barbara Höll, Rolf Kutzmutz, hat Herr Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl.
Dr. Christa Luft und der weiteren Abgeord-
neten der PDS
Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler: Frau Präsidentin!
Zusage der deutschen Kreditwirtschaft Meine sehr verehrten Damen und Herren!
„zusätzlich eine Milliarde DM in den
Privatisierungsprozeß von sanierungsfähi- Deutschland hat mit der wiedergewonnenen Ein-
gen Unternehmen der Treuhandanstalt im heit eine grosse Leistung vollbracht und bewie-
eigenen Risiko einzubringen" vom Fe- sen, dass es auch unter schwersten Belastungen
bruar 1993 ein stabiler und verlässlicher Pa rt ner bleibt.
- Drucksachen 13/589, 13/1568 - (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Mit diesen Worten faßte die „Neue Zürcher Zeitung"
ZP1 Erste Beratung des von dem Abgeordneten
in diesen Tagen ihre Bilanz von fünf Jahren deutsche
Manfred Müller (Berlin) und der Gruppe der
Einheit zusammen.
PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Gleichstellung der Beschäftigten des Bun- In der heutigen Debatte, meine Damen und Her-
des mit den Beschäftigten des Landes im Land ren, werden wir uns selbst Rechenschaft darüber ab-
Berlin legen, was wir Deutschen seit dem 3. Oktober 1990
- Drucksache 13/1383 - mit vereinten Kräften erreicht haben. Ich denke,
ebenso wichtig ist, daß wir miteinander offen und
Überweisungsvorschlag:
auch nachdenklich über den Weg unseres Landes in
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) die Zukunft, d. h. in das 21. Jahrhundert, sprechen.
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Die vergangenen fünf Jahre sind heute bereits ein
Stück gemeinsamer Geschichte. In dieser Zeit haben
ZP2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Wer- wir alle uns verändert.
ner Schulz (Berlin), Steffi Lemke, Antje Her-
menau, weiterer Abgeordneter und der Frak- Das wiedervereinigte Deutschland ist mehr als nur
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eine um fünf neue Bundesländer erweiterte Bundes-
republik. Wahr ist auch, daß die überwältigende
Jährliche Vorlage eines „Berichtes zur Ent- Mehrheit der Menschen in der früheren DDR die
wicklung der deutschen Einheit" durch die politische, wi rt schaftliche und gesellschaftliche Ord-
Bundesregierung nung der Bundesrepublik Deutschland gewollt, ja
- Drucksache 13/2572 — herbeigesehnt hat. So stehen wir heute gemeinsam
auf dem Boden des Grundgesetzes, der freiheitlich-
Überweisungsvorschlag:
sten Verfassung unserer Geschichte, der Sozialen
Innenausschuß Marktwirtschaft und der westlichen Wertegemein-
schaft mit ihren europäisch-atlantischen Institutio-
ZP3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf nen.
Schwanitz, Ernst Bahr, Wolfgang Behrendt,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Nicht nur wir, die Deutschen, haben Veränderun-
SPD gen durchgemacht. Auch unser internationales Um-
feld erlebte einen Wandel, dessen Dramatik - das
Jahresbericht zum Stand der deutschen Ein- sollten wir nie vergessen - das Geschehen in
heit Deutschland vielfach in den Schatten stellte.
- Drucksache 13/2586 —
Ich erinnere nur an das Ende der Sowjetunion, an
Überweisungsvorschlag: den Krieg im früheren Jugoslawien, an Entwicklun-
Innenausschuß gen wie den Friedensprozeß im Nahen Osten oder
5076 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl


die Wende zum Guten im südlichen Af rika, an die einigungsgebot des Grundgesetzes festzuhalten und
Schaffung der Europäischen Union durch den Ver- die Geraer Forderungen Honeckers abzulehnen,
trag von Maast richt und den Beitritt neuer Mitglieder d. h. alles zu tun, um die deutsche Frage offenzuhal-
zur EU. ten.

Jede dieser Veränderungen berührt uns alle. Ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so-
meinsam tragen wir die Risiken, gemeinsam aber wie des Abg. Markus Meckel [SPD])
nutzen wir auch die Chancen, die sich aus diesen
Veränderungen ergeben. Bei allen Sorgen dürfen wir Manches Mal war es nicht leicht gewesen, dem
nicht vergessen, daß andere mit weitaus größeren Zeitgeist zu widerstehen. Viele hatten an die deut-
Schwierigkeiten zu kämpfen haben. sche Einheit nicht mehr geglaubt, und manche wa-
ren sogar bereit, dieses Ziel zu verraten. Deswegen
50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs danke ich allen Deutschen in Ost und West, die in
empfinden wir Deutschen noch einmal besonders diesen vier Jahrzehnten Geduld und Hoffnung nicht
stark, was für ein Glück es bedeutet, daß wir unsere verloren haben.
Einheit in Frieden und freier Selbstbestimmung er-
reichen konnten. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so Die politische Führung der DDR war im Herbst
wie bei Abgeordneten der SPD) 1989 politisch und moralisch am Ende. Sie stand wirt-
schaftlich vor dem Bankrott. Der Bevölkerung hat sie
Wir verdanken dies vor allem unseren Freunden dies verschwiegen. Manche wollen das auch heute
und Partnern in der Welt. Allen voran nenne ich noch nicht wahrhaben. Sie wollen unser Land erneut
George Bush und Michail Gorbatschow. Ohne sie spalten. Aber ich denke, dies wird ihnen nicht gelin-
hätte es die deutsche Einheit nicht gegeben. gen.
(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. un d (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
der SPD sowie der Abg. Halo Saibold
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Unser ganz besonderer Respekt gilt auch den
Frauen und Männern, die nach dem 18. März 1990
Für die Wiedervereinigung fanden wir die Zustim- als Abgeordnete der erstmals frei gewählten Volks-
mung aller unserer Nachbarn. Dies war auch eine kammer den demokratischen Neuanfang gestalteten
Frucht des Vertrauens, das alle Bundesregierungen, und wagten. Sie haben an gute deutsche Traditionen
das alle meine Vorgänger seit 1949 durch eine Politik angeknüpft und die Länder Mecklenburg-Vorpom-
der Stetigkeit und Verläßlichkeit in Europa und welt- mern, Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Thüringen und
weit gewonnen haben. Sachsen wiedererrichtet. Sie haben sich für den Bei-
tritt zur Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober
Meine Damen und Herren, unsere größte Hoch- 1990 entschieden.
achtung verdienen jene tapferen Frauen und Män-
ner, die wegen ihres Einsatzes für die Achtung der Auch in den Gemeinden und auf der Ebene der
Bürger- und Menschenrechte durch das DDR-Re- Länder haben viele mit großem Engagement Demo-
gime bespitzelt, verfolgt, eingekerkert oder ausge- kratie aufgebaut und gestaltet. Darunter waren nicht
bürgert wurden. wenige - das sollten wir mehr erwähnen und hervor-
heben -, die sich zuvor nie mit politischen Dingen be-
(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der faßt hatten. Sie haben einen ganz ungewöhnlichen
SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) persönlichen Einsatz geleistet,

Wer einmal - wir wollen das nicht vergessen - die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so-
Käfige im Zuchthaus von Bautzen gesehen hat, der wie bei Abgeordneten der SPD und des
weiß, daß das SED-Regime unmenschlich und ver- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
brecherisch war.
und wir haben gesehen, was in den Gemeinden,
(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der Städten, Kreisen und Ländern der früheren DDR ent-
SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) stehen konnte. Dem Föderalismus als einem bewähr-
ten deutschen Verfassungsprinzip wurde eine neue
Diese Tatsache klar und deutlich auszusprechen, Chance eröffnet.
schulden wir allen Opfern der kommunistischen Dik- -
tatur. Schließlich verdanken wir unseren erfolgreichen
Weg seit 1989 den Menschen im Westen Deutsch-
Viel verdanken wir den Menschen der früheren lands: an Rhein und Ruhr, in Hamburg und in Bay-
DDR, die im Herbst 1989 zu Hunderttausenden auf ern, in Holstein und in Württemberg.
die Straße gingen, um gegen das kommunistische
Regime zu demonstrieren. Die Demonstrationen in (Joseph Fischer [Frankfu rt ] [BÜNDNIS 90/
Leipzig, in Dresden und in vielen anderen Orten DIE GRÜNEN]: Die Pfalz hat er vergessen!)
brachten vor den Augen der Weltöffentlichkeit den
Freiheitswillen der Menschen zum Ausdruck. Sie be- Sie haben sich sehr viel solidarischer verhalten, als
wiesen zugleich, daß es richtig war, am Wiederver oft zu hören und zu lesen ist.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5077
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
Die Deutschen in West und Ost haben in den ver- Unternehmensleiter, die in einer Weise Verantwor-
gangenen fünf Jahren Opfer gebracht; es waren für tung übernommen haben, wie wir sie selten im west-
manchen durchaus schmerzliche Opfer. Niemand lichen Teil Deutschlands in diesen Jahren erlebt ha-
sollte die Opfer oder Kosten kleinreden - aber es sind ben.
Kosten, die das Erbe des DDR-Sozialismus verur-
sacht hat: eine marode Wi rtschaft, ein verantwor- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so-
tungsloser Umgang mit der Umwelt, eine hoffnungs- wie bei Abgeordneten der SPD und des
los veraltete Infrastruktur. Das kommunistische Sy- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
stem hat 18 Millionen Deutsche daran gehindert, die
angemessenen Früchte ihrer Leistung und ihres Lei- Wir haben neben den Problemen, die in diesen
stungswillens zu ernten. Jahren mit dem Zusammenbruch der Märkte im
Osten Europas, vor allem der früheren Sowjetunion,
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) über Nacht zu erwarten waren, noch eine weitere
Verschärfung der Situation vor allem auch mit der
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In Folge der Arbeitslosigkeit erfahren. Dies alles gehört
den vergangenen fünf Jahren sind wir bei der in dieses Bild. Unter kaum einer anderen Erblast des
Vollendung der inneren Einheit ein gutes Stück SED-Regimes hatten die Menschen so sehr zu leiden.
vorangekommen. Das sieht jeder, der mit offenen Deswegen war und ist in diesem Felde besondere So-
Augen durch die neuen Bundesländer fährt. Die lidarität geboten. Von 1991 bis 1994 sind im Rahmen
Menschen spüren das in ihrem persönlichen Um- der Systeme der sozialen Sicherung 240 Milliarden
feld. So entspricht die Infrastruktur in den neuen DM von West nach Ost geflossen. Mit Arbeitsbe-
Bundesländern bereits heute vielfach weltweitem schaffungsmaßnahmen und Maßnahmen der Fortbil-
Spitzenstandard. Als Beispiel nenne ich die Tele- dung konnte Millionen von Menschen geholfen wer-
kommunikation, die über ein hochmodernes Netz den. Auf dem Arbeitsmarkt gibt es seit der zweiten
verfügt. Zehn Stunden Wartezeit auf ein Fernge- Jahreshälfte 1993 eine spürbare Aufwärtsentwick-
spräch von Rostock nach Düsseldorf gehören der lung. Seit dem Tiefstand der Beschäftigung hat sich
Vergangenheit an. die Zahl der Erwerbstätigen um rund 240 000 erhöht.

Zahlreiche Industrieunternehmen in den neuen Gewinner der deutschen Einheit - das sage ich mit
Ländern arbeiten heute mit Anlagen, die zu den Nachdruck - sind in den neuen Ländern die Rentner.
modernsten der Welt gehören. Ich brauche hier Wir haben eine selbstverständliche moralische Ver-
nicht nur das Opel-Werk in Eisenach zu erwähnen; pflichtung gegenüber der Generation gesehen, die
es gibt viele solcher Beispiele. Wir wissen, eine zuerst unter dem Krieg und dann unter der kommu-
moderne Verkehrsinfrastruktur ist mitentscheidend nistischen Diktatur zu leiden hatte. Am 30. Juni 1990
für den wirtschaftlichen Aufbau und die Herstel- betrug die Rente höchstens 600 Mark Ost. Das war
lung vergleichbarer Lebensverhältnisse. Die Fort- ein Drittel der verfügbaren Rente eines Durch-
schritte, die seit der Wiedervereinigung erreicht schnittsverdieners in den alten Bundesländern nach
wurden, sind offensichtlich: Tausende Kilometer über 40 Versicherungsjahren. Heute erhält ein Rent-
Schienenwege, Straßen und Wasserstraßen wurden ner in den neuen Bundesländern bei gleichem beruf-
neu gebaut oder erneuert. Die Fahrzeit auf der lichem Werdegang wie ein Rentner im Westen mit
Eisenbahnstrecke von Frankfu rt am Main nach über 1 500 DM fast 80 % der Westrenten. Die Renten-
Dresden wurde um eine ganze Stunde verkürzt, ausgaben in den neuen Bundesländern erhöhten sich
um ein Beispiel zu nennen. Der Standard der von knapp 17 Milliarden Mark Ost im Jahre 1989 auf
Autobahnen ist zwischen den alten und den neuen über 69 Milliarden DM in diesem Jahr. Ich halte dies
Ländern weitgehend angeglichen. für eine der größten sozialen Leistungen in der Ge-
schichte unseres Landes.
Wir wissen, meine Damen und Herren, wenn ich
dies hier sage, daß trotz aller Erfolge noch eine (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so-
schwierige Wegstrecke vor uns liegt und daß Um- wie des Abg. Markus Meckel [SPD])
strukturierungen und Neuaufbau noch lange nicht
abgeschlossen sind. Wir wissen auch, daß vor allem Fünf Jahre nach der Wiedervereinigung hat das
die Männer und Frauen in den neuen Ländern in die- Gesundheitswesen der neuen Länder im wesentli-
sen fünf Jahren viele Opfer bringen mußten, vor al- chen das Niveau Westdeutschlands erreicht. Die Pa-
lem auch die völlige Veränderung ihrer persönlichen tienten können heute ihren Arzt frei wählen, und sie
Lebensverhältnisse nicht nur erfahren und manch- haben Zugang zu moderner Medizintechnik, zu allen
mal erleiden, sondern auch selbst neu gestalten muß- Arzneien, Heil- und Hilfsmitteln. Sie kommen jetzt in
ten. Wer einmal in den großen Industriekombinaten, den Genuß von Leistungen, die in der DDR-Zeit oft
etwa im Chemiedreieck, in Leuna, Bitterfeld oder nur einer kleinen Gruppe von Privilegierten vorbe-
Halle, war und dort mit Bet riebsräten, Bet riebsleitern halten waren.
und den Belegschaften gesprochen hat, der hat eine
Vorstellung davon, was in diesen wenigen Jahren Das jahrzehntelange sozialistische Wirtschaften
den Menschen zugemutet wurde und was sie sich hat zu schlimmen Belastungen von Boden, Luft und
selbst zugemutet haben. Wasser geführt. Um die Planziele zu erreichen, wur-
den gravierende Gesundheits- und Umweltschäden
Deswegen will ich ein besonderes Wo rt des Dan- in Kauf genommen. Wir konnten die ökologischen
kes gerade denjenigen sagen, die vor Ort diese Ver- Belastungen erheblich vermindern und viele Um-
antwortung getragen haben: Bet riebsratsvorsitzende, weltschäden sanieren. Aber, meine Damen und Her-
5078 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl


ren, gerade auf diesem Feld ist noch viel zu tun. Die sein, daß die Zeitachse sehr unterschiedlich ist und
Bewahrung der Schöpfung ist nicht zuletzt Ausdruck daß dieses und jenes länger dauert. Aber für mich ist
unserer Verantwortung gegenüber künftigen Gene- sicher, daß wir es schaffen. Entscheidend wird sein,
rationen. daß wir in Deutschland, egal, woher wir kommen, wo
wir unsere Heimat haben, aufeinander zugehen und
Die Jungen in Deutschland haben heute die be-
gründete Aussicht auf ein Leben in Frieden und begreifen, daß wir wieder in einem gemeinsamen
Freiheit. Wann je war das in der jüngeren deutschen Vaterland leben, und daß diejenigen, die wie ich das
Glück hatten, zeit ihres Erwachsenenlebens in Frei-
Geschichte der Fall? Für die persönliche Lebenspla-
heit leben zu dürfen, dabei den größeren Schritt ma-
nung junger Menschen ist eine gute Ausbildung von
chen und auf unsere Landsleute in den neuen Län-
zentraler Bedeutung. Es ist deshalb ganz besonders
dern zugehen müssen, daß wir - ich sage es noch ein-
wichtig, daß jedem Jugendlichen, der dies wünscht
und der die Anforderungen erfüllt, ein Ausbildungs- mal ganz einfach formuliert - mehr mit- und weniger
übereinander reden. Das scheint mir eine der ent-
platz angeboten wird. Ich danke allen, die dazu bei-
scheidenden Voraussetzungen zu sein.
getragen haben, daß es in den alten wie in den
neuen Bundesländern Jahr für Jahr gelungen ist, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
eine ausreichende Zahl von Ausbildungsplätzen zur
Verfügung zu stellen. Der größte Gewinn für uns alle ist die Einheit in
Freiheit. Die Freiheit ist nicht bezahlbar. Ihren wah-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. -
Markus Meckel [SPD]: Ausreichend?) ren Wert kann nur derjenige erfassen, der Unfreiheit
erfahren hat. Deshalb müssen auch künftige Genera-
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, es tionen wissen, was Mauer und Schießbefehl bedeu-
gibt keinen Grund, die noch vor uns liegenden Her- tet haben, damit sich ähnliches nie mehr wiederholt.
ausforderungen zu unterschätzen oder gar den Auf-
bau Ost für abgeschlossen zu erklären. Aber es gibt Ich nehme für mich nicht das Recht in Anspruch,
auf der anderen Seite auch überhaupt keine Berech- jene zu verurteilen, die sich unter den damaligen
tigung, weltweit anerkannte Fortschritte zu zerreden Verhältnissen in der DDR angepaßt haben. Ich weiß
und Pessimismus zu verbreiten. nicht, wie ich persönlich mich verhalten hätte, wäre
ich in Leipzig statt in Ludwigshafen geboren und
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) aufgewachsen. Ich bin gegen pauschale Verdächti-
Die beispiellose Dynamik in den neuen Ländern gungen.
sollte uns allen Ansporn sein, mit Realismus und Zu-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
versicht auf dem eingeschlagenen Weg weiterzuge-
hen. Sie werden dem Alltag unter dem SED-Regime nicht
Nach wie vor sind die neuen Bundesländer die gerecht.
stärkste Wachstumsregion in Europa. Im ersten Halb-
jahr 1995 ist das Bruttoinlandsprodukt gegenüber Wir Deutsche müssen unsere Vergangenheit in Ost
dem Vorjahreszeitraum um rund 7 % gestiegen. Erst und West als gemeinsames Erbe annehmen. Wir sind
kürzlich hat die OECD in ihrem Deutschland-Be richt aufgerufen, uns ehrlich mit der ganzen deutschen
vorausgesagt, daß dies auch weiterhin so bleibt. Bis Geschichte auseinanderzusetzen. Nur mit Offenheit
Ende 1995 werden seit der Wiedervereinigung aus und Wahrhaftigkeit können wir wirklich zueinander
finden.
öffentlichen Kassen über 600 Milliarden DM in die
neuen Länder geflossen sein. Das ist eine unvorstell- Die Menschen in den neuen Ländern verdienen
bar große Summe, und das wird auch weltweit aner- Respekt für die Lebensleistung, die sie unter den Be-
kannt. dingungen des DDR-Regimes erbracht haben. Zu
Aber diese Zahlen sagen für sich allein noch nichts diesem Respekt gehört, daß die Deutschen im We-
aus. Hinter diesen Zahlen steht die gemeinsame sten mehr Verständnis für die Unsicherheiten und
Kraftanstrengung der Menschen aus den neuen wie Belastungen aufbringen, die diese gewaltigen Um-
aus den alten Ländern, die mit Entschlossenheit, Lei- stellungen im Osten Deutschlands bedeuten.
stungswillen und Mut zur Zukunft den Neuanfang
im Osten der Bundesrepublik gestalten. Jenen, die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so-
ständig über Dauer und Finanzierung des Aufbaus wie des Abg. Markus Meckel [SPD] und
Ost klagen, halte ich ganz einfach entgegen: Wer ja des Abg. Gerhard Zwerenz [PDS])
sagt zur deutschen Einheit, darf die notwendige Auf- Aber - das gehört auch ins Bild - auf der anderen
bauhilfe nicht verweigern. Jede D-Mark, die dort Seite müssen die Deutschen in den neuen Ländern -
ausgegeben wird - das vergessen manche, die so re- verstehen, daß beispielsweise der Wohlstand in der
den -, ist eine Investition in eine gemeinsame gute alten Bundesrepublik nicht über Nacht vom Himmel
Zukunft aller Deutschen. gefallen ist und daß das sogenannte Wirtschaftswun-
(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU, der der der 50er Jahre das Ergebnis einer jahrelangen
F.D.P. und der SPD sowie bei Abgeordneten Aufbauleistung von Millionen fleißiger Menschen im
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Westen auf der Grundlage der Sozialen Marktwirt-
schaft war.
Ich bin sicher, meine Damen und Herren, daß wir die
materiellen Fragen im Zusammenhang mit der deut (Dr. Uwe-Jens Heuer [PDS]: Wir waren
schen Einheit lösen werden. Ich sage allen: Es mag auch nicht faul!)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5079
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
- Auf diesen Gedanken bin ich bei Ihnen nie gekom- kunft gelegt. Jetzt gilt es, alle Kräfte anzuspannen,
men. um ganz Deutschland, unsere Bundesrepublik
Deutschland, fit zu machen für das kommende
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU Jahrhundert.
und der F.D.P. - Beifall des Abg. Gerhard
Zwerenz [PDS]) Deutschland wird seine schöpferischen Energien
für Werke des Friedens und der Freiheit und der Ge-
Herr Abgeordneter, wenn Sie vielleicht weniger em- rechtigkeit einsetzen. Es wird ein Ort guter Nachbar-
sig in Wort und Schrift gewesen wären, hätten Sie es schaft sein und in der Völkergemeinschaft als zuver-
heute leichter. lässiger Freund handeln und auftreten. Dieses Ziel,
(Beifall und Heiterkeit bei der CDU/CSU meine Damen und Herren, ist jede Anstrengung
und der F.D.P. - Beifall des Abg. Gerhard wert .
Zwerenz [PDS]) (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, der der F.D.P. - Beifall des Abg. Gerhard Zwe-
3. Oktober 1990 war der Beginn einer neuen und renz [PDS])
glücklichen Pe riode in der Geschichte unseres Vol-
kes. Gemeinsam haben wir die Gunst der histori- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Es spricht jetzt
schen Stunde genutzt. Die über vier Jahrzehnte wäh- der Vorsitzende der Fraktion der SPD, Rudolf Schar-
rende Teilung hatte uns stärker voneinander ent- ping.
fernt, als die meisten von uns - auch ich - damals an-
genommen haben. Aber wo heute Bayern und Sach-
sen, Mecklenburger und Rheinländer einander be- Rudolf Scharping (SPD): Frau Präsidentin! Meine
gegnen, ist die innere Einheit unseres Vaterlandes Damen und Herren! Die Deutschen sind mit ihren
schon gelebte Wirklichkeit. Dies ist - ich wi ll es her- staatlichen Möglichkeiten selten so verantwortungs-
vorheben - beispielsweise bei der Bundeswehr der bewußt umgegangen wie bei der Vereinigung am
Fall. Die Integration unserer Streitkräfte und das Mit- 3. Oktober 1990.
einander der Soldaten sind ein großer Erfolg, und ich Wenn wir an diesem fünften Jahrestag zurückden-
danke allen, die dazu beigetragen haben. ken, dann denken wir an einen Epochenbruch, aber
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) auch daran, daß jene Anerkennung verdient haben,
die entscheidend zum ersehnten Ziel der deutschen
Die innere Einheit, nach der wir streben, ist nicht Vereinigung beigetragen haben.
Einheit in Gleichförmigkeit, sondern Einheit in Viel-
falt. Richard Schröder, der Vorsitzende der SPD- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
Fraktion in der frei gewählten Volkskammer, hat dies ten der CDU/CSU, der F.D.P. und des
kürzlich in folgenden Worten zum Ausdruck ge- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
bracht: Mit großem Respekt erinnern wir an die demokrati-
Wenn sich Ostdeutsche und Westdeutsche so gut sche Opposition, aber auch an jene Menschen, die
- und so schlecht - verstehen wie Ostfriesen und ausgewiesen wurden, noch mehr an jene, die in den
Bayern , ist die Einigung gelungen. Gefängnissen leiden mußten, an jene Menschen, die
in zunächst kleiner und dann wachsender Zahl und
(Heiterkeit bei der CDU/CSU - Michael unter großen persönlichen Opfern der kommunisti-
Glos [CDU/CSU]: Ein gewagter Vergleich!) schen Repression trotzten und für politische Freiheit
und Menschenrechte eintraten.
Probleme werden wir dann trotzdem noch reich-
lich haben. Denn unsere deutschen Einigungs- Unser Dank gilt der evangelischen Kirche, in der
probleme sind wahrhaftig nicht die größten in der eine Vielzahl von Gemeinden und Synoden in vielfäl-
Welt. tiger Weise Freiheitsräume erschloß, staatliche Be-
vormundung unterlief und demokratische Bestrebun-
(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und gen förderte.
der SPD sowie bei Abgeordneten des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
ten der CDU/CSU, der F.D.P. und des
Jeder von uns, meine Damen und Herren, ist sei- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
ner Heimat besonders verbunden, und das ist gut so.
Deutschland ist unser Vaterland und Europa unsere Ich erinnere an die Ausreisenden, die damals unter
Zukunft. Wir Deutsche würden vor der Geschichte großen persönlichen Risiken und teils dramatischen -
versagen, wenn wir jetzt in unserem Einsatz für das Umständen mit einer großen Fluchtbewegung den
vereinte Europa nachließen. Es geht dabei um Wohl- Ruf „Wir bleiben hier!" erst zu einer wirklichen Be-
stand und soziale Sicherheit, aber vor allem - ich be- drohung in der Diktatur gemacht hatten.
tone: vor allem - geht es um den Frieden und die
Freiheit für künftige Generationen. (Beifall bei der SPD)

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ich erinnere auch an die Hunderttausenden, die im
Herbst 1989 auf die Straße gingen und mutig den
Ich habe keinen Zweifel daran, daß wir die Auf- Weg zu freien und demokratischen Wahlen öffneten,
gaben meistern werden. Wir haben gute Grundla- die Voraussetzung für die Einheit der Deutschen wa-
gen für einen gemeinsamen Aufbruch in die Zu ren.
5080 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Rudolf Scharping
Es ist wahr: Wir sind auch anderen zu Dank ver- Sie haben die Worte „blühende Landschaften" er-
pflichtet: der Sowjetunion unter Michail Gorba- neut bemüht. Nach unserer Auffassung gehört schon
tschow, deren Zustimmung die Gewaltfreiheit der viel dazu, sich erneut auf eine Aussage zu berufen,
SED-Entmachtung erst möglich gemacht hat, die quasi als Schlüsselglied für eine Politik der Täu-
schung und der Übervorteilung der Ostdeutschen
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne steht.
ten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
DIE GRÜNEN)
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
und des Abg. Manfred Müller [Berlin] [PDS]
und den Ungarn und Polen - den Ungarn wegen der - Widerspruch bei der CDU/CSU und der
mutigen Grenzöffnung und den Polen, weil ihre re- F.D.P.)
formerischen Umwälzungen Ermutigung schufen
und innerhalb der DDR Reformbewegungen inspi- Denn entgegen Ihrer späteren Behauptung, diese
rierten. Aussage sei nur vor dem Hintergrund zu verstehen,
daß die Bundesregierung den tatsächlichen Zustand
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. von Infrastruktur, Kapitalstock oder Arbeitsprodukti-
Dr. Heiner Geißler [CDU/CSU]) vität nicht richtig eingeschätzt habe, haben Sie tat-
sächlich um wahltaktischer Vorteile willen mit der
Wir sind auch und insbesondere unseren westli- Hoffnung und mit der Erwartung nicht nur der
chen Pa rtnern, unter ihnen besonders den Vereinig- 16 Millionen Menschen im Osten Deutschlands, son-
ten Staaten von Amerika, zu Dank verpflichtet, die dern aller in Deutschland gespielt und die Unwahr-
entschlossen die deutsche Vereinigung förderten heit über das gesagt, was auf die Menschen zukom-
und entscheidenden Anteil am Abschluß des Zwei- men würde.
plus-Vier-Vertrages hatten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD sowie des Abg.
Dr. Hermann Otto Solms [F.D.P.]) Auch das setzt sich heute fort. Die Arbeitslosigkeit
in Deutschland, namentlich im Osten Deutschlands,
Nicht zuletzt, meine Damen und Herren, will ich ausschließlich auf die Fehler von Planwirtschaft zu-
darauf aufmerksam machen, daß die deutsche Ein- rückzuführen, ist eine grobe historische Täuschung.
heit erst auf den Grundlagen stabiler Westbindung Das spielt eine Rolle, erklärt aber längst nicht alles.
und vertrauensbildender Ostpolitik möglich gewor- (Beifall bei der SPD)
den ist.
Natürlich muß in einem historisch einmaligen wirt-
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. schaftlichen, sozialen und politischen Strukturbruch
Dr. Hermann Otto Solms [F.D.P.] und der manches verändert werden. Wir bestreiten nicht, daß
Abg. Dr. Antje Vollmer [BÜNDNIS 90/DIE dieser radikale Strukturbruch unvermeidbar war.
GRÜNEN]) Was wir allerdings bestreiten, ist, daß die Umstände
so hätten gestaltet werden müssen, wie sie gestaltet
Deshalb sagen wir in allem Freimut: Dazu haben worden sind.
viele beigetragen. Wir wollen weder die Verdienste (Joachim Hörster [CDU/CSU]: Wie hätten
von Willy Brandt und Helmut Schmidt verschweigen Sie es denn gemacht?)
- wir anerkennen sie vielmehr ausdrücklich - noch
die Leistungen der damaligen Bundesregierung, des Deshalb möchte ich doch darauf hinweisen, daß sich
Bundeskanzlers Helmut Kohl und des Bundesaußen- auf der Grundlage dieser Entwicklung eine erhebli-
ministers Hans-Dietrich Genscher. che Veränderung vollzogen hat.
Man kann verstehen, daß in einem solchen Um-
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der bruch auch Mißmut, Enttäuschung und Unzufrieden-
F.D.P. sowie der Abg. Dr. Antje Vollmer heit entstehen. Aber eine solche Diagnose bleibt un-
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) vollständig und oberflächlich, wenn man nicht auch
zur Kenntnis nimmt, daß sich im Osten Deutschlands
Meine Damen und Herren, in einem solchen, histo- eine bedrohlich veränderte Stimmung entwickelt
risch einmaligen, komplexen Prozeß gibt es sicher hat.
auch unvermeidbare Fehler; ich konzediere dies aus-
drücklich. Neben unvermeidbaren Fehlern aller- (Zuruf von der CDU/CSU: Was? - Wolfgang
dings gibt es auch vermeidbare. Zöller [CDU/CSU]: Er spricht von der SPD!) -
Im Juli 1995 haben - demoskopischen Umfragen zu-
Herr Bundeskanzler, wer Ihre Regierungserklä- folge - viele Ostdeutsche gesagt, daß das Gesell-
rung gehört hat, wird den Eindruck nicht los, daß es schaftssystem der Bundesrepublik Deutschland
Ihnen im wesentlichen um die Verbreitung eines Ge- nicht gerecht sei. 50 % der Befragten im Osten hiel-
fühls, nicht aber um die Formulierung von Politik ten die Ordnung in der DDR, aber nur noch 38 % die
geht. Ordnung in der Bundesrepublik Deutschland für ge-
recht. Während 1990 noch die große Mehrheit der
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne befragten Ostdeutschen die Ursache für das Schei-
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) tern des DDR-Sozialismus im System selbst und nur
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5081
Rudolf Scharping
36 % in der Unfähigkeit der Politiker sahen, hat im Das ist, Herr Bundeskanzler, nicht nur eine Frage
Juli 1995 der Anteil derer, die die Politik und nicht der menschlichen Anständigkeit; es ist auch eine
das System für das Scheitern verantwortlich gemacht Frage der politischen Klarheit. Ihr ehemaliger Fi-
haben, mit 79 % eine geradezu erschreckende Größe nanzstaatssekretär Köhler hat jüngst in einem bemer-
erreicht. kenswerten Interview in der Wochenzeitung „Die
Zeit" folgendes formuliert:
Meine Damen und Herren, wer das nicht zur
Kenntnis nehmen will, der weige rt sich, Realität, Ge- Schon vor der Bundestagswahl im Oktober 1990
fühl und Emotionen von Menschen zur Kenntnis zu war klar, daß es nicht ohne Einnahmeverbesse-
nehmen. rungen gehen würde. Die Politik hat halt aus
Gründen der politischen Opportunität entschie-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne den, diese Erkenntnis nicht in den Vordergrund
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zu rücken.
und der PDS) (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: „Keine Steuererhöhun-
Es ist geradezu unfaßbar, wie die Freude und die
Begeisterung der Menschen in Deutschland, auch gen"!)
der Menschen im Osten Deutschlands, über das Den Prozeß der deutschen Einheit, seine Enttäu-
Ende des DDR-Sozialismus in eine Stimmung umge- schungen und Frustrationen kann man trotz aller Er-
schlagen sind, die man als zwiespältig, in der Ten- folge nicht beschreiben, wenn man nicht hinzufügt,
denz allerdings als eindeutig beschreiben muß. Das daß im Jahr 1990 bewußt getäuscht worden ist, wie
ist eine Stimmung, die viel mit enttäuschten Hoffnun- der damalige Finanzstaatssekretär ausdrücklich sagt.
gen zu tun hat.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
ten der PDS) PDS)
Das hat auch mit der Finanzierung der deutschen
Selbst wenn man konzediert - was ich ausdrück- Einheit auf Pump zu tun. Sie wird zu einer immensen
lich tue -, daß es in einem solchen Prozeß unvermeid- Hypothek für künftige Generationen und zugleich
bare Fehler gibt, so ist doch darauf hinzuweisen, daß für eine Belastung des europäischen Integrationspro-
es von Anfang an auch Stimmen gegeben hat, die zesses sorgen.
nachdrücklich und - wie sich herausgestellt hat - zu
Recht auf vermeidbare Fehler und falsche Weichen- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sind Sie also
stellungen hingewiesen haben. dagegen?)

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Meine Damen und Herren, mit diesen Weichen-
ten der PDS - Widerspruch bei der CDU/ stellungen begann eine Reihe von Fehlentscheidun-
CSU) gen strategischer Art, die man der Bundesregierung
anlasten muß und die man nicht allein auf den Zu-
Von Anfang an haben Vertreter der Opposition in stand der damaligen DDR zurückführen kann.
der damaligen DDR auf die Größe, die Langwierig- (Beifall bei Abgeordneten der SPD - Wider-
keit und auch auf die immensen Kosten des Umstel- spruch bei Abgeordneten der CDU/CSU -
lungsprozesses hingewiesen. Der damalige Finanz- Zuruf von der CDU/CSU: Das haben Ihnen
minister Romberg ist auf Grund des politischen nicht einmal die eigenen Leute geglaubt!)
Drucks aus der Regierung im Westen Deutschlands
entlassen worden, obwohl seine Zahlen damals we- Diese Fehlentscheidungen haben viele Millionen
sentlich näher an der Realität waren als die der Bun- Menschen in eine tiefe Existenzkrise gestürzt und
desregierung. vor allen Dingen tiefe Zweifel an der Redlichkeit der
Politik hervorgerufen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der SPD - Zuruf von der CDU/
und der PDS) CSU: An Ihrer!)
Es war - ich sage es noch einmal: im Rahmen eines
Man fragt sich: Wo ist denn ein Wo rt des Bedau- notwendigen und unvermeidbaren Strukturbruches -
erns z. B. gegenüber einem ehrlichen Mann, der ge- eine Schocktherapie ohne wirkliche Flankierung. In-
nau - jedenfalls wesentlich genauer als diese Bun- dustrielle Arbeitsplätze sind zusammengebrochen,
desregierung - gesehen hat, welche Aufgaben auf 3,5 Millionen Arbeitsplätze gingen verloren. Es war-
uns zukamen, welche finanziellen Leistungen das er- im Zuge dieser strategischen Fehlentscheidungen
forderte? Ich finde, es gehörte zur Souveränität einer konsequent, der Treuhandanstalt anfangs nur einen
Bundesregierung, die damals die Entlassung dieses Privatisierungsauftrag zu erteilen, der sich aber in
Mannes bewirkt hat, wenigstens heute ein kleines der Praxis häufig als Liquidationsauftrag erwies.
Wort des Bedauerns wegen dieser groben Fehlent-
scheidung auszusprechen. Meine Damen und Herren, wer 1989/1990 als Epo-
chenbruch beschreibt und in der gegenwärtigen Dis-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne kussion hinzufügt, daß der Wandel in der Weltwirt-
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN schaft, mindestens die Europäisierung, häufig die
und der PDS) Globalisierung des Wirtschaftens, ungehemmt voran-
5082 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Rudolf Scharping
schreitet, muß zugleich die Frage beantworten: Soll den Mut und die Bereitschaft zur Solidarität mit der
es die Leitlinie der Politik sein, die soziale Integra- Täuschung, man könne das aus der Portokasse ma-
tion zu stärken - dann hätten wir eine vernünftige chen, verspielt haben, beginnen Sie erneut, die Bi-
Leitlinie für die Gestaltung des deutschen Einigungs- lanz zu fälschen und schönzufärben und damit Mut
prozesses in der Zukunft -, oder wollen wir ignorant und Solidarität zu untergraben, Mißmut und Enttäu-
die falschen Weichenstellungen weiterverfolgen? schung zu fördern. Diese Regierungserklärung ist ein
Denn eine bloß auf Unternehmen und Erträge - so Hinweis darauf.
notwendig das alles ist - orientierte Politik wird am
Ende nicht fähig sein, die soziale Erosion der Gesell- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
schaft und auch den tiefen emotionalen und kulturel- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
len Graben, den es in Deutschland immer noch gibt, PDS)
zu überwinden.
(Beifall bei der SPD) Die faktische Entindustrialisierung bedeutet für
die Ostdeutschen, daß von hundert Erwerbswilligen
Ich beziehe mich noch einmal auf Ihren früheren ein Drittel keine reguläre Arbeit findet, ein Drittel Ar-
Staatssekretär Köhler, der in dem erwähnten Inter- beitsplätze aus Transferleistungen findet und nur ein
view gesagt hat: Drittel Arbeitsplätze aus eigener Wertschöpfung.
Das Bundeswirtschaftsministerium hat den struk-
turpolitischen Handlungsbedarf unterschätzt und Die fehlerhaften Weichenstellungen der Bundesre-
war in seiner Aufmerksamkeit wohl auch zuwe- gierung zu Lasten und auf Kosten der ostdeutschen
nig auf den Aufbau in Ostdeutschland konzen- Bevölkerung waren eine Konsequenz aus der fal-
triert. schen gestalterischer Zielsetzung in der Vereini-
(Zuruf von der CDU/CSU) gungspolitik, nämlich einer Ausdehnung der alten
Bundesrepublik auf die frühere DDR. Es gab keinen
- Meine Damen und Herren, wenn jetzt aus den Rei- Politikbereich, Herr Bundeskanzler, in dem Sie nicht
hen der Union dazwischengerufen wird, warum ich signalisiert hätten, daß der Osten gefälligst westliche
immer diesen Staatssekretär zitiere, antworte ich: Maßstäbe zu erfüllen habe.
Der Bundeskanzler war stolz auf dessen Sachkunde
in internationalen und anderen Finanzfragen. Die Die politisch-kulturellen Folgen blieben nicht aus.
Tatsache, daß dieser Mann jetzt ein anderes öffent- Viele Menschen sahen sich ihrer eigenen Geschichte
lich wirksames Amt bekleidet, macht ihn etwas und Selbstachtung beraubt. Ihnen wurden generell
freier. Ich kann durchaus verstehen, daß dieser freie Unterlegenheit und Zweitklassigkeit signalisiert. Das
und kritische Geist in der Bilanzierung Ihrer eigenen sind Verwerfungen, die das politische und gesell-
Tätigkeit - das macht diese Regierungserklärung schaftliche Klima zwischen Ost und West in Deutsch-
überdeutlich klar - bei Ihnen ganz und gar uner- land nach wie vor stark belasten und die auch zu der
wünscht ist; denn er müßte zu selbstkritischen Be- beschriebenen Vertrauenskrise im Osten Deutsch-
merkungen führen. lands geführt haben.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Es ist diese Ignoranz, diese Geringschätzung von
und der PDS) Erfahrungen, die ein politisches Milieu ostdeutscher
Befindlichkeit hat entstehen lassen, die einer regio-
Herr Bundeskanzler, was Ihr damaliger Staatsse- nalistischen, regressiven und im Kern unpolitischen
kretär Köhler gesagt hat, halte ich für eine vornehme Partei einen starken Resonanzboden verschafft. Die
Beschreibung von Inkompetenz und Ignoranz. relativen Erfolge der PDS sind ein direktes Ergebnis
von Vereinigungspolitik, wie Sie sie gestaltet haben.
Mindestens ebenso verheerend für die wi rtschaftli-
che Lage im Osten Deutschlands hat sich die Ent-
scheidung der Bundesregierung ausgewirkt, die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
Rückgabe alten Eigentums der Entschädigung für al- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
tes Eigentum vorzuziehen.
Wer, Herr Bundeskanzler, die zurückliegenden
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Leider, lei fünf Jahre bilanziert, wird feststellen: Nach ihren un-
der!) bestrittenen Verdiensten beim Zustandekommen der
Daraus ist das Investitionshemmnis Nummer eins im deutschen Einheit hat die Bundesregierung, hat der
Osten Deutschlands geworden, Bundeskanzler bei der Gestaltung der deutschen
Einheit schwere Fehler gemacht. Im Streit um die -
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne tauglicheren Lösungen gab es bessere Vorschläge.
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
und der PDS) Unbestreitbar richtig war der Vorschlag, die Finan-
zierung der deutschen Einheit auf eine allgemeine
mit allen Folgen für den wi rtschaftlichen Aufbau und
Grundlage zu stellen und von einer realistischen Ein-
die Arbeitsplätze.
schätzung der Schwierigkeiten auszugehen.
So sehr man sich über gute Entwicklungen freuen
kann: Die Bilanz bleibt unvollständig und wird zur Nachweislich war richtig, die Entindustrialisierung
Schönfärberei, wenn man auf solche Entwicklungen nicht so Platz greifen zu lassen und Vorschläge zur
nicht genauso deutlich hinweist. So, wie Sie damals Erhaltung der industriellen Kerne zu machen.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5083
Rudolf Scharping
Nachweislich hatten wir recht, daß ein Sanierungs- Im übrigen gibt es Leute, die Kassandra einen
auftrag für die Treuhand von Anfang an richtiger ge- schlechten Ruf bescheinigen. Aber: Hätten die an-
wesen wäre als der Privatisierungsauftrag. geblich klugen Männer auf sie gehört, wäre Troja
vermutlich nicht untergegangen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD)
Nachweislich hatten wir recht mit der Befürchtung, Es ist nicht richtig, den Eindruck zu erwecken, wir
daß die vorgesehene Behandlung der Eigentums- seien schon über den Berg. Es ist auch nicht richtig,
frage eine fatale Folge für Investitionen und das Ge- den Eindruck zu erwecken, wir könnten auf weitere
rechtigkeitsempfinden vieler Menschen hätte. Finanzhilfen verzichten. Aber mit dem Jahressteuer-
gesetz 1996 wird die steuerliche Förderung von Inve-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne stitionen ab 1997 um fast ein Drittel gekürzt, ab 1999
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) soll sie insgesamt auslaufen. Die Investitionsförde-
Nachweislich haben wir immer noch recht mit der rung geht um 15 Milliarden DM zurück. Im Bundes-
Forderung, daß es eine aktive Arbeitsmarktpolitik haushalt 1996 kommt es zu massiven Kürzungen.
geben muß, um Zeit und Zuversicht für die Men- Der Bewilligungsrahmen für die Gemeinschaftsauf-
schen zurückzugewinnen. gabe „Verbesserung der regionalen Wirtschafts-
struktur" wird auf 7 Milliarden DM gesenkt. Wer sich
(Beifall bei der SPD) den Finanzplan 1995 bis 1999 anschaut, so unse riös
er ist, stellt fest, daß weitere massive Einsparungen
Meine Damen und Herren, vor diesem Hintergrund
vorgesehen sind.
stehen wir vor neuen Herausforderungen und neuen
Entscheidungen. Wohl wahr, in den letzten fünf Jah- Es ist ziemlich absurd, die zehnprozentige Investi-
ren sind über die Steuerkassen hinaus insgesamt tionszulage für den innerstädtischen Handel im Jah-
rund 1 000 Milliarden DM in die neuen Bundesländer ressteuergesetz zu beschließen - ich füge hinzu: auf
geflossen. Niemand kann seriös voraussagen, wann unser Drängen -, auf der anderen Seite im Bundes-
dieser Prozeß zu einem Ende kommt. Eines aber muß haushalt die Städtebauförderung um 100 Millionen
man sagen, und das sage ich Ihnen mit den Worten DM zu kürzen.
von Klaus von Dohnanyi: Von einem selbsttragenden (Beifall bei der SPD)
wirtschaftlichen Aufschwung kann nicht gesprochen
werden. Von Dohnanyi schrieb im „Handelsblatt": Wer den mangelnden überregionalen Absatz ost-
deutscher Produkte beklagt, hat recht, denn die ost-
Das Wachstum ist immer noch vom Westtransfer deutsche Wirtschaft trägt nur einen ganz geringen
geschenkt, und die Ausgangsposition wird durch Teil zu unserem Expo rt bei. Um so unverständlicher
den dramatischen Einbruch markiert, den die ist es, daß die Absatzförderung um ein Drittel ge-
Wirtschaftsunion zwangsläufig auslösen mußte. kürzt wird.
Von diesem geringen Niveau aus bewirken auch
Jeder weiß, daß in Ostdeutschland reichlich For-
hohe Zuwachsraten nur sehr kleine Schritte in
schungs- und Entwicklungspotentiale vorhanden
Richtung auf die Angleichung zum Westen. Sehr
sind. Gleichzeitig werden die Mittel zur Förderung
wenig plus 10 ist zwar mehr, aber zunächst eben
von Forschung, Entwicklung und Innovation ge-
doch nur ein wenig mehr.
kürzt. Jeder redet von der Bedeutung von Umwelt-
(Beifall bei der SPD) schutz, Energiesparen und Fernwärme, gleichzeitig
aber werden die Mittel zur Sanierung der vorhande-
Meine Damen und Herren, man kann stolz sagen, nen Einrichtungen im Bundeshaushalt auf Null ge-
es gibt hohe Zuwachsraten; aber das bleibt unvoll- fahren. Es macht keinen Sinn, schöne Ziele zu be-
ständig und ist schönfärberisch, wenn man nicht das schreiben und dann Haushalte zu verabschieden, die
niedrige Niveau und die Tatsache berücksichtigt, nichts von dem einlösen, was in den Zielen beschrie-
daß viele Regionen im Osten Deutschlands in ihrer ben worden ist.
wirtschaftlichen Kraft hinter den schwächsten Regio-
nen Portugals, Spaniens oder Griechenlands zurück- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
bleiben. DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD) Wir sagen: Jawohl, die ostdeutsche Wi rtschaft
Meine Damen und Herren, die Rede von der dyna- braucht massive staatliche Unterstützung. Sie
misch wachsenden Region ist eine halbe Wahrheit. braucht dauerhafte verläßliche Förderung. Ein abge-
Der Aufschwung do rt steht auf wackeligen Beinen, brochener wirtschaftlicher Aufbauprozeß würde zu
so wie sich leider auch der Aufschwung in Deutsch- noch höheren Arbeitslosenzahlen und im Ergebnis -
land etwas abschwächt. zu einem wachsenden Transfer führen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Miesmacher!) Deshalb beschreiben wir fünf Defizite und geben
eine Antwort auf sie.
- Das hat, verehrter Herr Kollege, mit Miesmacherei
überhaupt nichts zu tun, sondern mit einer ehrlichen Erstens. Es klafft eine riesige Lücke zwischen dem,
Bilanz. Sie werden merken, daß eine ehrliche Bilanz was in den neuen Ländern konsumiert wird, und
das einzige Mittel ist, Vertrauen zurückzugewinnen, dem, was dort produziert wird. Diese Produktions-
lücke ist nicht, wie man annehmen könnte, verklei-
das auf eine fahrlässige Weise verspielt worden ist.
nert worden, sondern sie ist von 155 Milliarden DM
(Beifall bei der SPD) auf 211 Milliarden DM gewachsen. Also sagen wir:
5084 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Rudolf Scharping
Es muß einen klaren Vorrang geben für die Förde- Deutschlands um 90 % zurückgegangen. Manage-
rung gewerblich-industrieller Arbeitsplätze und für mentfehler, unzureichendes Marketing - das alles
die Stärkung des Mittelstandes im Osten Deutsch- kann man beklagen. Vor allen Dingen aber ist die
lands. Eigenkapitalausstattung der Unternehmen zu
(Beifall bei der SPD) schwach. Eine Bundesregierung, die noch nicht ein-
mal in der Lage ist, in Berlin ihre öffentlichen Bauauf-
Zweitens. Das Bruttoanlagevermögen pro Kopf träge unter der Bedingung zu vergeben - wie der
der Bevölkerung ist im Osten heute nur halb so groß Berliner Senat es tut -, daß Menschen anständige Ta-
wie im Westen Deutschlands. Die Produktivität der riflöhne gezahlt bekommen, ruiniert Unternehmen
Arbeitnehmer erreicht deshalb nur etwas über 50 % und Arbeitsplätze. Das ist das praktische Ergebnis
des westdeutschen Niveaus. Die Lohnstückkosten Ihrer Politik.
freilich liegen 30 % über dem westdeutschen Niveau.
Deshalb sagen wir: Es wäre dringend erforderlich, (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei
daß diese Bundesregierung endlich eine Politik be- Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
treibt, die die Gesamtheit der Produzenten von den GRÜNEN)
Kosten der Einheit entlastet und die Einheit so finan-
ziert, wie es richtig ist, nämlich durch die Gesamtheit Meine Damen und Herren, eine Bilanz fünf Jahre
der Steuerzahler. Dazu hat Ihnen immer der Mut und nach der deutschen Einheit bleibt unvollständig,
immer die Konsequenz gefehlt. wenn sie sich nur auf das Gefühl und nur auf die un-
bestreitbar guten Entwicklungen bezieht. Es gibt er-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne hebliche Schwierigkeiten. Sie zu nennen ist die Vor-
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - aussetzung dafür, daß sich Kraft entfaltet, um sie zu
Joachim Hörster [CDU/CSU]: Sie sollten überwinden. Der Satz von Willy Brandt, daß zusam-
dann nur erst die A-Länder fragen!)
menwächst, was zusammengehört, ist unverände rt
Drittens. Die hohe Arbeitslosigkeit ist Ergebnis richtgundbleRsr Handel.Bi
und Ausdruck des wachsenden Maßes an Unterbe- all den Schwierigkeiten und komplizierten Entwick-
schäftigung. Es ist nicht richtig, wenn die Statistik lungen sagen wir: Wir brauchen Zeit. Folglich brau-
signalisiert, nur 13 % der Bevölkerung seien arbeits- chen wir auch Geduld, vor allen Dingen im Osten
los. Tatsächlich haben über 30 % der Menschen Deutschlands, und Solidarität im Westen Deutsch-
keine reguläre Arbeit. Wer verhindern will, daß eine lands.
weitere Auszehrung stattfindet, daß immer mehr
Jüngere in den Westen Deutschlands wandern, daß Wenn wir dazu auffordern, dann tun wir das in
andere ihre Heimat verlassen, wer verhindern will, dem Bewußtsein, daß die schlimmen und tiefen Fol-
daß daraus auch massive Folgen für die westdeut- gen der Spaltung im Inneren überwunden werden
schen Gemeinden und Länder bei den öffentlichen müssen und überwunden werden können im Inter-
Einrichtungen und bei der Infrastruktur entstehen, esse einer stabilen Demokratie und einer anerkann-
der muß dafür sorgen, daß es eine aktive Arbeits- ten Rechtsordnung, die Eckpfeiler inneren Friedens
marktpolitik gibt. Sich hier hinzustellen und zu be- und Wohlstandes sind. Was wir aber ebenfalls brau-
haupten, jeder habe einen Ausbildungsplatz gefun- chen, ist eine Kultur der gegenseitigen Anerken-
den, nung, die auf der enormen Anpassungsleistung der
Ostdeutschen und auf der großartigen Teilungsbe-
(Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: Das ist reitschaft der Westdeutschen aufbaut.
wahr!)
(Beifall bei der SPD)
das ist nicht nur eine Schönfärberei, Herr Bundes-
kanzler, sondern ein Hohn gegenüber den Zehntau- Es kann gelingen, eine gesamtdeutsche Wirklichkeit
senden junger Leute, die bis zuletzt mühsam darum zu gestalten, die ein besseres Deutschland bewirkt.
gerungen haben, überhaupt eine Chance zu bekom- Wenn wir eines Tages nicht mehr von „Westdeut-
men. schen" und „Ostdeutschen" im Sinne eines Spal-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne tungsmerkmales reden, dann haben wir viel erreicht.
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Zur Vollendung der deutschen Einheit auch auf
Viertens. Die ostdeutsche Wirtschaft ist zuwenig politisch-kulturellem Gebiet hat Günter Kunert
exportorientiert; folglich wird man hier helfen müs- jüngst einen richtigen Hinweis gegeben. Er sagte:
sen. Die lediglich 12 Milliarden DM Exporterlöse der
ostdeutschen Wi rt schaft reichen nicht aus. Folglich Es will auch mir nicht einleuchten, warum so et-
sollten Sie mithelfen und Ihre Mehrheit dafür einset- was wie eine Ausschaltung von Gegensätzen und-
zen, daß die Absatzförderung, die Exportförderung Widersprüchen wünschenswert sei - eine Harmo-
und vieles andere nicht gekürzt, sondern aufgestockt nie, die ausschließlich durch Uniformität zu ge-
werden. winnen wäre, eine mentale Gleichheit, wie sie
nur für Zombies vorstellbar ist. Unsere Wertur-
Fünftens. Im Osten Deutschlands erleben wir eine teile und unsere Vorurteile werden wir ohnehin
Pleitewelle, die mittlerweile die Erfolge der ersten nicht los. Wir müßten nur mit ihnen gelassener
Existenzgründungswelle zunichte zu machen droht. umgehen.
Es gibt nach wie vor zuwenig Unternehmer. Es gab
einen Gründungsboom Anfang der 90er Jahre. Aber (Beifall des Abg. Hans Büttner [Ingolstadt]
jetzt sind die Nettogewerbeanmeldungen im Osten [SPD])
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5085
Rudolf Scharping
Auch wenn es vielen in Deutschland schwerfällt: dann muß ich Sie doch einmal fragen: Wie ist es denn
Gelassenheit und Entschlossenheit auf der Grund- 1989/90 gewesen? Kaum war die Mauer offen, haben
lage einer realistischen Bilanz, auf der Grundlage die Sozialdemokraten von Wiedersehen statt von
des festen Willens, begangene Fehler konsequent zu Wiedervereinigung gesprochen. Dann kam Herr La-
korrigieren, sind die Voraussetzungen dafür, daß wir fontaine und wollte das Aufnahmeverfahren für
Schaffenskraft und Gestaltungswillen der Bürgerin- Übersiedler stoppen, damit der Prozeß möglichst wie-
nen und Bürger weiter wecken und fördern. Beides der unterbrochen wird.
brauchen wir in Deutschland mehr denn je.
(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr wahr!)
(Langanhaltender Beifall bei der SPD - Bei
fall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Dann ist man in der damaligen DDR herumgereist
bei Abgeordneten der PDS) und hat gesagt: Es ist viel zuwenig, was der Westen
zahlt. Gleichzeitig hat man im Westen gesagt: Es
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster wird viel zu teuer.
spricht der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU,
Dr. Wolfgang Schäuble. Herr Romberg ist doch nicht auf Druck der Bundes-
regierung abgelöst worden, sondern auf Druck von
Herrn Lafontaine.
Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Frau Präsi-
dentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ei- (Lachen bei der SPD - Wolfgang Thierse
gentlich ist mir an diesem Tag und bei diesem Anlaß [SPD]: Quatsch!)
nicht zum Streiten zumute.
- Herr Thierse, Sie wissen es ganz genau.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
ordneten der F.D.P.) (Wolfgang Thierse [SPD]: Ich weiß es ge-
Ich finde, die deutsche Einheit in Frieden und Frei- nau!)
heit ist auch nach fünf Jahren Grund zur Freude und
Dankbarkeit. Deswegen will ich Sie daran erinnern. Auf Druck von
Herrn Lafontaine ist Richard Schröder als Vorsitzen-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) der der SPD-Fraktion in der Volkskammer an die
Seite geschoben worden, weil man aus der Großen
Deswegen, Herr Bundeskanzler, möchte ich Ihnen Koalition und der gemeinsamen Verantwortung in
für die CDU/CSU-Fraktion für Ihre Regierungserklä- der damaligen DDR herauswollte.
rung danken und unsere Zustimmung ausdrücken.
Sie haben vielen gedankt, die in den dramatischen (Wolfgang Thierse [SPD]: Das ist Unsinn!
Monaten 1989/90 Entscheidendes dazu beigetragen De Maizière war doch nicht der verlängerte
haben, daß die Einheit gelungen ist. Ich füge hinzu: Arm von Lafontaine!)
In diesen Dank schließe ich ausdrücklich Bundes-
kanzler Helmut Kohl ein, ohne dessen mutiges Zu- Ich nutze gerne die Gelegenheit, Lothar de Mai-
packen wir die Einheit auch nicht erreicht hätten. zière und Günther Krause für ihren Beitrag zur deut-
schen Einheit zu danken.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Natürlich muß man immer zwischen Mut und Miß- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
mut unterscheiden können. Für ein so großes Werk,
wie nach 45 Jahren der Teilung und Sozialismus in Ich will es in aller Ruhe sagen. Zu einer ehrlichen
einem Teil Deutschlands in kurzer Zeit die Einheit, Bilanz gehört auch, daß man über die Probleme, über
Soziale Marktwirtschaft, wi rt schaftlichen Wohlstand, das, was noch zu schaffen ist, redet. Aber man darf
soziale Sicherheit in ganz Deutschland herzustellen, bei der ehrlichen Bilanz auch nicht vergessen, was
braucht man mehr Mut als Mißmut. Deswegen sind erreicht worden ist und welches die ungeheuren Vor-
wir mehr für die Regierungserklärung als für das, teile sind. Auch das muß gesagt werden, sonst ist es
was Herr Scharping als Kontrastprogramm geboten keine Bilanz, sonst ist es Miesmacherei. Mit Miesma-
hat. cherei gewinnen wir die Zukunft nicht.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Herr Kollege Scharping, ich will wirklich nicht
noch einmal den Wahlkampf des Jahres 1990 führen. Zu der Bilanz gehört beispielsweise, daß sich die
Sie haben mich in Ihrer Rede streckenweise an Ihren Menschen in Deutschland wieder frei bewegen kön-
Vorgänger als gescheiterten Kanzlerkandidaten aus nen. Was das bedeutet, wissen die Menschen in Ber- -
dem Jahre 1990 erinnert. Dieser hat damals in der lin noch sehr genau. Selbst ich kann mich noch erin-
Ratifizierungsdebatte zum Einigungsvertrag eine nern, was es bedeutet hat, wie man aufgeatmet hat,
Dreiviertelstunde geredet. Aber er hat nicht einmal wenn man aus dem Ostsektor wieder im Westen war
ja zur Einheit gesagt. Man mußte sich wirklich wun- oder wenn man auf der Interzonenbahn die Kontrolle
dern, wozu er redet. So ähnlich war es auch bei Ih- hinter sich gebracht hatte.
nen.
Wir beklagen manchmal zu Recht ein Übermaß an
Wenn Sie aber am Anfang Ihrer Rede - das muß Perfektionismus unseres Rechtsstaates. Aber den
zurückgewiesen werden - von einer Politik der Täu- Druck, den man empfunden hat, wenn man in einem
schung und der Übervorteilung gesprochen haben, System war, wo kein Rechtsstaat herrschte, wo man
5086 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Dr. Wolfgang Schäuble


Willkür ohnmächtig ausgeliefert war, sollte man auf dem sich die hohen Zuwachsraten erfüllen. Dafür
nicht vergessen. Deswegen sollte man unser System war das gescheiterte System des Sozialismus in der
freiheitlicher Rechtsstaatlichkeit bewahren und für früheren DDR verantwortlich. Für die hohen Zu-
die Zukunft vital erhalten. wachsraten, die wir jetzt haben, ist die Soziale
Marktwirtschaft verantwortlich. So einfach ist das.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Deswegen müssen wir den Weg der hohen Zuwachs-
Die Menschen können sich wieder frei von Bespit- raten fortsetzen.
zelung, Angst und Unterdrückung in den neuen
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
Bundesländern fühlen. Sie brauchen nicht mehr
ordneten der F.D.P.)
Angst zu haben, daß bis in den p rivaten Bereich Ar-
beitskollegen, Nachbarn, Freunde, selbst Ehepartner Deswegen brauchen wir übrigens auch in der Zu-
Spitzel sind. Das alles sind ungeheure Vorteile. Wir kunft die solidarische Hilfe aller Bundesländer.
sollten sie bei der Bilanz an diesem Tag nicht verges-
sen. Zu der Wahrheit des Jahres 1990 und auch der fünf
Jahre seit der Vereinigung gehört, daß die Solidari-
Wahr ist auch, daß die wirtschaftlichen Probleme, tät unter den Bundesländern auf dem Weg zur Voll-
die sich mit der Aufgabe stellten, quasi von einem endung der deutschen Einheit insgesamt noch ein
Tag auf den anderen aus einem gescheiterten, maro- Stück weit besser hätte sein können. Was die west-
den, bankrotten System des real existierenden Sozia- deutschen Länder beim Solidarpakt zum Teil ge-
lismus eine Soziale Marktwirtschaft zu schaffen und macht haben, ist kein Ruhmesblatt. Damals sind Sie
die Menschen in kurzer Zeit an das Niveau von noch auf der Seite der Länder gesessen, Herr Schar-
Wohlstand und sozialer Sicherheit, das sie aus dem ping. Sie haben den Bund und die Steuerzahler kräf-
Westen kannten und für sich mit der Wiedervereini- tig ausgenommen, aber relativ wenig für den Aufbau
gung erwarteten, heranzuführen, die grundstürzen- Ost getan.
den Veränderungen bedingten, die die Menschen im
Osten mehr als wir im Westen aushalten müssen. (Rudolf Scharping [SPD]: Was? - Wider-
spruch bei der SPD)
Deswegen ist das alles schwieriger geworden, als
wir uns das 1990 vorgestellt haben und als wir 1990 - Natürlich ist das wahr.
geglaubt und gesagt haben. Ich habe es mir so
schwer und so kostenintensiv 1990 auch nicht vorge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
stellt. Das kann man doch heute, fünf Jahre danach, ordneten der F.D.P.)
bekennen. Aber es gehört auch dazu, daß es vor drei
Ich könnte Ihnen auch noch vorhalten, was Ihre
Jahren niemand für möglich gehalten hätte, daß wir
Kollegen gesagt haben, bei Herrn Schröder in Han-
im Jahre 1995 mit dem Aufbau im Osten und in ganz
nover angefangen, der gesagt hat „Keine Mark von
Deutschland wirtschaftlich so gut vorangekommen
niedersächsischen Steuerzahlern für den Aufbau
sind, daß die D-Mark stabil geblieben ist, die öffentli-
Ost", bis zu Herrn Lafontaine, der schon seit dem
chen Haushalte nicht überlastet sind, wir dauerhaftes
Jahre 1989 und seitdem immer wieder nicht die Soli-
Wachstum haben und die Kriterien des Vertrags von
darität in Deutschland gefördert hat, sondern das Ge-
Maastri cht erfüllen. Dies alles hat vor drei Jahren
genteil getan hat. Am Ende hat man sich zu Lasten
kaum jemand für möglich gehalten.
des Bundes und zu Lasten der Steuerzahler allenfalls
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) auf Minimalkompromisse geeinigt.
Weil Sie, Herr Scharping, den früheren Kollegen Dieser Weg wird fortgesetzt. Noch immer haben
von Dohnanyi erwähnt haben: Er hat einen Beitrag wir die Gewerbekapitalsteuer in Deutschland nicht
zur deutschen Einheit mit „Kein Grund für schlechte abgeschafft. Wir müssen sie aber abschaffen, damit
Laune" überschrieben. Ich hätte ihm gewünscht, daß die Investitionen in ganz Deutschland vorankommen
Sie wenigstens die Überschrift zur Kenntnis nehmen. und wir diese Steuer nicht auch noch in den neuen
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Bundesländern einführen müssen.
ordneten der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
Wahr ist auch, daß wir die Anstrengungen fortset- ordneten der F.D.P.)
zen müssen. Deswegen behält der Aufbau Ost Vor- Zu der erbärmlichen Kampagne, die Ministerpräsi-
rang in der Wirtschafts- und Finanzpolitik der CDU/ dent Eichel zu Beginn dieses Jahres im Landtags-
CSU-Fraktion und, ich meine, der ganzen Koalition. wahlkampf von Hessen mit der angeblichen Ver-
Deswegen werden wir auch die Förderung von Inve- schwendung von Steuergeldern beim Aufbau Ost
stitionen, insbesondere im industriellen Bereich, in geführt hat, sage ich: -
den neuen Bundesländern fortsetzen. Wir müssen
uns stärker auf den industriellen Bereich konzentrie- (Widerspruch bei der SPD - Wolfgang
ren; denn im Einzelhandel brauchen wir die Investiti- Thierse [SPD]: Und Stoiber?)
onsförderung nicht mehr so sehr, im industriellen Be-
reich haben wir aber nach wie vor einen starken So viele Steuergelder, wie Herr Eichel sie für seine
Rückstand. Dienstvilla verschwendet hat, hat im Verhältnis dazu
kaum jemals ein anderer verschwendet.
Herr Kollege Scharping, wenn Sie von „hohen Zu-
wachsraten auf niedrigem Niveau" sprechen, dann (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
gehört zur Wahrheit doch auch das niedrige Niveau, ordneten der F.D.P.)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5087
Dr. Wolfgang Schäuble
Das zeigt, daß Sie jede Gelegenheit nutzen, um die lebt haben und keinen Austausch mit dem Ausland
Menschen auseinanderzutreiben. Wir brauchen aber hatten, mit dem Westen nicht, selbst mit Polen war
mehr Kraft für die Arbeit im Rahmen der Einheit. der Austausch aus der Bundesrepublik intensiver als
Deswegen sagen wir auch: Wir müssen die Anstren- aus der DDR.
gungen solidarisch fortsetzen, um den wirtschaftli-
chen Aufbau in den neuen Ländern, vor allem im in- Aber im Westen haben wir uns in 40 Jahren wach-
dustriellen Bereich, rasch so weit voranzubringen, senden Wohlstands zu sehr angewöhnt, jeden Besitz-
daß wir ein vergleichbares Niveau mit dem Westen stand zu verteidigen. Wir sind in der Gefahr, daß wir
erreichen. So lange werden wir auch auf den Solida- die Kraft zur Veränderung zunehmend verlieren.
ritätszuschlag nicht vollständig verzichten können. Wenn wir deswegen aus der deutschen Einheit, de-
Wir hoffen, daß wir ihn bald ein Stück abbauen kön- ren Lasten und deren Chancen wir gemeinsam tra-
nen. Wir brauchen ihn aber so lange, bis wir im gen, Kraft für die Zukunft gewinnen sollen, dann
Osten im wesentlichen gleiche wirtschaftliche und sollten wir beides miteinander verbinden. Dann ha-
soziale Verhältnisse erreicht haben. ben wir eine gute Chance, unser Land weiter voran-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge zubringen.
ordneten der F.D.P.)
Ich glaube, in einer Welt, in der sich so ungeheuer
Wer nicht bereit ist, die notwendige Solidarität zu viel verändert, ist das, was wir in Deutschland in den
zeigen, der versündigt sich an der Einheit. letzten fünf Jahren mit großartigem Gewinn für alle
Menschen auf den Weg gebracht haben und weiter
Ich finde, wir sollten uns aus der Bilanz, aus dem
voranbringen müssen, für uns eine Chance, eine Be-
Vergleich dessen, was erreicht worden ist, die Kraft
währungsprobe für unsere gemeinsame Zukunft zum
bewahren, auch weiterhin solidarisch die erforderli-
Ende dieses Jahrhunderts und darüber hinaus.
chen Anstrengungen zu unternehmen. Die größeren
Anstrengungen, die mit der deutschen Einheit ver-
bunden sind, bestehen doch letztlich in den unge- Wir sollten bei diesen Überlegungen, liebe Kolle-
heuren Veränderungen, die die Menschen in den ginnen und Kollegen, vielleicht auch einen Moment
neuen Bundesländern, für die sich die grundlegen- den Blick über unsere eigenen Grenzen hinaus rich-
den Lebensverhältnisse in kurzer Zeit dramatisch ten. Es ist wahr: Die Einheit hat nicht in Deutschland
verändern, aushalten müssen. Ich sage: Zu einer kri- begonnen. Die Entwicklung begann in Polen, und in
tischen Bilanz fünf Jahre nach der deutschen Einheit Ungarn hat sie ihren Höhepunkt gefunden. Wir dan-
würde für mich eher gehören - dazu habe ich von ken unseren Nachbarn in Polen, in Ungarn, in der
Herrn Scharping gar nichts gehört -, daß wir viel- Tschechei und in der Slowakei.
leicht im Westen die Chance der Erneuerung, die
uns die deutsche Einheit geboten hat, nicht hinrei- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so-
chend genutzt haben. wie bei Abgeordneten der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Ich habe früh gesagt: Die Bereitschaft, durch Tei- Wir sollten vielleicht bei allen Problemen, die wir
len die Teilung zu überwinden, wird sich vor allen in unserem eigenen Lande haben, auch an diesem
Dingen darin bewähren müssen, daß wir auch im Tag einen Moment an Aufmerksamkeit darauf ver-
Westen bereit sind, Veränderungen mitzutragen und wenden, daß andere in Europa mit diesen ungeheu-
zu ertragen. Das ist eine Chance für ganz Deutsch- ren Veränderungen ganz andere Probleme haben als
land. Wenn wir so wie die Sozialdemokraten und wir in Deutschland. Gemessen an den Sorgen, die
Rot-Grün jeden Besitzstand nur tabuisieren und jede wir in Deutschland, die selbst unsere Mitbürger in
Veränderung blockieren, werden wir die Zukunft den neuen Ländern haben, haben die Menschen in
verspielen. Mittel- und Osteuropa, die Menschen in der ehemali-
gen Sowjetunion viel größere Probleme mit den hi-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) storischen Veränderungen, mit denen auch histori-
sche Chancen verbunden sind. Deswegen lassen Sie
Deswegen ist die größte Chance, die die deutsche
uns nicht so kleinmütig und kleinkariert nur auf un-
Einheit uns allen eröffnet, die Chance zu begreifen,
sere eigenen Probleme schauen. Gerade weil wir un-
daß wir mit einem größeren Maß an Innovation, mit
sere wiedergewonnene Einheit in Frieden und Frei-
einem größeren Maß an Veränderungsbereitschaft,
heit unserer jahrzehntelangen konsequenten Politik
mit einem größeren Maß an Mut und nicht an Miß-
der Westintegration, der europäischen Einheit und
mut, auch liebgewordene Besitzstände auf den Prüf-
des Ausgleichs zwischen Ost und West verdanken, -
stand zu stellen, eine bessere Chance für eine gute
schulden wir unser Engagement unseren Nachbarn
Zukunft für alle Deutschen in West, Ost, Nord und
im Osten und der europäischen Einigung.
Süd haben werden. Dieser Aufgabe müssen wir uns
stellen.
Wir wären der Chance nicht we rt , die wir mit der
Es wird von vielen gesagt - man kann es an einem deutschen Einheit in Frieden und Freiheit gewonnen
solchen Tag noch einmal sagen -: Im Osten hat der haben, wenn wir jetzt nicht unsere gemeinsame Kraft
ganz eigene Lebensweg in diesen 40 Jahren vieles einbringen würden, um dieses Europa zu einem Kon-
an Schwierigkeiten mit sich gebracht: die Introver- tinent sicheren Friedens in Einheit zu machen. Des-
tiertheit der Menschen, die eingesperrt waren, die wegen ist es unsere Aufgabe im vereinten Deutsch-
nicht mit ausländischen Mitbürgern zusammenge land, uns jetzt um so mehr für die europäische Eini-
5088 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Dr. Wolfgang Schäuble


gung, und zwar für die Einigung ganz Europas und Freiheit und Demokratie sind, nicht zusammenarbei-
nicht nur bis zur Oder und Neiße, zu engagieren tet.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
und der F.D.P.) ordneten der F.D.P.)
Herr Scharping, als Sie von Kassandra und Troja ge-
und unsere Beiträge dazu zu leisten, daß die Europä-
redet haben, habe ich an Magdeburg gedacht. Pas-
ische Union vorankommt, aber zugleich auch die
sen Sie auf, daß Sie mit Ihrer Zusammenarbeit mit
Kraft und Dynamik bewah rt , sich nach Osten zu er-
der PDS nicht zum trojanischen Esel werden, der den
weitern. Wir müssen unseren russischen Freunden
Feinden der Demokratie das Tor neu öffnet!
immer wieder erklären, daß die europäische Eini-
gung nicht gegen sie gerichtet ist, sondern auf Zu- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
sammenarbeit auch mit Rußland angelegt ist. Wir ordneten der F.D.P. - Joseph Fischer
wollen nicht eine Konfrontation, sondern wir wollen [Frankfu rt ] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Zusammenarbeit, weil wir nur in einem Europa der Da habe ich doch heute morgen Herrn Gysi
Zusammenarbeit den Frieden, die Freiheit, die De- und Herrn Kohl zusammen auf einem Foto
mokratie und die Menschenrechte sichern und zum gesehen! Das war in Frankfu rt !)
wirtschaftlichen und sozialen Wohlstand aller beitra-
gen können. - Herr Fischer, zu einer vernünftigen und realisti-
schen Bilanz gehört z. B. auch, einmal zu verglei-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir reden oft dar- chen, was unter dem real existierenden Sozialismus
über: Wie können die Deutschen das, was sie nach an Umweltschäden ange ri chtet worden ist und was
45 Jahren an unterschiedlichen Erfahrungen, an un- die Soziale Marktwirtschaft unter der Regierung von
terschiedlichen Lebenswegen und Lebenswelten Helmut Kohl in den letzten fünf Jahren an Umwelt-
trennt, überwinden? Es ist trennender, als viele, auch schäden beseitigt hat. Darüber ist mit keinem Wo rt
ich, 1990 geglaubt haben. Aber es ist eigentlich lo- gerdtwon.
gisch. Jemand, der so alt ist wie ich, hat bis zur deut-
schen Einheit immer nur in einem geteilten Deutsch- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. -
land bewußt gelebt. Ich bin 1942 geboren. Soweit ich Joseph Fischer [Frankfu rt ] [BÜNDNIS 90/
mich zurückerinnern kann, war Deutschland schon DIE GRÜNEN]: Kommt jetzt die Ökosteuer,
geteilt. Wir waren sehr getrennt, und die Menschen oder kommt sie nicht? - Heiterkeit beim
in der DDR waren eingesperrt. Deswegen sind un- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD
sere Einstellungen und Erfahrungen so unterschied- und der PDS)
lich. Wir müssen aufeinander zugehen, miteinander, - Das ist das Niveau, mit dem Sie über die Probleme
nicht übereinander reden, dürfen nicht auseinander- der deutschen Einheit reden, Herr Kollege Fischer.
treiben, nicht die einen gegen die anderen ausspie-
len und nicht über die Probleme hinwegreden. Wir (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
dürfen aber die Fortschritte, die erreicht worden ordneten der F.D.P.)
sind, nicht vergessen und das Große und Gute neben
Das Allerwichtigste ist, daß wir begreifen - das
dem, was weiter zu tun ist, nicht aus dem Blick ver-
wiederhole ich -, daß es die Verpflichtung für uns
lieren.
selbst in der Mitte Europas, aber auch für unsere
Wir finden, glaube ich, am besten zusammen, Nachbarn in Europa in West und Süd und in Nord
wenn wir über unsere gemeinsamen Aufgaben, über und Ost ist, zum Frieden, zur Freiheit und zur Demo-
unsere gemeinsame Verantwortung für unsere Zu- kratie in Europa beizutragen.
kunft und für die Zukunft Europas stärker nachden- Weil wir die deutsche Einheit der europäischen Ei-
ken. Das Allerwichtigste für die nächsten Jahre wird nigung, dem Mitwirken und dem Einsatz unserer
neben der Fortsetzung der Hilfe für den Aufbau der Nachbarn und Freunde in Ost und West verdanken,
neuen Bundesländer und der Lösung der Probleme, schulden wir die deutsche Einheit dem Frieden in
die noch zu lösen sind und die wir Woche für Woche, Europa. Deswegen müssen wir uns für die europä-
angefangen beim Renten-Überleitungsgesetz, im ische Einigung sowie für die Bewahrung, Wiederher-
Bundestag bearbeiten müssen, sein, zu begreifen, stellung und Sicherung des Friedens in Europa ein-
daß wir eine gemeinsame Verantwortung haben, un- setzen, und zwar, Herr Kollege Fischer, nicht nach
ser Land als eine stabile freiheitliche Demokratie dem Prinzip: Wir kämpfen bis zum letzten Franzosen,
auch in der Zukunft zu bewahren. wie Sie es schriftlich verkünden, sondern nach dem
Prinzip, daß wir das, was wir von anderen fordern,
Für den Rechtsstaat, für den inneren Frieden ist auch selbst zu leisten bereit sind. -
eine Menge zu tun. Man muß den Rechtsstaat z. B.
verteidigen und darf ihn nicht verkommen lassen, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
wie es bei den Chaostagen in Hannover geschehen
ist. Wenn der Rechtsstaat nicht durchgesetzt wird, Wenn wir die Aufgaben und Herausforderungen
verkommen Freiheit und Recht. so verstehen, vor die wir Deutsche uns heute gestellt
sehen, sowie unsere Verantwortung für uns selbst
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) und für andere wahrnehmen, kann uns dies helfen,
zu uns selbst zu finden. Das ist vielleicht der beste
Da gibt es noch anderes. Man sollte z. B. daraus ler Weg, unsere Identität zu erklären; wir sollten nicht
nen, daß man mit denjenigen, die nicht sicher für abstrakt darüber diskutieren.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5089
Dr. Wolfgang Schäuble
Ich bin ganz sicher, daß jeder gemeinsame Erfolg Steuererklärung bis hin zum Rufzeichen im Telefon.
bei diesen Bemühungen die Frage klarer beantwor- Alles, aber auch alles hat sich verändert. Durch die
ten wird, wer wir sind und was wir wollen. Ich bin Art der Vereinigung allerdings, die eine Mischung
sicher, daß wir im Verstand wie im Herzen - denn aus Beitritt und kollektivem Ausreiseantrag war, ist
beides, Ratio und Emotio, gehört zusammen; das Ge- ihnen bei allem Für und Wider zunächst das abver-
fühl der Menschen ist auch wichtig - die Gemein- langt worden, was sie zuallererst abschütteln woll-
schaft begründen, die notwendig ist, schwierige Zei- ten: das erzwungene Anpassungsvermögen.
ten zu bestehen, die in der Zukunft gewiß vor uns lie-
gen. Die Westdeutschen haben diese rasante Lebens-
umstellung teils ganz persönlich und vor allem fi-
Die Herausforderungen und die Veränderungen in nanziell unterstützt. Sie haben hier in dankenswerter
der Welt sind groß. Der Friede und auch die Umwelt Weise Wichtiges und Wertvolles geleistet.
bleiben bedroht. Die Demokratie muß immer neu be-
wahrt werden. Aber mir ist vor diesen Herausforde- Doch für sie ist die neue Bundesrepublik eigentlich
rungen nicht bange. Ich finde, wir haben gerade fünf die alte geblieben. Leider wurde der Aufbruch des
Jahre nach der deutschen Einheit überhaupt keinen Ostens nur als Zusammenbruch des Systems verstan-
Grund zu Pessimismus und Mißmut, sondern wir ha- den, wurde die Chance zur Inventur in Ost und West
ben allen Grund zu Mut und Zuversicht. So - dessen verkannt oder nicht gewollt, wurde die demokrati-
bin ich sicher - dienen wir am besten der Einheit, sche Reformchance vertan. Hätte man den Elan zur
und so sichern wir am besten unsere Zukunft. politischen Veränderung aufgegriffen, wäre schnell
(Langanhaltender Beifall bei der CDU/CSU klar geworden, daß die Ostdeutschen mehr als ein
und der F.D.P.) Dauerlamento, verschlissene Bet riebe oder einen un-
aufgeräumten Keller voller Stasi-Akten in die Einheit
einbringen.
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Es spricht jetzt der
Kollege Werner Schulz. Verschwunden ist der Instant-Glaube, daß man ein
Westkonzentrat nur kräftig umrühren muß, um sofort
Werner Schulz (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- die fertige Lösung zu bekommen. Heute ist klar: Es
NEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! gibt keine schnellen und schon gar keine billigen Lö-
Ich hatte eigentlich geglaubt, daß uns heute bei eini- sungen. Wir Ostdeutschen werden die verlorenen
gem zeitlichen Abstand zum 3. Oktober eine Diskus- Jahre vermutlich erst in Generationen aufholen.
sion mit Feiertagspathos erspart bleibt. Doch warum konnten und können wir uns darüber
nicht verständigen? Politik muß doch Orientierung
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN geben und mehr sein als schnelles Reagieren und
sowie bei Abgeordneten der SPD und der Aussitzen.
PDS)
Die Einheit, Herr Bundeskanzler, war kein Glücks-
Schließlich ist ein Jubiläum ohne großen Jubel vor-
fall, sondern die Selbstbefreiung einer aktiven Gene-
bei. Vielleicht können wir das nächste Mal sogar dar-
ration,
auf verzichten, mit großem Zapfenstreich die Einheit
der Armee als Zeichen unserer wiedererlangten Sou- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
veränität zu demonstrieren. Das brauchen wir am al- und bei der SPD)
lerwenigsten.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die ihre Leistungsbereitschaft ins vereinte Deutsch-
sowie bei Abgeordneten der PDS) land einbringen wollte und zusehen mußte, wie das
Volkseigentum und die Arbeitsplätze verlorengin-
Die Stimmung im Land hat sich zwischen Euphorie gen, wie im Zeitraffertempo ein halbes Volk zum
und Ernüchterung eingependelt. Weder die begei- Hans im Glück geworden ist.
sterten Optimisten noch die Katastrophen vorausse-
henden Pessimisten haben recht behalten. Nach wie Warum konnte diese Bundesregierung den Bürge-
vor gehen im Osten Lage und Stimmung auseinan- rinnen und Bürgern nicht wenigstens die Wohnun-
der. Vielen geht es heute materiell besser als vor fünf gen zum symbolischen Preis überlassen,
Jahren. Sie fühlen sich politisch frei, aber sozial unsi-
cher. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Die demokratischen Grundrechte gehören zur
Grundausstattung dieser Republik, Werte, die ge- wo sie doch weiß, daß Eigentum verpflichtet, wo sie
rade nach Jahrzehnten der Unterdrückung, der ideo- doch weiß, daß es in der DDR keine Vermögensbil-
logischen Bevormundung und der geistigen Enge dung gab, wo heute viele den drastischen Anstieg
zählen. Andererseits sind die alten sozialen Sicher- der Wohnkosten erleben, obwohl sich die Wohnungs-
heiten weggebrochen und die neuen noch nicht qualität oder der Service der Wohnungsverwaltun-
greifbar oder ungewiß. gen nicht verbessert hat? Sie erleben heute Miet-
(Zuruf von der CDU/CSU: Welche denn?) erhöhungen als soziale Bedrohung und nicht als Ein-
bindung in die neue Gesellschaft.
Im Osten wurde Enormes geleistet. Die Ostdeut-
schen mußten in kürzester Zeit die völlige Verände- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
rung ihrer Lebensverhältnisse bewältigen, von der und bei Abgeordneten der SPD)
5090 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

We rn er Schulz (Berlin)
Immerhin wurden ja Banken und Bet riebe für'n Das liegt auch daran, Herr Bundeskanzler, daß Sie
Appel und 'n Ei verkauft - übrigens ein Naturalzah- am 3. Oktober 1990 nicht den Mut hatten, die Neu-
lungsmittel, das seit der Währungsunion offenbar ordnung Deutschlands anzugehen, daß Sie den Epo-
hoch im Kurs steht. cheumbruch nicht als Reformchance begriffen ha-
ben,
(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
daß Sie in einer historischen Umbruchsituation dar-
Ich möchte auch mit einer anderen Legende auf- auf verzichtet haben, die Fülle der in der Gesell-
räumen, Herr Bundeskanzler; auch Herr Schäuble schaft vorhandenen Sachkompetenz und Bereitschaft
bedient das ja immer so wunderbar: „Verrat" und zur Mitverantwortung aufzugreifen, daß Sie die Ein-
„Verweigerer der deutschen Einheit" . Das sind im- heit eben nicht als Gestaltungschance beg riffen, son-
mer diese tollen Verschwörungsdiskussionen. Ich dern als Wahlkampfrennen veranstaltet haben.
will Ihnen sagen, was es gab: keinen Verrat; es gab
keine Visionen für dieses vereinigte Deutschland, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
keinen Bauplan, noch nicht einmal Skizzen. und bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der PDS)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich erinnere: „Allianz für Deutschland" hieß die
Weder Ihre Deutschlandpolitik, die der Union, noch Allunionsversicherung, die sich heute schwertut, ihre
die Strategie „Wandel durch Annäherung" haben Garantien einzulösen und ihre eigenen Schadens-
den Durchbruch geschafft. Selbst die Dissidenten, fälle zu übernehmen. Schon wieder wird der Solidari-
selbst wir, die wir vielleicht die einzigen wenigen wa- tätszuschlag ganz bewußt zum Wahlkampfthema ge-
ren, die dem SED-Regime noch Widerstand entge- macht. Schon wieder werden Sympathietests auf
dem Rücken der Solidarität veranstaltet.
gengebracht haben, haben ja nicht geglaubt, daß
sich der Mauerdurchbruch eines Tages ereignen Nicht die innere Einheit ist unser Problem, meine
könnte, daß ein bis an die Zähne bewaffneter Staat Damen und Herren; das ist eher ein Suchbild mit
plötzlich zusammenbricht wie eine Plattenbausied- fragwürdigem Inhalt. Die innere Einheit, das Zusam-
lung, in der die Armierung durchgerostet ist. mengehörigkeitsgefühl der Deutschen, ist längst da,
stärker, als uns offenbar bewußt ist. Heute läßt sich
(Zuruf von der F.D.P.: Wir aber! - Zurufe feststellen: Die Akzeptanz der staatlichen Vereini-
von der CDU/CSU) gung ist gewachsen, allerdings auch die Kritik an de-
ren Folgen.
Vielleicht wäre es gut gewesen, Herr Bundeskanz-
ler, Sie wären schon früher einmal in den Prenzlauer Niemand will die DDR wiederhaben oder erhebt
Berg zu den mutigen Bürgerrechtlern gefahren. ernsthaft die Forderung nach Zweistaatlichkeit. Den-
noch besteht eine nationale Schieflage.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Was wir brauchen, ist ein inneres Gleichgewicht.
sowie bei Abgeordneten der SPD) Wie weit wir davon noch entfernt sind, kann jeder er-
messen, der einmal drüben war. Vielleicht ver-
Dann hätten Sie etwas über deren Vorstellungen ge- schwindet in einigen Jahren sogar dieses Trennwort
hört, wie sie sich den Weg zur deutschen Einheit vor- aus unserem Sprachgebrauch. Vielleicht ist das ein
gestellt haben, nämlich durch einen demokratischen Kriterium dafür, wie die Einheit entsteht; so wie die
Prozeß, und dann hätten Sie nicht mit dieser Igno- Ostdeutschen lernen, daß die Zeit der Westpakete
ranz das Vermächtnis des Runden Tisches, die Ver- vorbei ist.
fassung des Runden Tisches weggewischt.
Von Anfang an hat ein solider, klar umrissener La-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stenausgleich gefehlt. Er kam durch die Hintertür:
sowie bei Abgeordneten der SPD) Der Kanzler hat den Ostdeutschen versprochen, die
D-Mark zu bringen, und den Westdeutschen gesagt,
Das bleibt als Makel stehen. Der Art. 146 GG zeigt, daß er sie ihnen nicht nehmen will. Das eine hat er
daß Sie über die Köpfe der Leute hinweg die deut- gehalten, das andere nicht. An diesem wunden
sche Einheit gemacht haben. Sie haben den Ruf „Wir Punkt laborieren wir noch heute.
sind das Volk" nicht ernstgenommen, so wie gerade
eine große Volkspartei in Bayern ganz weit neben (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
der direkten Demokratie stand. sowie bei Abgeordneten der SPD)
Es ist wahr, meine Damen und Herren, bisher ist
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN viel erreicht worden: Ohne Fünfjahresplan ist der
sowie bei Abgeordneten der SPD) Aufbau in den neuen Ländern ein gutes Stück voran-
gekommen. Verwaltungen arbeiten, das Rechtssy-
Noch immer fehlt ein politischer Entwurf für das stem funktioniert, Löhne und Renten nähern sich -
vereinte Deutschland. Genauer betrachtet, lebt wenn auch manchem viel zu langsam - dem west-
Deutschland noch immer in zwei Gesellschaften. deutschen Niveau an, die Qualität der Infrastruktur
wird immer besser, die Wiederbelebung der Wi rt
(Widerspruch bei der CDU/CSU) -schaftzeigrsEfolge.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5091
Werner Schulz (Berlin)
Es wäre verbohrte Opposition gegenüber dieser Ausgleich für Bonn kosten? Muß Bonn erst in Berlin
Regierung, nicht anzuerkennen, daß auch ihr Bemü- nachgebaut werden, oder können nicht vorhandene
hen um den Aufbau Ost nicht völlig erfolglos war. Möglichkeiten besser genutzt werden? Welche För-
Der Bundeskanzler hat eine Bilanz geboten, was er dermittel und -maßnahmen erhalten andere Pro-
alles auf der Glanzseite seines Guthabens sieht. Al- blemregionen? Schaffen wir mit Berlin-Bonn nicht ei-
lerdings verdeckt seine Regierungspolitik der Wo rt nen schwer nachvollziehbaren Maßstab?
-undWertschöpfg,aßwieChncvrta
Wie kann der Sozialstaat durch die stärkere Beteili-
hat, z. B., daß mit dem Neuaufbau der Verwaltung in
gung, durch das stärkere Engagement der Staatsbür-
den neuen Ländern auch eine Verwaltungsreform in
ger gesichert werden? Wie können die Renten gesi-
ganz Deutschland hätte durchgreifen können.
chert werden - hier hat die Regierung sicherlich
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht ganz uneigennützig schon vieles getan -, und
sowie bei Abgeordneten der SPD) wie kann gleichzeitig den Kindern und Jugendlichen
eine angemessene Perspektive eröffnet werden?
So wurden die verkrusteten Strukturen, ein Wust an Wieviel Beamte braucht dieser Staat, und wo braucht
Vorschriften einfach unkritisch in den Osten übertra- er sie? Das sind Fragen und vor allen Dingen auch
gen. Hier wurde ein Investitionshemmnis ersten Ran- Versäumnisse.
ges geschaffen. Hätte die alte Bundesrepublik in ih-
ren Gründerjahren auf ein solch kompliziertes Regel- Aber in den letzten Jahren sind auch schwerwie-
werk, auf eine solche Regelungsdichte zurückgreifen gende Fehler passiert: So sieht der Einigungsvertrag
müssen, ich glaube, sie würden noch heute auf das keine Korrektur von Fehlentwicklungen vor. Es gibt
Wirtschaftswunder der 50er Jahre warten. keine Öffnungsklausel, nach der falsche Weichen-
stellungen berichtigt werden können. Er hat sich vie-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lerorts als Korsett für den Gestaltungswillen im Osten
sowie bei Abgeordneten der SPD) erwiesen.
Statt den industriellen Aufbau der neuen Bundes- Oder nehmen Sie z. B. nur die Altschulden. Hier
länder für den ökologischen Strukturwandel in ganz lauert ein Konflikt, gegen den die Zwick-, Schneider-
Deutschland zu nutzen, wurde die schnelle Priva- und Graf-Affären wirklich Peanuts sind. Mit einem
tisierung durch die Treuhand priorisiert und wurden Federstrich wurden aus willkürlichen Verrechnungs-
westdeutsche Gebrauchsmuster übernommen. Statt einheiten D-Mark-Schulden in der Landwirtschaft,
die Hauptstadtfrage eindeutig im Einigungsvertrag beim Wohnungsbau, in den Kommunen oder bei vie-
zu regeln und mit dem schnellen Regierungsumzug len Betrieben der Treuhand. Obwohl ansonsten alles
nach Berlin ein Beispiel für den Umbau zu leisten, abgewickelt wurde, alles negiert wurde, wurde hier
wurde eine quälende Ersatzdebatte zur deutschen einer der fragwürdigsten Posten aus dem Unrechts-
Einheit zugelassen. Statt den Zusammenschluß für staat ohne Abstriche in den Rechtsstaat übertragen.
eine Bestandsaufnahme der sozialen Systeme zu nut-
zen, wurden die Sozialkassen für den Aufbau Ost (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zweckentfremdet. Nicht einmal ansatzweise wurde sowie bei Abgeordneten der SPD)
die deutsche Einheit als Ausgangspunkt für einen Gewinner sind die Banken, über die diese Forderun-
Reformprozeß genutzt. gen gekommen sind wie die Sterntaler im Märchen.
Zwar hat jetzt die Bundesregierung das Haupt- Die gleichen Banken, die die großen Gewinner der
manko des Einigungsvertrages, daß die neuen Län- Einheit sind, lassen heute die ostdeutschen Existenz-
der die ersten vier Jahre nicht in den Länderfinanz- gründer bei der Vergabe von Risikokapital im Stich.
ausgleich einbezogen waren, durch einen Solidar- Wegen der sogenannten kommunalen Altschul-
pakt ausgeglichen, doch war dieser Pakt mehr ein den will der Bundesfinanzminister in der kommen-
Vertrag der Länder zu Lasten des Bundes, wie über- den Woche sogar Mahnbescheide an 1 200 ostdeut-
haupt der Beitrag der Länder zur deutschen Einheit sche Kommunen verschicken. Dabei brauchen wir
nicht gerade ein Ruhmesblatt der föderalen Ge- keine buchhalterische, sondern eine politische Lö-
schichte darstellt. sung.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) sowie bei Abgeordneten der SPD)
Ein wirklicher Solidarpakt im Sinne eines Grundkon- Der Bundesfinanzminister leistet dem Aufbau Ost ei-
senses, im Sinne eines neuen Gesellschaftsvertrages, nen sehr fragwürdigen Dienst, wenn er weiterhin auf
den diese Republik unbedingt braucht, steht aller- seiner sturen Position beharrt und womöglich ein
dings erst noch aus. weiteres Mal durch Karlsruhe belehrt wird.
Eine Regierung im vereinten Deutschland muß Die Bundesregierung hat es bisher vorgezogen,
sich an der Zukunftsdebatte messen lassen. Hier ei- auf eine Gesamtschau der Entwicklung zu verzich-
nige Themen: Können wir unsere föderale Grund- ten. Seit fünf Jahren gibt es keine verbindliche Dar-
ordnung auch angesichts der europäischen Entwick- stellung des Entwicklungsstandes, keine Zielvorga-
lung tatsächlich noch mit 16 bzw. 15 Ländern auf- ben, keine Kriterien, keine Zeithorizonte. So begei-
rechterhalten? Oder sollten nicht dem Beispiel Ber- stert, wie früher der Be richt zur Lage der Nation dis-
lin-Brandenburg andere folgen? Was wird aus dem kutiert wurde, so wenig scheint die Bundesregierung
Aufbau einer modernen Infrastruktur? Was darf sie heute an Klarheit, Verbindlichkeit und Übersicht in-
kosten? Was dürfen der Umzug nach Berlin und der teressiert zu sein. Das Motto des Bundeskanzlers lau-
5092 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995
Werner Schulz (Ber li n)
tet: Wer nichts verspricht, dem kann man nachher Geradezu paradox ist es allerdings, daß ausgerech-
auch keine Vorwürfe machen, und der Vorwurf der net der Kanzler, der die höchste Arbeitslosigkeit seit
Steuerlüge bleibt dem erspart, der sich zur Steuer- der Weimarer Republik zu verantworten hat, in einer
politik gar nicht erst äußert. Situation, in der ganze Jahrgänge in den Vorruhe-
stand gehen, über das verdiente Rentenalter hinaus
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einen Dauerarbeitsplatz besetzen will.
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Die politische Entscheidung zur Einheit Deutsch-
Insofern brauchen wir einen Be richt zur Entwick- lands war wi rt schaftlich falsch. Damit wurde ein
lung der deutschen Einheit. Wir sollten nicht aus den Schock ohne Therapie ausgelöst, der viele Bet ri ebe
Sensationsmeldungen deutscher Wochenmagazine die Existenz kostete. Das ist heute unumst ri tten. Da-
über die nächsten Milliardengräber informiert wer- mit ist zwar der Übergang von der Plan- zur Markt-
den, sondern diese Regierung hat die Auskunfts- wirtschaft gelaufen, aber er ist nicht gelungen. In
pflicht. diesem Zusammenhang von einer einzigartigen Er-
folgsstory zu sprechen, wie der Wi rt schaftsminister
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN das tut, ist zumindest für einen ehemaligen Treu-
sowie bei Abgeordneten der SPD) handdirektor ein erschreckender Fall von Verantwor-
tungsvergessenheit.
Die kostenlose Einheit hat sich als grandiose Illu-
sion erwiesen. Im fünften Jahr der deutschen Einheit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
hat die Staatsverschuldung eine neue Rekordmarke
erreicht. Eine Haushaltskonsolidierung ist nicht in Zumindest ein paar Moritaten müßten ihm doch noch
Sicht. Gespart wird allenfalls bei Sozialhilfe und Ar- geläufig sein.
beitslosengeldern, also bei den Ärmsten in dieser im-
mer noch reichen Gesellschaft. Es wäre schon gut ge- Sicher, der Aufschwung Ost findet statt, nur kann
wesen, meine Damen und Herren von der Regie- er nicht alle gebrauchen. Auch das ist eine herbe Er-
rungsbank, die Beamten und Selbständigen an der fahrung aus fünf Jahren Währungs-, Wirtschafts- und
Rentenkasse und damit an der deutschen Einheit zu Sozialunion, von der immerhin mehr erwartet wurde
beteiligen. Dann hätten wir an dieser Stelle kein Mil- als eine Konkursverwaltung mit Sozialplan.
liardenloch.
Noch steht die ostdeutsche Wi rt schaft nicht auf ei-
genen Beinen, noch hängt das Wachstum am Förder-
Ost- und Westdeutsche wurden immer wieder im
mitteltropf. Noch ist die indust rielle Basis zu
unklaren gelassen über die mit der Vereinigung ver-
schwach, und andere Wi rt schaftszweige können
bundenen Umwälzungen und auch Belastungen.
nicht im erforderlichen Umfang wachsen.
Das ständige Theater um Einführung, Abschaffung,
Wiedereinführung und Absenkung des Solidarzu-
Die Wertschöpfung in den neuen Bundesländern
schlags ist ermüdend, frustiert und erzeugt Ableh-
muß steigen, und das unter verschärften weltweiten
nung. Die Regierung muß den Bürgern in Ost und
Konkurrenz- und Wettbewerbsbedingungen. Immer-
West endlich klar sagen, was auf sie zukommt, wel-
hin haben Polen und Tschechien einen selbsttragen-
che Veränderungen notwendig sind und welche La-
den Aufschwung auf niedrigem Niveau erreicht. Die
sten zu tragen sind.
neuen Bundesländer sind hingegen noch weit davon
entfernt, ihr höheres Einkommen selbst zu erzeugen.
Es wäre gut, wenn wir nicht gleich in die nächste Auch das hat Einfluß auf die Stimmung.
Währungsunion hineinstolperten, wenn der Finanz-
minister zumindest aus dieser lernte und durch dis- Fünf Jahre nach der staatlichen Vereinigung
krete Hilfe den osteuropäischen Staaten die Annähe- Deutschlands gibt es noch nicht den Wirtschafts-
rung an die EU ermöglichte, anstatt durch Indiskre- standort Deutschland, sondern deren zwei, einen
tion ein finanzpolitisches Kerneuropa heraufzube- westdeutschen, dessen strukturelle Defizite jetzt ans
schwören. Licht kommen, und einen östlichen, der sich trotz
mancher positiven Entwicklung in einer immer noch
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schwierigen Situation befindet.

Die wichtigste und vorrangigste Aufgabe, an der Heute gibt es kein Ostprodukt mehr mit bundes-
sich jede Regierung im vereinten Deutschland mes- weiter oder gar internationaler Bedeutung, weder im
sen lassen muß, ist die Eindämmung der Arbeits- Konsumgüter- noch im Investitionsgüterbereich.
losigkeit. Es gilt, neue Arbeitsplätze und damit
Vertrauen in die Zukunft zu schaffen. Das ist zual- In Ostdeutschland sind kaum noch größere Unter-
lererst natürlich eine Herausforderung an die Wi rt nehmen. Es gibt keinen einzigen überregional wich-
-schaft. tigen und wirklich ständigen Firmensitz. Infolgedes-
sen zeigt sich die Industrie als die entscheidende
Aber vorhandene Arbeit muß auch gerecht verteilt Schwachstelle der ostdeutschen Wirtschaft. Hier ist
werden. Vielleicht können wir hier mit unseren Er- Strukturpolitik erforderlich. Die Bundesrepublik hat
fahrungen aus der Mangelgesellschaft behilflich es bisher vermieden, diese zu betreiben. Und da, wo
sein, zumindest mit dem Wissen, daß etwas, was sie Strukturpolitik gemacht hat, z. B. beim Stromver-
knapp ist, gerecht verteilt werden muß. trag, hat sie dafür gesorgt, daß ausgerechnet die aus-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5093
Werner Schulz (Berlin)
Betretensten Wege des Westens in den Osten verlän- die Blaupausen gesetzt, die Termine vorbereitet und
gert werden. Gerade mit der jetzt ausgebliebenen Juristen an einen Einigungsvertrag gesetzt? So war
Sanierung des Fernwärmenetzes wird schwerer das doch nicht. Deshalb ist nicht die Kritik ange-
Schaden ange richtet. bracht, es hätte eine große Vision gefehlt, sondern es
war das Glück der Stunde. Ich weiß jedenfalls noch,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN daß seit dem 9. November 1989 wöchentlich 15 000
sowie bei Abgeordneten der SPD) Menschen aus der damaligen DDR in den Westen ka-
Da, wo die Chancen des Ostens eigentlich liegen men. Die sagten nicht nur: „Wir sind das Volk!", son-
könnten, verweigert man ihm den Anschluß. dern sie sagten: „Wir sind ein Volk, und wir wollen
zur D-Mark, wenn die D-Mark nicht zu uns kommt."
Deutsche Einheit - um ein Dichterwort aufzugrei-
fen - ist „ein weites Feld" . Deswegen am Ende mei- Diese kurze historische Stunde unter Beteiligung
ner Rede zwei Überlegungen: schon erwähnter Persönlichkeiten, insbesondere des
damaligen sowjetischen Präsidenten Gorbatschow, in
Erstens. Die Deutschen haben im Osten wie im diesem Zeitfenster der Geschichte genutzt zu haben,
Westen in Nischengesellschaften gelebt. 40 Jahre das war die Stunde von Hans-Dietrich Genscher und
DDR und Bundesrepublik, die Zeit vor und hinter der Helmut Kohl, die die Vorgänge mitgestaltet haben,
Mauer, sind vorbei. Die Politik und politische Gene-
ration des Mauerfalls muß lernen, mit großen Proble- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
men und Konflikten zu leben. und die Stunde der 17 Millionen, die in friedlicher
Zweitens. Wir leben nach den Wendezeiten in Revolution die entscheidenden Anstöße gegeben ha-
West und Ost in einer Zeitenwende, in einer kompli- ben.
zierten ungewissen Umbruchsituation. Noch haben Niemand konnte sich darauf vorbereiten. Niemand
wir Zeit, wenn auch keine mehr zu verlieren. Die Zu- hat damit gerechnet. Wir können es als großes Glück
kunft Deutschlands wird sich daran entscheiden, wie empfinden, daß es gelungen ist. Das war die Situa-
wir den Reformstau auflösen, ob wir daran glauben, tion vor fünf Jahren. Es war keine Vision, keine
daß das westdeutsche Modell nicht nur nach Ost- große Vorbereitung, nur ein Fünkchen Hoffnung -
deutschland, sondern auch ins nächste Jahrtausend und dann das große Glück heute.
übertragen werden kann, oder ob wir eine gemein-
same, eine gesamtdeutsche Antwort auf die verän- Nach fünf Jahren sagen wir: Wir haben vieles un-
derten Bedingungen in Europa und die weltweiten terschätzt. Im Grunde geht es mir nicht nur um die
Herausforderungen finden. Frage, wieviel Finanzen man aufwenden muß. Wir
haben das tiefe Maß der geistigen und seelischen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zerstörung, die das ostdeutsche Regime ange richtet
sowie bei Abgeordneten der SPD) hat, gewaltig unterschätzt.
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU -
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Es spricht als näch-
Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) ,
ster der Kollege Dr. Wolfgang Gerhardt.
Daß es Geld kostet, wissen wir alle. Daß es aber hin-
Dr. Wolfgang Gerhardt (F.D.P.): Frau Präsidentin! ter dem Skelett eines damals zusammenbrechenden
Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute Staates nichts an Infrastruktur, nichts mehr an politi-
über einen Zeitraum von fünf Jahren deutscher Ein- scher Beteiligung an einem Führungssystem und
heit. Ich glaube, es läuft schwieriger, als wir alle am überhaupt kein Funke rechtsstaatlichen Bewußtseins
Anfang ahnen konnten, es läuft aber besser, als wir gab, daß, wie Ch ristian Graf von Krockow in seinem
bereit sind, uns gegenseitig öffentlich zuzugestehen Buch „Die Deutschen vor ihrer Zukunft" schreibt,
und auch offen zu berichten. dieses System in 40 Jahren beim Menschen Antriebs-
armut erzeugt hat, die wir heute überwinden müs-
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) sen, ist die Wahrheit über den inneren Zustand, über
die offen gesprochen werden muß.
Es gab im übrigen auch damals unterschiedliche
Bewertungen. Wir alle haben noch Menschen im Ge- (Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg.
dächtnis, die wirklich die Vereinigung unseres Lan- Eduard Oswald [CDU/CSU])
des nicht wollten. Ich kenne solche und habe wel-
chen gegenübergestanden, die vor der Wiederver- Wenn wir nämlich weiterkommen wollen, genügt
einigung gewarnt haben, wie der hessische Minister- keine Bilanz der wirtschaftlichen Förderprogramme
präsident Eichel; und der Herr Kollege Schäuble hat oder eine Betrachtung der strukturellen Schwächen
zu Recht den saarländischen Ministerpräsidenten oder eine unterschiedliche Diskussion über indu-
Lafontaine zitiert. So war es. strielle Kerne. Vielmehr stellt sich die Frage, ob un-
sere deutsche Gesellschaft die Kraft entwickeln
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) kann, die nächsten Jahre noch erfolgreicher zu ge-
stalten. Da müssen wir über Hemmnisse, Struktur-
Es gab einige, die zwar wußten, daß das historisch probleme und vieles mehr sprechen.
unumgänglich ist, aber sie hatten ernsthafte Pro-
bleme in der Verarbeitung. Und es gab welche, die Herr Schulz, Sie haben zu Recht gesagt, daß es um
hatten - wie auch wir - nicht daran geglaubt, daß die die Erkenntnis geht, daß es kein „vor und hinter der
Vereinigung in diesem Jahrhundert stattfindet. Wer Mauer" mehr gibt; das ist richtig. Wir müßten ge-
hat denn hier zehn Jahre vorher das Datum gewußt, meinsam daran arbeiten, daß sich diese Erkenntnis
5094 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Dr. Wolfgang Gerhardt


in ganz Deutschland durchsetzt. Denn ich habe die einen Betrieb führen, nicht, daß die Gewerbekapital-
große Befürchtung, daß viele im Westen geglaubt ha- steuer wegfallen und in den neuen Ländern gar nicht
ben, daß die Vereinigung nur große Veränderungen eingeführt werden sollte, wenn wir etwas für die Be-
für die Menschen im Osten b ringe. Erst jetzt merken schäftigung tun wollen.
sie, daß es für uns im Westen genauso viele Verände-
rungen gibt. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Es reicht auch längst nicht mehr aus, zu sagen, die


Der Herr Kollege Schäuble hat zu Recht angespro-
Lage sei nur entstanden, weil - sicherlich ein wichti-
chen, wir hätten die große Chance, viele strukturelle
ger Grund - die Märkte in den früheren RGW-Staa-
Schwächen, viele Schieflagen in unserem Denken
ten weggebrochen sind. Das reicht nach fünf Jahren
und viele Veränderungsnotwendigkeiten auch im
als Feststellung nicht mehr aus. Wir haben eine Glo-
Westen mit der Wiedervereinigung zu beseitigen. Es
balisierung der Märkte, und wir haben verstärkten
ist wahr: Im Westen hat sich angesichts von Mauer
Wettbewerb in Hochlohnländern. Aber wir starren
und Stacheldraht in 40 Jahren wi rtschaftlicher
alle wie das Kaninchen auf die Schlange. Wir reagie-
Wachstumsraten ein ähnliches Denken herausgebil-
ren zu defensiv. Die gesamten Tarifvertragsparteien
det wie vielleicht bei vielen Menschen in einem
machen Tarifverträge, als säßen wir im Westen noch
staatsbetreuten System im Osten: zu hoffen, daß Poli-
in den 50er Jahren.
tik nur Verteilung ist, daß der Staat schon alles re-
geln wird, daß man sich an jährliche Wachstumsraten Wir haben zuwenig Flexibilität,
wie an Besitzstände gewöhnt hat und dies nicht mehr
hinterfragt und eine ganz geringe Bereitschaft da ist, (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Veränderungswillen auszudeuten.
wir berücksichtigen zuwenig bet riebliche Besonder-
Der Bundespräsident hat zu Recht gesagt: Wir wer- heiten, und wir haben ein vermeintliches Sichern von
den das nicht schaffen, wenn wir nicht vor unserer Arbeitnehmern, die Arbeitsplätze haben, und eine
Zukunft neue Grundlagen festmachen und uns neu Hinderungsbarriere für diejenigen, die Arbeitsplätze
orientieren. suchen. Das offen auszusprechen bringt einem in
Deutschland manchmal den Vorwurf der sozialen
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Kälte ein; aber das ist die Wahrheit. Arbeitsplätze
werden in diesem Land entweder durch Produktivi-
tät und durch gegenseitigen Abgleich der Welt-
Wir haben diese Chance in Deutschland bisher
marktchancen des Produkts und der Arbeitsplätze im
nicht ausreichend genutzt. Nach fünf Jahren Bilanz
Betrieb geschaffen werden können, oder wir werden
reicht nicht nur ein Rückblick; jetzt ist auch ein Aus-
dauerhaft keine Arbeitsplätze sichern können.
blick notwendig. Da möchte ich über einige Korrek-
turen reden, die auch unsere Einstellungen betref- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
fen.
Einem Arbeitnehmer kann es nicht gleichgültig
Wir alle sagen: Wir brauchen Arbeitsplätze. Je- sein, wo ein Investor investiert. Einem Kapitaleigner
der, der hier im Hause anwesend ist, erklärt, es sei kann es relativ gleichgültig sein, wo er sein Kapital
unerträglich, 3,7 Millionen Arbeitslose zu haben. hinträgt. Deshalb muß ihm die Politik Standortbedin-
Dies ist insbesondere das persönliche Schicksal gungen in Deutschland schaffen, damit er hier inve-
vieler Menschen in den neuen Bundesländern, die stiert, weil wir hier für Arbeitsplätze verantwortlich
ihre Hoffnung auf ein freiheitliches System und auf sind.
marktwirtschaftliche Ordnung gesetzt haben. An
sich aber findet ein Wettstreit statt, der Menschen (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
betrügt. Es gibt ganze politische Gruppierungen,
die die Menschen glauben machen, Arbeitsplätze Aber wir haben noch nicht genügend reagiert.
könnten durch staatliche Investitionen, durch einen Wenn wir ehrlich sind, wissen wir doch alle, daß wir
zweiten Arbeitsmarkt, durch staatlichen Interven- mit dem Standort Deutschland, mit unserer Steuerbe-
tionismus und durch staatliche Transferleistungen lastung im Verhältnis zu europäischen Nachbarlän-
geschaffen und langfristig gehalten werden. Das dern noch immer keinen klaren gleichen Wettbe-
ist nicht wahr. werb haben. Wem es um Arbeitsplätze in Deutsch-
land geht - der Freien Demokratischen Partei geht es
wegen des inneren Zusammenwachsens um Arbeits-
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
plätze in Deutschland -, der muß auch mit einer Steu-
erpolitik reagieren, damit hier investiert wird, und
Wer dies den Menschen in den neuen Bundeslän- darf nicht in der Öffentlichkeit den Eindruck erwek-
dern erklärt, sagt ihnen nicht die Wahrheit. Arbeits- ken, es genüge, den Reichen etwas wegzunehmen,
plätze werden geschaffen, indem es in diesem Land um die Probleme in Deutschland zu lösen. Das ist der
Menschen gibt, die bereit sind, Risiken einzugehen, fatale politische Fehler.
die bereit sind, ein Produkt herzustellen und dafür
bei der Bank einen Kredit aufzunehmen, die manch- (Beifall bei der F.D.P.)
mal schlaflose Nächte haben und sich unruhig im
Bett wälzen, weil sie darüber nachdenken, ob sie die Meine Damen und Herren, wenn das innere Zu-
Beschäftigtenzahl noch halten können. Noch immer sammenwachsen gelingen soll, müssen wir offener
signalisieren wir denen, die als persönlich Haftende sein für den Wandel, müssen wir flexibler sein in der
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5095
Dr. Wolfgang Gerhardt
strukturellen Bewältigung, müssen wir mutiger wer- lich ab, geben sie an große Solidargemeinschaften ab
den in Veränderungen, und brauchen wir - wie das und glauben, die Probleme kämen nie wieder in
unser Bundespräsident ausgedrückt hat - eine stär- Form von Kosten und Beitragslasten auf sie zurück.
kere gemeinsame Wagniskultur in Deutschland. Der Hang zum Handeln auf Kosten Dritter ist eine
gefährliche Strömung. Wir müssen den Menschen in
(Dr. Gregor Gysi [PDS]: Kapital brauchen unserem Land sagen: Wenn ihr die Lösung eines Pro-
wir!) blems wollt, wird das nicht ohne Kosten geschehen
Nur dann wird es uns gelingen, eine vitale Gesell- können: entweder über direkte finanzielle Kosten
schaft für die Zukunft aufzubauen. oder über soziale Kosten, die sich auf Veränderungs-
bereitschaft und andere Verhaltensweisen beziehen.
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Alles so weiterzumachen wie bisher und die deut-
ten der CDU/CSU) sche Einheit im Innern zu stärken wird so nicht gelin-
gen.
Nun wurde hier - das ist richtig - über Bürokratie
geklagt. Meistens klagen diejenigen über Bürokra- (Beifall bei der F.D.P.)
tie, die wünschen, daß der Staat nahezu alle Pro- Deshalb muß man nach fünf Jahren darauf hinwei-
bleme löst. sen.
(Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Sehr richtig!) Im übrigen gibt es nicht nur die Bundesregierung.
Ich habe jedenfalls die Erfahrung gemacht, daß sich Es sind viele Akteure in unserem Land in Verantwor-
im Westen in einer ganz anderen Ordnung bis heute tung. In einem freiheitlichen Rechtsstaat gibt es die
massiv der Glaube verbreitet hat, daß der Staat so et- „balance of power": Wir haben Länder. Wir haben
was wie ein Garant des Verfassungsauftrags zur eine Medienlandschaft. Wir haben Verbraucher und
Wachstumsvorsorge sei, und daß sich im Osten in der Produzenten. Wir haben Tarifvertragsparteien. Eines
Mentalität der Menschen der Glaube breitgemacht möchte ich nicht zulassen: daß sie alle die Eigenver-
hat, der Staat habe irgendeinen Knopf zur Verfü- antwortung beiseite ziehen und den politischen Lö-
gung, auf den er nur zu drücken brauche, um so als sungsdruck auf die Bundesregierung oder das Parla-
Problemlöser zur Verfügung zu stehen. ment erhöhen.

Das ist nicht wahr. Dieser Staat wird in eine gewal- (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
tige Legitimitätskrise geraten, wenn wir ihn öffent- NEN]: Das verlangt doch keiner!)
lich so darstellen lassen. Er ist nicht allein deswegen
Wer in einer Demokratie lebt und stolz darauf ist,
unser Staat, weil er für jedes Daseinsproblem eine
daß es in ihr verfassungsrechtliche Zuständigkeiten
Lösung anbieten müßte. Er ist ein Staat, der Rahmen-
für Land und Kommune gibt, wer sich stetig darüber
bedingungen zur Verfügung stellen kann und der
freut, daß die Tarifautonomie Wesensgestaltungs-
gerne durch Entbürokratisierung zurückgenommen
kraft in einem freien, marktwirtschaftlichen System
werden kann. Aber dann darf niemand hier im
besitzt, der hat auch Verantwortung für das innere
Hause vor Privatisierung, vor Verwaltungsvereinfa-
Zusammenwachsen dieses Landes und kann sich
chungen und vor Delegation von Aufgaben an an-
keinen schlanken Fuß machen und nur auf die Bun-
dere zurückschrecken.
desregierung verweisen.
(Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Sehr richtig!)
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Dann muß er den Menschen sagen: Wir können
gerne die Bürokratie zurücknehmen, wenn ihr selbst Alle Akteure haben damit zu tun.
in diesem Lande mehr persönliche Verantwortung Ein Stück des Ärgers über Politik und dessen, was
übernehmt. Das ist die Konsequenz. wir an Verdrossenheit wahrnehmen, liegt auch
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) daran, daß allzu viele in unserer Gesellschaft alles
auf Bonn abladen, obwohl sie in der Gesellschaft ei-
Ich will das hier offen aussprechen: Probleme in gene Verantwortung wahrnehmen müßten, eigenes
unserem Land oder in dem gesellschaftlichen Den- Risiko eingehen müßten, eigenes Mißlingen zugeste-
ken sind sicher aus dem schnellen Tempo der Wie- hen müßten und eigene Vorschläge machen müßten.
dervereinigung, aus dem Druck zur Lösung von Pro-
blemen und daraus, daß nicht genügend miteinander (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne-
gesprochen wird, entstanden. Aber vor der Mauer ten der CDU/CSU)
und hinter der Mauer haben sich manchmal Verhal-
(Vorsitz : Vizepräsidentin Dr. Antje Voll-
tensweisen breitgemacht, die die persönliche Verant- -
mer)
wortung von der Freiheit abgekoppelt haben. So
wird eine Gesellschaft das nicht schaffen. Zu einem Der Kollege Schäuble hat darauf hingewiesen: Es
freiheitlichen System gehört untrennbar verbunden darf uns wirklich nicht der Blick auf die tatsächlichen
die zweite Seite der Medaille: die persönliche Ver- Probleme um uns herum verlorengehen. Unser Zu-
antwortungsbereitschaft. sammenwachsen, das wir in den nächsten Jahren
verstärken müssen, wird nicht erfolgreich sein, wenn
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
weiter ein Stück Armutsgrenze durch Europa ver-
Die Menschen in unserer Gesellschaft koppeln - läuft und wenn wir nicht Gesellschaften in den mit-
man muß nach fünf Jahren sagen: das müssen wir tel- und osteuropäischen Staaten beachten, die noch
verändern - viele Problemlösungen von sich persön nach europäischer Orientierung suchen.
5096 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Dr. Wolfgang Gerhardt


Das heißt: Wir können uns nicht auf uns allein be- Unser Land hat größere Chancen, als es sie je in
sinnen; wir haben die Verpflichtung, den mittel- und seiner Geschichte gehabt hat. Es befindet sich auf
osteuropäischen Reformstaaten die Chance eines besserem Weg, als wir noch vor fünf Jahren geglaubt
Wegs nach Europa aufzuzeigen, haben. Es liegt an uns und unseren Renovierungs-
künsten im Denken, die Schwierigkeiten, die vor uns
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne stehen, zu beseitigen.
ten der CDU/CSU)
weil wir Deutsche unsere Rolle nicht dauerhaft und Auch wenn einige geglaubt haben, nur in den
stabil finden können, wenn wir nicht in Europa ein- neuen Ländern müsse neu begonnen werden, so
gebaut sind. Deshalb spreche ich diesen Punkt an weiß doch jeder, daß das auch für die alten Bundes-
und danke ausdrücklich der Bundesregierung und länder gilt; alle sind gefordert. Die großen politischen
besonders Bundesaußenminister Kinkel für die tiefe Veränderungen gehen an niemandem vorbei. Aber
Überzeugung, daß dieser so verstandene deutsche sie werden nur bewältigt werden können, wenn sich
Weg mit dem Bundeskanzler der europäischen Ein- diese Gesellschaft auf drei Erfolgsstorys der Bundes-
bettung gegangen werden muß. republik Deutschland besinnt: technische Höchstlei-
stungsfähigkeit des Landes, Marktwirtschaft und So-
(Beifall bei der F.D.P. sowie der Abg. Mo zialkonsens sowie außenpolitische Bündnisfähigkeit.
nika Brudlewsky [CDU/CSU]) Im Kern sind das die Gesichtspunkte, die das verei-
nigte Deutschland und seine Gesellschaft leiten soll-
Das innere Zusammenwachsen dieses Landes muß ten.
europäisch gelingen. Es kann nicht auf den alten We-
gen, die in der Geschichte immer in Schwierigkeiten Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
geführt haben, funktionieren.
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Meine Damen und Herren, unser Staat macht Feh-
ler; Politiker verschätzen sich; wir sind nicht sakro-
sankt in allem, was wir tun. Was wir in diesem Land
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wo rt hat
nach fünf Jahren zustande bringen müssen, ist eine
jetzt der Abgeordnete Gysi.
nüchterne und aufgeklärte Bindung der Gesellschaft
an dieses Land, an diesen Staat. Wir müssen ein
Stück Verfassungspatriotismus erreichen, der das in-
Dr. Gregor Gysi (PDS): Frau Präsidentin! Meine
nere Zusammenwirken - auch angesichts der Umfra-
Damen und Herren! Was ich befürchtet habe, Herr
gen, die Herr Scharping zitiert hat - auf solide
Grundlagen stellt. Bundeskanzler, ist eingetroffen: Sie haben - ob nun
gut oder schlecht - auf jeden Fall die Rede eines Bun-
Ein Staat wird nicht dauerhaft handlungsfähig despräsidenten gehalten. Es war ungeheuer präsi-
sein, eine D-Mark wird nicht dauerhaft stabil sein, dial: Sie haben die Geschichte aus Ihrer Sicht gewür-
das innere Zusammenwachsen wird nicht dauerhaft digt, haben sie dargestellt, haben Menschen gut zu-
gelingen, wenn wir uns nicht zu einer gemeinsamen gesprochen, haben viel Moral verbreitet. Das ist ty-
Werbekampagne für die Grundlagen unseres Staats- pisch für einen Bundespräsidenten. Aber ein Bundes-
wesens verabreden, und zwar in allen politischen kanzler hat eigentlich die Aufgabe, Probleme zu be-
Gruppierungen und bei allen Begegnungen und im nennen und Wege vorzuschlagen, wie man die Pro-
Umgang mit allen Menschen. bleme lösen könnte. Davon war in Ihrer Rede wirk-
lich nichts zu hören.
(Beifall des Abg. Ulrich Irmer [F.D.P.])
(Beifall bei der PDS)
Eine geschriebene Verfassung reicht nicht. Wenn
eine Gesellschaft ihre Verfassung nicht will und sie Da das schon eine ganze Weile so geht, kann ich nur
nicht täglich lebt, dann wird die Verfassung Pro- empfehlen: Wenn Sie denn Bundespräsident werden
bleme bekommen. Wir merken erste Anzeichen in wollen, bewerben Sie sich um das Amt!
Aggressivität; wir merken erste Anzeichen bei jun-
gen Menschen, die Perspektivlosigkeit erleben. (Dr. Dagmar Enkelmann [PDS]: Um Gottes
Das zusammenwachsende Deutschland muß einen willen!)
natürlichen Verfassungspatriotismus entwickeln. Das
- Ich habe gesagt: „bewerben Sie sich um das Amt";
ist ein notwendiges Stück Identitätsfindung der
ich habe nicht gesagt, daß er gewählt wird. - Aber
Deutschen in europäischer Einbindung.
als Regierung muß man sich den Problemen in dieser
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Gesellschaft stellen. -
Wir haben alle Chancen, mit einem schlankeren Es ist ja richtig: Die deutsche Einheit hat ganz un-
Staat, mit einer nicht so großen Bürokratie, mit mehr terschiedliche Veränderungen für die Menschen in
Privatisierung, mit volkswirtschaftlich klugen Signa- Ost und West nach sich gezogen. Ich glaube, es gibt
len für Arbeitsplätze, mit gemeinsamem Gegensteu- talsächlich eine kleine Gruppe in den neuen Bundes-
ern gegen das Bedrohungsempfinden von Men- ländern, die nur einen Verlust an Lebensqualität
schen, mit Verzicht auf ideologische Grabenkämpfe empfindet. Es gibt eine andere kleine Gruppe, die
im Bildungs- und Qualifizierungssystem und mit dem nur einen Zugewinn an Lebensqualität empfindet.
Wissen, daß wir in einer internationalen Gesellschaft Aber die große Mehrheit empfindet sowohl einen
leben, darauf hinzuwirken. Verlust als auch einen Zugewinn an Lebensqualität.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5097
Dr. Gregor Gysi
Diese Menschen sind nicht bereit, das miteinander republik Deutschland nicht, eine Aufwertung um
aufzurechnen, sondern sie wollen gerne, daß das 450 % verkraftet hätte und dieser Volkswirtschaft
eine gelöst wird, auch wenn man das andere wür- damit der eigentliche Todesstoß versetzt worden
digt. ist, ist das unehrlich. Sie müßten auch erwähnen,
daß selbstverständlich mögliche Konkurrenz besei-
Es ist hier viel über Freiheit, Demokratie und Men- tigt wurde und daß wir deshalb eine verheerende
schenrechte gesprochen worden. Auch wir haben wirtschaftliche Situation in den neuen Bundeslän-
uns dazu erklärt, auch zu dem Zuwachs, den es dies- dern haben, die die Eigenerwirtschaftung der Mit-
bezüglich gegeben hat. Sie haben die Entwicklun- tel nicht zuläßt.
gen in der Infrastruktur hervorgehoben, auch das zu
Recht. In der Regierungserklärung hat der Bundeskanz-
Aber Sie haben z. B. das Wo rt Arbeitslosigkeit in ler wieder darauf hingewiesen, daß insgesamt
Ihrer ganzen Rede nur ein einziges Mal benutzt. Das schon 600 Milliarden DM von West nach Ost ge-
ist, glaube ich, zuwenig, um die Problemlage in unse- flossen sind. Er erwähnt nie die zweite Seite.
rer Gesellschaft darzustellen. Warum eigentlich nicht? Abgesehen davon, daß
die Zahl nicht stimmt, weil es eine Bruttozahl ist
(Beifall bei der PDS) und dahinter lauter Zahlungen stehen, auf die ein
Rechtsanspruch besteht, z. B. Kindergeld - darauf
In keinem Falle haben Sie das „Aber" mit formu-
hat man in Bayern genauso einen Rechtsanspruch
liert. Sie sprechen davon, daß ökologische Umwelt-
wie in Mecklenburg-Vorpommern. Warum wird es
schäden im Osten beseitigt worden sind. Sie reden
eigentlich immer den einen vorgerechnet und den
aber nicht davon, wie das geschehen ist, in erster Li-
anderen nicht? -, glaube ich: Dahinter steckt eine
nie nämlich dadurch, daß deindustrialisiert worden
Spaltungsabsicht; denn man redet den Westdeut-
ist. Wenn Schornsteine nicht mehr rauchen, richten
schen permanent ein, wie teuer die Ostdeutschen
sie natürlich auch keine ökologischen Schäden mehr
sind. Es wird nie mit erwähnt, daß es einen riesi-
an.
gen Vermögenstransfer von Ost nach West gege-
(Beifall bei der PDS)
ben hat. Wem gehören denn heute die Immobilien,
Mancher Rückschritt stellt sich nachträglich als die Banken, die Versicherungen, die Einrichtungen
Fortschritt heraus. Wir haben uns in der DDR im- und Betriebe der ehemaligen DDR?
mer darüber geärgert, daß wir nicht so viele Deo
Spraydosen und anderes haben. Dann stellte sich (Beifall bei der PDS)
heraus, daß der Mangel an FCKW gar nicht so
schlecht war. Manchmal ist ein Rückschritt auch Das muß man doch wohl hinzufügen. Im übrigen hat
fortschrittlich. man sie zum Teil, wie Werner Schulz sagte, für 'nen
Appel und 'n Ei erworben.
(Widerspruch bei der CDU/CSU und der
F.D.P.) Der Bundeskanzler hat hier erklärt: Gewinner der
Einheit sind vor allem die Rentnerinnen und Rent-
Es gab übrigens auch andere umweltpolitische Lö- ner. - Das ist schon ein bemerkenswe rter Satz, ver-
sungen, die gar nicht so schlecht waren. Es tut mir gißt er doch, ein paar andere Gewinner zu erwähnen,
leid, Herr Schäuble: Die Sekundärrohstofferfassung z. B. die Banken und Versicherungen, die nämlich für
und -verwertung, die zwar aus ökonomischen Grün- wenige Millionen ganze Einrichtungen erworben ha-
den in der DDR entstanden ist, war ökologisch aber ben und deren Forderungen dazu und die jetzt die
durchaus vorteilhaft. Sie haben nicht einmal hingese- Altschulden geltend machen, mit denen sie über-
hen, sondern sie erst einmal beseitigt. Jetzt beginnen haupt nichts zu tun hatten, die sie nie finanziert ha-
Sie, sie ganz langsam wieder aufzubauen. ben und die allein zu ihrem Wohle sozusagen im
(Beifall bei der PDS) Gesetzeswerk dieser Bundesrepublik Deutschland
bleiben, obwohl sie Betriebe, Genossenschaften,
Sie haben gesagt, die Schienenwege sind verbes- Mieterinnen/Mieter und jetzt auch noch die Kommu-
sert worden. Das ist wahr. Aber wie viele Strecken nen ruinieren. Das ist wirklich ein Skandal. Das sind
haben Sie stillgelegt? Die DDR hatte das weitver- die Gewinner der Einheit. Warum erwähnen Sie die
zweigteste Schienennetz Europas. nie mit? Warum immer nur die Rentnerinnen und
(Michael Glos [CDU/CSU]: Aber das war Rentner?
marode!)
Und dann muß ich Ihnen sagen: So pauschal
Das war kein schlechter Anfang, wenn man die stimmt das auch nicht. Es gibt Rentnerinnen und
Transporte von der Straße auf die Schiene verlagern Rentner, denen es besser geht. Aber vergessen wir -
will. Doch Sie haben massenhaft Strecken stillgelegt, eines nicht: Die meisten von ihnen haben keine Spar-
nur weil sie sich in einem engen Sinne nicht rechnen. guthaben, weil wir keine Vermögensbildung hatten.
Aber Ökologie rechnet sich nie in einem so engen Das ist wahr.
Sinne. Daran muß man volkswirtschaftlich anders
herangehen. (Zuruf von der CDU/CSU)

Wenn Sie immer von der Ineffizienz der Plan- - Aber Sie haben die Sparguthaben der Rentnerin-
wirtschaft sprechen, dann ist das wahr. Aber wenn nen und Rentner zum größten Teil halbiert und ha-
Sie dabei zu erwähnen vergessen, daß natürlich ben ihnen im Vertrag über die Wirtschafts-, Wäh-
keine Volkswirtschaft, auch die der alten Bundes rungs- und Sozialunion und im Einigungsvertrag ver-
5098 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Dr. Gregor Gysi


sprochen, daß sie verbriefte Anteilsscheine bekom- und der dann dieser Tage erklärt hat, er wolle nicht
men, z. B. für ihre Wohnung oder sonstiges. Wo blei- zu den Abkassierern gehören, den Raubzug in der
ben denn diese verbrieften Anteilsscheine? Das war Diätenfrage gegeißelt und seinen Rücktritt als Bun-
eines Ihrer ganz typischen leeren Versprechen. destagsabgeordneter erklärt hat, nun aber diesen
Rücktritt nicht vollzieht, weil er wartet, bis er so die
(Beifall bei der PDS) Anwartschaft für die Übergangsgelder erreicht hat,
um sich dann Zigtausende einzustecken, abzukassie-
Dann gibt es Rentnerinnen und Rentner, die in der
DDR eine lächerliche Mindestrente bekamen. Das ist ren und nach diesem Raubzug nach Berlin zurückzu-
kehren.
wahr. Die bekommen sie jetzt weiter und keinen Sou
dazu. Sie haben verbindlich geregelt, daß es keine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Dynamisierung dieser Mindestrenten gibt. Damit ha- bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
ben Sie die Rentnerinnen und Rentner zu dauerhaf-
ter Armut verurteilt.
Dr. Gregor Gysi (PDS): Herr Abgeordneter, zu die-
Und Sie haben nicht nur das Strafrecht im Renten- ser Frage will ich gern Stellung nehmen.
recht eingeführt, sondern Sie haben darüber hinaus
mit Auffüllbeträgen operiert und festgelegt - das ver- Erstens war der eigentliche Gegenkandidat von
schweigen Sie natürlich -, daß ab 1. Januar 1996 - da Stefan Heym nicht Wolfgang Thierse, sondern Herr
werden sich Hunderttausende in den neuen Bundes- Dregger. Es haben sich die Berlinerinnen und Berli-
ländern umsehen - diese Auffüllbeträge in dem ner in Berlin-Mitte und Prenzlauer Berg sehr wohl
Maße gekürzt werden, in dem die Renten erhöht und sehr bewußt für Herrn Heym entschieden und
werden. Das heißt, über Jahre ändert sich an deren dafür, daß dieser den 13. Deutschen Bundestag eröff-
finanzieller Situation überhaupt nichts, obwohl es net. Das hat er mit einer sehr guten Rede getan,
eine Teuerung der Lebensverhältnisse gibt.
(Beifall bei der PDS - Widerspruch bei der
Sie haben natürlich über ein Problem auch nicht CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
gesprochen - sehr absichtsvoll -, nämlich über das NEN und der F.D.P. sowie bei Abgeordne-
Problem der Gleichstellung der Geschlechter. Die ten der SPD)
Situation der Frauen in der DDR war durchaus da-
durch gekennzeichnet, daß auch wir ein Patriarchat bei der Sie sich so insouverän wie immer erwiesen
hatten. Aber es gab schon Rahmenbedingungen, um haben.
sich darin besser zurechtzufinden als in der west-
(Gerald Häfner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
deutschen Gesellschaft. Dazu gehörte z. B. die F ri
NEN]: Herr Heym hat doch den Wählerauf-
-stenrglubimSchwaersftbu,dz
trag gar nicht erfüllt! Er hat doch die Wäh-
gehörte aber auch der Fakt der sozialen Unabhän-
ler verraten, die ihn gewählt haben! Das ist
gigkeit dadurch, daß über 90 % der Frauen erwerbs-
ja lächerlich! - Weitere Zurufe vom BÜND-
tätig waren. Heute stellen sie den größten Teil des
NIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU)
Arbeitslosenheeres dar. Deshalb sagen Sie zu dieser
Problematik keinen einzigen Satz. Das wäre aber - Schreien Sie doch nicht so! Ich komme ja zu Ihrer
ganz wichtig gewesen, um einmal zu erklären, wie Frage.
Sie Arbeitslosigkeit und Altersarmut, die zum großen
Teil weiblich ist, beseitigen, überwinden wollen. Zweitens war er in diesem Jahr sehr viel aktiver als
viele Abgeordnete in diesem Saal, von denen man
überhaupt noch nie etwas gehört hat. Das ist eine
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege Tatsache.
Gysi, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Häfner? (Beifall bei der PDS - Widerspruch bei der
CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD
Dr. Gregor Gysi (PDS): Ja. und der F.D.P.)
Er hat z. B. in Prenzlauer Berg eine Stiftung für ob-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Bitte. dachlose Kinder gegründet, finanziert sie selbst und
sammelt dafür Spenden. Das soll ihm erst einmal je-
mand hier in diesem Hause nachmachen.
Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr
Kollege Gysi, da Sie gerade von Altersarmut spre- (Beifall bei der PDS - Lachen und Wider-
chen, da Sie die Lage der Rentnerinnen und Rentner spruch bei der CDU/CSU und dem BÜND-
zu Recht beklagt haben und da Sie sich über das ver- NIS 90/DIE GRÜNEN)
breitete Abkassieren zu Recht erregt haben, möchte
ich Sie jetzt fragen, wie Sie das Verhalten Ihres Drittens ist er zurückgetreten, weil er nun einmal
Noch-Fraktionskollegen - oder besser: ehemaligen? - davon ausgeht, daß er als Alterspräsident eine Ver-
Heym beurteilen, der sich in den Deutschen Bundes- pflichtung hat, dieses Haus mit zu repräsentieren,
tag hat wählen lassen, danach für diese Arbeit nur und deshalb eine Verantwortung für ein moralisches
äußerst sporadisch zur Verfügung gestanden hat Minimum trägt. Deswegen konnte er den Diätenbe-
schluß, der hier gefaßt worden ist, nicht vertreten,
(Widerspruch bei der PDS) und er wollte ein Signal setzen.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5099
Dr. Gregor Gysi
Jetzt komme ich zum letzten Teil Ihrer Frage: Er Dr. Gregor Gysi (PDS): Ja.
hat keinen Verrat begangen. Ich habe ihn sehr gebe-
(Zuruf von der CDU/CSU: Sagen Sie doch
ten, mit Rücksicht auf seine persönlichen Mitarbeiter
einmal die Wahrheit, ohne Wenn und
den Rücktritt erst zum 31. Oktober zu erklären.
Aber!)
(Hannelore Rönsch [Wiesbaden] [CDU/
CSU]: Das ist ja der absolute Gipfel! - Wei Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Sie haben noch
tere Zurufe von der CDU/CSU und dem zwei Minuten.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Die Abfindungssumme, die er bekommt - das hat er Dr. Burkhard Hirsch (F.D.P.): Herr Kollege Gysi,
bereits erklärt -, wird für den von mir vorhin genann- stimmen Sie mir zu, daß es das souveräne und urei-
ten Zweck gespendet. Das heißt, es ist alles blanker gene Recht eines Abgeordneten ist, ein Mandat an-
Unsinn, was Sie hier erzählen. Diesen Schriftsteller, zunehmen oder es niederzulegen, wann er es selber
der auch schon in der DDR sehr mutig war, werden für richtig hält?
Sie hier nicht kleinreden können; das werden Sie
(Beifall bei der PDS)
nicht schaffen.
(Beifall bei der PDS) Dr. Gregor Gysi (PDS): Ich bin Ihnen für diese
Frage dankbar,
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Der
Gysi, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeord- Herr behüte mich vor diesen Freunden!)
neten Laschet? - Ich habe Ihre Redezeit schon ange-
halten. weil Sie gerade damit dem Alterspräsidenten des
Deutschen Bundestages, Stefan Heym, die Souverä-
nität zubilligen, die er hat. Er hätte es verdient, daß
Dr. Gregor Gysi (PDS): Ja. diese Souveränität in diesem Hause respektiert wird.
Das dunkle Kapitel mit Bezug auf Stefan Heym bleibt
Ihr Verhalten in der Eröffnungssitzung, und nichts
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Bitte.
anderes in diesem Bundestag.
(Beifall bei der PDS - Dr. Wolfgang Schäu-
Armin Laschet (CDU/CSU): Herr Kollege Gysi, Sie ble [CDU/CSU]: Bei Ihnen verkommt die
haben das jetzt mit der Frage der Mitarbeiter begrün- deutsche Einheit zu einem Übergangsgeld
det. Glauben Sie nicht, daß eine so soziale Gruppe für Herrn Heym!)
wie die PDS eine Mitarbeiterregelung bei dem Nach-
rücker hätte finden können, und würden Sie mir zu- Herr Gerhardt, Sie haben sich hier lange darüber
stimmen, daß dies wirklich ein sehr dünnes Argu- aufgeregt, daß der Regierung und dem Staat zuviel
ment ist? Verantwortung für Dinge zugemessen wird, für die
sie eigentlich keine Verantwortung tragen, und ha-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ben weiter gesagt, daß auch andere in die Verant-
wortung zu nehmen sind. Das ist für mich nur des-
Dr. Gregor Gysi (PDS): Nein, das ist nicht sehr
halb interessant, weil das eben einen Mangel in der
dünn, sondern in diesem Falle sehr konkret, weil der Politik deutlich aufzeigt. Denn die regierenden Politi-
Nachrücker wahrscheinlich völlig andere Aufgaben kerinnen und Politiker nehmen für sich alles Positive
als Herr Heym haben wird. in Anspruch, auch wenn sie wirklich nichts damit zu
tun haben. Auch die stabile Mark z. B. ist doch nicht
(Zuruf von der CDU/CSU: Welche hatte er allein das Verdienst der Bundesregierung; daran sind
denn?) ja doch ganz viele beteiligt. Ein Ausfluß der Tatsa-
che, daß man als Kanzler jeden grünen Baum als sein
Das ist ein großes Problem. Ich habe ihn deshalb aus- eigenes Werk erklärt, ist natürlich, daß man dann
drücklich darum gebeten, seinen Rücktritt erst zum auch für jeden verwelkten zur Verantwortung gezo-
31. Oktober zu erklären. Ich habe Ihnen gesagt, was gen wird. Das hat dann auch eine gewisse Logik.
mit der Abfindung passieren wird. Das war ein sozia-
ler Schritt für seine Mitarbeiter und Mitarbeiterin- (Beifall bei der PDS)
nen. Noch einmal zur Klarstellung: Herr Heym ist zu- Auf eine Sache, die Sie überhaupt nicht erörtert
rückgetreten und kassiert ab jenem Zeitpunkt keine haben, will ich zum Schluß noch eingehen: Wir ha- -
Diäten mehr, im Unterschied zu uns. Diesen Fakt be- ben gerade festgestellt, daß die geplanten Einnah-
kommen Sie nicht weg. men im nächsten Jahr 20 Milliarden DM geringer
(Beifall bei der PDS - Zuruf von der F.D.P.: ausfallen als bisher vorgesehen. Mich würde natür-
Das können Sie ändern, indem auch Sie zu lich sehr interessieren, wie Sie diese Lücke schließen
rücktreten!) wollen. Ich hätte erwartet, daß der Bundeskanzler
hier klipp und klar sagt, welche weiteren Leistungen
gestrichen werden sollen, um diese Lücke im näch-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege sten Jahr zu schließen. Dann hätten wir es wenig-
Gysi, es besteht ein weiterer Wunsch nach einer Zwi- stens mit realen Ausgangsbedingungen zu tun,
schenfrage, diesmal vom Abgeordneten Hirsch. wenn wir hier miteinander diskutieren.
5100 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Dr. Gregor Gysi


Herr Schäuble, Sie sprechen immer davon, daß der historischen Entwicklung widerlegt. Es gehörte
man auch einmal Besitzstände angreifen muß, daß sicher zu den beglückenden Erlebnissen in den letz-
wir uns zu sehr an bestimmte Besitzstände gewöhnt ten Jahren, wenn man einmal nach Gera kam, die
haben. Ich würde gerne wissen: Welche meinen Sie Stadt sah und wußte: Es war gut, daß wir den Geraer
denn eigentlich? - Die der Vermögenden und der Forderungen von Herrn Honecker nicht nachgekom-
Reichen nicht und, wie wir in den letzten Wochen er- men sind, wie es manche von Ihnen teilweise getan
lebt haben, die der Bundestagsabgeordneten auch hätten.
nicht. Welche Besitzstände sind denn gemeint? - Im-
mer die der sozial Schwachen und Schwächsten in (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
dieser Gesellschaft. ordneten der F.D.P.)
(Beifall bei Abgeordneten der PDS) Meine Damen und Herren, die Wiedervereinigung
Do rt wird gekürzt: bei der Sozialhilfe, bei der Ar- Deutschlands, die Einheit in Freiheit, ist und bleibt
beitslosenunterstützung, bei der Arbeitslosenhilfe. das historische Verdienst von CDU/CSU und dieser
Den Lohnabhängigen wird jeden Tag gesagt, es Koalition.
müsse noch eine Nullrunde - was in Wirklichkeit
eine Minusrunde ist - geben. Immer wird bei den so- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Sehr wahr!
zial Schwächeren dieser Gesellschaft gespart, nie bei - Widerspruch bei der SPD)
den wirklich Vermögenden und den Reichen.
- Der Beitrag von führenden Politikern Ihrer Partei
Nur, die Bundesrepublik Deutschland hat sich in daran war 1989 und 1990 sehr bescheiden.
den letzten fünf Jahren natürlich auch verändert,
und zwar durch ein hegemoniales Streben, durch Mi- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
litarisierung, durch einen völlig anderen Umgang mit
Flüchtlingen, durch den Abbau von Rechten und Ich werde nicht vergessen: Als ich im Herbst 1989
durch den Abbau von Sozialstaatlichkeit. sagte, die Einheit Deutschlands stehe auf der Tages-
ordnung der Weltpolitik, haben Sie dies als „üble
Brunnenvergiftung " und „töricht" bezeichnet.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege
Gysi, Ihre Redezeit ist abgelaufen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
ordneten der F.D.P.)
Dr. Gregor Gysi (PDS): Noch nie hatte dieses Land
so viele Arbeitslose, so viele Sozialhilfeempfängerin- Niemand ist von der Geschichte so widerlegt worden
nen und Sozialhilfeempfänger wie jetzt. Nutzen wir wie Sie in den Jahren 1989 und 1990.
deshalb den fünften Jahrestag - meinetwegen auch
für eine gewisse Würdigung, aber in erster Linie, um (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
diese Probleme wirklich aufzugreifen und sie anders ordneten der F.D.P.)
anzugehen, als das bisher geschehen ist!
Wir sind - ich als Vorsitzender der CSU wie auch an-
(Beifall bei der PDS) dere Parteien - unserer nationalen Verantwortung
auch in unbequemen Zeiten treu geblieben. Man
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Für die Bundes- darf auch nicht vergessen, was andere vor uns getan
regierung erhält jetzt der Herr Bundesminister Wai- haben. Man soll nicht vergessen, daß Hans Ehard,
gel das Wort. der seinerzeitige bayerische Ministerpräsident, 1947
die letzte gesamtdeutsche Ministerpräsidentenkonfe-
renz nach München eingeladen hat. Ohne Franz Jo-
Dr. Theodor Waigel, Bundesminister der Finanzen:
sef Strauß und ohne Alfons Goppel hätte es die Of-
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die fenhaltung der deutschen Frage durch einen muti-
Wiedererlangung der politischen Einheit des deut- gen Spruch aus Karlsruhe nicht so ohne weiteres ge-
schen Vaterlandes am 3. Oktober 1990 war ein Ge- geben. Auch daran zu erinnern ist legitim.
schenk der Geschichte. Heute, nur fünf Jahre später,
ist die Einheit zur Selbstverständlichkeit geworden. (Beifall bei der CDU/CSU)
Der Mauerbau am 13. August 1961 war kein Zei-
chen der Stärke der SED-Diktatur, sondern Ausdruck Die unionsgeführte Bundesregierung unter Helmut
von Schwäche, von Ohnmacht und Ausdruck eines Kohl hat 1990 die Chance zur Wiedervereinigung
gescheiterten Sozialismus. entschlossen genutzt, die Zustimmung Gorbatschows
zur deutschen Einheit, zur Wirtschafts- und Wäh-
(Beifall bei der CDU/CSU) rungsunion, zum Überleitungsvertrag, zu den Zwei-
Der Freiheitswille der Deutschen konnte unter- plus-Vier-Verhandlungen und zum Einigungsvertrag
drückt, aber nicht ausgelöscht werden. Das zeigen erreicht. Das Vertrauen und die Glaubwürdigkeit,
die unzähligen Versuche, über Mauer und Stachel- die wir in West und Ost gewinnen konnten, schufen
draht in das freie Deutschland zu kommen. der deutschen Politik den Freiraum, den sie in einer
Zeit politischer Umbrüche in Deutschland und Eu-
Im Wettbewerb der Systeme hat sich die freiheitli- ropa unabdingbar benötigt. Entscheidend war, daß
che Demokratie durchgesetzt. Wer auf „Wandel wir den schwierigen Prozeß der Schaffung eines ge-
durch Annäherung" und auf die Zementierung der einten Deutschlands stets in einen größeren europä-
Zweistaatlichkeit Deutschlands setzte, wurde von ischen, weltpolitischen Zusammenhang gestellt ha-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5101
Bundesminister Dr. Theodor Waigel
ben. Darum ist die Vollendung der deutschen Einheit Nutzfläche. Herr Kollege Scharping, wenn Sie die
letztlich immer nur in der Vollendung Europas mög- Privatisierung in dem Zusammenhang kritisieren,
lich. Daran werden wir festhalten. Das ist das große dann sollten Sie sich noch einmal damit beschäfti-
Ziel der Deutschen und aller friedfertigen Europäer. gen, daß nur mit Privatisierung Marktanteile gewon-
nen werden konnten
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Auch der Weg über Art. 23 des Grundgesetzes war (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
richtig. Andere haben sich verweigert und gezögert, und diese Betriebe in Deutschland und im internatio-
haben Umwege vorgeschlagen und Ängste geschürt. nalen Wettbewerb Markt brauchten.
Wir haben gehandelt. Durch den Vertrag über die
Wirtschafts- und Währungsunion wurde die Einheit Der künftige Sitz des Bundesfinanzministers in
unumkehrbar. Berlin ist das Rohwedder-Haus, der Sitz der Treu-
handanstalt. Das Gebäude wurde von Reichsluft-
Als am 9. November 1989 die Mauer fiel, hat wohl fahrtminister Hermann Gö ring gebaut. In den Jahren
niemand geahnt, wie schnell die weiteren Schritte der Diktatur und des Krieges wurden in diesem Ge-
folgen würden. Politisch und ökonomisch ist die ehe- bäude Befehle gegeben, die die Menschen vieler
malige DDR wie ein Kartenhaus zusammengefallen. Völker ängstigten, bedrohten und töteten.
Vieles war nur noch Fassade, die tragenden Teile von
Wirtschaft und Gesellschaft waren morsch. Dennoch: In diesem Haus arbeitete der Oberleutnant und
Das Ausmaß der volkswirtschaftlichen Zerrüttung Widerstandskämpfer Harro Schulze-Boysen. Wenige
hat selbst Experten überrascht: die ausgezehrte Sub- Tage vor Weihnachten 1942 wurde er hinge richtet. In
stanz, der fortgesetzte Raubbau an der Natur. Wenn einer Ausstellung im Rohwedder-Haus wurde ein
ein Mann wie Gysi hier herkommt und sagt, der Brief an seinen Vater gezeigt, den er kurz vor seiner
mangelnde Gebrauch von Spraydosen habe auch Hinrichtung schrieb. In diesem Brief, den er verstek-
sein Gutes gehabt, ist wirklich ein Höchstmaß an Ni- ken konnte und der erst nach seinem Tod gefunden
veaulosigkeit erreicht, das nur die PDS in dieses wurde, heißt es:
Haus hineintragen kann. Die letzten Argumente
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sind Strang und Fallbeil nicht,
und unsre heut'gen Richter
Ein radikaler Schnitt, um die schnellstmögliche sind noch nicht das Weltgericht.
und möglichst weitgehende Umstellung der Wirt-
schaft der DDR auf Weltmarktniveau zu erreichen, (Abg. Dr. Gregor Gysi [PDS] telefonie rt)
war nicht nur ordnungspolitisch richtig, sondern vor
- Wie man bei dem Satz lachen kann, Herr Gysi, - -
diesem Hintergrund politisch und ökonomisch der
einzige Weg. Ein längerfristig angelegtes staatliches (Dr. Gregor Gysi [PDS]: Das bezog sich aus-
"Naturschutzreservat" für die ehemalige Staatswirt- nahmsweise nicht auf Sie, Herr Waigel!)
schaft der DDR hätte sich weder politisch durchhal-
ten lassen noch ökonomisch ausgezahlt. Die rasche - Trotzdem, es ist geschmacklos von Ihnen.
Einführung der Sozialen Marktwirtschaft war zu- (Michael Glos [CDU/CSU]: So ist es!)
sammen mit der am 1. Juli 1990 in Kraft getretenen
Wirtschafts- und Währungsunion der unverzichtbare Meine Damen und Herren, dieses Gebäude über-
Grundstein für den wirtschaftlichen Neuaufbau in lebte die Berliner Bombennächte und den Kampf um
den neuen Ländern. Nur mit dem Vertrauenskapital Berlin im Frühjahr 1945. Die Kommunisten machten
der D-Mark gab es eine sichere Basis für den Struk- es zum provisorischen Sitz der Volkskammer und
turwandel, für Investitionen aus dem In- und Aus- später zum „Haus der Ministerien", in dem die Grö-
land und dafür, die Menschen zum Bleiben zu bewe- ßen der SED ein und aus gingen und die überwun-
gen. Zugleich konnten wir den von vielen befürchte- dene Diktatur durch eine neue ersetzten.
ten Inflationsschub abwenden. In puncto Preisstabili-
tät liegt Deutschland nach wie vor an der Weltspitze. Nach der Wende bezog die Treuhandanstalt unter
Leitung von Detlev Karsten Rohwedder das Haus. Er
Die Umstrukturierung ruht auf drei Säulen: Inve- war ein Mann, dem der Begriff „patriotische Pflicht"
stitionsförderung, Privatisierung und Aufbau der In- nicht leere Formel in unverbindlichen Sonntagsre-
frastruktur. Zum Ausgleich von Standortnachteilen den, sondern konkreter Auftrag zur mutigen Ober-
hat der Bund Investitionszulagen und Sonderab- nahme auch schwerster Verantwortung war. Als es
schreibungen gewährt. Für die Investitionszulage darum ging, das geschichtliche und schwere Werk
werden bis 1997 37 Milliarden DM bereitgestellt. Mit der Vollendung der Einheit Deutschlands anzupak-
der Sonderabschreibung wurden bereits bis Ende ken, zögerte Rohwedder nicht lange. Für seine Be-
1993 Investitionen von über 200 Milliarden DM auf reitschaft und sein Engagement, die Hinterlassen-
den Weg gebracht. schaft des SED-Regimes aufzuarbeiten, wurde er von
Terroristen ermordert. Das Haus in Berlin trägt in
Eine der schwersten Aufgaben beim Umbau hatte
dankbarer Erinnerung seinen Namen.
die Treuhandanstalt. Die Treuhand hat Geschichte
geschrieben. 15 000 Unternehmen und Unterneh- Das zeigt die ganze Wende; das zeigt die ganze
mensteile wurden privatisiert; in der „kleinen Priva- Änderung der Geschichte. Auch ein Haus, seine
tisierung" wurden über 25 000 mittelständische Be- Mauern, seine Steine können für Gut und Bös herhal-
triebe verkauft ebenso wie 46 000 Liegenschaften ten. Aber daß dort künftig gearbeitet werden wird im
und 62 000 Hektar land- und forstwirtschaftliche Sinne der Freiheit, im Sinne der Demokratie und
5102 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Bundesminister Dr. Theodor Waigel


auch in Erinnerung an einen patriotischen Mann und Deutschland hat diesen Schlag für seine Finan-
Tausende von Frauen und Männern, die ihre Pflicht zen weggesteckt, mit einer Währung, die stärker
der deutschen Einheit und den Menschen in Ost und ist als je zuvor, einem niedrigen Defizit und einer
West gewidmet haben, zeigt den Wendepunkt in intakten Handelsbilanz. Nach allen Maßstäben
Deutschland, das macht uns dankbar, zufrieden und ist das ein spektakuläres Ergebnis.
glücklich.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Die Dimension der deutschen Einheit bleibt die
Fünf Jahre nach der deutschen Einheit ist das Freiheit. Bei allem notwendigen Respekt vor der
Ende der Übergangsperiode erreicht. Der Aufbau ei- wichtigen Rolle des materiellen Wohlstands, der
ner funktionsfähigen Verwaltung in den neuen Län- Ökonomie und der Finanzen: Es ging uns um die
dern ist geschafft. Ich danke den Tausenden Mitar- Freiheit von 16 Millionen Menschen, um das Schick-
beitern und Mitarbeiterinnen des öffentlichen Dien- sal Zehntausender in unmenschlichen Haftanstalten
stes, die bereit waren, ganz oder auf Zeit in die wie Bautzen und Hoheneck. Es ging um die persönli-
neuen Bundesländer zu gehen. che Unversehrtheit von unzähligen Menschen, die
politisch verfolgt, bespitzelt und schweren Repressa-
Am 9. Oktober 1990 habe ich das deutsch-sowjeti- lien der Staatssicherheit ausgesetzt waren. Es ging
sche Überleitungsabkommen unterschrieben, den um das Recht des einzelnen, über sich und sein Le-
ersten Vertrag des souveränen Deutschlands. Heute, ben selbst zu entscheiden.
50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges,
steht kein russischer Soldat mehr auf deutschem Bo- Erinnert sei an Ernst Jünger, der in diesem Jahr
den. Unsere Gegenleistung von 15 Milliarden DM seinen 100. Geburtstag feierte und sagte: „Wenn
war wohl die rentabelste Investition unseres Landes dein Bruder vor der Tür steht, läßt du ihn rein und
in diesem Jahrhundert. fragst nicht, was es dich kosten wird. " Damit hat er
die zum Teil erbärmliche Diskussion des Jahres 1990
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge in einem großen Sinne widerlegt.
ordneten der F.D.P.)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Heute haben wir die Umstrukturierung der Wirt-
schaft weitgehend abgeschlossen, einen in vielen Deutschland ist zum erstenmal in diesem Jahrhun-
Branchen bereits selbsttragenden Aufschwung in dert nach Nazi-Tyrannei, totaler Zerstörung und
den neuen Ländern angestoßen und die unabwend- SED-Diktatur Gewinner der Geschichte. Die Vollen-
baren Probleme sozial abgefedert. Bund, Länder, dung der inneren Einheit konnte und kann nur dann
Kommunen, die Treuhand und ihre Nachfolger, gelingen, wenn wir die Folgen aus 40 Jahren Teilung
Bahn, Post und die Kreditanstalt für Wiederaufbau und menschenverachtendem Sozialismus solidarisch
werden bis Ende 1995 über 1 000 Milliarden DM in tragen. Das ist - und daran können alle Neid- und
die neuen Länder transferiert haben. Das ist die Spaltkampagnen nichts ändern - vorbildlich gelun-
größte Solidaritätsaktion der Geschichte. Die jährli- gen.
chen Transfers in dreistelliger Milliardenhöhe in die
neuen Länder entsprechen in etwa der Wirtschafts- Vor mir hat ein Redner gesprochen, der mit der
leistung Portugals. Dadurch wurden und werden deutschen Einheit sehr wenig zu tun hat. Die PDS
Millionen von Arbeitsplätzen gesichert oder neu ge- hat als eine nur dem Namen nach gewandelte SED
schaffen. kein Recht, über die Entwicklung in Deutschland zu
klagen. Um das Ausmaß der politischen Heuchelei
Wir haben die Prioritäten im Bundeshaushalt völlig der PDS bewußt zu machen, ist und bleibt die politi-
zugunsten der Einheit verschoben und zugleich ei- sche und historische Aufklärung über das SED-Un-
nen strikten Konsolidierungskurs eingehalten. Mit rechtsregime eine zentrale Herausforderung und
dem Föderalen Konsolidierungsprogramm und ins- Aufgabe.
besondere dem Spar-, Konsolidierungs- und Wachs-
tumsprogramm haben wir das schärfste Konsolidie- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
rungsprogramm der Nachkriegszeit entschlossen ordneten der F.D.P.)
umgesetzt.
Die Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der
Fünf Jahre nach der Wiedervereinigung steht SED-Diktatur hat festgestellt:
Deutschland bei den finanzpolitischen Kennziffern
wieder mit an der Weltspitze. Die neuen Länder zäh- Der SED-Staat war eine Diktatur. Er war es nicht
len zu den wachstumsstärksten Regionen der Welt. nur durch Fehlentwicklung oder individuellen -
Das Produktionswachstum ist auf einem stabilen Machtmißbrauch . . ., sondern von seinen histori-
Pfad zwischen 7 und 8 % eingeschwenkt. Der Ar- schen und ideologischen Grundlagen her ... Die
beitsplatzaufbau hat sich jetzt auf eine Rate von fast Hauptverantwortung für das Unrecht, das von
3 % jährlich beschleunigt. Nach einer Studie der diesem Staat begangen wurde, trägt die SED.
OECD werden die neuen Länder bei einer Fortset-
zung der Investitionsdynamik in zehn Jahren beim Die Schuldigen von damals sind nicht zu Richtern
Kapitalstock den alten Ländern in nichts nachstehen. von heute berufen.

Der „Economist" schrieb am 30. September 1995 (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
zur deutschen Einheit: ordneten der F.D.P.)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5103
Bundesminister Dr. Theodor Waigel
Wir haben die Einheit mit Überzeugung und Enga- Aber Anlaß zum Jubel gibt es trotzdem nicht, auch
gement gegen alle Widerstände angenommen und nicht Anlaß zu einer A rt nationalem Feldgottesdienst
erfolgreich gestaltet. Mit der gleichen Haltung geht und, Herr Kollege Schäuble, auch nicht Anlaß zur
es jetzt Richtung Europa - für ein neues Jahrtausend Geschichtsfälschung.
in Frieden und Wohlstand.
(Beifall bei der SPD)
Ich danke Ihnen.
Es ist schlicht falsch, daß Oskar Lafontaine es war,
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) der Walter Romberg entlassen hat. Vielmehr war es
Lothar de Maizière auf Drängen von Bundesfinanz-
minister Waigel. Ich weiß sehr genau, wovon ich
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat
rede, und ich erinnere mich noch an die hämischen,
jetzt der Abgeordnete Wolfgang Thierse.
herabsetzenden Äußerungen von Ihnen, Herr Wai-
gel, über Herrn Romberg.
Wolfgang Thierse (SPD): Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Am Anfang einer angemesse- (Beifall bei der SPD - Bundesminister
nen Bilanz nach fünf Jahren Einheit muß Dankbar- Dr. Theodor Waigel: Nein, das stimmt nicht!
keit stehen. Alles andere empfände ich als unanstän- Kein Wo rt !)
dig. Es gibt also Anlaß zu Dankbarkeit, aber zugleich
(Zustimmung bei der SPD) Anlaß zu einer kritischen Bilanz.
Deshalb will ich als Ostdeutscher danke sagen für et-
was, was ich auch nach fünf Jahren Einheit noch im- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie
mer für nicht ganz selbstverständlich halte: für die eine Zwischenfrage des Abgeordneten Waigel?
Solidarität der Deutschen im Westen, mit der sie in-
zwischen die doch beträchtlichen finanziellen Lasten Wolfgang Thierse (SPD): Ja.
für den Aufbau im Osten tragen, nicht immer ganz
freiwillig, aber doch ohne heftigen Protest. Danke
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Bitte.
schön dafür.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU so Dr. Theodor Waigel (CDU/CSU): Herr Kollege
wie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Thierse, können Sie eine einzige herabsetzende Äu-
DIE GRÜNEN und der F.D.P.) ßerung von mir über den früheren Kollegen Romberg
Dieses Dankeschön sage ich um so entschiedener, nennen?
als ihnen ja etwas anderes versprochen worden war.
Am 1. Juli 1990 sagte Bundeskanzler Helmut Kohl: Wolfgang Thierse (SPD): Ich kann es nicht wörtlich
sagen, weil ich die Unterlagen nicht dabeihabe.
... für die Menschen in der Bundesrepublik gilt:
Keiner wird wegen der Vereinigung Deutsch- (Lachen bei der CDU/CSU)
lands auf etwas verzichten müssen.
- Entschuldigen Sie. Sie schleppen auch nicht alle
Trotz der Widerlegung dieses Versprechens ist Soli- Akten mit sich. -
darität geleistet worden. Es waren die Solidarität der (Joachim Hörster [CDU/CSU]: Aber eine
Westdeutschen und der Fleiß, die Leistungsbereit- Behauptung aufzustellen und dann nicht zu
schaft und die Geduld der Ostdeutschen - beides zu- belegen ist unverschämt!)
sammen -, die es ermöglicht haben, daß in den fünf
Jahren viel, wirklich viel erreicht wurde. Aber Sie waren es, der an Walter Romberg in a ll er
Schärfe die Zahlen kritisiert hat, die er über die not-
Ein Zweites will ich, durchaus persönlich, vorweg wendige finanzielle Ausstattung der ostdeutschen
sagen. Noch immer empfinde ich ein nicht auslösch- Kommunen und Länder genannt hat. Sie haben ge-
bares Glücksgefühl über die deutsche Vereinigung. sagt, dies sei unverantwo rtlich. Lothar de Maizière
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU so hat daraufhin wegen dieses Konfliktes mit Ihnen
wie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Walter Romberg verboten, weiter an den Verhand-
DIE GRÜNEN und der F.D.P.) lungen teilzunehmen.

Ich weiß, so wie mir geht es vielen, ja den meisten (Beifall bei der SPD)
Deutschen in Ost und West, trotz aller Probleme, al-
len täglichen Ärgers, aller Widersprüche und aller Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie-
Fehler. Tritt man nur ein paar Schritte zurück und eine zweite Zwischenfrage?
schaut mit fremdem, mit verfremdendem Blick auf
das, was in den fünf Jahren bisher passiert ist, ver- Wolfgang Thierse (SPD): Ja.
gleicht das Land und das eigene Leben mit dem Jahr
1989, blickt zudem nach Osten zu unseren Nach-
barn, die mit uns das gleiche Schicksal im realen Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Bitte.
Kommunismus geteilt haben - beide Blickrichtungen
erst vermitteln den richtigen Vergleichsmaßstab -, Dr. Theodor Waigel (CDU/CSU): Nehmen Sie zur
dann gibt es wahrlich genug Anlaß zu staunender Kenntnis, daß es nicht einen einzigen solchen Aus-
Freude. spruch über Walter Romberg von mir gibt und daß
5104 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Bundesminister Dr. Theodor Waigel


Sie ihn deswegen auch nicht zitieren können? Sind - Herr Schäuble, ich bleibe dabei; denn ich bin der
Sie bereit, diesen Vorwurf zurückzunehmen? Betroffene.
(Zustimmung bei der CDU/CSU) (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Es
gibt genug Zeugen!)
Wolfgang Thierse (SPD): Ich bin nicht bereit zu- Es hat damals bei dem Wechsel im Fraktionsvorsitz
rückzunehmen, daß Ihre scharfe Kritik an Walter keinerlei Gespräch z. B. zwischen Oskar Lafontaine
Romberg und mir gegeben, sondern es hat eine Auseinander-
(Dr. Theodor Waigel [CDU/CSU]: Das ist et setzung in der Volkskammerfraktion über die A rt
was anderes! - Wolfgang Zöller [CDU/ undWeisgb,wnMisterpäd
CSU]: Das ist doch etwas ganz anderes! Sie Großen Koalition einen Minister der SPD vor dem
sind feige!) Hintergrund, den ich beschrieben habe, entläßt,
ohne zuvor mit dem Fraktionsvorsitzenden oder dem
- nein, lassen Sie mich doch ausreden - dazu geführt Vorsitzenden der anderen Partei gesprochen zu ha-
hat, daß Lothar de Maizière die Entlassung von Wal- ben. Dies war ein unerträglicher Vorgang.
ter Romberg bewirkt hat. Darum ging es. Dazu gehö-
ren auch herabsetzende Bemerkungen. Ich habe mit (Beifall bei der SPD)
Walter Romberg gesprochen. Er hat mir dieses so be-
richtet, bevor wir damals die Konsequenz gezogen Die Volkskammerfraktion meinte, diese Art der von
haben. Bonn aus diktierten Demütigung könnten wir uns
nicht bieten lassen. Das war der Grund für den
(Dr. Theodor Waigel [CDU/CSU]: Er kann Wechsel in der Fraktionsführung von Richard Schrö-
es nicht belegen!) der zu mir.
- Aus dem Gespräch mit Walter Romberg kann ich (Beifall bei der SPD)
das belegen. Mit Oskar Lafontaine hat das überhaupt nichts zu
tun. Wir brauchen dabei gar nicht zu verschweigen,
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie daß es 1990 natürlich Differenzen zwischen Oskar
eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Schäuble? Lafontaine und mir gegeben hat. Die hat es gegeben.

Ich will zu unserem heutigen Thema zurückkom-


Wolfgang Thierse (SPD): Ja. men. Es geht ja nicht darum, Geschichte ständig neu
zu bewältigen, sondern eine kritische Bilanz ist not-
(Zuruf von der SPD: Das muß getroffen ha wendig. Weder Schwarzmalerei noch Schönfärberei
ben!) sind angemessen; denn die Lage und das Bild sind
widersprüchlich. Wir sind - freundlich ausgedrückt -
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Bitte. unterwegs, wobei die vor uns liegende Wegstrecke
zeitlich wohl länger und nicht weniger schwierig sein
dürfte.
Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Herr Kollege
Thierse, da Sie mir für meine Aussage, der Wechsel Schon wieder von blühenden Landschaften zu
im Vorsitz der SPD-Fraktion in der Volkskammer von sprechen, das ist - gelinde gesagt - eine Übertrei-
Richard Schröder zu Wolfgang Thierse habe mit bung. Viele werden das sogar als zynische Verfäl-
Herrn Lafontaine zu tun, Geschichtsfälschung vorge- schung ihrer Wahrnehmung empfinden; denn das ist
worfen haben, will ich Sie fragen: Ist es nicht wirk- die wirkliche, widersprüchliche Lage: Es ist viel er-
lich wahr, daß Sie und Oskar Lafontaine im Wahl- reicht worden.
kampf 1990 mit der kooperativen Haltung des SPD-
Fraktionsvorsitzenden Richard Schröder nicht einver- (Zuruf von der CDU/CSU: Kommen Sie ein-
standen waren und daß mit Ihrem Vorsitz in der SPD- mal nach Thüringen!)
Fraktion die Konfrontation in der Großen Koalition
Es wird gebaut, gebaut und gebaut. Unsere ostdeut-
und der Regierung unter de Maizière in der damali-
schen Städte verändern sich. Die Verkehrswege, die
gen Volkskammer begann?
Kommunikationsmöglichkeiten und die Dienstlei-
(Beifall bei der CDU/CSU) stungen haben sich erheblich verbessert. Es macht
Vergnügen, durch die Städte zu gehen, die man von
früher kennt.
Wolfgang Thierse (SPD): Herr Schäuble, Sie haben -
inzwischen die Frage verschoben. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Was kriti-
sieren Sie denn? - Weiterer Zuruf von der
(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Nein, CDU/CSU: Sind das nicht blühende Land-
das war meine Aussage! Sie haben mir Ge- schaften?)
schichtsfälschung vorgeworfen! Wenn Sie
mich schon verleumden, müssen Sie sich Das macht wirklich Freude.
auch an dem messen lassen, was Sie hier
sagen! Sie haben mir Geschichtsfälschung Was ist die andere Seite? Es gibt ein deutliches
vorgeworfen, obwohl ich die Wahrheit ge Wirtschaftswachstum von 6 bis 8 %. Sie wissen aber
sagt habe! - Beifall bei der CDU/CSU) selber: Auch dieses Wachstum wird bewirken, daß
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5105
Wolfgang Thierse
die Angleichung der ökonomischen Verhältnisse in Jetzt sparen zu wollen, zu schnell sparen zu wol-
Deutschland noch 10 bis 15 Jahre dauern wird. Dies len, das macht kaputt, was in den ersten fünf Jahren
ist eine nüchterne Tatsache. Ich sage das ohne Vor- aufgebaut worden ist. Das sollten wir nicht tun. Des-
wurf. wegen verstehe ich auch nicht den Stolz von Herrn
Waigel, mit dem er verkündet hat, daß 14 Milliarden
Um die Zahlen zu nennen: Die gesamtwirtschaftli- DM beim Aufbau Ost eingespart worden sind. Wenn
che Produktion in Ostdeutschland liegt noch immer ich den Herrn Bundeskanzler richtig verstanden
nicht deutlich über dem Niveau von Ende 1989, An- habe, ist das Sparen bei den Investitionen, ein Spa-
fang 1990. ren an der gemeinsamen Zukunft. Stolz wäre ich dar-
(Zurufe von der CDU/CSU: Was? - Dr. Uwe auf nicht.
Küster [SPD]: Das ist so! Nehmen Sie das Meine Damen und Herren, ich möchte auf eine an-
zur Kenntnis!) dere Seite der widersprüchlichen deutschen Situa-
tion zu sprechen kommen. Politisch geht es uns Ost-
20 % der deutschen Bevölkerung erwirtschaften
knapp 10 % des gesamtdeutschen Bruttoinlandspro- deutschen besser. Ganz klar! Wir haben die Freiheit
dukts. Ostdeutschland erwirtschaftet nur 3 % des ge- gewonnen. Materiell geht es den meisten auch bes-
samtdeutschen Expo rts. Die Produktivität in Ost- ser: sicherlich den meisten Rentnern, den meisten
derjenigen, die Arbeit haben. Aber den anderen, den
deutschland entspricht nur etwa 50 % des Westni-
Frauen, denjenigen, die keine Arbeit haben, geht es
veaus. Die Nachfrage in Ostdeutschland ist wesent-
lich höher als das Bruttoinlandsprodukt. nicht deutlich besser.
(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Wem?
(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Wieviel hat
Jetzt sagen Sie doch mal, wem! - Gegenruf
es denn vorher gehabt?) der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [PDS])
Unser ostdeutscher Wohlstand ist also geborgt. Er - Ich sage: Den Frauen, zumal denen mit Kindern,
stammt zu einem guten Teil von Transferleistungen, und den Arbeitslosen geht es nun wahrlich nicht bes-
für die ich mich ausdrücklich bedankt habe und ser. Das zu beschreiben ist doch eine Realität. Warum
dankbar bin. wehren Sie sich gegen die Realität?
Auch die ostdeutsche Industrie ist noch nicht selb- (Beifall bei der SPD - Michael Glos [CDU/
ständig lebensfähig; die indust rielle Basis der ost- CSU]: Es geht allen besser als vorher!)
deutschen Wirtschaft ist nach wie vor unzureichend
und immer noch hochgradig gefährdet. Die Arbeits- Ich will ausdrücklich daran erinnern, daß mein und
losigkeit Ost ist dramatisch hoch. Vor allem fehlen unser ostdeutsches Bedürfnis nach Einheit inhaltlich
900 000 industrielle Arbeitsplätze, wie Arbeitgeber- mit der Sehnsucht nach Freiheit und menschlich ver-
präsident Klaus Murmann neulich ausdrücklich be- träglichem Wohlstand identisch war. Es war etwas
stätigt hat. Das sind Fakten - dies ist nicht Schwarz- ganz und gar nicht Nationalistisches, und das finde
malerei -; ich nenne sie, um die Vielzahl und die ich wunderbar.
Schwierigkeit der Aufgaben zu beschreiben.
Ich sage deshalb auch, daß die Bemühungen der
(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Miesma westdeutschen Politik - egal, ob von Sozialdemokra-
cherei von einem, der es besser weiß!) ten, Liberalen oder Christdemokraten -, für die Frei-
heit und für Erleichterungen des menschlichen Le-
- Das gehört doch wohl zu einer kritischen Bilanz der bens in der DDR zu sorgen, etwas ist, wofür man sich
deutschen Einheit. nicht schämen muß. Warum muß man die damalige,
für viele Jahrzehnte gültige Entscheidung kritisieren,
(Beifall bei der SPD) daß die Freiheit und die Verbesserung des menschli-
Aus dieser schwierigen ökonomischen und sozia- chen Lebens gegenüber der Einheit das Wichtigere
len Problemlage folgen eben die politischen Aufga- sei? Daß dann in einem glücklichen historischen Mo-
ben. Die wichtigste ist: Wir brauchen eine kontinuier- ment beides zusammenfiel und daß diese Chance ge-
liche Fortsetzung der Förderung des Aufbaus Ost. nutzt wurde, auch dafür bin ich dankbar. Aber des-
halb muß man nicht im nachhinein all das, was vor-
(Beifall bei der SPD) her an vernünftigen politischen Bemühungen vor-
handen war, denunzieren.
Alle unseligen Debatten über das „Milliardengrab
Ost" - es war der bayerische Ministerpräsident Ed- (Rolf Schwanitz [SPD]: Richtig!)
mund Stoiber, der im Januar die Melodie angestimmt
Ich habe gesagt, politisch geht es uns Ostdeut-
hat, in die dann andere allerdings auch eingestimmt
schen besser, materiell den meisten auch. Aber viele -
haben; das weiß ich - oder die ständige Auseinander-
fühlen sich sozial unsicherer und meinen, daß es ih-
setzung um den Solidaritätszuschlag, wann oder wie
nen sozial schlechtergehe.
schnell er gesenkt oder abgeschafft werden könnte,
erzeugen sowohl ökonomische als auch psychologi- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Diese Mei-
sche Verunsicherung im Osten und wecken im We- nung schüren Sie!)
sten eher gefährliche Illusionen. Man soll das blei-
benlassen. Wir brauchen Zuverlässigkeit in der För- Dies ist eine widersprüchliche Grundbefindlichkeit,
derung des Aufbaus Ost. die sich in allen Meinungsbefragungen nieder-
schlägt. Das ist so. Eine zunehmende Mehrheit der
(Beifall bei der SPD) Deutschen in Ost und West sagt ja zur Einheit und
5106 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Wolfgang Thierse
hält sie für richtig. Nur eine verschwindende Minder- Ich nenne ein weiteres Beispiel: das unterschiedli-
heit der Ostdeutschen will die DDR zurück - Gott sei che Tarifniveau zwischen Ost und West. Es gibt da-
Dank! Aber ebenso meint eine abnehmende Zahl für eine Menge Gründe. Aber warum gilt nicht der
von Deutschen, daß diese Einheit geglückt sei, daß Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit"? Bun-
wir wirklich ein Volk seien, daß das vereinte deskanzler Kohl hat auf einige wenige Beispiele hin-
Deutschland eine gerechte und soziale Gesellschaft gewiesen, die zeigen, daß in Ostdeutschland mo-
sei. derne, hochproduktive Arbeitsstätten schon entstan-
den sind. Dies gilt auch für gute Teile des öffentli-
Was ist passiert? Ich denke, viele Ostdeutsche er- chen Dienstes. Die Erfahrung, daß trotz gleicher Ar-
fahren die Kälte der Freiheit, nachdem sie die DDR beit, trotz gleich produktiver Arbeit die Ostdeut-
als Diktatur, aber eben auch als eine ökonomisch schen weniger verdienen, erniedrigt. Sie ist nicht nö-
wahnwitzig bezahlte Gesellschaft sozialer Fürsorge tig. Man kann das ändern, schneller als vieles an-
erfahren haben. Da ist etwas entstanden, was ich dere.
nicht kritisieren will: ein Grundbedürfnis nach sozia-
ler Sicherheit. Deswegen meine ich, die Einheit wird (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
nur wirklich gelingen, wenn wir eine Politik betrei- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
ben, die dem legitimen Grundbedürfnis nach sozialer und der PDS - Widerspruch bei der CDU/
Sicherheit - übrigens nicht nur der Ostdeutschen - CSU und der F.D.P.)
gerecht wird.
Ein weiteres Beispiel für etwas, was man schnell
(Beifall bei der SPD) ändern kann: die Anerkennung von Berufsabschlüs-
sen aus Zeiten der DDR. Auch da gilt, daß selbst er-
Was ist passiert? Es gibt die vielfache Erfahrung
fahrene und gut qualifizierte Menschen feststellen
der ungerechten Bewe rtung der eigenen Biographie,
mußten, daß ihre beruflichen und akademischen
d. h. der eigenen Lebensleistungen und Lebenser-
Qualifikationen geringer bewertet wurden und wer-
fahrungen. Ich wiederhole deshalb meine Forde-
den als die vergleichbaren westdeutschen. Das kann
rung, ja meine Bitte: Unterscheiden Sie zwischen
man ändern. Das kostet noch nicht einmal etwas.
dem Urteil über das gescheiterte politische und öko-
Warum tut man es nicht?
nomische System und dem Urteil über die Men-
schen, die in diesem System gelebt haben, über die (Beifall bei der SPD und der PDS)
Biographien, die darin gelebt worden sind. Denn sie
sind nicht alle gescheitert; sie dürfen nicht alle ge- Weil man es nicht tut, bestätigt man das Vorurteil von
scheitert sein. Machen Sie diese Unterscheidung tag- der westlichen Arroganz.
täglich sichtbar; sie ist wichtig.
Ein anderes Beispiel: die Krankenbehandlung von
(Beifall bei der SPD) Ostdeutschen in Westdeutschland. Ein weiteres Bei-
spiel: das Gebaren der Treuhandanstalt und der Ban-
Es gibt des weiteren die vielfache Erfahrung sozia- ken. Ostdeutsche Unternehmen, die durch Manage-
ler Spaltung und Ungerechtigkeit zwischen Ost und ment-Buy-out private Unternehmen wurden, haben
West. Ich will nur ein paar Beispiele nennen, um zu regelmäßig schlechtere Übernahmekonditionen er-
zeigen, wo konkrete Politik sehr schnell Änderungen halten als westdeutsche oder ausländische Interes-
schaffen könnte. senten. Warum ist das notwendig, da wir doch Eigen-
tums- und Vermögensbildung in Ostdeutschland un-
Wir erleben als Ergebnis der wirtschaftlichen terstützen sollten?
Transformation, auch der wirtschaftlichen Vorge-
schichte und der Privatisierung eine Spaltung in Ei- Solche Art Erfahrungen nicht notwendiger west-
gentümer, die eher Westdeutsche sind, und in Eigen- deutscher Dominanz bestätigen das alte, klägliche
tumslose, die eher Ostdeutsche sind. Wir hatten und lähmende Minderwertigkeitsgefühl der Ostdeut-
keine Chance, an Privatisierungsprozessen wirklich schen, das in 40 Jahren DDR entstanden ist. Es hilft
gleichberechtigt teilzunehmen. 40 Jahre Frieden hat dann nichts, ihnen auf die Schultern zu klopfen und
im Westen eine Erbengesellschaft entstehen lassen; zu sagen: Seid schön selbstbewußt.
im Osten wird noch lange nicht viel zu erben sein.
Wir brauchen den grundlegenden Ansatz, daß die
Kurt Biedenkopf drückt das so aus: deutsche Einigung wirklich als ein Reformprojekt
praktiziert wird. Nachdem sich in Ostdeutschland so
Auf sehr lange Zeit wird die Vermögensbildung vieles und so viele ändern mußten, gilt es jetzt end-
unterschiedlich sein. Die ostdeutschen Haushalte lich, zu begreifen, daß der Änderungsbedarf, der Re-
haben keine Chance, die Westdeutschen in ab- formbedarf für ganz Deutschland zunimmt. Dafür
sehbarer Zeit im Bereich der p rivaten Vermö- werden die Erfahrungen von Menschen aus -
gensbildung einzuholen. Dazu ist der westdeut- 40 Jahren DDR und aus fünf Jahren dramatischer
sche Vorsprung zu groß. Wandlung zunehmend wichtiger.

Wir brauchen eine Politik der gerechteren Eigen- Das wäre mein wichtigstes Resümee nach fünf Jah-
tumsverteilung in Deutschland, eine Offensive für ren: aus der deutschen Einheit ein Reformprojekt,
Vermögensbildung gerade in Ostdeutschland. viele Reformprojekte zu machen, z. B., Herr Ger-
hardt, die Entbürokratisierung des Staates. Mein er-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne folgreichster Satz, wenn ich zu Hause, in Ostdeutsch-
ten der PDS) land, Reden halte, heißt: Wir haben in der DDR doch
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5107
Wolfgang Thierse
immer in der Überzeugung gelebt, daß die Mischung Der Aufbauprozeß ist zugleich eine großartige Soli-
aus preußisch-sächsisch-russischer Bürokratie nicht daritätsleistung der Bürger in Ost- und Westdeutsch-
zu überbieten sei. Das war ein großer Irrtum. Da land. Westdeutschland unterstützt diesen Prozeß
ernte ich regelmäßig Jubel. nicht nur mit Geld, sondern auch mit großem persön-
lichen Engagement von Bürgern und vielen Unter-
(Beifall bei der SPD - Joseph Fischer nehmen.
[Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Fortschritt, dein Name sei Kanther!) Eine nüchterne Bestandsaufnahme der Situation
heute zeigt, daß zwei auf den ersten Blick wider-
Aus solcherart Erfahrungen wirklich ein Reformpro- sprüchliche Aussagen die Situation in den neuen
jekt machen, das macht aus den Ostdeutschen Ländern am besten beschreiben. Einerseits sind wir
Gleichwertige und Gleichberechtigte. auf dem Wege zur wirtschaftlichen, sozialen, ökologi-
Meine Damen und Herren, die deutsche Einheit schen und menschlichen Einheit entscheidend wei-
wird gelingen. Davon bin ich überzeugt. Es wird tergekommen. Andererseits ist das Ziel einer Wi rt
aber noch lange dauern. Deshalb fordern wir die -schaft,dieugnrKaftmWebw-
Bundesregierung auf, einen jährlichen Bericht über haupten kann, noch nicht erreicht.
das Erreichte und das Notwendige im Vereinigungs-
Die zweite Hälfte des Weges liegt noch vor uns.
prozeß vorzulegen. Wir werden darüber streiten müs- Das ist auch die Botschaft eines Berichts mit dem Ti-
sen und streiten können. Aber, meine Damen und
tel „Aufbau Ost - die zweite Hälfte des Weges", den
Herren, mögen wir uns auch zu überbieten versu- ich im Kabinett vor zwei Wochen vorgelegt habe und
chen bei der Gestaltung der deutschen Einheit: Wir den die Bundesregierung zum fünften Jahrestag der
Sozialdemokraten halten mit. Meine und unsere Lei- deutschen Einheit verabschiedet hat. Die beiden
denschaft dabei ist nicht geringer als Ihre. Dessen wichtigsten Konsequenzen in diesem Be richt sind
kann ich Sie versichern. klar formuliert:
(Lebhafter Beifall bei der SPD - Beifall beim
Erstens. Die Strategie der Bundesregierung für den
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Aufbau Ost hat sich als richtig erwiesen. Das bezwei-
felt inzwischen kein Beobachter mehr ernsthaft. Es
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat hat nie eine konzeptionelle Alternative zu dem Weg
jetzt für die Bundesregierung Herr Minister Rexrodt. gegeben, den wir eingeschlagen haben, meine Da-
men und Herren.
(Joseph Fischer [Frankfu rt ] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Wann kommt denn endlich Zweitens. Der Aufbau Ost muß auch weiterhin ein
einmal einer aus Ostdeutschland?) Schwerpunkt deutscher Politik sein. Die Politik, die
auf die Stärkung der Wachstumskräfte setzt, wird
fortgesetzt.
Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister für Wirtschaft:
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne-
Herren! Die Deutschen haben die Herausforderung ten der CDU/CSU)
der Vereinigung in den letzten Jahren mit Bravour
angenommen. Auch wi rtschaftlich wird Trennendes Ich habe zum Thema Aufbau Ost einen hochrangi-
überwunden, können wir langsam und kontinuier- gen Gesprächskreis mit Persönlichkeiten aus Ost-
lich eine Angleichung der Lebensverhältnisse fest- und Westdeutschland zusammengerufen, der regel-
stellen. Das wird im übrigen auch im Ausland so ge- mäßig die Entwicklungen in den neuen Ländern er-
sehen. Die SED-Diktatur hatte die Lebens- und Ar- örtern und die Bundesregierung beraten wird.
beitsgrundlagen der Menschen in den neuen Bun-
Ich gehe in diesem Zusammenhang auf etwas ein,
desländern durch ein Gesellschaftssystem zerrüttet,
was vorhin eingeklagt und eingefordert worden ist:
das seine geistigen Wurzeln im 19. Jahrhundert hat
ein Entwurf für die deutsche Einheit in der Zeit vor
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ 1989/90: Meine Damen und Herren, wer sich in der
DIE GRÜNEN]: Der Liberalismus hat seine Zeit vor 1989 mit einem politischen Entwurf für die
Wurzeln im 18. Jahrhundert!) Einheit Deutschlands befaßt und ihn öffentlich oder
auch nur halböffentlich diskutiert hätte, der wäre als
und das zu Mißwirtschaft und zu subtilen Formen der Utopist und kalter Krieger abgestempelt worden.
Korruption, nämlich zur Privilegienwirtschaft, ge- Und heute wird dies eingefordert. Das ist nicht kor-
führt hat. Das wird niemand bestreiten, meine Da- rekt, meine Damen und Herren!
men und Herren. Um so höher ist die Aufbauleistung
im Osten zu bewerten. Die Menschen in den neuen (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Ländern haben den Strukturwandel auf sich genom-
men, und sie haben einen Strukturwandel bewältigt, Ich möchte hier nicht alle Ergebnisse der Bilanz
der ihre gesamten Lebensverhältnisse von Grund auf des Aufbaus im wirtschaftlichen Sinne vortragen,
verändert hat. Ich weiß nicht, ob eine in mancher aber einiges denn doch hervorheben. So möchte ich
Hinsicht behäbig gewordene westdeutsche Gesell- sagen, daß Ostdeutschland die höchsten Wachstums-
schaft dazu so in der Lage gewesen wäre, wie das die raten in Europa hat, aber die Eigenleistungsfähigkeit
Menschen im Osten bewältigt haben. der Wirtschaft ist in der Tat noch nicht ausreichend.
Es gibt eine Diskrepanz zwischen Produktion und In-
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) landsnachfrage von 220 Milliarden DM.
5108 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Bundesminister Dr. Günter Rexrodt


Die Treuhandanstalt hat die größte echte Privati- veralteten Wirtschaft erfolgen muß, die wir im Jahre
sierung in der Welt in erstaunlich kurzer Zeit abge- 1990 in den neuen Ländern vorgefunden haben.
schlossen. Aber die dadurch geschaffene indust rielle
Basis ist immer noch viel zu schmal. (Joseph Fischer [Frankfu rt ] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Sie sehen aber auch ganz
schön alt aus!)
Ich wehre mich aber mit allem Nachdruck gegen
das, was heute morgen hier gesagt worden ist - auch - Das gilt auch für Sie, Herr Fischer.
von Ihnen, Herr Scharping -, daß die Treuhandan-
(Heiterkeit bei der F.D.P. und der CDU/
stalt einen „Liquidationsauftrag" gehabt hätte. Wir
CSU)
haben in der Treuhandanstalt für 275 Milliarden DM
Zeit gekauft, Zeit, die notwendig war, um die Be- Meine Damen und Herren, wir haben heute in den
triebe umzustrukturieren, um die Bet riebe auf den neuen Ländern 480 000 neue Selbständige, 480 000!
Wettbewerb in der Marktwirtschaft vorzubereiten, Da wird von Herrn Scharping zu Recht beklagt, daß
und eine Zeit, die dazu geführt hat, daß im großen die Nettozugänge bei den Selbständigen im vorigen
Umfang westdeutsche und ausländische Unterneh- Jahr nur noch 10 % der Zugänge der ersten Zeit aus-
men als neue Eigentümer in Erscheinung getreten gemacht hätten. Ich hätte mir auch mehr gewünscht.
sind, diese Unternehmen saniert haben, Arbeits- Aber es ist doch selbstverständlich, daß die Nettozu-
plätze gesichert und neue geschaffen haben. Dafür wachsraten abnehmen. Wenn wir die alten Zuwachs-
sind 275 Milliarden DM zur Verfügung gestellt wor- raten behielten, würde das darauf hinauslaufen, daß
den! Wer da von einem „Liquidationsauftrag der wir nach kurzer Zeit nur noch Selbständige in den
Treuhand" spricht, der spaltet, und der sagt wissent- neuen Ländern hätten. Das wäre ja erfreulich, ist
lich die Unwahrheit. aber nicht realistisch. - So wird auch mit Zahlen ma-
nipuliert und nicht das anerkannt, was gerade im
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Mittelstand an Neuem entstanden ist.
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Dann wird noch gesagt, wir hätten das Prinzip
Rückgabe vor Entschädigung nicht anwenden dür- Es ist ebenfalls richtig, daß die Kapitalausstattung
fen. Dieses Prinzip - das wissen alle, die sich damit noch nicht ausreicht. Die persönlichen Lebensver-
befaßt haben - war aus verfassungsrechtlichen Grün- hältnisse aber haben sich verbessert. Noch immer
den gar nicht umzukehren. Wir haben aber faktisch klafft zwischen Einkommen und Produktivität eine
die Dinge durch die Tatsache umgedreht, daß wir Lücke von 37 %. Deshalb, Herr Thierse, ist es zwar
eine Investitionsvorrangregelung verabschiedet ha- eingängig und nachvollziehbar, daß die Menschen -
ben, und diese Investitionsvorrangregelung hat - zu- auch Sie hier im Bundestag, was sich ja gut macht -
gegeben nach anfänglichen Schwierigkeiten - dazu sagen: Wir wollen gleichen Lohn für gleiche Arbeit!
geführt, daß da, wo Arbeitsplätze geschaffen oder er- Das ist subjektiv richtig. Volkswirtschaftlich aber
halten werden konnten, immer der Investor Vorrang wäre ein solcher Schritt, d. h. die Zahlung gleicher
vor der Rückgabe an den Alteigentümer - wie auch Löhne und Gehälter wie im Westen, und dies in ei-
immer - gehabt hat. Diese Regelung hat sich be- ner Volkswirtschaft mit einer Produktivitätslücke
währt, auch wenn sie kompliziert war. Den Rechts- von 37 %, mit der Konsequenz verbunden, daß mit je-
staat können wir nicht aus der Welt schaffen, meine der Lohn- und Gehaltserhöhung die Wettbewerbs-
Damen und Herren. chancen und damit die Arbeitsplätze in den neuen
Ländern gefährdet würden. Das ist eine ökonomi-
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - sche Binsenwahrheit, die jeder berücksichtigen muß.
Zuruf von der F.D.P.: Das wollen wir auch (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne-
nicht!) ten der CDU/CSU - Wolfgang Thierse
[SPD]: Das Opel-Werk in Eisenach ist ein
Seit 1994 verbessert sich die Lage am Arbeits- Beispiel!)
markt langsam, aber kontinuierlich. In diesem Jahr
werden in den neuen Ländern etwa 170 000 Arbeits- - Herr Thierse, ich habe eben volkswirtschaftlich ar-
plätze mehr vorhanden sein als im vorangegangen gumentiert. Es ist ein Faktum, daß wir im Osten eine
Jahr. weite Spreizung der Produktivität haben,
(Zuruf von der F.D.P.: Die gibt es doch im
Aber es ist auch richtig, daß etwa ein Drittel der Westen auch!)
Arbeitsplätze insgesamt verlorengegangen sind. Ich
sage auch ohne weiteres: Die Arbeitslosigkeit ist zu daß es natürlich auch Betriebe gibt, deren Produkti-
vität weit über der liegt, die wir im Westen haben,
hoch. Wer aber meint, dieses Problem lösen zu kön-
daß es aber auf der anderen Seite im Schnitt eine
nen, indem noch mehr Geld in ABM und Umschu-
Lücke von 37 % gibt. Wenn die Löhne und Gehälter
lungsmaßnahmen gesteckt wird, der übersieht, daß
dann schnell angepaßt würden, verschlechterten sich
dies alles zwar wichtige und notwendige Maßnah-
die Wettbewerbsmöglichkeiten der Wirtschaft.
men sind, die aber am Ende nur darauf hinauslaufen,
daß wir an den Symptomen der Arbeitslosigkeit her- Ich will hier nicht belehrend erscheinen, möchte
umkurieren, aber nicht die wirklichen Ursachen an- aber sagen, daß dies das Wissen eines Volkswirt-
gehen. Die wirklichen Ursachen liegen anderswo, schaftsstudenten im zweiten Semester ist. Das weiß
die liegen darin, daß der Aufbauprozeß Zeit braucht jeder, der damit zu tun hat, bei allem Verständnis für
und auf der Grundlage einer völlig verrotteten und das subjektive Einfordern gleicher Löhne.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5109
Bundesminister Dr. Günter Rexrodt
Meine Damen und Herren, der Rohbau des ge- rungsgesetzes an. Wir haben nunmehr auch die
meinsamen Hauses in Deutschland ist geschaffen. Grundlage dafür geschaffen, daß Unternehmen, die
Nun wird beklagt - auch Herr Thierse hat das ge- die schwierige Wachstumsphase, die wir zu durch-
sagt -, daß viele Menschen noch nicht die soziale Si- laufen haben, auf der zweiten Hälfte des Weges zu
cherheit gefunden haben, die sie in der DDR ge- finanzieren haben, mit Eigenkapital ausgestattet
wohnt waren. Ich sage zunächst einmal: Sicherheit werden können.
gab es, allerdings auf relativ niedrigem wirtschaftli-
Ich möchte in diesem Zusammenhang auch ein
chen Niveau. Diese Sicherheit wurde jedoch um den
Preis der Tatsache gewährt, daß die volkswirtschaftli- Wo rt zur Europäischen Kommission sagen, die uns
bei diesem schwierigen Umstrukturierungsprozeß
che Substanz in der DDR verwirtschaftet worden ist,
begleitet hat. In den letzten Monaten ist in Brüssel
daß dieses System nicht in der Lage war, die Repro-
manches schwieriger geworden; das wissen wir.
duktion der Ressourcen vorzunehmen, wie es für
Aber die beachtenswerte kooperative Weise hat da-
eine Volkswirtschaft unumgänglich ist.
für gesorgt, daß wir den Aufbau so haben bewerk-
Wir stehen heute vor der Aufgabe, den neuen Län- stelligen können, wie dies geschehen ist. An dieser
dern soziale Sicherheit soweit wie möglich zu gewäh- Stelle einen herzlichen Dank auch an die Kommis-
ren und gleichzeitig die volkswirtschaftliche Sub- sion in Brüssel.
stanz, das Produktivkapital und die Infrastruktur, zu
erneuern und zu verbessern. Hier ist eine Titanen- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne-
aufgabe zu bewältigen. ten der CDU/CSU)

(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der Es besteht kein Zweifel: Es gibt viele Unternehmen
CDU/CSU) in den neuen Ländern, die vor Insolvenzproblemen
stehen. Viele Unternehmen beenden ihr kurzes Da-
Es ist die Aufgabe, das wiederherzustellen, was in sein. Dies alles hat verschiedene Ursachen, hat auch
der DDR an Substanz verwirtschaftet worden ist. Ursachen in der Fehleinschätzung des Marktes, in
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne der Tatsache, daß Managementwissen und manches
ten der CDU/CSU) andere nicht in dem Maße vorhanden war, wie wir es
brauchten. Ich appelliere daher von dieser Stelle an
Daß dies nicht von heute auf morgen geht, ist klar. die Banken und Finanzierungsinstitutionen, daß sie
Wir müssen das Haus, das wir errichtet haben, wet- ihren Teil dazu beitragen, daß Unternehmer und
terfest machen. Für ein Ausruhen auf den bisherigen Menschen, die in Selbständigkeit getreten sind, die
Erfolgen besteht kein Anlaß. Unternehmen geht es in Absicherung erhalten, die sie verdienen.
erster Linie um die Verbesserung von Kapitalausstat-
tung und Finanzierungsbedingungen, um die Stär- Es ist aber im übrigen nicht richtig, daß Banken in
kung der Absatzfähigkeit und die Überwindung von diesem Zusammenhang nur versagt haben. Unser
nach wie vor bestehenden Managementdefiziten. Drängen in diesen Sektor hat dazu geführt, daß Ban-
ken in einem ganz erheblichen Umfang ihr Engage-
Wichtig sind vor allem mittelfristig sichere Rah- ment verbreitert und vermehrt haben und daß es
menbedingungen für Investitionen. Deshalb habe heute bei einem ordentlichen Unternehmenskonzept
ich bereits im vergangenen Jahr ein mittelfristiges im allgemeinen möglich ist, an das Kapital heranzu-
Förderkonzept vorgelegt, das jetzt mit dem Jahres- kommen, das man braucht.
steuergesetz in den Haushaltsverhandlungen umge-
setzt worden ist. Die wichtigsten Fördermaßnahmen, (Beifall bei der F.D.P.)
wie z. B. die Investitionszulage und die Sonderab- Ich bin froh, daß es gelungen ist, die jungen Men-
schreibungen, werden bis 1998 modifiziert fortge- schen in den neuen Ländern mit Lehrstellen zu ver-
führt und auf die Indust rie und den Mittelstand kon- sorgen. Das war eine große Kraftanstrengung, eine
zentriert. Anstrengung, die auch in den nächsten Jahren not-
Neu ist die Aufnahme des mittelständischen Han- wendig sein wird. Ich bin stolz darauf, daß dabei das
dels in die 10 %-Zulage. Dies habe ich im Jahre 1994 duale System in seinen Prinzipien nicht in Frage ge-
konzipiert. Die SPD ist, anders als das Herr Schar- stellt worden ist. Mehr als 60 % der Ausbildungsver-
ping heute morgen ausgeführt hat, nachträglich auf hältnisse in den neuen Ländern werden mit öffentli-
diesen Vorschlag aufgesprungen. Das ist die objek- chen Mitteln finanziert. Das ist für eine vorüberge-
tive Wahrheit, meine Damen und Herren. hende Zeit notwendig und nicht vermeidbar gewe-
sen. Auf Dauer können wir uns das nicht leisten. Ich
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne appelliere daher an die Wi rt schaft, daß sie in ihren
ten der CDU/CSU) Anstrengungen nicht nachläßt, jungen Menschen in
-
Neuland für die Verstärkung der Kapitalausstat- den neuen Ländern in ordentlichen Ausbildungsver-
tung betreten wir beispielsweise mit dem Beteili- hältnissen eine Chance zu geben.
gungsfonds Ost, den ich vorgestern in Berlin vorge- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne-
stellt habe. Zwischen 1996 und 1998 werden für mit- ten der CDU/CSU)
telständische Unternehmen jährlich 500 Millionen
DM langfristiges Eigenkapital bzw. nachrangige Dar- Mein Resümee lautet: Das internationale Ver-
lehen für Investitionen, neue Strategien oder For- trauen in die Stabilität und Leistungsfähigkeit der
schungsaktivitäten bereitgestellt. Diese neue Rege- deutschen Wi rt schaft steht trotz der finanziellen La-
lung, die viele andere bestehende Regelungen er- sten des Aufbauprozesses außer Frage. Die Konjunk-
gänzt, lehnt sich an den alten § 16 des Berlinförde- turaussichten der westdeutschen Wirtschaft sind
5110 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Bundesminister Dr. Günter Rexrodt


trotz des zuletzt verlangsamten Wachstumstempos Erstens. Es ist richtig: Es gab keinen Plan, wie man
nach wie vor günstig. Die Aussichten für die neuen die deutsche Einheit realisieren könnte, und es war
Länder sind gut. Dennoch wird die zweite Hälfte des klar, warum es diesen Plan nicht gab. Aber es gab
Weges vielleicht weniger spektakulär, aber in vielen genügend Menschen aus dem Osten und aus dem
Aspekten komplizierter sein. Nach wie vor ist die So- Westen - das sage ich hier ganz ausdrücklich -, die
lidarität der Menschen in Ost und West gefragt und in der entscheidenden Stunde bereit waren, neue
eingefordert. Wege zu gehen.
Was die Bundesregierung angeht, so wird sie auch Herr Schulz, es gehört sicher zu den Enttäuschun-
in Zukunft alles in ihrer Kraft Stehende tun, um dem gen des BÜNDNISSES 90 und der Grünen, daß die
Aufbauprozeß in den neuen Ländern zum Erfolg zu Menschen nicht eine andere Republik wollten. Sie
verhelfen. wollten in den großen Grundzügen die Bundesrepu-
Ich danke Ihnen. blik Deutschland so, wie sie sie im Fernsehen gese-
hen hatten.
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat
Das heißt aber nicht, daß diese neue, vereinigte Bun-
jetzt die Abgeordnete Angela Merkel.
desrepublik Deutschland nicht auch Eigenschaften
und Eigenarten bräuchte, die neu sind. Da sind wir
Dr. Angela Merkel (CDU/CSU): Frau Präsidentin! in den neuen Bundesländern neue Wege gegangen.
Meine Damen und Herren! Wir feiern in diesem Jahr Wir sollten unser Licht nicht unter den Scheffel stel-
den fünften Jahrestag der deutschen Einheit. len.
Herr Schulz, ich finde, man kann nach wie vor sa- Ich nenne als ein Beispiel die Struktur des sächsi-
gen, daß es einen Grund zum Feiern gibt. Dies muß schen Umweltministeriums. Do rt gibt es Institutio-
auch nicht erstarrte Rituale bedeuten. Denn bei den nen, die gemeinsam Genehmigungsverfahren durch-
Menschen überwiegt - ich glaube, da sind wir uns führen und die nicht sozusagen jedes Medium ein-
einig - die Dankbarkeit und eine große Erleichterung zeln behandeln.
über Offenheit und über Erweiterung. Genau diese
Dankbarkeit und diese Erleichterungen machen es Ich nenne die schnellen Genehmigungsverfahren
aus, daß das dunkle Kapitel von Stefan Heym, über für die Rauchgasentschwefelungsanlagen in Jänsch-
das Herr Gysi heute gesprochen hat, nicht irgendwo walde - ein Traum für alle westdeutschen Bundeslän-
liegt, sondern bei ihm selbst. der, wenn das so schnell ginge.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Ich nenne die Braunkohleprojekte, die in unheim-
Daß er die Bücher, die ich zu DDR-Zeiten gerne gele- lich kurzer Zeit auf die Reihe gebracht wurden, und
sen habe, in der entscheidenden historischen Stunde ich nenne das Verkehrswegeplanungsbeschleuni-
nicht in die Realität umsetzen konnte, sondern daß er gungsgesetz, das uns erst in die Lage versetzt hat,
die Menschen nicht verstand, wenn sie erleichtert schnell Straßen und Schienenwege in den neuen
waren, daß sie endlich Schokolade und Kinder- Bundesländern in Ang riff zu nehmen.
schuhe kaufen konnten,
Dies sind neue Wege, die für die gesamte Bundes-
(Widerspruch und Zurufe von der PDS) republik Deutschland von Bedeutung sein werden.
daß er sie denunziert und in den Schatten gestellt
hat, das ist, so sage ich, das dunkle Kapitel von Ste- (Beifall bei der CDU/CSU)
fan Heym.
Aber ich sage auch: Man kann nicht die Bürokratie
(Beifall bei der CDU/CSU - Zuruf von der der alten Bundesrepublik beschimpfen und dann bei
PDS: Peinlich!) jeder Änderung und Deregulierung aufschreien und
sagen, es handele sich um einen Kahlschlag der Um-
Meine Damen und Herren, diese Debatte sollte na- weltpolitik oder um eine Vernichtung des Rechtssy-
türlich dazu dienen, darüber zu sprechen, was wir stems. Genau dies geht nicht. Wenn wir Entbürokra-
geschafft haben und was wir daraus für die Zukunft tisierung wollen, wenn wir Deregulierung wollen,
lernen können. Es war ziemlich schnell nach 1990 dann müssen wir uns auch zu den Fragen bekennen,
klar, daß die Schäden des Sozialismus viel größer die damit aufgeworfen werden. Deshalb finde ich,
waren, als wir alle gedacht hatten. Es war auch klar, daß gerade auf der Oppositionsseite sehr viel mehr
daß wir zwar mit dem Marschgepäck des Einigungs- Redlichkeit notwendig wäre,
vertrages eine Richtschnur hatten - übrigens eine gar
nicht so schlechte Richtschnur -, daß wir uns aber auf (Zurufe von der CDU/CSU: Sehr wahr!)
komplett neue Lebensumstände einstellen mußten.
Deshalb muß man heute fragen: Wir haben doch - wenn man auf der einen Seite neue Wege fordert
das ist unstrittig - in diesen fünf Jahren Gigantisches und auf der anderen Seite im konkreten Falle selten
geschafft; wie ist das gelungen, warum ist das gelun- bereit ist, diese Wege mitzugehen.
gen, und wie können wir das für die gesamte Bun-
desrepublik Deutschland nutzen? Lassen Sie mich (Beifall bei der CDU/CSU - Siegfried Hor-
das an drei Beispielen aufzeigen. nung [CDU/CSU]: Bis hin zum Bundesrat!)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5111
Dr. Angela Merkel
All diese neuen Wege waren nur möglich, weil die Demokratie keine Selbstverständlichkeit ist? Die
Menschen in den neuen Bundesländern bereit wa- Menschen in den neuen Bundesländern haben sehr
ren, mobil waren und nicht an Festgefahrenem fest- viel stärker das Gefühl, daß man sich für solche
gehalten haben. Dinge einsetzen muß.

Zweitens. Ich möchte hier einmal darauf hinwei- Es ist für mich kein Zufall, daß sich das Leistungs-
sen, daß die Bürgerinnen und Bürger in den neuen prinzip in den neuen Bundesländern einer höheren
Bundesländern in den letzten fünf Jahren erhebli- Akzeptanz erfreut als in den alten Bundesländern.
chen Belastungen ausgesetzt waren: Umstellungen (Beifall bei der CDU/CSU)
in allen Lebensbereichen, Arbeitslosigkeit, Umschu-
lung, neue Berufsfelder, aber eben auch das Wieder- Meine Damen und Herren, Beispiele von mutigem
gutmachen von Schäden z. B. im Umweltbereich. Herangehen, von schnellem Herangehen, von Er-
kenntnis des Wesentlichen sind von Ostdeutschen
Wir haben 500 neue Kläranlagen gebaut; wir ha- und Westdeutschen gemeinsam geleistet worden.
ben vieles geschafft. Aber wir haben es letztendlich Das möchte ich hier ausdrücklich sagen. Es gab viele
nach den gleichen Prinzipien wie in den alten Bun- Westdeutsche, die in die neuen Bundesländer gegan-
desländern getan. Das heißt, auch in den neuen Bun- gen sind, ohne zu fragen, was aus ihren Familien
desländern gilt das Verursacherprinzip. Dies bedeu- wird und vieles andere mehr. Diese Eigenschaften
tet, daß wir z. B. bei einem Einkommen in Höhe von brauchen wir für die Gestaltung der zweiten Stufe
75 % des Westniveaus erheblich höhere Abwasserge- der deutschen Einheit, und wir brauchen sie für die
bühren als in den alten Bundesländern haben. 5 DM Diskussion in Gesamtdeutschland.
pro Kubikmeter Abwasser sind in den neuen Bundes-
ländern der Normalfall. Dies wird von den Menschen Ich kann nur sagen: Wir haben umweltpolitisch
anerkannt und mitgetragen. vieles geschafft. Wir haben das geschafft, weil wir
bereit waren, den Menschen auch Risiken und Ver-
(Widerspruch bei der SPD) antwortung zuzumuten.
Das geschieht nicht aus Lethargie; vielmehr wird es Das Beispiel von den FCKW-Sprühdosen ist ty-
in weiten Bereichen als Wiedergutmachung für das pisch für unsere völlig unterschiedlichen Herange-
akzeptiert, was 40 Jahre Sozialismus ange richtet hat- hensweisen: Wir haben die FCKW-Produktion in der
ten. Bundesrepublik Deutschland auf Grund von markt-
wirtschaftlichen und technologischen Entwicklungen
(Beifall bei der CDU/CSU - Widerspruch eingestellt.
bei der SPD - Joseph Fischer [Frankfurt]
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach, Frau (Joseph Fischer [Frankfu rt ] [BÜNDNIS 90/
Ministerin!) DIE GRÜNEN]: Zehn Jahre haben wir dafür
gekämpft! Zehn Jahre! - Gegenruf von der
Ich sage an dieser Stelle ganz deutlich: Ich CDU/CSU: Schrei doch nicht so!)
wünschte mir auch in den alten Bundesländern, daß
Wir sind nicht der Meinung, daß man dies irgendwie
beim geforderten höheren Umweltstandard akzep-
durch planwirtschaftliche Mangelwirtschaft errei-
tiert wird, daß dies nicht zum Nulltarif passieren
chen muß.
kann.
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
Wenn sich der BUND auf der einen Seite hinstellt DIE GRÜNEN]: Zehn Jahre hat man dafür
und sagt, die letzte Düngemittelverordnung der Bun- gebraucht! Das hältst du am Kopf nicht
desregierung sei ein Nichts, und auf der anderen aus!)
Seite am Sonntag sagt, es könne nicht sein, daß die
Abwasserpreise für die dritte Reinigungsstufe über- Vielmehr kann man das durch die technologische
haupt steigen, dann halte ich dies für eine A rt des Weiterentwicklung schaffen.
Herangehens, wie man es in den neuen Bundeslän-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
dern in dem Maße nicht findet. Die Menschen waren
ordneten der F.D.P.)
dort sehr bereit, neue Wege zu gehen.
Dies ist doch genau der Punkt: Man kann die FCKW-
(Beifall bei der CDU/CSU) Freiheit im Sozialismus nicht mit der FCKW-Freiheit
in der Bundesrepublik Deutschland vergleichen.
Ein drittes Beispiel: In den alten Bundesländern ist
in 40 Jahren ein relativ hoher Grad an Perfektion und (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
Wohlstand erreicht worden. Ich habe manchmal den DIE GRÜNEN]: Zehn Jahre härteste Aus-
Eindruck, in den neuen Bundesländern hat man in einandersetzungen, und dann kommt sie
den vergangenen fünf Jahren den Blick auf das We- mit der Marktwirtschaft!)
sentliche besser beherrscht, als es hier in den alten
Bundesländern heute an vielen Orten gang und gäbe Meine Damen und Herren, ich meine, wir sollten
ist. aus der deutschen Einheit folgendes lernen: Wir ha-
ben in der alten Bundesrepublik und in den neuen
Ich habe mich in diesen fünf Jahren immer wieder Bundesländern erhebliche Probleme. Wir fassen das
gefragt: Wissen viele in den alten Bundesländern ei- immer unter dem Begriff „Standortdiskussion" zu-
gentlich, daß der Wohlstand auch wieder zerrinnen sammen. Dabei geht es um die Frage: Wie viele Men-
kann? Wissen sie und haben sie die Erfahrung, daß schen werden in Zukunft in dieser Bundesrepublik
5112 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Dr. Angela Merkel


Deutschland Arbeitsplätze, Lebensraum und Mög- Aus anderen Zeitungen, die ich gerade durchgese-
lichkeiten finden, den Wohlstand zu erhalten, den hen habe, wird deutlich,
wir uns geschaffen haben und der heute da ist? Diese
Frage muß so debattiert werden, daß wir zu Ände- (Zuruf des Abg. Joseph Fischer [Frankfu rt]
rungen bereit sind. Aber diese Änderungen werden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
wir nur schaffen, wenn sich nicht der Staat alles an daß Herr Seiters und Herr Waigel Walter Romberg
Land zieht, sondern wenn wir an die Verantwor- Verunsicherungskampagnen und Tatarenmeldungen
tungsfähigkeit und die Risikofreudigkeit der Men- vorgeworfen haben. Ich erinnere nur daran und
schen glauben. sage: Dies ist ein Zitat vom 12. August. Drei Tage
später war Walter Romberg entlassen wegen kriti-
Das heißt, daß wir Freiräume schaffen müssen, daß scher Warnungen, die von der Wirklichkeit weit
wir die Möglichkeit schaffen müssen, Verantwor- übertroffen worden sind. Ich weiß von Walter Rom-
tung zu übernehmen, damit man nicht in der Regu- berg und anderen: Dies war keine freie Entschei-
lierung erstickt. Genau diesen Weg werden wir nicht dung des damaligen Ministerpräsidenten.
nur in der Umweltpolitik, sondern in allen Politikbe-
reichen gehen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
ten der PDS - Zuruf von der CDU/CSU: Wo
Ich sage Ihnen: Die Ergebnisse von fünf Jahren ist denn der Beleg?)
deutscher Einheit sind eher ermutigend gewesen. Ich
wünsche mir, daß wir den Schwung der deutschen Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Zu einer Kurzin-
Einheit auf die gesamte Bundesrepublik ausdehnen tervention erhält der Abgeordnete Waigel das Wo rt .
können und nicht etwa nach fünf Jahren wieder in
einen Trott verfallen, in dem wir nicht vorankommen.
Dr. Theodor Waigel (CDU/CSU): Herr Kollege
Herzlichen Dank. Thierse, ich bin Ihnen für diese Klarstellung dankbar,
weil Sie damit unter Beweis gestellt haben, daß das,
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) was Sie mir von dem Podium zugerufen haben, näm-
lich ich hätte beleidigende und ink riminierende oder
ähnliche Äußerungen über Romberg gemacht, der
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wo rt zu ei- Wahrheit nicht standhalten. Darum bitte ich Sie
ner Kurzintervention erteile ich jetzt dem Abgeord- nochmals, diesen Vorwurf, den Sie mir gegenüber
neten Wolfgang Thierse. gemacht haben, zurückzunehmen. Ich bin Ihnen je-
denfalls für die Klarstellung dankbar.

Wolfgang Thierse (SPD): Liebe Kolleginnen und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
Kollegen! Wir hatten vorhin eine kleine Kontroverse ordneten der F.D.P. - Joseph Fischer
um einen fünf Jahre zurückliegenden Vorgang. Ich [Frankfu rt ] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
habe mir inzwischen ein paar Zeitungen vom August Wir haben gelernt, es war nicht Waigel,
1990 bringen lassen, und ich will aus der „Welt" vom sondern Kohl!)
12. August 1990 zitieren - wie Sie wissen, kein Par-
teiblatt der SPD. Da heißt es: Wolfgang Thierse (SPD): Herr Waigel, ich will aus-
drücklich sagen, daß ich daran festhalte, daß es die
Romberg drohte gestern in einem Inte rview mit Kritik von Ihnen und anderen war
seinem Rücktritt, wenn die offenen Finanzfragen
nicht gelöst würden. Beim jetzigen Stand der Ver- (Zuruf von der CDU/CSU: Kritik? - Weitere
handlungen um den Einigungsvertrag würden Zurufe von der CDU/CSU)
die DDR-Länder mit 90 Milliarden Mark Schul- - lassen Sie mich ausreden -, die dazu geführt hat,
den zu „zweitklassigen Ländern". Würden keine daß Walter Romberg entlassen worden ist. Ich will
wesentlichen Verbesserungen erzielt, müsse die ausdrücklich zurücknehmen, daß ich in meiner Rede
DDR-SPD die Koalition verlassen, sagte Rom- von beleidigenden Äußerungen gesprochen habe.
berg.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Dann heißt es weiter:
Es waren die Schärfe Ihrer Kritik und der Druck aus
Der DDR-Ministerpräsident hatte seinen Finanz- Bonn, der dazu geführt hat. Dabei bleibe ich aller-
minister am Donnerstag nach seinem Treffen mit dings, weil ich sicher bin, daß das der tatsächliche
Bundeskanzler Helmut Kohl in Bonn erstmals öf- Sachverhalt war.
fentlich kritisiert. Nach Informationen von WELT (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
am SONNTAG war von ihm zuvor bei den inter- ten der CDU/CSU)
nen Gesprächen im Kanzleramt bedeutet wor-
den, daß Romberg ständig mit neuen Zahlenan-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat
gaben die DDR-Bürger verunsichere, statt seine
jetzt die Abgeordnete I ris Gleicke.
Amtsgeschäfte solide zu führen.

(Unruhe bei der CDU/CSU - Joseph Fischer Iris Gleicke (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr
[Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Feiern zum
Das ist ja unglaublich!) fünften Jahr der deutschen Einheit liegen erst ein
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5113
Iris Gleicke
paar Tage hinter uns. Es wurde wieder viel von der tät, und das sogar dann, wenn klar ist, daß keine
Vollendung der Einheit geredet und von der notwen- Rückübertragung stattfinden wird. Wir wollen durch
digen Angleichung der Lebensverhältnisse. Aber eine Lockerung dieser Verfügungssperre Investiti-
längst warten nicht mehr alle Menschen in Ost- onsmöglichkeiten verbessern.
deutschland voller Geduld und Gottvertrauen auf die
(Beifall bei der SPD)
versprochenen blühenden Landschaften.
Insgesamt dauern die Verfahren oft quälend lange;
Neben denjenigen, die ungeduldig und zornig auf kein Mensch weiß, wann die Vermögensämter ihre
die Einlösung der gegebenen Versprechen pochen, Arbeit beendet haben werden. Deshalb wollen wir
gibt es die Gruppe derer, die ihre Hoffnungen längst im Falle des redlichen Erwerbs eine Vorabentschei-
begraben haben. Von ihnen, den Verliererinnen und dung durch Teilbescheid. So, wie es bisher ge-
Verlierern der Einheit, wird nicht so gerne gespro- schieht, darf man mit den Menschen nicht weiter um-
chen. Arbeitslose Männer und vor allem Frauen jen- gehen.
seits der 50, Sozialhilfeempfänger, Jugendliche ohne (Beifall bei der SPD)
Ausbildungsplatz: All diese Menschen sind ohne
Hoffnung und Perspektive. Wie man bisweilen mit den Menschen umgeht, hat
sich bis vor kurzem in einer erschreckenden Ent-
Als persönlich Betroffene spüren sie viel stärker als wicklung in der Rechtsprechung gezeigt. Ich rede
andere die soziale Kälte, die in diesem Land um sich von den Fällen, in denen den staatlichen Behörden
greift. Mit einer unglaublichen Brutalität verbreitet der DDR zivilrechtliche Fehler bei Grundstücksge-
sich tagtäglich die Kluft zwischen den Reichen und schäften unterlaufen waren. Hier ging man bis zum
den Armen, zwischen den Gewinnern und den Ver- Juli diesen Jahres davon aus, daß diese Geschäfte
lierern der Einheit. Daß es diese Gewinner und Ver- unwirksam sind. Stellen Sie sich das einmal vor: Sie
lierer natürlich auch im Westen gibt, daß fast aus- kaufen ein Grundstück von einer staatlichen Stelle.
schließlich die kleinen Leute in Ost- und West- Ihr Geschäftspartner, also die DDR, begeht bei Ab-
deutschland die Kosten der Einheit bezahlen, davon schluß des Geschäftes einen mehr oder weniger gra-
wollen natürlich diejenigen nichts hören, die unmit- vierenden Fehler. Davon können Sie natürlich nichts
telbare politische und moralische Verantwortung für wissen; Sie haben keine Ahnung. Sie organisieren
diese Entwicklung tragen. Steine und Zement; das halbe Dorf hilft beim Haus-
bau, und Sie leben do rt glücklich und zufrieden viele
(Beifall bei der SPD) Jahre mit Ihrer Familie. Dann gibt es die DDR auf
einmal nicht mehr, sondern nur noch ein Beitrittsge-
Aus rein ideologischen Gründen setzten Sie das biet. Sie machen sich um Ihren Besitz keine Sorgen,
Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung" durch, des- obwohl man im fernen Bonn beschließt, daß „Rück-
sen verheerende Folgen für die wirtschaftliche Ent- gabe vor Entschädigung" gilt, und obwohl es auch
wicklung Ostdeutschlands noch immer nicht abzuse- für Ihr Grundstück einen Alteigentümer gibt. Denn
hen sind. „Eigentum" selbst ist ein abstrakter Begriff, Sie sind ja ein von Politikern und Ju risten so genann-
und doch wird um diesen Beg riff ein Tanz wie um ter redlicher Erwerber, also ein ganz normaler ehe-
das goldene Kalb veranstaltet. Ist denn die Frage maliger DDR-Bürger, der nun auf den Rechtsstaat
nach dem Wohlergehen desjenigen, der ein Eigen- Bundesrepublik Deutschland vertraut.
tum nutzt, nicht mindestens ebenso wichtig wie die Aber dann kommen die Anwälte des Alteigentü-
Frage nach den Interessen der Eigentümer? mers, durchleuchten die uralten Verträge und su-
chen nach zivilrechtlichen Mängeln. Und da haben
(Beifall bei der SPD) Sie dann Pech. Denn diese gewitzten und gutbezahl-
ten Juristen finden tatsächlich irgendwelche Fehler.
Wir reden hier nicht von irgendeinem x-beliebigen
Dann läuft nämlich auf einmal eine sogenannte zivil-
Eigentum. Wir reden von Häusern und Wohnungen,
rechtliche Herausgabeklage bzw. eine Grundbuch-
in denen sich Menschen ein Heim geschaffen haben.
berichtigungsklage, weil es in diesem vereinten
Deutschland Ge richte gibt, die den so viele Jahre zu-
Die Demokratie verlangt hier einen sozialverträgli-
rückliegenden Kauf eines Grundstücks für unwirk-
chen Ausgleich zwischen den Interessen von Grund-
sam erklären. Sie haben etwas redlich erworben,
stückseigentümern und Grundstücksnutzern. Es ist
ohne es behalten zu dürfen.
jedoch weder mit dem Sachenrechtsänderungsgesetz
noch mit dem Schuldrechtsänderungsgesetz gelun- Mal im Ernst gefragt: Wenn Ihnen, meine lieben
gen, endlich wirkliche Rechtssicherheit und einen Kolleginnen und Kollegen, das so ergangen wäre,
vollständigen Rechtsfrieden in Ostdeutschland zu würden Sie dann noch an den Rechtsstaat, an Ge-
schaffen. Das liegt auch am kaum noch durchschau- rechtigkeit oder an den Sachverstand von politisch
baren Dickicht der Gesetze und an der Rechtspre- Verantwortlichen glauben?
chung.
(Beifall bei der SPD)
(Dr. Uwe Küster [SPD]: Richtig!)

Woher soll ein Mensch auch wissen, was etwa die Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin,
Verfügungssperre des § 3 Abs. 3 des Vermögensge- gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lu-
setzes in ihrer praktischen Konsequenz überhaupt ther?
bedeutet. Diese Verfügungssperre behindert ganz
massiv notwendige Verbesserungen der Wohnquali- Iris Gleicke (SPD): Aber gerne.
5114 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Dr. Michael Luther (CDU/CSU): Frau Kollegin, Sie Es geht uns mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
haben das ja jetzt sehr anschaulich in einem Beispiel nun wirklich nicht darum, auf Dauer an unterschied-
dargestellt. Für mich steht bloß die Frage im Raum: lichem Recht in Ost und West festhalten zu wollen.
Sind Sie mit mir nicht einer Meinung, daß sich durch Wir wollen verhindern, daß wieder einmal ohne
die jetzt erfolgte, die jüngste Rechtsprechung dieser Rücksicht auf Verluste westdeutsches Recht über ost-
Fall erledigt hat? deutsche Lebensverhältnisse gestülpt wird.
Wenn wir den Kündigungsschutz nicht verlängern,
Iris Gleicke (SPD): Sehen Sie, Herr Kollege Luther, führt das z. B. bei Zweifamilienhäusern dazu, daß
in meinem nächsten Satz wollte ich sagen, daß ich den Mietern ohne Angabe von Gründen und ohne
sehr froh bin, daß der Bundesgerichtshof im Juli den Nachweis eines Eigenbedarfs gekündigt werden
durch eine Grundsatzentscheidung die bisherige kann, wenn der Vermieter selbst im Haus wohnt. Das
Rechtsprechung in dieser Frage korrigiert hat, daß darf ja wohl nicht wahr sein. Wo sollen die Menschen
ich aber trotzdem der Auffassung bin, daß das jetzt bezahlbare Wohnungen finden? Bei der jetzigen
gesetzlich festgeschrieben werden muß, damit die Wohnungssituation ist dies kaum möglich.
Nutzer auch wirklich geschützt sind und damit das Aber angesichts der Fertigstellungszahlen im Woh-
angeschlagene Vertrauen in den Rechtsstaat wieder nungsbau besteht ja durchaus Anlaß zur Hoffnung,
hergestellt wird. daß innerhalb der nächsten drei Jahre so viele Woh-
nungen entstehen, daß kein gekündigter Mieter
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne mehr Angst davor haben muß, keine Bleichgute
ten der PDS) Wohnung zu finden. Ich bleibe dabei: Der Kündi-
gungsschutz kann erst dann auslaufen, wenn wir ihn
nicht mehr brauchen.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie
eine Zwischenfrage der Kollegin Matthäus-Maier? Das Verständnis, das ich für sehr viele Vermieter
habe, die in ihre Häuser einziehen wollen, bringe ich
für den Präsidenten von Haus & Grund offengestan-
Iris Gleicke (SPD): Ja, bitte. den nicht auf. Herr Jahn hat gestern gesagt, eine
Verlängerung des Kündigungsschutzes wäre ein
(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Das „Vertrauensbruch der Politik". Soll das vielleicht hei-
muß doch nicht sein; das muß doch wirklich ßen, daß man in Ostdeutschland die Wohnungsnot
nicht sein!) verschärfen soll, damit das Vertrauen der Hauseigen-
tümer in die Politik keinen Schaden nimmt?
Da bin ich wieder bei dem, was ich eingangs ge-
Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Frau Kollegin, da Sie
sagt habe. In diesem Land wird viel zuviel über Ei-
darauf hingewiesen haben, daß das Gericht so ent-
gentum geredet und viel zuwenig über diejenigen,
schieden hat, möchte ich Sie fragen: Können Sie
die keines haben und vielleicht niemals eine Chance
auch bestätigen, daß die Regierung diese Korrektur
bekommen, welches zu erwerben.
immer wieder abgelehnt hat und erst das Gericht die
Regierung zur Ordnung rufen konnte, obwohl dies (Beifall bei der SPD)
jahrelang thematisiert wurde und die SPD im Deut-
schen Bundestag das immer wieder gefordert hat? Das, meine Damen und Herren, ist eine soziale Kälte,
die schaudern macht.
(Beifall bei der SPD) Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Iris Gleicke (SPD): Frau Kollegin Matthäus-Maier, DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
das will ich Ihnen sehr gerne bestätigen. PDS)

(Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wo rt hat
Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Das ist ja jetzt der Abgeordnete Jürgen Türk.
ein Erfolg, Frau Matthäus-Maier!)

Wo wir gerade beim Vertrauen in den Rechtsstaat Jürgen Türk (F.D.P.): Sehr verehrte Frau Präsiden-
sind: Vor wenigen Monaten wurde in schwierigen tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, bei
und zähen, aber letztlich erfolgreichen Verhandlun- der Bewertung von fünf Jahren deutscher Einheit
gen der Übergang in das Vergleichsmietensystem sich die Stimmen und Meinungen unserer Nachbarn -
auf den Weg gebracht. Der Mieterbund, die SPD und eindringlich anzuhören. In einem Kommentar im pol-
die Bundesregierung haben die Mieterinnen und nischen Rundfunk war dazu zu hören:
Mieter in aufwendigen Kampagnen beraten. Das
Die Deutschen haben innerhalb von fünf Jahren
hier gewonnene Vertrauen wird mutwillig und ohne
unglaublich viel vollbracht ... Man darf die Deut-
Not aufs Spiel gesetzt, wenn sich die Bundesregie-
schen dazu beglückwünschen und sich selbst;
rung nicht endlich dazu durchringt, den besonderen
denn von dem, wie sich die Situation in Deutsch-
Kündigungsschutz um mindestens drei Jahre zu ver-
land entwickelt, von der deutschen Stabilität
längern.
hängt auch die Stabilität in Europa ab, auch
(Beifall bei der SPD) unsere.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5115
Jürgen Türk
Und weiter: Die F.D.P. und wir alle müssen uns für die Rege-
lung der Altschulden der Kommunen einsetzen,
Auf dem Weg in die Moderne läßt sich Ost-
denn wir können nicht einerseits den Kommunen
deutschland praktisch von nichts aufhalten.
Geld für den Infrastrukturaufbau geben und sie an-
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich will dererseits wieder belasten, indem wir ihnen diese
mit diesem Zitat die Probleme, insbesondere die Schulden aufbürden. Letztlich müssen wir auch end-
noch hohe Arbeitslosigkeit, in keiner Weise kaschie- lich in Ost und West begreifen, daß das Festhalten an
ren. Nur sollten wir bei allen schmerzhaften Schwie- verkrusteten Denkstrukturen in Ost und West keine
rigkeiten nicht verkennen, daß wir durch die deut- neuen Arbeitsplätze schafft: Neues Denken tut not.
sche Wiedervereinigung im Vergleich zu den ande- Es gibt noch viel zu tun. Packen wir es weiterhin ge-
ren Ländern im früheren Ostblock nicht nur einen meinsam an.
leichteren Weg hatten, sondern auch eine weitaus Vielen Dank.
stabilere Entwicklung genommen haben.
(Beifall bei der F.D.P.)
Dazu hat eine Investitionsförderung beigetragen,
die in ihrem Umfang beispiellos ist und die rasche
Entwicklung einer leistungsfähigen, modernen Infra- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat
struktur in allen Bereichen ermöglichte. Wer die Ver- jetzt der Abgeordnete Paul Krüger.
änderungen nicht sieht oder sie leugnet, ist entweder
blind oder Opportunist. Dr.-Ing. Paul Krüger (CDU/CSU): Frau Präsidentin!
Die wichtigste Botschaft für die Menschen in den Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich
aus Sicht der heutigen Debatte auf fünf Jahre Einheit
neuen Ländern aber ist: Der Aufbau Ostdeutsch-
lands geht weiter. zurückschaue und darüber nachdenke, ist für mich
persönlich der 9. Oktober 1989 ganz wichtig. Das
(Beifall bei der F.D.P.) war der Tag der ersten Massendemonstration in
Leipzig. Er war für mich persönlich - ich glaube auch
Es hätte auch keinen Sinn gemacht, auf der halben für viele andere in Ostdeutschland - ein ganz ent-
Wegstrecke stehenzubleiben, also Investitionsruinen scheidender, vielleicht sogar der entscheidende Tag
zu schaffen. Niemand hinde rt uns aber daran, es in unserem Leben.
noch besser zu machen und aus Fehlentwicklungen
unsere Lehren zu ziehen. Aber nur wer nichts macht, Zum erstenmal erhob sich in der DDR der Wider-
macht keine Fehler. stand von 70 000 Menschen, ohne daß das System
gnadenlos zurückgeschlagen hätte. Viele von uns
Die Fortführung und Konzentration der Förder- spürten an diesem Abend intuitiv, nichts würde mehr
maßnahmen auf Industrie und Mittelstand sind noch so sein wie vorher. Warum sage ich das? Wenn ich
notwendig; denn Investitionsförderung heißt weiter- manches, was heute gesagt wurde, höre, dann nimmt
hin Arbeitsplätze schaffen. Dazu gehört auch, daß es schon wunder, wie die Einschätzung der Situation
die Kirchturmpolitik der Kommunen aufhört. Sie ist dieser Zeit heute gelitten hat.
ineffizient. Dazu brauchen wir regionale Standortent-
wicklungsgesellschaften, die Synergieeffekte aus- Dieser Durchbruch des 9. Oktobers ließ erstmals
nutzen, die p ri vat, marktwirtschaftlich und erfolgsab- aus einer tiefen Hoffnungslosigkeit für die Menschen
hängig arbeiten. in Ostdeutschland Hoffnung entstehen und wachsen;
Hoffnung zunächst nur auf ein Ende des alten Sy-
Wir brauchen die verstärkte Ausrichtung der Wi rt stems. Damals haben wir überhaupt nicht gewagt,
Forschung, Entwicklung und Aus--schaftpolikauf über Neues nachzudenken. Wir haben nur einen
bildung, denn Köpfe sind nun einmal unser eigentli- Schimmer davon gehabt, daß sich etwas verändern
ches Kapital. Bei der noch vorhandenen Diskrepanz könnte. Uns war Monate später keineswegs klar, wie
zwischen Löhnen und Produktivität in den neuen diese Veränderungen aussehen könnten. Wir haben
Ländern hilft kein Jammern, sondern nur gezielte In- vielleicht in manchen Diskussionen zaghaft gewagt,
novationsförderung beim Produkt, bei der Fertigung darüber nachzudenken, ob es irgendwann einmal
und beim Absatz. Weiterhin ist die Unterstützung ei- eine Wiedervereinigung geben könnte. Wir haben
nes forcierten Aufbaus des Justiz- und Verwaltungs- damals oft gesagt - ich kann mich genau an die Zeit
wesens notwendig. Dem neu entstehenden Mittel- erinnern -: Wir werden von den Veränderungen, die
stand geht finanziell die Puste aus, weil er seine For- jetzt anstehen, überhaupt nichts mehr haben. Viel-
derungen nicht zügig eintreiben kann. leicht werden irgendwann unsere Kinder spüren,
Ich fordere hiermit Bund und Länder auf, entschei- was es hieß, in diesem alten System zu leben, und
dende Schritte gegen die wachsende Zahlungsun- was es heißt, jetzt Veränderungen zu haben.
moral zu unternehmen. Wir dürfen das Leistungs- So war es damals, und so haben wir es empfunden.
prinzip, was sich hier jahrelang bewährt hat, nicht Auch in Westdeutschland, meine lieben Kolleginnen
abschaffen. und Kollegen, waren viele von klaren Zukunftsvisio-
(Beifall bei der F.D.P.) nen weit entfernt. Ich habe mir gestern im Vorfeld
der Rede einige aus der damaligen Zeit aktuellen
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, Zeitschriften besorgt. Egon Bahr sagte am 1. Oktober
Ihre Redezeit ist vorbei. 1989:
Laßt uns um alles in der Welt aufhören, von der
Jürgen Türk (F.D.P.): Ich bin sofort fertig. Einheit zu träumen oder zu schwätzen.
5116 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Dr.-Ing. Paul Krüger


Unser Kollege Peter Glotz, der heute nicht an der De- Ich möchte heute die Gelegenheit nutzen, allen zu
batte teilnimmt, sagte noch am 23. Oktober 1989, danken, die diesen Weg, auch aus diesem Hause her-
also kurz bevor der Bundeskanzler in diesem Hause aus, unbeirrt beschritten haben: Ich denke an Hel-
die zehn Punkte zur deutschen Einheit vorlegte, der mut Kohl, ich denke an Theo Waigel, und ich denke
Gebrauch des Wortes „Wiedervereinigung" sei op- auch an Lothar de Maizière. Ich glaube, ihnen allen
portunistisch und widerwä rtig. gebührt unser ganz besonderer Dank, auch an einem
solchen Tage.
(Zurufe von der CDU/CSU: Hört! Hört!)
(Beifall bei der CDU/CSU - Widerspruch
Vor diesem Hintergrund muten die Reden der heuti- bei der F.D.P. und der SPD)
gen Debatte sehr eigenartig an, um nicht zu sagen:
kleinkrämerisch. - Natürlich auch der F.D.P., entschuldigen Sie.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge (Widerspruch bei der SPD)
ordneten der F.D.P. - Widerspruch bei der
Ich habe das vor dem Hintergrund meines Parteibei-
SPD - Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Man muß ih
tritts gesagt. Ich wäre damals nicht auf die Idee ge-
nen eine Chance zum Lernen geben!)
kommen, in die SPD einzutreten.
Sie sprechen Mißachtung des Erreichten aus und er- Als besonders enttäuschend habe ich es empfun-
innern mich wirklich - wie unser Vorsitzender es den, daß die Berliner SPD-Regierung gerade an dem
sagt - an Miesmacherei. Tag, als Helmut Kohl in diesem Hause sein Zehn-
Herr Scharping hat heute auch über Kosten der Punkte-Programm vorstellte, die Aufnahme von
Einheit gesprochen. Wenn ich an den damaligen Übersiedlern aus der DDR einzuschränken beschloß.
Kanzlerkandidaten und übrigens auch an die Grü- Die damalige SPD-Sozialsenatorin, Ing ri d Stahmer,
nen, die damals Interessantes von sich gegeben ha- sagte am 28. November gegenüber dpa: „Wir kön-
ben, denke, muß ich sagen, daß nur diejenigen eine nen nicht mehr. " Hätte Frau Stahmer das zur gegen-
Legitimation haben, über die Kosten der Einheit zu wärtigen Situation der SPD gesagt, wäre es wahr-
sprechen, die die Einheit wirklich wollten. scheinlich zutreffender gewesen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)
und der F.D.P.) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die CDU, die
Da die Solidarität und die Wirtschaft heraufbe- CSU und auch die F.D.P.,
schworen wurden: Der damalige SPD-Kanzlerkandi- (Jürgen Türk [F.D.P.]: Jetzt klappt es wie-
dat rief dazu auf, den Deutschen im Osten „nicht den der!)
Zugriff auf die sozialen Sicherungssysteme der Bun-
desrepublik einzuräumen" , weil man Angst hatte, es also die Koalition, waren die Parteien der Wiederver-
könnte zu teuer werden. Ich habe aus der „Welt" einigung. Dies wird vom weitaus größten Teil der Be-
vom 27. November 1989 zitiert. völkerung in Ostdeutschland so gesehen. Wer dies
versucht zu leugnen, hat ein unrealistisches Bild von
Hier wurden immer wieder Methoden des „zwei- den Empfindungen und Erwartungen der Menschen
ten Arbeitsmarktes" heraufbeschworen. Dazu kann in Ostdeutschland.
ich in freier Abwandlung eines Zitats von Ludwig Er-
hard nur sagen: Die beste Wirtschaftspolitik ist auch (Horst Kubatschka [SPD]: Sie kennen die
die beste Arbeitsmarktpolitik. Letztlich gibt es nur ei- Geschichte der DDR nicht!)
nen Arbeitsmarkt, liebe Kolleginnen und Kollegen - Ich habe do rt gelebt, lieber Kollege.
von der SPD.
(Heiterkeit bei der CDU/CSU)
Vor dem Hintergrund des Jahres 1989 kann man
bei aller gebotenen Zurückhaltung und auch bei al- Zu den Ergebnissen des Wiederaufbaus in den
ler Sorge nur sagen: Das, was seitdem erreicht neuen Ländern ist heute viel gesagt worden - viel
wurde, verdient unser aller großen Respekt. Das se- Richtiges, aber auch viel Falsches. Ich möchte mich
hen auch alle unsere internationalen Pa rtner so. Was deshalb an dieser Aufrechnung - wie ich es nennen
wir erreicht haben, ist ein großer Erfolg. möchte - der Geschichte nicht beteiligen.
Aber nicht nur die Ausgangsbedingungen waren Ich möchte feststellen, welch große Solidarlei-
schwierig, sondern auch die Zeit für das Erarbeiten stung in den letzten fünf Jahren von der westdeut-
und die Realisierung von Lösungen. Die Zeit war äu- schen Bevölkerung für uns in den neuen Bundeslän-
ßerst knapp. Das habe ich in der Volkskammer selbst dern trotz aller Unkenrufe aufgebracht wurde. Ich
miterleben dürfen. Freiheit wurde im Herbst 1989 zu- möchte unseren Landsleuten namens vieler Men- -
nächst nur durch Freizügigkeit erlangt. Bezüglich schen aus dem Osten unseren großen Dank und un-
notwendiger Veränderungen setzte das damals alle sere Anerkennung für die gelebte Solidarität in die-
Beteiligten unter einen enormen Zeitdruck. Unter ser Zeit aussprechen.
diesen Bedingungen war eine ganz schnelle Wieder- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
vereinigung der einzige gangbare Weg. Die erste ordneten der F.D.P.)
Partei, die sich in Ost und West zu diesem Weg be-
kannte, war die CDU/CSU - in Ost und West. Das Ohne diese Solidarität wären wir wi rtschaftlich
war für mich der Grund, damals in die CDU einzutre- wahrscheinlich auf einem ähnlichen Niveau wie
ten. Tschechien oder Polen heute. Wir sind aber - das
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5117
Dr.-Ing. Paul Krüger
muß ich in aller Deutlichkeit sagen - von einem blem, das ist die schwierige Eigentumssituation, die
selbsttragenden wirtschaftlichen Aufschwung weit wir im Osten haben, das ist ein Bereich, in dem die
entfernt. Inzwischen sind zwar die Verhältnisse im Schere sich immer weiter öffnet. Das wurde heute
Konsumbereich zwischen Ost und West fast ausgegli- bereits angesprochen.
chen, aber die Schaffung von Arbeitsplätzen und der
wirtschaftliche Aufschwung in Ostdeutschland blei- Insofern glaube ich, haben wir weniger eine
ben nach wie vor ein zentraler Punkt unserer Politik. Mauer in den Köpfen als vielmehr eine Mauer zwi-
schen den Brieftaschen. Wir sollten großes Augen-
Die Hauptaufgaben sind die weitere Sanierung merk darauf legen, dieser Entwicklung staatlich -
und der Ausbau der Infrastruktur, die Sanierung und der Staat kann hier nicht allzuviel machen, das weiß
der Neubau von Wohnungen, die Ansiedlung und ich, aber wir müssen der Situation klar ins Auge se-
Entwicklung von verarbeitendem Gewerbe und hen - entgegenzuwirken.
Dienstleistungen, die Stärkung von Forschung und Ich sehe die Probleme in Ostdeutschland, die uns
Entwicklung zur Erreichung von Innovation, über die
der Sozialismus eingebrockt hat, ein Sozialismus, der
heute bereits gesprochen wurde, und die Stärkung immer die Gleichheit will, aber letztlich die Armut
der Eigenkapitalbasis von Unternehmen.
der Menschen erzeugt hat. Vor diesem Hintergrund
Eine Konzentration auf diese Hauptaufgaben ist kann ich nur sagen: Die sozialistischen Rezepte, die
deshalb auch vor dem Hintergrund der gegenwärti- immer wieder hier in diesem Hause aus den Reihen
gen Haushaltssituation notwendig. Ich muß aber all der Opposition angeboten werden, werden die Pro-
diejenigen warnen, die, obwohl sie die Situation der bleme Ostdeutschlands nicht lösen.
ostdeutschen Wi rtschaft vor Augen haben, jetzt über (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU
Sparen in Ostdeutschland nachdenken. und der F.D.P.)
Die derzeitige Differenz zwischen Inlandsnach- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sitzen alle in
frage in Ostdeutschland und Bruttoinlandsprodukt einem Boot. Für die Bewältigung der zweiten Etappe
beträgt nach wie vor weit über 200 Milliarden DM. auf dem Weg zur Wiedervereinigung ist besonders
Der Aufbau Ost wird deshalb noch über Jahre hinaus wichtig, daß nicht nur erkannt wird, daß wir ein Volk
unsere Aufgabe bleiben. Die Forderung nach weite- sind, sondern daß auch erkannt wird, daß wir auf Ge-
rer Reduzierung der Ostförderung, die seit Jahresbe- deih und Verderb in diesem einen Boot sitzen, daß
ginn immer wieder insbesondere aus vielen west- nicht nur erkannt wird, daß wir solidarisch miteinan-
deutschen Ländern kommt, kann ich deshalb nur, der umgehen sollten, sondern daß auch erkannt
wenn ich es freundlich ausdrücke, als kurzsichtig be- wird, daß wir gemeinsam die Verantwortung für die
zeichnen. Lösung der anstehenden Probleme tragen und daß
die erfolgreiche Gestaltung unserer gemeinsamen
Ich sage daher deutlicher: Wir brauchen zwar nicht Zukunft nur in gemeinsamer Verantwortung gesche-
mehr die Gießkanne, aber wir ertragen auch noch hen kann.
keinen Rasenmäher, geschweige denn - ich sage das
mit allem Nachdruck - den Preßlufthammer; denn ( Vo r s i t z: Vizepräsident Hans-Ulrich Klose)
die Förderung Ostdeutschlands darf nicht zum Stein- So hoffe ich, daß auch die heutige Debatte zu mehr
bruch der Finanzpolitik in Bund und insbesondere Verständnis und vor allen Dingen zu mehr Gemein-
den westdeutschen Ländern werden. Wir brauchen samkeit trotz aller Kontroversen beitragen wird.
weiterhin die Solidarität des gesamten deutschen
Volkes, wie sie im Solidarpakt ihren Niederschlag Danke.
findet.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Ein Bremsen hätte für die gegenwärtige gute kon-
junkturelle Entwicklung in Ostdeutschland fatale Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der
Folgen nicht nur in Form erheblicher finanzieller Zu- Kollege Hans-Joachim Hacker, SPD.
satzlasten, sondern auch für die Psyche der Men-
schen, denen wir in den letzten Jahren sehr viel zu-
gemutet haben, die aber auch Gott sei Dank sehr viel Hans-Joachim Hacker (SPD): Herr Präsident!
Neues erfahren durften. Leider klang vieles in der Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Krü-
heutigen Debatte sehr belehrend. Ich möchte nie- ger, wenn man Ihren Appell ernst nehmen würde,
manden belehren, aber ich wünschte mir manchmal, dann wären, so muß ich sagen, die Äußerungen von
daß wir mehr aufeinander hören, daß wir mehr zuhö- Ihnen über den Weg zur deutschen Einheit, über die
ren. Situation im Herbst und im Winter 1989/90 überflüs-
-
sig gewesen. Sie haben die damalige Situation in ei-
Trotz aller Probleme und aller Schwierigkeiten der ner beschönigenden Art und Weise beschrieben. Ich
Menschen in den neuen Ländern haben diese Men- glaube, das, was Herr Kubatschka vorhin sagte, ist
schen mit viel Geduld und Risikobereitschaft, Konse- zutreffend. Ihnen fehlt ein gewisses Maß an Ge-
quenz und Leidenschaft die Aufgaben do rt in Angriff schichtsverständnis.
genommen. Denjenigen, die in Westdeutschland sa-
(Beifall bei der SPD)
gen, die Menschen seien unzufrieden, sage ich deut-
lich: Sie sind es nicht, sie sind manchmal verunsi- Ich würde Sie einladen, schauen Sie sich doch ein-
chert, verunsichert durch vieles, was sie neu lernen mal das erste Statut der damals noch SDP genannten
mußten. Dabei haben sie vor allem ein großes Pro Partei, der ersten Oppositionspartei in der zu Ende
5118 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Hans-Joachim Hacker
gehenden DDR, an und insbesondere das, was wir lichen mit den Ergebnissen der Enquete-Kommis-
am 7. Oktober 1989 zur Frage der deutschen Einheit sion des Schweriner Landtages, die sich mit dem Le-
gesagt haben! Wenn Sie in einer beweihräuchernden ben in der DDR, mit dem Leben nach 1989 und mit
A rt und Weise die Position der Koalitionsparteien zur der Aufarbeitung und Versöhnung beschäftigt.
deutschen Einheit darstellen und die Situation im
Es sind erhebliche Mängel und Lücken in beiden
Jahr 1989 schildern, dann rate ich Ihnen auch:
SED-Unrechtsbereinigungsgesetzen festzustellen.
Schauen Sie in die Unterlagen des KoKo-Untersu-
Der Gesetzgeber ist dringend gefordert, durch No-
chungsausschusses, wie do rt die Positionen dieser
Regierungskoalition im Oktober 1989 beschrieben vellierung der beiden Gesetze die Situation der Op-
fer zu verbessern.
worden sind! Ihnen würden die Augen aufgehen. Ich
rate Ihnen das dringend. (Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD) Genau diese Zielstellung verfolgt der Ihnen von mei-
Meine sehr verehrten Damen und Herren, eine ner Fraktion vorgelegte Antrag auf Drucksache
Grundsatzdebatte zur Situation in Deutschland fünf 13/2445.
Jahre nach der Herstellung der staatlichen Einheit ist Ich komme an dieser Stelle nicht umhin, festzustel-
für meine Fraktion mit dem Dank an diejenigen len, daß die von den Betroffenen vorgetragene Kritik
Frauen und Männer verbunden, die sich während und deren Forderungen von meiner Fraktion bereits
der Zeit der Teilung für Einigkeit und Recht und Frei- teilweise in der zweiten Lesung der beiden Gesetz-
heit eingesetzt haben und dafür in Gefängnisse und entwürfe als Defizite benannt wurden.
Zuchthäuser der SBZ und DDR geschickt wurden.
Während der Zeit der Teilung wurde in der Öffent- Die SPD-Bundestagsfraktion hatte in der Plenarsit-
lichkeit Westdeutschlands an den Mut dieser Frauen zung am 17. Juni 1992 sowie am 11. März 1994 insbe-
und Männer erinnert und deren Schicksale gedacht. sondere kritisiert, daß im „Strafrechtlichen Rehabili-
Verbunden wurde damit auch die Zusage des freien tierungsgesetz die Vererblichkeit" und die Höhe der
Deutschlands, den Opfern von Unterdrückung und Haftentschädigung unzureichend geregelt sind.
Tyrannei verpflichtet zu sein. Das muß um so mehr Die von meiner Fraktion eingebrachten drei Ände-
für das vereinte Deutschland gelten. Rehabilitierung rungsanträge sind von Ihnen, meine Damen und
und Wiedergutmachung von Unrecht waren auf dem Herren aus der Koalition, damals jedoch abgelehnt
Gebiet der DDR erst nach der f riedlichen Revolution worden.
1989 möglich. Der gesamtdeutsche Gesetzgeber
steht heute in der Pflicht, Defizite in der Rehabilitie- (Ing ri d Matthäus-Maier [SPD]: Leider! -
rungsgesetzgebung endlich zu beseitigen. Wolfgang Thierse [SPD]: Skandalös!)
Ihnen, meine Damen und Herren, liegt heute ein Ebenso ist die vom Rechtsausschuß eingeforderte
Entwurf der SPD-Bundestagsfraktion vor, mit dem Regelung für Opfer von Verschleppungsmaßnah-
wir ein Paket von Maßnahmen zur Verbesserung der men östlich von Oder und Neiße bis heute nicht be-
Situation der Opfer des DDR-Systems vorschlagen. friedigend erfolgt. Dafür trägt diese Bundesregie-
Die Bundesregierung hat dem Bundesrat ebenfalls rung direkt die Verantwortung.
einen Gesetzentwurf zur Änderung der beiden SED- (Beifall bei der SPD)
Unrechtsbereinigungsgesetze zugeleitet. Mit ihm
sollen die Antragsfristen in den beiden Artikelgeset- Während bei der Regelung der offenen Vermö-
zen jedoch lediglich um zwei Jahre verlängert wer- gensfragen im Entschädigungs- und Ausgleichslei-
den. stungsgesetz die Bundesregierung Milliardenbeträge
bewilligt hat, sind die Zahlungen für Schäden an
Die Bewe rtung des Gesetzentwurfs der Bundesre- Leib und Leben sowie die Ausgleiche für oft lebens-
gierung ist auf einen kurzen Nenner zu bringen. Er lange Benachteiligungen sparsam, um nicht zu sa-
wird der Situation der Opfer nicht gerecht, da er die gen kümmerlich ausgefallen - eine dera rtige Schief-
Ergebnisse der bisherigen Umsetzung der Rehabili- lage, die die Frage nach den Wertmaßstäben dieser
tierungsgesetze nicht aufgreift. Bundesregierung aufwirft.
(Beifall bei der SPD) Ich wäre an dieser Stelle gerne auf die Aussagen
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist hand- des Bundeskanzlers eingegangen, der hier richtiger-
werklich nicht zu beanstanden. Seine einsamen zwei weise über Käfige in Bautzen und das gelbe Elend
Artikel bringen für die Betroffenen jedoch in mate- gesprochen hat. Ich hätte ihm gerne die Frage ge-
riell-rechtlicher Hinsicht nichts. stellt: Wo sind die Konsequenzen?
In den letzten Monaten hat sich meine Fraktion in- (Beifall bei der SPD) -
tensiv mit der Frage der Stellung der Opfer nach vor- Welche Maßnahmen schlägt er heute vor, um die Si-
liegender umfangreicher Erfahrung bei der Umset- tuation der Opfer zu verbessern? Es ist Zeit, daß die
zung der Rehabilitierungsgesetze beschäftigt. Die- Bundesregierung und die Koalition in dieser Frage
sem Ziel diente auch eine öffentliche Anhörung am eine moralische Wende vollziehen.
12. September dieses Jahres in Berlin, bei der Betrof-
fenenverbände, Sachverständige, Landesbehörden (Dr. Uwe Küster [SPD]: Worte kosten nichts,
und Vertreter der Bundesregierung ihre Erfahrungen aber die Taten, die gebraucht werden, ko-
darlegen konnten. Die Ergebnisse und Schlußfolge- sten Geld! Deshalb wird es wieder verwei-
rungen aus dieser Anhörung decken sich im wesent gert!)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5119
Hans-Joachim Hacker
Die Zeit der Sonntagserklärungen und Lippenbe- Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Christa Luft,
kenntnisse gegenüber den Opfern muß endlich ein PDS.
Ende haben.
(Beifall bei der SPD)
Dr. Christa Luft (PDS): Herr Präsident! Verehrte
Diese Forderungen an Sie, die Kolleginnen und Kolleginnen und Kollegen! Ehrlich gestanden, nach
Kollegen der Koalition, leuchten wohl jedem ein, der den bisherigen Beiträgen der Regierungsvertreter
sich mit den Ergebnissen der bisherigen Rehabilitie- und der Koalitionsabgeordneten frage ich mich nun
rungsgesetzgebung für die Betroffenen auseinander- schon seit Stunden: Wen wollen und können Sie ei-
gesetzt hat. gentlich nach fünf Jahren deutscher Einheit damit
noch ansprechen oder gar mobilisieren, daß Sie die
Die SPD-Bundestagsfraktion stellt den Antrag auf Abgeordneten hier im Saal und die Wählerinnen und
deutliche Nachbesserungen nicht leichtfertig, weil Wähler, die sie zu vertreten haben, in zwei Schach-
auch wir wissen, daß der zur Diskussion gestellte An- teln tun? Die einen sind die Guten, die Einheitsbefür-
trag in seiner Ausführung Geld kostet. Wir stellen worter, und die anderen sind die Bösen, die gegen
diesen Antrag jedoch vor dem Hintergrund der Ver- die Einheit waren. Ich muß Ihnen sagen, daß dies im
antwortung für die Frauen und Männer, die dem Un- Lande niemanden mehr interessiert; jedenfalls beob-
recht in der damaligen SBZ und der DDR Widerstand achte ich das so. Das ist keine konstruktive Fragestel-
entgegengebracht haben oder die allein wegen der lung, das spaltet künstlich.
Inanspruchnahme bzw. der Einforderung von Bür-
gerrechten politisch drangsaliert und verfolgt wor- (Beifall bei der PDS)
den sind.
Die Einheit gibt es doch inzwischen. Ich kenne in
Es kann nicht sein, daß in Deutschland und insbe- meinem Wahlkreis, in Berlin-Lichtenberg und in Ber-
sondere in der Gesetzgebung dieses Hohen Hauses lin-Friedrichshain, niemanden, der sich ein geteiltes
der Immobilienwert höher eingestuft wird als der Land zurückwünscht. Da malen Sie einfach Schreck-
Wert für Gesundheit, für Lebenschancen, ja der Wert gespenster an die Wand, und Sie stempeln die Bür-
für Leben an sich. gerinnen und Bürger ab, die sich darüber Gedanken
machen, was jetzt noch falsch läuft und was geändert
(Beifall bei der SPD)
werden muß. Das Thema Gestaltung der wirtschaftli-
Meine Damen und Herren, wir fordern erstens die chen und sozialen Einheit ist doch zu schade, als daß
Erhöhung der Kapitalentschädigung im strafrechtli- es als Wahlkampfschlager dient und in Parteienpole-
chen Rehabilitierungsgesetz sowie die Erweiterung mik verkommt, so wie das hier heute geschieht.
der Vererblichkeitsregelung und zweitens die Ein-
führung einer moralischen Rehabilitierung bei Ver- (Hannelore Rönsch [Wiesbaden] [CDU/
waltungsunrecht. Wir wollen dem Schicksal der Be- CSU]: Da müssen Sie Ihr Wahlkampfdreh-
troffenen gerechter werdende Regelungen für die buch aber umschreiben, Frau Dr. Luft!)
Verschleppungsfälle östlich von Oder und Neiße er- Der Bundeskanzler, Herr Schäuble und Herr Wai-
reichen, insbesondere im Wege der Nachbesserung gel haben gesagt, die weltweit anerkannten Fo rt
der Stellung und Möglichkeiten der Stiftung für ehe- -schritenDuladbierUmgstlun
malige politische Häftlinge. Osten unseres Landes solle man nicht zerreden. Das
Zur Situation der Zwangsausgesiedelten könnte ist sicher gut. Aber verstehen Sie denn nicht, daß die
ich an dieser Stelle viel sagen. Hier muß nachgebes- Menschen in den neuen Bundesländern - ich nehme
sert werden. Es geht nicht an, daß eine Rückzahlung an, auch in den alten Ländern - ihre Empfindungen,
für Erstattungsbeträge und für Inventar eingefordert ihre Gefühle, ihre Emotionen, ihre Wertungen nicht
wird, wenn dieses Inventar längst untergegangen ist. daran messen,' ob die Bundesrepublik Deutschland
den Maastricht-Kriterien entspricht oder wie sie in
(Beifall bei der SPD) der ausländischen Presse dargestellt wird?
Zum letzten. Es muß auch bei den Rentenanwart- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Also in
schaften eine Verbesserung für die Verfolgten er- den Sozialismus wollen Sie zurück?)
reicht werden.
Sie machen ihre eigenen Beobachtungen, sie ma-
Es ist heute, wenige Tage nach dem fünften Jah- chen ihre eigenen Erfahrungen. Und da Sie sich gern
restag der Wiedervereinigung, sicher der geeignete mit Ergebnissen von demoskopischen Umfragen
Termin, sich dieser Aufgabe zu stellen. Für viele Be- schmücken, wenn sie Ihnen schmeicheln, müssen
troffene, die auf das Handeln des Bundestages war- Sie nun aber auch aushalten, was sogar Frau Noelle-
ten, ist die mit dem SPD-Antrag eingeleitete Debatte Neumann vor wenigen Tagen herausgefunden hat.
die letzte Möglichkeit, Gerechtigkeit zu erlangen. Sie veröffentlichte in ihrer „Allensbach-Umfrage",
(Beifall bei der SPD) daß im Gegensatz zu 1990, als noch jeder zweite Ost-
deutsche in seiner Erwartungshaltung eine gute Mei-
nung von der Sozialen Marktwirtschaft hatte, es jetzt
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Bevor ich der nur noch jeder dritte ist. Das ist doch ein Signal, das
nächsten Rednerin das Wort gebe, weise ich auf den Politik zur Kenntnis nehmen muß. Ich wi ll überhaupt
neuen § 45 Abs. 4 unserer Geschäftsordnung und keine Debatte über Vorzüge der Planwirtschaft oder
insbesondere darauf hin, daß wir für die Kernzeit-De- der Marktwirtschaft entfalten; das ist nicht das
batten ein bestimmtes Quorum brauchen. Thema. Sie müssen dieses Signal aufnehmen!
5120 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Dr. Christa Luft


Die Menschen im Osten erkennen doch, daß in der DDR immer genügend gegeben. Das Problem
man der Arbeitsplatzmisere nicht mehr mit Wi rt ist also gelöst.
-schaftwum,londeatMusr,bi-
kommen kann. Herr Gerhardt kann sich auch nicht (Dr. Dagmar Enkelmann [PDS]: Kinder-
darauf zurückziehen, daß er die Risikobereitschaft schuhe haben wir in der DDR auch gehabt!
der Menschen bemüht, die sie benötigen, um zu - Hannelore Rönsch [Wiesbaden] [CDU/
Arbeit zu kommen. Ich muß Ihnen sagen: Mehr CSU]: Nicht jeder konnte in Wandlitz ein-
Risikobereitschaft als in den neuen Bundesländern kaufen! - Weitere Zurufe von der CDU/CSU
findet man vermutlich gegenwärtig selten auf der - Zuruf von der SPD: Hatten wir nicht auch
Welt. ein Mindestniveau vereinbart?)

(Beifall bei der PDS) - Wer das Beispiel mit der Schokolade anführt, muß
eine solche Reaktion vertragen können. Sie können
noch so laut schreien, das wird niemanden überzeu-
Es ist gut, daß jeder ein Recht auf gewerbliche gen.
Freiheit hat. Aber es gibt kein Recht auf Anfangska-
pitalausstattung. Das ist doch eine Wahrheit, der Sie Die jetzt angebotenen Lösungen für die drückend-
sich stellen müssen. Es ist gut, ein Recht auf freie sten sozialen und wi rtschaftlichen Probleme über-
Wahl des Arbeitsplatzes zu haben; niemand möchte zeugen nicht mehr. Daher haben Sie die Menschen
das mehr missen. Aber es gibt für Millionen keine in eine neue Orientierungskrise gestürzt. Das muß
Aussicht, einen Arbeitsplatz zu bekommen, und ich Ihnen sehr deutlich sagen.
schon gar kein Recht darauf. Dieser Frage müssen
Sie sich stellen. (Beifall bei der PDS)
Die D-Mark und - das sage ich ausdrücklich - ihre
(Beifall bei der PDS) Stabilität gilt es zu schützen. Aber sie darf doch nicht
das einzige sein, was die Menschen in Ost und West
Jugendliche in den neuen Ländern und zuneh- verbindet. Wir haben eine gemeinsame Verantwor-
mend in den alten Ländern erkennen, daß dem Aus- tung dafür, mit allem, was in Ost und West vorhan-
bildungsnotstand nicht mit Talkrunden beim Kanzler den ist, sorgsam umzugehen. Wir müssen es zum
oder mit schnell aufgelegten Notprogrammen beizu- wiederholten Male anmahnen: Mit dem, was die ost-
kommen ist, so wichtig sie in der jetzigen Lage auch deutschen Menschen an Arbeit und Opfern einge-
sein mögen. Hier braucht man andere Regelungen. bracht haben, sind Sie verschwenderisch und selbst-
Frauen sind auf dem Arbeitsmarkt zur Manövrier herrlich umgegangen. Dies muß endlich ein Ende ha-
masse geworden. Sie wollen das nicht und werden ben.
mobil machen.
Wenn Sie den jüngsten Bericht des Bundesrech-
nungshofes gelesen haben, dann wissen Sie, wie er
Die Wohnkostenbelastung übersteigt in ihrem den Umgang, z. B. mit dem Auslandsvermögen, das
Tempo das Maß der Einkommenssteigerung. Im übri- die DDR hinterlassen hat, rügt. Viele, viele andere
gen ist diese Entwicklung wider den Einigungsver- Dinge kommen täglich hinzu.
trag. Immer mehr Menschen fürchten um ihr sicheres
Dach. Das müssen Sie zur Kenntnis nehmen, und das
müßte Sie an einem solchen Tage zu politischem Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Zeit, Frau Kolle-
Handeln veranlassen. Viele Handwerker in meinem gin.
Wahlbezirk - insbesondere in Friedrichshain waren
immer massenhaft Handwerker angesiedelt - sagen:
Den Sozialismus mit all den Problemen, die wir dort Dr. Christa Luft (PDS): Sie sind es den westdeut-
hatten, haben wir überstanden. schen Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern schul-
dig, daß Sie mit dem, was brauchbar war und nach
(Hannelore Rönsch [Wiesbaden] [CDU/ wie vor brauchbar ist, ordentlich umgehen.
CSU]: Lesen Sie doch noch einmal den er-
(Beifall bei der PDS)
sten Teil Ihrer Rede durch! Der widersp richt
dem zweiten jetzt!)
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Frau Kollegin,
Jetzt werden wir pleite gehen, weil wir die Gewerbe- Zeit.
raummieten nicht mehr zahlen können. Diese Dinge
müssen Sie zur Kenntnis nehmen. -
Dr. Christa Luft (PDS): Ja. - Sie müssen den west-
deutschen Bürgerinnen und Bürgern reinen Wein
(Hannelore Rönsch [Wiesbaden] [CDU/ einschenken, daß die ostdeutschen Landsleute nicht
CSU]: Sie spalten schon wieder!) nur Schulden mit eingebracht haben. Ich darf Ihnen
zum Abschluß diese Zahl nennen: Selbst wenn man
Frau Merkel, ich kann Ihnen zustimmen. An Scho- alles, was Sie belieben als Altschulden zu betrach-
kolade gibt es wirklich keinen Mangel mehr, auch ten, addiert, dann kommen auf die 16 Millionen ehe-
nicht an Kinderschuhen. Ich finde das gut, was die malige DDR-Bürger 1990, vor der deutschen Einheit,
Kinderschuhe angeht. Schokolade, meine ich, hat es je 13 540 DM.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5121

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Frau Kollegin Dr. Bereitschaft der Menschen in Ostdeutschland, es als
Luft, ich bitte um Entschuldigung. Würden Sie einen notwendig zu ertragen und sich weitgehendst nicht
Augenblick zuhören? - von den Pessimisten und Miesmachern anstecken zu
lassen, sondern optimistisch zu bleiben. Nur noch
Dr. Christa Luft (PDS): Ja. einmal zur Erinnerung: Die CDU hat in Sachsen do rt
diegrößtnWahlfo,wdiePrbmagöß-
ten sind. Die Ostdeutschen haben, wo immer es mög-
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Es geht nicht, lich war, zugepackt. 84 000 in der Mehrzahl neuge-
daß Sie, wenn ich zweimal „Zeit" sage und Sie ja sa- gründete Unternehmen sprechen eine beredte Spra-
gen, einfach weitermachen. che. Hier möchte ich meinen ostdeutschen Landsleu-
ten ein Danke sagen.
Dr. Christa Luft (PDS): Einmal habe ich es gehört!
Ein zweites Mal nicht! (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
ordneten der F.D.P.)
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Sie müssen jetzt Wir können stolz auf das Erreichte sein, zufrieden
zum Schluß kommen. sein können wir nicht. Die Erfolgsmeldungen trüben
mitunter den Blick für das, was noch geschehen muß,
Dr. Christa Luft (PDS): Ich komme zum letzten um das Werk des wirtschaftlichen Zusammenwach-
Satz: Sie müssen den Westdeutschen wie den Ost- sens erfolgreich abzuschließen. Der Schlüssel des Er-
deutschen reinen Wein über die Verhältnisse ein- folgs beim wi rt schaftlichen Aufbau Ost lag und liegt
schenken. Das wird mobilisieren, aber nicht, wenn noch immer in einer Existenzgründungswelle von
dieses Parteiengezänk hier weiter anhält. kleinen und mittelständischen Bet ri eben, die welt-
weit ihresgleichen sucht. Hier wurde das Fundament
(Beifall bei der PDS) für den wi rt schaftlichen Aufschwung geschaffen.
Hier finden die meisten Lehrlinge eine Lehrstelle,
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der und hier gibt es die meisten Arbeitsplätze. Im Kam-
Kollege Gerhard Schulz, CDU/CSU-Fraktion. merbezirk Leipzig z. B. beschäftigt jeder Handwerks-
betrieb im Durchschnitt 13 Mitarbeiter; der Bundes-
Gerhard Schulz (Leipzig) (CDU/CSU): Herr Präsi- durchschnitt liegt bei sieben bis acht Mitarbeitern.
dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Fünf In diesem Bereich hat die Regierungskoalition mit
Jahre deutsche Wiedervereinigung, fünf Jahre Auf- ihrer Förderpolitik bisher hervorragende Arbeit ge-
bau Ost, ich glaube, wir haben allen Grund, uns über leistet. Für die Zukunft wird es aber von maßgebli-
das Erreichte zu freuen. Ich brauche dem, was der cher Bedeutung sein, welche Schwerpunkte wir bei
Bundeskanzler gesagt hat, nicht mehr viel hinzuzufü- der Förderpolitik setzen werden. Dabei muß oberste
gen. Priorität haben, das Fundament, also die kleinen und
Die erbrachten Leistungen haben zwei Gesichter, mittleren Betriebe, in Ostdeutschland zu stabilisie-
und diese zwei Gesichter zeigen, daß Deutschland ren. Wer glaubt, jetzt hier sparen zu können, der ge-
gemeinsam, wenn auch mit unterschiedlichen Mög- fährdet eklatant das, was bisher so erfolgreich aufge-
lichkeiten, daran arbeitet, Trennendes zu beseitigen. baut wurde.

Der eine Teil leistet einen gewaltigen finanziellen Der Bundeswirtschaftsminister hat am Dienstag
Beitrag, um zu erreichen, daß das Aufbauwerk ge- zum Start des Eigenkapitalhilfefonds Ost gegenüber
lingt. Dies erfolgt durch Steuergelder, die für die Ent- der Öffentlichkeit klar und deutlich zum Ausdruck
wicklung der Infra- und Wi rt schaftsstruktur einge- gebracht, daß diese Unternehmen gerade jetzt unter
setzt werden, und durch Beitragsgelder, die die Lei- erheblicher Eigenkapitalschwäche leiden. Er über-
stungen für das Gesundheitswesen und die Rente er- nimmt damit das Ergebnis vieler Analysen. Die mei-
möglichen, die aber auch dafür sorgen, daß es trotz sten Unternehmen in den neuen Bundesländern ha-
des großen Umbruchs keine großflächige Not und so- ben ihr Ziel, wettbewerbsfähig zu werden und sich
ziale Katastrophen gibt. Herr Kollege Scharping hat am Markt behaupten zu können, erst zur Hälfte er-
vorhin mangelndes Solidaritätsbewußtsein angespro- reicht. Der schwierigere Teil des Weges liegt noch
chen. Ich finde: Genau das Gegenteil ist der Fall. vor ihnen. Sie müssen mit neuen Produkten auf den
Auch ich möchte von dieser Stelle aus den westdeut- Markt, die zu entwickeln mitunter viel Aufwand er-
schen Mitbürgern ein recht herzliches Dankeschön fordert, und sie müssen trotz Eigenkapitalschwäche
für diese Leistung sagen. lebens-, ja überlebenswichtige Investitionen tätigen,
um weiterhin wachsen zu können. Diese Unterneh-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) men brauchen Hilfe, um ihre Existenz zu festigen.
Hier kann mit wesentlich weniger Mitteln, als in der
Die andere Seite dieses Gemeinschaftswerkes ist
Vergangenheit für die Gründung aufgebracht wur-
das, was in Ostdeutschland geleistet und - ich muß
den, viel erreicht werden. Es können weniger Mittel
es so sagen - erduldet wurde und erduldet wird.
sein, aber es dürfen nicht zu wenige sein. Ich rede
Wenn es trotz des großen Umbruches - immerhin von Forschungsförderung und Existenzfestigung.
80 % der Indust ri e sind verschwunden, und allein im
Bereich Braunkohle wurden 100 000 Arbeiter arbeits- Das setzt den Maßstab und formuliert die Notwen-
los - zu keinem Aufruhr kam, so hat das zwar auch digkeit unserer zukünftigen Förderpolitik. Es ist zu-
etwas mit der durch viel Geld ermöglichten sozia- gleich die politische Herausforderung, der wir uns
len Abfederung zu tun, aber hauptsächlich mit der stellen müssen. Konkret heißt das: Es ist eine falsche
5122 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Gerhard Schulz (Leipzig)


Weichenstellung, wenn wir die Mittel für Forschung Eines jedoch kann nicht unwidersprochen oder un-
und Entwicklung in Ostdeutschland so weit herun- kommentiert bleiben. Wer 1990 jedes einzelne Wo rt
terfahren, wie es im Haushaltsplanentwurf 1996 vor- Einigungsvertrages politisch bekämpft hat, kann des
gesehen ist. Es ist eine falsche Weichenstellung, sich heute nicht als Verteidiger der Inhalte dieses
wenn wir die Verpflichtungsermächtigungen für das Vertrages verkaufen.
Eigenkapitalhilfeprogramm Ost vom 1,7 Milliarden
DM auf 900 Millionen DM fast halbieren. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU
und der SPD) Das nimmt Ihnen niemand ab, meine Damen und
Herren, weder im Westen noch im Osten unseres
Dieses Programm ist' das erfolgreichste Förderpro- Landes.
gramm der Bundesregierung, mit dem bis Mitte 1995
rund 130 000 ostdeutsche Unternehmen gefördert
Eine zweite Bemerkung zum Antrag der PDS über
wurden. Diese Unternehmen beschäftigen heute
die Währungsunion und das DDR-Vermogen: Ich
1,3 Millionen Mitarbeiter. Einschnitte in die immens
hätte es sehr angemessen gefunden, wenn Sie sich in
wichtige Politik der Eigenkapitalstärkung werden zu
gleicher Intensität um die Offenlegung Ihres SED-
Lasten der wi rt schaftlichen Dynamik Ostdeutsch-
Vermögens gekümmert hätten.
lands gehen und damit zu Lasten Gesamtdeutsch-
lands. Hier zu viel zu kürzen, zu viel zu sparen - da-
mit spreche ich auch die eigene Fraktion und die Ko- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU -
alitionsfraktion an - heißt an der falschen Stelle spa- Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Das ist
ren. wahr!)

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU Das haben wir hier aber nicht erlebt.
und der SPD)
Was aus diesem Antrag spricht, ist der blanke
Meine Damen und Herren, wir sind unserem Ziel, Populismus. Natürlich gab es 1990 optimistische - ich
eine wettbewerbsfähige ostdeutsche Wi rt schaft auf- bin versucht, auch zu sagen: naive - Vorstellungen,
zubauen, ein großes Stück nähergekommen. Noch man könne die Privatisierung des früheren Staatsver-
sind wir in den Haushaltsverhandlungen, und ich mögens der DDR, einschließlich der Bet ri ebe, am
denke, daß wir miteinander reden können und reden Ende mit einem Gewinn abschließen. Aber am
müssen, um zu einem vernünftigen Ergebnis zu kom- Schluß standen 360 Milliarden DM, die in den Erb-
men. Die Aufgabe für die nächsten Jahre wird sein, lastentilgungsfonds als Schuldenbetrag eingestellt
die ostdeutschen Unternehmen und vor allem den werden mußten.
Mittelstand zu stabilisieren und Rahmenbedingun-
gen für ein nachhaltiges Wachstum zu schaffen. Daß Haben Sie sich jemals überlegt, daß man, wollte
wir dazu in der Lage sind, zeigen die bisherigen Lei- man dieses angebliche Vermögen heute verteilen, je-
stungen beim wi rt schaftlichen Aufbau. Ich vertraue den Ostdeutschen vom Baby bis zum Greis mit
darauf, daß es dabei bleibt. durchschnittlich 22 500 Mark Schulden pro Kopf be-
lasten müßte?
Vielen Dank.
(Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Sehr
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gut!)

Aber Sie verteilen Rosinen, wo es gar keine Rosinen


Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der mehr zu verteilen gibt. Das ist der blanke Populis-
Kollege Rolf Schwanitz, SPD. mus, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der


F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜND-
Rolf Schwanitz (SPD): Herr Präsident! Meine sehr
NISSES 90/DIE GRÜNEN)
verehrten Damen und Herren! Zunächst ein paar Be-
merkungen zu den Anträgen der PDS.
Völlig unerträglich wird es allerdings im Begrün-
Erneut haben wir heute Anträge auf dem Tisch, die dungsteil Ihres Antrages. Do rt besitzen Sie auch
sich, wie auch schon in der letzten Sitzungswoche, noch die Frechheit und beziehen in die Bilanz des so-
mit dem Einigungsvertrag befassen. Es handelt sich genannten Volkseigentums - bei dem Sie sich übri-
dabei zum Teil um einen Aufguß von PDS-Initiativen gens endlich dazu durchringen sollten, anzuerken-
aus der letzten Legislaturperiode. Die PDS hat den nen, daß es kein Volkseigentum, sondern Eigentum
Einigungsvertrag als politisches Betätigungsfeld ent- des Politbüros und seiner Helfershelfer war, aber das
deckt. Hier will ich mich einer inhaltlichen Entgeg- nur am Rand -
nung enthalten und auf die alten Debatten in der
letzten Legislaturpe ri ode verweisen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5123
Rolf Schwanitz
die Mauergrundstücke ein. Nachdem Sie vorher die Ich gebe nur einige Beispiele für die A rt dieser Po-
Mauergrundstücke im Begründungsteil des Antra- litik des Verdrängens und Beschönigens. Die offiziel-
ges aufgeführt haben, heißt es dann am Schluß: len Arbeitslosenzahlen, die die Bundesanstalt für Ar-
beit Monat für Monat veröffentlicht, spiegeln das
Die genannten ... Wertangaben ... belegen ein-
wirkliche Ausmaß der Unterbeschäftigung in den
deutig, daß es ... um erhebliche Vermögenswer-
neuen Bundesländern überhaupt nicht angemessen
te geht, die die Bürgerinnen und Bürger der DDR
wider.
als Volkseigentum in die deutsche Einheit einge-
bracht haben .. . Wenn es heißt, daß gut 13 % der Menschen in Ost-
(Lachen bei der SPD und der CDU/CSU) deutschland arbeitslos sind, dann ist das weniger als
die halbe Wahrheit. Rechnet man nämlich die 80 000
Meine Damen und Herren, daß die Mauergrund- Kurzarbeiter, die 200 000 Menschen in Arbeitsbe-
stücke in das politische Erbe Ihrer Partei gehören, schaffungsmaßnahmen, die 270 000 Teilnehmer an
bestreitet niemand. Aber lassen Sie bitte die Men- Weiterbildungsmaßnahmen, die über 100 000 Fälle,
schen dabei aus dem Spiel. Die haben mit diesen Un- die nach § 249h AFG beschäftigt werden, und die
rechtstaten nichts zu tun. 380 000 Vorruheständler und Bezieher von Alters-
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, beim übergangsgeld hinzu, dann sind es neben der offi-
ziellen Zahl von 1 Million Arbeitslosen noch einmal
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der
F.D.P.) über 1 Million Menschen, die eigentlich auch arbeits-
los sind, aber in Maßnahmen der Arbeitsverwaltung
Meine Damen und Herren, die Menschen in Ost- versteckt werden.
deutschland brauchen Ermutigung und Zuversicht.
Da stimme ich mit dem, was der Bundeskanzler Insgesamt liegt die Zahl der Unterbeschäftigten in
heute gesagt hat, überein. Sie brauchen aber auch Ostdeutschland bei über 2 Millionen; das sind über
Klarheit und Wahrheit über ihre tatsächliche Lage. 30 % aller Erwerbstätigen in den neuen Bundeslän-
Wahr ist: Seit der Wiedervereinigung ist den Men- dern. Dabei sind noch nicht einmal die Hunderttau-
schen in Ostdeutschland ein historisch einmaliger sende von Menschen berücksichtigt, die ihre Heimat
wi rt schaftlicher, sozialer und politischer Strukturum- verlassen haben bzw. von Ostdeutschland nach
bruch zugemutet worden. Praktisch ist die gesamte Westdeutschland pendeln müssen, um ihren Lebens-
Industrielandschaft von Rostock bis Plauen, von Ei- unterhalt zu verdienen.
senach bis Frankfurt/Oder zusammengebrochen, mit (Iris Gleicke [SPD]: So ist es!)
verheerenden Folgen für den Arbeitsmarkt. Eine
Veränderung solchen Ausmaßes hat es in Deutsch- Es ist richtig, daß die Zahl der Erwerbstätigen nicht
land in der Neuzeit noch nicht gegeben. Von diesem in allen, aber doch in einigen Regionen des Ostens in
Strukturumbruch hat sich Ostdeutschland trotz aller den letzten Monaten leicht zugenommen hat. Das je-
Fortschritte seither noch nicht wieder erholt. Das ist doch ändert nichts an der absolut katastrophalen
die Wahrheit, an der Sie sich heute auch in der Re- Lage des Arbeitsmarktes in Ostdeutschland. Wir sind
gierungserklärung vorbeigedrückt haben, genauso noch meilenweit von einem Niveau entfernt, das eine
wie in den letzten Jahren zuvor. mit Westdeutschland vergleichbare Beschäftigung
darstellt, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der SPD)
Doch welchen Preis mußten die Menschen in Ost- (Beifall bei der SPD)
deutschland für den beängstigenden Optimismus Zu Beginn des Jahres 1990 gab es 9,7 Millionen
und auch für die in den letzten Jahren zu beobach- Arbeitsplätze in der DDR. Innerhalb von nur weni-
tende Entschlußlosigkeit der Bundesregierung be- gen Monaten brach praktisch das gesamte Industrie-
zahlen? Wenn nur noch 30 % der Menschen in den potential zusammen; Millionen Menschen mußten ih-
neuen Bundesländern der Sozialen Marktwirtschaft ren angestammten Arbeitsplatz verlassen oder wur-
Positives abgewinnen können, dann ist das auch die den arbeitslos. Heute, fünf Jahre nach diesem Zu-
Schuld dieser Bundesregierung, denn sie hat den sammenbruch, fehlen noch immer 2 bis 3 Millionen
Menschen in Ost und West mit geschönten und völlig Arbeitsplätze, fast 1 Mil lion allein im industriellen
unrealistischen Prognosen die wirklichen Probleme Sektor, wie der Präsident der Bundesvereinigung der
des Vereinigungsprozesses vernebelt. Deutschen Arbeitgeberverbände, Klaus Murmann,
(Beifall bei der SPD) kürzlich feststellte.

Fünf Jahre nach dem Fall der Mauer ist die Mauer Meine Damen und Herren, wissen Sie eigentlich,
in den Köpfen der Menschen erneut gewachsen. Aus was diesen Menschen angetan wurde, was es bedeu-
Verdruß und Enttäuschung wählt ein Fünftel der Ost- tet, wenn sich Millionen Menschen ausgegrenzt und
deutschen die Erben der kommunistischen Staatspar- nutzlos vorkommen, was das für das Zusammenle-
tei der DDR. Das ist auch ein Stück Verantwortung ben der Menschen in den Städten und Gemeinden
dieser Bundesregierung, meine Damen und Herren. bedeutet?
(Beifall bei der SPD) „Wenn im Westen 80 % aller Industriearbeitsplätze
verlorengegangen wären, dann hätten wir eine revo-
Und was macht die Bundesregierung angesichts lutionäre Situation gehabt, und die Republik hätte in
dieser Lage? Sie verdrängt, sie verharmlost weiter, Flammen gestanden."
anstatt heute hier in dieser Debatte eine schonungs-
lose Bilanz auf den Tisch zu legen. (Iris Gleicke [SPD]: Das ist wohl wahr!)
5124 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Rolf Schwanitz
Wer das gesagt hat, ist niemand, der die Menschen Deshalb sagen wir: Die Bundesregierung muß das
in Ostdeutschland zu Haß und Gewalt aufstacheln Problem der Altschulden politisch lösen. Was wir
will. Das war vielmehr der Unternehmer und Vize- brauchen, ist die Bereitschaft zu einer pragmatischen
präsident des Bundesverbandes der Deutschen Indu- Lösung; was wir brauchen, ist der Wille zum Kompro-
strie, Tyll Necker. miß auf der Regierungsseite.
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Genau!) Es reicht nicht mehr aus, daß Herr Bohl Sondie-
Er hat offensichtlich eher ein Gefühl für die Tiefe und rungsgespräche mit den Staatssekretären in den
das Ausmaß des Strukturbruches, der den Menschen Staatskanzleien der neuen Länder führt. Die Blocka-
zugemutet worden ist. Sie haben dieses Mitgefühl depolitik des Finanzministers muß beendet werden.
heute jedenfalls nicht gezeigt. Bund, Länder und ostdeutsche Gemeinden müssen
an einen Tisch.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD)
Meine Damen und Herren, ich will gern noch ein
weiteres Beispiel für Ihre Politik des Verdrängens
und Wegschauens nennen. Es ist ein besonders är- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Die Zeit, Herr
gerliches Beispiel, weil die Bundesregierung das Pro- Kollege!
blem nun schon seit Jahren vor sich herschiebt. Ich
meine die Lösung der sogenannten Altschuldenfrage
ostdeutscher Kommunen für gesellschaftliche Ein- Rolf Schwanitz (SPD): Meine Damen und Herren,
richtungen. ich komme zum Schluß. Egal ob es um die Altschul-
den, um die Arbeitslosigkeit oder um Investitionsfra-
(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Der Anfang Ihrer
gen geht - Verdrängen und Beschönigen sind der fal-
Rede war besser!)
sche Weg. Was wir von dieser Bundesregierung er-
Ich kann die Haltung Ihrer Regierung, Herr Bun- warten, sind Wahrheit und Klarheit, und hier werden
deskanzler, in der sogenannten Altschuldenfrage in wir in den nächsten Jahren ansetzen.
der Tat nicht nachvollziehen. Es ist doch überhaupt
nicht einzusehen, warum Rostock, Halle, Magde- (Beifall bei der SPD)
burg, Leipzig und Hunderte anderer Städte Millio-
nen von Altschulden aus DDR-Zeiten bezahlen sol-
len, während Dresden oder Ostberlin und die über- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort zu ei-
wiegende Mehrheit der Städte und Gemeinden ner Kurzintervention hat der Kollege Dr. Gysi, PDS.
schuldenfrei sind. Dabei haben alle genau das glei-
che gemacht, nämlich Kindergä rten, Schulen,
Schwimmhallen und Sportplätze gebaut. Dr. Gregor Gysi (PDS): Herr Präsident! Herr
Schwanitz hat in seiner Rede erneut darauf hinge-
Es ist doch verrückt: Sie, Herr Bundeskanzler, wol- wiesen - das hat er auch schon in einer früheren De-
len Mahnbescheide an Kommunen schicken, die be- batte getan, und dazu will ich mich äußern -, daß die-
reits heute bis zur Halskrause verschuldet sind und jenigen, die jede Zeile des Einigungsvertrags abge-
selbst kaum über eigene Einnahmen verfügen, um lehnt hätten, nicht berechtigt seien, nunmehr Ände-
ihre Pflichtaufgaben erfüllen zu können. Sollen denn rungen und Ergänzungen zu diesem Einigungsver-
diese Gemeinden ihre Verwaltungsaufgaben liegen- trag zu fordern.
lassen und den Bau von Schulen, Straßen und Klär-
anlagen einstellen, damit die dubiosen Altschulden Erstens möchte ich Sie, Herr Schwanitz, bitten,
aus DDR-Zeiten an die Bundesregierung zurückge- meine damalige Rede in der Volkskammer vollstän-
zahlt werden können? Das kann doch nicht Ihr Ernst dig zu lesen. Dann werden Sie bei aller Kritik und
sein. Ablehnung des Einigungsvertrags - übrigens hat
nicht allein die PDS ihn abgelehnt, sondern auch
Ich habe durchaus Sympathie - das sage ich an eine andere Fraktion hat dies getan - auch einen
dieser Stelle ganz offen - für die Auffassung der ost- Satz finden, in dem ich gesagt habe, daß in diesem
deutschen Gemeinden, wenn sie sagen, die soge- Einigungsvertrag auch einiges positiv geregelt ist.
nannten Altschulden seien eigentlich gar keine Obwohl wir ihn heute ablehnen - so habe ich damals
Schulden, sondern gehörten dem Grunde nach als gesagt -, gehe ich davon aus, daß es die PDS ist, die
Zuschüsse aus dem Staatshaushalt der DDR behan- als erste diese Bestandteile verteidigen und auf der
delt und heute als Verbindlichkeiten in den Erb- Einhaltung des Einigungsvertrags bestehen wird.
lastentilgungsfonds eingestellt.
Daß es augenscheinlich schon so gekommen ist,
(Detlev von Larcher [SPD]: Richtig!) zeigt sich - so behaupte ich - zumindest daran, daß
Obwohl ich für diese Position Verständnis habe, diese Abgeordnetengruppe über den Einigungsver-
warne ich vor langwierigen rechtlichen Auseinander- trag wesentlich mehr spricht als die Fraktion da drü-
setzungen auf diesem Gebiet. Heute ist etwas ande- ben, die ihn damals ausgehandelt hat, und das hat
res wichtig: Die betroffenen Gemeinden in Ost- auch Gründe.
deutschland brauchen fünf Jahre nach der Vereini-
gung endlich Klarheit über ihre Finanzen. Zweitens haben Sie gesagt, daß die Bundesregie-
rung die Verantwortung dafür trage, daß ein Fünftel
(Beifall bei der SPD) der Menschen in den neuen Bundesländern PDS
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5125
Dr. Gregor Gysi
wählt. Abgesehen davon, daß ich auch eine gewisse Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich halte eine
Verantwortung bei uns sehe, denke ich, daß Sie mit Mittagspause von 20 Minuten für nicht in Ordnung.
Ihren Reden auch einen Beitrag dazu leisten, daß die Unter Menschenrechtsgesichtspunkten ist eine halbe
Leute PDS wählen. Stunde das mindeste. Ich unterbreche deshalb die
Sitzung für die Mittagspause bis 14.10 Uhr. Wir set-
(Beifall bei der PDS) zen die Beratung dann mit der Großen Anfrage der
Fraktion der SPD zur Arbeitszeitflexibilisierung fo rt .
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege Die Sitzung ist unterbrochen.
Schwanitz.
(Unterbrechung von 13.39 bis 14.10 Uhr)
Rolf Schwanitz (SPD): Herr Gysi, ich hätte mir als
erstes gewünscht, daß Sie hier vor allem etwas zu
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Die unterbro-
dem Thema Mauergrundstücke sagen.
chene Sitzung ist wieder eröffnet.
(Beifall bei der SPD)
Dazu habe ich bei Ihnen kein Wort gefunden. Aber Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
das, denke ich, spricht auch für sich.
Beratung der Großen Anfrage der Abgeord-
Ich will Ihnen ganz klar sagen: Bevor ich einen sol- neten Rudolf Dreßler, Gerd Andres, Robert
chen Satz sage, lese ich selbstverständlich im Proto- Antretter, weiterer Abgeordneter und der
koll der Volkskammer nach. Ich habe Ihre Reden Fraktion der SPD
nachgelesen. Was Sie dort über den Einigungsver-
trag und seinen Inhalt gesagt haben, war das blanke Entwicklung und Stand der Arbeitszeitflexi-
Schüren von Angst, von Verängstigung, von Unsi- bilisierung in Deutschland
cherheit. Sie haben behauptet, die Leute würden ver-
armen, die Rentner würden pauschal zu Sozialhilfe- - Drucksachen 13/1334, 13/2581 -
empfängern mutieren. Ich kann Ihnen nur raten, Ihr
damaliges Manuskript selbst noch einmal nachzule- Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für
sen. Das ist ein Element, das in die Geschichte einge- die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. -
hen wird und das vor der gesamten Diskussion steht, Kein Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
in der Sie sich jetzt sehr bemühen, sich als der
scheinbare Hüter des Einigungsvertrages zu profilie- Ich eröffne die Aussprache. Das Wo rt hat der Kol-
ren. lege Rudolf Dreßler, SPD.

Den Menschen ist sehr wohl noch im Kopf, wer


diese Verträge ausgehandelt hat, wer diesen Weg Rudolf Dreßler (SPD): Herr Präsident! Meine Da-
mitgegangen ist und wer diesen Verträgen trotz men und Herren! Wir diskutieren heute über die Be-
Bauchschmerzen an einigen Stellen zugestimmt hat antwortung einer Großen Anfrage der SPD-Fraktion
und wer sich von Anfang an verweigert hat und zum Stand und der Entwicklung der Arbeitszeitflexi-
heute dem Populismus frönt. bilisierung in Deutschland. Die Bundesregierung hat
fünf Monate gebraucht, um die Anfrage der SPD-
(Beifall bei der SPD) Fraktion zu beantworten. Ich denke, wir sollten über
diese Ergebnisse ha rt in der Sache und mit Blick auf
die Arbeitslosigkeit, auf die Arbeitsplatzabwande-
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Angesichts der rung und die notwendigen Neuerungen in der Wirt-
fortgeschrittenen Zeit, Herr Kollege Gysi, lasse ich schaft ohne Scheuklappen reden.
eine weitere Kurzintervention nicht zu und schließe
die Aussprache. Die Antworten auf diese Große Anfrage sind ge-
eignet, Mythen, die sich im Laufe der Zeit um die
(Zuruf des Abg. Dr. Gregor Gysi [PDS])
Flexibilisierung der Arbeitszeit gebildet haben, in die
- Ich bitte um Entschuldigung. Diskutieren Sie mit Wirklichkeit zurückzuholen, j a, sie vielleicht sogar zu
mir nicht über die Geschäftsordnung! zerstören.

Interfraktionell wird die Überweisung der in der Mythos Nummer eins: Die Arbeitszeitflexibilisie-
Tagesordnung aufgeführten Vorlagen an die dort ge- rung sei der Schlüssel für den Weg der deutschen
nannten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage mit Wirtschaft in eine wettbewerbssichere Zukunft, so
den Materialien zur deutschen Einheit - Drucksache heißt es. Mein Kommentar: Das ist falsch. Denn aus-
13/2280, Tagesordnungspunkt 3 b - soll zusätzlich weislich der Antworten der Bundesregierung weiß
dem Sportausschuß, der Gesetzentwurf der SPD zur die Politik über viele Aspekte der Flexibilisierung
Verlängerung des besonderen Kündigungsschutzes - nichts oder fast nichts, was sich mit Fakten belegen
Drucksache 13/2444, Tagesordnungspunkt 3 f - soll ließe. Auf 29 von insgesamt 49 Fragen meiner Frak-
zusätzlich dem Ausschuß für Familie, Senioren, tion antwortet die Bundesregierung, es gebe hierzu
Frauen und Jugend überwiesen werden. Sind Sie da- kein hieb- und stichfestes, nachprüfbares Material.
mit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so Es handelt sich dabei nicht um Nebenaspekte, son-
beschlossen. dern um zentrale Fragen der Flexibilisierung. Auf die
5126 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Rudolf Dreßler
Frage, welche Ursachen es habe, daß tarifvertragli- Der zweite Mythos: In den meisten Beiträgen der
che Flexibilisierungsmöglichkeiten nicht genutzt konservativen Politik über die Rolle der Gewerk-
würden, lautet die Antwort: keine empirischen Er- schaften und der Betriebsräte bei der Modernisie-
kenntnisse. rung des Produktionsapparates wird eine eigentüm-
lich starre, man könnte auch sagen: fortschrittsgeg-
(Heiterkeit des Abg. Otto Schily [SPD]) nerische Haltung unterstellt. Dieser Mythos will
weismachen, es stünden sich kluge, Innovation und
Nicht einmal die Frage, wie lange Schichten in
Märkte witternde Unternehmer auf der einen Seite
Deutschland im Schnitt dauerten, kann beantwortet
und betonköpfige Gewerkschafter, die Bet riebsräte,
werden. Wieder heißt es: keine empirischen Erkennt-
auf der anderen Seite gegenüber.
nisse. So geht es weiter.
Aber stets ist bei Vertretern der Regierung zu hö- Auch dieser Mythos zerbröselt. Die Regierung si-
ren, viel mehr Flexibilisierung sei notwendig, gnalisiert nun selber, daß in Gewerkschaften und Be-
triebsräten eine große Willigkeit steckt, sich durch
(Otto Schily [SPD]: Die Bundesregierung Vorschläge und Regelungen mit den neuen Formen
muß flexibilisiert werden!) der Verteilung von Arbeit während der wöchentli-
chen Produktionsperiode auseinanderzusetzen.
die Arbeitsstrukturen müßten gehörig umgekrempelt
werden. Oft genug ist in diesem Zusammenhang zu Ich frage: Wann schlägt sich diese Einsicht in den
hören, die Arbeitnehmerschaft sei zu träge und zu gesellschaftspolitischen Manuskripten der Konserva-
anpassungsunwillig geworden. tiven und der Wirtschaftsliberalen nieder?

Wie kommen Repräsentanten der Bundesregie- (Otto Schily [SPD]: Laß jede Hoffnung fah
rung dazu, so etwas zu sagen, wenn sie nicht einmal -ren!)
wissen, wie lange heute im Schnitt ein Schichtarbei-
ter oder eine Schichtarbeiterin in Deutschland an Mythos Numero drei: Ein Dreh- und Angelpunkt
den Maschinen stehen muß? der Regierungsposition ist die Behauptung, die Ma-
schinen laufen in Deutschland nicht lange genug.
(Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Weil sie das Jetzt wird klar, daß die seit 1989 immer wieder aufge-
noch nie gemacht haben!) stellte Behauptung, in Deutschland drehen sich die
Räder im Schnitt und pro Woche lediglich 53 Stun-
Beschäftigt die Regierung Hellseher, die den Mi- den, auf zweifelhaften Annahmen basiert.
nistern stecken, was die Statistik nicht hergibt? Was
ich nicht weiß, kann ich nicht zur Grundlage von Anderen, höheren Werten für das verarbeitende
Politik machen. Gewerbe wird jedenfalls nicht mehr die Gültigkeit
von vornherein abgesprochen. Damit zertrümmert
(Beifall bei der SPD)
die Regierung einen Mythos, an dessen Entstehen
Das ist an sich kein Grund zur Traurigkeit, aber - so sie selbst eifrig beteiligt war. Ich begrüße das und
denke ich - ein Anlaß, sich zu besinnen. füge hinzu: Große Schadenfreude will sich bei mir
nicht einstellen; dazu ist die Lage der Wi rtschaft und
Ich halte den Materialband zum jüngsten Agrarbe- von Millionen arbeitswilliger Menschen zu ernst.
richt der Bundesregierung in der Hand - wie alle se-
hen können, ein voluminöses Werk, das fast keine Längere Maschinenlaufzeiten können notwendig
Frage zur Agrarwirtschaft sachlich unbeantwo rtet sein. Sie sind aber andererseits keineswegs ein Zei-
läßt. Ist es nicht erstaunlich, daß das schon klassische chen höchst effizienter Arbeitsorganisation. Oft ge-
Exportland Bundesrepublik Deutschland über den nug steht hinter der Forderung nach längeren Ma-
Sektor Landwirtschaft ein fast lückenloses Netz von schinenlaufzeiten die Tatsache, daß Unternehmer es
Daten zu werfen weiß, aber auf dem angeblichen Kö- nicht schaffen, dem eingesetzten Kapital im gegebe-
nigsweg zur Sicherung der Wettbewerbsstärke in In- nen Rahmen eine höhere Produktivität zu geben.
dustrie und Dienstleistung himmelschreiend große
weiße Flecken hinnehmen muß? Müßte eine Regie- Ich finde es daher, milde gesagt, erstaunlich, daß
rung, die seit Jahren landauf, landab den Segen man generell längere Maschinenlaufzeiten verlangt,
wachsender Flexibilisierung predigt, nicht ein enor- daß aber andererseits nur gut 30 % der im Schichtbe-
mes Interesse daran haben, solche Wissenslücken zu trieb arbeitenden Unternehmen über den Einschicht-
tilgen? Ich frage: Warum tut sie das nicht? betrieb hinausgekommen sind. Wie paßt das alles ei-
gentlich zusammen?
(Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Gute Frage!)
(Beifall des Abg. Otto Schily [SPD])
Könnte es sein, daß diesem Zustand ein gestörtes,
auch oberflächliches Verhältnis zu den Wissenschaf- Mythos Numero vier: Die Antworten der Regie-
ten zugrunde liegt, die sich mit den realen Bedingun- rung vermitteln ein sehr differenziertes Bild über den
gen an den Arbeitsplätzen beschäftigen? Oder ist es Komplex der Samstags- und Sonntagsarbeit. Wenn
einfach so, daß die Bundesregierung nicht wissen ich mir die hysterische Diskussion der vergangenen
will, welche betriebliche Wirklichkeit in Deutschland Monate über die Notwendigkeit einer Erhöhung der
gegeben ist? Zahl der Werktage vor Augen führe, dann konnte
man den Eindruck haben, allein an dieser Frage ent-
(Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: So ist es!) scheide sich das Schicksal der deutschen Wirtschaft.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5127
Rudolf Dreßler
Davon kann jetzt überhaupt keine Rede mehr sein. - Frau Babel, Sie sollten ganz, ganz ruhig sein. Wer
Auch dieser frische Mythos verblüht. Tatsächlich exi- 1981 mit seiner Stimme
stiert lediglich ein sektoral sehr eingeschränkter, von
Branche zu Branche höchst unterschiedlicher Druck (Dr. Diet rich Mahlo [CDU/CSU]: Sind Sie
in Richtung Samstag und Sonntag. hier der Oberlehrer, oder was sind Sie?)
in diesem Parlament ohne mit der Wimper zu zucken
Erkennbar wird freilich, daß das Arbeitszeitgesetz auf die Arbeitslosenversicherung zweieinhalb Punk-
der Regierung einen Dammbruch in dieser Frage te knallt
herbeiführt. Es ist ein Dammbruch, für den es keinen (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: 1991!)
zwingenden ökonomischen Grund gibt. Wer heute
dafür plädiert, die tarifvertraglichen Grenzen der - 1991, Entschuldigung -, damit die Lohnnebenko-
Samstagsarbeit zu beseitigen, damit der Samstag ein sten jährlich um über 20 Milliarden DM nach oben
voll gültiger Werktag werden kann, und wer den treibt und sich hier hinstellt und die Unschuld vom
Sonntag zum Reparatur- und Einrichtetag der Pro- Lande mimt, ist, um es höflich zu sagen, Frau Babel,
duktion machen will, der hat in Wahrheit eine kultu- desavouiert.
relle Revolution im Sinn.
(Beifall bei der SPD und der PDS)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Gestatten Sie
eine Zwischenfrage?
Auch der Sonntag wird dann unter dem angebli-
chen Zwang der betrieblichen Verhältnisse aus dem
Reparatur- und Einrichtetag heraus- und in den regu- Rudolf Dreßler (SPD): Ja, bitte.
lären Werktag hineinwachsen.
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Bitte.
(Otto Schily [SPD]: Was sagen denn die Kir
chen dazu?)
Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Herr Kollege Dreßler,
Das ist wie bei den nebeneinandergestellten Domi- mein kleiner Zwischenruf, daß auch die SPD bei der
nosteinen: Fällt der erste, dann fallen alle anderen Steigerung der gesetzlichen Lohnnebenkosten betei-
auch. Wie dann der Zusammenhalt der Familien ge- ligt war, bezog sich auf die von uns allen beschlos-
wahrt wird, wie sich eine Gesellschaft entwickelt, die sene Pflegeversicherung. Da waren die Skrupel, die
ihren Leim verliert, bleibt ungewiß. gesetzlichen Lohnnebenkosten zu steigern, auf Ihrer
Seite überhaupt nicht entwickelt. Sie haben damals
Ich frage mich, ob sich der Fraktionsvorsitzende sogar die Kompensation, den Ausgleich, um den wir
der CDU/CSU ähnliche Fragen stellt; denn er ist uns immerhin bemüht haben, den wir dann auch ge-
doch derjenige, der für seine Partei den großen Dis- meinsam gefunden haben, abgelehnt. Bezüglich der
kurs über das Menschsein aus christlicher Sicht in Skrupellosigkeit, die Nebenkosten zu steigern, kann
der heutigen Zeit anführt. Wenigstens Problembe- sich die SPD nicht aus der Verantwortung ziehen.
wußtsein scheint in der Regierung vorhanden zu
sein, ausweislich ihrer Antworten.
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Fragezeichen!
Warum ist die weiter voranschreitende Flexibilisie-
rung der Arbeitszeit dennoch so wichtig? - Weil es Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Sind Sie dieser Meinung,
für unser Land unabdingbar ist, die zentrale Größen- Herr Dreßler?
ordnung der Lohnstückkosten auf einem Pfad zu hal-
ten, der unsere Konkurrenzfähigkeit sichert. Löhne
Rudolf Dreßler (SPD): Ich habe das schon als Frage
und die lohnbezogenen Zusatzkosten, die Produkti-
verstanden. Frau Kollegin Babel, ich glaube, daß Sie
vität und die Maschinenlaufzeiten sowie die Struktu-
und die F.D.P. in dieser Frage die Propo rt ionen wie-
ren der Arbeitsteilung laufen wertmäßig in der zen-
der einmal auf den Kopf stellen. Sie haben im März
tralen Richtgröße der Lohnstückkosten zusammen.
1991 für eine Steigerung von zweieinhalb Punkten in
Über die Löhne entscheiden die Tarifvertragspar- der Arbeitslosenversicherung freudig Ihre Hand ge-
teien. Sie haben das bis heute in gesamtwirtschaft- hoben. Die Bundesvereinigung der Deutschen Ar-
lich verantwortungsbewußter Weise getan. Von die- beitgeberverbände und der Bundesverband der
ser Seite gibt es nachweisbar keinen schädigenden Deutschen Indust rie protestierten nicht einmal mit ei-
Einfluß auf die Entwicklung der Lohnstückkosten. ner Presseerklärung. Dann wollte die SPD, zugege-
-
Über die Lohnnebenkosten entscheiden die Tarifver- benermaßen mit der CDU/CSU und gegen Sie, 0,7 %
tragsparteien und vor allem der Gesetzgeber. Wäh- Beitragspunkte zusätzlich draufsatteln, um Millionen
rend der Kostendruck durch tarifvertragliche Neben- von Pflegebedürftigen zu helfen.
kosten merklich zurückgegangen ist, hat die Bundes- (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: 1,7 %!)
regierung hingegen immer weiter draufgesattelt. Be-
triebswirtschaftlich gesehen war die Lohnnebenko- Daraufhin sagten Sie, das sei die Zerrüttung der
stenpolitik der Regierung ein echter Konkurstreiber. deutschen Volkswirtschaft. Frau Babel, wer soll Ih-
nen eigentlich diesen Unsinn noch abnehmen? Wer,
(Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Mit der SPD zu bitte schön?
sammen!) (Beifall bei der SPD)
5128 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Rudolf Dreßler
Ich habe gesagt, betriebswirtschaftlich - und das harren und einer mangelnden Bereitschaft zur geisti-
ist nachzuweisen - war die Lohnnebenkostenpolitik gen Beweglichkeit - sie sind interessengeleitet, vor
der Regierung ein echter Konkurstreiber. Vorräte für allem aber taktisch - versucht man nach wie vor von
eine weitere Steigerung der Produktivität und zur Si- seiten der Koalition, einen Popanz aufzubauen.
cherung einer akzeptablen Lohnstückkostenent-
wicklung stecken zweifelsfrei im Übergang zum (Beifall bei der SPD)
Mehrschichtsystem, also in der Maschinenlaufzeit Die angeblichen Fortschrittsgeister und selbster-
und in weiteren Verbesserungen der Organisation nannten Modernisierer wollen den Standort Deutsch-
von Arbeitszeit. Hier ist übrigens bei den Tarifver- land sichern. Ich habe eher den Eindruck, wir müs-
tragsparteien eine Menge in Bewegung gekommen. sen die Zukunft des Standortes Deutschland vor ih-
Sie haben keine neuen Mythen aufgebaut, sondern nen schützen.
Tabus beiseite geschoben. Ich wünschte, daß dies
von der Regierung endlich einmal angemessen ge- (Beifall bei der SPD - Uwe Lühr [F.D.P.]: Ge-
würdigt würde. Heute wäre die Gelegenheit dazu. rade Sie!)
Wir kennen die in diesem Zusammenhang geführ-
Es geht meiner Fraktion darum, diesen Prozeß so- ten Debatten um die Arbeitskosten in Deutschland:
zialrechtlich abzusichern, zu ergänzen und auch vor- Sie seien zu hoch, und das gefährde unsere interna-
anzutreiben, wo immer es im Konsens mit den Tarif- tionale Wettbewerbsfähigkeit.
vertragsparteien möglich ist. Wir werden arbeitszeit-
rechtlich, mitbestimmungsrechtlich und arbeits- (Uwe Lühr [F.D.P.]: Das ist wahr!)
schutzrechtlich initiativ werden. Die SPD-Fraktion
- Hoch sind sie, das ist richtig.
sieht sich übrigens durch die Bundesregierung in ih-
rer Auffassung bestätigt. Der von der Bundesregie- Ich fürchte, bei manchen Teilnehmern an dieser ei-
rung modellhaft wiedergegebene Zusammenhang gentümlichen Diskussion hilft noch nicht einmal ein
zwischen der Zahl der Erwerbstätigen seit 1984, der Ökonomiestudium, um ihnen begreiflich zu machen,
Arbeitszeit je Erwerbstätigem und der Entwicklung daß nicht die Arbeitskosten, sondern ausschließlich
des Arbeitsvolumens belegt, daß sich hohe Löhne, ihr Verhältnis zum Wert der Gütermenge, die mit die-
kürzere individuelle Arbeitszeiten und flexible Ar- ser Arbeit produziert wurde, Aufschluß über die
beitszeiten heute und in der Zukunft sehr wohl mit- Wettbewerbsfähigkeit gibt.
einander vereinbaren lassen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) ten der PDS)
Frau Dr. Babel, Lohnstückkosten sind dazu eben
Ein Risikofaktor auf diesem Weg ist gewiß die Poli- die Maßgröße. Aber wer von den selbsternannten Er
tik der Bundesregierung. Sie ist zu einer Art Hemm- -neurdtschVolkwirafmtsch
schuh für eine schnelle Entwicklung der Produktivi- schon die Mühe, die Fakten zur Kenntnis zu neh-
tät unter sozial akzeptablen Bedingungen geworden. men? Wer will denn noch wissen, daß die Lohnquote
Jüngst hat ein Bonner Mittelstandsinstitut errechnet, in Deutschland in den 90er Jahren unter den Stand
daß auf den Unternehmen bürokratisch verursachte in der Mitte der 60er und zu Beginn der 70er Jahre
Kosten in einer Größenordnung von 58 Milliarden gefallen ist? Wer von dieser Regierung will denn
DM liegen. Hauptsächlich sind dies Kosten, die auf noch zur Kenntnis nehmen, daß die Lohnstückkosten
eine komplizierte Steuergesetzgebung zurückgehen. in Deutschland zwischen 1973 und 1994 um 94 %, in
Das sind, von der Größenordnung her gesehen, unseren wichtigsten Konkurrenzländern aber um
4,5 Beitragspunkte in der Rentenversicherung. Die 270 % gestiegen sind?
Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft sind ja
bereits in dieser Sache tätig geworden; von der Re- (Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt doch
gierung, von den Koalitionsfraktionen sieht man nur gar nicht!)
Wegtauchen. Sie stellen sich dieser Sache nicht; sie Modernisierung auf der Basis von Tatsachenver-
wollen nach der Melodie „weiter so" operieren. Aber drängung: Wozu soll das eigentlich im Ergebnis füh-
es sind Kosten. ren? Ich habe den Eindruck, daß die Diskussion um
den Standort Deutschland im Hinblick auf die Moti-
Sagen nun heute vielleicht dem Bundestag die Re- vation, mit der sie geführt wird, bei Ihnen minde-
gierung oder die Koalitionsfraktionen, was sie denn stens soviel mit Lohndrückerei zu tun hat wie mit der
zu tun beabsichtigen, um von dieser hypothekengro- Sicherung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit.
ßen Last wieder herunterzukommen? Die Antworten Wer von Ihnen nimmt denn noch zur Kenntnis, daß
der Regierung zur Arbeitszeitflexibilisierung sind un- unser Handel mit den oft als Vergleich herangezoge- -
zureichend. Es wurde die Chance vertan, einer au- nen „Tiger" -Staaten Südostasiens und mit den lohn-
ßerordentlich wichtigen Debatte den nötigen Sach- günstigeren Staaten Süd- und Osteuropas nicht nur
stand zu geben. Daher fürchte ich, daß sich die Koali- sprunghaft gestiegen ist, sondern daß auch die Bi-
tionsfraktionen und die Regierung entschlossen ha- lanz dieses Handels ausgeglichen ist? Sieht so ei-
ben, das böse Treiben mit ungerechtfertigten Schuld- gentlich eine mangelnde Wettbewerbsfähigkeit aus?
zuweisungen fortzusetzen.
Welcher der sogenannten Modernisierer weiß ei-
Es gibt, meine Damen und Herren, keine aufrich- gentlich, daß die deutsche Handelsbilanz gegenüber
tige gesellschaftspolitische Gewinn- und Verlust- Japan beim besonders hart umkämpften Automobil-
rechnung in Deutschland mehr. Mit Formeln vom Be bau mittlerweile positiv ist, der Wert der deutschen
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5129
Rudolf Dreßler
Automobilexporte nach Japan also größer ist als der Die jüngsten Arbeitsmarktdaten zeigen nach län-
Wert der japanischen Expo rte nach Deutschland? Ich gerer Zeit erstmals wieder einen Anstieg der Arbeits-
frage: Liegt auch das an mangelnder Wettbewerbsfä- losigkeit im Vorjahresvergleich an. Aber nicht erst
higkeit? - Ich sehe an den erstaunten Gesichtern: Die seit der Bekanntgabe der Septemberzahlen muß al-
Herrschaften haben sich um diese Daten bis heute len Beteiligten zweifelsfrei klar sein: Die derzeitige
nicht gekümmert. Wir haben heute nachmittag also Krise unterscheidet sich fundamental von den Rezes-
auch eine Art Nachhilfestunde. sionen der 70er und 80er Jahre. Wer dafür die Schuld
bei der Bundesregierung sucht, Herr Dreßler, der
(Beifall bei der SPD - Karl-Josef Laumann zeigt, daß er weder das Ausmaß noch die Ursachen
[CDU/CSU]: Herr Dreßler, das war gerade der Probleme auf dem Arbeitsmarkt wirklich begrif-
wirklich sehr zynisch! - Dr. Gisela Babel fen hat.
[F.D.P.]: Arroganter Oberlehrer! - Wolfgang
Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/CSU]: Ihre (Beifall bei der CDU/CSU)
Arroganz ist nicht zu übertreffen!)
Dazu gehört, Herr Dreßler, daß in den Statistiken
Aber ich frage: Ist es nicht eine Schande, daß über die Lohnstückkosten, die Ihnen vorschweben,
Deutschland bei den Investitionen in Humankapital natürlich alle unsere traditionellen Konkurrenten
- hat das nicht irgend etwas mit Sozialstaat zu tun? - auftauchen, unsere neuen Konkurrenten im Osten
weit, weit zurückgefallen ist und heute unter „ferner aber überhaupt noch nicht aufgeführt sind.
liefen" rangiert? Dies nämlich ist ein Zeichen man-
gelnder Modernisierungsbereitschaft der Bundesre- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn in den letz-
gierung und der sie tragenden Fraktionen. ten Monaten immer mehr Industrieunternehmen
dazu übergegangen sind, über eine mögliche Verla-
(Beifall bei der SPD) gerung von Teilen ihrer Produktion nach Polen, Un-
garn oder in die Tschechische Republik nicht mehr
Nichts darf beschönigt werden; nichts darf ver- nur zu reden, sondern dies auch in die Tat umzuset-
tuscht werden. Wenn wir die Wettbewerbsfähigkeit zen, dann ist dies wirklich eine dramatische Situa-
unseres Landes für die Zukunft sichern wollen, dann tion.
müssen wir uns kräftig ins Zeug legen, müssen den
Wandel organisieren und die Hindernisse beiseite Denn wir sind uns hier im Hause sicherlich darin
räumen, die zukünftiger Prosperität entgegenstehen. einig, daß eine radikale Lohnkürzung - eine Sen-
Aber das kann nur gelingen, wenn die Analyse der kung auf das Lohnniveau unserer mittel- und osteu-
Gegenwart unsere derzeitigen Vorzüge und ropäischen Nachbarländer - als Lösungsweg wohl
Schwächen korrekt widerspiegelt. Auf der Grund- ausscheidet. Aber diese konkurrierenden Standorte
lage einer mißinterpretierten Gegenwart können haben ja mittlerweile nicht mehr nur den gewaltigen
keine fruchtbaren und erfolgreichen Prognosen für Kostenvorteil. Auch im Hinblick auf die Qualität der
zukünftige Politik wachsen. produzierten Waren und auf die Leistungsfähigkeit
der Arbeitskräfte stehen sie uns in den meisten Fäl-
Wer Weichen zum Erfolg stellen will, der muß zu- len nicht mehr nach.
allererst das Gleis kennen, auf dem der Zug des Er-
folges fährt. Mit der Beantwortung der Großen An- Eine zweite Herausforderung kommt hinzu: Wenn
frage hat sich die Bundesregierung, wie man sieht, es in jüngster Zeit gleich mehreren südkoreanischen
bei 29 Fragen geweigert, dieses Gleis zu betreten. Automobilproduzenten gelungen ist, innerhalb von
Das ist das eigentlich Schlimme an der Beantwortung nur wenigen Monaten auf dem deutschen Absatz-
unserer Großen Anfrage. markt Fuß zu fassen, dann macht das deutlich: Das
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wort von der Globalisierung der Märkte ist längst
DIE GRÜNEN sowie des Abg. Manfred kein Schlagwort mehr, das ist mittlerweile Realität
Müller [Berlin] [PDS]) geworden. Wenn heute hochwertige Dienstleistun-
gen, z. B. Ingenieurleistungen, aus Indien bezogen
werden können, dann zeigt dies die dramatischen
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Darf ich die Par- Folgen der revolutionären Entwicklung auf dem Ge-
lamentarischen Geschäftsführer bitten, einmal zu biet der Informationstechnologien weltweit an. So et-
uns zu kommen? - was war vor zehn Jahren noch völlig unvorstellbar.

Das Wort hat der Kollege Andreas Storm, CDU/ (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: So ist es!)
CSU-Fraktion. -
Vor dem Hintergrund dieser völlig veränderten
Rahmenbedingungen müssen auch alte, liebgewor-
Andreas Storm (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine dene Besitzstände zur Disposition gestellt werden.
Damen und Herren! Unsere heutige Debatte zum ge- Wer glaubt, alles könne so bleiben, wie es ist, der
genwärtigen Stand der Arbeitszeitflexibilisierung ist verkennt den Ernst der Lage.
natürlich vor dem Hintergrund der Frage zu sehen:
Kann durch eine andere Organisation der individuel- (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)
len wie auch der betrieblichen Arbeitszeiten ein Bei-
trag zur Bewältigung der drückenden Beschäfti- Treffend hat dies der Bundespräsident Roman Her
gungskrise geleistet werden? zog vor wenigen Tagen auf den Punkt gebracht, als
5130 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Andreas Storm
er sagte: Was wir brauchen, ist eine neue Wagniskul- fach nicht genügend Auslastung haben, um ihre be-
tur. trieblichen Nutzungszeiten entsprechend wahrneh-
men zu können, die ihnen sowohl Tarifverträge als
(Otto Schily [SPD]: Vor allen Dingen eine
auch gesetzliche Möglichkeiten geben.
neue Bundesregierung! Wo ist denn die
Wagniskultur bei der Bundesregierung?)
Andreas Storm (CDU/CSU): Herr Kollege, das ist
Dabei sind gerade für die Arbeitszeit drei Dinge nicht nur eine Frage der Auslastung der Bet riebe.
ganz besonders zu beachten. Das hat die Beantwor- Aber ich gebe Ihnen in einem Punkt recht. Wir müs-
tung der Anfrage gezeigt. Erstens. Die westdeutsche sen in der Tat überlegen, warum die Möglichkeiten
Indust ri e hatte 1994 mit rund 1565 Stunden pro Ar- der Flexibilisierung nicht alle genutzt werden. Damit
beitnehmer die kürzeste Jahresarbeitszeit aller Indu- bin ich beim Punkt Teilzeitarbeit. Die Bundesregie-
strieländer. Zweitens. Von 1980 bis 1994 wurde die rung hat zu Recht in ihrer Antwort festgestellt, daß
effektiv geleistete Jahresarbeitszeit in der Industrie auch im Management die Vorteile der Arbeitszeitfle-
in den alten Bundesländern um 10 % gekürzt. xibilisierung, insbesondere auch von Teilzeitarbeit in
Verbindung mit längeren Betriebszeiten, noch nicht
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege alle erkannt sind. Deswegen müssen wir hier Aufklä-
Storm, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kolle- rungsarbeit leisten, denn die Vorteile sind mit den
gen Köhne? Händen zu greifen.
Das Konzept der Mobilzeit, also die Verbindung
Andreas Storm (CDU/CSU): Nein. von Teilzeitarbeit, Arbeitszeitflexibilisierung und ver-
Das ist nicht nur die stärkste relative Arbeitszeit- längerter Bet riebszeit, ist ein wichtiges Instrument
verkürzung aller Industrieländer. Das bedeutet im zur Lösung der Beschäftigungskrise. Es ist ein intelli-
Vergleich von Westdeutschland zu den Vereinigten gentes, weil offensives Konzept. Die traditionellen
Staaten, die die Arbeitszeit auf 2 000 Stunden pro Vorschläge zur generellen Arbeitszeitverkürzung
Jahr verlängert haben, daß der Abstand mittlerweile sind in dem radikal veränderten Umfeld, das ich skiz-
58 Arbeitstage beträgt. Das sind 12 Arbeitswochen. ziert habe, kein geeigneter Weg. Es handelt sich
nämlich um defensive Strategien.
Drittens. Gleichzeitig, Herr Dreßler, leisten wir uns
immer noch die niedrigsten Betriebszeiten. Das sind Herr Dreßler, da Sie heute gerne Untersuchungser-
in der Tat nicht 53, sondern 60 Stunden pro Woche. gebnisse hören möchten: Das Institut der deutschen
Aber nach der aktuellen Arbeitsmarktumfrage der Wirtschaft hat in einer Untersuchung über die Zu-
EU liegt Westdeutschland mit diesen 60 Stunden sammenhänge zwischen Arbeitszeit, Produktivität
9 Stunden unter dem Durchschnitt der Europäischen und Beschäftigung seit 1980 folgendes festgestellt.
Union und am unteren Ende der Rangskala. Erstens. In Deutschland hat die starke Arbeitszeit-
(Zuruf von der SPD: Wo haben Sie denn verkürzung weder den erwarteten Beschäftigungs-
diese Zahlen her?) schub noch den entsprechend hohen Produktivitäts-
schub gebracht.
- Diese Zahlen stammen aus der Beantwortung der
Großen Anfrage. Lesen Sie sie nach. Zweitens. Dagegen haben jene Länder, deren
Wirtschaftswachstum über dem internationalen
Diese Zahlen zeigen, es gibt ein erhebliches Flexi- Durchschnitt liegt, ihre Arbeitszeiten entweder ver-
bilisierungspotential bei Arbeits- und Maschinen- längert - das waren die USA oder Kanada -, unver-
laufzeiten, das zur Stärkung der Wettbewerbsfähig- ändert gelassen - das war beispielsweise Norwegen -,
keit genutzt werden könnte. Hier liegt in der Tat eine oder sie hatten ein sehr hohes Arbeitszeitniveau am
große Chance in der Schaffung von Teilzeitplätzen, Ausgangspunkt, nämlich Japan.
bei der uns die Niederlande ein ganzes Stück weit
voraus sind, denn in den Niederlanden ist heute je- Drittens. Die Niederlande - ich habe sie vorhin
der dritte Arbeitsplatz ein Teilzeitplatz. Bei uns ist es schon genannt - hatten zwar eine vergleichsweise
erst jeder sechste. geringe Arbeitszeitverkürzung, aber sie hatten auch
die größten Beschäftigungserfolge. Das ist keines-
wegs auf eine globale tarifliche Arbeitszeitverkür-
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege zung zurückzuführen, sondern auf gezielte Flexibili-
Storm, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kolle- sierungsstrategien, beispielsweise die massiv ver-
gen Büttner? stärkte Teilzeitarbeit.
Meine Damen und Herren, all dieses zeigt: Defen-
Andreas Storm (CDU/CSU): Ja, gern.
sive Strategien, die allein auf die Umverteilung des-
vorhandenen Arbeitsvolumens zielen, sind der fal-
Hans Büttner (Ingolstadt) (SPD): Herr Kollege sche Weg. Es gilt vielmehr, durch offensive Mobili-
Storm, ungeachtet der Tatsache, daß Ihre Zahlen tätsstrategien zu einer besseren Auslastung der Ma-
sehr umstritten sind, doch einmal folgende Frage: schinen und einer höheren Produktivität beizutra-
Würden Sie mir nicht zugestehen, daß es heute in der gen; denn erst dadurch kommen ein Beitrag zur Si-
Bundesrepublik möglich ist, sowohl über 24 Stunden cherung der Wettbewerbsfähigkeit der bei uns be-
als auch nur über 6 Stunden einen Bet rieb laufen zu stehenden Unternehmen und damit mehr Wettbe-
lassen? Das ist also nicht eine Frage der Rahmenbe- werbschancen für deren Produkte und Dienstleistun-
dingungen, sondern es ist so, daß die Bet riebe ein gen zustande. Dadurch werden Beschäftigungspo-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5131
Andreas Storm
tentiale erschlossen; denn es ist ein Beitrag sowohl Durchschnitt von 66 Stunden Betriebszeit pro
für ein höheres als auch - und darum muß es uns in Woche auf 72 Stunden.
erster Linie gehen - für ein beschäftigungsintensive-
res Wachstum. (Zuruf von der F.D.P.: Ist das eine Lese-
stunde?)
Gerade auf dem Feld der Arbeitszeitflexibilisie- Die Betriebszeit in der Bundesrepublik liegt also
rung helfen die alten Klamotten von der branchen- über dem europäischen Durchschnitt.
weiten tariflichen Stange oft nicht mehr weiter.
Für die Politik sind solche fehlerhaften Untersu-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) chungen gefährlich: Sie muß sich auf die Richtig-
keit von Daten verlassen können, um zu tragfähi-
Hierbei gilt es, Maßanzüge zu schneidern, die auf die gen Schlußfolgerungen zu gelangen.
speziellen Bedürfnisse des jeweiligen Bet riebes ab-
gestellt sind. Dazu sind Kreativität, Phantasie und In- Genau das ist der Punkt: Die Daten der Bundesregie-
novationsbereitschaft bei allen Beteiligten vonnöten. rung sind nicht tragfähig; sie sind falsch. Darum
Das ist unsere große Chance zur Krisenbewältigung kann man auch nicht - wie gerade von Ihnen bewie-
in Deutschland. Nutzen wir sie. sen - zu richtigen Schlußfolgerungen kommen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
ordneten der F.D.P. - Zuruf von der CDU/ ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
CSU: Eine äußerst sachliche Rede!) und der PDS - Otto Schily [SPD]: Jetzt bin
ich gespannt, was die Bundesregierung
sagt!)
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort zu
einer Kurzintervention hat der Kollege Dreßler. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege
Storm.

Rudolf Dreßler (SPD): Herr Präsident! Meine Da-


men und Herren! Nachdem ein Repräsentant der Ko- Andreas Storm (CDU/CSU): Meine Damen und
alitionsfraktionen die Maschinenlaufzeiten in Herren, Herr Kollege Dreßler, wir können diesen Me-
Deutschland zum wiederholten Male - so sage ich thodenstreit sicherlich jetzt nicht hier lösen. Aber
einmal - interessengeleitet, wahrscheinlich wieder man muß sich doch auf die offiziellen Quellen stüt-
mit einem Manuskript der Bundesregierung, fälsch- zen. Das, was die Europäische Kommission
lich darstellt, (Rudolf Dreßler [SPD]: Das sind doch die
Daten der Bundesregierung!)
(Widerspruch bei der CDU/CSU)
mit der sogenannten direkten Erhebungsmethode in
sehe ich mich veranlaßt, Ihnen einen Auszug aus der der 94er EU-Arbeitsmarktumfrage vorgelegt hat, was
neuesten Untersuchung des Instituts für Arbeit und europaweit im Umlauf ist, besagt, Herr Kollege Dreß-
Technik zu zitieren. ler, daß wir in Westdeutschland in der Indust rie
60 Stunden Betriebszeit pro Woche hatten, in Ost-
Da hier eine Auseinandersetzung mit Statistik ge- deutschland 62 Stunden und daß das nächste Land
führt wird, muß ich Sie mit einigen methodischen Spanien mit 65 Stunden ist. Das heißt, wir sind nach-
Bemerkungen langweilen. weislich das Land
(Widerspruch bei der CDU/CSU) (Rudolf Dreßler [SPD]: Das sind falsche Zah-
len Ihrer Regierung! Nehmen Sie das bitte
Die von der Bundesregierung verwendeten Zah- zur Kenntnis!)
len sind falsch. Das Ifo-Institut hat 1989 in
Deutschland nicht den gleichen Fragebogen ver- mit den niedrigsten Betriebszeiten in der Woche.
wendet wie die EG in den anderen Ländern. Je (Beifall bei der CDU/CSU - Otto Schily
nach Erhebungsmethode kann man für die Bun- [SPD]: Der Mann ist unbelehrbar!)
desrepublik Betriebszeiten zwischen 49 und
80 Stunden pro Woche berechnen. So wie man
Entfernungen nur vergleichen kann, wenn man Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wo rt hat
das gleiche Maß (z. B. Kilometer oder Meilen) jetzt die Kollegin Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIE
verwendet, benötigt man auch für einen interna- GRÜNEN).
tionalen Vergleich von Betriebszeiten identische -
Meßkonzepte. Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
(Otto Schily [SPD]: Hört! Hört!) Große Anfragen dienen gemeinhin dem Ziel, den
Fragenden über einen Sachverhalt aufzuklären. Der
Die mit der europäischen Enquete vergleichbare
Kollege Dreßler hat zu Recht gesagt, daß die Regie-
Zahl für die Bundesrepublik lautet 73 Stunden
rung in der Tat in vielen Fragen passen mußte oder
pro Woche . . .; dies sind fast 20 Stunden oder wollte.
37 % mehr als vom Ifo und der EG behauptet. Auf
Grund des hohen Gewichts der deutschen Indu- Trotzdem ist es so, daß der Bundesregierung mit
strie in der EG steigt damit auch der europäische dieser Anfrage zu der Erkenntnis verholfen worden
5132 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Marieluise Beck (Bremen)


ist, daß sie doch sehr viel mehr weiß, als sie stets zu und der Bundeswirtschaftsminister diesem Thema
wissen vorgibt, immer zugesprochen haben, die Bundesregierung
bei dieser Debatte gegenwärtig nur durch Parlamen-
(Beifall des Abg. Otto Schily [SPD]) tarische Staatssekretärinnen und Staatssekretäre ver-
und daß das ständige Klagelied der Regierung und treten ist?
insbesondere des Bundeswirtschaftsministers, daß (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
sich der Standort Deutschland quasi im Würgegriff SES 90/DIE GRÜNEN)
der Gewerkschaften befinde und ein Übermaß an so-
zial- und arbeitsrechtlichen Schutzvorschriften öko-
nomische Prospe rität schlechtin unmöglich mache, Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
mit der Beantwortung dieser Großen Anfrage obsolet NEN): Lieber Kollege Fischer, da ich nie etwas
wird. Schlechtes von der Regierung denken würde, ver-
mute ich, daß sie sich gerade in die Untiefen der Sta-
Das gilt übrigens auch für das Lamentieren über tistiken einarbeitet, um einer Debatte standhalten zu
die Schlußlichtposition, die die deutsche Wirtschaft können.
angeblich bei den Betriebsnutzungszeiten innehat.
Genau das, was der Kollege Dreßler vorgelesen hat, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
ist in der Tat richtig; selbst in der Anfrage wird zuge- sowie bei Abgeordneten der SPD und der
standen, daß nach dem Motto: Ich glaube nur der PDS)
Statistik, die ich selbst gefälscht habe, mit unter-
Wer sich heute immer noch hier hinstellt, wie das
schiedlichen Berechnungsmethoden alles herbeige-
der Kollege Louven gern tut - ich bin froh, daß er da
rechnet werden kann.
ist -, und nach wie vor so tut, als müßten endlich die
Die Bundesregierung will das herbeirechnen, weil Fesseln der Regulierung gesprengt werden, damit
sie den Deregulierungskurs verfolgt, daß die Be- modernes Wi rtschaften wieder möglich wird, der will
triebsnutzungszeiten in der Bundesrepublik angeb- etwasndr:Eilme gnadosD-
lich so horrormäßig tief lägen, was den Tatsachen regulierung im Unternehmerinteresse den Wilden
nicht standhält. Westen einführen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Niemand wird es bestreiten: Die verschärfte natio-
sowie bei Abgeordneten der SPD und der nale und internationale Konkurrenz, die sich be-
PDS - Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜND schleunigende Innovationsgeschwindigkeit auf der
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist eigentlich Produktseite wie bei den Fertigungstechnologien
Rexrodt?) und der Kostendruck der immer kapitalintensiver
ausgestatteten modernen Produktionsapparate ha-
Das Fazit aus der Großen Anfrage ist schnell gezo- ben die Notwendigkeit für eine neue Zeitökonomie
gen. In den vergangenen zehn Jahren hat es in der mit sich gebracht.
Wirtschaft und damit auf dem Arbeitsmarkt einen ra-
santen Prozeß der Flexibilisierung der Arbeitszeiten Neue Zeitökonomie: Sie kann Vorteile aber auch
und damit verbunden eine Veränderung der Ar- Nachteile haben. Sie kann in der Tat mehr Souverä-
beitsverhältnisse gegeben. Dieser Prozeß findet trotz nität und damit verbunden mehr Freiheit für die Be-
oder wegen der gesetzlichen Bestimmungen statt. Er schäftigen bedeuten. Sie kann aber auch heißen, daß
findet trotz oder wegen gewerkschaftlicher Politik sich die Menschen einem immer gnadenloser wer-
statt. denden Zeitdiktat der Produktions- und Gewinn-
interessen der Unternehmen unterordnen sollen.
Ich möchte Sie daran erinnern, daß allein im VW-
Werk Kassel über 150 verschiedene Arbeitszeiten Wer die Janusköpfigkeit dieser Entwicklung be-
regime tariflich ausgehandelt worden sind. Wollen streitet, der handelt entweder fahrlässig oder bösar-
Sie da etwa behaupten, es gebe keine Flexibilität in tig. Die Politik muß begreifen, daß diese Entwicklung
deutschen Unternehmen? Diese ist über gewerk- neben Chancen eben auch große Risiken in sich
schaftliche Tarifpolitik herbeigeführt worden. birgt. Sie muß deswegen die Gestaltungsaufgabe
endlich annehmen, die diese Veränderungen mit sich
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS bringen; sonst müssen wir uns eines Tages vorwerfen
SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der lassen, daß wir der sozialen Zersplitterung der Ge-
PDS)
sellschaft nichts entgegengesetzt haben. Zur Gestal-
tung gehört vor allem auch, keine Asymmet rie zwi-
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Frau Kollegin, schen der Macht der Unternehmen und der der Ar-
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen beitnehmer und Arbeitnehmerinnen zuzulassen.
-
Fischer?
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Mein lieber Kollege Fischer, bitte schön. Dazu gehört die Anpassung der rechtlichen Bestim-
mungen, so daß der Schutz und die Selbstbestim-
mung der Menschen nicht über Bord gehen.
Joseph Fischer (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Frau Kollegin Beck, finden Sie es ange- In der Tat, Flexibilisierung ist ein scheinbar unauf-
messen, daß angesichts der Bedeutung, die die Bun- haltsamer Prozeß. Aber wir müssen auch sehen, daß
desregierung und namentlich der Bundeskanzler es dabei widerstreitende Interessen gibt. Die Unter-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5133
Marieluise Beck (Bremen)
nehmen verfolgen mit der Flexibilisierung drei Ziele. Wer behauptet, die Beseitigung der Massenerwerbs-
Erstens. Es geht um die Ausweitung der Betriebsnut- losigkeit sei ihm wirklich ein Anliegen, der muß alle
zungszeiten, um den teuren Maschinenpark mög- Kraft in die Umverteilung der vorhandenen Arbeit
lichst intensiv zu nutzen. Zweitens. Der Arbeitskräf- stecken, oder er macht sich unglaubwürdig.
teeinsatz soll an die Schwankungen der Marktnach-
frage oder der Produktion angepaßt werden. Der Be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
griff der „atmenden Fabrik" ist übrigens ein genialer bei der SPD und der PDS)
Euphemismus für diese Interessenlage. 5 bis 6 Millionen Erwerbslose, meine Damen und
(Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Das kann Herren, haben ein Recht, einen neuen Gesellschafts-
man wohl sagen!) vertrag einzufordern. Unsere Gesellschaft hat die so-
ziale und demokratische Verpflichtung, zwischen al-
Drittens. Der Arbeitseinsatz soll durch die Einspa- len Bürgern und Bürgerinnen dieser Republik eine
rung von Zuschlägen verbilligt werden. solidarische Umverteilung von Arbeit und damit
Wohlstand herbeizuführen. Dazu müssen alle An-
Aber auch die Beschäftigten haben Interesse an
sätze genutzt werden, die darauf zielen, endlich mit
einer weniger starren Arbeitsorganisation. Erstens.
dem Unsinn Schluß zu machen, daß ein Teil der Ge-
Lage und Dauer der Arbeitszeit kann nicht in allen Le-
sellschaft bis zum Umfallen arbeiten kann und an-
bensphasen gleich gestaltet sein. Frauen mit Kindern
dere gar nicht arbeiten können. 1960 hatten wir eine
wissen davon wahrlich seit Jahrzehnten ein Lied zu
durchschnittliche tarifliche Jahresarbeitszeit von
singen. Zweitens. So wie die sozialen Verhältnisse 2 123 Stunden. 1994 hatten wir einen Durchschnitt
sich immer stärker ausdifferenzieren, steigt das Be-
von 1 669 Stunden. Warum sollten es im Jahr 2000
dürfnis nach Zeitsouveränität und Vielfalt. Warum nicht 1 500 und im Jahr 2005 1 350 Stunden sein?
sollte nicht der, der sich weiterbilden möchte, für eine Das ist die Antwort auf millionenfache Erwerbslosig-
gewisse Zeit seine Arbeitszeit und damit auch sein keit in dieser Gesellschaft.
Einkommen reduzieren? Drittens. Die Erwerbstätig-
keit der Frauen wird immer mehr zur Normalität. Kon- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sequenterweise muß die Arbeitszeit der Männer ei- sowie bei Abgeordneten der PDS)
gentlich schrumpfen, da ihnen die treusorgende Ehe-
frau zu Hause nicht mehr den Krempel wegräumt. Dies wäre die Arbeitszeitverkürzung und damit
Umverteilung in großen Schritten,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ja lächer-
Die Normalarbeitszeit muß also neu definiert werden, lich!)
wenn sich die sozialen Strukturen so gewaltig ändern,
wie sie es mit der Gleichstellung der Frauen tun. die überhaupt nur eine Chance böte, die Millionen
von neuen Arbeitsplätzen bereitzustellen, die die
Aber es ist eben nicht selbstverständlich, daß diese Ausgegrenzten brauchen.
Interessen der Unternehmen und der Arbeitnehmer
und Arbeitnehmerinnen zu einem harmonischen Dazu gehört ein gesetzliches Regelwerk für Alters-
Ausgleich kommen. Millionen von Erwerbslosen, das wahlarbeitszeit. Dazu gehört die Teilzeit nach Wahl
ständige Drohen mit der Abwanderung von Unter- in den verschiedensten Formen samt Rückkehrrecht
nehmen aus Deutschland sind gewaltige Druckmittel auf den Vollerwerbsarbeitsplatz. Es funktioniert mit
in der Hand von Unternehmen, wenn es darum geht, der Teilzeitarbeit nicht, weil die Leute nicht zurück-
die eigenen Interessen gegen die Interessen der Be- kehren können. Dazu gehört die Umwandlung von
schäftigten durchzusetzen. Zuschlägen für Nachtschicht und Wochenendarbeit
in Freizeit, wie es in Dänemark bereits gemacht wird.
Deswegen gilt es, die Schutzfunktionen, die sich Dazu gehört das Recht auf Sabbatjahre, die sabbati-
bisher auf die Normalarbeitszeit beziehen, aufrecht- cals, z. B. für die Weiterbildung. Dazu gehört auch
zuerhalten und auf die sich verändernden Arbeitszei- das Recht auf Arbeitszeitreduzierung bei Eltern-
ten und Arbeitsverhältnisse auszuweiten. schaft, wieder mit dem Rückkehrrecht auf einen Voll-
zeitarbeitsplatz.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
In all diesen Vorschlägen liegen Beschäftigungs-
Das wäre eine Modernisierung der Arbeitspolitik,
potentiale. Mit all diesen Vorschlägen werden tat-
wie unsere Gesellschaft sie wirklich braucht. Hier
sächlich Möglichkeiten für Zeitsouveränität eröffnet,
liegt die Aufgabe für die Politik. Das ist unsere Auf-
aber im Sinne der Beschäftigten, meine Damen und
gabe, meine Damen und Herren, auch wenn die Bun- Herren.
desregierung dies weit von sich weist und z. B. be-
tont, daß sie trotz der rasanten Veränderungen bei Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf die
den Arbeitsverhältnissen keinen Anpassungsbedarf Große Anfrage gar keinen Hehl daraus gemacht, daß
beim Mitbestimmungsrecht sieht. sie in dieser Hinsicht den Löffel abgegeben hat. Das
Arbeitszeitgesetz verfolge in erster Linie gesund-
Aber es gibt noch eine dritte Gruppe, die ein ele-
heitspolitische Ziele, steht in der Antwort. Weiter
mentares Interesse an der Neuverteilung von Zeit im
wird gesagt:
Arbeitsprozeß hat und haben muß. Das sind die Mil-
lionen der vom Arbeitsprozeß Ausgegrenzten, die Für darüber hinausgehende gesetzliche Arbeits-
wir - niemand kann das bestreiten - mit Sicherheit zeitbeschränkungen aus arbeitsmarktpolitischen
im kommenden Jahrzehnt weiterhin haben werden, Gründen ist das Arbeitszeitgesetz nicht das ge-
wenn die vorhandene Arbeit nicht umverteilt wird. eignete Regelwerk.
5134 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Marieluise Beck (Bremen)


Das ist das Ende von Politik. Der Arbeitsminister Darf ich um Ruhe bitten! Das Wo rt hat die Kollegin
macht das Licht aus. Ich kann nur fürchten, daß im Babel.
Zuge der zunehmenden Rationalisierung seine Stelle
demnächst mit einem k.w.-Vermerk versehen wird.
Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Da-
(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ men und Herren! Manchmal muß man der Opposi-
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der tion dankbar sein - nicht, weil sie gerade den Raum
SPD und der PDS - Rudolf Dreßler [SPD]: verläßt, sondern weil sie mit ihrer Großen Anfrage
Sehr schön! Ein guter Vorschlag!) der Bundesregierung Gelegenheit gibt, das Thema
Arbeitszeitflexibilisierung umfassend darzustellen.
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort zur Ge- Für die Zusammenfassung insbesondere durch die
schäftsordnung hat die Kollegin Fuchs, SPD. Mitarbeiter des Bundesarbeitsministeriums kann ich
hier durchaus Dank sagen.
Katrin Fuchs (Verl) (SPD): Herr Präsident! Ange- Ich bezweifle allerdings, daß die Fragesteller mit
sichts der Bedeutung dieser Debatte und angesichts den Antworten in den meisten Fällen zufrieden sind;
der Bedeutung, die Wirtschaftsminister Rexrodt der denn, meine Damen und Herren, die Antworten be-
Flexibilisierung der Arbeitszeit beimißt, beantragt stätigen ja nun eindeutig nicht die Politik der SPD.
die SPD-Fraktion, daß er herbeigerufen wird und wir Im Gegenteil, die Tatsachen belegen, daß ihre Ke rn
die Sitzung so lange unterbrechen, bis er da ist. Wir -fordeungiWtschaf-undSozilpk
vermuten, daß ihm die Erkenntnisse der Parlamenta- nicht zu mehr, sondern zu weniger Arbeitsplätzen
rier durchaus weiterhelfen werden. Im übrigen ha- führen würden. Die Antworten belegen auch, daß die
ben wir die Parlamentsreform so verstanden, daß Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung in den
nicht nur die Parlamentarier in der Kernzeit anwe- zurückliegenden Legislaturperioden richtige Schritte
send sein sollten, sondern durchaus auch die Mini- eingeleitet haben.
ster.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Ihren Fragen liegt zugrunde, daß es in den letzten
GRÜNEN und der PDS - Joseph Fischer Jahren einen enormen Flexibilitätsschub gegeben
[Frankfurt ] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: hat. Das stimmt. Die Unterzeichner der Großen An-
Das gilt auch für die anderen Tagesord frage meinen jetzt aber, daß sowohl in gesetzgeberi-
nungspunkte! Das können wir schon sagen, scher als auch in tarifvertraglicher Hinsicht an Flexi-
was die Kernzeit bet rifft!) bilität nun genug getan sei. In Teilbereichen hätten
sie gern ein gewisses Zurückrudern der Bundesre-
gierung und der Koalition. Sie schlagen mit ihren
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Wird zu diesem Fragen inzident vor, daß es zu Einschränkungen der
Geschäftsordnungsantrag von den anderen Fraktio- flexiblen Arbeitszeit kommen soll. Beispielsweise fra-
nen das Wort gewünscht? - Bitte. gen sie nach den gesetzlichen Möglichkeiten zum
Abbau von Überstunden.
Clemens Schwalbe (CDU/CSU): Herr Präsident!
Der Minister ist bereits unterrichtet und ist auf dem (Unruhe bei der CDU/CSU)
Weg hierher. Ich nehme an, er wird innerhalb der
Zu meinem Bedauern haben Sie aber nicht die
nächsten Minuten anwesend sein. Ich bitte deshalb,
drängende Frage gestellt, warum die Unternehmen
die Debatte fortzuführen.
in Deutschland lieber auf Überstunden ausweichen,
anstatt neue Arbeitnehmer einzustellen.
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Weitere Wort-
meldungen habe ich nicht. Mir liegt ein Geschäfts- (Anhaltende Unruhe bei der CDU/CSU)
ordnungsantrag vor, den ich geschäftsordnungsmä-
ßig behandeln muß. Das tut man durch Abstimmung.
Das kann ich dem Haus nicht ersparen. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Verzeihen Sie,
Frau Kollegin. - Es ist zu laut. Nun ist schon nur das
Infolgedessen frage ich: Wer will dem Geschäfts- halbe Haus besetzt; aber dieses halbe Haus könnte
ordnungsantrag der SPD-Fraktion zustimmen? Ich wenigstens etwas ruhiger sein. - Bitte!
bitte um das Handzeichen. - Gegenprobe! -
(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Aber die bes-
Das Präsidium ist der Auffassung, daß das zweite sere Hälfte ist besetzt!)
die Mehrheit war.
Wir setzen die Beratung fort. Das Wort hat die Kol- -
legin Dr. Gisela Babel. Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Sie fragen, wie Überstun-
den in Deutschland abgebaut werden können, und
(Joseph Fischer [Frankfu rt ] [BÜNDNIS 90/ bringen damit zum Ausdruck, daß Sie Überstunden
DIE GRÜNEN]: Dann sollten wir so lange als ein mögliches Quantum für neue Arbeitsplätze
rausgehen! - Eine große Zahl von Abgeord ansehen. Sie fragen aber nicht, warum eigentlich die
neten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE Unternehmen in Deutschland eher auf Überstunden
GRÜNEN und der PDS verläßt den Saal - ausweichen, anstatt neue Arbeitnehmer einzustellen,
Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Jetzt können meine Damen und Herren.
wir endlich ungestört diskutieren, Frau Kol
legin!) (Beifall bei der F.D.P.)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5135
Dr. Gisela Babel
Damit wird deutlich, daß Sie dieses Problem durch lionen, die rund 1 500 Stunden gearbeitet haben. Das
dirigistische Eingriffe lösen würden, anstatt sich den heißt, wir haben durch Arbeitszeitverkürzung heute
drängenden Fragen einer Flexibilisierung des Ar- weniger Beschäftigung als vorher.
beitsmarktes zu stellen.
(Walter Hirche [F.D.P.]: Genauso ist es!)
Daß es anders geht, sehen wir jetzt an dem sich ab-
zeichnenden Tarifvertrag im Baugewerbe, wo über Nicht einmal in den konjunkturell äußerst günstigen
ein Jahresarbeitszeitkontingent verhandelt wird und Jahren ist es uns also gelungen, zusätzliche Arbeits-
hier natürlich flexible Arbeitszeitvolumen in den ein- plätze zu schaffen. Wir haben sie verloren, und ge-
zelnen Jahreszeiten möglich werden. Ich glaube, rade in diesem industriellen Bereich drohen ja wei-
daraus sollten wir die Konsequenz ziehen: Nicht tere Arbeitsplatzverluste infolge zu hoher Lohn- und
mehr der Achtstundentag ist das Arbeitszeitmodell Lohnzusatzkosten.
der Zukunft, sondern es wird völlig unterschiedliche
Die Erkenntnis, daß diese Form der Arbeitszeitver-
Arbeitszeitkontingente in Zukunft geben.
kürzung nicht zu mehr Beschäftigung geführt hat,
(Beifall bei der F.D.P.) wird zusätzlich durch jüngste wissenschaftliche Stu-
dien des Instituts für Wirtschaft belegt. Arbeitszeit-
Unbegreiflich, meine Damen und Herren, ist auch, verkürzung kann, insbesondere wenn sie mit Neu-
daß der DGB und mit ihm die SPD immer noch gegen und mehr Teilzeitarbeit verbunden ist, zu mehr Be-
sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse in schäftigung führen. Aber sie kann es dann nicht,
privaten Haushalten polemisieren. wenn sie zusätzlich Arbeitskosten belastet, Beschäfti-
gung nicht sichert, sondern im Gegenteil vernichtet.
Aufschlußreich ist die Antwort der Bundesregie-
rung zum Thema Arbeitszeitverkürzung; und hier (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne-
komme ich nun zum Mythos der SPD. Die Reaktion ten der CDU/CSU)
auf den zuerst schleichenden und dann immer offen-
sichtlicheren Arbeitsplatzverlust in den zurücklie- Meine Damen und Herren, wir haben in dem Ar-
genden Jahren hieß allzuoft Arbeitszeitverkürzung, beitszeitgesetz weitere Flexibilisierungen durchge-
und das Wunderwort hieß „Arbeitszeitverkürzung setzt. Ich kann hier sagen, daß diese Aktion dafür ge-
bei vollem Lohnausgleich" . In der Metallindustrie sorgt hat, daß mit Sonn- und Feiertagsarbeit in Aus-
hat die Gewerkschaft die 35-Stunden-Woche durch- nahmefällen 2 700 Arbeitsplätze gesichert worden
gesetzt. sind. Ich darf daran erinnern, daß auch gegen dieses
(Zuruf von der CDU/CSU: Leider!) Gesetz die SPD schwere Bedenken geäußert hat, ob-
wohl es doch diesen sichtbaren und positiven Effekt
Die Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeiten gehabt hat.
ging in vielen Fällen mit innerbetrieblicher Flexibili-
tät einher. Die Laufzeiten der immer teureren Ma- Meine Damen und Herren, insgesamt ist Arbeits-
schinen mußten von den immer kürzeren Arbeitszei- zeitflexibilisierung ein richtiger Weg zur Sicherung
ten entkoppelt werden, um so teure Investitionen von Arbeitsplätzen, und zweifellos braucht der Ar-
wirtschaftlich überhaupt noch rechtfertigen zu kön- beitsmarkt weitere Flexibilisierungsschübe. Ein An-
nen. fang kann hier die Flexibilisierung der Ladenschluß-
zeiten sein, laut Ifo-Institut allein 50 000 zusätzliche
(Vorsitz : Vizepräsident Dr. Burkhard
Arbeitsplätze. Auch hier brauchen wir mehr Flexibili-
Hirsch)
tät, um Arbeitsplätze im Einzelhandel zu sichern und
Aber, meine Damen und Herren, inzwischen müß- zu schaffen.
ten selbst den hartgesottensten Arbeitszeitverkür-
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne-
zern Zweifel an der Richtigkeit dieser Politik gekom-
ten der CDU/CSU)
men sein. Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn-
ausgleich hat in Deutschland nicht dazu geführt, daß Die Koalition hat in der Vergangenheit bewiesen,
neue Arbeitsplätze entstanden sind, sondern sie hat daß sie in der Lage ist, die Rahmenbedingungen für
zum Verlust von Arbeitsplätzen geführt. flexiblere Arbeitszeiten sozialverträglich zu verbes-
sern. Auf diesem Wege werden wir fortfahren. Dabei
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
hat uns die SPD in dieser Debatte bisher jedenfalls
ten der CDU/CSU)
nicht sehr gestört.
Das ist auch klar: Arbeitszeitverkürzung bei vollem
Ich bedanke mich.
Lohnausgleich heißt nicht mehr und nicht weniger,
als daß Arbeitskosten steigen und eine höhere Bela- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) -
stung entsteht. Diese höheren Fertigungskosten ha-
ben Arbeitsplätze vernichtet. Diese Zahlen finden
wir in der Antwort der Bundesregierung, und be- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Kollegin
zeichnenderweise haben weder die Kollegen der Fuchs, Sie wollten einen Antrag zur Geschäftsord-
SPD noch die der Grünen sich mit diesen Zahlen be- nung stellen, wenn ich das richtig vernommen habe.
schäftigt.
Während noch 1984 8,3 Millionen Arbeitnehmer Katrin Fuchs (Verl) (SPD): Herr Präsident! Ange-
durchschnittlich 1 690 Stunden im Jahr gearbeitet sichts der Leere dieses Saales und der Weigerung der
haben, waren es im Jahre 1995 nur noch 7,9 Mil- CDU/CSU- und der F.D.P.-Fraktion, die Sitzung zu
5136 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Katrin Fuchs (Verl)


unterbrechen, bis der Minister anwesend ist, bean- schen und als gäbe es nur noch wirtschaftliche Inter-
tragen wir die Feststellung der Beschlußfähigkeit. essen, die sich ausschließlich auf den Weltmarkt be-
ziehen. Das Thema hat wirklich mehr verdient als die
(Beifall bei der PDS - Jochen Feilcke [CDU/ übliche Standortlyrik.
CSU]: Sie haben die Leere bewußt herbei-
geführt! - Weiterer Zuruf von der CDU/ Insofern - jetzt komme ich zu der guten Botschaft -
CSU: Mißbrauch! - Bundesminister hat es mich mit großer Genugtuung erfüllt, daß mitt-
Dr. Norbert Blüm bet ritt den Saal - Bundes- lerweile offenbar auch die Bundesregierung zu der
minister Dr. Norbert Blüm: Herr Präsident, Einsicht gekommen ist, daß sich - ich zitiere - kür-
guten Tag! - Zu Abg. Katrin Fuchs [Verl] zere Arbeitszeit und Erhöhung der Beschäftigung
[SPD] gewandt: Wo ist denn eure Truppe?) miteinander verbinden lassen. Ja, liebe Kolleginnen
und Kollegen, das ist das Thema: Wir müssen kür-
zere Arbeitszeit und mehr Beschäftigung miteinan-
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Meine verehr- der verbinden.
ten Kollegen, ich muß Sie auf die geänderte Ge-
schäftsordnung hinweisen. Aus § 45 Abs. 4 ergibt (Zuruf von der CDU/CSU: Bei vollem Lohn-
sich, daß in der Debatte, in der wir uns jetzt befin- ausgleich! - Unruhe)
den, die Beschlußfähigkeit gegeben ist und die Sit-
zung nur dann unterbrochen werden kann, wenn Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege,
weniger als ein Viertel der gesetzlichen Mitglieder ich darf Sie einen Augenblick unterbrechen. - Werte
anwesend sind. Ich stelle fest, daß mehr als ein Vier- Kollegen, es mag sein, daß einiger Anlaß besteht,
tel der gesetzlichen Mitglieder anwesend sind. über die Geschäftsordnungslage zu sprechen. Ich
wäre Ihnen aber dankbar, wenn Sie das so machten,
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) daß die wünschenswerte Aufmerksamkeit für den
Redner erhalten bleibt.
Ich erteile nun dem Abgeordneten Manfred Müller
das Wort. (Zuruf von der CDU/CSU: Obwohl es sich
nicht lohnt! - Zuruf von der SPD: Herr Prä-
sident, es waren rund 170 Abgeordnete im
Manfred Müller (Berlin) (PDS): Herr Präsident! Saal! Das war eben eine falsche Feststel-
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kol- lung von Ihnen!)
leginnen und Kollegen! Kollege Storm, zunächst ein-
mal der Hinweis, daß das Zahlenwerk der Bundesre- Herr Kollege Müller, Sie haben das Wo rt .
gierung für mich noch lange keine offizielle Statistik
ist, sondern mich viel eher an ein Gefälligkeitsgut- Manfred Müller (Berlin) (PDS): Ich würde mich au-
achten erinnert, mit dem die Bundesregierung ihre ßerordentlich freuen, wenn diese Einsicht inzwischen
Deregulierungsvorstellungen noch pseudowissen- auch bei der Regierungskoalition Platz greifen
schaftlich unterlegen will. würde. Dann können wir auch die Aussage des
Herrn Bundeskanzlers, daß die Forderung nach der
(Beifall bei Abgeordneten der PDS)
35-Stunden-Woche dumm und töricht ist, endgültig
An meine liebe Vorrednerin, Frau Dr. Babel, ge- der Vergangenheit überlassen und sie dem historisch
richtet: Ich wußte ja, daß von Ihnen das Thema La- bekannten Phänomen des Blackout zuordnen.
denschlußgesetz in die Debatte eingebracht wird. (Julius Louven [CDU/CSU]: Fällt Ihnen
Aber lassen Sie sich vielleicht einmal von jemandem, denn nichts Besseres ein?)
der aus diesem Bereich kommt, der bis vor einem
Jahr dort tätig war, noch einmal daran erinnern: Die Die IG-Metall, die sich noch vor wenigen Jahren
Anzahl der Arbeitsplätze im deutschen Einzelhandel dumm und töricht schimpfen lassen mußte, konnte
hängt allein davon ab, wie hoch die Massenkaufkraft Anfang dieses Monats den Beginn der 35-Stunden-
in dieser Gesellschaft ist. Die Konservativen sind der- Woche feiern,
zeit dabei, die Massenkaufkraft weiter zu senken. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Die Frage
Das heißt, die Verbindung von Arbeitsplätzen und ist, wie lange sie feiert!)
Massenkaufkraft ist die eigentliche Lösung des Pro-
blems der Arbeitsplätze auch im Einzelhandel. und sie hat dazu eine überzeugende Bilanz vorge-
legt: Von den drei Millionen Arbeitsplätzen, die zwi-
(Beifall bei der PDS) schen 1982 und 1992 geschaffen wurden - diese Da-
ten sind in Ihrem Zahlenwerk zu finden -, geht eine
Im übrigen: Die Antwort der Bundesregierung auf Million, also ein ganzes Drittel, auf das Konto der Ar-
die Frage nach dem Stand der Arbeitszeitflexibilisie- beitszeitverkürzung.
rung befördert dennoch eine gute und eine schlechte
Botschaft. Ich beginne mit der schlechten, weil sie Sie können die vorliegenden Statistiken noch so
nämlich bis zum Überdruß bekannt ist: Die Flexibili- sehr bemühen, um die angebliche Gefährdung des
sierung der Arbeitszeit wird mit nicht abreißender Wirtschaftsstandortes Deutschland zu beklagen, Tat-
Eintönigkeit als ein Unterfall der Standortsicherung sache ist, daß mit der Arbeitszeitverkürzung ein der-
behandelt, als könnte die Bundesregierung die Men- artiger Produktivitätsfortschritt erreicht wurde, daß
schen dieses Landes nur noch als nationale Wettbe- die Bundesrepublik nach Feststellung des Deutschen
werbsgemeinschaft verstehen, als ginge es nicht in Instituts für Wirtschaftsförderung in den 90er Jahren
erster Linie um die Lebensarbeitszeit dieser Men- erstmals in die Spitzengruppe der produktivsten In-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5137
Manfred Müller (Berlin)
dustrieländer aufgestiegen ist. Sie belegt nach der andere Zahl, nämlich die der regelmäßigen Nachtar-
DIW-Untersuchung in der Produktivität - der Kollege beit. In der deutschen Industrie arbeiten nach Anga-
Dreßler hat schon darauf hingewiesen - je Erwerbs- ben der amtlichen europäischen Statistik 9,8 % der
tätigen den vierten und in der Berechnung nach Ein- Beschäftigten regelmäßig auch nachts, während es
wohnern sogar den zweiten Platz. im europäischen Durchschnitt nur 6,7 % sind. Und da
wollen Sie weiterhin behaupten, die deutsche Wi rt
Vielleicht an der Stelle noch einmal der Hinweis:
-schaftleidunrzkBtebsin?
Es kommt nicht darauf an, wieviel Arbeitszeit eine
Gesellschaft verbraucht, um Güter zu produzieren, Flexibilisierung, das sagen auch die Experten des
sondern es kommt auf den Wert der Güter in einer DIW, ist weniger ein Instrument der Standortsiche-
Gesellschaft an. Insofern ist die isolierte Betrachtung rung als ein Instrument zur Bekämpfung der Ar-
allein der Arbeitszeit, der Jahresarbeitszeit, der Wo- beitslosigkeit. Auch hierauf haben viele Vorredner
chenarbeitszeit, völlig unerheblich für die Einschät- schon hingewiesen. So möchte ich hinzufügen: Es ist
zung des Wi rt schaftsstando rt s Deutschland. Aber ein Instrument zur Verbesserung der Lebensbedin-
auch darauf ist schon mehrfach hingewiesen worden. gungen.
Die westdeutschen Lohnstückkosten stiegen von Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
1973 bis 1994 nur um 94 %, während die der wichtig-
sten Konkurrenten fast um das Dreifache, nämlich (Beifall bei der PDS)
um 270 % kletterten. Das ist die eigentliche Realität
am Wi rt schaftsstando rt Deutschland. Und Realität ist
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile das
auch, daß diese Leistung nicht nur von den abhängig
Beschäftigten erbracht wurde und erbracht wird, Wo rt dem Parlamentarischen Staatssekretär Horst
sondern daß die Arbeitszeitverkürzung von den ab- Günther.
hängig Beschäftigten mit außerordentlich moderaten
Lohnforderungen honoriert und nachträglich sogar Horst Günther, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
mit realem Lohnabbau bezahlt wurde. minister für Arbeit und Sozialordnung: Herr Präsi-
Jetzt, so möchte man meinen, ist es an der Zeit, dent! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ar-
über Flexibilisierung im Zusammenhang mit weite- beitszeitflexibilisierung ist kein Selbstzweck, viel-
ren Arbeitszeitverkürzungen zu reden. Das ist das mehr leistet sie einen wichtigen Beitrag zur Erhö-
Ergebnis Ihres Zahlenwerks. Doch die Antwort der hung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit un-
Bundesregierung geht an diesen Chancen vorbei, serer Unternehmen und trägt zur Schaffung neuer
wenn man einmal von dem gerade zitierten Licht- Arbeitsplätze und zur Sicherung vorhandener Ar-
blick der rückwirkenden Einschätzung absieht. beitsplätze bei.

Nach wie vor wird der Popanz angeblich zu kurzer Durch eine flexiblere Arbeitsorganisation werden
Jahresarbeitszeiten und knapp bemessener Maschi- Unternehmen in die Lage versetzt, das in die Produk-
nenlaufzeiten aufgezogen, um nichts anderes zu er- tionsanlagen investierte Kapital besser zu nutzen.
reichen als einen weiteren Ang riff auf die Tarifver- Dadurch sinken die Kapitalkosten, und die Wettbe-
träge und die Handlungsfähigkeit der Gewerkschaf- werbsfähigkeit steigt.
ten.
Zudem schafft Arbeitszeitflexibilisierung mehr
Ja, Sie müssen sogar zugeben, daß die tarifvertrag- Zeitsouveränität für den Arbeitnehmer, z. B. zur bes-
lichen Flexibilisierungsmöglichkeiten weitaus größer seren Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Ich be-
sind, als sie von den Unternehmen genutzt werden. grüße, daß wenigstens bei dieser Einschätzung Ei-
In der Bundesrepublik gibt es längst schon eine Ent- nigkeit herrscht.
koppelung von Arbeitszeit und Maschinenlaufzei-
ten. Nach Angaben des WSI-Tarifarchivs stiegen die Auch die Gewerkschaften haben die Chancen der
Betriebszeiten von 1984 bis 1990 um mehr als sieben Arbeitszeitflexibilisierung erkannt.
Stunden, obwohl die persönliche Arbeitszeit im glei- (Zuruf von der CDU/CSU: So ist das!)
chen Abschnitt um 2,4 Stunden sank.
Die Rollen der Beteiligten bei der Gestaltung der
Nun gibt die Bundesregierung in ihrer Antwort Arbeitszeit sind aber klar, um auch hier Mißverständ-
selbst zu, auf welch schwankendem Boden die Be- nisse, die in den Redebeiträgen schon aufgetaucht
hauptung von den zu kurzen deutschen Betriebszei- sind, auszuräumen. Der Gesetzgeber ist aus Grün-
ten steht. Verläßt man sich jedoch nicht auf die eine den des Gesundheitsschutzes für den unverzichtba-
oder andere Interpretation oder gar den Vergleich ren Rahmen verantwortlich.
völlig unvergleichlicher Untersuchungen, sondern
verläßt sich ausschließlich auf das Statistische Amt Die Tarifvertragsparteien entscheiden unter Be-
der Europäischen Union, dann sieht die Sache mit rücksichtigung der branchenspezifischen Erforder-
den deutschen Maschinenlaufzeiten schon gänzlich nisse über die regelmäßige Wochenarbeitszeit, Frau
anders aus. Beck. Und die Festlegung der konkreten Betriebs-
und Arbeitszeiten ist Sache der Betriebspartner.
Nach den Angaben der amtlichen Statistik liegen
die wöchentlichen Betriebszeiten in der deutschen
Industrie bei 73 Stunden und damit sogar noch um Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Staatsse-
eine Stunde über dem europäischen Durchschnitt. kretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abge-
Daß dies die eigentliche Realität ist, erhellt noch eine ordneten Köhne?
5138 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Horst Günther, Parl. Staatssekretär beim Bundes- sten Ausnahmegenehmigungen für die Sonntagsar-
minister für Arbeit und Sozialordnung: Bitte schön. beit erteilt zu haben.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Rolf Köhne (PDS): Herr Staatssekretär! Ihre Rech- Lieber Kollege Dreßler, vielleicht nehmen Sie auch
nung, daß die Kapitalkosten dann sinken, wenn hö- das einmal zur Kenntnis.
here Maschinenlaufzeiten durch flexiblere Arbeits-
zeit eingeführt werden, kann ja nur dann aufgehen, Wichtig ist: Wir brauchen mehr maßgeschneiderte
wenn gleichzeitig mit diesen Maschinen der Absatz Arbeitszeiten, keine von der Stange. Das neue Lo-
steigt. Ist das richtig? sungswort sozialen Fortschritts und zukunftsorien-
tierter Beschäftigungspolitik heißt Differenzierung:
Differenzierung in Tagesteilzeit, Wochenteilzeit,
Horst Günther, Parl. Staatssekretär beim Bundes- Jahresteilzeit, von mir aus bis hin zu dem vom Mi-
minister für Arbeit und Sozialordnung: Natürlich nister genannten Sabbatjahr. An die Stelle von star-
müssen die entsprechenden Arbeitszeiten auch ge- ren Zeiten muß mehr Mobilzeit treten. Wir brauchen
nutzt werden können, und ich unterstelle, daß es unterschiedliche Lösungen für unterschiedliche Be-
auch nur da geschieht, wo sie genutzt werden kön- dürfnisse.
nen. Deshalb haben wir das ja auch auf die Sonn-
Die Automobilindustrie ist längst auf diesen Zug
tagsarbeit ausgedehnt, wo das in vielen Textilbetrie-
aufgesprungen. Hier ist von atmenden Fabriken -
ben heute gut funktioniert.
das Wort „atmend" wurde von Frau Beck gerade et-
(Beifall bei der CDU/CSU) was kritisiert; wir haben es nicht erfunden, sondern
VW selbst -, schwingenden Vier-Tage-Wochen bei
Meine Damen und Herren, der Gesetzgeber hat BMW und Arbeitszeitkorridoren bei Opel die Rede.
seine Hausaufgabe gemacht und die Rahmenbedin-
gungen für die flexible Gestaltung der Bet riebs- und Lassen Sie mich auch kritisch anmerken, daß viele
Arbeitszeiten mit dem neuen Arbeitszeitgesetz ver- andere Unternehmen noch nicht die Chancen nut-
bessert. Mit diesem Gesetz haben wir im Juli 1994 zen, die ihnen der Gesetzgeber einräumt. Vorhan-
dene Spielräume zur Flexibilisierung sind nämlich
einen allein am Gesundheitsschutz orientierten Ar-
beitszeitrahmen geschaffen, den die Tarifpartner und da. Trotzdem wird weiterhin an der Verbandsmauer
Betriebe ausfüllen müssen. Die Spielräume der Tarif- geklagt und gejammert, im Bet rieb aber praktisch
und Betriebspartner für eine flexiblere und intelli- zuwenig gemacht.
gentere Verteilung von Arbeitszeiten wurden erwei- Viele Unternehmen nutzen auch die Chancen
tert, der Gesundheitsschutz bei Nachtarbeit wurde nicht, die ihnen schon die Tarifverträge bieten. Es ist
verbessert. modern geworden zu behaupten, viele Tarifverträge
hinkten der bet rieblichen Realität hinterher. Sicher-
Bei der Sonntagsarbeit haben wir zur Stärkung der lich stimmt das für einige, längst aber nicht für alle.
Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und zur Si- Vor allem muß man zunächst einmal in die Verträge
cherung der Beschäftigung eine vorsichtige Öffnung schauen und sie lesen.
vorgenommen. Bilanziert man heute, nach einem
Jahr, die Auswirkungen der neuen Regelungen, so Viele Tarifverträge regeln zwar die Dauer der Wo-
läßt sich feststellen, daß alle Bundesländer in verant- chenarbeitszeit - das ist richtig -, sie schreiben des-
wortlicher Weise von ihren Genehmigungsmöglich- halb aber noch längst nicht vor, daß die Arbeitszeit in
keiten Gebrauch gemacht haben. Der von vielen Kri- jeder Woche gleich verteilt sein muß. Die Tarifver-
tikern vorhergesagte Dammbruch bei der Sonntags- träge lassen in der Regel die ungleichmäßige Vertei-
arbeit ist ausgeblieben, meine Damen und Herren. lung der Arbeitszeit auf Tage, Wochen oder Jahres-
Dort aber, wo es nötig war, ist dies möglich gewor- zeiten zu. Die Ausgleichszeiträume, innerhalb deren
den, und das zum Nutzen der Bet riebe und der Ar- die durchschnittliche Arbeitszeit erreicht sein muß,
beitsplätze. betragen überwiegend zwölf Monate. In der chemi-
schen Indust rie ist bei projektbezogenen Tätigkeiten
(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. sogar ein Zeitraum bis zu 36 Monaten zulässig.
Dr. Gisela Babel [F.D.P.])
Darüber hinaus bieten Tarifverträge vielfach Flexi-
Die Zahlen belegen den Ausnahmecharakter. In bilisierungsmöglichkeiten durch die Einbeziehung
den ersten elf Monaten seit Inkrafttreten des Arbeits- des Samstags in die Regelarbeitszeit, soweit die Zu-
zeitgesetzes wurden 175 Ausnahmegenehmigungen stimmung der Betriebsparteien dafür vorliegt. Sonn-
für Sonn- und Feiertagsarbeit erteilt. Dadurch hat und Feiertagsarbeit wird durch die Tarifverträge
sich die Gesamtzahl der Arbeitnehmer, die an Sonn- dort, wo sie ausnahmsweise gesetzlich zulässig ist,
-
und Feiertagen arbeiten, um gerade einmal 0,05 % ebenfalls nicht ausgeschlossen.
erhöht. Die Arbeitsplätze der rund 14 000 betroffe-
Hans-Joachim Gottschol von Gesamtmetall hat
nen Arbeitnehmer aber wurden gesichert; minde-
recht, wenn er die arbeitszeitpolitische Phantasielo-
stens 3 000 neue Arbeitsplätze wurden geschaffen.
sigkeit vieler Betriebe bei der Umsetzung der Tarif-
(Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Sehr gut!) verträge beklagt. In dieses Bild paßt, daß nach der
1994 von der EU-Kommission durchgeführten Erhe-
Der neue SPD-Bundesgeschäftsführer Müntefe- bung zu den Betriebszeiten Deutschland auf einem
ring, noch im Amt als Sozial- und Arbeitsminister des der hinteren Plätze liegt. Diese Zahl haben wir über-
Landes Nordrhein-Westfalen, rühmt sich ja, die mei nommen, Kollege Dreßler. Es sind nicht Zahlen der
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5139
Parl. Staatssekretär Horst Günther
Bundesregierung, die Sie kritisiert und als falsch be- Rolf Köhne (PDS): Herr Staatssekretär, Sie haben
zeichnet haben, sondern es sind Zahlen, die wir von eben gesagt, daß die Samstagsarbeit rückläufig sei.
der EU-Kommission übernommen haben. Sie müssen Das ist sicherlich richtig. Nach meiner Kenntnis der
die Kommission entsprechend anklagen. betrieblichen Situation ist es aber so, daß Samstags-
arbeit dann vor allen Dingen Sonderschichten sind,
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge wenn mehr Waren abgesetzt werden können. Jetzt
ordneten der F.D.P.) stelle ich die Frage: Wie paßt das denn zusammen
Es gibt leider in vielen Bet rieben Mängel in der Be- mit Ihrer Antwort auf meine vorhergehende Frage?
triebs- und Arbeitsorganisation, die sich im schärfer Ist es nicht einfach so, daß momentan Überkapazitä-
werdenden internationalen Wettbewerb fatal auswir- ten vorhanden sind, beispielsweise vor allem in der
ken können. Als Ersatz müssen in vielen Bereichen Automobilindustrie, so daß die Frage der Kapitalver-
die Lohnnebenkosten als Diskussionspunkt herhal- wertung eine ganz andere und überhaupt nicht das
ten. Problem von flexiblen Arbeitszeiten ist?

Das Kraftwerk, das sieben Tage in der Woche rund


um die Uhr Strom liefert, braucht keine Bet riebszeit- Horst Günther, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
diskussion. In Teilen der Industrie, die mit sehr teu- minister für Arbeit und Sozialordnung: Sie dürfen
ren Produktionsanlagen arbeiten, kann die Verlän- diese beiden Fragen mit Sicherheit nicht vermischen.
gerung der Betriebszeit überlebensnotwendig sein. Die Samstagsarbeit geht stundenmäßig zurück. Das
ist ganz klar festgestellt und hat mit Ihrer vorherge-
Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß der henden Frage im Grunde nichts zu tun. Es kann
Umfang der Samstagsarbeit entgegen der in der letz- Überlappungen in diesem Bereich geben. Sie unter-
ten Zeit vielfach erhobenen Forderung seit 1989 in stellen sie aber, und ich unterstelle diese nicht.
allen Wirtschaftsbereichen, insbesondere aber im
verarbeitenden Gewerbe eine rückläufige Tendenz Meine Damen und Herren, die Kritik, die im Zu-
aufweist. sammenhang mit nicht beantworteten Fragen ge-
kommen ist, weise ich hiermit zurück. Diese Kritik ist
Es ist daher notwendig, immer wieder darauf hin- unberechtigt. Deshalb, lieber Kollege Dreßler, sollten
zuweisen, daß die Bet riebe do rt , wo es sinnvoll ist, Sie noch einmal nachschauen. Ich sage Ihnen: Besser
den gesetzlich und tarifvertraglich gegebenen Rah- keine Antwort auf eine Frage, die man gar nicht stel-
men stärker nutzen müssen - in ihrem eigenen Inter- len kann, als eine falsche!
esse und im Interesse der Arbeitnehmer. Unterneh-
mensleitungen und Bet riebsräte sind dabei gleicher- Schönen Dank.
maßen gefordert, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Kollege Dreßler, wenn Sie sagen, wir hätten
29 Fragen nicht beantwortet, ist das eindeutig falsch.
Ich habe eben noch einmal nachgesehen. Wir haben Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile der
nur acht Fragen nicht beantwortet. Darunter sind sol- Abgeordneten Do ris Barnett das Wo rt .
che Fragen wie - ich lese das vor -: In wieviel Bet rie-
ben wurde seit 1984 die einschichtige Arbeitsorgani-
sation zugunsten mehrschichtiger Betriebsnutzung Doris Barnett (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolle-
aufgegeben? ginnen und Kollegen! Wir debattieren über eines der
(Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Das ist doch ein Reizthemen dieser Nation, zu dem die SPD im Mai
Wahnsinn!) dieses Jahres eine Große Anfrage an die Bundesre-
gierung gerichtet hat, nämlich den Stand der Ar-
Oder: Wieviel Stunden beträgt die längste bet rieb beitszeitflexibilisierung in Deutschland. Angeblich -
lich vereinbarte und wieviel Stunden beträgt die kür das hören wir ja dauernd - ist die hiesige Unbeweg-
zeste bet rieblich vereinbarte Schicht in Deutschland? lichkeit einer der Negativposten, die die Bundesre-
gierung und die Arbeitgeberverbände im Rahmen
Lieber Kollege Dreßler, Sie beklagen, durch die der Standortdebatte ins Feld führen.
Steuergesetzgebung würden die Bet riebe mit Milliar-
denbeträgen belastet. Diese komplizierten Fragen in Ich hatte, offen gestanden, als Antwort den großen
der Erhebung der Ta rif- und Betriebsarbeit verursa- Wurf erwartet. Ich war sicher, daß wir von den Wort-
chen bei den Bet rieben erst recht Arbeit und damit gewaltigen Handlungsvorschläge erfahren, wie wir
Kosten. Das kann ich Ihnen sagen. es richtig machen sollen. Die SPD hat Ihnen, meine
Damen und Herren von der Bundesregierung, eine -
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) echte Chance gegeben. Was Sie uns da aber bieten,
ist eher ein Trauerspiel.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Staatsse-
kretär, lassen Sie eine Zwischenfrage des Abgeord- Angesichts der wi rtschaftlichen Entwicklung der
neten Köhne zu? letzten drei Jahre kommt diesem Thema doch über-
ragende Bedeutung zu. Jedes Instrument, mit dem
wir für mehr Beschäftigung und eine bessere Ausnut-
Horst Günther, Parl. Staatssekretär beim Bundes- zung des Kapitalstocks sorgen, muß sehr sorgfältig
minister für Arbeit und Sozialordnung: Ja, bitte auf seine wi rtschaftliche Wirksamkeit geprüft wer-
schön. den.
5140 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Doris Barnett
Mit Bedauern muß ich jetzt feststellen, daß sich die Daß flexible Arbeitszeit mit einem Jahresarbeits-
Bundesregierung dieser Mühe nur mit Unlust unter- zeitkonto auch in der Produktion und selbst im 24-
zogen hat. Stunden-Schichtbetrieb funktioniert und von den Ar-
beitnehmern angenommen wird, beweist inzwischen
Wie mein Kollege Rudolf Dreßler Ihnen bereits vor- ein großer Süßwarenhersteller in Süddeutschland,
rechnete, gibt es auf etwa die Hälfte unserer Fragen wo auf diese A rt saisonale Produktionsschwankun-
- ich komme darauf zurück -, nämlich 29 aus 49, gen ausgeglichen werden.
nicht die erbetenen, mit Zahlenmaterial belegten
Antworten. Das zeigt nur zu deutlich, daß die Bun- Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Beispiele
desregierung offensichtlich dazu neigt, eher auf zeigen doch, daß unser Tarifvertragssystem einen
Grund von Vermutungen und alten Glaubenssätzen idealen Rahmen für Reformen bietet, die beide Sei-
denn auf Grund von harten Fakten ihre Politik zu for- ten wollen und akzeptieren.
mulieren.
(Beifall bei der SPD) (Zustimmung bei Abgeordneten der CDU/
CSU)
Herr Günther, wenn Sie die hohen Kosten kritisieren,
die solche Statistiken erfordern, sage ich: Mein Gott, Aber: Veränderte Pflichten für die Beschäftigten er-
auf welcher Grundlage sollen wir denn Entscheidun- fordern auch eine Anpassung ihrer Rechte. Das heißt
gen treffen, wenn wir keine Fakten haben? ganz konkret: Ein Mehr an Arbeitszeitflexibilität er-
fordert ein Mehr an Verantwortung. Die Arbeitneh-
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Joseph mer müssen intensiver als bisher an der Betriebsor-
Fischer [Frankfu rt ] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ ganisation beteiligt sein und bessere Mitbestim-
NEN]) mungsrechte erhalten.
So erscheint es mir reichlich absurd, den Gewerk- (Beifall bei der SPD)
schaften bzw. der SPD mangelnden Willen zur Ar-
beitszeitflexibilisierung vorzuwerfen. In der Realität Als im letzten Jahr das neue Arbeitszeitrecht ver-
sieht es nämlich so aus, daß nicht nur die Beschimpf- abschiedet wurde, haben die Koalitionsparteien
ten, sondern auch die Wi rt schaft bereits sehr viel wei- CDU/CSU und F.D.P. die Einbeziehung der SPD-Vor-
ter sind als die Bundesregierung, die, wie ich fürchte, schläge im Hinblick auf enger gefaßte Schutzbe-
Gefangene ihres alten Denkens ist. stimmungen verhindert. Versprochen wurde uns da-
für eine neue ökonomische Perspektive. Vergessen
(Beifall bei der SPD) wurden aber wesentliche Ziele wie die Verbesserung
der Arbeitsbedingungen und ein wirksamer Arbeits-
Denn wie mir scheint, will die Bundesregierung nach
schutz. Eine arbeitsmarktpolitische Initiative blieb
wie vor über den Hebel Mobilzeit erreichen, daß
ganz außen vor.
Lohnverzicht und jederzeit abrufbare Springertätig-
keit denkbare Arbeitsmodelle werden. Was wir in Wenn wir heute über die Folgen diskutieren, die
Deutschland aber nicht brauchen, insbesondere die Flexibilisierung der Arbeitszeit mit sich bringt,
nicht für unsere sozialen Sicherungssysteme, sind sollten wir meiner Meinung nach fünf wichtige
noch mehr „Mc-Jobs", und das schließt die Schein- Aspekte nicht aus den Augen verlieren:
selbständigkeit mit ein.
Erstens. Der Arbeits- und Gesundheitsschutz muß
Tatsächlich ist vieles zwischen den Tarifvertrags- bei allen Überlegungen Priorität haben. Intelligente
parteien bereits geregelt, ohne daß der Gesetzgeber Schichtmodelle führen, wie jüngere arbeitsmedizini-
eingreifen muß bzw. gefragt wird. Deshalb fand ich sche Untersuchungen zeigen, zu niedrigeren Kran-
den Beitrag „Tarifvertragssysteme: Beweglich und kenständen.
innovativ" im „Bundesarbeitsblatt" von diesem Mo-
nat sehr interessant, Herr Blüm. Er zeigt nämlich Zweitens. Die bereits in vielen Firmen und Behör-
deutlich, wie individuell die Arbeitszeit von den Ta- den praktizierten Arbeitszeitmodelle setzen eine
rifpartnern bereits formuliert wird. Gerade in diesem stärkere Eigenverantwortung der Beschäftigten vor-
Fall bedeutet eine Öffnung nämlich einen echten aus; Eigenverantwortlichkeit stärkt und motiviert.
Fortschritt, vorausgesetzt, daß dabei nicht wichtige Drittens. Teilzeitbeschäftigung kann arbeitsmarkt-
soziale Rechte auf der Strecke bleiben. politisch sehr wirksam sein. Es hat mich jedoch, offen
Nicht nur die Unternehmensleitungen, sondern gestanden, etwas verwundert, daß in Ihrer Antwort
auch die Beschäftigten sind bereit, neue Konzepte ausgerechnet der öffentliche Dienst als vorbildlich
mitzutragen. Verschiedene Arbeitszeitmodelle in un- dargestellt wird.
terschiedlichen Branchen zeigen das deutlich. In (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Das hat mich auch
meiner Heimatstadt Ludwigshafen läuft zur Zeit bei -
ein bißchen gewundert!)
der BASF ein Versuch: Hier können die Informatiker
innerhalb ihrer Projektgruppe ihre Arbeitszeit bis zu Gerade die Teilzeitbeschäftigung aus arbeitsmarkt-
zehn Stunden täglich je nach Bedarf frei einteilen. politischen Gründen, von der Bundesregierung im
Sie können so im Verlauf des Jahres ein Arbeitszeit- Frühjahr 1994 der Presse gegenüber als großer Wurf
konto von bis zu 75 Stunden ansparen. Das kommt gefeiert, entpuppt sich in der Praxis eher als Flop. In
daher - darauf wurde schon hingewiesen -, daß der meinem Wahlkreis wurde einer Bundesbeamtin
Tarifvertrag der chemischen Indust ri e es den Tarif- lange Zeit - mit dem nachweislich nicht stichhaltigen
partnern vor Ort überläßt, die Regelarbeitszeit inner- Argument der dienstlichen Erfordernisse - eine Re-
halb eines Zeitkorridors festzulegen. duzierung ihrer Arbeitszeit um 40 % verweigert.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5141
Doris Barnett
Viertens. Ein selbstbestimmtes Zurückfahren der men, in dem man sich ausdrücklich gegen den Sonn-
Arbeitszeit kann einen gleitenden Übergang vom tag als Regelarbeitstag ausspricht.
Arbeitsleben in den Ruhestand ermöglichen. Wich-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
tig ist mir aber, daß Teilzeitarbeit keinen sozialen Ab-
sturz im Alter nach sich zieht. Deswegen sage ich hier: Ausnahmegenehmigungen
nur mit ganz hohen Meßlatten, wenn es unbedingt
Fünftens. Ich sage ausdrücklich, daß mich Sonn- sein muß, aber doch nicht als Lösung der Probleme.
tags- und Feiertagsarbeit als Patentrezept für höhere Man darf das doch nicht als Möglichkeit betrachten,
Produktivität nicht überzeugt. die Arbeitszeit weiter zu flexibilisieren.
(Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD)
Die Bundesregierung stellt in ihrer Antwort - Herr Wenn Sie mir da recht geben, bin ich Ihrer Meinung.
Günther hat das hier auch vorgetragen - auf unsere
diesbezügliche Frage selbst fest, daß innerhalb des (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
letzten Jahres auf Grund von Ausnahmegenehmi- DIE GRÜNEN]: Genauso sieht das der Hei-
gungen - man sollte Ausnahme und Regel unter- lige Vater auch!)
scheiden - zur Sonntagsarbeit bundesweit lediglich Wir Sozialdemokraten treten zusammen mit den
3 000 neue Stellen geschaffen wurden. Ist die Steige- Gewerkschaften dafür ein, daß die Chancen konse-
rung von 0,01 % tatsächlich die Aushöhlung eines quent genutzt werden, die flexiblere Arbeitszeitmo-
wichtigen kulturellen und gesellschaftlichen Gutes delle bieten. Sie, meine Damen und Herren von der
wert? Ich glaube nicht. Koalition, verwechseln das aber permanent mit der
(Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Sind 3 000 nichts?) arbeitszeitlichen Verfügbarkeit von Arbeitskräften
für Unternehmen.
- Das sind Ausnahmen. Wollen Sie denn den Sonn-
Auch Betriebszeiten sind - entgegen den sattsam
tag plötzlich als Regelarbeitszeit einführen? 3 000
bekannten Überzeugungen der Koalition - kein
neue Stellen sind im Verhältnis zu fast 6 Millionen
Maßstab für die Wettbewerbsfähigkeit und Produkti-
Arbeitslosen nicht allzuviel, Frau Babel.
vität der deutschen Wi rtschaft. Die Vorteile des
(Beifall bei der SPD) Standorts Deutschland beruhen nicht zuletzt auf gut
ausgebildeten Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
Ich persönlich sehe größere Potentiale, wenn es mern. Wenn es uns gelingt, diese durch attraktive
uns gelänge, die 1,6 Milliarden Überstunden pro Arbeitszeitregelungen zu motivieren, tun wir mehr
Jahr anzugehen. für die Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen
als mit einfallslosem Lohn- und Sozialdumping.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Joseph
Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Gestatten Sie NEN])
eine Zwischenfrage, Kollegin Barnett?
Meine Hoffnung ist, daß wir zusammen mit den
Gewerkschaften und vielen fortschrittlichen Betrie-
Doris Barne tt (SPD): Ja. ben zu einer flexiblen Arbeitszeit und somit zu einer
besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie kom-
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Bitte schön. men und - darin stimme ich mit den Gewerkschaften
und Personalvorständen überein - daß wir es schaf-
fen, die Schichtarbeiter aus ihrer gesellschaftlichen
Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Frau Kollegin, Isolation herauszulösen.
Sie wissen genausogut wie ich, daß der Deutsche
Bundestag vor einem Jahr relativ hohe Meßlatten Eine Menge guter Vorschläge für mehr Zeit-
aufgelegt hat, bevor man sonntags im produzieren- souveränität sind bei uns in der Erprobung oder so-
den Gewerbe arbeiten kann. Eine Bedingung sind gar schon im praktischen Einsatz. Es liegt jetzt an
z. B. 144 Stunden Maschinenlaufzeit. uns Parlamentariern, die dafür notwendigen Rah-
menbedingungen zu formulieren. Packen wir es an!
Ich möchte Sie fragen, ob Sie mir nicht recht ge-
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
ben, daß die 3 000 zusätzlichen Arbeitsplätze nicht
GRÜNEN und der PDS)
das einzige Argument bei der Betrachtung dieser
Frage sind. Wir haben z. B. dadurch, daß in der Tex-
tilindustrie, wo die Einrichtung eines Arbeitsplatzes Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile dem
in einer Spinnerei oft 13 Millionen DM kostet, sonn- Abgeordneten Johannes Singhammer das Wo rt .
tags die Maschinen laufen können, eine Menge Ar-
beitsplätze erhalten. Johannes Singhammer (CDU/CSU): Herr Präsi-
(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) dent! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Hier
und heute im Deutschen Bundestag geht es nicht
niehr darum, das Für und Wider von flexiblen Ar-
Doris Barnett (SPD): Herr Kollege Laumann, dar- beitszeiten zu erörtern. Vielmehr geht es darum, die
auf möchte ich Ihnen nur eines antworten: Ich habe - Tarifpartner zu ermuntern, durchzusetzen, was not-
wie sicherlich auch Sie - einen B rief der KAB bekom- wendig ist. Flexible Arbeitszeiten, mobile Arbeitszei-
5142 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Johannes Singhammer
ten sind ein Eckstein einer vernünftigen Arbeits- schinenlaufzeiten - auch wenn Sie die Zahlen an-
marktpolitik, einer zukunftsgerichteten Gesell- zweifeln -, das dichtestgeknüpfte soziale Netz und
schaftspolitik und einer gerechten Familienpolitik. die höchsten Umweltstandards. Die damit verbunde-
nen hohen Kosten bedrohen unseren Standort - man
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
kann es wenden, wie man will -, indem sie die Inve-
ordneten der F.D.P.)
storen abschrecken. Die Konsequenz kann doch
Die Essenz des Schlagworts „Globalisierung der nicht heißen, Stundenlöhne von 3,70 DM wie in der
Wirtschaft", das heute schon gefallen ist, bedeutet Tschechischen Republik zu zahlen oder an die niedri-
doch, daß das Tempo des ökonomischen Wandels gen Umweltstandards ehemals realsozialistischer
nicht mehr von uns allein bestimmt werden kann, Wirklichkeit anzuknüpfen. Ein Ausweg - deswegen
sondern vielfach von anderen vorgegeben wird. Und diskutieren wir heute - heißt: optimierter Einsatz
wer stehenbleibt, gerät bald in einen uneinholbaren vorhandener Produktionsmittel. Dies bedingt mo-
Rückstand. Der internationale Standortwettbewerb bile Arbeitszeiten. Die Beantwortung der Anfrage
wird schärfer. Es muß uns doch zu denken geben, der SPD durch die Bundesregierung zeigt eindeutig,
wenn sich 75 Regionen als Produktionsort für einen daß hier noch ein großer Schatz an Ressourcen in
neuen Kleinwagen bewerben, aber Mercedes sich Deutschland auf seine Hebung wartet; das Wachs-
nicht für die Errichtung eines Werkes in Deutsch- tumspotential längere Maschinenlaufzeiten ist bei
land, sondern in Frankreich entscheidet. Es muß uns weitem nicht ausgeschöpft. Nach einer Untersu-
zu denken geben, wenn Siemens in Großbritannien chung der Unternehmensberatung McKinsey kön-
ein neues High-Tech-Werk errichtet und Deutsch- nen in Deutschland 2 Millionen neue Arbeitsplätze
land zunehmend Arbeitsplätze exportiert, gleichzei- allein dadurch entstehen, daß vorhandene Arbeits-
tig aber immer noch plätze flexibler gestaltet werden.
(Zuruf des Abg. Joseph Fischer [Frankfu rt ] Als ein Indiz für die Richtigkeit dieser Feststellung
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) möchte ich Ihnen eine Zahl nennen: Die Arbeitslo-
senquote bei den Frauen war in der Vergangenheit
- ich komme noch dazu, Herr Fischer - jährlich viele immer deutlich höher als bei den Männern. In die-
Tausende von Arbeitskräften importiert. sem Jahr liegt sie erstmals darunter. Einen Grund
sehe ich dari n, daß die Quote der mobilen Arbeits-
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege plätze bei den Frauen von 24 % im Jahre 1970 auf
Singhammer, gestatten Sie eine Zwischenfrage? 33 % im Jahre 1993 gestiegen ist.

Johannes Singhammer (CDU/CSU): Ja, gerne. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege
Singhammer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Peter Dreßen (SPD): Herr Kollege Singhammer, Sie
Abgeordneten Köhne?
haben gerade die Tarifpartner ermuntert, mehr Flexi-
bilität zuzulassen. Ist Ihnen eigentlich bekannt, daß Johannes Singhammer (CDU/CSU): Gerne.
es bei VW z. B. heute schon 200 diverse Arbeitszeit-
modelle gibt? Oder können Sie mir einen Tarifvertrag
Rolf Köhne (PDS): Herr Kollege, können Sie ein-
nennen, der z. B. die Samstagsarbeit verbietet? Geht
es Ihnen denn wirklich nur um mehr Flexibilität, oder mal illustrieren, wie dadurch, daß Arbeitsplätze fle-
geht es Ihnen in Wirklichkeit um die Zuschläge, die xibler gestaltet werden, neue Arbeitsplätze geschaf-
unter Umständen für Überstunden bezahlt werden fen werden? Vor allen Dingen: Wie begründen Sie
müssen? Dann sollten Sie das auch sagen. die Zahl von zwei Millionen?

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das fragt
GRÜNEN und der PDS) der jetzt schon zum 15. Mal! Der begreift
das nicht!)

Johannes Singhammer (CDU/CSU): Herr Kollege,


es geht darum, den gesetzlichen Rahmen, der ausrei- Johannes Singhammer (CDU/CSU): Ich freue
chend und genügend ist, auszunutzen. Da gibt es mich ja immer, wenn sich ein Vertreter der offiziellen
noch eine ganze Menge Spielraum, das wissen Sie. Nachfolgepartei der SED sich in Wirtschaftsfragen zu
Die Beispiele, die Sie genannt haben, sind mir be- Wort meldet. Die Zahlen sprechen für sich. Ich werde
kannt. Ich kann Ihnen noch weitere nennen, bei- Ihnen gleich noch ein Beispiel von der Firma BMW
spielsweise von der Firma BMW, die Arbeitszeitmo- bringen. Warten Sie es ab; dann können Sie es noch
delle erfolgreich praktiziert. Ich werde im weiteren einmal, auf Punkt und Komma genau, von mir hören. -
darauf eingehen, wie man Unternehmen, vor allem Meine sehr geehrten Damen und Herren, Mobilar-
mittelständische Unternehmen, motivieren kann, auf beitszeitplätze sind aber auch eine familienpolitische
diesem Gebiet noch mehr zu tun. Notwendigkeit. „Vereinbarkeit von Familie und Be-
(Beifall bei der, CDU/CSU) ruf" heißt das Stichwort. Ob wir auf dem Weg in eine
familien- und kinderfreundliche Gesellschaft voran-
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die kommen, entscheidet sich auch daran, wie weit wir
Frage ist doch: Wie können wir der Kostenfalle ent- die Gleichgültigkeit gegenüber Familien mit Kindern
rinnen? Wir haben mit d ie höchsten Lohn- und Lohn- auch in der Arbeitswelt überwinden. Wer sich mit
nebenkosten, mit die geringsten Arbeits- und Ma großer Sorgfalt und Aufmerksamkeit der Förderung
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5143
Johannes Singhammer
und Erziehung seiner Kinder widmet, ist zeitlich ge- in den Kindergärten und bei den Unterrichtszeiten in
handikapt. Eine alleinerziehende Mutter, eine Frau, den Schulen nicht auf. Auch der verwirklichte
die nach einer Kinderpause wieder in das Berufsle- Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz gehört
ben zurückkehrt, kann eben über ihr Zeitbudget dazu.
nicht so frei verfügen wie ein kinderloser Teilnehmer
am Arbeitsmarkt. Wer holt die Kinder rechtzeitig (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU -
vom Kindergarten ab? Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Sehr gut!)
(Zuruf von der SPD: Papa!)
- Natürlich.
Was ist, wenn der Erstkläßler alleine vor der Haustür
steht oder als Schlüsselkind zu Hause sofort nach (Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/
Schulschluß quer durch die Programme zappt? DIE GRÜNEN]: Sagen Sie doch einmal, wie
Sie das finanzieren wollen!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
- Das frage ich dann die Bundesländer.

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege, Wir brauchen hier vor allem auch bei den Tarifpar-
gestatten Sie eine Zwischenfrage von Frau Beck? teien Bewegung. Nichts wäre fataler als eine „Ty-
rannei des Status quo".

Johannes Singhammer (CDU/CSU): Ja. (Lachen bei Abgeordneten der PDS)


- So ist es.
Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen
NEN): Herr Kollege, wenn Sie in Ihren Äußerungen
Sie mich zum Schluß kommen. Was kann die Politik
so weit gehen und von einer sozialen Vernachlässi-
tun? - Die Rahmenbedingungen sind gesetzt. Die Po-
gung in bezug auf die Menschen sprechen, die ihre
litik kann die Tarifpartner in den Bet rieben informie-
Kinder nicht ordentlich betreuen, können Sie mir
ren, ermuntern und beraten. Das geschieht bereits;
dann bitte beantworten, wie Millionen von Vätern
das geschieht z. B. durch das Modellprojekt für ein
das über Jahre hinweg so haben halten können und
Betreuungsangebot zur Vereinbarkeit von Familie
in dieser A rt und Weise gearbeitet haben? Haben die
und Beruf in kleinen und mittelständischen Betrie-
also ihre Kinder sozial nicht versorgt?
ben, weil es gerade do rt oft an Informationen fehlt,
(Zuruf von der CDU/CSU: Da war die welche vielfältigen Möglichkeiten es für Teilzeitar-
Mama ja bei den Kindern!) beit gibt. Ich begrüße die Teilzeitoffensive der Bun-
desregierung, die Kampagne des Bundesministeri-
ums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zur
Johannes Singhammer (CDU/CSU): Frau Beck, Mobilzeit. Daß Fortschritte möglich sind, zeigt der
Sie haben meine Aussage ganz richtig dahin gehend Anstieg gerade beim öffentlichen Dienst des Bundes.
verstanden, daß ich auf diese Problematik, auf das Allein im Zeitraum von 1992 bis 1994 ist ein Anstieg
Unwohlsein von vielen Frauen - selbstverständlich von 10,5 % auf 15,7 % zu verzeichnen gewesen.
auch von Männern, von Vätern - hingewiesen habe,
wenn sie auf Grund von ungünstigen Arbeitszeiten Mein Appell auch an die Tarifparteien lautet da-
nicht wissen, was los ist, wenn ihre Kinder beispiels- her: Die Zukunft liegt in mehr Zeitsouveränität und
weise von der Schule nach Hause zurückkehren. Das weniger Gängelung. Wer weiter auf Arbeitszeit von
ist doch so. Das wissen Sie; das weiß auch ich. Das der Stange setzt, läuft Gefahr, bald auf den alten La-
bedarf eigentlich keiner weiteren Klarstellung. denhütern sitzenzubleiben.
(Joseph Fischer [Frankfu rt ] [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
DIE GRÜNEN]: Also: Was tun?)
- Ich komme gleich dazu, Herr Fischer. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile nun
dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Hein rich
(Zuruf von der SPD: Ein großer Vorkämpfer Kolb das Wort.
der Unionsfraktion!)
(Otto Schily [SPD]: Herr Rexrodt will nicht?
Die Elternverantwortung als Privatsache abzutun - Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/
ist keine qualifizierte Form der Gleichbehandlung, DIE GRÜNEN], zu Abg. Otto Schily [SPD]
sondern mehr ein Akt der Rücksichtslosigkeit, die gewandt: Rexrodt ist zu unflexibel, den
eben dem Kinderlosen Konkurrenzvorteile bringen müssen wir noch flexibilisieren!)
kann. In den alten Bundesländern wollen 89 % der
Frauen und immerhin 35 % der Männer, die in einem
Haushalt mit sechs- bis zwölfjährigen Kindern leben, Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär beim Bun-
Mobilzeitbeschäftigung. desminister für Wirtschaft: Herr Präsident! Meine lie-
ben Kolleginnen und Kollegen! Die Entwicklung und
Die andere Seite der Medaille ist: Was können wir der Stand der Arbeitszeitflexibilisierung sind ein zen-
tun? - Das heißt natürlich auch, daß die Arbeitszeit- trales Thema für den Standort Deutschland. Da muß
gestaltung gesellschaftlich eingebettet werden muß. es schon befremden, wenn das DIW - natürlich mit
Das beginnt bei den Öffnungszeiten von Ämtern und dem entsprechenden Echo von Herrn Dreßler - jeden
Geschäften, und das hört bei den Betreuungszeiten standortpolitischen Handlungsbedarf leugnet.
5144 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Parl. Staatssekretär Dr. Heinrich L. Kolb


Damit kein Mißverständnis entsteht: Natürlich ge- Arbeitszeit von der maschinellen Bet riebszeit ent-
hört Deutschland nach wie vor zu den leistungsfähig- koppelt wird. Hierdurch können unangemessene Ko-
sten Ländern der Welt. stenbelastungen vermieden und zusätzliche Beschäf-
tigungswirkungen erzielt werden. Sie hilft zweitens,
(Jörg Tauss [SPD]: Hört! Hört!) kunden- und marktbedingte Schwankungen elasti-
Das ist auch ein Verdienst dieser Regierung. scher und kostensparender aufzufangen. Sie ist drit-
tens mitentscheidend bei der Frage, ob neue Investi-
(Lachen des Abg. Joseph Fischer [Frank tionen in Deutschland getätigt werden. Schließlich -
furt ] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) das macht ihren besonderen Charme aus - bietet sie
Natürlich kann man nachweisen, daß wir in der Ver- auch einen Weg für den einzelnen Arbeitnehmer, Be-
gangenheit in mancherlei Hinsicht besser abge- ruf und Familie besser miteinander zu vereinbaren.
schnitten haben als andere Länder in der Welt. (Beifall bei der F.D.P.)
(Otto Schily [SPD]: Trotz dieser Regierung!) Die zweite Botschaft lautet - ich sagte es bereits -:
Aber eine solche Analyse wird unredlich, wenn Die Möglichkeiten der Flexibilisierung werden nicht
man übersieht, daß es offensichtliche Hemmnisse für überall voll genutzt. - In dieser Bewe rtung stimmen
Investition und Innovation gibt, z. B. bei der Steuer- wir mit Ihnen, Herr Dreßler, ja durchaus überein. -
und Abgabenbelastung, bei der Regulierungsdichte Dies gefährdet die Wettbewerbsfähigkeit der Unter-
und bei Freiräumen für p rivate Initiativen. Eine sol- nehmen und die Beschäftigung in Deutschland. Die
che Analyse wird für die politische Diskussion un- Bundesregierung hat ihre Aufgabe, günstige Rah-
tauglich, wenn nur in die Vergangenheit gesehen menbedingungen zu schaffen, angenommen. Sie hat
wird und entscheidende aktuelle Entwicklungen im mit dem neuen Arbeitszeitgesetz, das seit dem 1. Juli
globalen Wettbewerb, z. B. mit Blick auf Osteuropa, 1994 gilt, die gesetzlichen Rahmenbedingungen für
vernachlässigt werden. Unverantwo rtlich gar wird eine größere Flexibilisierung der Arbeitszeit geschaf-
eine solche Analyse dann, wenn so getan wird, als fen. In der bisher noch relativ kurzen Gültigkeits-
sei die hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland im Ver- dauer haben vor allem kapitalintensive Unterneh-
gleich zu anderen Ländern ein „normales" Problem. men die Möglichkeit wahrgenommen, auch an Sonn-
und Feiertagen zu arbeiten. Wohlgemerkt, am Ar-
(Rudolf Dreßler [SPD]: Wer tut denn das? beitsvolumen des einzelnen Arbeitnehmers ändert
Sie thematisieren das doch!) sich hierdurch nichts, nur an der Verteilung der Ar-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Abbau der beitszeit - ein klassischer Fall von Arbeitszeitflexibili-
hohen Arbeitslosigkeit - es ist ja gut, wenn wir hier sierung. Hierdurch werden nicht nur Arbeitsplätze
einer Meinung sind - ist die wichtigste Aufgabe, vor erhalten - das ist in einem Hochlohnland ja auch
der wir gemeinsam, also Wi rtschaft, Gewerkschaft schon einiges -, sondern es werden auch neue ge-
und Politik, stehen. Aber das vorhandene Arbeitsvo- schaffen.
lumen durch Arbeitszeitverkürzung umzuverteilen Aber der Punkt ist: Flexible Arbeitszeiten können
ist kein Weg, um die Beschäftigungsprobleme zu nicht per Gesetz verordnet werden. Der Staat kann
überwinden. den Tarifpartnern nur den dazu erforderlichen Rah-
(Beifall bei der F.D.P.) men bieten. Das haben wir getan. Deswegen sind
Denn die Struktur der Arbeitslosen entspricht nicht und bleiben die Tarifpartner aufgefordert, tarifliche
der Struktur der Beschäftigten. Zu fordern ist also Möglichkeiten der Flexibilisierung weiterzuentwik-
nicht die Verteilung des Mangels. Der kleiner wer- keln und den Betriebspartnern vor Ort mehr Verant-
dende Kuchen darf also nicht immer trickreicher ver- wortung und Spielraum zu überlassen. Die Betriebe
teilt werden. sollten den bereits vorhandenen Rahmen stärker nut-
zen und ihre jetzigen Betriebs- und Arbeitszeiten
(Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: So ist es!) überprüfen und optimieren.
Vielmehr brauchen wir einen größeren Kuchen. Wir Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
brauchen mehr Wirtschaftsdynamik, d. h. Mobilisie-
rung von Produktivitäts- und Beschäftigungspoten- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU -
tialen durch Flexibilisierung der Arbeitszeit. Otto Schily [SPD]: Was ist mit den Zahlen,
die Herr Dreßler Ihnen vorgehalten hat?)
Die Ihnen vorliegende Antwort der Bundesregie-
rung enthält im Hinblick darauf zwei wesentliche
Botschaften. Die erste lautet: Die Flexibilisierung der Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile nun
Arbeitszeit ist und bleibt eine notwendige Konse- dem Abgeordneten Karl-Josef Laumann das Wo rt . -
quenz der Arbeitszeitverkürzung. Die zweite Bot-
schaft lautet: Die Möglichkeiten der Flexibilisierung
werden nicht überall voll genutzt. Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Ich finde es eigentlich
Zum ersten. Die Arbeitszeit flexibilisieren heißt un- ganz normal, daß heute die Debatte über die Große
sere Wettbewerbsfähigkeit sichern. Vergegenwärti- Anfrage der SPD, wie es in unserem Land mit der Ar-
gen wir uns noch einmal, was Flexibilisierung der beitszeitflexibilisierung aussieht, in weiten Bereichen
Arbeitszeit eigentlich bedeutet: Sie ermöglicht er- auch eine Debatte über die Situation auf dem Ar-
stens, kapitalintensive betriebliche Anlagen so pro- beitsmarkt geworden ist. Das finde ich ganz normal,
duktiv wie möglich zu nutzen, indem die individuelle weil wir alle wissen, daß Arbeitszeit ein Punkt ist, der
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5145
Karl-Josef Laumann
mit dem Standort Deutschland etwas zu tun hat. Problemchen, dann muß es der Staat lösen. Kann er
Aber es ist nicht der einzige. es nicht finanzieren, werden die Abgaben erhöht.

Ich gehöre dem Deutschen Bundestag nun seit fünf (Otto Schily [SPD]: Wer hat denn die höch-
Jahren an und habe hier in dieser Zeit manche Ar- sten Abgabenlasten zustande gebracht?)
beitsmarktdebatte erlebt. Die Leute können und wollen das nicht mehr ertra-
gen. Auch laufen wir Gefahr, nicht mehr wettbe-
(Zuruf von der SPD: Aber Sie haben sie werbsfähig zu sein. Das ist die Wahrheit!
nicht beg riffen!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Wissen Sie, ich stelle mir manchmal die Frage, was
die vier oder viereinhalb Millionen Arbeitslosen ei- Setzen wir uns um Gottes willen einmal zusam-
gentlich von uns erwarten, ob sie es wirklich so toll men, um diese Probleme in den Gemeinden, in den
finden, daß die CDU der SPD die Schuld zuschiebt, Ländern und im Bund anzugehen! Gemeinsames
die SPD der CDU, die Gewerkschaften den Unter- Handeln ist hier erforderlich.
nehmern, die Unternehmer den Gewerkschaften. (Zuruf von der SPD: Wer regiert denn?)
Haben diese Menschen nicht einfach einen An-
spruch darauf, daß man die Situation analysiert? Muß - Wir regieren im Bund, in manchen Ländern und
man in einem föderalen Staatsaufbau, in dem jeder vielen Gemeinden regieren Sie. Aber dieses Hin-
weiß, daß der Bund allein die Dinge auch nicht im- und Herlavieren bringt uns nicht weiter. Doch ich
mer umsetzen kann, in dem man auch weiß, daß ge- habe die Hoffnung, daß die vielen Debatten, die wir
rade in diesem Bereich Unternehmensverbände und im Bundestag und woanders über die Arbeitszeitpro-
Gewerkschaften - schlicht: die Tarifvertragsparteien - blematik geführt haben, bei der größten Oppositions-
eine Riesenrolle spielen, nicht versuchen, zu einem partei langsam auf fruchtbaren Boden fallen. Denn
gemeinsamen Handeln zu kommen, um die Voraus- wenn ich mir vor Augen führe, was Herr Spöri sagt,
setzung für mehr Arbeit in Deutschland zu schaffen? was Herr Jens und Herr Schröder erklären, dann
Ich bin es leid, daß wir uns hier im Bundestag in im- stelle ich fest, das dies das ist, was wir in der CDU
mer zahlreicher werdenden Diskussionen damit ab- seit vielen Jahren in diesem Hohen Hause vertreten.
finden, den Mangel anders zu verteilen. Vielmehr In Wahrheit sind ein paar Probleme, die Sie zur
stellt sich doch zunächst einmal die Aufgabe, alles zu Zeit haben, wohl auch damit verbunden, daß diese
unternehmen, um möglichst viel sozialversicherungs- verschiedenen Meinungen aufeinanderprallen und
pflichtige Arbeit in Deutschland zu organisieren. Sie sehen müssen, wie Sie das bewältigen. Bitte war-
ten Sie nicht so lange, diesen Streit zu schlichten, da-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so mit wir endlich gemeinsam entscheiden und die
wie bei Abgeordneten der SPD und der Dinge anpacken können, die die Arbeitnehmer in
PDS) Deutschland brauchen, um mehr Arbeitsplätze zu
Entscheidend in diesem Zusammenhang ist, daß bekommen.
das, was man produziert, was man anbietet, am Ende (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
auch einen Preis braucht. Also hat es mit Geld, mit ordneten der F.D.P.)
Kosten zu tun, und da sind nicht der Lohn und die
Sozialversicherungsbeiträge die einzigen Kostenver-
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege,
ursacher. Da müssen wir uns über Strom, über ökolo-
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
gische Standards und über viele andere Fragen un-
Schily?
terhalten, die zusammen eine Kostenbelastung aus-
machen.
Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Ja, gut. Machen
(Joseph Fischer [Frankfu rt ] [BÜNDNIS 90/ wir!
DIE GRÜNEN]: Worüber redet der eigent
lich?)
O tt o Schily (SPD): Herr Kollege Laumann, ich
Ich glaube schon, daß wir uns einmal stärker die verstehe, daß Sie Kostenfaktoren mit uns gemeinsam
Frage stellen sollten, ob es uns in der Politik nicht diskutieren wollen. Das ist in Ordnung. Was ich nicht
besser und billiger gelingen müßte, das Zusammen- ganz verstehe, ist, daß Sie ökologische Standards of-
leben von 80 Millionen Menschen zu organisieren. fenbar als Kostenfaktoren diskutieren wollen. Sie ha-
Denn ich finde, bei 850 Milliarden DM Steuereinnah- ben anscheinend nicht den Blick dafür, daß gerade
men durch Bund, Länder und Gemeinden muß es die Verbesserung ökologischer Standards die Er-
doch möglich sein, das Zusammenleben in einem tragssituation erheblich verbessern und sogar zu Ko--
Land von 80 Millionen Menschen auf Dauer kosten- stenminimierung führen kann.
günstiger zu organisieren, um im internationalen (Widerspruch bei der CDU/CSU und der
Kampf um Arbeit bessere Chancen zu haben. F.D.P.)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU Es ist immer schlecht, wenn wir uns gegenseitig
und der F.D.P.) Lektüre abfragen. Aber ich darf Sie doch fragen:
Kennen Sie das Buch von E rnst Ulrich von Weizsäk-
Die Sozialdemokraten haben in der Vergangenheit ker „Faktor 4", in dem genau dieser Zusammenhang
wirklich Meisterleistungen hingelegt., Entsteht ein angesprochen wird? Es besagt, daß man einen dop-
5146 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Otto Schily
pelten Wohlstand durch einen halbierten Naturver- ligung von Arbeitnehmern, Arbeitgebern und ande-
brauch zustande bringen kann. Das ist dann kein Ko- ren systematisch Dialoge zu organisieren, um Pro-
stenfaktor, sondern eine Verbesserung der Kostensi- bleme zu lösen, und daß Sie erst damit begonnen ha-
tuation. ben, als die Krise da war, als das Kind also bereits in
den Brunnen gefallen war?
Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Sehr geehrter
Herr Schily, ich bekenne hier freimütig, daß ich die- Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Lieber Kollege,
ses Buch nicht kenne. wissen Sie, wir sind da, wo ich herkomme, nicht auf
den Kopf gefallen. Deswegen kennen wir schon die
(Zuruf von der F.D.P.: Schadet nichts!)
Möglichkeiten des Recyclings und haben da auch
Aber ich kenne in meinem Wahlkreis eine Gießerei, eine Menge getan.
die ich als Beispiel anführen will.
Schließlich steht man aber doch irgendwann vor
(Zuruf von der F.D.P.: Und die kennt der der Frage der Endlagerung. Mit dem Beispiel, stell-
nicht!) vertretend für viele andere, wollte ich nur deutlich
machen, daß die Endlagerung für die betreffende
Da arbeiten 200 Menschen. In dieser Gießerei fällt Firma durchaus ein Problem ist.
nun einmal Formsand, wenn man ihn auch oft re-
cycelt hat, irgendwann als Abfallprodukt an und muß
entsorgt werden. Diese Firma hat vor sieben oder Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege
acht Jahren für die Entsorgung der Formsande um Laumann, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage
die 200 000 DM bezahlt. Die gleiche Firma bezahlt von Frau Beck?
dafür heute fast 1 Million DM.
Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Ich muß die von
(Zuruf von der CDU/CSU: So ist das!)
Herrn Tauss noch beantworten.
Wenn eine solche Gießerei gegen Gießereien in Po-
len, in Tschechien, auch in Holland oder Frankreich Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Oh, ich dachte,
antreten muß, ist das für denjenigen, der sich Gedan- Sie wären fertig.
ken über die Auftragseingänge machen muß, damit
200 Leute jeden Tag Arbeit bekommen, ein Punkt.
Darüber denke ich nach; und dafür brauche ich nicht Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Dem, was Sie
unbedingt ein solches Buch zu lesen. über den Dialog gesagt haben, entgegne ich: Ich
halte sehr viel davon, daß man in den unterschiedli-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge chen gesellschaftlichen Gruppen, in den unter-
ordneten der F.D.P. - Zurufe des Abg. Otto schiedlichen Verbänden Dialoge führt. Das ist in der
Schily [SPD]) Demokratie eine ganz wichtige Sache.
Schauen Sie einmal, was zur Zeit im Bundeskanz-
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege, leramt stattfindet. Die Spitzengespräche beim Bun-
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten deskanzler zwischen DGB, Wirtschaftsspitzen und
Tauss? den Spitzen der Bundesregierung

Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Wer war zuerst


(Joseph Fischer [Frankfu rt ] [BÜNDNIS 90/
dran? Frau Beck oder Herr Tauss? DIE GRÜNEN]: Mit denen müßten Sie mal
reden, um zu sehen, was die von diesen Ge-
sprächen halten!)
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Tauss ist
der nächste. laufen doch ganz hervorragend.
Als wir vor einigen Wochen mit den Kolleginnen
Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Ja, bitte. und Kollegen, die in diesem Hohen Hause der IG
Metall angehören, zusammengesessen haben, war
festzustellen, daß einige von ihnen weiß wurden, als
Jörg Tauss (SPD): Herr Kollege Laumann, ich habe
zwei Fragen. der Herr Zwickel erzählt hat, wie optimal das im Bun-
deskanzleramt abläuft.
(Zurufe von der CDU/CSU und der F.D.P.:
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Eine!)
Wissen Sie, der Helmut Kohl bewältigt auch noch
Ist Ihnen bekannt, daß es heute beispielsweise mög-
diese Frage, daß sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer -
lich ist, Gießereisande zu reduzieren, daß daraus Ko-
nicht immer feindlich gegenüberstehen, sondern es
steneinsparungspotentiale erwachsen können und
gemeinsam anpacken, um den Standort Deutschland
daß genau diese Programme „Arbeit und Technik"
voranzubringen.
von Ihrem sogenannten Zukunftsminister als - ich zi-
tiere ihn - „Spielwiese" bezeichnet worden sind? (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
ordneten der F.D.P. - Joseph Fischer
Ist Ihnen weiter bekannt, daß es der von Ihnen zi-
[Frankfu rt ] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
tierte Wirtschaftsminister des Landes Baden-Wü rt
Halleluja! Halleluja!)
-tembrg,SpöiwadGenstzumBd-
wirtschaftsminister damit begonnen hat, unter Betei Bitte, Frau Beck.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5147

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Beck, Sie Ich stelle mir wirklich die Frage: Müssen wir denn
haben eine Zwischenfrage. zur gleichen Zeit auch noch alle anderen möglichen
Standards Gott weiß wie erhöhen, um die letzten 2
oder 3 % Umweltschutz zu erreichen?
Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Herr Laumann, ich möchte gern auf die Frage Ich glaube, wenn wir do rt neue Kläranlagen bauen
der ökologischen Kostenbelastung zurückkommen. und dafür sorgen, daß die Formsände überhaupt re-
Dabei ist es ziemlich egal, welche Bücher man gele- cycelt werden können, ist es sinnvoll, große Mengen
sen hat. Das wissen Sie doch wohl; denn soviel weiß Geld in diese Projekte zu stecken. Dann muß man
doch jeder in diesem Haus und muß es wissen: Es aber - ich will es einmal mit meinen Worten sagen -
kann natürlich niemand bestreiten, daß es betriebs- hier neune gerade sein lassen, um die Dinge finan-
wirtschaftlich für diese Gießerei im Jahre 1980 oder zierbar zu halten.
1990 billiger ist, für 200 000 DM zu entsorgen. Wir (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
wissen aber auch und können wissen, daß die näch-
ste Generation oft herangezogen wird, diese billige Man muß das abwägen! Alles auf einmal geht selbst
Entsorgung, wenn es überhaupt noch geht, in Ord- in einem so modernen Land wie Deutschland nach
nung zu bringen und dafür die Kosten zahlt. Wir wis- meiner Auffassung nicht.
sen, daß wir oft unverantwortlich auf Kosten der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
nächsten Generation leben, und zwar auch ökono- ordneten der F.D.P.)
misch, nicht nur moralisch. Ist Ihnen das auch be-
wußt? Meine Damen und Herren, ich möchte jetzt auf die
Arbeitszeiten eingehen. Seit gut einem Jahr ist das
(Otto Schily [SPD]: Nein, das weiß er nicht!) neue Arbeitszeitgesetz in Kraft. Ich möchte für meine
Fraktion feststellen, daß sich dieses Gesetz in der Tat
bewährt hat. Wir haben damals gesagt, wir müssen
Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Sie erzählen die Arbeitszeiten soweit regeln, wie sie mit dem Ge-
einem Christdemokraten überhaupt nichts Neues, sundheitsschutz der Arbeitnehmer zu tun haben.
wenn Sie sagen, daß wir mit unseren natürlichen Le-
bensgrundlagen, Frau Kollegin Beck, sehr vorsichtig Ich glaube allen Ernstes daran, daß es besser ist,
umgehen müssen und daß wir Menschen sie in einer daß die Sozialpartner in den Bet rieben, also Be-
großen Verantwortung für die, die nach uns kom- triebsräte und Geschäftsleitungen, gemeinsam über-
men, nutzen müssen. legen, wie die Arbeitszeiten in ihrem Bet rieb für
beide Seiten am besten festzulegen sind. Wir befin-
(Joseph Fischer [Frankfu rt ] [BÜNDNIS 90/ den uns in dieser Frage voll in der Mitbestimmungs-
DIE GRÜNEN]: Aber?) pflicht. Arbeitszeiten können in einem Bet rieb nur
mit dem Einverständnis des Bet riebsrates und im
Das ergibt sich schon aus einem ganz normalen reli- Einvernehmen mit ihm festgesetzt werden. Das ist
giösen Verständnis heraus. Ich will Ihnen das deut- gut so. Ich glaube, daß die Vielfältigkeit, die wir in
lich sagen. den Betrieben haben, von den Sozialpartnern in den
Betrieben viel besser beurteilt werden kann als vom
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Deutschen Bundestag und auch - das ist meine An-
Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ sicht - von den Tarifvertragsparteien.
DIE GRÜNEN]: Aber?)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Viele Dinge, die es eigentlich immer schon gege-
ben hat und die Sie jetzt als neu bezeichnen, sind in Es ist in der Tat so, daß die Arbeitszeiten in
der Tradition, in der ich großgeworden bin, immer Deutschland viel bunter und unterschiedlicher sind,
schon eine Selbstverständlichkeit gewesen. als man das landauf und landab in der Diskussion
hört. Das ist doch ein Zeichen dafür, daß die Sozial-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) partnerschaft in den Bet rieben funktioniert.

Da haben Sie nichts Neues erfunden, und wir wollen Ich möchte heute auch noch etwas zur Sonntagsar
das ja auch machen. beit sagen. Als wir vor gut einem Jahr das Gesetz be-
raten haben und ich es für meine Fraktion vertreten
Aber natürlich gibt es Zielkonflikte. habe, da sind wir von der SPD als „Sonntagskiller"
bezeichnet worden.
(Otto Schily [SPD]: Aha!)
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ -
Wir müssen sehen, daß wir die Dinge Schritt für DIE GRÜNEN]: Nicht von der SPD! Vom
Schritt überbrücken; das geht nicht alles auf einmal. Heiligen Stuhl!)
Wir beschäftigen uns zur Zeit in großem Maße mit - Sie waren damals noch gar nicht da, Herr Fischer.
der Wiedervereinigung, und das, was in Ostdeutsch- Da konnten Sie so etwas noch gar nicht sagen.
land geschieht, ist - das behaupte ich - eines der
größten ökologischen Programme, die jemals in Dieser Vorwurf war - das gilt nach wie vor - bösar-
Europa stattgefunden haben. tig und ungerecht. Es zeigt sich, nachdem dieses Ge-
setz ein Jahr in Kraft ist, daß diese Vorwürfe unge-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge rechtfertigt waren. Schauen Sie einmal: In ganz
ordneten der F.D.P.) Deutschland haben rund 175 Firmen bei den zustän-
5148 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Karl-Josef Laumann
digen Landesbehörden Sonntagsarbeit genehmigt Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Es liegt keine
bekommen. Davon sind etwa 14 000 Arbeitnehmer Wortmeldung zu diesem Tagesordnungspunkt mehr
betroffen. Das bedeutet, daß wir eine Ausweitung vor. Ich schließe damit die Aussprache. Eine Be-
der Sonntagsarbeit um 0,05 % gehabt haben. Sicht- schlußfassung ist nicht vorgesehen.
barer dagegen ist, finde ich, der erhoffte Arbeits-
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 b und 19 c
platzeffekt. Auch wenn Sie sagen, 3 000 Arbeits-
und den Zusatzpunkt 5 auf:
plätze bundesweit seien für Sie kein Thema,
19. Überweisungen im vereinfachen Verfahren
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Sie können doch nicht mit b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Arbeitsplätzen gegen die Bibel argumentie Rolf Kutzmutz, Dr. Christa Luft und der
ren!) Gruppe der PDS
Flexiblere Gestaltung der Förderpro-
ich bin froh um jeden Arbeitsplatz, den wir do rt hal-
gramme
ten konnten, und ich freue mich darüber, daß 3 000
Männer und Frauen das Brot für ihre Familien in die- - Drucksache 13/1798 —
sen Arbeitsplätzen verdienen können und damit eine Überweisungsvorschlag:
Zukunft haben. Haushaltsausschuß (federführend)
Ausschuß für Wirtschaft
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung,
Technologie und Technikfolgenabschätzung
Joseph Fischer [Fr ankfurt] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Am siebten Tag sollst du ru c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
hen, heißt es in der Bibel! Wo seid ihr denn Ge rt Weisskirchen (Wiesloch), B rigitte Ad-
hingekommen?) ler, Dr. Ulrich Böhme (Unna), weiterer Ab-
Wir alle wissen, daß die Genehmigung bei einem geordneter und der Fraktion der SPD
namhaften deutschen Reifenhersteller in diesem Be- Verhandlung vor dem Internationalen Ge-
reich allein in einer Einzelmaßnahme 200 Ar- richtshof zur Frage der völkerrechtlichen
beitsplätze gesichert hat. Da kann man sagen, das Legalität des Einsatzes oder der Andro-
seien Peanuts. Aber ich glaube, daß sich die Men- hung des Einsatzes von Atomwaffen
schen in dieser Fabrik und in dieser Region freuen, - Drucksache 13/1879 —
daß das gelingen kann und daß sie die Möglichkeit Überweisungsvorschlag:
zu arbeiten haben, weil ansonsten ihre Firma einfach Auswärtiger Ausschuß
nicht zu halten gewesen wäre. Bei der Abwägung,
ob der Arbeitsplatz verlorengeht oder behalten wer- ZP5 Weitere Überweisung im vereinfachten Ver-
den kann, halte ich es als überzeugter und praktizie- fahren
render Katholik auch vor dem lieben Gott für verant- (Ergänzung zu TOP 19)
wortbar zu sagen: Dann muß sonntags halt gearbei- Beratung des Antrags der Abgeordneten Ger-
tet werden. hard Jüttemann, Rolf Kutzmutz, Eva Bulling-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Schröter, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der
Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ PDS
DIE GRÜNEN]: Oh, oh, oh! In der katholi Änderung des Bundesberggesetzes
schen Kirche entscheidet aber nicht jeder
selbst, was der liebe Gott sagt! Das ent - Drucksache 13/2497 —
scheidet immer noch Rom!) Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft (federführend)
Ich glaube, daß wir in diesem Hohen Hause gut be- Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
raten sind, uns - auch im Interesse der Zukunftsfä- Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
higkeit unseres Landes und der Stabilisierung der so- Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen
zialen Sicherungssysteme für die Bedürftigen - stär- an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
ker um die Voraussetzungen dafür zu kümmern, Ar- zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich
beit in Deutschland zu behalten. Da brauchen wir sehe und höre keinen Widerspruch. Dann sind die
nicht nur sozialpolitische Ideen, wir brauchen auch Überweisungen so beschlossen.
Ideen der Wirtschaftspolitiker; das sage ich einmal
ganz deutlich. Da muß etwas mehr kommen als nur Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20a bis 20d und
eine Debatte über den Ladenschluß. 20f bis 20n auf:
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) 20. Abschließende Beratungen ohne Aussprache
-
Da muß auch einmal beraten und überlegt werden, a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung
wo es Investitionsstaus gibt. Alle Ausschüsse des des von der Bundesregierung eingebrach-
Deutschen Bundestages sollten sich darüber einmal ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver-
Gedanken machen. Dann müßte ein Bündel ge- trag vom 2. April 1993 zwischen der Bun-
schnürt werden, das wir dann gemeinsam durchset- desrepublik Deutschland und der Repu-
zen. Ich glaube, dann hätten wir Erfolg. blik Belarus fiber die Förderung und den
gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
Danke schön. - Drucksache 13/2047 -
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Erste Beratung 55. Sitzung)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5149
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- - zu dem Vorschlag für eine Verord-
schusses für Wirtschaft (9. Ausschuß) nung (EG) des Rates über ein Gemein-
- Drucksache 13/2448 - schaftsprogramm zur finanziellen
Unterstützung der Förderung europäi-
Berichterstattung: scher Energietechnologien 1995-1998
Abgeordneter Christian Müller (Zittau) („THERMIE II")
- zu dem Geänderten Vorschlag für eine
b) Zweite Beratung und Schlußabstimmung
Verordnung (EG) des Rates über ein Ge-
des von der Bundesregierung eingebrach-
meinschaftsprogramm zur finanziellen
ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver-
Unterstützung der Förderung europäi-
trag vom 20. April 1993 zwischen der Bun-
scher Energietechnologien 1995-1998
desrepublik Deutschland und der Repu-
(„THERMIE II")
blik Lettland über die Förderung und den
gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksachen 13/269 Nr. 2.3, 13/1096
- Drucksache 13/2046 - Nr. 2.4, 13/1962 -
(Erste Beratung 55. Sitzung) Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Otto Schmiedeberg
Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- Bodo Seidenthal
schusses für Wirtschaft (9. Ausschuß) Simone Probst
- Drucksache 13/2449 - Dr. Karlheinz Guttmacher
Wolfgang Bierstedt
Berichterstattung:
Abgeordneter Erich G. Fritz g) Beratung der Beschlußempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Wi rtschaft
c) Zweite Beratung und Schlußabstimmung (9. Ausschuß)
des von der Bundesregierung eingebrach- - zu dem Antrag der Abgeordneten Hein-
ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver- rich Graf von Einsiedel, Dr. Willibald
trag vom 24. September 1992 zwischen der Jacob, Andrea Lederer und der weiteren
Bundesrepublik Deutschland und Jamaika Abgeordneten der PDS
über die gegenseitige Förderung und den
Schutz von Kapitalanlagen Verbot der Rüstungsexporte und Kon-
version der Rüstungsindustrie
- Drucksache 13/2045 -
- zu der Unterrichtung durch die Bundes-
(Erste Beratung 55. Sitzung) regierung
Beschlußempfehlung und Be richt des Aus- Bericht der Bundesregierung zum Stand
schusses für Wirtschaft (9. Ausschuß) der EG-Harmonisierung des Exportkon-
- Drucksache 13/2450 - trollrechts für Güter und Technologien
mit doppeltem Verwendungszweck
Berichterstattung: (Dual-use-Waren)
Abgeordneter Christian Müller (Zittau)
- Drucksachen 13/584, 12/8368, 13/725
Nr. 92, 13/2545 -
d) Zweite Beratung und Schlußabstimmung
des von der Bundesregierung eingebrach- Berichterstattung:
ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- Abgeordneter E rich G. Fritz
kommen vom 15. März 1994 zwischen der
h) Beratung der Beschlußempfehlung und des
Bundesrepublik Deutschland und der Re-
Berichts des Finanzausschusses (7. Aus-
publik Litauen über die gegenseitige Hil-
schuß) zu der Unterrichtung durch die Bun-
feleistung bei Katastrophen oder schwe-
desregierung
ren Unglücksfällen
MwSt - geänderter Richtlinienvorschlag
- Drucksache 13/1665 -
betr. Personenbeförderung
(Erste Beratung 47. Sitzung) - Drucksachen 13/1234 Nr. 1.2, 13/2403 -
Beschlußempfehlung und Be richt des Berichterstattung:
Innenausschusses (4. Ausschuß) Abgeordnete Reiner Krziskewitz
- Drucksache 13/2517 - Detlef von Larcher
Berichterstattung: i) Beratung der Beschlußempfehlung des
Abgeordnete E rika Steinbach Petitionsausschusses (2. Ausschuß)
Bernd Reuter
Sammelübersicht 63 zu Petitionen
Manfred Such
Dr. Burkhard Hirsch - Drucksache 13/2465 -

j) Beratung der Beschlußempfehlung des


f) Beratung der Beschlußempfehlung und des
Petitionsausschusses (2. Ausschuß)
Berichts des Ausschusses für Bildung, Wis-
senschaft, Forschung, Technologie und Sammelübersicht 64 zu Petitionen
Technikfolgenabschätzung (19. Ausschuß) - Drucksache 13/2466 -
5150 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch


k) Beratung der Beschlußempfehlung des Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Ge-
Petitionsausschusses (2. Ausschuß) genprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest,
Sammelübersicht 65 zu Petitionen daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der
Koalition und der SPD angenommen worden ist ge-
- Drucksache 13/2467 - gen die Stimmen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und bei Stimmenthaltung der Gruppe der
1) Beratung der Beschlußempfehlung des PDS. •
Petitionsausschusses (2. Ausschuß)
Sammelübersicht 66 zu Petitionen Ich komme zu Punkt 20g: Beschlußempfehlung
des Ausschusses für Wi rt schaft zu dem Antrag der
- Drucksache 13/2468 - Gruppe der PDS zu einem Verbot der Rüstungsex-
porte und zur Konversion der Rüstungsindustrie auf
m) Beratung der Beschlußempfehlung des Drucksache 13/2545 Buchstabe a.
Petitionsausschusses (2. Ausschuß)
Sammelübersicht 67 zu Petitionen Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksa-
che 13/584 abzulehnen. Wer für die Ablehnung
- Drucksache 13/2469 - stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegen-
probe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß die
n) Beratung der Beschlußempfehlung des Beschlußempfehlung bei vier Stimmenthaltungen
Petitionsausschusses (2. Ausschuß) gegen die Stimmen der Gruppe der PDS angenom-
Sammelübersicht 68 zu Petitionen men ist.
- Drucksache 13/2470 -
Ich rufe die Beschlußempfehlung des Ausschusses
für Wi rt schaft zum Be richt der Bundesregierung zum
Tagesordnungspunkte 20a bis 20 c: Wir kommen Stand der EG-Harmonisierung des Exportkontroll-
zur Abstimmung über die von der Bundesregierung rechts für Güter und Technologien mit doppeltem
eingebrachten Gesetzentwürfe zu den Verträgen mit Verwendungszweck auf, Drucksachen 12/8368 und
den Republiken Belarus und Lettland sowie mit Ja- 13/2545 Buchstabe b.
maika über die gegenseitige Förderung und den
Schutz von Kapitalanlagen, Drucksachen 13/2047, Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? Ich
13/2046 und 13/2045. bitte um das Handzeichen! - Gegenprobe! - Stimm-
enthaltungen? - Ich stelle fest, daß die Beschlußemp-
Der Ausschuß für Wi rt schaft empfiehlt auf den
fehlung gegen die Stimmen der Gruppe der PDS ein-
Drucksachen 13/2448 bis 13/2450, die Gesetzent-
mütig angenommen worden ist.
würfe unverände rt anzunehmen. Wenn Sie damit
einverstanden sind, dann lasse ich über die drei Ge- Ich rufe die Beschlußempfehlung des Finanzaus-
setzentwürfe gemeinsam abstimmen. - Das ist der schusses zu einem geänderten Richtlinienvorschlag
Fall. Dann machen wir das so. Ich bitte diejenigen, zur Höhe der Mehrwertsteuer bei der Personenbeför-
die diesen drei Gesetzentwürfen zustimmen wollen, derung auf, Drucksache 13/2403. Das ist Punkt 20h.
sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Stimm-
enthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die drei Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, den
Gesetzentwürfe einmütig angenommen worden bitte ich um das Handzeichen! - Gegenprobe! -
sind. Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß die Be-
Dann kommt Punkt 20d: Abstimmung über den schlußempfehlung einmütig angenommen worden
von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzent- ist.
wurf zu dem Abkommen mit der Republik Litauen
über die gegenseitige Hilfeleistung bei Katastro- Ich komme zu den Punkten 20i, j, k und 1 und rufe
phen oder schweren Unglücksfällen, Drucksache die Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses
13/1665. auf den Drucksachen 13/2465 bis 13/2468 auf. Das
sind die Sammelübersichten 63 bis 66.
Der Innenausschuß empfiehlt auf Drucksache 13/
2517, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Wer für diese Beschlußempfehlungen stimmt, den
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim- bitte ich um das Handzeichen! - Gegenprobe! -
men wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß diese Be-
Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß der Gesetz- schlußempfehlungen bei Stimmenthaltung der Frak-
entwurf mit den Stimmen der Koalition und der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Gruppe der
tion der SPD bei Stimmenthaltung der Fraktion PDS angenommen worden sind.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Gruppe der
PDS angenommen worden ist. Ich rufe die Beschlußempfehlung des Petitions-
ausschusses auf Drucksache 13/2469 auf. Das ist
Es kommt nun Punkt 20f: Beschlußempfehlung Punkt 20m, die Sammelübersicht 67.
des Ausschusses für Bildung, Wissenschaft, For-
schung, Technologie und Technikfolgenabschätzung Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, den
zu Verordnungsvorschlägen der Europäischen bitte ich um das Handzeichen! - Gegenprobe! -
Union zur finanziellen Unterstützung der Förde- Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß diese Be-
rung europäischer Energietechnologien, Drucksache schlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition an-
13/1962. genommen ist.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5151
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
Dann rufe ich Punkt 20n auf: Beschlußempfehlung weltweite Aufschwung setzt sich ungebrochen fo rt ,
des Petitionsausschusses auf Drucksache 13/2470. zwar in einem etwas langsameren Tempo als zu-
Das ist die Sammelübersicht 68. nächst angenommen; von einer Trendwende kann
aber keine Rede sein.
Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, den
bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Deutschland liegt beim Wachstum an der Spitze
Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß die Be- der G 7 und bleibt damit ein Motor der Weltwirt-
schlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition ge- schaft. Das gilt, auch wenn der IWF in Anbetracht
gen die Stimmen der SPD und der Gruppe der PDS der Ergebnisse des ersten Halbjahres die Zahlen für
bei Stimmenthaltung der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Deutschland leicht nach unten korrigiert hat. Wir
GRÜNEN angenommen worden ist. können 1995 auch weiterhin mit 2 1/2 % Realwachstum
rechnen, und 1996 bleibt das Wachstum in Deutsch-
land auf einem dynamischen Pfad. Nach dem bislang
Nun rufe ich den Zusatzpunkt 6 auf:
kräftigen Wachstum von Export und Investitionen
Abgabe einer Erklärung der Bundesregie- können wir auf Grund der Steuer- und Abgabenent-
rung lastungen in Höhe von etwa 27 Milliarden DM im
nächsten Jahr mit einer deutlichen Zunahme des
Jahresversammlung des Internationalen Verbrauchs rechnen.
Währungsfonds und der Weltbank in Wa-
Auch die Entwicklung in den USA ist durchaus po-
shington unter Berücksichtigung der kon-
sitiv. Heute kann mit einem „soft landing" der ameri-
junkturellen Entwicklung und ihrer ein-
kanischen Konjunktur gerechnet werden. Für Japan
nahme- und ausgabemäßigen Auswirkungen
auf die öffentlichen Haushalte hat der Währungsfonds seine Prognosen stärker revi-
dieren müssen. Hier spiegeln sich insbesondere die
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind Aufwertung des Yen und die Bankenkrise wider.
für die Aussprache im Anschluß an die Regierungser- Erfreulich ist das kräftige Wachstum in zahlreichen
klärung eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich sehe Entwicklungs- und Schwellenländern. Das hohe
und höre keinen Widerspruch. Das ist so beschlos- Wachstum in diesen Ländern ist inzwischen zu ei-
sen. nem andauernden positiven Faktor der Weltwirt-
Das Wo rt zur Abgabe einer Regierungserklärung schaft geworden.
hat der Bundesminister der Finanzen, Dr. Theodor Auch in den meisten Ländern Mittel- und Osteuro-
Waigel. pas - in 17 von 26 - zeigen sich positive Wachstums-
raten. Meine Damen und Herren, ich halte es für ei-
nen beeindruckenden Erfolg erstens der Reforman-
Dr. Theodor Waigel, Bundesminister der Finanzen:
strengungen in diesen Ländern und zweitens der in-
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
ternationalen Kooperation durch IWF, Weltbank und
Herren! Auch diejenigen, die im Moment den Saal
andere Institutionen, wenn heute 17 von 26 Trans-
verlassen, sind an einer funktionierenden wirtschaft-
formationsländern positives Wachstum aufweisen.
lichen Entwicklung der ganzen Welt sicherlich ge-
nauso interessie rt wie an der Flexibilisierung der Ar- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
beitszeit und der Arbeitswelt in der Bundesrepublik
Auch in Rußland - das haben die Diskussion mit den
Deutschland, denn beides gehört selbstverständlich
zusammen. russischen Vertretern im G-7-Gespräch und beim In-
terimskomitee sowie meine bilateralen Gespräche
Gestern früh bin ich von der traditionellen Herbst- mit dem stellvertretenden Ministerpräsident Tschu-
tagung des Internationalen Währungsfonds und der bais und dem Finanzminister Yasin gezeigt - sind
Weltbank sowie von den Gesprächen im Rahmen der positive Zeichen zu sehen. Die Inflationsrate sinkt
G 7 zurückgekehrt. Ich bedanke mich auch bei der seit Jahresbeginn. Die Entwicklung des Sozialpro-
Delegation des Deutschen Bundestages für die gute dukts und des Haushaltsdefizits verläuft günstiger
Zusammenarbeit und für die Unterstützung während als erwartet.
dieser Tagung. Gerade in Deutschland spüren wir die Handelsim-
Einmal mehr sind Deutschland und insbesondere pulse einer dynamischen wi rt schaftlichen Entwick-
die deutsche Finanzpolitik durch den Internationa- lung in Polen, in Tschechien, in Slowenien, in Un-
len Währungsfonds und im Kreis der G 7 positiv be- garn oder in den baltischen Staaten. In diesem Er-
wertet worden. Deutschland verzeichnet beeindruk- gebnis zeigt sich der Erfolg von Marktwirtschaft und
kende Fortschritte beim Abbau des Haushaltsdefi- Demokratie ebenso wie der einer Politik der Liberali-
zits. sierung der nationalen Volkswirtschaften und der
Weltmärkte.
(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!)
Bei der Inflation ist die Lage weltweit so gut wie
Die Konzeption der symmet ri schen Finanzpolitik, schon lange nicht mehr. Die Inflationsgefahren sind
Defizitreduktion und Steuersenkung bis zum Jahr gering.
2000 zu verbinden, ist ausdrücklich begrüßt worden.
National wie international bleibt die Arbeitslosig-
Wie schon vor sechs Monaten bleibt auch die jüng- keit eine Hauptsorge der Finanzpolitik. In Deutsch-
ste Weltwirtschaftsanalyse des Internationalen Wäh- land hat in den neuen Bundesländern ein deutliches
rungsfonds bei ihrem positiven Gesamteindruck. Der Beschäftigungswachstum eingesetzt. Laut neuesten
5152 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Bundesminister Dr. Theodor Waigel


Untersuchungen des Instituts der Deutschen Wi rt der „Allgemeinen Kreditvereinbarungen" in An-
-schaftberägdiRjz3%poJahr.Aucin spruch zu nehmen. Hier haben wir uns auf eine Ver-
den alten Bundesländern ist die Arbeitslosenquote doppelung auf 34 Milliarden Sonderziehungsrechte
nach internationalem Standard mit 6,5 % niedriger unter Einbeziehung weiterer Länder verständigt.
als in vielen anderen Ländern. Aber der Arbeitslo-
sensockel ist zu hoch, das Tempo des Abbaus der Ar- Mit diesen Ergebnissen hat das Treffen von Wäh-
beitslosigkeit ist unzureichend. Ein international ein- rungsfonds und Weltbank einmal mehr seine wich-
heitliches Rezept gibt es nicht. Dazu sind die Ursa- tige Koordinierungsaufgabe erfüllt. Die Märkte ha-
chen der Arbeitslosigkeit und die Strukturelemente ben klare Signale der währungspolitischen Koopera-
der Arbeitsmärkte zu unterschiedlich. Eine Strategie tion erhalten, und mit den Ratschlägen für die Fi-
ist allerdings in jedem Fall und in jedem Land die nanz- und Wirtschaftspolitik können wir uns voll und
richtige: Eine entschlossene Wachstumspolitik ganz identifizieren.
schafft die Arbeitsplätze von morgen.
Meine Damen und Herren, ich bin gerade noch
Wachstum braucht Investitionen. Nur das Ersparte rechtzeitig von der Herbsttagung zurückgekehrt, um
kann investiert werden. Dafür müssen in jedem Land einige Dinge zur aktuellen Haushaltslage des Bun-
und weltweit die Voraussetzungen stimmen. Insbe- des und zu den finanzpolitischen Perspektiven rich-
sondere in den Industrieländern, in denen die Er- tigstellen zu können.
sparnisbildung noch zu wünschen übrigläßt, muß ein
Kurswechsel stattfinden. In der jetzigen weltwirt- (Karl Diller [SPD]: Das muß aber mehr sein
schaftlichen Situation, bei weiterhin hohem Kapital- als gestern im Ausschuß I )
bedarf hat daher nach Ansicht des Internationalen
Währungsfonds und der G 7 die Konsolidierung der - Wissen Sie, lieber Herr Diller, Sie haben gestern ge-
öffentlichen Haushalte oberste Priorität. Daneben meint, die große Nummer abziehen zu können. Sie
muß die Ersparnisbildung bei den Bürgern und der haben im Vorfeld geglaubt, unterstellen zu können,
Wi rt schaft gefördert werden. Diese Schlußfolgerung man habe mich vor den Ausschuß zitieren müssen.
zieht auch die G-10-Studie „Sparen und Investie-
ren", die wir im Kreis der Minister verabschiedet ha- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Schlechter
ben. Stil war das!)
Auch hier hat Deutschland seine Hausaufgaben Ich kann Ihnen nur eines sagen: Ich bin nach eini-
mutig angepackt. Unter den G-7-Ländern weisen wir gen anstrengenden Tagen und zwei Stunden Schlaf
das niedrigste strukturelle Defizit aus. Traditionell im Kabinett und in einer Reihe von Veranstaltungen
haben wir eine im internationalen Vergleich hohe gewesen und selbstverständlich mit größtem Ver-
Sparquote. Im Zeichen der Einheit haben wir von Be- gnügen zu Ihnen in den Haushaltsausschuß gekom-
ginn an auf Konsolidierung, Einsparungen und Um-
men.
schichtungen gesetzt. Schließlich haben wir mit der
symmetrischen Finanzpolitik bis zum Jahr 2000 eine (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. -
ehrgeizige, aber glaubwürdige Strategie vorgelegt,
Karl Diller [SPD]: Er hat nichts gesagt! -
die auch das volkswirtschaftliche Sparen noch weiter
Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]:
voranbringt. Es ist immer ein Vergnügen, zu uns zu
Zentrale Themen in den Gesprächen der G 7, der kommen!)
G 10 und des Interimsausschusses waren die Krisen-
vermeidung und das Krisenmanagement in der Wäh- Ihre Hoffnung, daraus ein Theater mit Zitierung und
rungspolitik. Zur Krisenvermeidung wurde ein Vorführung und ähnlichem mehr entfachen zu kön-
neues Dateninformationssystem des IWF beschlos- nen, hat sich wieder einmal als eine typische SPD-
sen. Ziel ist es, die Übermittlungsgeschwindigkeit, Seifenblase entpuppt.
die Genauigkeit und die Transparenz bei den rele-
vanten Daten zu erhöhen. Natürlich kann es trotz- (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Nullnummer!
dem auch weiterhin zu Währungskrisen kommen. - Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Es war
Hier haben wir über ein Krisenfinanzierungsinstru- auch inhaltlich jämmerlich!)
ment gesprochen. Dabei handelt es sich aber nicht
um ein neues Finanzierungsinstrument, nicht um Herr Diller, Sie hätten überhaupt keinen Anlaß, et-
eine neue Fazilität, sondern um ein Verfahren zur be- was zu sagen, wenn ich bis zum 18. Oktober abwar-
schleunigten IWF-Krisenhilfe. Grundsätzlich besteht ten und erst danach zu der Steuerschätzung Stellung
darüber Einvernehmen; die technischen Details müs- nehmen würde.
sen noch geklärt werden.
Wir haben uns korrekt an das gehalten, was uns
Die Notwendigkeit einer angemessenen Finanz- die Steuerschätzung im Mai dieses Jahres vorgege-
ausstattung des IWF steht für uns außer Frage. Wir ben hat. Der Bund wie jedes Land ist daran gehalten,
sind grundsätzlich der Meinung, dies bis 1998 über die Zahlen zeitnah einzusetzen. Es hätte gar keinen
eine Quotenaufstockung zu gewährleisten. Über das Anlaß der Kritik Ihrerseits gegeben. Sie werden
Volumen oder die Verteilung läßt sich aber heute lei- diese Zeit auch noch abwarten müssen. Danach wird
der noch nichts sagen. Sollten die Mittel des Fonds in von dieser Koalition in der Bereinigungssitzung des
einem Notfall einmal knapp werden, bleibt dem Haushaltsausschusses das Notwendige vorgeschla-
Fonds die Möglichkeit, die bestehenden Kreditlinien gen und verabschiedet werden.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5153
Bundesminister Dr. Theodor Waigel
Es paßt Ihnen nur nicht, daß wir auf Grund der bis- Bereits seit 1994 erfüllen wir neben Luxemburg die
herigen Erfahrung bis zum August selber in die Öf- strengen Maastricht-Kriterien für die Haushaltsdiszi-
fentlichkeit gegangen sind plin. Die Preissteigerungen sind zuletzt auf den nied-
rigsten Stand seit Ende der 80er Jahre gesunken und
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: So ist es!) betragen nur noch 1,7 Prozent. Die Zinsen für Investi-
tionen liegen in Deutschland europaweit am niedrig-
und uns schon jetzt vorgenommen haben, an eine
sten. Niemand hätte vor fünf Jahren für möglich ge-
entsprechende Antwort auf Steuermindereinnah-
men, die wahrscheinlich entstehen werden, zu den- halten, daß wir im Jahre 1995 trotz aller Probleme,
die vor uns stehen, so gut dastehen würden.
ken. Dieses Mehr an Transparenz auch noch zu kriti-
sieren, verstehe ich nicht. Sie haben nur Pech ge- Meine Damen und Herren, nach den aktuellen
habt. Sie haben gemeint, das würde eine Riesenpro- Einschätzungen müssen die Erwartungen für das no-
paganda für Sie werden. Sie haben sich getäuscht. minale Wachstum des Bruttoinlandsprodukts für
Es wurde etwas erschlagen vom Rücktritt von Ver- 1995 und für 1996 jeweils um rund einen Dreiviertel-
heugen. Insofern haben Sie natürlich Pech gehabt punkt nach unten korrigiert werden. Das ist zum Teil
mit der Verbreitung von Negativdarstellungen. die Folge der deutlich verbesserten Preisstabilität
und zum anderen auch Resultat einer vorübergehen-
Sie haben, lieber Herr Diller, in den letzten Jahren
den realen Wachstumsverlangsamung, die allerdings
nichts dagegen gehabt, wenn die Zahlen der Steuer-
nach Aussagen nahezu aller Experten wohl schon
schätzung positiv abwichen. Sie haben überhaupt
1996 wieder von stärkerer Dynamik abgelöst wird.
keine Stellung dazu genommen, wenn wir jedes Jahr
etwa 19 bis 20 Milliarden DM weniger Schulden ge- Was das konkret für die Steuereinnahmen von
macht haben. Bund, Ländern und Gemeinden bedeutet, wird die
Steuerschätzung am nächsten Mittwoch zeigen. Ich
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
halte es jedoch für notwendig und fair, auf der
Daß Sie jetzt eine Debatte haben wollen, wenn die Grundlage der aktuellen Einnahmenentwicklung die
neueste Steuerschätzung mit Mindereinnahmen Öffentlichkeit frühzeitig darauf hinzuweisen, daß der
rechnet, kann ich natürlich verstehen. Nur werden Bund in diesem und im nächsten Jahr jeweils rund
Sie daraus keine Aktion gegen die Regierung starten 10 Milliarden DM bei den Steuereinnahmen einbü-
können. Ich gehe davon aus, daß Sie sich genauso ßen wird. Für Länder und Gemeinden werden sich
wie die Koalition an einem noch strengeren Konsoli- die Verluste in ähnlicher Größenordnung bewegen.
dierungskurs beteiligen werden, um die Ziele zu er-
reichen, die wir uns für 1995 und 1996 bei der Ein- Über Schätzabweichungen kann man hin und her
grenzung der Kredite vorgenommen haben. diskutieren, aber ein mit großem Tamtam angekün-
digtes politisches Tribunal können Sie daraus nicht
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) machen; denn auch Ihnen müßte bekannt sein, daß
sowohl an der gesamtwirtschaftlichen Vorausschau
Bisher habe ich von Ihnen allerdings nur gehört, als auch an der Steuerschätzung der gesamte ökono-
daß Sie sich den notwendigen Konsolidierungsmaß- mische Sachverstand in unserem Land beteiligt ist.
nahmen, die wir vorschlagen und die im nächsten Forschungsinstitute, Sachverständigenrat, Bundes-
Jahr durchgeführt werden sollen, verschließen. Wer bank, Länder und Gemeinden, alle tun ihr Bestes,
sich aber der Konsolidierung verschließt und dann um die Zukunft so genau wie möglich vorauszusa-
die Defizite beklagt, der handelt natürlich schon ein gen. Dabei kann der Punkt nicht genau getroffen
bißchen heuchlerisch und pharisäerisch. Den Vor- werden, vor allen Dingen nicht bei einem solchen
wurf müssen Sie sich prophylaktisch im Hinblick auf zeitlichen Abstand. Wenn man natürlich wie Sie
Ihre nächste Rede jetzt schon gefallen lassen. Haushalte fast nie rechtzeitig verabschiedet, sondern
fast immer ins nächste Jahr hineinkommt, dann wird
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU der normale Haushalt jedesmal zum Nachtragshaus-
und der F.D.P. - Eduard Oswald [CDU/ halt.
CSU]: Sie können die Rede ja noch um
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge--schreibn!)
ordneten der F.D.P.)
Meine Damen und Herren, Sie werden aber durch
diese Debatte das, was OECD, IWF, Europäische Insofern kann man sich dann auf aktuellere Steuer-
Kommission und andere festgestellt haben, nicht aus schätzungen verlassen, als wenn man - wie wir - die
der Welt hinausreden können. Selten hat Deutsch- ganzen letzten 12 bis 13 Jahre, mit Ausnahme eines
land in der objektiven Einschätzung der großen in- Jahres, den Haushalt jeweils rechtzeitig im Jahr zuvor
ternationalen Organisationen und ihrer Stäbe sowie verabschiedet.
in der Bewe rt ung durch unsere Freunde und Pa rt ner
in aller Welt so gut abgeschnitten wie in diesem Die Gründe für die geringeren Einnahmeerwartun-
Herbst. gen liegen zum einen in der abgeschwächten Wachs-
tumsentwicklung und zum anderen in steuerlichen
Trotz der im internationalen Maßstab einmaligen Sonderfaktoren, die zum Teil sogar positiv zu bewer-
finanziellen Herausforderungen durch die Wieder- ten sind. Vieles spricht dafür, daß vor allem eine In-
vereinigung steht Deutschland bei der Stabilität und anspruchnahme der steuerlichen Fördermaßnahmen
der Solidität der öffentlichen Finanzen an der Spitze für den Aufbau Ost, die höher war als erwartet - ins-
der entwickelten Industrienationen. besondere Investitionszulagen und Sonderabschrei-
5154 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Bundesminister Dr. Theodor Waigel


bungen -, zu den Mindereinnahmen erheblich beige- zung der beschlossenen Entlastungsmaßnahmen im
tragen hat. Das ist ein Zeichen dafür, daß diese Maß- Bereich der Arbeitslosenhilfe festhalten und die
nahmen wirken und der Aufholprozeß in den jungen BAföG-Strukturreform wie vereinbart verabschie-
Bundesländern kräftig vorankommt. den.
Ein großer Teil der Einnahmeverluste beruht auch Absehbare Minderausgaben im kommenden
auf hohen Erstattungen bei der Einkommensteuer Haushaltsjahr, z. B. im Bereich der Zinsen und des
und der Körperschaftsteuer durch die Veranlagung Erblastentilgungsfonds, müssen vollständig zur Be-
des Rezessionsjahres 1993. Diese Erstattungen haben grenzung der Nettokreditaufnahme verwandt wer-
mit Steuerhinterziehung oder einer Begünstigung den. Schließlich wollen wir auch alle zur Verfügung
der Besteuerung von Selbständigen nichts zu tun. Es stehenden Privatisierungspotentiale konsequent aus-
geht schlicht darum, daß zuviel gezahlte Steuer nutzen.
rechtmäßig zurücküberwiesen wird. In aller Regel
werden diese Beträge in den Bet rieben für neue In- Die im Vertrag von Maast richt niedergelegten
vestitionen und neue Arbeitsplätze zur Verfügung Grenzen für die öffentliche Verschuldung und die
stehen. jährliche Kreditaufnahme binden übrigens Bund,
Länder und Kommunen gleichermaßen. Jede politi-
Wenn sich aber der Kollege Diller dazu versteigt zu sche Verantwortungsebene hat deshalb ihren Beitrag
behaupten, die Löcher seien durch Steuerhinterzie- zu leisten, damit Deutschland auch in den kommen-
hung und Übersubventionierung cleverer Hochver- den Jahren Spitzenreiter bei der Konsolidierung und
diener gerissen worden, frage ich Sie, meine Damen der Stabilität bleibt.
und Herren: Warum wenden Sie sich dann nicht an
die SPD-Finanzminister? Sie haben doch die Mehr- Trotz der jüngsten Prognosekorrekturen können
heit im Bundesrat. Warum kommt denn nicht von wir mit Mut und Zuversicht in die Zukunft sehen. Die
dort mehr Aktivität, um das eventuell zu verhindern? private Nachfrage wird als wichtigste Konjunktur-
Sie können doch uns damit nicht treffen. Die Steuer- und Wachstumsstütze kräftig anziehen.
verwaltung liegt bei den Ländern. Deshalb kommt
dieser Vorwurf wie ein Bumerang an Sie zurück. Sie Zur Stärkung des Wachstums müssen wir auch
wissen ganz genau, daß Ihnen der sachkundige Kol- noch steuerpolitische Bremsklötze beseitigen. Des-
lege Schleußer schon x-mal erklärt hat, daß Ihre Luft- halb erwarte ich nach den Signalen aus der SPD-
buchungen nicht stimmen. Bundestagsfraktion und aus den SPD-regierten Län-
dern, daß es gelingt, jetzt die Unternehmensteuerre-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) form zu verabschieden.
Steuerausfälle in Höhe von jeweils 10 Milliarden (Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Das wäre gut!)
DM in den beiden Jahren 1995 und 1996 bedeuten
natürlich eine erhebliche Veränderung der bisheri- Dabei werden wir uns auch über die Ergänzung des
gen Planungsgrundlagen. Dennoch unser Konsoli- Steuersystems nach Umweltgesichtspunkten unter-
dierungskurs und unsere Konsolidierungsziele wer- halten.
den davon nicht grundsätzlich berührt. Nach heu-
tiger Einschätzung wird es trotz der erheblichen (Lachen des Abg. Joseph Fischer [Frank-
Einnahmeverminderungen im Bundeshaushalt 1995 furt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
keine wesentliche Überschreitung der geplanten
Neuverschuldung von rund 50 Milliarden DM ge- - Ihr Konzept, Herr Fischer, mit einem Benzinpreis in
ben. Den Mindereinnahmen stehen Entlastungen auf Höhe von 5 DM ist ein Konzept der Ungerechtigkeit,
der Ausgabenseite und Verwaltungsmehreinnahmen weil sich dann nur noch Reiche das Autofahren lei-
gegenüber, die unter sonst gleichen Bedingungen zu sten können. Das wollen wir nicht.
einer erheblichen Defizitminderung geführt hätten. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. -
An wesentlichen Entlastungen sind zu nennen: ge- Joseph Fischer [Frankfu rt ] [BÜNDNIS 90/
ringere Zinsausgaben auf Grund der stabilitätsbe- DIE GRÜNEN]: Natürlich! Nur noch Millio-
dingten geringeren Kapitalmarktzinsen, geringerer näre auf der Autobahn!)
Mittelabfluß im Bereich der Nachfolgeeinrichtungen
- Sie sind doch der größte Arbeitsplatzverhinderer
der Treuhandanstalt, geringerer Zuschußbedarf für
der Bundesrepublik Deutschland, Herr Fischer.
die Bundesanstalt für Arbeit und deutliche Verwal-
tungsmehreinnahmen in den Bereichen Gewährlei- (Beifall bei der CDU/CSU - Lachen beim
stungen und Liegenschaften. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Der Bundeshaushalt 1996 ist von den parlamentari- Unser Konzept soll in den drei Lebensbereichen -
schen Gremien noch nicht beschlossen. Ich kann und Verkehr, Wohnen und Arbeiten ansetzen. Wichtig ist:
will dem Haushaltsausschuß nicht vorgreifen, der Unter dem Strich sollen die Bürger und Unterneh-
erst bei der Bereinigungssitzung am 26. Oktober men nicht mehr belastet werden.
seine Beschlüsse über die Haushaltsstruktur und die
Haushaltseckwerte treffen wird. Eines aber ist schon (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
heute klar: Wir wollen alle Mittel und Wege nutzen, DIE GRÜNEN]: Oko-Theo!)
um die erwarteten Steuerausfälle aufzufangen und
die Kreditaufnahme so niedrig wie möglich zu hal- Daher wollen wir alle Maßnahmen in dem Bereich
ten. Deshalb müssen wir an der vollständigen Umset gegenfinanzieren, in dem sie wirksam sind.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5155
Bundesminister Dr. Theodor Waigel
Die Förderung von Telearbeitsplätzen wollen wir formieren, den Berichterstattern zum zuständigen
zusammen mit der Unternehmensteuerreform reali- Einzelplan jede Auskunft über die Haushaltsent-
sieren. Zusätzlich prüfen wir, wie an Hand eines prä- wicklung des Jahres 1995 und die Risiken des Jahres
zisen Katalogs umweltorientierte Investitionen direkt 1996 zu verweigern. Dies ist einmalig.
gefördert werden können. Bei der Förderung des
selbstgenutzten Wohneigentums wollen wir ener- (Beifall bei der SPD - Otto Schily [SPD]:
giesparende Investitionen fördern. Dazu prüfen wir Mißachtung des Parlaments! - Steffen Kam-
auch die Präferierung von Niedrigenergiehäusern. peter [CDU/CSU]: Nicht aufregen!)
(Joseph Fischer [Frankfu rt ] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Oh!) Schieben wir einmal diese ganzen Schönbuchun-
gen weg, dann stellen wir nüchtern fest: In diesem
Im Bereich des Verkehrs haben wir bereits Ansätze Jahr hat der Finanzminister - das hat er gestern im
einer schadstofforientierten Kfz-Steuer und eine Haushaltsausschuß eingeräumt - ein Deckungsloch
Spreizung der Mineralölsteuer nach Umweltgesichts- von 10 bis 12 Milliarden DM. Im nächsten Jahr wer-
punkten. Jetzt soll die Kfz-Steuer emissionsorientiert den es mindestens 10 Milliarden DM sein. Im näch-
umgestellt werden; hier sollen dann auch Motorräder sten Jahr hat er außerdem nicht etatisierte Lasten aus
einbezogen werden. Die Verbreitung umweltfreund- dem Jahressteuerergebnis von 1,6 Milliarden DM zu
licher Benzinsorten werden wir steuerlich weiter finanzieren. Ferner hat er seinen Vorschlag noch
flankieren. nicht in trockenen Tüchern - und er wird ihn auch
nicht in trockene Tücher bekommen -, den Arbeitslo-
Wenn wir in der Wirtschafts-, Finanz- und Steuer- sen, die lange arbeitslos sind, im nächsten Jahr
politik Wachstum und Beschäftigung in den Mittel- 3,4 Milliarden DM bei der Arbeitslosenhilfe zu strei-
punkt stellen, werden wir das Vertrauen im In- und chen.
Ausland bewahren und die erreichten Fortschritte im
wiedervereinigten Deutschland kräftigen und aus- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
bauen. ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ich danke Ihnen.
Auch seine Absicht, die Lufthansa weiter zu priva-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) tisieren, wird ein Flop. Die in diesem Jahr eingestell-
ten 1,5 Milliarden DM und die im nächsten Jahr ver-
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat anschlagten 1,7 Milliarden DM sind aus EU-rechtli-
der Abgeordnete Karl Diller. chen Gründen mehr als fraglich. Bisher ist nichts von
diesem Geld eingegangen.

Karl Diller (SPD): Herr Präsident! Meine sehr ver- Auf Grund der Konjunktur- und Arbeitsmarktent-
ehrten Damen und Herren! Nach diesen Ausführun- wicklung wird die Bundesanstalt für Arbeit im näch-
gen des Herrn Finanzministers verstehe ich, warum sten Jahr sicherlich nicht ohne Zuschuß auskommen.
er den ganzen Vormittag hinter den Kulissen massiv Denjenigen Menschen, die hoffen, im nächsten Jahr
versucht hat, die für morgen eigentlich vereinbarte aus ihrer Arbeitslosigkeit wieder in eine Erwerbstä-
Aktuelle Stunde zur Lage der Staatsfinanzen zu ver- tigkeit zu kommen, wird Herr Waigel - das hat er im
hindern. Haushaltsausschuß eingeräumt - ihre Hoffnungen
nicht erfüllen können. Er geht davon aus, daß die Ar-
(Beifall bei der SPD sowie der Abg.
beitslosigkeit auf dem jetzigen Niveau bleibt. Dies
Dr. Barbara Höll [PDS])
bedeutet, daß viele Leute kein Arbeitslosengeld
Denn erneut hat er sich über die Deckungsmöglich- mehr beziehen werden und in die Arbeitslosenhilfe
keiten und die wahren Risiken seines Haushalts ge- fallen, d. h. ein Haushaltsrisiko beim Bund werden.
genüber der Öffentlichkeit völlig ausgeschwiegen.
Hinsichtlich der addierten Haushaltslöcher geben
(Beifall bei der SPD - Steffen Kampeter Sie selbst für nächstes Jahr 12 Milliarden DM zu. Für
[CDU/CSU]: Wir diskutieren doch jetzt dar die restlichen 6 bis 8 Milliarden DM fehlt ebenfalls
über!) jede glaubwürdige Deckung.
Die Koalition kneift. Heute soll dieses Thema unter
„ferner liefen" behandelt werden. Ihr Versuch, bei 60 Milliarden DM Nettoneuver-
schuldung zu bleiben, müßte jetzt eigentlich unter-
(Günther Friedrich Nolting [ F.D.P.]: Sie ha mauert werden. Seit 14 Tagen sprechen Sie öffentlich
ben doch die Möglichkeit, jetzt etwas dazu dieses Problem an; bis heute sind Sie jeden Beweis -
zu sagen!) schuldig geblieben, wie Sie diese Deckungslöcher
konkret stopfen wollen.
Es ist ein mieses Stück, die wahre Finanzlage des
Bundes zu vertuschen.
(Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Sehr rich
Sehr geehrter Herr Waigel, es ist auch ein mieses -tig!)
Stück Ihres Hauses, zum gleichen Zeitpunkt, zu dem
Sie die Bundestagsfraktion der CDU/CSU und in ei- Dann ist ein solcher Regierungsentwurf natürlich
nem Hintergrundgespräch eine Auswahl von Journa- Makulatur. Wir bestehen darauf, daß die Bundesre-
listen über die Haushaltsrisiken des Jahres 1996 in gierung nach der Bundeshaushaltsordnung eine se-
5156 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Karl Diller
riöse Ergänzungsvorlage zu ihrem Haushaltsentwurf Rest geht zum überwiegenden Teil auf eine völlige
vorlegt. Fehleinschätzung Ihres Hauses hinsichtlich der Mög-
lichkeiten der Steuerverkürzung durch Abschrei-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
bungsvergünstigungen und der Gestaltungsmöglich-
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN keiten im Steuerrecht zurück.
und der PDS)
Die neuesten Daten bezüglich der veranlagten Ein-
Gestern konkret genagelt, ist er wie Pudding.
kommensteuer und der Körperschaftsteuer weisen
(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Was? Un eine Erwartung für das laufende Haushaltsjahr von
glaublich! Nehmen Sie das zurück!) 26 Milliarden DM aus. Eingegangen sind 2,4 Mil-
liarden DM,
Da sagt er: Also, wir streben eine globale Minderaus-
gabe nicht an, wir schließen sie aber auch nicht aus. (Zurufe von der SPD: Hört! Hört!)
Eine solche globale Minderausgabe, d. h. ein Strei-
d. h., 9 % des von Ihnen Erwarteten sind erst einge-
chen quer über den gesamten Haushalt, ist dann
gangen. Diese Entwicklung läßt nur einen Schluß zu:
mindestens in einer Größenordnung von 5 Milliarden
Die ungerechte Verteilung der Steuerlast in diesem
DM fällig.
Lande hat sich dramatisch verschärft.
(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]:
(Beifall bei der SPD und der PDS - Helmut
Wenn sie sein muß! - Wolf-Michael Caten
Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Das ist doch
husen [SPD]: Das ist doch kein geordnetes
System!)
Haushaltsverfahren!)
Nun müssen wir befürchten, daß die Koalition in
Deshalb ist die Behauptung des Kollegen Roth, nun
den weiteren Beratungen keine konkreten Dek-
sei es Aufgabe der Koalition im Haushaltsausschuß
kungsvorschläge vorlegen wird, daß sie aber die
und des Parlaments insgesamt, für eine Deckung zu
durch Steuerverkürzungen und Übersubventionie-
sorgen, kühn.
rung in die öffentliche Haushalte gerissenen Löcher
Bisher haben die Beratungen des Haushaltsaus- durch weitere Belastungen breiter Kreise der Bevöl-
schusses - wir waren gestern mit der Hälfte fertig - kerung in letzter Minute zu stopfen versuchen wird,
eine Haushaltsverbesserung von 380 Millionen DM möglicherweise in Form einer globalen Minderaus-
erbracht. gabe, durch Eingriffe in Sozialleistungen, aber auch
durch Kürzungen im Investitionsbereich.
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Nicht durch
Ihr Zutun, Herr Diller!) Meine Damen und Herren, das jetzige Steuerdesa-
ster ist das Ergebnis Ihrer Politik, die denen hilft, die
Gestern haben wir anschließend den Verteidigungs- sich eigentlich selber helfen können müßten.
haushalt beraten.
(Beifall bei der SPD sowie des Abg.
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sie wollten Dr. Winfried Wolf [PDS])
ihn erhöhen!)
Das Schreckliche, das Unsoziale, das Unchristliche
Kürzungsvorschläge der SPD-Fraktion in der Grö- und das Unsolide Ihrer Politik ist, daß Sie die nötigen
ßenordnung von rund 400 Millionen DM haben Sie Deckungsmassen für diese Politik wieder durch zu-
abgelehnt. Man kann angesichts einer solchen Ent- sätzliche Einschnitte bei den breiten Bevölkerungs-
wicklung der Staatsfinanzen einen solch großen kreisen holen wollen.
Haushalt wie den Verteidigungshaushalt nicht von
Kürzungen ausnehmen, meine Damen und Herren. (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei
Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
GRÜNEN und der PDS - Paul Breuer [CDU/
CSU]: Das merke ich mir!) Einer solchen Politik werden wir unseren entschiede-
nen Widerstand entgegensetzen, Herr Waigel, darauf
Der Wohnungsbauminister verspricht inzwischen können Sie sich verlassen.
eine Erhöhung des Wohngeldes. Er verschweigt völ-
lig, woher das Geld dafür kommen soll. Der Verteidi- (Beifall bei der SPD - Lachen bei der CDU/
gungsminister bittet den Haushaltsausschuß, seinen CSU - Zuruf von der CDU/CSU: Da haben
Haushalt von Kürzungen auszunehmen. Der Ver- wir aber Angst!)
kehrsminister bittet heute den Haushaltsausschuß,
ihm doch 500 Millionen DM zusätzlich zu bewilligen, Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Zu einer Kurz-
weil er sonst im nächsten Jahr überhaupt nichts intervention erteile ich dem Abgeordneten Wilf ried -
Neues anfangen könne. Das wird noch ein Hauen Seibel das Wort.
und Stechen im Kabinett bzw. in der Koalition geben,
(Günther F riedrich Nolting [F.D.P.]: In der Wilfried Seibel (CDU/CSU): Herr Präsident! Ich
SPD vor allem!) möchte auf die Ausführungen des Kollegen Diller
um diese Geschichte glattzuziehen. kurz Bezug nehmen. In dem erwähnten Berichterstat-
tergespräch wurden auf Nachfragen aus der Runde
Herr Waigel, von den Steuerausfällen sind allen- an den Staatssekretär keine aktuellen Zahlen über
falls - da waren wir uns gestern im Ausschuß einig - die vorliegenden Tendenzen für die Steuerschätzung
7 bis 8 Milliarden DM konjunkturell erklärbar. Der gegeben. Als ich an dem Abend nach Hause kam,
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5157
Wilfried Seibel
den Fernseher anstellte und die Pressemeldung des ginnen und Kollegen! Herr Diller, das, was Sie von
Ministeriums hörte, die maximal eine Stunde nach den Einsparungen im Rahmen des Jahressteuerge-
Ende unseres Berichterstattergesprächs herausgege- setzes gesagt haben, meinen Sie doch wohl selber
ben worden sein kann, habe ich mich in der Tat geär- nicht ernst. Was an Einsparungsvorschlägen ge-
gert. macht wurde, wäre für die Wi rt schaft eine Horrorliste
zur Vernichtung von Arbeitsplätzen gewesen. Das
(Dr. Barbara Hend ri cks [SPD]: Mißachtung wollen wir hier doch weiß Gott nicht beschließen.
des Parlaments!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
- Ich sagte ja, daß es mich geärgert hat. Nehmen Sie
es doch hin. Die Jahrestagungen von IWF und Weltbank sind
Ich bin im Detail zwar etwas anderer Meinung, nun schon seit mehr als einem halben Jahrhundert
aber Kollege Diller hat ein paar Analysen gegeben, ein wichtiges Forum für Fragen der internationalen
die zu diesem Ergebnis führen. Nun könnte es pas- Wirtschafts-, Währungs- und Entwicklungspolitik.
sieren - wir wissen, daß es nicht passieren wird -, Auch wenn hier in erster Linie globale Probleme auf
daß Sie, Herr Diller, in die Verantwortung geraten der Tagesordnung stehen, bleibt doch ein enger Be-
könnten, in der Herr Waigel heute steht. zug zur nationalen Politik jedes einzelnen Teilneh-
merstaates.
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Gott be
wahre uns davor!) Angesichts der Globalisierung der internationalen
Finanz- und Devisenmärkte, die in den letzten Jah-
Da wäre ich dankbar, wenn Sie uns noch ein paar ren in einem geradezu atemberaubenden Tempo zu-
Anmerkungen dazu machen könnten, wo die genommen hat und wo Tag für Tag unvorstellbare
20 Milliarden DM, die jetzt fehlen, von der SPD er- Summen rund um den Globus bewegt werden, hat
wirtschaftet würden. Durch neue Steuern oder durch auch die nationale Wirtschafts-, Finanz- und Wäh-
Einsparungen an welcher Stelle? rungspolitik unmittelbar internationale Auswirkun-
Wenn Sie uns dazu etwas sagen könnten, würde gen. Die internationalen Märkte reagieren in kürze-
das die Glaubhaftigkeit Ihres Vortrags wesentlich er- ster Zeit auf nationale wi rt schaftspolitische Fehlent-
höhen. wicklungen. Es ist deshalb richtig, daß auch Abge-
(Zustimmung bei der CDU/CSU) ordnete des Deutschen Bundestages aller Parteien,
die über diese nationale Politik zu befinden haben,
an den Jahrestagungen teilnehmen.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege
Diller, Sie haben die Möglichkeit zu antworten. Die Bilanz der nunmehr 51 Jahre des Bestehens
von IWF und Weltbank ist unter dem Strich als Erfolg
(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: zu we rt en. Sicherlich gab es Krisen - ich erwähne
Jetzt kommen die Vorschläge! - Steffen hier nur die Mexiko-Krise -, und sicherlich wird es
Kampeter [CDU/CSU]: Jetzt sind wir aber auch weiterhin Krisen geben. Aber dies ist zu mei-
gespannt!) stern, weil sich alle - ich denke hier insbesondere an
die führenden Industrienationen - ihrer gemeinsa-
Karl Diller (SPD): Herr Präsident! Auf die Frage des men Verantwortung bewußt sind und - ich füge das
Kollegen Seibel eine einfache Antwort: Sie regieren, hinzu - sich auch gegenseitig informieren. Zumin-
und es ist Ihre Bringschuld. dest haben sie sich das gegenseitig so versichert.
(Beifall bei der SPD - Dr. Wolfgang Weng Es geht dabei sicherlich nicht nur um finanzielle
[Gerlingen] [F.D.P.]: Ausrede!) Leistungen. Mich hat insoweit der Satz aus der Eröff-
nungsrede des neuen Weltbankpräsidenten Wolfen-
Wenn Sie außerdem Anregungen für vernünftige
sohn schon beeindruckt, daß das Lächeln eines Kin-
Vorschläge suchen, dann schauen Sie einmal nach,
des der wahre Maßstab für ein erfolgreiches Ent-
was im Zuge der Beratungen über das Jahressteuer-
gesetz alles an Einsparmöglichkeiten durch die Ver- wicklungsprojekt sei. Aber Geld ist nun einmal erfor-
derlich, und gemeinsame Verantwortung bedeutet
minderung von Abschreibungsmöglichkeiten und
insoweit eben auch, daß alle Mitgliedsländer ihren
ähnlichen Dingen durch die Bundesländer vorge-
finanziellen Verpflichtungen nachkommen. Das
schlagen worden ist. Dort finden Sie ein großes Feld,
schließt nicht aus, die Notwendigkeit der Bereitstel-
das weit über die Summe hinausgeht, die jetzt zur
lung neuer Mittel und deren Verwendung kritisch zu
Debatte steht. Wenn Sie davon nur einen Teil umset-
hinterfragen und notfalls auch einmal Mittel zu sper-
zen, werden Sie den in Rede stehenden Betrag ein-
ren, um zu verhindern, daß Geld zum Fenster hinaus-
sparen können. Obendrein hätten diese Maßnahmen
geworfen wird. Ich glaube aber, daß die Weltbank-
den Vorteil, daß jedenfalls nicht die kleinen Leute ge-
aus Fehlern der Vergangenheit gelernt hat und Präsi-
troffen würden.
dent Wolfensohn mit seinem Rezept der Entbürokra-
(Beifall bei der SPD) tisierung einer stärkeren Effektivitätskontrolle und
einer gesteigerten pa rt nerschaftlichen Ausrichtung
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile nun der Arbeit auf dem richtigen Weg ist.
dem Abgeordneten Hansgeorg Hauser das Wort. Meine Damen und Herren, die diesjährige Jahres-
tagung von IWF und Weltbank hat aber auch eine
Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach) (CDU/CSU): eindrucksvolle Bestätigung der deutschen Finanz-
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Kolle- politik und die Anerkennung der persönlichen Lei-
5158 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach)


stung von Finanzminister Waigel auf diesem Gebiet internationale Feuerwehrfonds, ist das Funktionieren
gebracht. Der IWF erteilt Deutschland in seiner jüng- der internationalen Finanzsysteme auf Dauer zu
sten Weltwirtschaftsanalyse, dem World Economic sichern. Die Entwicklungen an den internationalen
Outlook, gute Noten. Deutschland hat unter allen Finanz- und Devisenmärkten am Anfang dieses
G 7-Ländern das geringste strukturelle Defizit im Jahres haben dies nochmals deutlich gezeigt.
Haushaltsaldo. Und die Empfehlungen des IWF an
die Industrieländer lesen sich fast so, als seien sie Lassen Sie mich zum Schluß noch eine Episode
von Theo Waigels finanzpolitischem Grundsatzpro- schildern, die am Rande der Tagung am 10. Oktober
gramm abgeschrieben. Das IWF forde rt , der öffent- geschah. Wir saßen in dem großen Versammlungs-
lichen Haushaltskonsolidierung oberste Priorität ein- saal, prall gefüllt mit mehreren tausend Teilnehmern,
zuräumen. Der deutschen Finanzpolitik wird aus- die zwar dem jeweiligen Redner zuhören, aber
drücklich bescheinigt, daß sie mit ihren Konsolidie- gleichwohl eine gewisse Geräuschkulisse erzeugen.
rungserfolgen für Europa ein gutes Beispiel gesetzt (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Wie hier!)
hat.
Viele unterhalten sich, blättern Tagungsunterlagen
Diese internationale Anerkennung der Leistungen durch usw., ähnlich wie bei uns im Parlament.
der deutschen Finanzpolitik ist um so höher zu be-
werten, als sie unter schwierigsten finanzpolitischen (Vorsitz : Vizepräsidentin Dr. Antje Voll-
Rahmenbedingungen, nämlich der erfolgreichen Be- mer)
wältigung der Jahrhundertaufgabe der deutschen In dem Moment - Sie haben das sehr richtig erkannt -,
Einheit, zustande gekommen ist, was den übrigen als vom Vorsitzenden Finanzminister Waigel das
Mitgliedstaaten der G 7 wohl bewußt ist und was wir Wo rt erteilt wird, verändert sich diese Kulisse schlag-
in unseren Gesprächen immer wieder bewundernd artig.
als Erfolg bestätigt bekommen haben.
(Zurufe von der CDU/CSU: Hört! Hört! -
Meine Damen und Herren, es ist schon eine komi- Zurufe von der SPD: Ah!)
sche Situation. Das gesamte Ausland lobt unsere Fi-
nanzpolitik, in der Europäischen Union sind wir mit Die Kopfhörer für die Übersetzungen werden noch
Luxemburg das einzige Land, das die strengen Kon- einmal gerichtet, die Notizblöcke und die Kugel-
vergenzkriterien des Maast richter Vertrages bereits schreiber herausgeholt, um sich Notizen von der
jetzt voll erfüllt hat, die D-Mark ist stark wie eh und Rede zu machen, die Atmosphäre im Saal ist von
je, nur die Opposition weigert sich beharrlich, die einer gespannten Aufmerksamkeit aller gekenn-
Leistungen der deutschen Finanzpolitik zur Kenntnis zeichnet.
zu nehmen. Mangels eigener Alternativen bleibt ihr
dann nur das Mittel der Miesmacherei und Panik- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. -
mache. Wir haben soeben ein treffendes Beispiel ge- Zuruf von der CDU/CSU: Daran nehmt
hört. euch ein Beispiel! - Zuruf von der SPD: Re-
den Sie vom CSU-Parteitag oder worüber?)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Meine Damen und Herren, ich glaube, diese kleine
Nein, meine Damen und Herren, es bleibt dabei, Episode zeigt mehr als alle IWF-Berichte, Statistiken
zu Theo Waigels symmetrischer Finanzpolitik gibt und sonstigen auf den Jahrestagungen erstellten Ma-
es keine Alternative. Nicht finanzierbare ideologi- terialien, welch hohe Anerkennung die deutsche Fi-
sche Wunschvorstellungen, die mit dem Mäntelchen nanzpolitik unter Federführung von Theo Waigel im
einer ökologischen Steuerreform nur unzureichend internationalen Bereich erfährt.
kaschierten Steuererhöhungspläne, wie sie die SPD
und die Grünen vollmundig zuhauf zu bieten haben, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
sind Gift für die Konjunktur, für Wi rt schaft und für ordneten der F.D.P. - Ing rid Matthäus-Maier
Arbeitsplätze. [SPD]: Das sollte auch im Bundestag so
sein! - Gegenruf des Bundesministers
(Zuruf der Abg. Ch ristine Scheel [BÜND Dr. Theodor Waigel: Das kommt schon
NIS 90/DIE GRÜNEN]) noch!)
- Liebe Frau Scheel, wenn Sie schon dazwischenru-
fen: Das Öko-Pamphlet der Grünen erwähnt mit kei- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wo rt hat
nem einzigen Wo rt „Arbeitsplätze". Das ist bezeich- jetzt der Abgeordnete Ludger Volmer.
nend für Ihr Programm.
(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau
NEN]: Das ist nicht wahr! Haben Sie es Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch wenn -
nicht gelesen?) wir alle nach dieser Rede des Kollegen Hauser tief er-
griffen sind,
- Lesen Sie Ihr eigenes Papier nach. Das Wo rt „Ar-
beitsplatz" kommt nicht vor. (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
Eine stetige, auf Stabilität und Konsolidierung ge- SPD)
richtete Finanzpolitik ist aber nicht nur im nationalen
Bereich geboten, sie ist vielmehr auch die entschei- möchten wir doch zum Thema zurückkommen und
dende Voraussetzung für stabile Währungsrelatio- z. B. über die internationale Schuldenkrise reden,
nen. Nur durch eine derartige Politik, nicht durch die ja noch nicht zur Sprache kam und die immer
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5159
Ludger Volmer
noch eines der Hauptprobleme der internationalen die Volkswirtschaft des Herrn Theo Waigel davon
Finanzpolitik ist. Denn anders, als der Finanzminister profitieren.
es dargestellt hat, leben ja nicht alle Länder und
Staaten in Wohlstand, sondern nur ein Teil von ih- Wir hätten erwartet, daß eine offensive Schulden-
nen, während es den anderen schlechter geht als je, strategie bet rieben wird. Statt dessen blockiert die
nämlich den 40 ärmsten Ländern. Damit meine ich Bundesregierung mittlerweile auch die einzige halb-
besonders die afrikanischen Staaten südlich der Sa- wegs effektive Fazilität der Entwicklungsfinanzie-
hara. rung, nämlich die IDA.

Vor einem Jahr wäre beinahe die Volkswirtschaft (Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Wieso
Mexikos kollabiert, und alle schrien: „Eine Schulden- das denn?)
krise ", als wäre nicht das gleiche 15 Jahre vorher Das geschieht unter dem Vorwand, daß Amerika
schon einmal passiert, mit ähnlichen Auswirkungen. nicht zahlt. Es ist ein Skandal, daß die USA nicht zah-
Das zeigt uns eigentlich nur, daß die gesamte Finanz- len. Aber es ist doch die absolut falsche Konsequenz,
politik in den Jahren zwischen 1980 und 1995 auf der wenn die Bundesregierung, unterstützt durch den
internationalen Ebene nichts anderes war als eine Haushaltsausschuß, den wir herzlich bitten, seine
Durchwurstelei, die es nicht im mindesten geschafft Entscheidung noch einmal zu überdenken, nun be-
hat, die strukturellen Probleme zu beseitigen. schließt, ebenfalls nicht zu zahlen bzw. die Zahlungs-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) quote so weit herunterzudrücken, daß man nicht
mehr zahlen muß als die USA. Und das zu einem
In diesem Zusammenhang gibt es einen Haupt- Zeitpunkt, wo die IDA-Fazilität gerade zu greifen be-
skandal. Er besteht da rin, daß die 40 ärmsten Länder, ginnt und der IDA-Topf revolviert, d. h. sich selber
die ich gerade erwähnt habe, mittlerweile zu Nettofi- wieder auffüllt, so daß das jährliche „replenish-
nanziers von IWF und Weltbank geworden sind. Die ment", die Wiederauffüllung, immer geringer aus-
multilateralen Organisationen leben mittlerweile auf fällt. Warum machen Sie das einzige im Moment
Kosten der ärmsten Länder. Diese Länder sind mit wirklich funktionsfähige entwicklungspolitische In-
30 Milliarden DM bei IWF und Weltbank verschul- strument auf der multilateralen Ebene kaputt? Dar-
det, und ihre Schuldenlastquote, gemessen am Ex- auf möchte ich eine Antwort haben.
port , beläuft sich mittlerweile auf 220 %. Das muß
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
man sich einmal vorstellen. Das ist der Hauptskan-
sowie bei Abgeordneten der SPD und der
dal. Da kann man sich nicht hinstellen und sagen: Es
PDS)
geht bergauf in der Weltwirtschaft. - Vielmehr muß
nach Wegen gesucht werden, wie diesen ärmsten Zum Schluß noch einen Satz zur Haushaltspolitik
Ländern die Schulden erlassen werden können. und zur Arbeitsmarktpolitik bei uns. Sie haben keine
Schuldenstrategie, sondern sie setzen immer noch
Nun will ich gar nicht so weit gehen und sagen, darauf, daß der Internationale Währungsfonds mit
daß man dem Vorschlag der Grünen folgen und den seiner Auflagenpolitik alle Länder dazu zwingt,
ärmsten Ländern die Schulden insgesamt erlassen möglichst viel für den Export zu produzieren und den
soll und den Ländern mit mittlerem volkswirtschaftli- Schuldendienst zu leisten, auch dadurch, daß in den
chem Einkommen die Hälfte ihrer Schulden; zur Fi- Ländern die Löhne gesenkt und die Sozialausgaben
nanzierung dessen sollten die Weltbank und der IWF weiter heruntergedrückt werden. Sie zwingen teil-
teilweise ihre Goldreserven verkaufen. So weit will
weise die Schwellenländer zum Lohn- und Sozialko-
ich gar nicht gehen. stendumping und beschweren sich dann hinterher,
(Hansgeorg Hauser [Rednitzhembach] die Löhne seien überall so niedrig, daß wir mit unse-
[CDU/CSU]: Warum schlagen Sie es dann ren angeblich zu hohen Löhnen nicht mitkommen.
vor? - Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Ziehen Dies wiederum nehmen Sie zum Vorwand, um auch
Sie Ihren Vorschlag zurück!) hier Lohndrückerei und Sozialabbau durchzusetzen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vielmehr will ich nur den Vorschlag einbringen, der
in der Weltbank selber erarbeitet wurde. Do rt wurde Sie sollten Ihre Weltwirtschaftsstrategie gründlich
vorgeschlagen, daß ein internationaler Entschul- überdenken. Sie sollten eine Schuldenstrategie ent-
dungsfonds eingerichtet wird, der mit 11 Milliarden wickeln, die es allen Ländern der Welt erlaubt, eine
DM finanziert werden soll. Damit hätte die Entschul- nachhaltige Entwicklung zu betreiben. Ich glaube,
dung der Ärmsten finanziert werden können. Für die dann werden sich die sogenannten Standortpro-
Gläubigerseite hätte das nicht einmal einen Schul- bleme der Bundesrepublik völlig anders darstellen.
denverzicht bedeutet. Damit wäre das internationale Es ist teilweise die kleinkrämerische Ängstlichkeit
Finanzsystem nicht einmal tangiert worden. Aber dieser Bundesregierung, die konservative Phantasie-
selbst zu diesem maßvollen Vorschlag hat die Bun- losigkeit, die dazu führt, daß die Standortprobleme
desregierung nein gesagt. Diese Bundesregierung geschaffen werden durch eine falsche internationale
blockiert, wo sie nur blockieren kann, verhindert Finanzpolitik, die sie angeblich lösen will.
jede vernünftige Schuldenstrategie oder läßt sie
höchstens insoweit zu, als die Kuh, die man melken Wir fordern die Bundesregierung auf, diese Politik
will, nämlich die sogenannte Dritte Welt, nicht kre- gründlich zu überdenken. Es zeigt sich auch bei der
pieren darf, sondern noch ein bißchen Milch gibt, so Entwicklungsfinanzierung und bei der Schuldenpoli-
daß die reichen Industriestaaten und insbesondere tik: Eines der Hauptprobleme für den Standort
5160 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Ludger Volmer
Deutschland ist die falsche Politik der Bundesregie- Ich verstehe ja, wie sehr Sie mit sich selbst beschäf-
rung. tigt sind. Aber es gibt noch etwas außerhalb der SPD
und auch außerhalb der Bundesrepublik.
Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne-
und der PDS) ten der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, die Bretton-Woods-In-


Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Abgeord- stitutionen sind in die Jahre gekommen. Die Welt, in
neter, es besteht noch der Wunsch nach einer Zwi- der sie 1944 geschaffen wurden, existiert so nicht
schenfrage. Da Sie noch etwas Redezeit haben, mehr. Das GATT hat sich gut gehalten, die Welthan-
könnten Sie sie auch noch zulassen. - Bitte. delsorganisation hat das aufgenommen. Der multila-
terale Freihandel steht auch in Zukunft außer Frage.
Carl-Ludwig Thiele (F.D.P.): Warum, Herr Volmer,
Wir sind auch hoffnungsvoll, daß die Weltbank -
sind Sie, wenn Sie an diesen Punkten so interessiert
Herr Hauser hat das erwähnt - ihre neue Rolle finden
sind, nicht im Finanzausschuß, wenn die Dinge be-
wird. Sie hat weiterhin eine wichtige Aufgabe als
sprochen werden?
Entwicklungsbank. Ihr neuer Präsident, James Wol-
fensohn, zeigt die notwendige Entschlossenheit, end-
Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Weil lich die organisatorische Straffung der Weltbank an-
ich gleichzeitig im Auswärtigen Ausschuß bin. Auch zugehen.
da werden die Dinge besprochen. Das ist oft das Pro-
blem der kleineren Fraktionen, daß ihre Mitglieder in Wir begrüßen es, daß er - ein wichtiger Schritt -
mehreren Ausschüssen sein müssen. z. B. das umstrittene Arun-Staudamm-Projekt in Ne-
pal storniert hat. Das war das größte Objekt der Welt-
Im übrigen weise ich darauf hin, daß ich seit 1985 bank, aber gleichzeitig ein Symbol für Arroganz, für
dieses Thema im Bundestag bearbeite und dement- Gigantomanie und für umweltpolitische Blindheit ei-
sprechend oft an den Jahrestagungen von IWF und ner inzwischen überlebten Entwicklungspo litik.
Weltbank teilgenommen habe.
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das kann ich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
bestätigen!) Die International Finance Corporation, IFC, die
heute noch nicht erwähnt wurde, ist nicht ganz un-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat umstritten, weil sie durch die Förderung p rivater In-
jetzt der Abgeordnete Otto Graf Lambsdorff. vestitionen in Entwicklungsländern in Konkurrenz
zu den privaten Banken tritt. Aber sie hat gut gear-
Dr. O tt o Graf Lambsdorff (F.D.P.): Frau Präsidentin! beitet. Von der Weltbank geförderte Infrastrukturpro-
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die kurze jekte sind zwar eine notwendige Grundlage für die
Diskussion eben erinnert mich an die boshafte Be- wirtschaftliche Entwicklung vieler Länder, aber es ist
merkung von Helmut Schmidt vor vielen Jahren, der gerade die Förderung p rivater Investitionen, die
Auswärtige Ausschuß sei der Rotary Club, der Wi rt selbsttragende wirtschaftliche Kräfte erst aktiviert.
-schaftußderLionsClbPamet,in Deswegen halten wir es für bedenklich, Herr Finanz-
anderen müsse gearbeitet werden. Dann verstehe minister, daß der IFC Mittel fehlen. Was haben die
ich, daß Sie in den Auswärtigen Ausschuß gehen. Deutschen auf dem Treffen der Weltbank dazu ge-
sagt?
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
ten der CDU/CSU) Herr Volmer, Sie haben mit Recht erwähnt, daß die
Situation der IDA, der International Development
Meine Damen und Herren, ich bedanke mich bei Association, also der Organisation für die ärmsten
der Bundesregierung, daß sie uns einen Be richt über Entwicklungsländer, zur Zeit beklagenswert ist. Aber
die Jahrestagung der Bretton-Woods-Organisatio- es ist völlig falsch, dafür die Bundesregierung und
nen gibt. Ich finde es schon bemerkenswe rt , Herr den Bundesfinanzminister verantwortlich zu machen.
Diller, daß der Provinzialismus der SPD soweit geht, Herr Waigel hat - dafür bedanken wir uns - öffent-
daß Sie nicht einmal eine Debattenrunde diesem lich dazu aufgefordert, daß die Amerikaner hier ihrer
Thema widmen können. Verantwortung gerecht werden, was nicht der Fall
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - ist. 1,25 Milliarden Dollar will Präsident Clinton ha-
Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Der Finanz ben. Der Senat will ihm 775 Millionen Dollar und das
minister dreht das Thema um!) Repräsentantenhaus nur 575 Millionen Dollar dafür -
geben. Wir müssen bei den USA Solidarität und in-
- Das wird ja alles in der zweiten Runde diskutiert. ternationale Verantwortungsübernahme einfordern.
Der Kollege Weng wird zum Haushalt Stellung neh-
men, verehrte Frau Matthäus-Maier. Aber gelegent- (Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!)
lich kann man doch einmal über die Grenzen unseres
eigenen Landes hinwegsehen. Ist das um alles in der Aber was wir nicht fordern dürfen, ist der generelle
Welt bei Ihnen überhaupt nicht möglich? Schuldenerlaß quer durch die Bank. Er ruiniert die
Kreditfähigkeit dieser Länder.
(Hansgeorg Hauser [Rednitzhembach]
[CDU/CSU]: Sehr gut!) (Zuruf von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5161
Dr. Otto Graf Lambsdorff
- Sie haben es eben nicht getan. Das ist eine Übung nug sein, dann übernimmt die Staatengemeinschaft
bei Ihnen. Jeder distanziert sich vom eigenen Partei- ihre Verluste.
programm und verkündet dann hier seine eigenen
In diesem Zusammenhang würde es uns interessie-
Positionen. Da haben Sie von Herrn Fischer gut ge-
ren, Herr Bundesfinanzminister, ob Deutschland ei-
lernt, Herr Volmer.
gentlich bei der IWF-Aktion zur Bekämpfung der
(Beifall des Abg. Ulrich Irmer [F.D.P.] - Lud Mexiko-Krise schlicht über den Tisch gezogen
ger Volmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: wurde. Stimmt es, daß der deutsche Exekutiv-Direk-
Im Antrag steht das alles drin!) tor in der entscheidenden Sitzung noch nicht einmal
eine Tischvorlage hatte?
Am stärksten muß allerdings die Rolle des Interna-
tionalen Währungsfonds hinterfragt werden. Denn Es blieben mehr Fragen offen: Deutschland hat die
hier klaffen Wunschtraum und Realität am weitesten Erhöhung der Quoten in vernünftigem Umfang, wie
auseinander. Es war die Aufgabe des IWF im Bret- ich finde, zugesagt. Aber welche Auswirkungen wird
ton-Woods-System, die internationale Währungsord- das für den Steuerzahler bei uns haben? Welche Lei-
nung durch Kredite zum Ausgleich von Zahlungsbi- stungen erbringen die Vereinigten Staaten? Wenn sie
lanzdefiziten zu stabilisieren. Nach dem Ende von nicht mitziehen, ist die Quotenerhöhung eine kurzat-
Bretton Woods erfolgt nun der Ausgleich von Zah- mige Veranstaltung.
lungsbilanzdefiziten durch die flexiblen Wechsel- Wir haben - Sie haben es berichtet - die Verdoppe-
kurse. Weltweit ist ausreichend Liquidität vorhan- lung der Allgemeinen Kreditvereinbarung mitgetra-
den. So stark wie die internationalen Finanzmärkte gen. Welche Rolle werden die G 10 künftig spielen,
kann der Internationale Währungsfonds nicht wer- wenn neue Länder außerhalb der G 10 in den Kredit-
den. Er soll es auch nicht. Denn nur die internationa- rahmen einbezogen werden?
len Finanzmärkte gewährleisten die Effizienz der in-
ternationalen Kapitalverwendung und nicht der IWF. Eine weitere Frage, Herr Waigel: Haben Sie die
Die Frage muß lauten: Wird der Inte rnationale Wäh- Forderung nach weiterer Erhöhung der Sonderzie-
rungsfonds diesen Anforderungen gerecht? hungsrechte deutlich zurückgewiesen?

Professor Allan Meltzer vom Ame rican Enterp rise (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Ja!)
Institute und andere haben daraus längst Schlußfol- - Danke schön.
gerungen gezogen und fordern die Abschaffung des
IMF. Für sie ist der IMF degene riert . Er sei zum Um- Was Herr Camdessus dort will, ist eine Ausdeh-
verteilungsmechanismus zwischen Staaten gewor- nung der Liquidität. Es mangelt uns nicht an Liquidi-
den. Undemokratisch sei er, heize Inflation an und tät auf der Welt. Die Vertagung auf eine Experten-
vermindere den Druck auf Reformen. Diese Kritik gruppe ins Frühjahr 1996 erscheint mir eher als halb-
kann man nicht leichtfertig abtun. Der IWF scheint herziger Versuch, sich da um eine klare Entschei-
nach dem Verlust seiner traditionellen Aufgaben auf dung zu drücken.
der Suche nach neuen Betätigungsfeldern zu sein. Er Ist auf der Jahrestagung des Fonds die Rolle der
gerät mit seinen Entwicklungsaktivitäten zuneh- Industrieländer für die Weltwirtschaft erörtert wor-
mend in Konkurrenz zur Weltbank. Wollen wir das den? Was wurde über die Konsequenz ihrer Schul-
unterstützen oder hinnehmen? denpolitik und ihrer geringen Sparquoten festge-
stellt? Treiben die Industrieländer nicht zunehmend
Der Ablauf der Mexiko-Krise unterstützt die Skep-
ein Crowding out auf den Weltkapitalmärkten, das
sis, die Meltzer, andere und auch ich über die
dann zu Lasten der Entwicklungsländer geht? Sind
künftige Rolle des IWF haben. War es sinnvoll, IWF-
es damit nicht die Industrieländer, die die Mittel für
Mittel bereitzustellen, um die Spekulation institutio-
andere begrenzen?
neller amerikanischer Investoren in Peso-Bonds ab-
zusichern? Das war ganz etwas anderes, Herr Vol- Zu welchen Ergebnissen ist die IWF-Tagung bei
mer, als die Krise vor 15 Jahren, eine völlig andere der Beurteilung der Lage Japans gekommen? Japan
Ursache. Es wäre Aufgabe der USA gewesen, den ist in kürzester Zeit vom Musterknaben zum Schluß-
Wechselkurs Peso/Dollar zu stützen. licht der G 7 geworden. Ein Weg aus der Krise ist
nicht sichtbar. Die Geldpolitik ist ausgereizt. Defizite
(Beifall bei der F.D.P. und beim BÜNDNIS 90/ des öffentlichen Haushalts begrenzen den Spielraum
DIE GRÜNEN) der Finanzpolitik. In der japanischen Entwicklung
Sie konnten nicht einfach nationale Aufgaben auf in- schlummern zunehmend größere Risiken, die welt-
ternationale Institutionen abwälzen. Die Globalisie- weit mehr Gefahr bedeuten können, als sie von Me-
rung der Finanzmärkte bedeutet nicht die Globalisie- xiko jemals ausgingen.
-
rung von Spekulationsrisiken über den Währungs- Die Jahrestagung von IWF und Weltbank mag ein
fonds. Erst recht nicht ist der deutsche Steuerzahler schönes gesellschaftliches Ereignis - das ist sie jedes-
der „lender of last resort" für Währungsspekulatio- mal - gewesen sein. In sachlicher Hinsicht war sie
nen. aber eine rechte 08/15-Veranstaltung. Das zeigt die
Menge der bedeutenden Fragen, die nicht beantwor-
Außerdem zeigt sich in der Mexiko-Krise klar das
tet wurden.
Problem des sogenannten „moral hazard", der durch
das IWF-Einspringen entsteht. Es wird noch leichter Eine letzte Bemerkung zur konjunkturellen Ent-
für Staaten und für private Spekulanten, höhere Risi- wicklung: Herr Bundesfinanzminister, die deutsche
ken einzugehen. Ihr Engagement muß nur groß ge Wirtschafts- und Finanzpolitik haben gute Noten
5162 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Dr. Otto Graf Lambsdorff


vom IWF erhalten. Das ist erfreulich und zufrieden- Praktiken setzen das Ansehen der Bundesrepublik,
stellend für Sie und für uns. Der Internationale Wäh- vor allem unter den Ländern des Südens, leichtfertig
rungsfonds hat aber auch auf die anhaltend hohe Ar- aufs Spiel und ignorieren zugleich auch die mit der
beitslosigkeit und die zu hohe Steuer- und Abgaben- Entwicklungshilfe verbundenen Chancen für eine
belastung hingewiesen, bei der Sie, Herr Volmer, Forcierung unserer Handels- und Wirtschaftsbezie-
nichts weiteres zu tun haben, als unentwegt deren hungen mit Entwicklungsländern.
Erhöhung zu verlangen.
Die Haushaltskonsolidierung in den Industrielän-
Wenn Sie sich einmal das Wahlprogramm der Ber- dern - so wichtig sie auch ist - darf nicht auf Kosten
liner Grünen ansehen, lesen Sie: Arbeitsmarktab- der ärmsten Länder unseres Globusses erfolgen. Das
gabe, Investitionshilfeabgabe, Bemessungsgrund- wäre im wahrsten Sinne des Wortes kontraproduktiv.
lage für Grund-, Erbschaft- und Vermögensteuer er- Deshalb unterstützen wir ausdrücklich die Forde-
höhen, Primärenergiesteuer einführen. Es treibt ei- rung der Gruppe der Entwicklungsländer, G 24, an
nem die Tränen in die Augen, wenn man bedenkt, die Industrieländer, ihre Entwicklungshilfe deutlich
was Sie uns hier erzählen und was draußen in Wirk- zu erhöhen.
lichkeit von Ihren Kollegen bet rieben wird.
Unsere volle Unterstützung findet natürlich auch
Das Grundproblem für die Menschen in Deutsch- deren Forderung an IWF und Weltbank, die Schul-
land, die hohe strukturelle Arbeitslosigkeit, bleibt
denlast der Dritten Welt zu mindern. In einigen Ent-
Kritik über das Lob des Währungsfonds hinweg. Sie wicklungsländern - so die Zahlen - ist der Schulden-
bleibt ständige Herausforderung für Politik, Tarif-
dienst an die Weltbank schon jetzt höher als der Um-
partner, Arbeitnehmer und Unternehmer, es doch
fang neuer Hilfen. Das ist eine besorgniserregende
noch etwas besser zu machen.
Lage. Der vollständige Schuldenerlaß für die ärmsten
(Beifall bei der F.D.P.) Länder scheint uns unverzichtbar und muß auf die
Tagesordnung aller damit befaßten Gremien.
Treffen - auch auf höchstem Niveau - erlassen uns
nicht die Aufgabe, unsere nationalen Hausaufgaben In dieser Beziehung begrüßen wir ausdrücklich die
im Sinne der betroffenen Menschen zu lösen. Wer in Absicht des neuen Weltbankpräsidenten James Wol-
unserer Situation an neuen Steuern und Abgaben fensohn zur Reform dieser in der Vergangenheit oft
bastelt, macht sich mitschuldig an der Verfestigung und stark in Mißkredit verfallenen Institution. Auf
der Arbeitslosigkeit. der Jahrestagung sagte Präsident Wolfensohn u. a.:
„Wir müssen näher an unsere Kunden heran. Für Ar-
Herzlichen Dank.
roganz ist kein Platz mehr im Entwicklungshilfege-
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU so schäft." Hoffentlich werden diese deutlichen Ab-
wie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ sichtserklärungen auch die dringend notwendige Ta-
DIE GRÜNEN) tenunterstützung haben. Das gilt ganz ausdrücklich
auch bezüglich der Ankündigung von Präsident Wol-
fensohn, daß die Weltbank den sozialen Folgen ihrer
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat Programme künftig mehr Bedeutung beimessen
jetzt der Abgeordnete Uwe-Jens Rössel. wolle. Das wäre tatsächlich ein Schritt in die richtige
Richtung.
Dr. Uwe-Jens Rössel (PDS): Sehr geehrte Frau Prä-
sidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Die größte Gefahr für die Arbeit der Weltbank -
Jahrestagungen von IWF und Weltbank, an denen Graf Lambsdorff sprach davon -, ja überhaupt für
ich als Mitglied der gemeinsamen Delegation von den weltweiten Kampf gegen Armut und Hunger
Bundestag und Bundesrat teilgenommen habe, wur- geht derzeitig vom US-Kongreß aus. Die republikani-
den von der Tatsache überschattet, daß - wie IWF-Di- sche Mehrheit im Senat und im Repräsentantenhaus
rektor Michel Camdessus mitteilte - der Beitrag der will die von Präsident Clinton für die Weltbank-Toch-
Industriestaaten für die Entwicklungshilfe von den ter IDA vorgeschlagenen Mittel von 1,4 Milliarden
angestrebten 0,7 % des Bruttosozialprodukts auf un- Dollar pro Jahr mindestens halbieren.
ter 0,3 % gesunken ist.
Das würde in der Tat schwerwiegende globale ne-
Während die skandinavischen Länder oder die gative Folgen haben. Im Rahmen ihrer rigorosen
Niederlande über 0,7 % ihres Bruttosozialprodukts Sparpläne drohen die Konservativen der Weltbank,
für die Entwicklungshilfe verwenden, krebste die rei- die Jahr für Jahr etwa 25 Milliarden US-Dollar an
che Bundesrepublik zum Vorjahresende lediglich bei Krediten vergibt, sogar damit, in Zukunft den Geld-
bescheidenen 0,33 %. hahn gänzlich zuzudrehen. Schlimmstenfalls könn-
ten sich andere Industriestaaten veranlaßt sehen, -
Notwendig erscheint uns in diesem Zusammen- dann ebenfalls ihren Beitrag zur Wiederauffüllung
hang die spürbare Aufstockung des bundesdeut- von IDA herabzusetzen, und zwar mit all den verhee-
schen Etats für die Entwicklungshilfe. Wir wenden renden Wirkungen.
uns in diesem Zusammenhang auch gegen die jüng-
sten Kürzungen im ohnehin niedrigen Etat des Ge- Was die Situation der Weltwirtschaft betrifft, so
schäftsbereiches des Bundesministeriums für wirt- gibt es einige erfreuliche Entwicklungen, die vor al-
schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung für lem in der günstigen Kombination von Wachstum
1996, wie sie durch die Mehrheit im Bundestagshaus- und Geldwertstabilität begründet sind. Dennoch ist -
haltsausschuß beschlossen worden sind. Derartige auch das machten die Jahrestagungen in Washing-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5163
Dr. Uwe-Jens Rössel
ton deutlich - die weltwirtschaftliche Entwicklung - ich weiß es nicht besser, Herr Hauser, aber ich ver-
weiterhin mit viel Zünd- und Sprengstoff bestückt. suche, meinen Standpunkt darzustellen -, sondern
als Beitrag zur Sanierung des Bundeshaushalts erfor-
Das Grundübel - die anhaltend hohe Arbeitslosig-
derlich sein.
keit - möchte ich hier selbstverständlich an erster
Stelle nennen. Es ist - das macht auch das World Eco- Zahlreiche Löcher, meine Damen und Herren, im
nomic Outlook des IWF deutlich - in den Industrie- Entwurf des Bundeshaushalts 1996 werden vom Fi-
ländern allein mit einer sogenannten Wachstumsra- nanzminister immer noch ignoriert, denn weder die
tenpolitik nicht zu bewältigen. Kürzungen bei der originären Arbeitslosenhilfe in
Höhe von immerhin etwa 500 Millionen DM noch die
Ganz erhebliches Gefahrenpotential geht darüber
Streichung des Bundeszuschusses an die Bundesan-
hinaus nicht nur in der Bundesrepublik, sondern
stalt für Arbeit sind in trockenen Tüchern. Minde-
weltweit von der zunehmenden Abkoppelung der
stens 11,2 Milliarden DM des Haushalts 1996 waren
Finanzmärkte von den realwirtschaftlichen Prozes-
sen aus. Im Gegensatz zur Realwirtschaft wachsen bereits vor Bekanntwerden der Steuerausfälle nur
auf dem Papier eingespart worden. Wir meinen, der-
die Finanzmärkte weiter in einem wahnsinnigen
artige Praktiken sollten sich nicht fortsetzen.
Tempo. So werden mittlerweile börsentäglich ca.
1,5 Billionen US-Dollar umgesetzt. Das sind 50 % Ich danke für die Aufmerksamkeit.
mehr als noch 1990.
(Beifall bei der PDS)
Diese 1,5 Billionen US-Dollar entsprechen - man
möge sich das einmal veranschaulichen - dem etwa Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wo rt hat
70fachen des täglichen weltweiten Exports von Wa- der Abgeordnete Jochen Feilcke.
ren und Dienstleistungen. All das wie auch das ge-
samte Problemfeld der Finanzinnovationen zeigt das
große Risikopotential für die internationalen Finanz- Jochen Feilcke (CDU/CSU): Frau Präsidentin!
nd Devisenmärkte. Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen!
Gestatten Sie mir abschließend eine Bemerkung zu Die Entwicklungsländer verdienen unsere Unter-
dem Problemkreis Steuerausfälle. Dem Bundesfi- stützung aus moralischen und gesellschaftspoliti-
nanzminister Rechenfehler vorzuwerfen geht ange- schen Gründen. Aber sie brauchen auch unsere
sichts seiner alljährlich vorgelegten Finanzberichte Unterstützung, weil sie unser aller zukünftiges
tatsächlich an der Wirklichkeit vorbei. In einer Sache Wachstum repräsentieren. Gerechtes Wachstum
ist sich der Finanzminister stets treu geblieben: Sei- bedeutet Stabilität für unseren Planeten.
ner Finanzplanung lagen stets gesamtvolkswirt- Das sind die Worte des neuen Weltbankpräsidenten
schaftliche optimistische Annahmen zugrunde, die Wolfensohn in seiner vielbeachteten Eröffnungsrede.
später meistens - das ist das Problem - von der Reali-
tät widerlegt worden sind. Gegen Ende dieser Rede faßte er seine unmittelba-
ren Prioritäten in sechs Punkten zusammen. Ich
Sein finanztechnisches Herangehen, die Neuver- möchte die beiden erstgenannten Punkte in den Mit-
schuldung gegenüber der früheren Finanzplanung telpunkt meines Beitrags stellen.
bedeutend höher zu veranschlagen und zu behaup-
ten, die Nettokreditaufnahme werde in späteren Jah- Er sagte erstens:
ren auf Rekordtiefe sinken, ist vielen längst bekannt.
Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht,
Vergleichen Sie bitte in diesem Zusammenhang die um sicherzustellen, daß die Finanzierung für IDA
Aussagen im Finanzplan 1993, die für das Haushalts-
ausreicht, um die Grundbedürfnisse der Empfän-
jahr 1996 gemacht worden sind und die eine erwar- ger zu decken, um zu verhindern, daß die welt-
tete Nettokreditaufnahme in Höhe von 22 Milliarden
weiten Anstrengungen, die Armut zu verringern,
DM beinhalteten, mit den Zahlen des vorliegenden
einen nicht wiedergutzumachenden Rückschlag
Haushaltsentwurfs. Die tatsächliche Neuverschul- erleiden.
dung wird nach den Plänen des Bundesfinanzmini-
sters mit dem Etatentwurf für 1996 mit 60 Milliarden An die Jahresversammlung gerichtet sagte er:
DM veranschlagt. Das ist eine gehörige Differenz
von immerhin 38 Milliarden DM. Ich bitte Sie bei diesen Bemühungen um Ihre das
gewöhnliche Maß überschreitende Hilfe - sowohl
Ich fasse zusammen: Der Steuerausfall in Milliar- für IDA 10 als auch für die Planung von IDA 11.
denhöhe war angesichts der dargestellten Vorge-
Zweitens sagte er:
hensweisen aus unserer Sicht doch weitgehend vor-
hersehbar. Bundesregierung und Finanzminister ha- Wir werden mit dem IWF und anderen zusammen
ben der Öffentlichkeit ganz offenkundig lange Zeit daran arbeiten, das Problem der multilateralen
schöngeredete Zahlen präsentiert, um das ganze Schulden für die höchstverschuldeten ärmsten
Ausmaß der bevorstehenden Ausgabeneinschrän- Länder zu lösen.
kung insbesondere auf sozialem Gebiet zu verdek-
ken. Offensichtlich soll Sozialabbau jetzt nicht mehr Meine Damen und Herren, Wolfensohn sprach von
als ein Beitrag zur Sicherung des Standorts Deutsch- den Herausforderungen, die Krisen wie in Bosnien,
land im Gaza-Streifen und Ruanda für die Entwicklung
der Welt bedeuten, und nannte es eine bittere Ironie,
(Hansgeorg Hauser [Rednitzhembach] daß gerade jetzt die Bedrohung der Entwicklungs-
[CDU/CSU]: Sie wissen es besser!) hilfe größer als je zuvor ist. Er bezog sich dabei auf
5164 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Jochen Feilcke
die Finanzierungskrise, mit der sich die konzessio- zuständigen Entwicklungsausschuß zu konsultieren.
näre Schwestergesellschaft der Weltbank, die Inter- Wir sollten im Entwicklungsausschuß dieses Thema
nationale Entwicklungsorganisation, IDA, konfron- intensiv diskutieren.
tiert sieht.
Im neuesten Weltbankbericht heißt es dazu, daß Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie
für die dreijährige IDA-10-Periode 1994 bis 1996 ein eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schmitt?
Teil der zweiten Rate der zugesagten Beiträge noch
nicht verfügbar ist, da die US-Zahlungen ungefähr Jochen Feilcke (CDU/CSU): Ja, gerne.
8 % weniger als die Zusage betragen und weil zwei
andere Geber, Deutschland und Kanada, von ihrem Wolfgang Schmitt (Langenfeld) (BÜNDNIS 90/DIE
Recht Gebrauch machen, die Verfügung über ihre GRÜNEN): Herr Kollege Feilcke, kann ich nach Ih-
Beiträge proportional zu den US-Kürzungen zu sper- ren begrüßenswerten Aussagen zur deutschen Zah-
ren. lungspraxis zu IDA 10 davon ausgehen, daß Sie auch
Wir müssen uns in diesem Zusammenhang verge- innerhalb Ihrer Fraktion gegenüber den Haushältern
genwärtigen, daß 90 % der IDA-Kredite an Länder darauf hinwirken werden, daß der von Ihnen er-
mit einem jährlichen Pro-Kopf-Einkommen von unter wähnte Haushaltsvermerk aufgehoben wird?
600 US-Dollar gehen. Die Internationale Entwick-
lungsorganisation ist für die ärmsten Länder der Jochen Feilcke (CDU/CSU): Lieber Herr Kollege
wichtigste Partner bei den Wirtschaftsreformen, bei Schmitt, ich habe nicht von der Zahlungspraxis ge-
ihren Bildungs- und Umweltprogrammen und auch sprochen; denn die deutschen Beiträge fließen. Es
auf einigen anderen Gebieten, wie z. B. bei der Be- handelt sich hier um eine Sperre. Es ist ein Verhal-
kämpfung von Aids. Für ganz Hartgesottene sage ten, das ich nicht begrüße, insbesondere weil mir im
ich: Wenn wir diese Länder nicht dabei unterstützen, zuständigen Ausschuß dafür keine plausiblen
auf die Beine zu kommen, dann machen sich die Be- Gründe dargelegt worden sind und ich bisher auch
wohner dieser Länder auf die Beine und kommen zu keine vernünftigen Gründe kenne. Sie können sicher
uns. sein, daß ich mich entsprechend meinen Worten ver-
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) halte.

Es ist sehr bedauerlich, daß die Haushaltskürzun- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und
gen im US-Kongreß zum Zahlungsverzug gegenüber dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
der IDA geführt haben. Die USA haben 20 % der Ge- Die Weltbank hebt hervor, daß nur bei ausreichen-
samtbeiträge zugesagt, und sie erheben auch den der Verfügbarkeit von IDA-Ressourcen der mit den
Anspruch, die IDA-Politik weitgehend zu bestimmen bisherigen Instrumenten und Maßnahmen verfolgte
und die entsprechenden Positionen in dieser Institu- Ansatz, die ärmsten Länder bei der Bewältigung ih-
tion zu besetzen. rer multilateralen Schuldendienstbelastung zu unter-
stützen, auch in Zukunft tragfähig ist. Ich begrüße,
Hinzu kommt, daß jeder Dollar, den die Amerika-
daß die Bundesregierung, daß Sie, Herr Entwick-
ner zurückhalten, dazu führen kann, daß die IDA
lungsminister Spranger, in Washington ausdrücklich
über fünf Dollar weniger verfügt, wenn sich die Ge-
erklärt haben, daß Sie bereit sind, auch über unkon-
ber so verhalten wie Deutschland und Kanada. Ich
ventionelle Lösungen nachzudenken und an der
halte es nicht nur für legitim, sondern geradezu für
Realisierung mitzuwirken.
geboten, darüber nachzudenken, wie die USA dazu
gedrängt, vielleicht sogar gezwungen werden kön- Ein durchaus unkonventioneller und schon viel-
nen, ihre Verpflichtungen zu erfüllen. fach erwähnter Vorschlag einer Arbeitsgruppe der
Weltbank ist ein multilateraler Schuldenreduzie-
Die Zurückhaltung der deutschen Beiträge bestraft rungsfonds.
jedoch nicht die Amerikaner, sondern bestraft die
Ärmsten in der Welt, nach dem Motto: Die Ärmsten (Ludger Volmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
haben selbst schuld, daß die deutschen Beiträge aus- NEN]: Sehr gut!)
bleiben; warum sorgen sie nicht dafür, daß die Ame-
Dieser Vorschlag muß ernsthaft diskutiert werden.
rikaner ihre Verpflichtungen erfüllen? Es ist nicht die
Ich meine, wir sollten im Parlament darüber spre-
alleinige Verpflichtung der Amerikaner, den Ärm-
chen, welchen Rat wir der Bundesregierung in dieser
sten zu helfen. Unsere Sperre bedeutet kaum einen
Frage geben.
Druck auf die Amerikaner. Sie bedrückt die Hilflose-
sten in der Welt. Festzuhalten ist, daß die Arbeitsgruppe der Welt-
bank entsprechend der Forderung des G-7-Gipfels in
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und Halifax gearbeitet hat, der
dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
die Entwicklung eines umfassenden Konzeptes
Ich empfehle dringend, den rechtlichen Rahmen, durch die Bretton Woods Institutionen, um Län-
der durch den Haushaltsvermerk im Einzelplan 23 der mit multilateralen Schuldenproblemen durch
formuliert worden ist, nicht mehr auszufüllen. den flexiblen Einsatz vorhandener Instrumente
und erforderlichenfalls neuer Mechanismen zu
Hinzu kommt, daß ich es für schlecht halte, daß die unterstützen
Regierung im vorauseilenden Gehorsam gegenüber
dem Haushaltsausschuß handelt, ohne den fachlich gefordert hat.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5165
Jochen Feilcke
61 % der Auslandsverschuldung der ärmsten Län- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wo rt hat
der sind bilaterale Verpflichtungen, 14 % sind Schul- jetzt der Abgeordnete Ingomar Hauchler.
den gegenüber p rivaten Gläubigern und 25 % ge-
genüber multinationalen Institutionen. Diese 25 %
sind zwar ein begrenztes, aber für einige Länder Dr. Ingomar Hauchler (SPD): Frau Präsidentin!
doch gravierendes Problem. Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Fi-
nanzminister ist nicht mehr da. Offenbar interessie rt
(Beifall des Abg. Wolfgang Schmitt [Lan ersichfüdTmantsoiev,wd
genfeld] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) von uns erwartet wird.
- Dazu kann ich mir, ehrlich gesagt, gar keinen Bei- (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Doch, doch,
fall wünschen, lieber Herr Kollege Schmitt. er ist schon da!)
(Wolfgang Schmitt [Langenfeld] [BÜND - Gut, Sie sind wieder da.
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das muß aber ein
mal gesagt werden!) Herr Finanzminister, Sie haben hier keinen Be richt
über die Weltbanktagung und die IWF-Tagung gege-
- Man muß das sagen, aber ich finde das ein bedrük- ben, sondern Sie haben eine Jubelarie gesungen.
kendes Thema. Dabei kann ich keinen Beifall guthei-
ßen. - Ich finde, das ist schlimm; das ist für viele Län- (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Was wahr ist,
der sehr schlimm. ist wahr! - Zuruf von der F.D.P.: Er kann das
Parlament doch nicht belügen!)
Deshalb ist über den aufgelaufenen Schuldenüber-
hang unkonventionell nachzudenken. Viele Entwick- Ich erinnere Sie daran, daß das Hauptthema von
lungsländer haben hier dera rt ige Probleme, so daß IWF- und Weltbanktagung nicht ist, daß man sich
wir über grundsätzliche Lösungen nachdenken müs- wie bei einem Klassentreffen über den Primus unter-
sen. Ich halte das für unumgänglich, zumal selbst die hält, sondern daß das Hauptthema ist, daß man ge-
Weltbank - übrigens ebenso wie die Bundesregie- meinsam Probleme löst. Da haben Sie schwer ver-
rung - inzwischen der Auffassung ist, daß mit dem sagt.
traditionellen Instrumenta rium eine „dauerhaft trag-
bare Schuldenbelastung" - „overall debt sustainabi- (Beifall bei Abgeordneten der SPD - Hans-
lity" - dieser Länder nicht mehr zu erreichen ist. Im georg Hauser [Rednitzhembach] [CDU/
Vergleich hierzu haben die bilateralen Geber hin- CSU]: Sie haben den Be richt nicht gelesen!)
sichtlich ihrer Forderungen gegenüber diesen Län-
dern schon seit langem durch zweiseitige Entschul- Sie treten hier als P rimus unter den Nationen auf.
dungsmaßnahmen zu einer substantiellen Entlastung Sie sagen, die Transformationsländer seien auf einem
beigetragen. guten Weg, bei uns sei sowieso alles „roger". Die
ärmsten Länder erwähnen Sie gar nicht in Ihrer
Der Vorschlag der Weltbank, einen multilateralen Rede, nicht mit einem Wo rt . Das zeigt den Geist, in
Schuldenfonds einzurichten, ist daher im Grundsatz dem Sie internationale Finanzpolitik betreiben.
zu begrüßen. Er sieht vor, multilaterale Schulden mit
finanziellen Mitteln abzulösen, die etwa zur Hälfte (Ludger Volmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
aus bilateralen und zur anderen Hälfte aus multilate- NEN]: Waigel hält alle für reich!)
ralen Quellen stammen. Die Konstruktion des Schul-
denfonds ist so angelegt, daß die hohe Kreditwürdig- In Washington wurden keine wirklichen Fo rt
keit der Weltbank sowie ihr bevorzugter Gläubiger- -schritebgnd räestFagnd
status nicht in Mitleidenschaft gezogen werden. internationalen Finanz- und Entwicklungspolitik ge-
macht. Die Spekulation wird neue Blüten treiben.
Die Bundesregierung sollte sich daher an den nun Die Währungen bleiben höchst instabil. Gegen de-
beginnenden Erörterungen zur Einrichtung und Aus- stabilisierende Finanzkrisen à la Mexiko ist keine
gestaltung des Fonds konstruktiv beteiligen. Dabei wirkliche Vorsorge getroffen worden. Die ärmsten
ist aber sicherzustellen, daß dies nicht zu Lasten der Länder bleiben auf unbezahlbaren Altschulden sit-
bilateralen und multilateralen Beiträge zur Wieder- zen. Die Entwicklungsfinanzierung wird zurückge-
auffüllung von IDA 11 geht. fahren, obwohl Armut, Migration, Umweltzerstörung
und die Weltbevölkerung dramatisch wachsen. Die
Die Weltbankpolitik befindet sich mit der deut- internationalen Finanzinstitutionen sind finanziell
schen Entwicklungspolitik in weitgehender Überein- geschwächt. Die Struktur und Aufgaben von Wäh-
stimmung. Das ist ein gutes Ergebnis. Herr Minister rungsfonds und Weltbank werden nicht reformiert. -
Spranger, dazu gratulieren wir Ihnen. Es gibt keinerlei Ansätze in dieser Richtung.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Da sagen Sie: alles „roger" , ziehen Jubelarien ab
Wir haben die Hoffnung, daß wir mit Präsident und beschäftigen sich im größten Teil Ihrer Rede da-
Wolfensohn bei seinem Besuch diese Fragen im AWZ mit, über Ihre internen Haushaltsprobleme und Ihre
intensiv diskutieren können. Defizite, die Sie in der Haushaltspolitik haben, zu
schwadronieren und uns vorzumachen, auch auf die-
Vielen Dank. sem Gebiet sei alles in Ordnung.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der SPD)
5166 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Dr. Ingomar Hauchler


Sie mißbrauchen diese Sitzung des Parlamentes in konstruktive Lösungen von deutscher Seite vorzu-
übelster Weise, um nationale Propaganda zu ma- legen.
chen.
(Hansgeorg Hauser [Rednitzhembach]
(Hansgeorg Hauser [Rednitzhembach] [CDU/CSU]: Ihnen hätte in Washington
[CDU/CSU]: Das ist unerhört! Wenn man ei überhaupt niemand zugehört!)
nen Bericht zitiert, ist das keine Propa Völlig ungelöst ist die Verschuldung der Entwick-
ganda!) lungsländer. Die Weltbank hat einen bemerkenswer-
ten Vorschlag gemacht - das ist alles vertagt worden;
Ich habe gesagt, die Grundprobleme sind ungelöst.
es wird in Washington alles vertagt, wenn man zu-
Welche Grundprobleme sind das? Herr Finanzmi-
sammenkommt -, wie man vor allem die multilate-
nister, nichts ist vorangebracht worden, um die Insta-
rale Verschuldung zurückfahren könnte, und zwar
bilität des internationalen Währungssystems wirk-
in einer gemeinsamen Anstrengung und ohne allzu-
lich einzudämmen. Es gibt keinerlei Ansätze, weder
viel Geld. Aber darüber ist überhaupt nicht geredet
in letzter Zeit noch dieses Mal, um ein Minimum an
worden. Das ist vertagt worden.
Ordnung in den internationalen Finanzbeziehungen
sicherzustellen. (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Das stimmt
doch gar nicht!)
Es gibt keine Vorsorge dafür, daß immer größere
Spekulationswellen die Möglichkeit der Notenban- Herr Feilcke, Sie wissen, wenn Sie die Zeitung lesen,
ken aushebeln, zu intervenieren, um zu stabilisieren. (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Ich war da, im
Unterschied zu Ihnen!)
(Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Sehr rich
tig! - Hansgeorg Hauser [Rednitzhembach] daß gerade die ärmsten Länder, für die dieser Fonds
[CDU/CSU]: Sie sind schlecht informiert! - der Weltbank gedacht war, heute zu 50 % multilate-
Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Was wol rale Schulden zahlen.
len Sie denn da machen? Sagen Sie einmal
etwas!) Vor einigen Jahren haben sie nur 20 % ihrer Schul-
denzahlungen an die multilateralen Institutionen ge-
- Es gibt Vorschläge von Kommissionen, auch von leistet. Heute müssen sie 50 % zahlen, weil die
der BIZ, es gibt zahlreiche Diskussionen in dieser Schuldenerlasse, die Schuldenstundungen, in der
Hinsicht. Ich hätte erwartet, daß der Finanzminister Regel nur noch bilateral und auf dem Gebiet der pri-
wenigstens ein Wort zu diesem Thema sagt; denn es vaten Geschäftsbanken erfolgten, die Multis aber
ist ein Hauptproblem, vor dem wir stehen. voll und ganz auf jährlicher Zahlung bestehen und
die ärmsten Länder, für die sie sich eigentlich einset-
(Beifall bei der SPD) zen sollten, in die Krise hineintreiben, und zwar
durch Rückzahlungen für Projekte, für die es längst
Vielleicht versteht er davon nichts; das weiß ich keine entsprechende produktive Basis mehr gibt.
nicht. Das ist doch Katastrophenpolitik. Das kommt doch al-
les einmal auf uns zurück - mit krasser Armut, mit
(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Vielleicht hat Umweltzerstörung, mit armutsbedingter Umweltzer-
er Sie nicht gefragt! - Hansgeorg Hauser störung. So kann man das Ganze auf die Dauer nicht
[Rednitzhembach] [CDU/CSU]: Man darf angehen.
nicht von sich auf andere schließen!)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
Nichts ist vorangebracht, um spontane Finanzkri- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
sen eindämmen zu können. Mexiko hat dem interna-
In Gefahr ist die Entwicklungsfinanzierung. Der
tionalen Finanzsystem 38 Milliarden Dollar gekostet,
IWF müßte sich - Sie haben darauf hingewiesen,
18 Milliarden Dollar allein vom IWF. Das blutet natür-
Graf Lambsdorff - auf die eigentlichen Aufgaben be-
lich die Fähigkeit des IWF aus, an anderer Stelle kon-
sinnen. Das sind der Ausgleich von Zahlungsbilan-
struktiv Finanzpolitik und Entwicklungsfinanzierung
zen, der Ausgleich von Wechselkursschwankungen,
zu betreiben.
die Stabilisierung der Finanzströme und ein Mini-
(Beifall des Abg. Wolf-Michael Catenhusen mum an internationaler Kreditaufsicht.
[SPD]) Was macht der IWF? Er kann das gar nicht, weil
ihn die Großen gar nicht lassen. Was macht er statt
Man schiebt durch eine falsche Strukturanpas- dessen? Er nimmt der Weltbank die Aufgaben weg.
sungspolitik in Mexiko Hauptfinanzmittel des IWF in -
Er geht in die Entwicklungsfinanzierung. Chaos, or-
ein Land hinein, auf Druck der Amerikaner, die noch ganisatorisches Chaos in Washington, und Sie, Herr
20 Milliarden Dollar draufgelegt haben. Das ist skan- Finanzminister, sind mit verantwortlich! Sie sind der
dalöse internationale Finanzpolitik. Die Reserven des drittgrößte Aktionär in diesem Bereich.
IWF reichen nicht aus, um ähnliche dramatische Ver-
werfungen überhaupt begrenzen zu können. Die Entwicklungsfinanzierung blutet aus. Interna-
tional ist natürlich genügend Liquidität vorhanden,
Der Finanzminister sagte dazu nichts und tat Graf Lambsdorff, aber doch nicht für viele Transfor-
dazu nichts in Washington. Er spielt den Bremser, mationsländer und ärmste Länder. Das ist doch das
den deutschen Kassenwart, statt vorwärtsdrängend Problem. Das hängt mit der Entwicklungsfinanzie-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5167
Dr. Ingomar Hauchler
rung zusammen. Da muß man etwas tun. Wir unter- Wenn es anders ist, belehren Sie mich bitte in der
stützen den Weltbankplan, daß man sich zusammen- nächsten Zeit.
setzt und versucht, auch bei der Bedienung der mul-
tilateralen Schulden einen Weg zu finden. Ich denke, wir Deutsche verspielen eine Chance
im internationalen Rahmen, uns als konstruktive Mo-
Der IWF und seine Großaktionäre tun auch nicht toren der Stabilisierung des Finanzsystems darzu-
wirklich etwas gegen die Verschuldung der Indu- stellen, als konstruktives Land, um die Probleme der
strieländer. Wer ist denn verantwortlich für die Situa- Dritten Welt zu lösen. Lassen Sie uns nicht nur defen-
tion, daß wir seit vielen Jahren tendenziell hohe Zin- siv agieren, Jubelarien abfahren, sondern auch selbst
sen haben? Die Ursachen liegen doch in den Haus- betrachten, was wir auf diesem Gebiet besser, kon-
haltsdefiziten der großen Industrieländer. Wie wir- struktiver machen können.
ken sie sich aus? Zinstreibend, beschäftigungshem-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
mend und investitionshemmend. Damit hängen wie-
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
der ein niedriges Wachstum und eine Haushaltsmi-
sere zusammen, wie wir sie in vielen Industrielän-
dern kennen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Abgeord-
neter, Ihre Redezeit ist leider vorbei.
Wir fordern die Bundesregierung auf: Folgen Sie
nicht den USA! Ziehen Sie sich nicht auch noch aus Jetzt hat der Abgeordnete Wolfgang Weng das
der Finanzquelle für die ärmsten Länder der Welt, Wo rt .
aus der Internationalen Entwicklungsagentur, zu-
rück. Tun Sie es nicht! Schaffen Sie eine Lösung, da- Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (F.D.P.): Frau Präsi-
mit keine negative Kettenreaktion in der Entwick- dentin! Meine Damen und Herren! Nach der ur-
lungsfinanzierung mit darauf folgenden Riesenpro- sprünglichen Rednerreihenfolge sollte ich Theo Wai-
blemen zustande kommt! gel vor Herrn Diller retten. Jeder hat bei der Rede
von Herrn Diller gemerkt, daß dies nicht nötig war,
Natürlich wissen wir, daß die Weltbank und die weil dieser mit sehr dünnem Wasser gekocht hat.
IDA Probleme hinsichtlich ihrer Programme haben.
Herr Kollege Diller, Sie müssen natürlich aufpassen,
Da muß reformiert werden, entbürokratisiert werden. daß Sie nicht so gräßliche Horrorgemälde malen, daß
Die Programme müssen mehr auf das innere Poten- Sie nachher selber vor diesen entsetzlichen Gemäl-
tial der Länder gerichtet werden und nicht nur auf den davonlaufen. Vermutlich sind Sie deswegen zeit-
verinselte Großprojekte. Da muß einiges geschehen, weise draußen gewesen.
und ich hoffe, daß auch der Entwicklungsminister
dazu Vorschläge machen wird. Meine Damen und Herren, man muß bei einem er-
fahrenen Kollegen wie Theo Waigel, noch dazu
Meine Damen und Herren, zum Schluß: Wer ist wenn er Schwabe ist, nicht nur fragen, was er gesagt
denn verantwortlich dafür, daß die Grundprobleme, hat und wann er es gesagt hat, sondern auch, was er
die wir seit Jahren hier diskutieren, die ständig in der mit einer bestimmten Aussage erreichen wollte. Das
internationalen Presse diskutiert werden, nicht gelöst haben wir bei den Äußerungen über die italienische
werden? Ich habe sie vorher ja kurz aufgelistet. Wer Währung in den vergangenen Wochen gesehen.
hat die Macht, die Dinge zu ändern? - Die Macht, es
zu ändern, hätten letzten Endes nur Europa, USA und Wenn der Bundesfinanzminister mit seinen veröf-
Japan. Und in Europa haben die Deutschen die größte fentlichten Äußerungen zu möglichen Minderein-
Verantwortung; sie könnten hier etwas bewegen. nahmen des Bundes erreichen wollte, daß im laufen-
den Haushaltsverfahren alle zusätzlichen Ausgaben-
Was ist mit den USA los, mit dem Hauptaktionär wünsche gebremst werden, dann ist das lobenswert,
der internationalen Finanzinstitutionen? Riesendefi- vor allem auch, wenn es sich um Ausgabenwünsche
zit mit Verschuldung und zinstreibenden Wirkungen. der Opposition handelt. Er hat das Ziel aber noch
Der Dollar wird benutzt zur Manipulation der Wech- nicht völlig erreicht. Wir haben im laufenden Haus-
selkurse, um den Kampf um die Märkte zu führen. haltsverfahren feststellen müssen, daß Ihre Äußerun-
Und Rückzug aus der internationalen Finanzierung. gen noch nicht genügend gewirkt haben, Herr Wai-
- Das sind die USA. gel. Sie sind aber ehrenwert.
Japan: Riesenbankenkrise, eine riesige Überbe- Die Bewußtseinsbildung darüber, daß wir uns auch
wertung von Grundstücken, von Sicherheiten. Dar- in diesem Jahr in einer schwierigen Haushaltssitua-
auf wird eine riesige Finanzblase mit den Risiken tion befinden, daß wir diese aber auch Zug um Zug,
und Milliardenverlusten, die wir ja kennen, aufge- Jahr für Jahr meistern, kann in keinem Fall ein Feh-
baut. ler sein. -

Und die Bundesrepublik legt sich zurück, be- Was der Finanzminister mit seinen Äußerungen
schränkt sich auf die Rolle des Kassenwarts, des ganz sicher nicht erreichen wollte, Herr Kollege Dil-
Bremsers und übernimmt nicht die ihr mögliche ler, ist eine Unterbrechung des geordneten Haus-
Rolle, in dieses Vakuum von Führungslosigkeit auf haltsverfahrens, das die Koalition mit ihrer Mehrheit
diesem Gebiet hineinzugehen und konstruktive seit vielen Jahren durchsetzt. Es ist - ich sage das mit
Ideen vorzutragen. Blick auf den Ablauf in diesem Jahr - schlimm ge-
nug, daß der SPD-majorisierte Bundesrat den Bun-
(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Bei Führungs desetat 1995 so lange verzögert hat, daß tatsächlicher
losigkeit kennt er sich aus!) Schaden entstanden ist.
5168 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen)


Wir werden 1996 - da erwarten wir auch Ihre Mit- war die Schlagzeile, die wir natürlich begrüßen -,
hilfe, wir haben es bei Ihnen angemahnt, Sie haben dann weiß er, daß dies auch davon abhängt, ob die
es selber kritisiert; aber wie das bei der SPD zwi- Koalition geplante gesetzliche Maßnahmen durch-
schen Bund und Ländern leider dauernd ist, arbeiten hält. Die Koalition muß auch Entscheidungen treffen,
Sie ja nicht zusammen, sondern der eine fährt dem die dafür sorgen, daß die Bundesanstalt für Arbeit
anderen in die Parade - wieder dafür sorgen, daß ein nicht außerhalb der Planung im nächsten Jahr doch
gesichertes Verfahren abläuft, daß wir jede Destruk- Bundeszuschüsse benötigt.
tion mit der Mehrheit der Koalition hier im Deut-
schen Bundestag verhindern werden. Darauf dürfen Wenn uns hierbei, Herr Kollege Diller, die Opposi-
sich die Bürger verlassen. tion hilfreich an die Seite tritt, dann dient das der Sa-
che wesentlich mehr, als wenn sie versucht, das ge-
Deswegen haben wir in der Konsequenz gestern ordnete laufende Haushaltsverfahren zu unterbre-
den Versuch der SPD im Haushaltsausschuß abge- chen. Wir werden dieses Verfahren im November ge-
schmettert, das Verfahren zu verschlechtern. Es muß ordnet zu Ende bringen.
für die Sozialdemokraten bitter gewesen sein, daß
noch nicht einmal alle ihre grünen Wunschpartner an Vielen Dank.
ihrer Seite waren, als sie beantragten, die Verhand- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
lungen abzubrechen.
Daß der Finanzminister auf die schwierige Situa- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wo rt hat
tion hinweist, gehört durchaus zu seinem Amt, auch jetzt der Abgeordnete Oswald Metzger.
dann, wenn er im Augenblick nicht mehr Herr des
Verfahrens ist. Die Steuerschätzung liegt ja nicht bei
Oswald Metzger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
ihm; das ist hier dargestellt worden. Wenn wir, der
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
Haushaltsausschuß, in der kommenden Woche über
schon eine gespenstische Debatte, die wir hier füh-
die Zahlen der Steuerschätzung verfügen, dann wer-
ren, weil man sich nicht entscheiden kann: Führen
den wir für das gesamte Parlament vorbereitend han-
wir eine Debatte über IWF, wie es der Regierungser-
deln müssen, und dann werden wir handeln.
klärung entspricht und wozu Kollegen wie Graf
Meine Damen und Herren, es ist bekannt, daß für Lambsdorff und Kollege Feilcke bemerkenswerte
1996 schon jetzt eine Reihe von Risiken zu bewälti- Äußerungen gemacht haben, oder führen wir eine
gen sind, die in einer Größenordnung zwischen 5 Diskussion - wie sie der Kollege Diller in der ersten
und 10 Milliarden DM liegen dürften. Wenn durch Runde eingeleitet hat - über das, was der Finanzmi-
die Steuerschätzung tatsächlich eine zusätzliche nister an tagespolitischer Hiobsbotschaft hier in
Lücke von 10 Milliarden DM bei den Einnahmen ent- Deutschland erlebte, nachdem er weihrauchumwölkt
steht, werden wir das in abschließender Beratung in aus den USA wieder zurück nach Deutschland flog
Ordnung bringen müssen. Aber erst mit dem ge- und gestern fast unmittelbar danach in den Haus-
nauen Zahlenwerk vor Augen können wir entschei- haltsausschuß einzog?
den, was im einzelnen zu tun ist, weil ja wahrschein-
(Zuruf von der CDU/CSU: Nur keinen
lich eine Summe von Maßnahmen notwendig ist.
Neid!)
Es wird ganz sicher in der Erwartung dieser Min-
dereinnahmen eine veränderte Fortschreibung der Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie
Finanzplanung geben müssen. Der Basiseffekt für eine Zwischenfrage der Kollegin Matthäus-Maier?
die kommenden Jahre sorgt dafür, daß nach 1997
Veränderungen eingeplant werden müssen. Dies
muß nach Auffassung der F.D.P. so geschehen, daß Oswald Metzger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
die geplante Nettoneuverschuldung in den Folgejah- Bitte.
ren nicht erhöht wird.
(Beifall bei der F.D.P.) Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Da Sie zu Recht mo-
nieren, daß jetzt zwei Dinge vermischt werden, wür-
Ob bezüglich des Jahres 1996 selbst Sparbemü- den Sie das Hohe Haus bitte darüber aufklären, daß
hungen, ob eventuell zusätzliche Einnahmen aus Pri- es die Absicht aller Beteiligten, insbesondere aller
vatisierung, auch Verwaltungseinnahmen es ermög- Haushaltspolitiker, egal von welcher Partei, war, die
lichen - der Finanzminister hat ja hier eine Reihe von Themen zu trennen: morgen früh eine Aktuelle
substantiellen Möglichkeiten genannt -, die geplante Stunde zu den Haushaltslöchern von 40 Milliarden
Nettoneuverschuldung von ca. 60 Milliarden DM für DM durchzuführen und heute eine Debatte über die
den Bund einzuhalten, wird in 14 Tagen zu entschei- IWF und die Jahrestagung zu führen?
den sein. Wir werden uns darum bemühen, es ist un-
ser Ziel, diese Nettoneuverschuldung nicht höher als Ich habe selber viele Jahre miterlebt, daß das
60 Milliarden DM werden zu lassen. selbstverständlich getrennt wurde. Sind nicht auch
Sie der Meinung, daß das eine sehr unglückliche
(Karl Diller [SPD]: Schließen Sie denn eine Verkoppelung ist, die ausschließlich - so wurde mir
globale Minderausgabe aus?) gesagt - auf Herrn Waigel zurückzuführen ist?
Meine Damen und Herren, wenn Theo Waigel im
„Handelsblatt" vom 2. Oktober mitgeteilt hat, das Oswald Metzger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Defizit im Bundeshaushalt werde nicht steigen - das Frau Kollegin Matthäus-Maier, Sie bestätigen, was
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5169
Oswald Metzger
ich in meinem Eingangsstatement gesagt habe. Dem che Sperre verfügt und könnte auf diese A rt und
habe ich nichts hinzuzufügen. Weise wenigstens in diesem Jahr Vorsorge treffen,
nicht mit einer neuen Verschuldungsbelastung in das
(Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Waigel ist
Jahr 1996 zu gehen. Das scheut er wie der Teufel das
doch gar nicht im Ältestenrat!)
Weihwasser.
Theo Waigel hat Probleme. Deshalb scheut die Re-
gierung die Diskussion in Form einer Aktuellen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Stunde zur besten Fernsehzeit am Vormittag. sowie der Abg. Ingrid Matthäus-Maier
[SPD])
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD) Ich komme zu einem weiteren Gesichtspunkt.
Machen wir uns doch nichts vor: Dieser Finanzmi- Noch im September, vor gut fünf Wochen, hat Waigel
nister hat sich selbst am 5. September - ich habe die gesagt: Die Konjunktur floriert. Inzwischen hat die
Rede gerade noch einmal gelesen - den Glorien- Regierung selber ihre Erwartungsdaten reduziert.
schein eines erfolgreichen Haushaltssanierers aufge- Der Rückgang der Konjunktur hat genau das bestä-
setzt, der die Leute im nächsten Jahr um 20 Mil- tigt, was ich im September auf die Formulierung ge-
liarden DM Steuern entlastet, der einen solide bracht habe: Dieser Haushalt hat keine Knautsch-
finanzierten Haushalt vorgelegt hat und der von sym- zone. Jede konjunkturelle Delle, die Entwicklung der
metrischer Finanzpolitik redet. Arbeitsmarktdaten und die nächste Steuerschätzung
werden das Schiff aus dem Ruder bringen. Genau
(Hansgeorg Hauser [Rednitzhembach] das tritt ein.
[CDU/CSU]: Sie haben offensichtlich nicht
zugehört!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Eine symmetrische Finanzpolitik bedeutet aber sowie der Abg. Ingrid Matthäus-Maier
nicht, die Nettoneuverschuldung zu erhöhen und [SPD])
gleichzeitig Steuern und Abgaben zu senken. Es
sollte vielmehr beides gesenkt werden. Diese Regierung hat eine Bringschuld. Der Finanz-
minister hat dem Parlament zu sagen, wie er sich die
Inzwischen hat Sie doch die Wirklichkeit einge- Deckung vorstellt. Das erwarte ich. Er kann sich
holt. Sie stehen vor der Situation, daß Sie voraus- nicht hinstellen und den Leuten sagen: „Ich entlaste
sichtlich weitere 10 Milliarden DM finanzieren müs- euch um 20 Milliarden DM bei den Steuern im näch-
sen. sten Jahr" , wenn zwischenzeitlich klargeworden ist,
daß z. B. der Rentenversicherungsbeitrag stärker
(Hansgeorg Hauser [Rednitzhembach]
steigt, als im September bekanntgeworden ist. Dann
[CDU/CSU]: Sie haben das nicht verstan
nämlich zahlt der Durchschnittsverdiener pro Jahr
den!)
mehr zusätzlich an den Staat, als er gleichzeitig an
Die Lösung des Problems, Kollege Hauser, wird staatlicher Entlastung erfährt.
diese Koalitionsregierung in der Bereinigungssitzung
des Haushaltsausschusses übernächste Woche nur (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
dadurch erreichen, daß sie beispielsweise Postbank SES 90/DIE GRÜNEN)
Veräußerungserlöse mit einstellt, den Mineralölsteu-
erzahlungstermin wieder einmal vorzieht, um tak- Das wird im nächsten Jahr nicht zur erhofften kon-
tisch zu manipulieren, und globale Minderausgaben junkturellen Wende beim p rivaten Konsum führen,
beschließt. zumal natürlich nicht nur der Bund Steuereinnah-
men verliert, sondern auch Länder und Gemeinden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich habe an dieser Stelle schon einmal gesagt: Der
sowie der Abg. Uta Titze-Stecher [SPD]) größte Investitionshaushalt dieser Republik ist der
So wird es voraussichtlich ablaufen. kommunale. Was angesichts der Steuerschätzung,
die die Kommunen betrifft, und der Auswirkungen
Sie werden im Jahre 1995 noch in die Situation des Jahressteuergesetzes in den kommunalen Inve-
kommen, daß die Nettoneuverschuldung höher ist stitionshaushalten im nächsten Jahr passiert, das
als geplant. Das ist ein Faktum. können Sie sich schon jetzt an fünf Fingern ausrech-
Außerdem ist eines ganz merkwürdig: Der Finanz- nen.
minister sagte gestern im Haushaltsausschuß, er
würde seinen Amtskollegen einen B rief schreiben, in (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]:
dem steht, daß sie dieses Jahr doch bitte schön weni- Wie lösen Sie die Probleme?) -
ger Geld ausgeben sollten als geplant. Was aber
habe ich in allen Beratungstagen im Haushaltsaus- - Deshalb hilft nur eines, Kollege Weng: Dieses Par-
schuß gehört? - Die Verteidigungspolitiker verves- lament, und zwar alle Fraktionen, muß begreifen,
pern 843 Millionen DM, die sie eigentlich übrig hät- daß der Staat sparen muß. Ausgabenblöcke müssen
ten, indem sie Rüstungsbeschaffungsprojekte des zurückgefahren werden. Es darf auch keine Chance
nächsten Jahres vorziehen. Dann ist das Geld weg. geben, über zusätzliche Einnahmeverbesserungen
den Haushalt zu konsolidieren.
Wäre Theo Waigel so konsequent wie sein Amts-
kollege in Baden-Württemberg, der CDU-Politiker (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]:
Mayer-Vorfelder, hätte er eine haushaltswirtschaftli- Das Richtige sagen, das Falsche tun!)
5170 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Oswald Metzger
Diese Erfahrung muß man als Haushaltspolitiker Wir werden uns dieser Bankrotterklärung der SPD
auch in der eigenen Fraktion immer wieder vertre- nicht anschließen und haben deshalb gestern diesen
ten. Antrag im Haushaltsausschuß auch zurückgewiesen.
Wir haben die feste Absicht, die heute erkennbare
(Hansgeorg Hauser [Rednitzhembach]
Belastung im vorgegebenen Rahmen aufzufangen.
[CDU/CSU]: Das sollten Sie beherzigen!)
Die Nettokreditaufnahme soll auch nach unserer
Das aber müssen Ihre Haushaltspolitker genauso Ih- Auffassung die Größenordnung von rund 60 Mil-
ren Fachpolitikern gegenüber vertreten. liarden DM nicht überschreiten.
Vielen Dank. Ich denke, es muß hier noch einmal gesagt wer-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den: Es ist ein starkes Stück, wenn Herr Scharping
sowie bei Abgeordneten der SPD) der Bundesregierung vorwirft, sie habe die Öffent-
lichkeit belogen, die bisherige Schönfärberei sei eine
Beruhigungspille für die Öffentlichkeit. Der PDS-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat Redner hat das übrigens genauso gemacht.
jetzt der Abgeordnete Dankward Buwitt.
Die bisherigen Annahmen zu den Steuereinnah-
Dankward Buwitt (CDU/CSU): Frau Präsidentin! men in den Jahren 1995 und 1996 beruhen - wie hier
Meine Damen und Herren! Ich halte die Entschei- gesagt worden ist - auf den Angaben des Arbeits-
dung des Altestenrats - und da werden nach meiner kreises Steuerschätzung, in dem neben der Bundes-
Information unsere Tagesordnungen besprochen - regierung und den Sachverständigen selbstverständ-
für völlig richtig. Alles steht ja in einem großen Zu- lich die Länder, und hier mehrheitlich die SPD-re-
sammenhang. Wir können nicht über unseren Bei- gierten Länder, vertreten sind. Diese übernehmen
trag zum IWF und zur Weltbank reden, wenn wir dann ja auch diese Zahlen für ihre Haushalte. Ich
dies nicht geradlinig aus der Finanzpolitik hier in kann verstehen, daß es Auseinandersetzungen mit
diesem Land entwickeln und diese nicht einbezie- den Landesfürsten gibt, aber die Länder werden
hen. doch nicht so dumm sein, sich selber zu belügen. Das
wäre doch der größte Blödsinn, den man sich vorstel-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) len kann.
Es ist doch wahrscheinlich kein Zufall, daß der er-
ste Redner der SPD diesen Themenbereich völlig (Beifall bei der CDU/CSU)
ausgeklammert und sich sofort auf das Thema ge-
Es ist schon bezeichnend, daß die SPD denjenigen
stürzt hat, dessentwegen die ganze Veranstaltung
als Lügner bezeichnet, der als erster öffentlich eine
hier überhaupt gemacht wird.
Fehleinschätzung korrigiert. Im übrigen erweckt der
Ich dachte, Herr Diller, Sie würden neue Vor- SPD-Vorsitzende wissentlich und zu Unrecht den
schläge machen. Ich dachte, Sie würden sich an der Eindruck, die Steuerausfälle beträfen allein den
Lösung der Fragen beteiligen. Wenn es für Sie nur Bund. Tatsächlich sitzen die Länder und die Gemein-
eine Bringschuld ist, den fast mit der Hälfte im selben Boot.
(Karl Diller [SPD]: Ja!) Nun holt Herr Diller wieder die alte Leier über die
dann meine ich: Warten Sie doch die Steuerschät- „Umverteilung von unten nach oben" heraus. Als wir
zung ab; warten Sie ab, welche Lösungen wir brin- die Sonderabschreibungen beschlossen haben, war
gen, und dann können Sie diese immer noch kritisie- uns natürlich klar, daß sie Geld kosten. Sie sollten ei-
ren. Aber wahrscheinlich befürchten Sie, daß dann nen Anschub für Investitionen in den neuen Bundes-
für Ihre Rede nicht mehr viel übrigbleibt. ländern geben. Diejenigen, die durch diese Investi-
tionen Arbeit und Wohnung gefunden haben, wer-
Nein, im Prinzip geht es wahrscheinlich um etwas den das wahrscheinlich nicht wie Herr Diller als un-
anderes: Sie suchen den Strohhalm, um von inner- christlich bezeichnen.
parteilichen Schwierigkeiten abzulenken. Aber man
muß kein Biologe sein, um Ihnen zu sagen, daß es (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU
solche Strohhalme nicht gibt. und der F.D.P.)
Ich halte es genauso wie Herr Weng für einen be-
Wir wollten diesen Anschub und haben jetzt die
sorgniserregenden Vorgang, daß die SPD gestern im Möglichkeit, Reduzierungen vorzunehmen, nach-
Haushaltsausschuß versucht hat, die Beratungen des dem dieser Anschub erfolgt ist.
Haushalts 1996 abzubrechen.
(Uta Titze-Stecher [SPD]: Das war richtig!) Wir haben keinen Anlaß, die solide Arbeit des Bun-
desfinanzministers zu kritisieren.
Das war ein sehr, sehr durchsichtiges Manöver und
keinesfalls richtig. Denn ohne die Situation zu ver- (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Im Gegenteil!)
niedlichen - auf die Risiken ist bereits mehrmals hin-
gewiesen worden -, ist es doch so: Es fehlen uns Do rt , wo neue Erkenntnisse punktuelle Nachbesse-
knapp 2 % der Einnahmen, und schon erklärt die rungen des Regierungsentwurfs erforderlich ma-
SPD ihren haushaltspolitischen Bankrott. Sie folgt chen, werden wir das Notwendige tun. Mitte näch-
damit dem leuchtenden Beispiel der offenkundig un- ster Woche werden wir die Ergebnisse des Arbeits-
fähigen rot-grünen Koalition in Hessen. kreises Steuerschätzung vorliegen haben. Die Ein-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5171
Dankward Buwitt
zelheiten zu notwendigen Anpassungen des Haus- Haushalten, sei es beim Bund, bei den Ländern oder
haltsplanentwurfs werden dann rechtzeitig zur Berei- den Gemeinden.
nigungssitzung und zur zweiten und dritten Lesung
auf dem Tisch liegen. Wir haben vorhin über die Arbeitszeitflexibilität
gesprochen, wir haben über die Frage der Maschi-
Herr Waigel hat bereits angesprochen - aber die nenlaufzeiten, die damit natürlich zusammenhängt,
SPD ist wahrscheinlich schon zu lange in der Opposi- diskutiert. Die Genehmigungsverfahren bei den Be-
tion und hat das mit Sicherheit vergessen -, daß es im hörden müssen sich dem unterwerfen. Das Abstands-
Haushalt nicht nur Mindereinnahmen und Mehraus- gebot muß durchgesetzt werden, um Arbeit attraktiv
gaben gibt, sondern genauso Mehreinnahmen und zu machen, und viele andere Dinge müssen gesche-
Minderausgaben. Minister Waigel hat ausgeführt - hen.
das ist richtig -, daß Minderausgaben in Milliarden- (Abg. Dr. Ingomar Hauchler [SPD] meldet
höhe z. B. bei den Zinsausgaben und bei den Zinser- sich zu einer Zwischenfrage)
stattungen anfallen. Die nachdrückliche Konsolidie-
rungspolitik der Bundesregierung hat dazu geführt - Ich denke, daß es notwendig ist, daß man sich dieser
auch dies ist hier falsch dargestellt worden -, daß wir Diskussion stellt und nicht nur kritisiert und alles als
1994 und 1995 insgesamt 40 Milliarden DM weniger gottgegeben hinnimmt.
Schulden gemacht haben als ursprünglich geplant.
(Dr. Ingomar Hauchler [SPD]: Frau Präsi-
Die Stabilitätspolitik der Koalition hat nicht nur bei dentin!)
internationalen Organisationen, wie heute ausge- Der Deutsche Bundestag wird den Haushalt 1996
führt worden ist, z. B. bei der Weltbank oder bei der Ende dieses Monats mit der Mehrheit der Koalition
OECD, sondern vor allen Dingen auch auf den inter- verabschieden. Dieser Haushalt wird die Entwick-
nationalen Finanzmärkten Vertrauen gefunden und lung der letzten Wochen und Monate berücksichti-
Vertrauen für die D-Mark geschaffen. Dieses Ver- gen. Aber er wird ohne jeden Zweifel in der Konti-
trauen spiegelt sich im langfristig steigenden Wert nuität der Stabilitäts-, Wachstums- und Konsolidie-
der D-Mark im Verhältnis zu fast allen Partnerwäh- rungspolitik der letzten Jahre stehen.
rungen wider. Hierauf beruht auch der deutliche
Zinsrückgang der vergangenen Monate, der uns ne-
ben den geringeren Schulden dieses und des vergan- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege,
genen Jahres Minderausgaben in Milliardenhöhe er- gestatten Sie eine Zwischenfrage?
möglicht.
Dankward Buwitt (CDU/CSU): Recht herzlichen
1996 werden uns nicht nur die schon 1995 wirksa- Dank.
men Entlastungen bei Zinsen und Zinserstattungen
behilflich sein, sondern auch zusätzliche einmalige (Beifall bei der CDU/CSU)
Einnahmen wie beispielsweise die gerade jetzt in der
Öffentlichkeit diskutierte Veräußerung der Anteile Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, es
des Bundes an der Postbank. Wir haben heute nach- gab eben den Wunsch nach einer Zwischenfrage;
mittag im Haushaltsausschuß darüber gesprochen. aber nun ist es vorbei.
Ich denke, man kann sich nicht immer nur hinstellen
und klagen. Vielmehr wird man auch die Möglich- Das Wort hat jetzt der Kollege Jörg-Otto Spiller.
keiten zur Entlastung des Haushalts wahrnehmen (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Nach dem Dil-
müssen, z. B. die Privatisierung. Die Privatisierung ler kommt der Spiller!)
bringt nicht nur Geld in die Kassen des Bundes; viel-
mehr legt sie auch in vielen Bereichen die Aufgaben
in Hände, die sie letztendlich besser und kostengün- Jörg-Otto Spiller (SPD): Frau Präsidentin! Meine
stiger erfüllen können, als es der Bund selber kann. Damen und Herren! Daß Deutschland im jüngsten
IWF-Be richt gute Noten erhalten hat, erfreut natür-
Es gibt bei weitem keine Entwa rnung. Wir werden lich auch die Sozialdemokraten.
alle Sparmaßnahmen, die irgendwie möglich und
(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Dann müßt ihr
vertretbar sind, ausnutzen müssen. Hierbei jedoch
das auch einmal sagen!)
gerade den Verteidigungshaushalt heranzuziehen,
der in den letzten Jahren den größten Beitrag zur Aber wir überlesen nicht wie Sie, Herr Minister Wai-
Einsparung im Bundeshaushalt gebracht hat, halte gel, die Zusatzbemerkung des IWF, daß auch in
ich schlicht und einfach für falsch. Deutschland noch viel zu tun bleibe, damit die viel
zu hohe Arbeitslosigkeit und die viel zu schwere
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Steuer- und Abgabenlast der Bürger abgebaut wür-
Denn man kann nicht die Opfer jedes Jahr neu ver- den.
langen. Man muß einsehen, daß irgendwann eine (Beifall der Abg. Ingrid Matthäus-Maier
Grenze erreicht ist. [SPD])
Zu unseren Aufgaben gehört natürlich auch, alle Wir sind nicht bereit, die Augen davor zu verschlie-
Möglichkeiten zur Erhöhung der Einnahmen wahr- ßen, daß Ihr Entwurf des Haushalts 1996, Herr Mini-
zunehmen. Dazu gehört natürlich die Ertüchtigung ster, auf ausgesprochen dünnem Eis basiert, weil er
des Wirtschaftsstandorts Deutschland. Sie führt auto- Steuereinnahmen in Ansatz bringt, an die Sie offen-
matisch zu einer Einnahmeerhöhung bei unseren sichtlich inzwischen selbst nicht mehr glauben.
5172 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Jörg-Otto Spiller
Die jetzt aufgetretenen Steuerausfälle werfen eine Ein höheres Maß an Wechselkursstabilität erreichen
Vielzahl von Fragen auf. Wendet man sich den Ursa- wir nicht mit internationalem Kräftemessen, sondern
chen zu, dann sieht man, daß die Steuerausfälle aus- nur durch internationale Zusammenarbeit.
schließlich im Bereich der veranlagten Einkommen-
steuer und der Körperschaftsteuer auftreten. Es hat (Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Das wird
also eine weitere Verschiebung in der Steuerlastver- doch gemacht, Herr Stiller!)
teilung gegeben. Die Arbeitnehmer, denen die Lohn- Herr Hauser, Sie haben davon berichtet, daß sich
steuer direkt vom Arbeitslohn abgezogen wird, und bei der Rede des Bundesfinanzministers auf der Ta-
die Verbraucher, die bei jedem Einkauf Umsatz- gung von IWF und Weltbank im Saal andächtige
steuer zahlen müssen, werden immer mehr zum Stille ausgebreitet habe. Vielleicht haben Sie trotz Ih-
Hauptfinanzier des Staates. rer Ergriffenheit auch das Aufatmen am Ende der
Rede gehört, und zwar darüber, daß der Herr Mi-
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Leider!) nister diesmal weder unbedachte noch schulmeister-
liche Bemerkungen über andere Länder gemacht
Dagegen geht der Beitrag, den Unternehmen, Selb- hat.
ständige und Vermögensbesitzer leisten, immer wei-
ter zurück. (Beifall bei der SPD - Jochen Feilcke [CDU/
CSU]: Er wollte damit sagen, daß es eine
Wir hatten 1994 in Deutschland ein Körperschaft- gute Rede war! - Dr. Karl H. Fell [CDU/
steueraufkommen von nur noch knapp 20 Milliarden CSU]: Spiller wäre besser stiller gewesen!)
DM. Im Vergleich dazu: Das Lohnsteueraufkommen
lag bei 266 Milliarden DM, 13mal soviel. Im bisheri-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat
gen Verlauf des Jahres 1995 ist das Körperschaft-
jetzt der Abgeordnete Peter Rauen.
steueraufkommen nochmals deutlich gesunken. Bei
der veranlagten Einkommensteuer ist im bisherigen
Jahresverlauf die Summe der Erstattungen sogar Peter Harald Rauen (CDU/CSU): Frau Präsidentin!
höher gewesen als die Summe des Steueraufkom- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach dem
mens. internationalen Lob für die deutsche Finanzpolitik
beim G-7-Treffen fällt es mir schwer, mich auf die
Mir ist unbegreiflich, wie bei diesem Hintergrund Frage der Steuerschätzung zu beschränken, aber ich
das einzige, was der Koalition im Zusammenhang will es tun, damit die Opposition nicht sagen kann,
mit Steuern einfällt, immer nur die Ankündigung ist, wir von der Union wollten darüber nicht reden.
wir brauchten eine neue Steuerentlastung im Unter-
nehmensbereich und im Bereich der Selbständigen. Die Steuereinnahmen von Januar bis August 1995
Wir reden über andere Belastungen, über Abgaben deuten darauf hin, daß die Steuereinnahmen in die-
von Arbeitnehmern überhaupt nicht mehr. sem Jahr gegenüber der Mai-Schätzung um etwa
20 Milliarden DM nach unten korrigiert werden müs-
(Beifall bei der SPD) sen. Das hat uns heute der Finanzminister mitgeteilt.
Durch den Basiseffekt 1995 müssen mit großer
Wir vermissen bei der Bundesregierung, aber Wahrscheinlichkeit dann auch die Steuereinnahmen
auch bei der sie tragenden Koalition eine größere für 1996 nach unten korrigiert werden. Das ist bedau-
Wahrhaftigkeit. Es geht nicht an, daß Sie je nach erlich, aber nicht zu ändern. Daraus politisch Honig
Gelegenheit und politischem Bedarf bittere Weh- saugen zu wollen, wie das die Opposition versucht,
klage über den Niedergang Deutschlands als Wi rt ist in der Sache total daneben und ein untaugliches
-schaftndorüe busLandge- Manöver, um von den eigenen Schwierigkeiten ab-
radezu zum ökonomischen Musterknaben hochlo- zulenken.
ben, an dessen Wesen, wenn schon nicht die ganze
Welt, so doch wenigstens alle Industrieländer gene- In der Mai-Schätzung wurde für 1995 für alle Ge-
sen können. bietskörperschaften noch mit Steuereinnahmen von
rund 846 Milliarden DM gerechnet. Wenn diese nun
„Das Arsenal der deutschen Finanzdiplomatie", um 20 Milliarden DM oder 2,3 % nach unten korri-
schrieb kürzlich die „International Herald T ribune", giert werden müssen, dann liegt dies durchaus im
„enthält kein Florett, sondern nur schwere Säbel." Rahmen üblicher Fehlerquellen von Schätzungen.
Solche Kommentare, Herr Waigel, kommen nicht von Man muß auch den Schätzern konzedieren, daß bei
ungefähr, und sie müssen auch uns beunruhigen. der Einführung einer neuen Steuerart wie der des So-
lidaritätszuschlags oder bei Erstattungen aus Rezes-
(Zuruf von der CDU/CSU: Lieber schwere sionsjahren, die ja jetzt veranlagt werden, das Ver-
Säbel als Leimrute!) halten und die Reaktion von Steuerpflichtigen
schwer vorausschaubar sind und deshalb die Schät-
Behutsamkeit und leisere Töne wären für Deutsch- zung erschwert wird. Von daher ist es verständlich,
land angemessener. Sie wären um so angemessener, daß die größten Korrekturen bei der veranlagten Ein-
als die internationalen Finanzmärkte in ihrer derzei- kommensteuer und bei der Körperschaftsteuer vorzu-
tigen Verfassung ohnehin zu nervösen Überreaktio- nehmen sind.
nen neigen.
Aus konstant bleibenden Lohnsteuereinnahmen
(Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Vorher jedoch zu schließen, die Bundesregierung verlagere
innerhalb der SPD abstimmen!) die Steuerlast planmäßig von den Unternehmen zu
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5173
Peter Harald Rauen
den Arbeitnehmern, wie der finanzpolitische Spre- gleichzeitiger Senkung der Steuer- und Abgaben-
cher der SPD-Fraktion, Herr Poß, dies im August ge- quote.
tan hat und heute in Ansätzen auch Karl Diller, läßt
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
darauf schließen, daß bei beiden erhebliche Defizite
ordneten der F.D.P.)
bei der Beurteilung steuerrechtlicher und steuertech-
nischer Tatbestände bestehen. In den 80er Jahren stieg in den alten Bundeslän-
dern die Beschäftigtenzahl um 3,5 Millionen Men-
Die Lohnsteuer ist keine eigenständige Steuer, schen deshalb an, weil die Staatsquote verringert
sondern eine besondere Erhebungsform der Einkom- und die Steuern und Abgaben reduziert wurden. Die
mensteuer. Sämtliche Anrechnungen und Erstattun- Finanzierung der deutschen Einheit hat vorüberge-
gen der Arbeitnehmer werden heute im Rahmen der hend eine Konsolidierung der Staatsfinanzen über
Pflicht- oder Antragsveranlagung verrechnet und die Einnahmenseite erforderlich gemacht, also über
kürzen in erheblichem Umfang die kassenmäßigen höhere Steuern und Abgaben. Das war nicht anders
Einnahmen bei der veranlagten Einkommensteuer. zu machen.
Die Erstattungen betrugen z. B. in 1983 gerade
13 Milliarden DM, heute sind es bereits 36 Milliarden (Karl Diller [SPD]: Herr Kollege, wo sehen
DM. Sie denn jetzt die Deckungsmöglichkeiten?)
Dennoch muß mit Blick auf mehr Beschäftigung
Heute werden zwei Drittel des Lohnsteueraufkom- die Steuer- und Abgabenbelastung wieder reduziert
mens vom oberen Viertel der Lohnsteuerpflichtigen werden. Das geht nur durch die Konsolidierung der
getragen. Dies sind Besserverdiener wie leitende An- Finanzen über die Ausgabenseite, um die dadurch
gestellte im weitesten Sinne, aber auch Hunderttau- geschaffenen Finanzspielräume in Form von Steuer-
sende von ehemals Selbständigen, die heute Ge- und Abgabensenkungen an die arbeitenden Men-
schäftsführer von GmbHs sind. Damit wird deutlich, schen weitergeben zu können.
daß die Lohnsteuer nicht mehr die Steuer des klassi-
schen Arbeitnehmers ist. Der Bundesfinanzminister leistet zur Erreichung
dieses Zieles Vorbildliches.
Darüber hinaus - das hat Herr Kollege Buwitt
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
schon gesagt - bringen eine Reihe von bef ri steten
ordneten der F.D.P.)
Fördermaßnahmen im Interesse des Aufbaus und
der Umstrukturierung in den neuen Bundesländern Der Haushalt 1996 und die mittelfristige Finanzpla-
zwangsläufig aktuell Mindereinnahmen bei der Kör- nung sehen eine durchschnittliche Ausgabensteige-
perschaftsteuer und der veranlagten Einkommen- rung bis 1999 von jährlich lediglich 1,3 % vor. Wenn
steuer mit sich. neben dem Bund auch die Länder, die Gemeinden
und die Sozialversicherungsträger den politischen
Meine Damen und Herren, die jüngst veröffent- Willen und die Kraft aufbringen, die jährlichen Aus-
lichten Daten des Statistischen Bundesamts für das gabensteigerungen deutlich unter dem Zuwachs des
erste Halbjahr 1995 signalisieren eine Verlangsa- nominalen Bruttosozialprodukts zu halten, werden
mung des Wirtschaftswachstums um rund 0,7 % vom die notwendigen Finanzspielräume geschaffen, mit
Bruttosozialprodukt gegenüber der Projektion der denen Steuern und Abgaben in Deutschland gesenkt
Bundesregierung vom Frühjahr 1995. Hierdurch ist werden können, damit wieder mehr Beschäftigung
ein Teil der Steuermindereinnahmen erklärt, denn erreicht werden kann.
ein Prozent Wirtschaftswachstum bringt rund
15 Milliarden DM Steuern und Abgaben in die staat- Es wäre gut, wenn die Opposition dort, wo sie in
lichen Kassen. Ländern und Kommunen Verantwortung trägt, a lles
tun würde, dieses Ziel zu erreichen.
Mich besorgt besonders, daß wir nach den Daten (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
des Statistischen Bundesamts in Deutschland trotz
Wirtschaftswachstum einen Rückgang der Beschäfti-
gung haben. Statt mit plus 0,25 % nach der Projek- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wo rt hat
tion vom Frühjahr müssen wir nach Angaben des jetzt die Abgeordnete Konstanze Wegner.
Statistischen Bundesamts mit einem Rückgang um
0,5 % rechnen. Das wären rund 240 000 Beschäftigte Dr. Konstanze Wegner (SPD): Frau Präsidentin!
weniger als projektiert und damit weniger Steuer- Meine Damen und Herren! Der Bundeshaushaltsent-
und Abgabenzahler als für die Steuerschätzung an- wurf 1996 steckt voller Risiken. Das haben wir hier
genommen. mehrfach gesagt. Durch die Steuerausfälle werden
diese Risiken noch verschärft, und zwar ganz beson- -
Hier liegt für alle Parteien die größte Herausforde ders auch im Bereich des Arbeitsmarktes.
rung überhaupt. Es muß gelingen, für mehr Beschäf-
tigung in Deutschland zu sorgen. Das wird nicht (Joachim Hörster [CDU/CSU]: Wir sind
durch mehr, sondern nur mit weniger Staat gesche- doch alle risikobewußt!)
hen. Die Regierung hat noch vor kurzem einen Rückgang
(Beifall bei der CDU/CSU) der Arbeitslosenzahl für 1996 um 350 000 prognosti-
ziert, und zwar um 200 000 in den alten Ländern, und
Die Bundesregierung geht mittelfristig hier den ein um 150 000 in den neuen. In den Unterlagen, die ich
zig richtigen Weg: Senkung der Staatsquote bei als Berichterstatterin zu meinem Einzelplan bekom-
5174 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Dr. Konstanze Wegner


men habe, wird der vermeintliche Aufschwung der schoben, die damit völlig wesensfremde Aufgaben
Konjunktur noch ganz wortreich bejubelt, und es übernehmen muß.
wird festgestellt, die Bundesanstalt für Arbeit werde
1996 ohne Bundeszuschuß auskommen. (Beifall bei der SPD sowie der Abg.
Dr. Barbara Höll [PDS])
Wie sieht die Realität aus? - Im September lag die
Damit entlastet sich die Bundesregierung - von „Sa-
Arbeitslosigkeit zum ersten Mal wieder über dem
nierung" kann man in diesem Haushalt nicht reden -
Vorjahreswert, und die ersten sieben Monate des
auf Kosten der Schwächsten in der Gesellschaft und
Jahres 1995 zeigten eine Arbeitslosenzahl von im
legt zugleich die Axt an die Wurzeln der kommuna-
Schnitt 3,635 Millionen. Der Präsident der Bundesan-
len Selbstverwaltung.
stalt, Jagoda, war von Anfang an wesentlich vorsich-
tiger als die Regierung und hat die Arbeitsmarktlage (Beifall bei der SPD sowie der Abg.
kritisch eingeschätzt. Dr. Barbara Höll [PDS])
Der allerkritischste ist auf einmal der Finanzmini- Herr Minister, Sie haben einen unrealistischen
ster. Lieber Kollege Waigel, Sie haben gestern im Haushaltsentwurf auf der Basis geschönter Eckwerte
Haushaltsausschuß gesagt, Sie glaubten nicht, daß vorgelegt.
sich die Lage am Arbeitsmarkt 1996 wesentlich ver-
(Uta Titze-Stecher [SPD]: Unse riös!)
bessern würde. Diese Einsicht kommt Ihnen reichlich
spät. Denn daß hier ein Haushaltsrisiko liegt, war Die Steuerausfälle haben diese schwierige Situation
lange vorher sichtbar. noch verschärft. Sie sitzen tüchtig in der Tinte. Korri-
gieren Sie Ihre Fehlplanung, aber tun Sie dies nicht
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne auf dem Rücken der Arbeitslosen und nicht auf dem
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Rücken der Gemeinden.
Wenn aber die Regierung trotz der gleichbleiben- Ich danke Ihnen.
den Arbeitslosigkeit an der Streichung des Zuschus-
ses für die Bundesanstalt für Arbeit festhalten wird, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
so wird die Bundesanstalt letztlich weniger Geld für ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
aktive Arbeitsmarktpolitik zur Verfügung haben. Das und der Abg. Dr. Barbara Höll [PDS])
bedeutet dann automatisch einen Anstieg der Zahl
von Langzeitarbeitslosen, und dieses bedeutet wie- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wo rt hat
derum mehr Ausgaben für die Arbeitslosenhilfe, die jetzt Herr Bundesminister Waigel.
ja auch der Bund zahlt.
(Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE
Wir sehen hier den bekannten Verschiebebahnhof GRÜNEN]: Jetzt sind wir ja gespannt!)
Nummer eins innerhalb des Bundeshaushalts. Denn
was die Regierung bei der Bundesanstalt an Mitteln Dr. Theodor Waigel, Bundesminister der Finanzen:
für eine aktive Arbeitsmarktpolitik einspart, muß sie
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen
auf der anderen Seite bei der Arbeitslosenhilfe auf-
Sie mich ganz kurz auf einige aufgeworfene Fragen
stocken. Hier, verehrter Finanzminister, liegt ein wei- eingehen.
teres Haushaltsrisiko: Der vorgesehene Ansatz von
14,8 Milliarden DM wird meines Erachtens nicht aus- Graf Lambsdorff, Sie haben nach ESAF gefragt.
reichen. Aber auch dies war vorher absehbar. Wir wollen dieses Programm selbsttragend fortführen
und setzen alles daran, daß es - auf jeden Fall von
Sie wissen das auch. Deshalb versuchen Sie, sich uns, aber auch von anderen; Sie wissen, woran es
durch materielle Kürzungen bei der Arbeitslosenhilfe hakt - fortgeführt wird.
von insgesamt 3,4 Millarden DM zu entlasten. Damit
werden - das muß man mit aller Deutlichkeit sagen - Die Auffüllung des IDA-Etats ist dringend gebo-
die Langzeitarbeitslosen zusätzlich bestraft und die ten, ist unverzichtbar. Mein Appell geht an die gro-
Kommunen zusätzlich belastet. Allein die Streichung ßen Industrieländer, vor allen Dingen an eines - ich
der originären Arbeitslosenhilfe wird 38 000 neue habe es auch öffentlich benannt -, hier nicht zurück-
Sozialhilfeempfänger schaffen und die Kommunen zustehen.
600 Millionen DM zusätzlich kosten. Es handelt sich
Der sauberste Weg, um das Standing des Interna-
hier um den bekannten Verschiebebahnhof Nummer
tionalen Währungsfonds zu erhalten, ist eine Quoten-
zwei:
aufstockung. Jede andere Diskussion ist nur sekun-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne där hilfreich, führt oft in die Irre. Die Quotenauf- -
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) stockung ist der ehrliche Weg: Man muß in seinen
nationalen Parlamenten geradestehen dafür, daß hier
Der Bund entlastet sich - Umverteilung von oben etwas bereitgestellt wird.
nach unten - auf dem Rücken der Gemeinden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Die Regierung setzt damit eine verhängnisvolle Ich sehe keinen „global need" für die SZR. Dabei
Entwicklung in Gang. Denn die vorgelagerten sozia- bleiben wir. Die Voraussetzungen, unter denen die
len Sicherungssysteme werden immer weiter ausge- SZR zustande gekommen sind, sind nicht mehr gege-
dünnt, und der Fehlbedarf wird der Sozialhilfe zuge- ben. Es gibt heute genügend Währungsreserven.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5175
Bundesminister Dr. Theodor Waigel
Aber es gibt ein Problem: Die neuen Mitgliedsländer fonds mindestens genauso wichtig sei wie die Kre-
konnten damals natürlich nicht bedacht werden und dite, die sie bekämen. Es ist für die Länder innenpoli-
verweisen heute zu Recht darauf, daß sie nicht diskri- tisch, Graf Lambsdorff, geradezu eine Möglichkeit
miniert werden dürfen. der leichteren Umsetzung, die sie sonst in den natio-
nalen Parlamenten bei den Schwierigkeiten - den-
(Dr. Ingomar Hauchler [SPD]: Wir haben
ken Sie an Rußland und andere Staaten - sonst wohl
einen „national need" !)
kaum hätten.
Das ist eine Frage der Gerechtigkeit, und die muß
Kollege Hauchler, Sie haben auf einige Dinge hin-
gelöst werden. Da wir für unsere Position aber keine
gewiesen. Ich hätte Sie gern bei der Reise dabeige-
Mehrheit bekommen, ohne in einem bestimmten Be-
habt, denn ich habe festgestellt, daß Sie sich mit vie-
reich etwas für die Entwicklungsländer zu tun,
len Fragen sachkundig auseinandersetzen. Was den
haben wir uns auf den Kompromiß geeinigt, den die
multilateralen Fonds anbelangt, gibt es bisher kei-
G-7-Staaten in Mad rid vorgelegt haben.
nen offiziellen Vorschlag der Weltbank, auch noch
Es wäre gut, wenn auch der IMF selbst das, was keinen autorisierten des neuen Weltbankpräsiden-
die Deutsche Bundesbank mitzutragen bereit ist, ak- ten. Sobald dieser vorliegt, werden wir uns damit
zeptiert und in dieser Richtung auf die Entwicklungs- konstruktiv auseinandersetzen.
länder einwirkt. Ich habe dem Vertreter Rußlands ge-
Was die ärmsten Länder anbelangt, wissen Sie si-
sagt, sein Land wäre gut bedient, wenn es das tat-
cher, daß wir seit 1979 9 Milliarden DM an Schul-
kräftig unterstützen würde, anstatt sich darauf zu
denerlaß durchgeführt haben, allein Deutschland.
verlassen, daß der Etat überproportional aufgestockt
Damit stehen wir, vielleicht zusammen mit Frank-
wird.
reich - ich kann es im Moment nicht genau feststel-
Was Japan anbelangt, kann ich nur sagen: Wir ha- len -, mit an der Spitze bei dem, was in diesem Be-
ben beim G-7-Treffen alles auf den Tisch gelegt, die reich geleistet worden ist.
Fragen gestellt. Ich bin von Ihrem Kollegen Hauss-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
mann gebeten worden, in dieser Frage sehr diploma-
tisch vorzugehen. Ich will mich der Attitüde und dem Sie wissen, daß wir im Pariser Club, in dem nicht
Sprachgebrauch der Staatsmänner der Luxusklasse nur die Probleme der ärmsten Entwicklungsländer,
nicht verschließen sondern auch andere wichtige Umschuldungspro-
bleme gelöst werden müssen, ebenfalls die Hauptlast
(Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Sehr
der Verantwortung tragen und dazu beitragen, daß
gut!)
anderen Ländern die Luft zum Atmen gegeben wird.
und deswegen vorsichtig formulieren, um auf die
Kollege Weng, Sie haben die Rolle des Haushalts-
Interessen anderer Länder gebührend Rücksicht zu
ausschusses treffend dargestellt. Kollege Metzger,
nehmen.
wenn Sie wieder eine Sperre wollen, an die in einem
(Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE solchen Zusammenhang natürlich zu denken wäre,
GRÜNEN]: Manchmal nur schweigen!) dann treffen Sie die gesetzlich nicht festgelegten
Haushalte; dann treffen Sie auch die Investitions-
Das haben ja auch Sie, Graf Lambsdorff, zeitweilig seite; dann treffen Sie neben der Bundeswehr, bei
getan, obwohl Sie bekannt sind für eine sehr offene
der Sie meinen, es könnte weiter gespart werden -
und klare Sprache. Eigentlich liegt mir diese A rt des
ich glaube es nicht -, Forschungshaushalt, Verkehrs-
Gesprächs mehr als das diplomatische Verschweigen
haushalt und andere mehr. Das muß man sich gut
von Tatbeständen. überlegen. Sie haben in Ihrer freien Rede keine Ant-
Zur Mexiko-Krise. Das Management war für uns wo rt darauf gegeben, wo die Ausgabenblöcke ge-
nicht akzeptabel. Wir haben das ganz klar - nicht kürzt werden sollen. Wo ist Ihr konstruktiver Beitrag
erst jetzt, sondern bereits bei der G-7-Sitzung im Fe- zum Umbau des Sozialsystems?
bruar - zum Ausdruck gebracht. Diese Fehler wer-
(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]:
den sich nicht mehr wiederholen.
Begründete Frage!)
Anderer Meinung als Sie bin ich, was die Rolle des
Da sind Sie bisher jede Antwort, lieber Herr Metzger,
IMF insgesamt anbelangt. Er hat sicher nicht mehr
schuldig geblieben.
die Aufgaben von 1944/45. Aber der Transforma-
tionsprozeß der mittel- und osteuropäischen Länder (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
und der Nachfolgestaaten der Sowjetunion wäre
ohne den IMF und die Qualität seiner Programme Herr Kollege Spiller, Sie waren dabei, als wir im Fi-
nanzausschuß eine, wie ich meine, gute Diskussion-
nicht möglich gewesen. Ohne die 60 oder 70 An-
über Europa, Subsidiarität in Europa und den weite-
passungsprogramme des Internationalen Währungs-
fonds für die Entwicklungsländer wären diese nicht ren Fortgang des Konvergenzprogrammes bis zur
auf den Kurs von Wachstumsländern gekommen, die dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion
teilweise die Industrieländer beschämen, weil sie hatten. Sie haben auch selber Fragen gestellt. Ich
eine höhere Ersparnisbildung haben als die Indu- habe keinen einzigen Ihrer Kollegen oder auch einen
strieländer. anderen Kollegen dabei erlebt, der das, was ich do rt
gesathb,ucnrdgsweiktr
Der stellvertretende russische Ministerpräsident hätte. Niemand hat das getan, auch nicht Sie. Aber
Tschubais hat dazu erklärt, daß die Qualität der Zu- dann hinauszugehen, um mir vorzuhalten, daß das,
sammenarbeit mit dem Internationalen Währungs was ich dort gesagt habe, was dort Ihre Zustimmung
5176 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Bundesminister Dr. Theodor Waigel


gefunden hat, unbedacht sei und Schaden angerich- chen Schäden. Das ist doch geradezu abstrus. Sie,
tet hätte, was damals Ihr Fraktionsvorsitzender und Herr Spiller, haben es richtig dargestellt. Aber Ihre Ka-
Ihr Fraktionsgeschäftsführer getan haben, ist eine meraden, die nicht dabei waren, haben gemeint, sie
Doppelzüngigkeit, die ich nicht Ihnen persönlich, könnten daraus Honig für ihre parteipolitische Suppe
sondern anderen vorwerfe. gewinnen. Das ist ihnen gründlich mißlungen.
Sie wissen sehr wohl, daß ich zu unterscheiden (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
weiß, wenn ich öffentlich oder in internationalen
Gremien auftrete und was ich in internen Diskussio- Ihre Darstellung ist korrekt und fair. Ich bedanke
nen sage. Dann muß man sich entscheiden, ob in ei- mich dafür. Weil das ein guter Schluß ist, höre ich
nem Finanzausschuß oder einem Haushaltsausschuß auf.
noch eine offene, eine ehrliche, eine sachkundige Vielen Dank.
Diskussion mit Abgeordneten stattfindet
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) und der F.D.P.)
oder ob ich gezwungen werde, mich in diplomati-
schen Floskeln und in Sprechblasen zu ergehen. Ich Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat
ziehe die ehrliche, offene, sachkundige Auseinander- jetzt der Kollege Hauchler.
setzung, auch mit Abgeordneten der Opposition, vor.
(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Es ist doch al-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) les gesagt, Herr Hauchler!)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Minister, Dr. Ingomar Hauchler (SPD): Frau Präsidentin! Herr
einerseits ist die angemeldete Redezeit vorbei. Sie Finanzminister, Sie zwingen mich zum Nachsitzen,
wissen natürlich, daß Sie jederzeit länger sprechen denn Sie haben die Gelegenheit genutzt, einiges von
dürfen. Andererseits - ich weise Sie nur darauf hin - dem nachzuholen, was Sie in Ihrer Rede versäumt ha-
besteht der Wunsch bei Herrn Spiller nach einer Zwi- ben. Sie sind jetzt auf einige Punkte eingegangen, die
schenfrage. - Bitte. das inte rn ationale Finanzsystem betreffen.
Ich bin damit aber nicht zufrieden. Sie haben viele
Jörg-Otto Spiller (SPD): Herr Minister, sind Sie be- Fragen, die ich und andere gestellt haben, nicht be-
reit, zu bestätigen, daß Sie niemand in diesem Hause antwortet: die nach der Leistungsfähigkeit des Inter-
wegen Ihrer Äußerungen im Finanzausschuß kriti- nationalen Währungsfonds, ob wir genügend Reser-
siert hat? Ich habe selbst auch im Plenum bestätigt, ven haben, um Spekulationswellen begegnen zu
daß ich nicht davon ausgegangen bin, daß Sie damit können, ob wir die Finanzierung für die Entwicklung
gerechnet haben, daß Ihre Äußerungen in der nicht- der ärmsten Länder werden leisten können. Sie ha-
öffentlichen Sitzung des Finanzausschusses vergrö- ben nicht gesagt, welche Haltung die Bundesregie-
bert und verkürzt von einem Pressedienst in die Welt rung zu diesen Fragen einnehmen will. Sie haben
gesetzt werden. sich in der Sache gedrückt.
(Zuruf von der CDU/CSU: Weitergegeben Eine Sache sollten Sie wirklich einmal überprüfen:
worden sind!) Sie sollten vorsichtig sein, die Anpassungspro-
gramme des IWF, die nach der Mexiko-Krise gelau-
Aber, Herr Minister, sind Sie mit mir der Meinung,
fen sind, als Hauptleistung des Internationalen Wäh-
daß Ihr Interview, das Sie anschließend der „Bild"-
rungsfonds anzusehen. Statistiken besagen, daß es in
Zeitung gegeben haben, in Italien und in anderen
vielen dieser Länder, in denen die Anpassungspro-
Ländern Europas noch mehr Wirbel verursacht hat
gramme gelaufen sind, zu einem rasanten Herunter-
als zuvor die Äußerungen in der nichtöffentlichen
fahren der Sozialhaushalte gekommen ist, zu einem
Sitzung?
Anstieg der Arbeitslosigkeit, zu einem Zurückfallen
der Investitionsquote, der Bildungsprogramme und
Dr. Theodor Waigel, Bundesminister der Finanzen: der Gesundheitsprogramme und zu einer Steigerung
Zunächst bin ich Ihnen, Herr Kollege Spiller, aus- armutsbedingter Umweltzerstörung.
drücklich dankbar, daß Sie richtig, korrekt und fair
die Diskussion Alle Anpassungsprogramme des Internationalen
Währungsfonds zielten von Anfang an - und so wur-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU den sie weitergeführt - darauf ab, eine internationale
und der F.D.P.) Finanzkrise zu verhindern und mit allen Mitteln, die
möglich sind, und unter allem Druck der Industrie- -
und auch die Tatsache, daß ich für die Transformation
länder letzten Endes zu erreichen, daß die Entwick-
einer Äußerung keine Verantwortung trage, darge-
lungsländer zahlungskräftig bleiben. Es wurde in de-
stellt haben. Aber: In der „Bild"-Zeitung habe ich mit
ren Haushalten an Stellen geschnitten, an denen ihr
Sicherheit nichts gesagt, was zu irgendeiner Verwir- eigenes Potential zerstört wird. Das wird uns langfri-
rung beitragen könnte. Vielmehr hat - ich habe Ver-
stig schaden, Herr Minister.
ständnis dafür; es läßt mich relativ ruhig - Ihr Frakti-
onsgeschäftsführer zuvor gesagt, ich hätte damit unge- Anpassungsprogramme müssen sein. Zum Teil ha-
heuren Schaden ange richtet, der Bundeskanzler ben sie gute Früchte getragen. Aber sie müssen in
müsse mich abmahnen und das nächste Mal entlassen. Zukunft, sozial und ökologisch orientiert, flankie rt
Ihr Fraktionsvorsteher sprach von volkswirtschaftli werdn.IchbitS,serfünzut.
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5177
Dr. Ingomar Hauchler
Nicht nur die Entwicklungsländer brauchen An- ZP7 Beratung des Antrags der Abgeordneten
passungsprogramme, sondern auch die Industrielän- Dr. Dagmar Enkelmann, Dr. Winfried Wolf und
der. Da hat der Inte rn ationale Währungsfonds über- der Gruppe der PDS
haupt nichts geleistet: im Hinblick auf die Haushalts- Prüfung von Alternativen zur Magnetschwe-
defizite, im Hinblick auf die Währungsstabilisierung, bebahn
im Hinblick auf die Möglichkeit, daß die Realwirt-
schaft das weltwirtschaftliche Geschehen dominiert - Drucksache 13/2570 -
und nicht die internationalen Finanzströme über Überweisungsvorschlag:
Wechselkurse Standorte gefährden und bestimmen, Ausschuß für Verkehr (federführend)
ob Arbeitslosigkeit entsteht oder nicht. Da gibt es Rechtsausschuß
noch eine Menge zu tun. Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuß
Kommen Sie herunter von der deutschen Arro-
ganz! Wir Deutsche brauchen nach der Vereinigung ZP8 Beratung des Antrags der Abgeordneten
nicht wieder Militärphantasien und Geldarroganz. Rainder Steenblock, Albe rt Schmidt (Hitz-
Wir machen uns sonst unbeliebt in der Welt. Wir hofen), Gila Altmann (Aurich), weiterer Ab-
brauchen Freunde, wir brauchen Kooperation vom geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
Ansatz her, aber nicht ein ewiges schulmeisterliches DIE GRÜNEN
Getue auf den internationalen Konferenzen. Stopp der Vorbereitungsmaßnahmen für den
Viele Leute aus Entwicklungsländern und aus an- Transrapid und Planung einer ICE-Verbin-
deren Ländern können es manchmal nicht mehr hö- dung Hamburg-Berlin
ren. Ich kann den Kollegen Spiller verstehen, der ge- - Drucksache 13/2573 -
sagt hat, die Delegierten auf der Jahrestagung in Überweisungsvorschlag:
Washington hätten nicht nur die Hörer aufgesetzt,
Ausschuß für Verkehr (federführend)
um Ihnen intensiv zuzuhören, sondern am Schluß Finanzausschuß
auch aufgeatmet, weil sie von deutscher Arroganz Ausschuß für Wirtschaft
nichts mehr wissen wollten. Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung,
(Zuruf von der CDU/CSU: Du warst doch Technologie und Technikfolgenabschätzung
gar nicht dabei!) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für
- Ich habe alles genau verfolgt. die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgese-
hen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so be-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne schlossen.
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
und der PDS - Widerspruch bei der CDU/ Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
CSU) der Abgeordnete Dirk Fischer.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich schließe da- Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU): Frau Präsi-
mit die Aussprache und rufe die Tagesordnungs- dentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
punkte 5 a und 5 b und die Zusatzpunkte 7 und 8 auf: Die Verwirklichung der Magnetschwebebahn zwi-
schen Hamburg und Berlin verlangt konsequent die
5. a) Erste Beratung des von den Fraktionen der Schaffung der dafür notwendigen planerischen und
CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Ent- rechtlichen Voraussetzungen. Nachdem bereits in
wurfs eines Gesetzes zur Feststellung des der letzten Legislaturperiode das Magnetschwebe-
Bedarfs von Magnetschwebebahnen (Ma- bahnplanungsgesetz verabschiedet worden ist, ist es
gnetschwebebahnbedarfsgesetz - MsbG) wichtig, jetzt das Magnetschwebebahnbedarfsgesetz
und das Allgemeine Magnetschwebebahngesetz
- Drucksache 13/2345 —
ohne Verzögerung zu verabschieden.
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr (federführend) Der Transrapid erhielte dann die gleichen Chan-
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und cen wie Straße und Schiene, für die durch das Schie-
Reaktorsicherheit nenwegeausbaugesetz, das wir neu erarbeitet ha-
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO ben, und das Fernstraßenausbaugesetz, das sich be-
reits bewährt hat, die gleiche Rechtsgrundlage ge-
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der schaffen wurde. Ein entsprechendes Gesetz für die
CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Ent- Bundeswasserstraßen ist in Vorbereitung. -
wurfs eines Allgemeinen Magnetschwebe-
bahngesetzes (AMbG) Unumstrittene verkehrspolitische Vorteile des
Transrapid sind ein attraktives, schnelles Fahrlei-
- Drucksache 13/2346 —
stungsangebot, die Entlastung der Straße, die Verrin-
Überweisungsvorschlag: gerung des Flugverkehrs auf den Kurzstrecken, freie
Ausschuß für Verkehr (federführend) Kapazitäten für den wachsenden Güterverkehr auf
Rechtsausschuß bestehenden Schienenwegen, deutlich geringerer
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Energieverbrauch als im Bereich von Straße, Flugver-
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit kehr und Schiene, Entlastung der Umwelt von
Haushaltsausschuß Schadstoffen und Lärmemissionen.
5178 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Dirk Fischer (Hamburg)


Es ist schon bezeichnend, daß die Grünen gerade Der damalige Staatssekretär und heutige Ver-
bei den letzten Punkten nicht in Freude ausbrechen. kehrsminister von Schleswig-Holstein, Steinbrück,
Ich glaube, daß hier etwas bewußt nicht zur Kenntnis hat bei seinem Besuch der Versuchsanlage im Ems-
genommen wird, das durch unzweifelhafte gutach- land 1992 wörtlich gesagt:
terliche Stellungnahmen hinreichend belegt ist.
Das Land Schleswig-Holstein sieht in der geplan-
(Eckart Kuhlwein [SPD]: Es ist zweifelhaft!) ten Transrapid-Strecke positive erzielbare Verla-
gerungseffekte von der Straße auf die Schiene,
Man kann nicht den TÜV einmal gebrauchen und im
was nur möglich wird durch ein Verkehrssystem
anderen Fall den TÜV für nicht geeignet halten, Be-
wie den Transrapid, das in der Lage ist, den
gutachtungen vorzunehmen.
Schienenverkehr wirkungsvoll zu entlasten und
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge diesen damit in seiner Leistungsfähigkeit wesent-
ordneten der F.D.P.) lich zu steigern.
Auch aus diesen verkehrspolitischen Gründen ne- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
ben den arbeitsmarktpolitischen und wirtschaftspoli- Dieser Mensch dackelt nun Frau Simonis hinter-
tischen Aspekten lassen wir uns von der Realisierung her, die im Bundesrat am 20. September dieses Jah-
der Magnetschwebebahn nicht abb ringen. res, als diese Gesetzentwürfe beraten worden sind,
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU Fundamentalopposition formulieren und Transrapid
und der F.D.P.) zu einem Vorortbahnsystem degradieren zu müssen
meinte. Ich finde es schon sehr traurig, wenn dieser
„Zukunftsvorsorge im Verkehrswesen heißt Erneu- Mann wider bessere Einsicht jetzt dera rtige Positio-
ern, Weiterentwickeln und Umsetzen des erreichten nen unterstützt.
technologischen Vorsprungs in die Praxis",
Ein perfekteres Wirrwarr als innerhalb der SPD
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) kann man sich beim besten Willen nicht vorstellen.
das forde rte die SPD bereits 1984 in einem Pro- Es kommt noch hinzu, daß die SPD-Länder im Bun-
gramm, das „Forschung und Technologie für den desrat teilweise mit Nein, teilweise mit Ja abge-
Verkehr - das Konzept der SPD" hieß. Sie hat das da- stimmt oder sich teilweise enthalten haben, als diese
mals, vielleicht um einem künftigen Koalitionspart- Gesetze dort zur Beratung anstanden. Aber immer-
ner Freude zu bereiten, ganz in Grün gekleidet veröf- hin sind wir dankbar, daß die SPD-Länder zumindest
fentlicht. teilweise für eine sehr schöne Zustimmungsmehrheit
des Bundesrates bei diesen Gesetzentwürfen gesorgt
Dieses Programm „Forschung und Technologie für haben.
den Verkehr - das Konzept der SPD" wurde verant-
wortlich von dem damaligen forschungspolitischen Meine Damen und Herren, prägen Wankelmut,
Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Dr. Steger, Entschlußlosigkeit und fundamentale Abneigung bei
und dem damaligen verkehrspolitischen Sprecher der SPD das Bild, so ist das bedauerlich. Verwerflich
der SPD-Bundestagsfraktion, Klaus Daubertshäuser, und bodenlos unfair ist die Strategie des BÜNDNIS-
der Öffentlichkeit vorgestellt. SES 90/DIE GRÜNEN zum Thema Transrapid. Völlig
bewußt werden schwarze Zahlen,
Ich meine, es spricht für sich, daß man diese Dinge
heute nicht mehr wahrhaben will. (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
- falsche Zahlen über die Baukosten für die Transra-
Da muß ich gar nicht den damaligen Verkehrsmini- pid-Verbindung Berlin-Hamburg veröffentlicht. Da
ster Georg Leber bemühen, der im Jahr 1971 von ei- spricht man von 9,6 Milliarden DM für die Strecken-
nem historischen Moment gesprochen hat, als er das investitionen und hat fälschlicherweise die Investitio-
erste Magnetbahnprinzipfahrzeug in Bet rieb genom- nen für den Bet rieb und für den Fahrweg zusammen-
men hat. gezählt - eine wirklich schlimme Geschichte -, nur
um populistisch Proteststimmen zu mobilisieren.
Damals herrschte in den Kabinetten Brandt und
Schmidt große Begeisterung für die neue Technik. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Ehmke, Matthöfer, Hauff und von Bülow forderten
fasziniert sowohl von der Technik als auch von den Richtig ist, daß nach wie vor rund 5,6 Milliarden DM
künftigen Einsatzmöglichkeiten dieser Technologie auf die Investitionen für den Fahrweg entfallen.
ohne Wankelmut und Technologiefeindlichkeit den Falsche Angaben zum Fahrweg, falsche Behaup-
Transrapid. Sie sagten: Wir brauchen ihn, um auch tungen über die Umsteigebeziehungen werden in -
für den Höchstgeschwindigkeitspersonenverkehr die Welt gesetzt. Richtig ist, daß die Zentren Berlin
eine Alternative für das nächste Jahrtausend zu ha- und Hamburg mit einer Fahrzeit von unter 60 Mi-
ben. nuten verbunden werden sollen. Falsch ist auch die
Völlig widersprüchlich, konfus und unfähig, auch Behauptung, der Bund würde das Betriebsrisiko der
Betreibergesellschaft in weiten Teilen übernehmen.
nur eine halbwegs klare Position zum Transrapid ein-
zunehmen, zeigt sich die SPD heute. Rudolf Schar- Richtig ist, daß das Betriebsrisiko einzig und allein
der Privatwirtschaft überantwortet ist.
ping ist offenbar überfordert, klare Verhältnisse für
diese zukunftsweisende Technologie in seiner Partei (Eckart Kuhlwein [SPD]: Das ist nicht wahr!
herzustellen. - Elke Ferner [SPD]: Wo steht das denn?)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5179
Dirk Fischer (Hamburg)
Völlig irreführend ist die Idee der Grünen, der ICE- Eine Erprobung des Transrapid unter Echtbedin-
Ausbau der Strecke Hamburg-Uelzen-Stendal-Ber- gungen ... kann durchaus sinnvoll sein für eine
lin könne eine gleichwertige Alternative sein. Richtig technische und bet riebswirtschaftliche Optimie-
ist, daß mit dem alleinigen Ausbau des Abschnittes rung des Systems. Das wird nicht bestritten.
Uelzen-Stendal auf ICE-Standard das Problem kei-
nesfalls gelöst wird. Das sagte unser Kollege Klaus Daubertshäuser an
dieser Stelle am 10. März 1994. Dafür kann aber nur
Ich könnte weitere Investitionen in Höhe von etwa eine Strecke in Frage kommen, die verkehrspolitisch,
2 bis 3 Milliarden DM aufzählen, die Sie unterschla- finanzpolitisch und auch industriepolitisch einen
gen haben und die Sie mit der Behauptung, die Maß- Sinn macht.
nahmen würden nur 800 Millionen DM kosten, weit (Beifall bei der SPD)
unterschätzt haben.
Es geht heute um zwei Fragen. Erstens. Besteht
(Eckart Kuhlwein [SPD]: Ist immer noch bil Bedarf für eine 285 km lange Referenzstrecke von
liger als der Transrapid!) Hamburg nach Berlin, die allein für den Bau minde-
stens 5,6 Milliarden DM verschlingt und die parallel
zu einer Schienenverbindung verläuft, die als Pro-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Leider, Herr Kol- jekt 2 „Deutsche Einheit" zu einer 2-Stunden-l1-Mi-
lege, ist Ihre Redezeit abgelaufen. nuten-Verbindung von Stadtzentrum zu Stadtzen-
trum ausgebaut wird?
Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU): Ich komme Zweitens geht es um die Frage: Ist unter den Rah-
zum Schluß. menbedingungen des Bundeshaushaltes dieses Pro-
Dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN scheinen der jekt bezahlbar, oder wird hier ein neues Milliarden-
Wirtschaftsstandort Deutschland, neue Exportmög- grab geschaufelt?
lichkeiten und zukunftsträchtige Arbeitsplätze (Zuruf von der CDU/CSU: Nein!)
gleichgültig zu sein. Hier sind, bei Lichte besehen,
die Totengräber für die deutsche Wirtschaft, den Ar- Der Gesetzentwurf bestätigt leider alle Befürchtun-
beitsmarkt, den Wohlstand und die künftige umwelt- gen. Der Transrapid von Hamburg nach Berlin wird
gerechte Mobilität am Werk. auf Dauer im europäischen Hochgeschwindigkeits-
netz Schiene eine inkompatible Insellösung darstel-
An dieser Stelle sind alle, die vernünftig sind, auf- len.
gerufen, dafür zu sorgen, daß diese Technologie bei
uns zur Anwendung kommen kann. Wenn sie im (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Wer sagt
Jahr 2005 in Betrieb genommen wird, dann will am das denn?)
Ende möglicherweise niemand mehr dagegen gewe- Er ist deshalb ein verkehrspolitischer Fremdkörper.
sen sein.
Das Finanzierungskonzept für diese Strecke ist
Ich bitte nach anständiger Ausschußberatung um aus finanz- und haushaltspolitischen Gründen vor
Zustimmung zu diesen Gesetzentwürfen. dem Steuerzahler nicht vertretbar.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Sehr gut!)
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat Die Gesamtentscheidung ist indust rie- und stand-
jetzt die Abgeordnete Elke Ferner. ortpolitisch absurd.
Das Ergebnis ist: Für den Transrapid zwischen
Elke Ferner (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolle- Hamburg und Berlin besteht absolut kein Bedarf.
gen! Liebe Kolleginnen! Ich muß schon sagen, Kol-
lege Fischer, von Ihnen habe ich schon bessere Re- (Zuruf von der F.D.P.: Das eben nicht!)
den gehört, Alle Gesamtverkehrsprognosen gehen von einem
(Ernst Schwanhold [SPD]: Aber selten!) weiteren Wachstum der Verkehrsleistung aus, insbe-
sondere im Güterverkehr.
die sachlicher waren und die nicht nur mit uralten Zi-
Was wir deshalb brauchen, sind Strategien zur
taten gespickt waren. Sie negieren völlig, daß wir im
Verkehrsvermeidung, zur Verlagerung des Güter-
Gegensatz zu Ihnen dazugelernt haben und mittler-
weile zu anderen Schlüssen gekommen sind. und Personenverkehrs auf die Schiene und eine um-
weltverträgliche Abwicklung des verbleibenden -
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Straßenverkehrs.
DIE GRÜNEN)
Was trägt die Bundesregierung dazu bei?
Es geht heute nicht um das Für und Wider der Ma-
gnetschwebetechnik. Diese Frage hat meine Frak- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin,
tion in der letzten Wahlperiode hinreichend beant- gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten
wortet. Börnsen?
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
Wie denn?) Elke Ferner (SPD): Ja, gerne.
5180 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Frau ren Wahlkreisen erzählen: Das Projekt ist wichtig, I
Kollegin, Sie behaupten, daß für die Strecke Ham- das kommt sofort. Gemacht wird es nicht, weil
burg-Berlin kein Bedarf besteht. Wie bringen Sie 2,3 Milliarden DM weniger zur Streckung oder zum
Ihre Behauptung überein mit dem Standpunkt der Nichtbau von Schienenprojekten führen werden.
Hansestadt Hamburg wie auch des Bundeslandes
Hessen, die sich beide vehement für die Durchset- (Zuruf von der F.D.P.: Woran liegt das
zung der Referenzstrecke ausgesprochen haben und denn?)
deutlich machen, daß es die idealste Strecke unter al- Ihre Kürzungsentscheidungen verstecken Sie hin-
len möglichen Varianten ist? ter dem Vorwand leerer Kassen. Ich sage bewußt
„Vorwand"; denn wenn für den mindestens
5,6 Milliarden DM teuren Transrapid Geld da ist,
Elke Ferner (SPD): Ich werde nachher noch etwas kann es nur ein Vorwand sein. Es ist offensichtlich
zum Bundesrat sagen, Herr Kollege Börnsen. Im übri- Geld da, und dann braucht man im Schienenbereich
gen hat das Land Hessen, in dem die Grünen in der nicht zu kürzen.
Regierung sind - das haben Sie richtigerweise ge-
sagt -, dem Antrag im Bundesrat zugestimmt und ihn Sie wollen eine Entscheidung, die den Bundes-
nicht abgelehnt. haushalt unwiderruflich mit nicht absehbaren Risi-
ken belastet: 1997 mit einer halben Milliarde DM,
Es gibt allerdings noch einen Zusatz, den der Bun- 1998 mit 843 Millionen DM, 1999 und 2000 mit je-
desrat beschlossen hat und den ich in meiner Rede weils über 1 Milliarde DM.
nachher noch vortragen will. Das bedeutet: Bei einem gesamten Schieneninve-
stitionsetat von 4 Milliarden DM im Jahr soll 1 Mil-
Ich behaupte zunächst einmal, daß es Ländern, die liarde DM für ein einziges Projekt bereitgestellt wer-
von dieser Verbindung profitieren und die eine den, durch das bis 2005 überhaupt kein verkehrspoli-
schnelle Verbindung haben wollen, zunächst einmal tischer Beitrag geleistet werden wird. Die üblichen
egal ist, ob das Transportmittel Transrapid oder ICE Preissteigerungen kalkulieren Sie noch nicht einmal
heißt, wenn in ähnlicher Zeit ein.
(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Fahr Was passiert aber dann? Für Schiene und Straße
rad!) gibt es gesetzliche Regelungen, mit denen im Falle
knapper werdender Mittel haushaltsmäßige Reißlei-
- Herr Kollege, seien Sie doch einmal sachlich - eine nen gezogen werden können. Für den Transrapid gilt
solche Verbindung auch über die Rad-Schiene-Tech- das nicht. Künftig soll der Transrapid weitgehende
nik herzustellen wäre. Privilegien vor allen anderen Verkehrsträgern genie-
ßen. Alle Verkehrsinfrastrukturplanungen können
(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das ist nur nach Maßgabe der „zur Verfügung stehenden
aber nicht so!) Mittel" realisie rt werden; für den Transrapid wollen
Sie das nicht. Sie wollen auch keine Instrumente zur
Wenn die Länder aber aus eigener Tasche nichts Kontrolle des Ausbaufortschrittes wie die Berichts-
dazuzahlen müssen, wie sie glauben - ich werde Ih- pflicht des Ministers bzw. eine „regelmäßige 'O ber-
nen nachher noch beweisen, daß das sehr wohl zu prüfung des Bedarfs" an Hand der „zwischenzeitlich
Lasten der Länder geht -, muß ich sagen, ist es nichts eingetretenen Wirtschafts- und Verkehrsentwick-
anderes als Kirchtumspolitik. Davon kann man keine lung" .
Landesregierung freisprechen, egal ob sie rot, grün,
schwarz oder sonstwie aussieht. Das ist nun einmal Die Bahn ist bei zinslosen Investitionsdarlehen so-
so, Herr Kollege Börnsen, und das wissen Sie ge- gar zu Leistungen an den Bund in Höhe von jähr-
nauso gut wie ich. lichen Abschreibungen gesetzlich verpflichtet. Beim
Transrapid wollen Sie mit irgendeinem Betreiber
(Beifall bei der SPD) irgendwann irgendeine Vereinbarung treffen. Das ist
Ihr Konzept für den Transrapid. Das ist nicht nur
Ich habe gefragt: Was tut die Bundesregierung für unverantwo rt lich, sondern Sie trauen offenbar auch
die Zukunft unseres Verkehrssystems? Ihren eigenen Prognosen über den finanziellen Er-
folg des Projekts selbst nicht mehr.
(Zuruf von der F.D.P.: Sehr viel!) Im Klartext heißt das: Nur weil Sie den Transrapid
auf Biegen oder Brechen auf dieser Relation wollen,
- Ja, sie kürzt gegenüber den bisherigen Planungen wird p ri vaten Investoren die Tür zum Bundeshaus--
die Mittel für Schieneninvestitionen um 16 Mil- halt weit geöffnet. Diese Investitionen sollen ohne
liarden DM für die Jahre 1996 bis 1999. Rücksicht auf die Situation künftiger Bundeshaus-
halte durchgepeitscht werden: rund 60 % zu Lasten
Schon im nächsten Jahr werden die Investitionen des Verkehrshaushalts, Herr Kollege Börnsen, und
für das Schienennetz gegenüber heute um knapp 40 % zu Lasten der übrigen Investitionshaus-
2,3 Milliarden DM gekürzt. Welche Schienenprojekte halte.
dabei auf der Strecke bleiben, Herr Wissmann, hüten
Sie wie ein Staatsgeheimnis, weil Sie den Menschen Nur weil Sie den Transrapid bauen wollen, gibt es
vor Ort bisher immer etwas anderes erzählt haben, weniger oder keine neuen Ortsumgehungen, Ein-
inklusive aller Kolleginnen und Kollegen, die in ih- schnitte beim Schienenbau, weniger Geld für den
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5181
Elke Ferner
Wohnungs- und Hochschulbau sowie Kürzungen bei Wenn das Transrapid-Projekt schiefgeht, soll die
den Forschungs- und Umweltinvestitionen. Diese Bahn auch noch mit für Verluste einstehen. Das,
Kürzungen, liebe Kolleginnen und Kollegen, betref- liebe Kolleginnen und Kollegen, ist nun wahrlich
fen alle investiven Bereiche des Bundeshaushalts eine Perversion der Bahnreform.
und gehen zu Lasten der Länder, der alten wie der
neuen, auch zu Lasten des Landes Berlin. (Beifall bei der SPD)
Sie verschleudern Milliarden von Steuergeldern,
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
wenn nicht alle Bestfallannahmen eintreffen. Norma-
In Ihrem eigenen Finanzierungskonzept aus der lerweise rechnet ein guter Kaufmann mit dem „worst
12. Wahlperiode sagen Sie: „Die Kostenrisiken für case" und nicht mit dem „best case". Da sollten Sie
den Bundeshaushalt sind zur Zeit zahlenmäßig nicht sich vielleicht noch einmal überlegen, ob Sie auf dem
abschätzbar." Ich ergänze: Diese Risiken sind weder richtigen Wege sind.
jetzt noch zukünftig vertretbar. Sie erweisen damit auch der Industrie einen Bären-
dienst. Ein Verkehrssystem, das allein für den Bau
Auch der Bundesrat hat erhebliche Zweifel an der 5,6 Milliarden DM kostet, nicht vor zehn Jahren in
Wirtschaftlichkeit. Bei aller Kirchturmpolitik in dieser Betri eb geht und auf unabsehbare Zeit am öffentli-
Frage hat er empfohlen, den § 2 wie folgt zu ändern: chen Tropf hängt, ist für keinen potentiellen Kunden
„Die Betriebslasten sind nicht aus öffentlichen Mit- attraktiv.
teln zu finanzieren. "
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
Die alten Planannahmen für dieses Projekt ent- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
sprechen nämlich mehr Ihrem Wunschdenken als be- und der PDS)
triebswirtschaftlicher Kalkulation: Da geistern immer
noch Fahrgastprognosen von 14 Millionen Passagie- Meine Fraktion hat deshalb von Anfang an ein ab-
ren jährlich herum; das sind 1 600 Passagiere jede gespecktes, überwiegend privat finanzierbares Pro-
Stunde bei Tag und bei Nacht. Bei der Vorstellung, jekt auf einer kürzeren Strecke befürwortet. Sie hin-
wie 1 600 Leute auf einem Bahnsteig stehen und war- gegen vernachlässigen die Märkte und die Weiter-
ten und ein- und aussteigen, kann ich nur sagen: entwicklung der Rad-Schiene-Technik und damit
Viel Vergnügen! In den Spitzenzeiten werden es ja die Sicherung und Neuschaffung von Arbeitsplätzen.
dann wohl noch mehr sein. Industriepolitisch geht es nicht darum, ob unter
irgendwelchen Extrembedingungen und mit hohem
(Vorsitz : Vizepräsident Dr. Burkhard finanziellem Aufwand Höchstgeschwindigkeiten
Hirsch) technisch realisie rt werden können. Entscheidend
wird allein sein, ob sie auch wirtschaftlich machbar
Solche Annahmen sind einfach lächerlich. Eine sind.
Ameisenwanderung zwischen Hamburg und Berlin
wäre ein Klacks dagegen. Die Strecke Hamburg-Berlin erfüllt diese Voraus-
setzungen nicht. Ein ICE-Ausbau, wie wir ihn schon
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne beim Bundesverkehrswegeplan gefordert haben,
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN macht verkehrspolitisch und wirtschaftlich mehr
und der PDS) Sinn.

Bis zur Stunde zögert die Bahn AG, sich an der ge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
planten Betriebsgesellschaft zu beteiligen. Nachdem ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
die Lufthansa definitiv nein gesagt hat, soll die Bahn Nur weil Sie den Transrapid bauen, wird im ICE-
jetzt 300 Millionen DM beisteuern. Netz auf Dauer bei der Strecke Hamburg-Berlin eine
große Lücke klaffen. Sie sehen hier Hamburg-Berlin,
(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist eine fal und die Eisenbahn fährt in der Hochgeschwindig-
sche Behauptung!)
keitsphase schön drumherum.
Sie verlangt dafür zu Recht eine Kompensation, weil Offensichtlich ist Ihnen, meine Damen und Herren
die Fahrgäste des Transrapid der Bahn fehlen wer- in der Koalition - das kann man zum Schluß wirk lich
den. sagen -, der Realitätssinn völlig abhanden gekom-
men, zumindest in bezug auf die Zahlen des Bundes-
Sie verlangen von der Bahn, sich selbst Konkur- haushaltes. Sie tragen damit die Verantwortung für
renz zu machen, und hängen ihr den Transrapid als eine neue Investitionsruine.
Klotz ans Bein, weil das Engagement der Bahn für -
die Privatindustrie unverzichtbar ist. Warum denn (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
eigentlich? Sachverstand und Planungs-Know-how DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
ließen sich doch wohl auch einkaufen. Nein, die PDS)
privaten Investoren wissen nur zu genau, daß das
Transrapid-Projekt gestorben wäre, bevor es ange-
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile dem
fangen hat, wenn die Bahn auf der Relation Ham-
Abgeordneten Rainder Steenblock das Wo rt .
burg-Berlin selbst ein gutes Angebot gewährleistete.

(Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
DIE GRÜNEN) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
5182 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Rainder Steenblock
Herren! Lieber Kollege Fischer, wenn man sich Ihre - Ja, ja. Das ist festgelegt. Aber diese Festlegung
Rede gerade anhören mußte, dann weiß man gar schauen Sie sich einmal an! Das würde kein Kauf-
nicht, ob man Ihnen Borniertheit, Unkenntnis oder mann unterschreiben.
Naivität vorwerfen soll oder schlicht und einfach bös-
Diese 2,4 Milliarden DM erhöhen sich nach Anga-
artige Demagogie, die Sie hier soeben haben walten
ben der Betreibergesellschaft mit den Bauzeitzinsen
lassen. Ich will zu Ihren Gunsten annehmen, daß Ihre
und sonstigen Kosten, die hinzukommen, auf
Ausführungen von keiner großen Kenntnis getrübt
3,7 Milliarden DM. Die übrigbleibenden 3,2 Mil-
worden sind, weil das ein Zustand ist, den man behe-
liarden DM erhöhen sich - ich mache es kurz - auf
ben kann.
4,5 Milliarden DM, auch nach Angaben der Betrei-
Ich möchte abweichend von dem, was ich mir bergesellschaft.
eigentlich vorgenommen habe, versuchen, Ihnen zu
Wenn Sie das einmal zusammenrechnen, kommen
sagen, was gerade die finanzpolitischen Bedenken Sie auf 13 Milliarden DM, die die Magnetschwebe-
bei diesem Konzept sind. Ihre Ausführungen zeigen
bahn-Planungsgesellschaft als Kosten nach dem
deutlich, warum der Finanzminister dieses Landes
Preisstand von 1993 schon heute zugrunde legt.
mit dem Rücken zur Wand steht, wenn Sie so leicht-
fertig mit Steuergeldern umgehen, wie Sie das bei (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: So
diesem Projekt wieder vorhaben. ist es!)
Die Kosten für den Transrapid - wir haben nie Nicht berücksichtigt, lieber Herr Fischer, sind da-
etwas anderes behauptet - liegen nach Angaben der bei die zusätzlichen Kosten, die durch eine Anbin-
Betreibergesellschaft und der Magnetschwebebahn dung in die Innenstädte von Hamburg und Berlin
Planungsgesellschaft ungefähr bei 9 Milliarden DM. entstehen werden. Weil es dafür noch keine Trassen
Diese Summe setzt sich zusammen aus 5,6 Milliarden gibt, sind auch noch keine Berechnungsgrundlagen
DM, die der Bund zu tragen hat, und 3,3 Milliarden vorhanden. Diese Kosten kommen dazu.
DM, die die Betreibergesellschaft trägt.
(Zuruf von der F.D.P.: Das ist ein ausge-
(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Sie machter Stuß!)
behaupten, das sind Fahrweginvestitionen! Nicht berücksichtigt sind die gesamten Infrastruk-
So ein Unsinn!) turkosten, wenn, wie beim Transrapid beabsichtigt,
- Seien Sie einmal ganz ruhig, Herr Fischer! Es geht 50 % des Zubringerverkehrs mit dem Auto erzielt
weiter. werden sollen. Das ist Berechnungsgrundlage auch
der Planungsgesellschaft. Für die sieben Millionen
(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Kön Autofahrer, die zu den Transrapid-Bahnhöfen, und
nen Sie Fahrweg und Rollmaterial unter zwar nicht in die Hamburger City und nicht in die
scheiden?) Berliner City, sondern zu den Vorortbahnhöfen in
Hamburg-Billwerder und in Berlin-Westkreuz, fah-
- Ich kann Fahrweg und Rollmaterial unterscheiden.
Sie wissen vielleicht, was Fahrweg beim Transrapid ren sollen,
bedeutet. Das ist nämlich etwas anderes als eine (Horst Friedrich [F.D.P.]: Das ist doch
Schienenstrecke. Dahinter steht eine ganz andere schlicht falsch!)
Technologie.
brauchen Sie Infrastruktureinrichtungen, brauchen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Sie Riesenparkplätze, wenn Sie diese Bestfallannah-
Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Dann men überhaupt erfüllen wollen.
dürfen Sie auch nicht zusammenrechnen!)
Lieber Herr Wissmann, Sie wissen ganz genau:
- Herr Kollege Fischer, hören Sie jetzt einfach einmal Wenn Sie diese Infrastrukturleistung nicht erreichen
zu. Sonst lasse ich Sie eine Zwischenfrage stellen; - das sagen auch die Planer in ihrem Gutachten -,
das können Sie gerne machen. Dann geht das nicht dann wird ein anderer Fall eintreten. Wenn es näm-
von meiner Redezeit ab. lich zu Staus kommt, wird die Sache unattraktiv
werden. Dann sinkt die Zahl der Benutzer von
Es geht um 3,3 Milliarden DM Investitionen der 14,5 Millionen nach der Bestfallannahme auf
Betreibergesellschaft. Nach Aussagen der Betrei- 9,2 Millionen.
bergesellschaft kommen noch sonstige Kosten hinzu.
Mit den Bauzeitzinsen und sonstigen Kosten erhöht
sich diese Summe auf 4,8 Milliarden DM nach offi- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege,
zieller Mitteilung der Betreibergesellschaft. gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen F ried-
rich? -
(Horst Friedrich [F.D.P.]: Wer zahlt sie denn?)
- Ich komme gleich darauf zurück. Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ja.
Die Kosten von 5,6 Milliarden DM, die der Bund
tragen soll, werden aufgesplittet, u. a. in einen
2,4 Milliarden-DM-Kredit, der am Sankt-Nimmer- Horst Friedrich (F.D.P.): Herr Kollege Steenblock,
leins-Tag zurückgezahlt werden soll. ist Ihnen entgangen, daß die Betriebsgesellschaft für
die Magnetschwebebahn Berlin-Hamburg nach Ih-
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: rem Interview festgestellt hat, daß die Magnetschwe-
Festgelegt ist das!) bebahn von Hamburg-Hauptbahnhof zu den großen
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5183
Horst Friedrich
Berliner Bahnhöfen, entweder Papenstraße oder Hier ist eine Zwischenfrage gestellt worden. Diese
Lehrter Bahnhof, geht, und daß Ihre Meinung, die Zwischenfrage wird beantwortet. So lange halte ich
Anbindung würde in Billwerder oder irgendwo am die Uhr an. Aber wenn Sie dauernd dazwischen-
Stadtrand stattfinden, deswegen einfach falsch ist? rufen, so daß der Redner nicht antworten kann,
Sind Sie bereit, diese Aussage der Magnetschwebe- werde ich die Redezeit verlängern. Ich bitte, das zur
bahngesellschaft zu akzeptieren, oder negieren Sie Kenntnis zu nehmen.
das weiterhin?
Bitte, Herr Steenblock, fahren Sie fo rt .

Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):


Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Kollege Friedrich, ich danke Ihnen für diese Ich glaube, es ist klargeworden, Herr F riedrich, daß
Zwischenfrage. Sie macht deutlich, wie wenig Sie zu- die Kosten in diesem Bereich nicht kalkuliert sind.
hören. Ich habe gerade gesagt: Bei einer Anbindung
der Zentren geht die Magnetschwebebahn-Pla- Der Kollege Fischer hat gesagt - ich muß das jetzt
nungsgesellschaft davon aus, daß sieben Millionen ein bißchen abkürzen -: Die Risiken trägt die deut-
Menschen mit dem Auto kommen müssen. 50 % der sche Industrie. Ich lese Ihnen mal einen Paragraphen
Benutzer müssen mit dem Auto kommen; das sind aus den Finanzvereinbarungen vor:
Bestfallannahmen, nicht meine Annahmen.
Risiken, die sich im Zusammenhang mit öffent-
(Horst Friedrich [F.D.P.]: Woher nehmen Sie lich-rechtlichen --
denn diese Annahmen? Aus dem Märchen
buch?)
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Eine Sekunde,
- Nein, gucken Sie sich doch mal die Planungsfälle Herr Steenblock. - Herr F riedrich, es handelt sich um
an, die da aufgeschrieben sind, lieber Herr F riedrich! die Beantwortung Ihrer Frage. Hier ist es üblich, daß
man die Antwort stehend entgegennimmt.
(Joseph Fischer [Frankfu rt ] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Meine Güte! Lesen Sie Ihre (Zuruf Horst F riedrich [F.D.P.] - Joseph Fi-
Papiere mit dem Hintern oder - -?) scher [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Herr F ri edrich, stellen Sie sich gefäl-
Bleiben Sie mal stehen, Herr F riedrich, ich möchte ligst gerade hin!)
Ihnen das jetzt gern noch zu Ende erzählen.
Herr Steenblock, Sie haben das Wo rt .
Also: Zusätzlich müssen gebaut werden die bisher
noch völlig unkalkulierten Anbindungen Lehrter Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Bahnhof oder Papenstraße und Hamburg-Haupt- Ich werde das jetzt noch einmal vorlesen, um die
bahnhof. Es gibt überhaupt noch keine Berechnun- Risikobereitschaft der deutschen Industrie deutlich
gen, was das kostet. Das kommt zu den 13 Milliarden zu machen. In den Finanzvereinbarungen heißt es:
DM hinzu.
Risiken, die sich im Zusammenhang mit öffent-
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: lich-rechtlichen Genehmigungsverfahren, mit
Die gibt es schon!) der Zurverfügungstellung von Grund und Boden
und aus höherer Gewalt ergeben, liegen bei der
- Nein, die gibt es nicht. Die wissen ja überhaupt öffentlichen Hand.
noch nicht, wohin sie wollen. Wie sollen sie dann die
Trassenkosten berechnen? Das ist doch völliger Un- (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
sinn, was Sie hier dazwischenreden, Herr Börnsen! Hört, Hört!)
Herr Friedrich, jetzt sind Sie dran. Diese Bahnhöfe, Durch Verzögerungen im Planfeststellungs- oder
die zusätzlich zum Hauptbahnhof in Hamburg und Genehmigungsverfahren verursachte zusätzliche
zum Lehrter Bahnhof oder zum Bahnhof Papenstraße Kosten sind von der öffentlichen Hand zu tragen.
in Berlin gebaut werden müssen, weil der Zubringer-
verkehr mit dem Auto gebraucht wird, und die am Das, was hier an Versorgungsmentalität der großen
Westkreuz in Berlin und im Hamburger Umland ge- Unternehmen
baut werden sollen - - (Joseph Fischer [Frankfu rt ] [BÜNDNIS 90/
(Unruhe) DIE GRÜNEN]: Da hört er nicht mehr zu!)
deutlich wird, ist das, was den Wi rt schaftsstando rt -
Deutschlandgfär.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege
Steenblock, einen Augenblick, bitte. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Meine Kollegen, wenn Sie den Redner nicht reden der PDS)
lassen, werde ich seine Redezeit verlängern. So geht
das nicht! Die Risikobereitschaft eines Amtsschimmels ist si-
cherlich sehr viel größer und eher mit einem Renn-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ pferd zu vergleichen als das, was die Indust rie an
DIE GRÜNEN) dieser Stelle macht.
5184 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Rainder Steenblock
Ich möchte noch eine Sache kurz darstellen, um Haben Sie diese Bedenken auch Ihren Kollegen in
auch dieses Finanzgebaren deutlich zu machen. Die Hessen mitgeteilt, die ja im Bundesrat zweimal - ein-
deutsche Industrie beteiligt sich an diesem minde- mal hat sich ja Ihr Kollege Fischer klammheimlich
stens 13 Milliarden DM teuren, vielleicht aber sehr dort versteckt - dem zugestimmt haben? Treffen
viel teureren Projekt mit der gigantischen Summe denn diese Argumente Ihren Kollegen in Hessen ge-
von 500 Millionen DM, die Banken noch einmal zu- genüber nicht zu?
sätzlich mit 200 Millionen DM, und sie brauchen eine
Risikoabsicherung.
Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Der Vorschlag, den sie sich ausgedacht haben, ist Herr Börnsen, ich will Ihnen einmal sagen, was ich
folgender: Die Magnetschwebebahn ist eine Insel- den Kollegen in Hessen zu sagen versucht habe bzw.
technologie. Das weiß jeder. Da denkt man natürlich gesagt habe: Liebe Leute, der Transrapid wird als
auch an Inselförderung. Es wird also vorgeschlagen, Hochtechnologie gehandelt. Völlig unbest ritten ist
die alte Berlinförderung wieder aus dem Kasten zu aber, daß die Montage des Fahrweges unklar ist,
ziehen. Bei Investitionen der Indust rie soll es eine weil es überhaupt noch keine Schrauben gibt, die
zwanzigprozentige Absetzbarkeit der Kapitalkosten den Druck aushalten. Sie brechen in der Versuchsan-
nach dem Modell der Berlinförderung aus der Zeit lage ständig ab. Die Planungsgesellschaft oder die
geben, als Berlin nicht konkurrenzfähig war. Überle- Betreiber haben zugegeben, daß sie es vom Mate rial
gen Sie einmal, was das für die ökonomische Beurtei- her nicht hinkriegen. Sie bauen diesen Fahrweg nun
lung dieses Projekts bedeutet. Wenn Sie sich auf die- so, daß sie immer den doppelten Schraubensatz be-
ses Fördermodell für Berlin - das aus guten Gründen nutzen, nicht weil diese Fahrwegsmontage dann
eine ganze Zeitlang als Standort nicht konkurrenzfä- hält, sondern nur, weil dann die Reparaturtrupps
hig war - bei der Transrapidförderung beziehen, schnell genug da sind, um diese Schrauben tatsäch-
dann sagt das alles über die ökonomische Qualität lich wieder ersetzen zu können.
dieses Projekts aus. Das zeigt nicht nur, daß die Befürworter dieses Sy-
stems ab und zu einmal eine Schraube locker haben,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der SPD und der PDS) (Beifall des Abg. Joseph Fischer [Frankfu rt ]
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Wir haben Alternativen dazu vorgelegt. Wir haben
auch deutlich gemacht, daß der Transrapid - Frau sondern zeigt auch, daß die technische Qualität die-
Ferner hat es angesprochen - Investitionshemmnis ses Systems hochbrisant ist.
Nummer eins werden wird, weil er Haushaltslöcher Ich habe den Hessen noch etwas anderes gesagt:
aufreißt und eine Technologie ist, die in diesem Be- Liebe Leute, wenn ihr das System unterstützen wollt,
reich eher hinterwäldlerisch ist. Das, was Herr Fi- dann schaut euch doch auch einmal die zentralen
scher gesagt hat, hätte er 1937 zur Patentanmeldung ökologischen Kriterien an, die immer genannt wer-
des Transrapids oder der Magnetschwebebahn sa- den: Lärm, Energie. Die Untersuchungen, auch die
gen müssen. So alt ist mittlerweile die Technologie, offiziellen Untersuchungen der MVP, sagen, daß bei
und sie hat sich nirgendwo auf der Welt durchge- einer typischen, systembedingten Geschwindigkeit
setzt. des ICE, und zwar des ICE der ersten Generation,
nicht des neuen, der Lärm 83 Dezibel beträgt, und
Deshalb: Setzen Sie auf die Rad-Schiene-Technik! zwar bei seiner typischen Betriebsgeschwindigkeit.
Das ist eine Technik, die Sie exportieren können, das Das steht in den Unterlagen der Magnetschwebe-
ist eine Technik, mit der Sie eine schnelle Anbindung bahn-Planungsgesellschaft.
bekommen, und das ist eine Technik, mit der hier in
Deutschland zukunftssicher Arbeitsplätze geschaffen Bei einem ICE, lieber Herr Börnsen - ich sage Ih-
werden können. nen doch nur, was ich den Hessen gesagt habe -, be-
trägt die systembedingte Lärmemission 93 Dezibel,
10 Dezibel mehr. Das entspricht einer Verdoppelung
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege des Lärms.
Steenblock, gestatten Sie eine weitere Zwischen-
frage? Bei einer Systemgeschwindigkeit des ICE der er-
sten Generation beträgt der Energieverbrauch pro
Sitzplatz 78 Wattstunden. Bei dem Transrapid mit 400
Stundenkilometern, so wie er jetzt geplant ist, be-
Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
trägt der Energieverbrauch pro Sitzplatz 150 bis
Ja.
160 Wattstunden. Das heißt: Dieser ICE ist im Nor-
malbetrieb doppelt so laut und verbraucht doppelt so
viel Energie wie ein ICE der alten Generation.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Bitte schön,
Herr Kollege. Wenn Sie versuchen, den ICE technisch zu opti-
mieren, kommen Sie auf sehr viel geringere Werte.
Wenn Sie zudem beachten, daß der Transrapid nach
Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Herr Angaben der Planungsgesellschaft über 400 Ki-
Kollege Steenblock, Sie haben ja nun in aller Schärfe lometer pro Stunde fährt - das habe ich den Hessen
deutlich zu machen versucht, wo die Schwachpunkte gesagt -, nämlich 430 Kilometer, dann kommen wir
dieser Strecke und auch des Systems liegen. bei der Lärmemission - -
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5185

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege Der Individualverkehr in unserem Land stößt an
Steenblock, bei aller Liebe zur Sache: Sie müssen seine Grenzen, das Mobilitätsbedürfnis aber wächst
jetzt zum Schluß kommen. weiter. Nur mit neuen, über die bisherigen Maßstäbe
hinausgehenden Lösungen können wir dieses Pro-
Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): blem bewältigen.
Dann bekommen wir eine Tieffliegerlärmemission. Es gibt keine bahntechnische Alternative zum
Die hessischen Grünen haben deshalb gesagt: Wir Transrapid. Die Rad-Schiene-Technik der Eisenbahn
als Grüne lehnen dieses Projekt ab. Das tun auch wir hat den Endpunkt ihrer Evolution erreicht. Mit dem
im Bundestag. Wir haben eine Alte rnative. Transrapid ist ein innovativer Verkehrsträger ent-
standen, der in allen Eigenschaften und technischen
Ich bitte Sie im Interesse der Finanzen dieses Lan- Daten der bisherigen Bahn-Spitzentechnologie über-
des und der Exportorientierung unserer Wi rtschaft, legen ist.
dem zuzustimmen.
Es gibt keinen umweltfreundlicheren Verkehrsträ-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, ger.
bei der SPD und der PDS)
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile dem Der Fahrweg des Transrapid verbraucht, gleichgül-
Abgeordneten Dr. Klaus Röhl das Wo rt . tig, ob aufgeständert oder ebenerdig, weniger Fläche
als die Fahrwege des ICE und des IC. Das ist eine
Tatsache. Es ist doch ökologisch, weniger Fläche zu
Dr. Klaus Röhl (F.D.P.): Herr Präsident! Meine lie-
verbrauchen.
ben Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon hochin-
teressant: Nachdem der Transrapid zuerst ein techno- (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Das haben die
logisches und ökonomisches Monstrum war, ist er Grünen noch nicht gemerkt!)
jetzt zu einem finanziellen und zudem zu einem re-
paraturtechnischen Monstrum geworden. Ich bin ge- Im übrigen strotzt der Antrag vom BÜNDNIS 90/
spannt, was es für ein Monstrum darstellen soll, DIE GRÜNEN vor Falschaussagen und Ungereimt-
nachdem Sie sich für ein halbes Jahr zurückgezogen heiten. Der Antrag der PDS hängt sich übrigens, wie
haben. Darauf bin ich sehr neugierig. üblich, nur an den vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
an. Das ist also nur noch reine Mitfahrertendenz.
Ich komme nun erst einmal zum Sachlichen; strei- Zeigt sich hier eine Wahlverwandtschaft? Hoffentlich
ten können wir uns später. In der heutigen ersten Be- nicht!
ratung stehen zwei Gesetzentwürfe der Fraktionen
der CDU/CSU und der F.D.P. zum Bau der Transra- Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN behaup-
pidstrecke Berlin-Hamburg zur Beratung an: erstens tet, die Fahrgastzahlenschätzung von 14,5 Millionen
der Entwurf eines Magnetschwebebahnbedarfsge- Fahrgästen pro Jahr sei unrealistisch. Die jüngsten
setzes und zweitens der Entwurf eines Allgemeinen Planungsergebnisse haben aber eine Absicherung
Magnetschwebebahngesetzes. Das Bedarfsgesetz der aufgestellten Prognosen ergeben. Durch ein
soll den Bedarf, das Allgemeine Magnetschwebe- neues Rechenmodell von Intraplan München ist das
bahngesetz den Bet rieb sicherstellen. voll bestätigt worden. Die Herren Steenblock und
Schmidt sind wie immer offensichtlich nicht auf dem
Die leistungsstarke und vor allem umweltfreundli-
aktuellsten Stand, wie aus ihrer Presseerklärung vom
che Magnetschwebebahnverbindung trägt nicht nur
10. Oktober zu erkennen ist. Da steht das wunderbar
dem Ziel der Verlagerung des Verkehrs von der
drin.
Straße und der Luft auf die Schiene und der Entla-
stung der Bahnstrecken zugunsten des Regional- Aber lassen Sie mich noch ein paar Vergleichszah-
und Güterverkehrs Rechnung, Frau Ferner, sondern len nennen. Für das völlig neue ICE-Projekt Köln-
beweist auch den hohen Technologievorsprung der Rhein/Main erwartet man im Jahr 2000 pro Tag und
deutschen Industrie und sichert den Wirtschafts- Richtung 26 000 Reisende und im Jahr 2050 sogar
standort Deutschland. 40 000. Und da bezweifeln die Kolleginnen und Kol-
Wir dürfen uns beim Bau des Transrapid keine Zeit legen von den Grünen die realistischen Prognosen
lassen. Japan wird im nächsten Jahr eine für den Transrapid von 14,5 Millionen! Eine rot-
42,8 Kilometer lange Magnetstraße für den Probebe- grüne Brille verdunkelt eben alles.
trieb freigeben. Diese ist gleichzeitig Teilabschnitt ei- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU -
ner zukünftigen Langstreckenverbindung. Das Ver- Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) -
suchsprogramm soll im Jahre 1999 abgeschlossen
sein, so daß dann die rund 500 Kilometer lange Weiterhin wird behauptet, der Transrapid bringe
Strecke zwischen Tokio und Osaka in Ang riff genom- noch nicht einmal einen Zeitvorteil für die Fahrgä-
men wird. So macht man das woanders. ste, da die S-Bahn-Fahrt vom Ankunftsbahnhof bis
Wir dürfen diese Entwicklung nicht verschlafen. zum Berliner Zentrum weitere 20 Minuten dauere.
Wir müssen die hervorragenden Exportchancen für Als Berliner kann ich Ihnen nur empfehlen, einen Be-
den Transrapid endgültig sichern. such vor Ort zu machen oder einen Stadtplan zur
Hand zu nehmen. Der Lehrter Bahnhof ist im Zen-
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne trum, und es sind nur drei Stationen mit der S-Bahn
ten der CDU/CSU) zum Bahnhof Zoo oder zum Alex und nur eine zur
5186 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Dr. Klaus Röhl


Friedrichstraße. Übrigens, Westkreuz ist auch nur Liebe Kolleginnen und Kollegen vom BÜNDNIS 90/
drei Stationen entfernt. Das sind zwei bzw. sechs DIE GRÜNEN, Ignoranz ist eine gefährliche Gabe.
Minuten Fahrzeit. Und das bei 55 Minuten Fahrzeit Sie hat die Wirkung, völlig in die Irre zu führen. Die
von Hamburg nach Berlin! Was könnte besser sein? vorgeschlagenen Alternativen zum Transrapid sind
grotesk. Der Neubau der Strecke Uelzen - Stendal
Übrigens, Sie beklagen, daß die Fahrgäste von oder der Strecke Büchen - Wittenberge, wie vorge-
Hamburg und Berlin ihre Autos stehenlassen sollen, schlagen, soll angeblich weniger als 1 Milliarde DM
und behaupten, es würden Autofahrerbahnhöfe er- kosten. Tatsächlich sind jedoch 30 bis 40 Millionen
richtet. Ja, sollen die Leute denn nun vom Auto auf DM pro Doppelkilometer realistisch. Das sind dann
die Bahn umsteigen oder nicht? insgesamt 3,2 bzw. 4,3 Milliarden DM, also drei- bis
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) viermal so viel, wie Sie selber angeben.
Wollen Sie Park and Ride oder nicht? Wollen Sie den Übrigens, wer protestiert denn vor Ort gegen jegli-
Umstieg vom Flugverkehr auf die Bahn oder nicht? che Projekte? Das sind Ihre eigenen Basiskolonnen.
Sie müssen sich doch einmal entscheiden! Es ist immer wieder das gleiche.
(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Um auf die Fehlerhaftigkeit Ihres Finanzierungs- NEN)
projekts einzugehen: Sie haben gründlich alle Zah- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN arbeitet wie immer
len verwechselt. Das sollte man Ihnen hier nachse- mit völlig falschen Zahlen und Angaben.
hen. Das sollten wir im Ausschuß behandeln. Ich will
uns damit nicht noch einmal belasten. (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)
Auch bei der Frage des Betriebsrisikos haben Sie Die angegebene Bahnfahrzeit von 82 Minuten für die
alles, was nicht dazugehört, mit in einen Topf ge- Strecke Hamburg-Berlin entspringt reinem Wunsch-
schmissen. Die Kosten für das Bet riebssystem in denken. Die Koordination von Regional- und Güter-
Höhe von 3,3 Milliarden DM trägt die Indust ri e. Da verkehr bleibt da vollkommen unberücksichtigt.
wird vom Betriebsrisiko für die Bundesregierung ge-
sprochen. Das ist falsch. Das Betriebsrisiko liegt bei (Zurufe von der F.D.P. und der CDU/CSU:
der Privatwirtschaft. Im Gegensatz dazu trägt der Genau! - Sehr richtig! - Albe rt Schmidt
Bund als alleiniger Gesellschafter bei der Deutschen [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Bahn alle Risiken, und eine Beteiligung privater In- Sie haben unseren Antrag nicht gelesen!)
vestoren ist erst absehbar, wenn eine Entschuldung
erreicht und eine Rendite erwirtschaftet ist. Verglei- Voreingenommenheit ist ein schlechter Ratgeber; sie
chen Sie das einmal! führt immer zur Blamage.

Sehr geehrte Kollegen, noch etwas zu zwei anderen Wir sagen ganz klar, daß es für uns keine Alterna-
Punkten des Antrages der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE tive zur geplanten Transrapid-Strecke gibt. Der
GRÜNEN. Da werden tatsächlich die ökologischen Transrapid ist ein umweltfreundliches, energiespa-
Vorteile geleugnet. Der Transrapid ist der energie- rendes Verkehrssystem, das allein uns in die Lage
freundlichste Verkehrsträger. Der Energieverbrauch versetzt, Verkehrsprobleme der Zukunft speziell auf
beim Betrieb ist um ein Drittel geringer als beim ICE. der Strecke Hamburg-Berlin zu lösen. Mut statt
Kleinmut bringt uns voran!
(Beifall bei der CDU/CSU)
(Zustimmung bei Abgeordneten der F.D.P.
Auch beim Lärmpegel erreicht der Transrapid erst und der CDU/CSU - Widerspruch bei Ab-
oberhalb 400 km/h die Spitzenwerte des ICE, die bei geordneten der SPD - Elke Ferner [SPD]:
diesem schon bei 250 km/h auftreten. Gemäß Bun- Das ist der Mut der Verzweiflung!)
desimmissionsschutzgesetz, wonach z. B. in der
Nacht an Krankenhäusern und Schulen ein Immissi- Die Fraktion der F.D.P. steht zu beiden eingebrach-
onsgrenzwert von 47 dB (A) nicht überschritten wer- ten Gesetzentwürfen. Wir lehnen daher die Anträge
den darf, kann der Transrapid in 25 m Entfernung des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS mit
fahren. Der ICE müßte bei gleichen Bedingungen ei- aller Entschiedenheit ab.
nen Abstand von 120 m einhalten.
Danke schön.
(Zuruf von der CDU/CSU: Das sind Argu
mente!) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege -


Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Zu einer Kurz-
Röhl, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen intervention gebe ich dem Kollegen Ecka rt Kuhlwein
Steenblock? das Wo rt .

Dr. Klaus Röhl (F.D.P.): Ich möchte lieber meinen


Ecka rt Kuhlwein (SPD): Herr Kollege Röhl, Berlin
Vortrag beenden. Die Zeit ist vorgeschritten. Wir un-
ist schön, und ich habe damals dafür gestimmt, daß
terhalten uns sowieso noch gründlich darüber.
Berlin als deutsche Hauptstadt Regierungssitz wird.
(Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Aber daß Zehntausende von Menschen aus Berlin
NEN) und/oder aus Hamburg jeden Tag hin- und herfahren
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5187
Eckart Kuhlwein
sollen, damit sich diese Strecke rentiert, vermag ich Es gilt nach wie vor: Verzichten Sie auf dieses Pro-
nicht nachzuvollziehen. Das ist eine Zumutung. jekt! Wir sollten aus Kalkar, aus dem Rhein-Main-Do-
nau-Kanal, aus Wackersdorf gelernt haben: Bei Groß-
(Zustimmung bei der SPD) projekten, die aus staatlicher Großmannssucht ent-
standen sind, bewah rt nur rechtzeitige Umkehr vor
Sie haben nichts darüber gesagt, ob es den Bedarf Schaden.
für diese Strecke gibt. Wir reden ja über ein Bedarfs-
gesetz. Herzlichen Dank.

(Zuruf von der CDU/CSU: Ausführlich hat (Beifall bei der SPD - Zuruf von der F.D.P.:
er das gesagt!) Ihr blamiert euch nur!)

Beim Schienenwegeausbaugesetz wird der verkehrs- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Dr. Röhl,
politische Bedarf festgestellt. Beim Fernstraßenaus- Sie haben die Möglichkeit zu antworten.
baugesetz wird der verkehrspolitische Bedarf festge-
stellt. Hier wird über Technologie geredet, über
Standortpolitik, über Industriepolitik. Ob es Bedarf Dr. Klaus Röhl (F.D.P.): Herr Kollege Kuhlwein, erst
für diese Strecke gibt, wo es doch eine Eisenbahn- einmal herzlichen Dank für Ihre vorbereitete Rede.
strecke gibt, die Hamburg und Berlin verbindet, ist Da ich jede Meinung achte, bin ich stehengeblieben.
bisher nicht nachgewiesen worden. Das konnte uns Das ist ganz klar.
auch der Bundesverkehrsminister heute im Haus- Sie haben da etwas aus der großen Sammlung der
haltsausschuß nicht sagen. Anhörung vorgelesen.
(Abg. Dr. Klaus Röhl [F.D.P.] hört den Aus (Ecka rt Kuhlwein [SPD]: Nein, nein! Sein
führungen des Abg. Kuhlwein stehend zu) Wissenschaftlicher Beirat!)
- Sie dürfen sich ruhig hinsetzen. Bei Kurzinterven- Genausogut könnten wir andere Gutachten vorlesen.
tionen muß man nicht stehenbleiben. Wir haben Ihnen hier vorgetragen, wie die jüngsten
Beurteilungen und Gutachten lauten. Auch das kön-
Finanzpolitisch führt Ihr Expe riment ins Chaos. Es nen wir nachlesen; dafür können wir uns einmal zu-
birgt gewaltige finanzpolitische Risiken. Entweder sammensetzen.
wird es ein Grab für Dauersubventionen oder eine
Bauruine auf Stelzen. Das hat dem Bundesverkehrs- Ich bitte Sie ganz herzlich, sich einfach einmal
minister schon im Januar 1994 die Gruppe Verkehrs- ganz still für sich hinzusetzen
wirtschaft des Wissenschaftlichen Beirats beim Bun- (Ecka rt Kuhlwein [SPD]: Ich stehe doch ge-
desminister für Verkehr nachgewiesen. Die Zahlen rade!)
sehen heute vermutlich eher noch etwas schlimmer
aus. Ich will das wiederholen, was damals gesagt und nachzudenken: Was ist günstiger für die Lösung
wurde: der Verkehrsprobleme und für die Lösung der Pro-
bleme der deutschen Wi rtschaft und die Arbeits-
1. Die in dem Betreibermodell durchgeführten plätze? Machen Sie das bitte ohne Voreingenom-
Wirtschaftlichkeitsberechnungen basieren auf menheit. Ich weiß, wie schwer es ist, von voreinge-
unrealistischen Annahmen. nommenen Positionen herunterzukommen. Sie tun
dann Ihren Parteimitgliedern und den Leuten aus der
2. Die für Ostdeutschland und Berlin zugrunde Arbeiterschaft, die Sie vertreten, einen größeren Ge-
gelegten Entwicklungszahlen sind Zielpro- fallen, als wenn Sie hier dagegen reden.
gnosen, deren Eintreffen wenig wahrschein-
lich ist. (Zustimmung bei der F.D.P. und der CDU/
CSU - Ecka rt Kuhlwein [SPD]: Die können
3. Die Zahlen zum Fahrgastaufkommen einer auch den ICE bauen!)
Magnetschnellbahn entstammen einer inkon-
sistenten Kombination von „Bestfall-Annah- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile dem
men" . Berliner Senator für Verkehr und Bet riebe, Professor
Dr. Haase, das Wo rt .
4. Die Erlösrechnung basiert auf einer unzulässi-
gen Verknüpfung von Preis und Absatz.
Senator Dr. Herwig Eberhard Haase (Berlin): Herr
-
5. Notwendige Zusatzkosten, unter anderem für Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren
Verknüpfungseinrichtungen, wurden nicht Abgeordneten! Am Anfang steht der Dank Berlins an
berücksichtigt. die Mitglieder des Deutschen Bundestages.

6. Die Wirtschaftlichkeitsberechnung wurde (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU


nicht netz-, sondern streckenbezogen durch- und der F.D.P.)
geführt. Dies sei ganz bewußt in einer Zeit populistischer Ab-
geordnetenschelte gesagt.
Meine Damen und Herren, dieses Urteil ist vernich-
tend. (Georg Brunnhuber [CDU/CSU]: Sehr gut!)
5188 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Senator Dr. Herwig Eberhard Haase (Ber li n)


Speziell aber danke ich den Mitgliedern des Ver- Der Senat von Berlin hat sich für den Transrapid
kehrsausschusses. Sie haben gestern der Verlänge- entschieden. Er hat diese Zustimmung an bestimmte
rung des Verkehrswegebeschleunigungsgesetzes zu- Bedingungen geknüpft.
gestimmt
(Elke Ferner [SPD]: Die hätten wir gerne
(Horst Friedrich [F.D.P.]: Nicht alle!) einmal gehört!)
Vor allem erwarten die Länder über ihre verständli-
und damit eine richtungsweisende Initiative der
chen, manchmal auch egoistischen Forderungen hin-
neuen Bundesländer zur Verbesserung des Pla-
aus, daß die Finanzierung nicht zu Lasten der Bahn-
nungsrechts in der Bundesrepublik Deutschland un-
finanzierung geht.
terstützt.
(Elke Ferner [SPD]: Aha!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Unterstützen Sie bitte diese gemeinsame Position der
Wenn Bundeskanzler Kohl und der Regierende Berliner Koalition.
Bürgermeister Eberhard Diepgen am morgigen Frei-
tag den ersten Spatenstich für die Verkehrsanlagen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
im Zentrum Berlins durchführen, dann ist dies nicht Hier in Bonn bekümmert mich schon die innere
allein sichtbarer Ausdruck für die Gemeinsamkeit Zerstrittenheit innerhalb der Opposition. Diese be-
zwischen Bund und Bundeshauptstadt. Zugleich ist schränkt sich ja nicht auf Fragen nach dem Vorsit-
dieser Akt Beleg dafür, daß die Berliner Verkehrspla- zenden. Vielmehr geht es darum, ob die SPD sich der
nung vollendet ist und nunmehr umgesetzt wird. Vor Zukunft öffnen will oder ob sie dem Lockruf der Grü-
allem aber ist dies ein deutliches Bekenntnis des nen „Zurück zur Natur" folgt.
Bundes zu seiner Hauptstadt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. -
Mit der Magnetschwebebahn Transrapid hat Zuruf von der CDU/CSU: Das ist genau der
Deutschland die Tür aufgeschlagen zu einer völlig Punkt!)
neuen Dimension der Bahntechnologie. Sie, meine
Damen und Herren Abgeordneten, sollten sich des- Sie wissen meine Damen und Herren, daß am
halb bei Ihrer Entscheidung nicht von ängstlicher 22. Oktober Berlin vor einer entscheidenden Wahl
Verzagtheit und krämerischen Rechnereien treiben steht.
lassen. (Zuruf von der PDS: Hört! Hört!)
Da wundert es mich in der Tat, wenn die Hilflosigkeit
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
der Berliner Sozialdemokraten in ihrem Wahlpro-
Bekennen Sie sich zu den damit verbundenen gramm deutlich wird. Auf Seite 5 wird die Spitzen-
Chancen für den Wirtschafts- und Technologie- kandidatin zitiert: „Die 45 Kilometer nach Speren-
standort Deutschland. Wir haben erfahren - ich berg sind im Zeitalter von ICE und Transrapid keine
denke, zuletzt im südostasiatischen Markt schmerz- unüberwindbaren Entfernungen mehr." Auf Seite 51
lich erfahren -, was es bedeutet, die Herausforderun- desselben Programms heißt es dann aber: „Die Berli-
gen auch in der Bahntechnik nicht ernst zu nehmen. ner SPD spricht sich vor dem Hintergrund der gegen-
Der ICE wurde zu spät ins Rennen geschickt, die wärtigen Daten und Fakten gegen den Bau einer
Neigezugtechnik nicht einmal umgesetzt. Transrapidstrecke zwischen Berlin und Hamburg
aus."
(Dr. Klaus Röhl [F.D.P.]: Genau! Völlig rich (Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P. -
tig!) Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Machen Sie Ihren Wahl-
Anders die Situation beim Transrapid: Erstmals seit
kampf zu Hause!)
dem Krieg haben Deutschlands Ingenieure in der
Verkehrstechnologie bei der Entwicklung eines Lächerlich wird es, wenn dieselbe Partei die Stadt
hochleistungsfähigen, marktfähigen Systems meh- mit Wahlplakaten vollpflastert, die Berliner Flughä-
rere Jahre Entwicklungsvorsprung. Selbst die Japa- fen Tempelhof, Tegel und Schönefeld sofort zu schlie-
ner, die mit Hochdruck an einem vergleichbaren Sy- ßen. Verständlich wird dann aber auch, wenn diese
stem arbeiten, hinken noch - ich sage bewußt Partei in ihren Wahlschriften für mich als Verkehrs-
„noch" - hinter unserem Entwicklungsstand her. senator wirbt, wenngleich nicht immer mit den richti-
gen und zutreffenden Argumenten.
Das bedeutet konkret: Entscheidet sich der Bun-
destag gegen die Magnetbahntechnik, werden, wie Wichtiger sind mir die Berliner Erfahrungen. Die-
leider in der Vergangenheit nur allzuhäufig, andere gewaltigen Herausforderungen, zu denen auch der
das Geschäft machen. Transrapid zählt, lassen sich nur bestehen, wenn sie
gemeinsam von Staat und Wi rtschaft angenommen
(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Genau!) werden. Das gilt auch für die neue Finanzierungs-
form, die hier gefunden worden ist.
Dann werden nicht Güter und Ideen exportiert, son-
dern Arbeitsplätze. Die altbekannten Argumente wurden eben in der
Diskussion vorgetragen. Verkehrspolitisch führt der
(Georg Brunnhuber [CDU/CSU]: Sehr rich Transrapid zu einer gewünschten Verlagerung der
tig! - Zuruf von der F.D.P.: Richtig!) Verkehre von Straße und Flugzeug. Ohne Transra-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5189
Senator Dr. Herwig Eberhard Haase (Berlin)
pid wird auf der Verbindung Berlin-Hamburg mittel- Wichtig aber ist vor allem: Hier geht es nicht um
fristig nicht nur der Flugverkehr anwachsen. Es eine Stummelstrecke, sondern um den Startpunkt für
müßte auch eine Hochgeschwindigkeitstrasse des ein neues Netz.
Rad-Schiene-Systems gebaut werden.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. -
(Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
GRÜNEN]: Der Flugverkehr zwischen Ham
Hier geht es um eine neue Hochgeschwindigkeits-
burg und Berlin geht ständig zurück! Es ist
strecke in Europa. Und deshalb bin ich dem Bundes-
Unsinn, was Sie da sagen!)
verkehrsminister Wissmann ausgesprochen dankbar
Bei den Baukosten, meine Damen und Herren, bitte dafür, daß es ihm gelungen ist, den Transrapid in den
ich einzubeziehen, daß die Brückenbauwerke zu La- TEN-Projekten zu verankern.
sten der Kommunen auch in Ihren Wahlkreisen ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
hen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, zum
Abschluß noch einen weiteren Aspekt anführen.
Ich überlasse es Ihnen auch, die durch den damit ver- Hierbei wende ich mich besonders an jene Abgeord-
bundenen Flächenverbrauch bedingte Versiegelung neten, die die norddeutschen Flächenstaaten vertre-
des Bodens in ökologische Relationen zum unter- ten. - Ich bin sehr in Eile, Herr Präsident, und bitte,
lüfteten System der Magnetbahnstelzen zu stellen. keine Zwischenfragen zuzulassen.
Gleichwohl: Das eigentliche Problem der Diskus- Meine Damen und Herren, verstehen Sie bitte den
sion über den Transrapid liegt nicht im Bereich dieser Transrapid nicht als ein System, von dem die Nach-
Stellvertreterkriege. Die tatsächlich entscheidende barn der beiden deutschen Metropolen Berlin und
Frage lautet: Zieht sich Deutschland zurück auf die Hamburg nichts haben als überflüssige Belastung.
Technologie des 19. Jahrhunderts, oder wagt es den Die Wiedervereinigung Deutschlands hat dem Nor-
Schritt in das 21. Jahrhundert? den und dem Osten unserer Republik die einmalige
Chance gegeben, in Konkurrenz zur südwestdeut-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - schen Wohlstandsbanane zu treten, die im „Focus"
Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE dieser Woche so plastisch dargestellt wurde.
GRÜNEN]: Ist der ICE die Technik des
19. Jahrhunderts? Sie haben die Alternative Der Transrapid kann und wird die Achse sein für
überhaupt nicht verstanden!) einen künftigen nordostdeutschen Wirtschaftsraum,
der sich von Dresden über Berlin, Potsdam, Schwerin
Der Transrapid, meine Damen und Herren, stellt hier und Hamburg bis nach Bremen erstreckt. Der Trans-
einen Quantensprung dar, der nur vergleichbar ist rapid gibt den Ländern im Norden und Osten unse-
mit der Erfindung der schienengebundenen Eisen- rer Republik die Möglichkeit, sich zu einem Kompe-
bahn selbst. tenzzentrum in Sachen Hochtechnologie zu ent-
Der Bundespräsident hat dieser Tage von einer wickeln. Um diese Chance nicht zu verspielen,
neuen Wagniskultur gesprochen und eingefordert, meine Damen und Herren, sagen die Länder Ja zum
diese zu entwickeln. Der Bundeskanzler hat auf der Bau dieser hochinnovativen Strecke,
Berliner Wirtschaftskonferenz die Bundeshauptstadt (Eckart Kuhlwein [SPD]: Nicht alle!)
als Visitenkarte für die Zukunft Deutschlands gewer-
tet. Das ist beides richtig. Was das wiede rv ereinigte und für das Land Berlin möchte ich mich jetzt schon
Deutschland braucht, ist der revolutionäre Schwung bei all denen bedanken, die nach längerer und sorg-
der Gründerzeit, fältiger Abwägung zugunsten der Verbindung zwi-
schen Deutschlands größten Städten entschieden ha-
(Zuruf von der F.D.P.: Sehr richtig!) ben, zwischen Hamburg als dem Tor zur Welt und
der Bundeshauptstadt Berlin als Verkehrsdreh-
die Bereitschaft, neue Wege zu beschreiten, neue
scheibe im Herzen Europas.
Märkte zu erobern und damit Arbeit und Arbeits-
plätze für heutige und künftige Generationen zu Vielen Dank.
sichern.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Hohle Phrasen!) Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile nun
Manch einer, meine Damen und Herren, hat ge- das Wort dem Abgeordneten Dr. Winfried Wolf.
schmunzelt, als ich im Vorfeld der Transrapiddiskus- -
sion vom Zwei-Tages-Trip nach Peking gesprochen Dr. Winfried Wolf (PDS): Sehr geehrter Herr Präsi-
habe. Zugegeben: Niemand weiß, wann eine solche dent! Werte Damen und Herren! Das für das Projekt
Strecke gebaut wird. Sicher ist allerdings: Baut Magnetbahn gewählte Verfahren ist feudal. Der Satz
Deutschland nicht seine Referenzstrecke zwischen des französischen Sonnenkönigs „L'état c'est moi!"
Hamburg und Berlin, wird bei dem möglichen Bau wird hier von Betonbolschewisten wie dem Kollegen
einer eurasischen Magnetschnellbahn im kommen- Fischer, vor mir dem Senator Haase und nach mir
den Jahrhundert zumindest die deutsche Wirtschaft dem Minister Wissmann mit „Den Bedarf bestimmen
nicht dabei sein. wir selbst" aktualisiert.
(Zuruf von der F.D.P.: Das ist wahr!) (Zustimmung bei der PDS)
5190 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Dr. Winfried Wolf


Das hat in der Verkehrsgeschichte Tradition. Der Zar zwingt zu parallelen Verkehrssträngen der Bahn. Sie
ließ 1837 die erste russische Eisenbahnstrecke, ist noch energieaufwendiger als der bereits nicht
knapp am Bedarf vorbei, von Petersburg nach seiner energiesparende ICE, also beachtlich umweltschädi-
Sommerresidenz Zarskoje Selo bauen. Der preußi- gend.
sche König ignorierte die sinnvollen Eisenbahnpläne
von Friedrich List und konzessionierte 1838 als erstes (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: So
eine Eisenbahnstrecke von Berlin, Potsdamer Bahn- ist es! - Gegenruf von der CDU/CSU:
hof, nach dem Sitz der preußischen Könige. Falsch!)

Heute werden die Feudalfürsten der Wi rtschaft be- Es handelt sich um eine 10 Milliarden DM teure Dop-
pelinvestition;
dient. Das Magnetschwebebahnbedarfsgesetz de-
kretiert in § 1 schlicht: (Zuruf von der CDU/CSU: Auch falsch!)
Es besteht Bedarf für den Neubau einer Magnet- gerade wurde die Strecke Hamburg - Berlin für vier
schwebebahnstrecke von Berlin nach Hamburg. Milliarden DM ausgebaut.
In § 2 heißt es ex cathedra weiter, diese Bedarfsfest- (Zuruf von der CDU/CSU: Noch ein größe-
stellung sei sakrosankt, also „verbindlich". rer Unsinn!)
Die Welt steht Kopf. Die Marktwirtschaft verläuft Unsere Gesellschaft wird sich den Bet rieb am Ende
nach Plan gegen den Bedarf und an die Wand. Da schlicht nicht leisten können. Oder in den Worten
fördert die Eisenbahn die Konkurrenz Magnetbahn, des ehemaligen SPD-MdB Daubertshäuser aus dem
just seit sie als Aktiengesellschaft, also angeblich Jahr 1983: „Ich sehe rund vier Milliarden DM Sub-
dem Markt verpflichtet, daherkommt. Da untersagt ventionen pro Jahr auf den Staat zukommen".
Bahnchef Heinz Dürr den Abdruck einer vernichten-
den Kritik am Transrapid in einer bahnnahen Zeit- Schließlich bedient der Transrapid eine eng be-
schrift. grenzte Klientel, den Geschäftsreisefernverkehr, und
eine künstlich produzierte neue Form des Vergnü-
(Zuruf von der CDU/CSU: Na hoffentlich! - gungsverkehrs, das sogenannte City-hopping: Die
Gegenrufe von der SPD) Berliner sausen nach Hamburg ins „Phantom der
Oper", die Hamburger verlustieren sich in Berlin an
Da wird plötzlich eine Magnetbahn mit zwei Kopf- „Miß Saigon" mit Berliner Weiße. In beiden Städten
bahnhöfen gebaut, wo uns doch soeben anhand des wird gleichzeitig dezentrale Kultur abgebaut, um
Berliner Lehrter Bahnhofs erklärt wird, daß nur noch diese langen Wege zu fördern.
Durchgangsbahnhöfe postmodernen Sinn machten.
Da soll die Deutsche Bahn AG gar Mitbetreiberin des (Zuruf von der F.D.P.: Wir dürfen nicht mehr
Transrapid werden, d. h. die eigene Konkurrenz för- reisen!)
dern.
Sicher, es gibt noch die Argumente „Referenz-
Letzteres hat übrigens Tradition: Auf Geheiß der strecke", „Weltmarkt" und „Geschwindigkeit". Dazu
NS-Führung mußte die Reichsbahn das Tochterun- lassen sich ein paar ernsthafte Fragen stellen.
ternehmen Reichsautobahn-Gesellschaft gründen,
Warum sollen fünf und mehr Milliarden DM Steu-
also die Konkurrenz durch den Straßenverkehr för-
ergelder für private Interessen der Indust rie aufge-
dern.
wandt werden? Und wenn das schon sein muß:
Da stellt dieses Hohe Haus als Bedarf fest: Minde- Warum nicht gleich die Referenzstrecke als feudales
stens fünfmal mehr Menschen aus Hamburg haben Geschenk in die saudische Wüste setzen? Dann
nach Berlin und umgekehrt fünfmal mehr Berliner bleibt immerhin das Problem „Wintertauglichkeit"
Schnauzen haben an die Alster zu schweben, fünf- ausgeklammert. Ist es nicht grotesk, daß in der jüngst
mal mehr, als die Summe aller heutigen Fahrten mit hier debattierten Lateiname rika-Resolution der Bun-
Auto, Flugzeug und Bahn ausmacht. desregierung ernsthaft der Expo rt des noch nicht ein-
mal real schwebenden Transrapid nach Südamerika
(Zuruf von der CDU/CSU: Ja, und?) proklamiert wurde? Als ob die dort nicht andere Pro-
Die Wissenschaft wird für unzuständig erklärt. bleme hätten!
Man verbittet sich jedes Hineinreden eines Profes- Schließlich wäre zu fragen: Sollten wir statt des
sors Aberle und des Wissenschaftlichen Beirats des Anhimmelns eines Geschwindigkeitsrausches und
Verkehrsministeriums als Eingriffe in ein immerhin statt des machistischen Glaubens an „Natur- und
im Wortsinne „schwebendes Verfahren". Technikbeherrschung" nicht den Forderungen nach
Die Erde ist eine Scheibe. Galilei grüßt mit „Over, „Entschleunigung", nach „Entdeckung der Lang-
Roger". Gegeben wird das Stück „Dinosaurier im Ju- samkeit" und damit nach gedanklicher Ruhe und ei-
rassic Park" . nem Zugewinn an Demokratie Gehör gewähren, For-
derungen, wie sie übrigens zuerst von dem Jesuiten-
(Zustimmung bei der PDS) pater Ivan Illich aufgestellt wurden?
Ja, auf die Magnetbahn trifft der Beg riff „ Dinosau- Meine Damen und Herren, auslaufende Gesell-
riertechnik " zu. Sie widersp richt so gut wie allen An- schaftsmodelle haben die Eigenart, sich nicht nur in
forderungen moderner Verkehrsplanung: Die Ma- Kriegen zu erschöpfen, sondern sich auch in abstru-
gnetbahn ist nicht kompatibel mit anderen Verkehrs- sen Techniken totzulaufen. Die NS-Herren Speer
mitteln. Sie eignet sich nur für Personenverkehr und und Hitler wollten pa rtout eine gigantische Breit-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5191
Dr. Winfried Wolf
spureisenbahn in die Welt setzen. Die sowjetischen Herr Dr. Wolf, Sie haben für die PDS den Platz von
Bürokraten planten, den Flußlauf der Wolga umzu- Frau Dr. Enkelmann im Verkehrsausschuß einge-
kehren. Und hier soll dekretiert werden, daß ein Be- nommen, nachdem sie ausgeschieden ist, und baten
darf an gesellschaftlicher Mobilität besteht wie in ei- um Nachsicht, daß Sie „fachlich noch nicht so gut
nem Hamsterrad mit Kugellager. drauf" seien, so daß wir Ihnen einiges nachsehen
müßten. Heute haben Sie einen Beitrag abgeliefert,
den man Ihnen nicht einfach nachsehen kann. Sie
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Sie müssen haben Äpfel mit Birnen verglichen und nicht ein biß-
zum Schluß kommen. chen Verständnis von Verkehrspolitik gezeigt. Das
war reiner Populismus, reine Ideologie.
Dr. Winfried Wolf (PDS): Letzter Satz: Der Antrag Sie als SED-Nachfolgepartei können es ja auch
der Grünen findet unsere volle Unterstützung. Der nicht anders. Früher in der DDR haben Sie einen Par-
Antrag der PDS bietet die einmalige Gelegenheit, teitag einberufen, als der 1-Megabit-Chip von Carl-
Vernunft zu beweisen - durch die einfache Feststel- Zeiss-Jena entwickelt werden sollte. Wissen Sie, wie
lung, daß Wissenschaft nicht, wie bei Galilei, ausge- lächerlich das war? Als Sie ihn dann fertig hatten,
klammert werden kann. waren bei den anderen längst 8-Megabit-Chips pro-
Danke schön. duktionsreif. Diese Scheuklappen haben Sie immer
noch.
(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne
ten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
GRÜNEN) ordneten der F.D.P. - Zuruf vom BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN: Noch kein einziges Argu-
ment zum Transrapid!)
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Dr. Wolf,
Sie haben, wie mir von mehreren Seiten bestätigt Meine sehr verehrten Damen und Herren, heute
wird, in Ihrem Beitrag zwei Kollegen des Hauses als sind schon viele richtige Dinge genannt worden,
„Betonbolschewisten" bezeichnet. auch von Herrn Röhl. Aber wenn Sie, Herr Steen-
block, nicht zwischen einer Geschwindigkeit von
(Lisa Peters [F.D.P.]: Drei Kollegen!) 50 Kilometern in der Stunde und einer Geschwindig-
keit von 200 Kilometern in der Stunde unterscheiden
Dieser Ausdruck kann in einer parlamentarischen können, tun Sie mir leid. Denn es ist eindeutig nach-
Debatte nicht akzeptiert werden. Ich erteile Ihnen ei- weisbar: Die Geräuschemission des Transrapid be-
nen Ordnungsruf. trägt bei einer Geschwindigkeit von 200 ein Drittel
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, von der der herkömmlichen Rad-Schiene-Verbin-
der SPD und der F.D.P. - Beifall bei der dung.
PDS) (Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Aber der fährt nicht mit 200!)
Ich erteile nun dem Abgeordneten We rn er Kuhn
das Wort. Sie als Grüne müßten mich normalerweise umarmen
und sagen: Jawohl, endlich haben wir die richtige
Technologie.
Werner Kuhn (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Diese Debatte (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
ufert für meine Begriffe in Unsachlichkeit aus und
befaßt sich überhaupt nicht mehr mit dem eigentli- Ihre spezifische Energie ist umweltschonend, sie hat
chen Problem, neue Technologien in Deutschland geringere Schallemissionen.
einzuführen. (Elke Ferner [SPD]: Soll der mit 200 fahren?)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) - Ist ja in Ordnung, Frau Ferner. Ihr Rechenmodell
hinkt eh; denn Sie haben immer vergessen, daß die
Daß wir bei der Rad-Schiene-Technik absolut am Betreibergesellschaft für die Nutzungsgebühr im
Ende angekommen sind, sagt Ihnen jeder Fach- Fahrweg 2,4 Milliarden DM zahlt. Dann müssen wir
mann. nur noch 3,3 Milliarden DM finanzieren.
(Elke Ferner [SPD]: Was?)
Herr Steenblock, ich war über Ihren Beitrag hier eini- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege
germaßen bestürzt. Eine solche technische Naivität Kuhn, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
und derartiger kaufmännischer Dilettantismus haben Steenblock? -
mich vom Hocker gerissen. Wenn die Ingenieure und
Kaufleute vor 150 Jahren solche Berichte beim Bau Werner Kuhn (CDU/CSU): Von Herrn Steenblock
der Eisenbahn in Deutschland abgeliefert hätten, gern.
hätte der Kaiser die Eisenbahn verboten; denn es
gab ja genügend Pferdekutschen.
Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Das freut mich. - Lieber Kollege, sind Sie bereit, mir
Ernst Schwanhold [SPD]: Das hat aber noch zuzugestehen, daß man die erzeugten Lärmemissio-
nichts mit kaufmännischer Kompetenz zu nen der Betriebssysteme ICE und Transrapid nur
tun!) hinsichtlich ihres jeweiligen systemspezifischen Be-
5192 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Rainder Steenblock
reichs vergleichen kann? Sie dürfen nicht ständig - Jawohl, die Zahl wird sich verzehnfachen. Da kön-
Äpfel und Birnen miteinander vergleichen, nen Sie sämtliche Fachleute noch einmal konsultie-
ren. Ich sage Ihnen: Intraplan als entsprechendes In-
(Elke Ferner [SPD]: Ja, das müssen Sie ge genieurbüro hat eindeutig unsere Aussage noch ein-
nau erklären, das versteht er sonst nicht!) mal bestätigt und gezeigt: Jawohl, die Prognose
sondern müssen von den Lärmemissionen, die ein 14,5 Millionen Menschen an Fahrgastaufkommen in
ICE und die ein Transrapid normalerweise im Bet rieb zehn Jahren ist absolut real. So werden wir auch pla-
erzeugen, also jeweils von den systembedingten Ge- nen und werden uns von Ihnen davon nicht abbrin-
schwindigkeiten ausgehen. gen lassen. Das Finanzierungskonzept steht eben-
falls.
(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Der (Dr. Barbara Höll [PDS]: Das stimmt nicht!)
ICE ist lauter, sagt der TÜV Rheinland!)
- Das stimmt!
Ich habe nichts anderes gesagt als das: Wenn man
die Lärmemissionen im Bereich der systembedingten (Dr. Barbara Höll [PDS]: Das ist unver-
Geschwindigkeiten vergleicht, dann ist der Transra- schämt!)
pid doppelt so laut wie der ICE. Wenn Sie es mit dem Umbau des Verkehrssystems
(Dr. Klaus Röhl [F.D.P.]: Das stimmt doch in Richtung Ökologie wirklich ehrlich meinen, darin
nicht!) müssen Sie einfach sagen: Der Umstieg aus dem
Flugverkehr ist sehr wichtig. Es wurde heute schon
gesagt: Die Expreßflüge, die wir haben, können wir
Werner Kuhn (CDU/CSU): Darüber lache ich ja. uns einfach nicht mehr leisten. Sie sagen doch selber
Eine Rad-Schiene-Verbindung ist formschlüssig; sie immer wieder: Kerosinbesteuerung, CO2-Erzeugung
alleine erzeugt schon Lärm. Beim ICE erzeugt zum usw.
einen der Luftwiderstand, der überwunden werden
(Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE
muß, durch das Entstehen von Turbulenzen und Ver-
GRÜNEN]: Die gehören auf die Schiene!)
wirbelungen Geräuschemissionen, zum anderen die
Rad-Schiene-Verbindung. Beim Transrapid fällt letz- - Aber die Magnetschwebetechnik ist doch eine
teres durch die Magnetschwebetechnik weg. Das Analogie dazu.
Magnetpolster ist absolut geräuschlos. Es muß nur
noch der Luftwiderstand - der natürlich Schallemis- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege
sionen erzeugt - energietechnisch überwunden wer- Kuhn, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
den.
(Elke Ferner [SPD]: Man kann nur sagen: Werner Kuhn (CDU/CSU): Ja, bitte.
Frage nicht verstanden!)
Dabei müssen Sie die gleichen Geschwindigkeiten Dr. Barbara HöII (PDS): Herr Kollege, heute war im
auf eine Basis setzen. Dann werden Sie sagen: Ja- Haushaltsausschuß genau der Verkehrshaushalt
wohl, der Kuhn hat recht. Thema der Beratung in der ersten Lesung, beglei-
tend dazu natürlich die Gesetze, die den Transrapid
(Beifall bei der CDU/CSU - Rainder Steen betreffen. Wären Sie bitte so freundlich, zur Kenntnis
block [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur zu nehmen, daß selbst im Gesetzestext steht, daß die
Unsinn, wirklich!) Finanzierung erst noch durch Vertrag vereinbart
werden muß. Es ist bisher nur ein Rahmen festgelegt,
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will der im Gesetz steht.
mich jetzt diesbezüglich nicht weiter über die Vor-
teile der Magnetschwebetechnik auslassen. Fakt ist (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist kein Wi-
einfach: Wenn jetzt nicht das Magnetschwebebahn- derspruch!)
planungsgesetz und das Allgemeine Magnetschwe- Aber es steht im Text, daß das erst vertraglich ausge-
bebahngesetz, nämlich für die Betriebszulassung, handelt werden muß. Bevor dies nicht geschehen ist,
hier zügig beschlossen werden, dann werden wir im würde ich mich an Ihrer Stelle hüten zu behaupten,
Know-how, in der High-Tech weiter an Boden verlie- daß die Finanzierung gesichert wäre.
ren.
Es ist Eile geboten. Die Zeit läuft uns davon. Wir Werner Kuhn (CDU/CSU): Sie sollen eine Frage
müssen letztendlich auch auf Passagierzahlen rea- stellen.
-
gieren, die sich in den nächsten zehn Jahren zwi-
schen diesen beiden Ballungsräumen Hamburg und Dr. Barbara Höll (PDS): Könnten Sie mir dazu bitte
Berlin entwickeln werden. Wir haben zur Zeit 1,5 bis Ihre Meinung sagen?
1,8 Millionen Passagiere, die im Regionalverkehr auf
der jetzt noch nicht einmal auf 160 Kilometer pro
Stunde ausgebauten ganz normalen Eisenbahn- Werner Kuhn (CDU/CSU): Passen Sie einmal auf:
strecke fahren. Diese Zahl wird sich verzehnfachen. Wir haben Rahmenbedingungen dafür beschlossen,
daß wir die Finanzierung und den Bau einschließlich
(Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE der Planung insgesamt in den nächsten zehn Jahren
GRÜNEN]: Quatsch! Das ist ein Märchen!) durchbekommen. Wenn Sie weiter die Blockierer
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5193
Werner Kuhn
spielen und tausend Einwände dagegen haben, ein- setze ich die knappen Mittel so intelligent ein, daß
mal hü, einmal hott, im Bundesrat zum Teil ja, dann erstens die zukünftige Leistungsfähigkeit unserer
wieder nein, dann werden wir nie dazu kommen, Verkehrssysteme ökonomisch und ökologisch opti-
diesen Rahmen auszugestalten und hinzubekom- mal erreicht wird und zweitens die dazu notwendi-
men. gen Innovationen für den Industriestandort
Deutschland ein weltweiter Erfolg werden?
Deshalb lade ich Sie herzlich dazu ein: Arbeiten
Sie mit daran, daß wir das Modell auch zusammenbe- Mit Ihrer Entscheidung, Herr Wissmann, die Ma-
kommen, ansonsten werden wir, gerade im Städte- gnetschwebebahn ausgerechnet zwischen Berlin
schnellverkehr, in der entsprechenden Städteschnell- und Hamburg fahren zu lassen, erweisen Sie dem In-
verbindung, weiter an Boden verlieren. Wenn Sie sa- dustriestandort einen Bärendienst.
gen: Der ICE ist enorm besser, ökonomischer, und
ich brauche dann auch nicht den Individualverkehr, (Zustimmung bei der SPD)
wie wollen Sie das denn hinbekommen? Selbst wenn Ich möchte Ihnen kurz darlegen, warum.
Sie eine Hochgeschwindigkeitsstrecke im ICE-Be-
reich bauen, Herr Steenblock, brauchen Sie immer Erstens. Die von der Projektlobby angenommene
noch die 14,5 Millionen Fahrgäste, die Sie transpor- Zahl von 14,5 Millionen verkauften Tickets im Jahre
tieren wollen. 2010 - das sind 40 000 pro Tag - ist illusionär.

(Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei Abgeordneten der SPD, des
GRÜNEN]: Der ICE ist doch billiger!) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
PDS)
- Natürlich müssen Sie sie haben!
Wenn Sie sich dazu unterschiedliche Zahlen von un-
(Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE terschiedlichen Instituten holen, soll das dem Schön-
GRÜNEN]: Quatsch!) rechnen Ihrer Darlegung der Wirtschaftlichkeit die-
Billiger? Auch da kommen die Leute mit ihrem Pkw nen. Ihr eigener Wissenschaftlicher Beirat hat die
angefahren, stellen sich auf den Parkplatz und stei- Zahl schon auf 11 Millionen Tickets korrigiert. Damit
gen um. fällt die gesamte Rentabilitätsrechnung in sich zu-
(Zurufe von der SPD) sammen.
- Von wegen Insellösung, Frau Ferner. Es ist keine Zweitens. Ihre Hoffnungen auf Tausende neuer Ar-
Insellösung. Oder werden Sie denn in der Sänfte im beitsplätze sind bereits von einer Studie der Deut-
Hamburger Bahnhof vom ICE in den Regionalexpreß schen Genossenschaftsbank als irreal bezeichnet
getragen? Genausogut können Sie doch umsteigen. worden. Wegen der EU-weiten Ausschreibungen ist
keineswegs sicher, daß die beteiligten deutschen Un-
(Beifall des Abg. Dr. Klaus Röhl [F.D.P.]) ternehmen den Löwenanteil des Milliardenprojektes
Das ist doch kompatibel. Etwas anderes kann mir unter sich aufteilen können.
doch keiner erzählen! Drittens. Der Transrapid ist ein Fremdkörper, nicht
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin nur im Übergang zur Eisenbahn, sondern auch ge-
am Ende meiner Rede. genüber den Verkehrssystemen der beiden Städte
wie S-Bahn und U-Bahn. Kommt der Autofahrer mit
(Elke Ferner [SPD]: Am Ende sind Sie in der dem Auto zum Transrapidbahnhof, wird es eng.
Tat!) Wenn die Hälfte der erwarteten 15 000 Passagiere
Lassen Sie uns die Transrapid-Projekte zügig in An- mit dem Auto käme, müßten an den Stadtrandstatio-
griff nehmen! Wir dürfen nicht anderen den Techno- nen jeweils mindestens 190 000 Quadratmeter für
logievorsprung überlassen. Eile ist geboten. Ich habe Parkflächen entstehen - ein städtebaupolitischer
es Ihnen gesagt. Uns läuft die Zeit weg. Schwachsinn.

Vielen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des


BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Viertens. Die konfliktfreie Einfädelung in die
Städte ist nach wie vor ungeklärt.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Nun erteile ich
dem Abgeordneten Klaus Hasenfratz das Wort. (Zurufe von der CDU/CSU und der F.D.P.:
Ist doch geklärt!)
Klaus Hasenfratz (SPD): Herr Präsident! Liebe Kol- - Wo haben Sie die geklärt? Es wird immer von „oder-
leginnen! Liebe Kollegen! Ich möchte meine Rede- da", „oder da", „oder da" gesprochen. Sagen Sie mir
zeit nicht dazu benutzen, auf den großen Unsinn des einmal: Was ist geklärt, wenn jemand laufend sagt
Kollegen Kuhn Antwort zu geben. „oder, oder, oder"?
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Wider
spruch bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Das ist vielleicht Ihre Auffassung von Geklärtheit.
Mir geht es heute darum, klar festzustellen: Es Sie haben Mecklenburg-Vorpommern einen Halte-
geht nicht um Technikfeindlichkeit - ja oder nein -, punkt in Schwerin versprochen. Wie der genau aus-
sondern es geht hier um die zentrale Frage: Wie sehen soll, weiß noch kein Mensch. Ihrer Pflicht, ein
5194 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Klaus Hasenfratz
solides Planungs- und Bedarfskonzept zu erstellen, Von der Vielzahl internationaler Systemvergleiche
können und wollen Sie nicht nachkommen; denn in Brasilien, Taiwan oder China hat der Transrapid
dann müßten Sie den verkehrs- und finanzpoliti- keinen einzigen gewonnen. Das sollten Sie sich ein-
schen Offenbarungseid leisten. mal zu Gemüte führen. Der Transrapid mag das Non-
plusultra für Nevada oder Australien sein, aber nicht
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) für die Strecke zwischen Hamburg und Berlin.
Fünftens. Sie zwingen die DBAG mit dem Transra- Man sollte sich noch einmal klarmachen, wie ab-
pid in die Rolle ihres eigenen Totengräbers. DIW-Be- surd es ist, fast parallel zu einer existierenden Eisen-
rechnungen zufolge drohen der Bahn durch Umstei- bahnlinie Betonpfeiler in den Boden zu rammen, auf
ger mögliche Umsatzausfälle von bis zu 300 Millionen dem ein „Neunmilliardending" mit einem Nachfra-
DM jährlich. Der Transrapid-Berechnung liegt ein gepotential verkehrt, das in irgendwelchen Wolken-
weitestgehend zurückgeschraubtes Bahnangebot zu- kuckucksheimen errechnet wurde.
grunde: ein Interregio-Takt von zwei Stunden - mehr
ist nicht mehr d rin. Die Bahn wird davon abgehalten, (Beifall bei Abgeordneten der SPD, des
für die Strecke Hamburg-Berlin ein vernünftiges, at- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
traktives Angebot für die nächsten Jahre zu entwik- PDS)
keln.
Ich frage Sie noch einmal: Wo um Himmels willen
(Elke Ferner [SPD]: Das ist geschäftsschädi sollen denn die Fahrgastmassen für dieses zusätzli-
gend!) che Verkehrsmittel herkommen, wenn sie jeden Zeit-
vorteil durch umständliche Zufahrts- und Zugangs-
Die Bürger von Hamburg und Berlin werden auf die- wege verlieren?
ser Strecke vom Schnellverkehrsschienennetz auf
Dauer abgekoppelt. Dies steht eindeutig im Wider-
spruch zur Bahnreform und wird garantiert durch Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Gestatten Sie
ausländische Anbieter konterkariert, etwa den Dä- eine Zwischenfrage des Kollegen Fischer?
nen oder den Schweden.
Klaus Hasenfratz (SPD): Ja.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Diese werden auf Grund der diskriminierungsfreien Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU): Herr Kollege
Zulassung Dritter zum Schienennetz mit der her- Hasenfratz, wie können Sie sich als Abgeordneter
kömmlichen Rad-Schiene-Technik die Strecke Ham- der SPD aus Nordrhein-Westfalen angesichts Ihrer
burg-Berlin bedienen. Sie werden uns dann vorfüh- doch sehr harten Philippika erklären, daß die neue
ren, wie man es macht. Landesregierung, gestellt von SPD und Grünen, die
ansonsten an Verkehrsfeindlichkeit kaum zu über-
Ich prophezeie Ihnen: Spätestens in zwei oder drei
bieten ist, in dieser Frage den beiden Gesetzen im
Jahren wird eine neue Diskussion vom Zaun gebro-
Bundesrat nicht ein Nein entgegengesetzt, sondern
chen. Eine alternative ICE-Verbindung zwischen den
sich lediglich der Stimme enthalten hat?
beiden Städten ist nur eine halbe Stunde langsamer,
aber bis zu 6 Milliarden DM billiger.
Klaus Hasenfratz (SPD): Es ist schon eigenartig,
(Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt doch daß Sie sich bei der Abstimmung der einzelnen Län-
nicht!) der immer die Pickmethode zu eigen machen: Wenn
Sie hängen der DBAG einen Klotz ans Bein. Die die Länder Ihren Gesetzentwürfen nicht zustimmen,
Bahn soll ihre Systemvorteile nicht nutzen, darf nicht sondern dagegen stimmen, dann erwähnen Sie diese
investieren und muß nach Ihrem Willen die Preise Länder überhaupt nicht. Wenn es Ihnen nach der
hochhalten. Am bösen Ende muß sie die Finanzlö- Pickmethode paßt, wenn sich ein Land enthalten hat
cher stopfen, die Sie mit Ihrem unseriösen Verhalten oder - wie Hessen - dafür gestimmt hat, dann treten
aufgerissen haben. Sie hier groß auf.

(Zustimmung bei der SPD) (Dr. Klaus Röhl [F.D.P.]: Das ist gerade das
Interessante am Verhalten der SPD!)
Die SPD hat daher beantragt, die Strecke Ham-
burg-Berlin auf keinen Fall von dem europäischen Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege
Hochgeschwindigkeitsnetz der Bahn abzukoppeln, Hasenfratz, gestatten Sie eine zweite Frage des Kol-
sondern auf eine Entwurfsgeschwindigkeit von legen Fischer?
200 km/h zu verbessern. -
(Zuruf von der F.D.P.: Welche SPD?) Klaus Hasenfratz (SPD): Ja, bitte.
Sechstens. Industriepolitisch ist das Referenzpro-
jekt Berlin-Hamburg äußerst kritisch zu bewe rt en. Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU): Herr Kollege
Ich sehe beim besten Willen nicht, daß das Ausland Hasenfratz, wollten Sie mit dieser Bemerkung zum
für den angeblichen Verkaufshit Schlange steht. Da Ausdruck bringen, daß im Kabinett Rau keine inhalt-
nicht zu erwarten ist, daß auf dieser Referenzstrecke liche Meinungsbildung zu dem Bundesratsvotum
alle nichttechnischen Ziele erreicht werden, muß die stattgefunden hat, sondern im Bundesrat rein nach
Sache nach hinten losgehen. dem Zufallprinzip votiert worden ist?
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5195

Klaus Hasenfratz (SPD): Nein, das meine ich nicht Dafür fehlt Ihnen das Geld, wenn Sie ein neues
damit. Milliardengrab für ein technisches Unikum schau-
feln, das wir nicht brauchen und das auch sonst kei-
ner wi ll . Wer wie Sie im zusammenwachsenden Eu-
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege ropa technische Insellösungen fördert, verhält sich in
Hasenfratz, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Wahrheit technikfeindlich.
Kollegin Ferner?
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
Elke Ferner (SPD): Herr Kollege Hasenfratz, kön- PDS)
nen Sie mir bestätigen, daß es im Bundesrat, um ei- Wir halten daran fest, daß das vorrangige ver-
nem Gesetz, einem Gesetzentwurf die Zustimmung kehrs- und industriepolitische Ziel in Europa sein
zu erteilen, auf Ja-Stimmen ankommt und daß Nein- muß, ein leistungsfähiges, vollkompatibles gesamt-
Stimmen genauso wie Enthaltungen keine Zustim- europäisches Schienennetz zu schaffen. Es hat mit
mung sind und so das erforderliche Quorum nicht zu- solider Finanzpolitik zu tun, wenn wir feststellen, daß
stande kommt? die finanziellen Risiken des Transrapids dem Steuer-
zahler aufgebürdet werden. Es ist vorausschauende
Industriepolitik, wenn wir sagen, daß auf Dauer der
Klaus Hasenfratz (SPD): Das kann ich bestätigen. internationale Markt für spurgebundene Hochge-
schwindigkeitssysteme von der Rad-Schiene-Tech-
(Elke Ferner [SPD]: Danke schön!) nik dominiert sein wird. Deshalb haben doch auch
Sie, Herr Wissmann, im Juli anläßlich des Besuchs
des chinesischen Staatspräsidenten den ICE in höch-
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Gestatten Sie sten Tönen gelobt - oder?
noch eine Frage des Kollegen Fischer?
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
Das ist auch richtig!)
Klaus Hasenfratz (SPD): Ja, bitte.
Sie sind in einem Erklärungszwang, wenn Sie den
ICE jetzt als die zweitbeste Lösung abstempeln. Wir
Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU): Herr Kollege haben gute Gründe, warum wir gegen den Bau einer
Hasenfratz, darf ich also Ihre Bemerkung so verste- 285 km langen und mindestens 9 Milliarden DM
hen, daß das Kabinett Rau mit Beteiligung von schweren Transrapid-Referenzstrecke zwischen
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD nach einer Hamburg und Berlin sind.
Meinungsbildung im Kabinett sehr bewußt das Bun-
desratsvotum so abgegeben hat, daß nicht mit Nein Ich stelle noch einmal fest: Die Bundesregierung
gestimmt worden ist, sondern daß man sich der stürzt sich in ein neues unseriöses finanzpolitisches
Stimme enthalten hat? Abenteuer. Alle Abweichungen von den Planannah-
men der sogenannten Wirtschaftlichkeitsberechnung
gehen zu Lasten des Steuerzahlers. Dieses überdi-
mensionierte Projekt ist verkehrspolitisch unsinnig,
Klaus Hasenfratz (SPD): Sie können noch hundert
in seinen finanziellen Risiken für den Steuerzahler
Fragen stellen, das können Sie trotzdem weder mir
nicht zu vertreten und indust ri e- und exportpolitisch
noch dem Ministerpräsidenten Rau unterstellen.
verfehlt.
(Dr. Klaus Röhl [F.D.P.]: Hic Rhodos, hic Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
salta!)
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
Ich frage Sie, Herr Wissmann: Wie wollen Sie das GRÜNEN und der PDS - Dr. Klaus Röhl
dringendste Verkehrsproblem - den Straßengüter- [F.D.P.]: Und die SPD wie immer auf der fal-
verkehr - lösen? Es ist doch vor allem der rasant zu- schen Spur!)
nehmende Straßengüterverkehr, der uns mehr und
mehr die Luft abschnürt. Nur das Rad-Schiene-Sy-
stem bietet die Chancen, die Güterströme langfristig Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile das
ökonomisch und ökologisch zu bewältigen. Wo rt dem Bundesminister für Verkehr, Matthias
Wissmann.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
PDS) Matthias Wissmann, Bundesminister für Verkehr:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist von
Um aber Güter von der Straße auf die Schiene und einigen Rednern von der SPD und dem BÜNDNIS 90/
das Binnenschiff zu bekommen, brauchen wir nicht DIE GRÜNEN der Eindruck erweckt worden - einer
nur ein leistungsfähiges Schienensystem, sondern hat gar das Wort „hinterwäldlerisch" gebraucht -,
auch neue Container- und Verladetechniken, neue wir würden eine provinzielle Entscheidung treffen.
Logistiksysteme. Kurz gesagt: viel Geld für zukunfts-
trächtige technologische und organisatorische Inno- (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/
vationen. Hier liegen unsere Exportchancen. DIE GRÜNEN]: Patent 1937!)
5196 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Bundesminister Matthias Wissmann


Wie man diese Äußerungen zu bewe rten hat, zeigt am Hauptbahnhof enden. Von den in Berlin unter-
sich schlicht an einem Faktum aus der letzten Wo- suchten elf Trassenvarianten sind ebenfalls drei üb-
che. In der letzten Woche hat uns die Nachricht er- riggeblieben, denen allen gemeinsam ist, daß sie ei-
reicht, daß sich Japan entschließt, im nächsten Jahr nen Gelenkpunkt im Bereich des Autobahndreiecks
den Probebetrieb einer Magnetbahnstrecke aufzu- Charlottenburg berühren und von do rt die Möglich-
nehmen und weitere Milliarden aufzuwenden, um keit besteht, sowohl den Nordring zum Endbahnhof
den Anschluß bei dieser Technologie zu finden. Lehrter Bahnhof als auch den Südring zum Endbahn-
hof Papenstraße zu benutzen. Also, das Argument,
Ich frage mich: Wo steckt eigentlich die wirt-
wir würden sozusagen auf der grünen Wiese enden,
schafts- und industriepolitische, die technologie- und
es gebe keine Vernetzung mit dem Nahverkehr und
verkehrspolitische Konzeption, wenn wir in einer
dem Schienenfernverkehr, wird durch die Realität
Zeit, in der wir um Arbeitsplätze, um Perspektiven
aus der Diskussion herausgenommen. Der Transra-
für junge Menschen in einem Hochlohn- und Hoch-
pid wird keine verkehrspolitische Insel. Er wird ins
leistungsland ringen, bei einer Technologie, bei der
europäische Netz integriert. Daß inzwischen die Eu-
wir weiter sind als die Japaner, den Versuch abge-
ropäische Union entschieden hat, ihn ins Transeuro-
schlossen haben und die technische Einsatzreife be-
päische Netz aufzunehmen, zeigt doch, daß Sie pro-
stätigt worden ist und die Japaner versuchen, uns
vinziell alleinstehen, wenn Sie den Transrapid immer
hinterherzukommen, immer noch Leute haben, die
noch ablehnen.
den Transrapid wieder ins Museum fahren lassen
wollen? Da kann ich den Sozialdemokraten nur sa- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
gen: Lernt von Tony Blair bei der Labour Party und
gebt eure Politik auf, die in die Vergangenheit statt Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege,
in die Zukunft weist! gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Fer-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ner?
Wir haben heute die beiden Entwürfe des Magnet-
schwebebahnbedarfsgesetzes und des Allgemeinen Ma tt hias Wissmann, Bundesminister für Verkehr:
Magnetschwebebahngesetzes zu beraten. Es geht Gerne, Frau Kollegin Ferner.
dabei darum, daß wir den vordringlichen Bedarf für
diese Strecke feststellen, die Planfeststellungsbehör- Elke Ferner (SPD): Herr Minister, Sie haben mir mit
den entlasten und Zeit gewinnen. Zeit ist, wenn es dem Stichwort Berlin noch einmal einen Grund zu ei-
um Hochtechnologie, wenn es um den Wettbewerb ner Zwischenfrage gegeben. Senator Haase hat so-
auf den Weltmärkten geht, am Ende bares Geld und eben gesagt, daß Berlin an seine Zustimmung im
hat Wirkungen für Arbeitsplätze. Bundesrat bestimmte Bedingungen geknüpft hat. Sie
schreiben in einem Buch, das der Senator mir vor der
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Sitzung überreicht hat und in dem es um die Ver-
Es kommt doch nicht von ungefähr, daß gestan- kehrsplanung in Berlin geht:
dene Sozialdemokraten zu mir kommen und sagen:
Der Senat hat im Bundesrat dem Magnetschwebe-
„Tut alles, damit es schnell geht", daß der Bürger-
meister von Hamburg, Henning Voscherau, für die- bahnplanungsgesetz unter folgenden Voraussetzun-
ses Projekt einsteht, daß Betriebsratsvorsitzende von gen zugestimmt: daß u. a. wesentliche Randbedin-
Thyssen-Henschel, von Siemens zu mir kommen und gungen erfüllt werden. Erste Randbedingung: Das
mit dem Bund und der Deutschen Bahn AG abge-
händeringend sagen: „Wir müssen Arbeitsplätze er-
halten und entwickeln, helft uns, daß der Transrapid stimmte Eisenbahnkonzept darf nicht zu Lasten der
bald kommt", daß ein so abgeklärter und nüchterner Bahn verändert werden.
Mann wie Georg Leber mir bei einer öffentlichen (Zuruf von der F.D.P.: Wird es ja auch
Veranstaltung zuruft, er sei froh, daß ich das Transra- nicht!)
pid-Konzept durchsetze und durchtrage; er habe
schließlich die Weichenstellungen in den 70er Jahren Einer der nächsten Punkte:
getroffen. Die Kostenübernahme, die sich aus der notwendi-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gen Anbindung an den Fern-, Regional- und Nah-
verkehr ergibt, wird grundsätzlich nach dem Verur-
Meine Damen und Herren, wenn Sie es nicht von uns sacherprinzip geregelt. -
hören wollen, dann nehmen Sie es doch Georg Leber
ab, daß er mit dem Abstand auf Grund seines Alters Das heißt, die Kosten wären dann quasi von der
auch heute noch weiß, was dem Land guttut. Es wäre Transrapid-Gesellschaft zu tragen. Was sagen Sie
gut, wenn Sie davon lernen würden. dazu, Herr Minister? -

(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Die Enkel verste


Matt hias Wissmann, Bundesminister für Verkehr:
hen ihn nicht mehr!)
Frau Kollegin Ferner, die Antworten sind ganz ein-
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einige fach. Sie ergeben sich im übrigen auch schon aus frü-
Argumente aufgreifen, die angesprochen worden heren Stellungnahmen der Bundesregierung und aus
sind: Insellösung. Inzwischen ist die Planungsgesell- dem, was wir beispielsweise morgen durch den Spa-
schaft dabei, die Einfädelung sowohl nach Hamburg tenstich des Bundeskanzlers erleben. Der Bund steht
als auch nach Berlin sicherzustellen. In Hamburg ha- nicht nur zu seiner Zusage zum Transrapid, sondern
ben sich drei Va rianten herauskristallisiert, die alle steht auch zu seinen Zusagen zum Eisenbahnknoten
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5197
Bundesminister Matthias Wissmann
Berlin: Berlin-Magdeburg, Berlin-Potsdam, Berlin- Wer diese Stärken nutzt, der schafft die Arbeitsplätze
Hannover und zur künftigen regionalen Schienen- von morgen, und wer sich verweigert, der verliert im
strecke Hamburg-Berlin. Alles das gehen wir mit Wettbewerb auf den globalisierten Märkten.
Hochdruck an. Ich werde beispielsweise Ende des
Jahres die Fertigstellung des dritten Verkehrspro- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
jekts „Deutsche Einheit", über Magdeburg nach Ber- Das, meine Damen und Herren, ist der tiefere
lin, feiern können. Der Bundeskanzler macht morgen Grund, weshalb ich mich frage, warum eine Partei
den ersten Spatenstich zu dem großen 10-Milliarden- mit einer solchen Tradition wie die SPD bei diesem
DM-Konzept „Eisenbahnknoten Berlin". Thema so erbärmlich wackelt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Wir nehmen von dem, was wir gemacht haben, Heute wieder im Haushaltsausschuß: die einen dafür,
nichts weg. die anderen dagegen.

(Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE (Elke Ferner [SPD]: Zwei!)


GRÜNEN]: Sie kürzen doch den Haushalt Im Bundesrat: die einen Enthaltung, die anderen da-
um 2 Milliarden DM!) für. Mancher sagt dann noch hinter vorgehaltener
Hand, daß er eigentlich für den Transrapid sei, und
Meine Damen und Herren, sind wir doch einmal
einigen Gesichtern habe ich hier vorhin angesehen,
ganz offen: Keiner kann glauben, daß ein Verkehrs-
wie groß die Zweifel an der von dieser Stelle bekun-
träger allein die riesigen Verkehrsprobleme der Zu-
deten Ablehnung sind.
kunft lösen wird. Jeder muß wissen, daß wir bei den
Verkehrszuwächsen - Schiene, Straße, Transrapid Meine Damen und Herren, ich sage ganz offen:
und Wasserstraße - eine optimale Vernetzung der Für mich ist das nicht in erster Linie ein parteipoliti-
Verkehrsträger brauchen. sches Thema. Aber ich frage mich, wie Sie als SPD
eigentlich aus der Krise kommen wollen, wenn Sie
Ich sage auch: Ich setze nicht auf eine Technologie. die Modernisierungsfragen so beantworten, wie Sie
Mir ist die ICE-Technologie in ihren modernen Vari- sie heute wieder beantwortet haben.
anten, die jetzt zunehmend kommen, beispielsweise
die ICE-Neigetechnik, genauso wichtig. Mir geht es (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
am Ende darum, daß wir unsere Verkehrsprobleme
lösen. Aber mir geht es in einem Hochkostenland, in Sie können von einem ausgehen: Wir rechnen
dem wir um Arbeitsplätze ringen, auch darum, daß scharf, wir arbeiten solide, unsere Zahlen sind ver-
wir in ein Zeitalter gehen, in dem die Bahnen eine läßlich.
Renaissance erleben werden. Die Frage ist, ob wir (Lachen der Abg. Elke Ferner [SPD])
mit den modernsten Technologien hier und weltweit Die Rentabilitätsrechnungen, Herr Kollege Hasen-
dabei sind. fratz, gehen davon aus, daß bereits ab 10 Millionen
Passagiere Rentabilität erreicht wird. Die größten
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. -
Skeptiker haben errechnet, daß wir im Jahr 2010
Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/
mehr als 10 Millionen Passagiere haben werden. Ich
DIE GRÜNEN]: Damit machen Sie doch die
verweise auf einen Mann wie Herrn Professor
Schiene kaputt! - Weitere Zurufe vom
Rothengatter, der ursprünglich kein Freund des
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und von der
Transrapid war.
SPD)
Deswegen sage ich Ihnen: Wir werden dieses Kon-
Meine Damen und Herren, ich war im Frühjahr mit zept mit Entschiedenheit weiterführen; denn wir wis-
einer Delegation der Bahnindustrie in China. - Liebe sen, daß am Ende dieses Land positive Antworten
Kollegen, Herr Präsident, ich glaube, daß es bei sol- hinsichtlich der neuen Technologien braucht, wenn
chen Gelegenheiten gut ist, wenn Emotion im Spiel es auch im kommenden Jahrhundert zukunftsfähig
ist, daß es aber auch gut ist, wenn man die Ruhe hat, bleiben will. Meine Bitte ist: Denken Sie um und hän-
über meine strategische Perspektive nachzudenken. gen Sie sich nicht von der Modernisierung ab! Es
- Ein Land wie China würde statt 2 Millionen Privat schadet dem Land - und am allermeisten schadet es
Pkws 480 Millionen Privat-Pkws haben, hätte es die Ihnen.
durchschnittliche Autodichte von Westeuropa. Es ist
doch ganz klar - und es war Gegenstand unseres (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Besuches in China -: Wir brauchen eine lange -
währende Kooperation der Bahnindustrien in ihren
verschiedenen Ausformungen - U-Bahn-Systeme, Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Zu einer Kurz-
S-Bahn-Systeme, Neigetechniksysteme, vielleicht intervention erteile ich dem Abgeordneten Ernst
auch Transrapid-Systeme -, um die Ressourcen do rt Schwanhold das Wo rt .
optimalzunedchökolgisbern
Lösungen zu kommen. Ernst Schwanhold (SPD): Herr Kollege Wissmann,
wir haben in diesem Land Probleme mit der Technik-
Jetzt sage ich noch eines: Was wir in Deutschland akzeptanz; das ist richtig.
nicht haben, sind Rohstoffe; was wir in Deutschland
haben, sind Ideenreichtum, Kreativität, Erfindergeist. (Zuruf von der CDU/CSU: Bei Ihnen!)
5198 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

E rn st Schwanhold
- Lassen Sie es einmal sein! Ich versuche doch, eine Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Minister
Antwort zu finden, auf die man sich verständigen Wissmann, Sie können dazu Stellung nehmen.
kann. Ich bitte Sie, dies nicht durch Zwischenrufe zu
unterbrechen. Sie können mir ja hinterher ant-
worten. Ma tt hias Wissmann, Bundesminister für Verkehr:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man
Dies scheint das eigentliche Standortrisiko der stellt bei den Ausführungen des Kollegen Schwan-
Bundesrepublik Deutschland zu sein. Das hat etwas hold fest, daß sich die Argumente der SPD ständig
mit kurzen Amortisationszeiten bei der Einführung auf unterschiedlichen Ebenen bewegen.
von Techniken zu tun. Es hat aber auch etwas mit
menschlichen Ängsten zu tun, die man nicht mit Re- (Elke Ferner [SPD]: Überhaupt nicht!)
den, wie Sie sie hier gehalten haben, abbauen kann. Die einen sind gegen die Technik an sich,
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Klaus Lennartz [SPD]: Wer? - E rnst
Schwanhold [SPD]: Wer hat das erzählt?)
Deshalb bitte ich Sie sehr herzlich, auf die anstehen-
den Probleme angemessen einzugehen und auch die - beispielsweise der Kollege Kuhlwein, der vorhin
ökonomischen Probleme so zu würdigen, daß sich und heute morgen im Haushaltsausschuß eine Philip-
die Menschen, die sich darüber Sorgen machen, pika gegen das Konzept des Transrapid gehalten
darin wiederfinden. hat -, die anderen stellen die Frage nach der be-
triebswirtschaftlichen Seite. Die Dritten stellen die
Ich mache noch eine Vorbemerkung: Ich bin für Frage nach der genauen Fahrtstrecke. Was soll ich
den Wettbewerb von Verkehrssystemen. Aber ich eigentlich hinter einer Sozialdemokratie vermuten,
bin nicht für einen Wettbewerb um Subventionen, die nach genau 20 Jahren Tests, nach mehreren Jah-
'wenn parallele Strecken gebaut werden, die zwangs- ren Streit über die Frage, wo die Strecke herlaufen
läufig beide in Defizite abgleiten müssen. soll, nach der Vorlage eines klaren Finanzierungs-
konzepts am Ende noch immer unfähig ist, eine klare
(Beifall bei der SPD) Antwort auf die anstehende Frage zu geben?
Deshalb: Suchen Sie nach einer Strecke, die sich ren- (Beifall bei der CDU/CSU)
tabel betreiben läßt. Es ist ein gutes Verkaufsargu-
ment, eine Strecke vorzuführen, die sich selbst trägt Meine Damen und Herren, ich bitte Sie darum:
und mit der man Geld verdienen kann. Entscheiden Sie, was Sie wollen, aber wechseln Sie
nicht ständig die Ebenen Ihrer Argumente!
Lassen Sie bitte die Bemerkung sein, daß die Be-
triebsräte zu Ihnen kommen und sagen, wir sollten (Elke Ferner [SPD]: Es gibt leider so viele
den Transrapid bauen. Natürlich kommen Betriebs- Argumente gegen die Strecke Berlin!)
räte auch zu uns und sagen, wir sollten dieses oder
Denn am Ende stellt sich auch die Modernisierungs-
jenes machen. Teilweise werden sie von den Unter-
frage der Sozialdemokratie in Deutschland.
nehmensleitungen geschickt, die in ihren eigenen
Unternehmen Mißmanagement bet rieben haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Was ist denn mit der DASA, was ist denn mit den Per-
sonalräten der Eisenbahn gewesen? Die sind doch zu
uns gekommen, aber nicht, weil es Probleme mit der Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich schließe
Technik gab, sondern weil es Probleme mit Mißma- damit die Aussprache.
nagement sowie damit gegeben hat, daß keine Be-
reitschaft bestand, die Eisenbahn zu entschulden Interfraktionell wird die Überweisung der Vorla-
und das Bet riebssystem von den Fahrwegkosten zu gen auf den Drucksachen 13/2345, 13/2346, 13/2570
befreien. und 13/2573 an die in der Tagesordnung aufgeführ-
ten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
Insofern bitte ich Sie sehr herzlich, dafür zu sorgen, verstanden? - Ich sehe und höre keinen Wider-
daß Technikakzeptanz hergestellt werden kann und spruch. Dann sind die Überweisungen so beschlos-
wir den Wettbewerb um intelligente Systeme eröff- sen.
nen und nicht versuchen, ihn zu erschlagen. Ich möchte noch mitteilen, daß die ursprünglich für
Nehmen Sie bitte die betriebswirtschaftlichen Ar- morgen als erster Punkt der Tagesordnung vorgese-
gumente außerordentlich ernst. Diese halte ich noch hene Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
nicht für ausgeräumt. SPD zu den Auswirkungen der Steuerausfälle auf die
Haushaltslage des Bundes, wie im Ältestenrat verein- -
Hinsichtlich der ökologischen Argumente würde bart, entfällt, weil das Thema in der heutigen Regie-
ich Herrn Röhl bitten, das, was er in der vergangenen rungserklärung des Bundesfinanzministers erörtert
Periode in der Enquete-Kommission, der er angehört worden ist.
hat, eigentlich hätte hören sollen, nachzulesen. Dann
hätten Sie vielleicht die eine oder andere Flanke Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 und den Zu-
nicht so offengelegt. satzpunkt 9 auf:
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne 6. Beratung des Antrags der Abgeordneten
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Klaus Lennartz, Friedhelm Julius Beucher,
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5199
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
Dr. Angelica Schwall-Düren, weiterer Abge- Dabei liegen die Fakten auf der Hand. Die Zusam-
ordneter und der Fraktion der SPD menhänge werden immer klarer. Wie neue Forschun-
gen ergeben, sind Schadstoffe in der Luft und im
Kindergesundheit und Umweltbelastungen
Wasser, Chemikalien in der Nahrung, Blei im Trink-
- Drucksache 13/1968 - wasser sowie Lärm und Streß in großem Umfang an
Überweisungsvorschlag:
der Entstehung von Krankheiten beteiligt.
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Die Bundesregierung hat seit 1987 etwa 60 Mil-
Ausschuß für Gesundheit (Federführung strittig) lionen DM in die Allergieforschung gesteckt. Inzwi-
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend schen sind fast acht Jahre vergangen. Nachfragen
beim Bundesumweltamt in Berlin ergeben allerdings,
ZP9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Vera daß noch immer keine präzisen Ergebnisse und Aus-
Lengsfeld, Gila Altmann (Aurich), Franziska wertungen vorliegen sollen. Oder sollen diese Ergeb-
Eichstädt-Bohlig, weiterer Abgeordneter und nisse verschwiegen werden? Soll verschwiegen wer-
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den, daß die Zahl seit der letzten Untersuchung be-
reits um das Vierfache gestiegen ist? Hier erwarten
Die Notwendigkeit von ökologischen Kinder-
wir von Ihnen, Frau Staatssekretärin, eine Antwort,
rechten; Gefährdung von Kindern durch Um-
warum Sie diese Daten verschweigen.
weltgifte
Die Forschung muß neu orientiert werden und ein
- Drucksache 13/2574 —
größerer Praxisbezug, etwa durch intensive Zusam-
Überweisungsvorschlag: menarbeit mit Organisationen wie der „Arbeitsge-
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit meinschaft allergiekrankes Kind" und anderen her-
Ausschuß für Gesundheit gestellt werden. Statt dessen flüchtet sich die Regie-
(Federführung strittig) rungskoalition in Hilfsargumentationen, die ihre Un-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für tätigkeit nur abstützen sollen. Forschungsdefizite
werden beklagt. Aber ein umfassendes Forschungs-
die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgese-
hen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so programm zum Thema Kindergesundheit und Um-
weltbelastungen ist nach wie vor nicht in Sicht.
beschlossen.
Dies gilt auch für die Erforschung von Zusammen-
Ich eröffne die Aussprache. Das Wo rt hat der Ab- hängen zwischen hohen gesellschaftlichen Anforde-
geordnete Klaus Lennartz. rungen wie der alltäglichen Reizüberflutung, schuli-
schem Leistungsdruck oder sozialer Desorientierung
und dem Konsum von Suchtmitteln wie Alkohol und
Klaus Lennartz (SPD): Herr Präsident! Meine sehr
Zigaretten.
verehrten Damen und Herren! Nach neuen Unter-
suchungen sind in den letzten Jahren bestimmte (Editha Limbach [CDU/CSU]: Und Ha-
Formen von Gesundheitsbeeinträchtigungen und schisch!)
Krankheiten in der jungen Generation sehr stark an-
gewachsen, insbesondere auch chronische Erkran- - Selbstverständlich, Frau Kollegin. Da werden Sie
kungen. Besonders im Bereich der Allergien sind meine Unterstützung haben. Ich wollte aber gern Ih-
alarmierende Entwicklungen eingetreten. Heute lei- ren Vorschlag aus der CDU/CSU-Fraktion hören,
den nach Erkenntnissen der Bielefelder Universität was von der strafrechtlichen Verfolgung freizuhalten
etwa 5 % der Jugendlichen eines Jahrgangs unter ist und was nicht.
Asthma. Weitere 5 % haben Neurodermitis. Etwa Rauchen ist unter Kindern und Jugendlichen sehr
10 % klagen über Heuschnupfen und fast 15 % über stark verbreitet. Ein Drittel der Jugendlichen von 14
andere allergische Erkrankungen. 70 % aller Kinder bis 17 Jahren bezeichnen sich als Gelegenheits- oder
leiden nach Erkenntnissen des Deutschen Kinder- sogar als ständige Raucher. Mehr als die Hälfte der
schutzbundes an psychosomatischen Beeinträchti- rauchenden Jugendlichen haben nach einer Studie
gungen. Immer mehr Kinder und Jugendliche leiden der Bundeszentrale für politische Bildung den Slogan
sogar unter Bluthochdruck. „Ich rauche gern" verinnerlicht. Gerade Kinder sind
aus ihrer unterlegenen gesellschaftlichen Situation
Gegenüber den 50er Jahren haben sich die Ver- heraus für eine Werbung mit dera rt igen Att ri buten
breitungsdaten von Kinderkrankheiten verdoppelt, besonders empfänglich. Deshalb müssen - ich sage
manche Wissenschaftler sprechen sogar von einer das sehr hart - die Schnittstellen zwischen Nikotin-
Verdreifachung. konsum und Kindern gekappt werden.
Bei den allergischen Erkrankungen handelt es sich Tabakwerbung ist auf die Produktinformation zu
eindeutig um Erkrankungen, die ihre Ursachen in beschränken. Um Kindern den Zugang zu Tabak zu
der Umweltverschmutzung haben. Allein - oder bes- erschweren, müssen Zigarettenautomaten aus dem
ser formuliert: mehr als - 1,5 Millionen Kinder leiden öffentlichen Straßenraum verschwinden.
an chronischen Halshautreizungen - Alarmsignale,
meine Damen und Herren, die sich zwar in wohlge- (Beifall bei der SPD)
setzten Worten zum Weltkindertag niederschlagen, Tabakprodukte dürfen grundsätzlich nicht an Min-
nicht aber in praktischer Arbeit dieser Bundesregie- derjährige abgegeben werden. Ich formuliere das
rung. sehr klar: Es muß ein Vergabeverbot für Tabakpro-
(Beifall bei der SPD) dukte ausgesprochen werden; sie dürfen nicht an
5200 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Klaus Lennartz
Kinder weitergegeben werden. Es ist ein Ding der Meine Damen und Herren, ich darf einen Satz zi-
Unmöglichkeit, daß das noch immer der Fall ist, ob- tieren: „Auch dürfte keine politische Entscheidung,
wohl die gesundheitlichen Schäden und Risiken be- etwa in der Verkehrs- und Umweltpolitik, ohne
kannt sind. Rücksicht auf die Kinder getroffen werden. Die Zu-
(Beifall bei der SPD) kunft unserer Kinder muß Maßstab unserer Politik
sein. " Das ist richtig. Frau Bergmann-Pohl, dies kön-
Überall do rt , wo sich Kinder bevorzugt aufhalten, nen Sie Ihrer Ministe rin ausdrücklich mitteilen. Die-
muß ein striktes Rauchverbot herrschen. Dies gilt be- ser Satz steht. Aber ich bitte Sie: Dann handeln Sie
sonders für Spielplätze und auch für Schulen. Wir auch danach, was Sie auf dem Weltkindertag formu-
wissen heute, daß nicht nur Rauchen, sondern auch liert haben! Unterstützen Sie diesen Antrag, wie er
passives Mitrauchen zu großen Gesundheitsrisiken hier vorliegt! Gehen Sie auf diese Punkte ein, und
führt. halten Sie nicht nur Sonntagsreden am 26. September
Nicht vergessen werden darf in diesem Zusam- 1995!
menhang der Schutz des werdenden Lebens im Mut-
Meine Damen und Herren, in der Verfassung des
terleib vor gesundheitlichen Beeinträchtigungen.
Freistaates Bayern steht geschrieben: „Gesunde Kin-
Hier ist noch viel Aufklärungsarbeit nötig. Konkrete
der sind das köstlichste Gut eines Volkes." Danach
Schritte hierzu sind zur Zeit leider nicht absehbar -
sollten Sie handeln, meine Damen und Herren. Wir
ein Makel, der diese Koalition ja in vielen Politikfel-
sind der Anwalt der Kinder nicht nur am Weltkinder-
dern prägt.
tag, sondern an 365 Tagen im Jahr. Darum geht es.
Die SPD-Bundestagsfraktion bekräftigt deshalb
heute ihre Forderung nach mehr Aktion, nach mehr (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
Aufklärung, nach mehr konkretem Handeln auf dem ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Feld der Kindergesundheit. Wir sind fest davon über- und der PDS)
zeugt, daß ein Generationenvertrag über eine ge-
sunde Umwelt und über intakte Lebensbedingungen
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile das
mit unseren Kindern erforderlich ist, wenn die übri-
Wort der Kollegin Editha Limbach.
gen Generationenverträge morgen überhaupt noch
akzeptiert werden sollen. Ich spreche hier von den
ökologischen Kinderrechten, die von uns förmlich
Editha Limbach (CDU/CSU): Herr Präsident!
eingeklagt werden müssen. Hier geht es darum -
Meine Damen und Herren! Vor einigen Wochen
und wir bitten Sie, sich auch dazu zu bekennen -,
nahm ich an einer Podiumsdiskussion teil, bei der es
wie Sie dazu außer in Ihren Reden zum Weltkinder-
auch um solche Fragen ging. Dort berichtete ein Kin-
tag stehen.
derarzt von einer Untersuchung, bei der Kinder in
Die junge Generation von heute ist die Gesellschaft den Vereinigten Staaten von Amerika und Kinder in
von morgen. Wir sind der Auffassung, daß sich eine der Bundesrepublik Deutschland befragt wurden.
positive Zukunftshaltung unserer Kinder, eine posi- Sie wurden nicht danach befragt, wie sie sich verhal-
tive Grundhaltung zur Technik nur fördern lassen, ten, was sie machen, wie sie mit ihren Eltern zurecht-
wenn die konkrete Umwelt unsere Kinder nicht krank kommen, sondern sie wurden schlicht und einfach
machen wird. Ansonsten besteht doch förmlich eine gefragt: Was fällt dir beim Stichwort Gesundheit ein?
Angst vor der Zukunft. Hier gilt es, Akzeptanz zu
schaffen, umzudenken, und zwar gemeinsam. Den amerikanischen Kindern fiel ein: kein Junk
food essen, nicht soviel Fernsehen gucken - ich sagte
(Beifall bei der SPD) ja, sie wurden nicht gefragt, ob sie es tun oder nicht,
sondern sie wurden gefragt, was ihnen einfällt -, viel
Die SPD-Bundestagsfraktion fordert deshalb heute draußen spielen, Spo rt treiben. Und was fiel den
die Bundesregierung auf, ein umfassendes For- deutschen Kindern ein? Arzt, Krankenhaus, Apo-
schungsprogramm „Kind, Gesundheit und Umwelt" theke, Sp ritze, Krankenschwester.
aufzulegen, um die ökologischen Kinderrechte auf
ein gesundes Leben zu verwirklichen. Wir fordern als Ich meine, das zeigt etwas, was mit dem heute zu
ersten Schritt die Einrichtung einer Informations- behandelnden Thema zu tun hat. Unabhängig da-
und Datensammelstelle beim Umweltbundesamt. von, wie sie sich verhalten, wissen amerikanische
Kinder offenbar besser, was ihrer Gesundheit guttut
Wir fordern eine umweltmedizinische Wirkungs-
als deutsche Kinder. Das ist aber nicht allein Schuld
forschung, z. B. durch die Aufstellung entsprechen-
der Politik, sondern das ist natürlich auch Schuld der
der Wirkungskataster durch ein Monitoringpro-
Eltern, der Umwelt, des Fernsehens; da kann man
gramm zur Erhebung der Gesundheitsdaten, die öf-
jetzt eine ganze Menge Leute und Faktoren aufzäh-
fentlich zugänglich zu machen sind.
len.
Wir fordern eine Qualitätskennzeichnung für kin-
dergerechte Nahrungsmittel. Ich denke z. B. auch an Ich hatte nur so ein bißchen den Eindruck, als hät-
den „Blauen Engel" für dera rtige Produkte. Darum ten die Kinder in Amerika den Gesundheitsbericht
geht es doch. der Europäischen Kommission gelesen, in dem über
die Determinanten, also die Dinge, die die Gesund-
Dies sind nur einige Punkte aus unserem Antrag, heit bestimmen, folgendes steht. Negativ: Mißbrauch
den wir Ihnen heute mit 27 Punkten vorlegen. Die von Alkohol, von Tabak, von Drogen, von Arzneimit-
Gesundheit unserer Kinder sollte uns das we rt sein. teln, zu wenig Bewegung und falsche Ernährung.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5201
Editha Limbach
Und positiv dann natürlich genau das Umgekehrte - Eltern eine große Rolle. Wie sonst soll das gemacht
darunter sind viele Faktoren, die in der Fami lie eine werden?
Rolle spielen -: Zuwendung, Interesse, sich beheima-
tet fühlen und viele Dinge, die in einer Gesellschaft (Beifall bei der CDU/CSU - Klaus Lennartz
eine Rolle spielen, ob man nämlich die Kinder ver- [SPD]: Sie können es technisch lösen!)
jagt, weil sie ein bißchen Lärm machen, oder ob man Ich will Ihnen einmal etwas sagen: Wenn es bei-
in der Gaststätte fast Angst haben muß, ein Kind bei spielsweise so außerordentlich schwer ist, den
sich zu haben, weil es ja vielleicht kleckern oder den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz durch-
Ober einmal dumm angucken könnte. Gerade wenn zusetzen, dann wundere ich mich nicht, daß manche
man die Umwelt betont, muß man diese sehr umfas- Eltern, durch alle möglichen Dinge überlastet, in ih-
send betrachten. Ich selbst tue dies. rer Verzweiflung die Kinder gelegentlich einmal eine
Ich habe mich etwas gewundert, Herr Lennartz, Stunde vor den Fernseher setzen, um sie ruhigzustel-
daß Sie in Ihrem Antrag zu diesem Thema, das natür- len. Hätten wir z. B. genügend Kinderbetreuungs-
lich und richtigerweise hochemotional ist, weil Um- plätze, hätten die Kinder wenigstens in der Zeit ge-
welt und Kindergesundheit zusammentreffen, arg nug andere Anregungen und müßten nicht vor das
negativ begonnen haben. Ich finde, daß man immer Fernsehgerät gesetzt werden.
dann, wenn man den Leuten erst Angst macht und (Beifall bei der CDU/CSU)
anschließend sagt, was man dagegen macht, wenig
Echo findet. Kommen wir nun zu etwas anderem. Sie haben ge-
sagt, Sie wüßten praktisch schon, welche Umwelt-
(Klaus Lennartz [SPD]: Frau Kollegin, stim
schäden auf die Gesundheit einwirkten. Allerdings
men meine Zahlen, oder stimmen sie nicht?)
haben Sie gesagt, es müsse mehr erforscht werden.
Ich hätte mir gewünscht, Sie hätten darauf hinge- Das ist wahr. Wenn man aber auf der einen Seite
wiesen, daß z. B. die Kindersterblichkeit Gott sei sagt, da muß viel mehr erforscht werden, auf der an-
Dank und erfreulicherweise enorm zurückgegangen deren Seite aber schon weiß, welche Folgen auftre-
ist. Ich hätte mich auch gefreut, wenn Sie darauf hin- ten, dann frage ich mich: Wie ernst ist Ihnen eigent-
gewiesen hätten, daß wir durch Vorsorgeuntersu- lich das eine oder das andere?
chungen, Impfschutzmaßnahmen und dergleichen
auf vielen Gebieten im Umgang mit Kinderkrankhei- Wenn ich das richtig gelesen habe, hat der Aus-
ten sehr viel weiter sind, als es der Fall war, als wir schuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Techno-
kleine Kinder waren. Dann hätte ich gesagt: Heute logie und Technikfolgenabschätzung auf Anregung
aber haben wir neue Gefährdungen, über die wir des Umweltausschusses das Büro für Technikfolgen-
nachdenken müssen, und zwar präventiv. Deshalb ist abschätzung beauftragt, eine Studie zu einem Pro-
es richtig, wenn wir sagen: Auch eine gesunde Um- jekt „Umwelt und Gesundheit" zu entwickeln. Die
welt gehört zu den Voraussetzungen, damit Kinder Ergebnisse sollen im Mai 1996 vorliegen. Ich wäre
und Erwachsene gesund leben können. froh, es kämen solche Ergebnisse dabei heraus, daß
wir uns anschließend gemeinsam im Deutschen Bun-
Ich bin aber ein bißchen traurig über Ihren Antrag, destag daranmachen könnten, daraus Folgerungen
weil ich dachte, wir hätten uns gemeinsam einige zu ziehen und diese dann auch umzusetzen.
kluge Schritte vornehmen können.
Natürlich haben Sie auch einige Punkte dargelegt,
(Klaus Lennartz [SPD]: Machen Sie ein paar bei denen wir völlig mit Ihnen übereinstimmen:
Vorschläge!) Grenzwerte beim Trinkwasser, Grenzwerte in ande-
ren Bereichen. Selbstverständlich ist das dringend
In diesem Antrag stehen eine ganze Menge von nötig. Das ist auch eine staatliche Aufgabe. In Erfül-
Punkten. Dort ist einfach alles, was nur geht, zusam- lung dieser Aufgabe setzt sich die Bundesregierung,
mengepackt. vom Bundestag unterstützt, auf der europäischen
Ich möchte hier keineswegs alle diese Punkte be- Ebene für vernünftige Regelungen ein. Das ist alle-
urteilen, nehme aber einmal einen Punkt heraus, und mal besser, als wenn wir nur versuchten, etwas natio-
zwar Punkt 18: nal zu entwickeln und dies überall sonst nicht so
funktioniert.
Maßnahmen gegen die ständig zunehmende
Reizüberflutung von Kindern müssen ergriffen Genauso richtig ist Ihre Anregung bezüglich der
werden. Kinder im Alter von zehn Jahren sehen Ausbildung der Mediziner, mehr zur Umweltmedizin
durchschnittlich zweieinhalb bis drei Stunden überzugehen.
pro Tag fe rn . -
(Friedhelm Julius Beucher [SPD]: Danke!)
Das ist leider wahr. Ich frage mich aber: Was soll
denn die Bundesregierung dagegen machen? Soll sie - Selbstverständlich ist das richtig. Wie Sie aber wis-
verbieten, daß Kinder fernsehen? Dann müßten wir sen, bestimmt nicht die Bundesregierung und auch
in jedem Haushalt jemanden neben das Fernsehge- nicht der Bundestag per Gesetz darüber, was in die-
rät stellen, der aufpaßt. sem Bereich passiert. Das heißt, wir müssen auf allen
Ebenen dafür sorgen, daß das erfolgt.
(Klaus Lennartz [SPD]: Quatsch!)
Sie können nicht einfach hierherkommen und im
Bei dieser Frage spielen Erziehung, ein anderes in Bundestag den Eindruck erwecken, als könne und
teressantes Angebot und übrigens auch Hilfen für müsse die Bundesregierung bzw. der Bundestag in
5202 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Editha Limbach
allen Feldern, vor allem auch do rt, wo sie bzw. er es - Ja, das will ich Ihnen sofort sagen. Es gibt viele
gar nicht kann, tätig werden. hunderttausend Vorschriften für einen Spielplatz mit
der Folge, daß er so sicher eingerichtet wird - ich
(Klaus Lennartz [SPD]: Es muß doch einmal weiß, daß da Haftungsgründe eine Rolle spielen; da-
ein Anstoß gegeben werden, Frau Kolle für war ich lange genug in der Kommunalpolitik tä-
gin!) tig -, daß das Kind ein normales Verhalten - wenn es
Es gibt eine Menge Punkte in Ihrem Antrag - ich stolpert, rutscht, fällt oder sonst etwas - gar nicht
führe sie jetzt nicht einzeln auf -, wo es heißt: in Be- mehr lernt. Ich kenne keinen Baum, der gleichmäßig
nehmen mit den Ländern. Wenn man einmal genau dicke Äste hat, die kein bißchen dicker sein dürfen.
hinschaut, dann stellt man fest, daß es sich gerade Ich fände es viel schöner, wenn man den Kindern auf
um Länderaufgaben handelt. Über die Gesundheits- die Spielplätze Bäume setzte, auf denen man herum-
erziehung in der Schule können wir hier im Bundes- klettern darf und, weil man nicht so hoch klettert,
tag soviel reden und uns so einig sein, wie wir wol- sich allenfalls das Knie aufschürft, wenn man einmal
len. Ich glaube auch, wir sind uns einig. Wenn das herunterfällt.
aber auf der Länderebene von den Kultusministern
nicht umgesetzt wird, dann stehen wir da. Ich habe das nur gesagt, weil ich denke, daß vieles
von dem, was Sie beklagen, auch eine Folge dessen
(Beifall der Abg. Ilse Falk [CDU/CSU]) ist, wie wir uns als Erwachsene und als Verantwort-
liche innerhalb der Politik, aber auch außerhalb der
Wir können hier beschließen, was wir wollen, weil Politik auf die Situation von Kindern einstellen und
nicht wir die Kompetenz haben, sondern andere. diese erleichtern. Da gibt es den Bereich, in dem wir
gesetzliche Möglichkeiten haben. Da gibt es den Be-
Ich meine, es gehört auch zur Fairneß, daß man in
reich, in dem wir mit Einfluß ausüben können. Da
einen solchen Antrag nach Möglichkeit nicht alles
gibt es den Bereich, in dem Länder oder Kommunen
Wünschenswerte hineinschreibt, sondern sehr kon-
gesetzliche Möglichkeiten haben. Und es gibt auch
kret sagt: Da ist der Punkt, für den wir verantwortlich
den Bereich, in dem Eltern, Erzieher, Verwandte
sind, und das wollen wir machen.
selbst verantwortlich sind. Das trifft auch für Rau-
Deshalb, meine ich, ist es zwingend erforderlich, chen, Trinken, Medikamentenmißbrauch und der-
daß wir uns in den Ausschüssen mit diesen Punkten gleichen zu.
befassen, damit wir wirklich zu dem Ergebnis kom-
men, das wir für unsere Kinder brauchen. Deshalb, meine ich, sollte man nicht, wie Sie das
gemacht haben, immer wieder sagen, die Regierung
Weil Sie so sehr auf die Umwelt hingewiesen ha- müsse dieses und jenes tun, sondern statt dessen sa-
ben, möchte ich folgendes sagen: Aus dem Be richt gen, was wir alle gemeinsam auf allen Ebenen, auf
der EU-Kommission geht hervor, daß die häufigste denen wir Verantwortung haben, tun müssen, damit
Todesursache bei Kindern im Alter zwischen einem auch in Zukunft die Berichte, die wir über die Ge-
Jahr und 14 Jahren Unfälle sind. sundheit unserer Kinder bekommen, so sind, daß wir
uns freuen können, daß heute mehr Kinder gesund
(Klaus Lennartz [SPD]: Ein trauriger Rekord sind als vor vielen, vielen Jahren.
in der Bundesrepublik! 53 000 Unfälle pro
Jahr!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
- Ja, und das hängt durchaus mit der Umwelt zusam-
men, weil es natürlich auch Unfälle in den Räumen
gibt, in denen Kinder spielen, auf den Straßen, auf Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile der
denen sie sich aufhalten. Aber bis zum fünften Le- Kollegin Vera Lengsfeld das Wo rt .
bensjahr finden die meisten Unfälle von Kindern zu
Hause statt.
Auch da frage ich mich: Sind das alles Dinge, die Vera Lengsfeld (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr
wir als Bundestag beschließen können? Natürlich Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen!
können wir beschließen: Es finden ab sofort keine Frau Kollegin Limbach, ich muß wirklich sagen, daß
Unfälle mehr statt! mich Ihre Rede fassungslos gemacht hat. Sie hat
mich fassungslos gemacht, weil Sie sich hier hinstel-
(Klaus Lennartz [SPD]: Das ist doch len und so tun, als debattierten wir dieses Thema das
Quatsch!) erste Mal in diesem Hohen Hause. Tatsache ist aber,
daß wir die gleichen Anträge vor zweieinhalb Jahren
- Ja, natürlich ist das Quatsch, Herr Lennartz. Des- schon einmal auf der Tagesordnung hatten. Die-
halb sage ich es ja auch. Aber so etwas könnte man große Schande dabei ist, daß ich meine Rede, die ich
Ihrem Antrag gelegentlich entnehmen. im Mai 1993 gehalten habe, hier wortwörtlich wie-
Nein, wir müssen dazu beitragen, daß die Unfall- derholen könnte, und sie hätte nichts an Aktualität
gefahr gemindert wird. Das gehört auch zur Umwelt. eingebüßt.
Aber da frage ich mich z. B. auch, ob nicht manche
Regelung auf Landesebene eher zu Unfällen bei- Dann stellen Sie sich hier hin und sagen: Warum
trägt, statt sie zu verhindern. handelt ihr denn nicht? Die Einzelfallstudien sind
alle da, die Daten kennen wir. - Aber wenn Sie die
(Klaus Lennartz [SPD]: Wo denn?) Daten kennen, was hat Sie dann veranlaßt, zweiein-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5203
Vera Lengsfeld
halb Jahre lang untätig zu bleiben? Sie stellen doch genüber unser aller Kinder gerecht werden will,
die Regierung. dann brauchen wir nicht irgendwelche Reparaturen,
sondern den ökologischen Umbau der Industriege-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sellschaft.
sowie bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wie kommen Sie dazu, uns ständig Schwarzmale-
rei vorzuwerfen und zu sagen, wir würden die Situa- Es ist klar, daß hinter ökologischen Kinderrechten die
tion zu negativ beschreiben? Es ist doch eine Tat- Frage nach den Prämissen der Industriegesellschaft
sache, daß die schleichende Vergiftung der Kindheit und nach den Grundlagen der politischen Ethik
gravierende Folgen bei der heranwachsenden Gene- steht. Ich will das einmal sagen, um die Dimension
ration hat. Es ist doch keine Schwarzmalerei, son- deutlich zu machen, um die es geht.
dern Tatsache, daß 10 bis 15 Prozent der Kinder an Wenn wir uns darüber klar sind, daß wir in diesen
Asthma erkrankt sind und daß sich die Zahl der an Dimensionen zu denken haben, dann hinde rt uns
Asthma erkrankten Kinder in den vergangenen Jah- das doch keineswegs daran, konkrete erste Schritte
ren mehr als verzehnfacht hat. vorzuschlagen. Ich kann nur wiederholen: Wir haben
das bereits vor zweieinhalb Jahren getan. Wir haben
Es ist doch einfach eine Tatsache, daß rund das unter anderem deswegen getan, we il wir eine
10 Prozent aller Kinder unter Bronchitis leiden und tiefe Mitverantwortung für das fühlen, was unseren
daß 11 Prozent der Zehnjährigen bereits Heuschnup- Kindern passiert. Weil wir gemerkt haben, daß die
fen haben und jedes zweite Kind bei Allergietests Regierungskoalition unfähig ist, mit den entspre-
empfindliche Reaktionen zeigt. chenden Vorschlägen zu kommen, haben wir als
Opposition entsprechende Vorschläge gemacht. Sie
Es ist keine Schwarzmalerei, sondern Tatsache,
hätten diese Vorschläge aufgreifen können, und wir
daß 1,2 Millionen Kinder an Neurodermitis leiden
hätten dann heute auf einem ganz anderen Niveau
und sich die Zahl der Kinder, die an dieser chroni-
diskutieren können, z. B. über die Umsetzung dieser
schen Hautreizung erkrankt sind, seit 1975 verdop-
Vorschläge und darüber, was sie gebracht haben.
pelt hat. In München haben mittlerweile 11 Prozent
der Schulanfänger Neurodermitis; in Hamburg sind (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
es sogar 20 Prozent. und bei der SPD)
Es ist keinerlei Schwarzmalerei, wenn man diese Weil aber das alles nicht passiert ist und we il Sie,
Tatsachen einmal nennt. Man kann das doch nicht Frau Kollegin Limbach, eingefordert haben, wir soll-
wegdiskutieren, indem man sagt: Die Kindergesund- ten unserer Verantwortung gerecht werden, wi ll ich
heit hat sehr viel mit Umwelt und auch mit der Ihnen sagen, was unsere Fraktion als erste Schritte -
Schadstoffbelastung zu tun. Das ist alles richtig. Bloß: aber wirklich nur als erste Schritte - vorschlägt. Das
Wo sind denn Ihre CDU-Stadträte, wenn es um hätten Sie übrigens auch unserem Antrag entneh-
Tempo 30 in Wohngebieten geht men können; aber ich sage es hier noch einmal.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Wir brauchen als erstes verbindlich einklagbare
Editha Limbach [CDU/CSU]: In Bonn gilt Vorsorgewerte für alle Umweltschadstoffe, die den
Tempo 30 in Wohngebieten, bei CDU-Mehr Schutz der Kinder garantieren. Diese Vorsorgewerte
heit eingeführt!) müssen Langzeiteffekte, Kombinationswirkungen
und kurzzeitige Spitzenwerte sowie die besondere
aus Sorge um die Abgasbelastung, der Kinder ausge- Empfindlichkeit der Kinder berücksichtigen. Die
setzt sind? Denn Kinder schlucken auf Grund ihrer Schadstoffe müssen do rt gemessen werden, wo die
geringeren Größe ein Zigfaches der Menge an Abga- Kinder ihnen ausgesetzt sind, und zu Zeiten, zu de-
sen, die Erwachsene einatmen. nen Kinder hauptsächlich unterwegs sind.

Ich frage mich wirklich seit zweieinhalb Jahren, Ärzte, Krankenschwestern und Medizinstudenten
was Sie daran hindert, diese Probleme endlich zu er- müssen für die Behandlung allergologischer und um-
kennen und zu handeln. Ich muß sagen, daß ich nach weltbedingter Kinderkrankheiten aus- und weiterge-
Ihrer Rede diese Frage immer noch nicht beantwor- bildet werden. Wir halten für Kinderärzte eine toxi-
ten kann. Ich halte es für eine typische Reaktion der kologische Grundausbildung für notwendig.
Regierungskoalition, daß damals in der Debatte Herr Versorgungseinrichtungen, auch mobile Umwelt-
Rüttgers folgenden Zwischenruf fabriziert hat: „Das stationen, zur Behandlung von Kindern und Jugend-
Leben ist halt lebensgefährlich!" Das ist eigentlich lichen müssen eingerichtet und Selbsthilfegruppen -
eine Äußerung, die ihn nicht gerade als Zukunfts- für umweltgeschädigte Kinder gefördert werden.
minister qualifiziert.
Schließlich müssen die Daten über die Belastung
(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ der Kinder durch Umweltgifte endlich, wie wir auch
DIE GRÜNEN]: Zynisch!) schon vor zweieinhalb Jahren gefordert haben, an
zentraler Stelle gesammelt und ausgewertet werden.
Ich gebe gerne zu, daß wir es mit einem Problem
zu tun haben, das nicht sehr einfach zu lösen ist; Ich fordere auch noch einmal das Langzeitfor-
denn wenn man ökologische Kinderrechte wirklich schungsprogramm „Kind und Umwelt" ein, das auch
ernst nimmt und wenn man der Verantwortung ge- längst hätte in Gang gesetzt werden müssen.
5204 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Vera Lengsfeld
Frau Kollegin Limbach, da Sie gesagt haben, daß die, wie ich nach wie vor finde, der Sache gerecht
die Regierungskoalition in Zukunft tätig werden will, wird. Deswegen bin ich der Meinung, daß es einfach
bin ich optimistisch, daß Sie diese Forderungen nun- nicht redlich ist, solche Sachen noch einmal aufzu-
mehr aufgreifen werden, und freue mich auf die De- führen.
batte in den Ausschüssen.
Es zeigt sich auch, daß Sie - wir haben zum Ozon-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gesetz sogar eine Anhörung im Umweltausschuß
und bei der SPD und der PDS) durchgeführt - gegenüber vernünftigen Gründen
überhaupt nicht aufgeschlossen sind, daß Sie über-
haupt nicht bereit sind zuzuhören. Es gibt für Tempo-
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile der limits zur Reduzierung bodennahen Ozons keine
Kollegin Birgit Homburger das Wort. wissenschaftliche Grundlage. Das haben wir in die-
sem Plenarsaal mehrfach diskutiert, in der Anhörung
diskutiert, im Umweltausschuß diskutiert. Und den-
Birgit Homburger (F.D.P.): Herr Präsident! Liebe noch betreibt die SPD permanent weiter den Versuch
Kolleginnen und Kollegen! Die Anträge - es ist von der Volksverdummung, weil sie ständig ohne halt-
meiner Vorrednerin schon gesagt worden - sind nicht bare wissenschaftliche Grundlage Einschränkungen
neu. Vor allem der Antrag der SPD ist zu fast 100 % verhängen will.
aus der letzten Legislaturpe riode übernommen. Das Ziel, die Gesundheit der Kinder stärker zu
schützen, ist, wenn es ernsthaft verfolgt wird, sicher-
(Klaus Lennartz [SPD]: Sie wissen doch wie lich viele Überlegungen we rt . Dem verschließen wir
das ist, wenn eine Legislaturpe riode zu uns überhaupt nicht.
Ende ist! - Weiterer Zuruf von der SPD:
Quatsch!) (Beifall bei der F.D.P.)

- Ich habe mir das sehr wohl angeschaut. Ich kann Schließlich ist die Feststellung richtig, daß Erkran-
Ihnen auch die Drucksachennummer nennen. Ich kungen bei Kindern, z. B. Allergien oder Atemweg-
kann es Ihnen hier vorführen. Das ist nicht wortwört- erkrankungen, zunehmen. Häufig sind solche Er-
lich abgeschrieben. Sie haben zumindest soviel Krea- krankungen aber nicht auf eine einzige Ursache oder
tivität bewiesen, daß Sie es etwas umgeschrieben ha- einen Schadstoff zurückzuführen.
ben, aber inhaltlich ist es das gleiche geblieben. Das (Vera Lengsfeld [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
ist jedenfalls festzuhalten. Damals ist dieser Antrag NEN]: Eher einen Schadstoffmix!)
nach Beratung abgelehnt worden. Ich muß mich
manchmal wirklich fragen, was hier alles noch ein- Gerade bei Allergien, die häufig unerkannt bleiben,
mal eingebracht wird, ob wir vielleicht eine A rt Be- ist oft schwer der Allergieauslöser herauszufinden.
schäftigungsprogramm brauchen.
Vermehrt werden umweltbedingte Faktoren als
Ich sage Ihnen ganz deutlich: Ich habe den Ein- mögliche Ursachen für Erkrankungen in Betracht ge-
druck, daß es Ihnen bei diesem Antrag nicht um die zogen. Aber auch hier ist Vorsicht geboten, denn die
Sache geht, sondern um Aktionismus. Das kann man Wissenslücken sind noch zu groß, als daß man die
auch an einzelnen Stellen ganz klar nachweisen. Zunahme von Erkrankungen auf einzelne Faktoren
zurückführen könnte.
(Vera Lengsfeld [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Zu der ersten Forderung im SPD-Antrag sage ich:
NEN]: Lächerlich! - Editha Limbach [CDU/ Datensammelstellen gibt es teilweise schon. Die Kol-
CSU]: Den Eindruck habe ich auch!) legin Limbach hat das Nötige zu einem entsprechen-
den Auftrag an das TAB auch schon ausgeführt. Inso-
Wenn Sie von der SPD schon der Meinung sind, ei- fern kann man nicht sagen, daß wir hier überhaupt
nen alten Antrag noch einmal aufwärmen zu müssen, nichts getan hätten.
dann aktualisieren Sie ihn doch wenigstens! Damit
meine ich vor allem die Forderung nach einer Som- Es wurde auch gerade auf einem Allergiekongreß
mersmogverordnung. Als Sie Ihren Antrag stellten, in Bad Lippspringe klargestellt, daß vor allen Dingen
war das Ozongesetz bereits vom Deutschen Bundes- Hausstaubmilben zu den häufigsten Auslösern aller-
tag verabschiedet worden. Es war auch abzusehen, gischer Atemwegerkrankungen wie Asthma und
daß es mit der Mehrheit der SPD-geführten Bundes- Schnupfen gehören. Diese Parasiten findet man in
länder im Bundesrat ein paar Tage später eine Mehr- nahezu allen Wohnbereichen, vor allem aber in Tep-
heit bekommen würde. Sie greifen hier also etwas pichböden, wo bis zu 10 000 Milben pro Quadratme-
auf, was längst verabschiedet wurde, zwar nicht mit ter leben. Ich sage dazu: Es ist unsere moderne Zivili- -
Ihren Ideen, nicht mit Ihren Werten, sation, es sind unsere Wohnungsansprüche, die die
Ausbreitung solcher Allergien begünstigen,
(Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Damit ist das
Problem aber nicht gelöst!) (Vo rs it z : Vizepräsident Hans-Ulrich Klose)
weil mit mehr Wohnraum natürlich auch mehr Bela-
aber es ist von uns eine Lösung gefunden worden, stung durch solche Schädlinge besteht. Das muß
man einfach sehen.
(Vera Lengsfeld [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
NEN]: Aber keine kindergerechte, Frau (Lachen bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/
Kollegin!) DIE GRÜNEN und der PDS)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5205
Birgit Homburger
Die Umweltbelastungen in den letzten Jahren sind gungsmitteln, Lacken, Teppichmaterialien, Möbeln
geringer geworden. Es ist nicht richtig, daß wir nichts und Spielzeug darauf achten können, daß diese
getan haben. schadstoffarm oder schadstofffrei sind. Dazu können
wir sie aber nicht zwingen.
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Natürlich haben Sie auch recht, wenn Sie in Ihrem
Das hat die Bundesregierung in der Antwort auf die
Antrag feststellen, daß Eltern unverantwo rt lich han-
Große Anfrage der SPD 1993 bereits ausgeführt. Die
deln, die ihre Kinder dem Passivrauchen aussetzen.
Schadstoffeinträge in die Luft, in das Wasser, in den
Hier gibt es überhaupt keinen Dissens, aber das Rau-
Boden und in Lebensmittel sind erheblich zurückge-
chen im Haus oder im Auto wollen wir doch nicht
gangen. Dies gilt für eine ganze Reihe von Schadstof-
verbieten. Kontrollieren könnten wir das sowieso
fen, und das können Sie in der Antwort der Bundes-
nicht. Deswegen verstehe ich nicht, was Sie do rt auf-
regierung auf Ihre Anfrage nachlesen.
geschrieben haben. Ich füge noch hinzu: Wie verhält
Diese rückläufige Entwicklung spiegelt sich in es sich eigentlich mit Ihrer Forderung in Punkt 17, es
den Belastungen der Menschen wider. Es wird z. B. sei eine Lärmbegrenzung bei Walkmen vorzusehen?
schon seit einiger Zeit nicht mehr davon abgeraten Ich frage mich wirklich bei manchen Dingen, die Sie
zu stillen, denn die Konzentration von chlorierten hier hineingeschrieben haben, nach dem Realitäts-
Kohlenwasserstoffen und auch Dioxinen in der Mut- gehalt, der bei Ihnen vorhanden ist.
termilch hat abgenommen.
Ich will noch einmal zu der Aufklärung der Eltern
(Vera Lengsfeld [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ zurückkommen. Zu einer solchen Aufklärung gehört
NEN]: Sie haben wirklich keine Ahnung!) sicherlich auch eine Ausweitung der Kennzeichnung
von Lebensmitteln und Gebrauchsgütern. Aber wir
Der Vorteil des Stillens überwiegt eindeutig gegen-
müssen auch aufpassen, daß wir zum Schluß eine
über eventuellen Belastungen der Muttermilch.
sinnvolle und verständliche Kennzeichnung haben,
Um die Umweltbelastungen zu verringern, wurde und nicht, was Sie in Ihrem sechsten Punkt aufzäh-
also schon einiges getan. Es gibt hier etliche Bei- len, den Verbraucher so mit Informationen zuschüt-
spiele, z. B. die Verwendung von DDT, PCB, BCD ten und verunsichern, daß der Laie kapituliert und
und flüchtigen chlorierten Kohlenwasserstoffen überhaupt nichts mehr damit anfangen kann. Damit
wurde verboten, oder aber mit der 17. Bundes-Immis- helfen wir niemandem. Deswegen muß, wenn über-
sionsschutzverordnung wurden Dioxin- und Furan- haupt, dies eine vernünftige Sache werden.
Emissionen aus den Müllverbrennungsanlagen be-
Es gäbe noch eine ganze Reihe von Punkten, die
grenzt. Sie können sich hier doch nicht hinstellen
man in diesem Antrag aufgreifen muß. Ich möchte
und sagen: Es hat sich nichts getan.
abschließend dazu sagen: Ich denke, daß der Antrag
Aber es bleibt trotzdem noch etwas zu tun. Da von der SPD insbesondere eine Zusammenstellung
gebe ich Ihnen recht. Die F.D.P. fordert weiterhin die ist, einerseits einzelner in Beratung befindlicher An-
Einführung des Bundesbodenschutzgesetzes, träge wie z. B. bei Pyrethroiden oder Sachen, die uns
im Grunde auf Bundesebene nicht betreffen, oder
(Beifall bei der F.D.P.)
aber eine Zusammenstellung - das sind die rechtli-
damit endlich auch für die Bodenbelastung verbindli- chen Punkte - von alten Kamellen unter neuem Da-
che Grenzwerte einheitlich festgelegt und Vorsorge- tum. Das, meine Damen und Herren, kann doch wohl
maßnahmen getroffen werden können. Ich habe den nicht das sein, womit sich der Deutsche Bundestag
Eindruck, daß wir hier vor einem Durchbruch stehen. ernsthaft beschäftigen soll. Ich denke, daß sich der
Ich sage Ihnen auch: Ihre Forderung, die Sie unter Gesundheitsausschuß sicher noch ausführlich über
Punkt 14 aufgezählt haben, daß Sie allgemeingültige Einzelheiten wird unterhalten können und dabei die
Grenzwerte für den Schadstoffgehalt, z. B. für Sand- Punkte aufgreift, die vielleicht noch als Empfehlun-
füllungen haben wollen, wäre eine klassische Auf- gen weitergegeben werden können und wo wir noch
gabe für die TA Boden. Deswegen sind wir auch für weiterarbeiten müssen. Da gibt es einige; ich habe
das Bundesbodenschutzgesetz und für die unterge- welche aufgezählt.
setzlichen Regelungen dazu. Das werden wir mit Si-
Vielen Dank.
cherheit auch in dieser Legislaturperiode verwirkli-
chen. (Beifall bei der F.D.P.)
Ich kann Ihnen aber auch sagen: Das, was Sie un-
ter anderem auch in diesem Antrag regeln wollen, Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wo rt hat die
daß Sie sagen, wir wollen die Kommunen auffordern, Kollegin Dr. Ruth Fuchs, PDS.
Mindestvorgaben für die Häufigkeit des Wechselns -
von Sand in den Sandkästen vorzuschreiben, dafür
Dr. Ruth Fuchs (PDS): Herr Präsident! Meine Da-
sind wir bei aller Liebe nicht zuständig.
men und Herren! Mit der heutigen Aussprache zum
Und ich sage auch ganz klar: Nicht nur der Staat Thema „Kindergesundheit und Umweltbelastungen"
hat Verantwortung zu tragen. Gerade was die Forde- wird auch im 13. Deutschen Bundestag die Debatte
rung zum Schutz der Kinder angeht, dürfen wir die über dieses extrem wichtige Politikfeld fortgesetzt.
Verantwortung der Eltern nicht vergessen. Es ist Das kann nur begrüßt werden. Mit der Frage, wie es
richtig, was Sie sagen, daß verstärkte Aufklärungsar- um die gesundheitliche Entwicklung der Kinder an-
beit den Eltern bei ihren Entscheidungen helfen gesichts bestehender und neu hinzukommender Um-
kann, so daß sie z. B. bei einer Auswahl von Reini weltbelastungen, aber auch anderer gesundheitsab-
5206 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Dr. Ruth Fuchs


träglicher Lebensbedingungen bestellt ist, geht es es sowohl an solide geführten und vergleichbaren
schließlich um nicht mehr und nicht weniger als um Routinestatistiken als auch an gezielt erhobenen
die Lebensgrundlage der kommenden Generation. analytischen Daten und wissenschaftlichen Untersu-
Die bisherigen parlamentarischen Auseinanderset- chungen mangelt. Das Forschungspotential und die
zungen mit dieser Thematik haben zweifellos schon Aus- und Weiterbildung in den hierfür wichtigsten
wichtige Aufschlüsse über bestehende Handlungs- wissenschaftlichen Disziplinen sind vergleichsweise
schwerpunkte, aber auch über zum Teil gravierende zurückgeblieben und bedürfen energischer Förde-
Kenntnislücken erbracht. rung.
Während die heute zur Debatte stehenden Anträge
auf Verbesserung drängen, muß festgestellt werden, Während die meisten Industrieländer über entwik-
kelte Formen eines öffentlichen Kinder- und Jugend-
daß sich am konkreten Handeln der Regierung offen-
sichtlich noch gar nichts oder nur wenig verändert gesundheitsschutzes verfügen, ist bekanntlich in der
Bundesrepublik der öffentliche Gesundheitsdienst
hat. Woran es bisher jedoch nicht mangelt, sind wohl-
immer mehr in ein Schattendasein gedrängt worden.
klingende Äußerungen. In Wahrheit ist aber bei Koa-
lition und Regierung eine gefährliche Tendenz zur Obwohl durchaus nicht wenige Mittel verausgabt
Verharmlosung der Probleme unübersehbar. Die wurden, sind die bestehenden Strukturen der Ge-
sundheitsversorgung regelrecht zu Barrieren bei-
ständigen Versuche, die Sorge für die soziale Situa-
spielsweise für einen ausreichend hohen Durchim-
tion und die gesundheitliche Entwicklung der Kinder
pfungsgrad, für eine gute Zahngesundheit oder für
einseitig und immer stärker auf die Familien abzu-
eine frühzeitige Erfassung von Gefährdetengruppen
wälzen, zeugen nicht nur von beträchtlicher Hilflo-
geworden.
sigkeit, sondern sind letztlich Ausdruck von fehlen-
der Verantwortung. Wer glaubt, liebe Frau Kollegin
Wir begrüßen deshalb ausdrücklich, daß jetzt auch
Limbach, die Gesundheit der Kinder vor allem als
eine verbesserte sozialpädiatrische Betreuung der
Privatsache der Eltern abhandeln zu können,
Kinder und Jugendlichen, u. a. durch einen lei-
(Editha Limbach [CDU/CSU]: Nicht vor al stungsfähigen schulärztlichen Dienst, Eingang in
lem; aber auch!) den Aufgaben- und Forderungskatalog des SPD-An-
trages gefunden hat. Das ist z. B. ein neuer Punkt,
der ignoriert in sträflicher Weise sowohl die Rolle je- liebe Frau Kollegin.
ner unzähligen physikalisch-chemischen Umweltfak-
toren als auch die Bedeutung der sozialen Lage der Es bleibt eine unverzichtbare Aufgabe, die ge-
Fami li en, auf die die Eltern oft kaum oder nur in ei-
sundheitliche Entwicklung des einzelnen Kindes
nem äußerst geringen Maße Einfluß ausüben kön- systematisch zu beobachten, um vorsorgend die für
nen.
jedes Kind jeweils notwendigen Maßnahmen einlei-
(Beifall bei Abgeordneten der PDS) ten und um vor Ort Einfluß auf eine gesundheits-
fördernde Gestaltung der Lebens- und Bewe-
Bisher deutlich geworden ist dagegen und wird gungsräume der Heranwachsenden nehmen zu
wohl kaum von jemandem in diesem Hohen Haus können.
bestritten: Kinder sind in ihrer körperlichen und gei-
stigen Entwicklung und in ihrer Gesundheit durch Meine Damen und Herren, ich möchte noch auf
Umweltschadstoffe stärker gefährdet als Erwach- ein weiteres Grundproblem hinweisen, das beim
sene. Grenzwerte müssen sich deshalb an der beson- Thema „Kindergesundheit" keinesfalls ausgeblendet
deren Empfindlichkeit der Kinder orientieren. werden darf. Die Zahl der Kinder, die durch das so-
(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne ziale Netz fallen, somit nicht oder nicht rechtzeitig in
ten der SPD) den Genuß notwendiger gesundheitlicher und sozia-
ler Hilfe kommen, nimmt gegenwärtig wieder zu.
Das gilt vor allem für die A rt und Weise der Messung Etwa zwei Millionen Kinder leben in Armut, rund
von Schadstoffkonzentrationen. Insgesamt muß die eine Million ist auf Sozialhilfe angewiesen. Allein in
Belastung der Kinder mit immer neuen Schadfakto- Ostdeutschland sind ebenso viele von der Arbeitslo-
ren wesentlich ernster genommen werden als bisher. sigkeit ihrer Eltern mit betroffen. Daß dies ebenfalls
Ja, mehr noch: Auch wir meinen, daß sich die einen verheerenden Einfluß auf den Gesundheitszu-
Dringlichkeit der ökologischen Reform der Indu- stand haben muß, steht außer jedem Zweifel. Natür-
striegesellschaft gerade aus den Rechten der Kinder lich liegen auch darüber keine genaueren epidemio-
auf eine ungestörte gesundheitliche Entwicklung er- logischen Daten vor, von aussagefähigen sozial-
gibt. Die Bundesrepublik hat mit der Ratifizierung schichtspezifischen Untersuchungen der Gesund-
der UN-Kinderkonvention entsprechende Verpflich- heitsprobleme ganz zu schweigen. -
tungen übernommen. Ein nächster zwingender
Schritt sollte die Verankerung der Rechte der Kinder Meine Damen und Herren, die Frage, die im
in den Verfassungen von Bund und Ländern sein. Grunde genommen ansteht, ist die nach einer umfas-
senden bundesweiten Strategie für die Erhaltung
Gleichzeitig ist vieles im einzelnen zu tun. So und Förderung der Gesundheit der Kinder und nach
fehlt es nach wie vor an einer ausreichend verläßli- einem dementsprechenden aktiven politischen Han-
chen Bewertung des Gesundheitszustandes der deln.
Kinder. Die entscheidende Frage, wie gesund oder
krank Kinder wirklich sind, kann in diesem Land Wir unterstützen die Anträge der SPD und der
nur höchst unzureichend beantwortet werden, weil Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5207
Dr. Ruth Fuchs
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege
Beucher, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
(Beifall bei der PDS und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
SPD) Friedhelm Julius Beucher (SPD): Ja.

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der Editha Limbach (CDU/CSU): Herr Kollege, ist Ih-
Kollege Friedhelm Julius Beucher, SPD. nen nicht aufgefallen, daß ich deutlich gemacht
habe: Ich halte es für falsch, Kinder zur Beruhigung
vor das Fernsehgerät zu setzen? Ich habe nur darauf
Friedhelm Julius Beucher (SPD): Herr Präsident! hingewiesen, daß sich manche Eltern - auch mangels
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir debat- der Möglichkeit ordentlicher Betreuung für ihre Kin-
tieren heute einen Antrag, den die SPD bereits vor der - leider nicht anders zu helfen wissen. Ist Ihnen
zwei Jahren eingebracht hat. Der ist nicht abgelehnt nicht bewußt, daß das Problem der Gewaltdarstel-
worden - der Kollegin Homburger ist wohl das Erin- lung im Fernsehen sehr häufig, auch auf politischer
nerungsvermögen abhanden gekommen -, Ebene, auch von der Bundesregierung, auch von
meiner Fraktion, angesprochen wurde, und zwar ge-
(Klaus Lennartz [SPD]: Wie so oft!) nau mit dem Hinweis, daß zumindest zu den Zeiten,
zu denen Kinder üblicherweise vor dem Bildschirm
sondern der Diskontinuität zum Opfer gefallen, d. h.,
Sie haben ihn einfach ignoriert. Er ist in der letzten sitzen, obwohl sie lieber draußen spielen sollten, sol-
che Sendungen nicht ausgestrahlt werden sollten?
Legislaturperiode nicht mehr behandelt worden. Das
ist ein fast so großer Skandal wie die Tatsache, daß
wir eine so wichtige, die Zukunft unserer Gesell- Friedhelm Julius Beucher (SPD): Frau Kollegin, ich
schaft betreffende Fragestellung erst zu dieser spä- weiß, daß es so ist, nur habe ich das Ihren Worten
ten Stunde am Tag diskutieren müssen. nicht entnehmen können.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Die Zahl der umweltbedingten Krankheiten hat in
DIE GRÜNEN) den letzten zehn Jahren dramatisch zugenommen.
Kinder sind davon besonders betroffen. Der Kollege
Ausgehend von den unzähligen Hilferufen von El- Lennartz hat dafür einzelne Beispiele genannt. Ich
tern , den ernsten Warnungen und Notrufen besorg- will noch eine ganz aktuelle Zahl hinterherschieben:
ter Kinderärzte, die allerdings von der Gesellschaft Bei den Schuluntersuchungen, die ja bundesweit
vielfältig in den Wind geschlagen werden, haben wir durchgeführt werden, wurde festgestellt, daß 1993
uns erneut an die Formulierung des Antrags ge- von mehr als 900 000 Schulanfängern mehr als
macht, nachdem auch die Antwort der Bundesregie- 180 000 Kinder nicht gesund waren. Wer da nicht
rung auf unsere Große Anfrage so viele Fragen offen- handelt, der macht seine Hausaufgaben nicht. Das
gelassen hatte. gilt auch für dieses Haus. Egal ob das Land oder der
Kinderrechte - das wissen Gott sei Dank immer Bund dafür zuständig ist: Wir müssen das öffentlich
mehr Menschen - brauchen ständig eine neue aufgreifen und einklagen.
Lobby. Das immer wieder einzuklagen ist eine der (Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/
vornehmsten und wichtigsten Zukunftsaufgaben. Ein DIE GRÜNEN)
weiterer Grund dafür, daß wir den Antrag neu formu-
lieren mußten, liegt in der Tatsache, daß wir heute Wir müssen auch sehen, wo die Ursachen zu fin-
einfach mehr über den kausalen Zusammenhang den sind. Weltweit wird sowohl in den Entwicklungs-
von Umweltbelastungen und Erkrankungen des ländern als auch in den Industrienationen durch Um-
menschlichen Organismus wissen. Umweltbelastun- weltzerstörung und Umweltverschmutzung die Ge-
gen rücken glücklicherweise immer mehr in das Be- sundheit der Kinder und nachfolgender Generatio-
wußtsein einer breiteren Öffentlichkeit. Deshalb ist nen gefährdet. An der Entstehung chronischer
es gut, daß dieser Antrag heute wieder auf der Ta- Krankheiten sind Schadstoffe in der Luft und im
gesordnung steht. Wasser, Chemikalien in der Nahrung und im Trink-
wasser sowie Lärm und Streß in erheblichem Umfang
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ beteiligt. Umweltgifte und Umweltbelastungen be-
DIE GRÜNEN) drohen Kinder mehr, weil sich Kinder mehr bewe-
gen, schneller atmen und im Vergleich zu Erwachse-
Wir haben hier keinen Anlaß zum Optimismus. nen ein Vielfaches an Stoffmengen umsetzen. Da-
Frau Kollegin Limbach, sehen Sie es mir bitte nach: durch nehmen sie zwangsläufig erheblich mehr auch
Geradezu Angst muß ich allerdings empfinden, an Schadstoffen auf.
wenn Sie so einfach dahersagen - das wird einen
Aufschrei geben, wenn die Leute das lesen -, daß Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich frage Sie an-
man Kinder eine Stunde vor den Fernseher setzt, um gesichts dieser Zahlen und wissenschaftlicher Er-
sie „ruhigzustellen". Ich muß Sie allen Ernstes fra- kenntnisse: Können wir es wirklich länger hinneh-
gen, ob Sie nicht wahrgenommen haben, was die men, daß die Zahl der umweltbedingten Kinderer-
Kinder da an Gewalt konsumieren, welchen „Kram" krankungen weiter steigt? Vergessen wir nicht, daß
Kinder da sehen. Das führt zu immer mehr psychi- sich hinter diesen Zahlen tragische Einzelschicksale
schen Störungen und beeinträchtigt die Kinderge- verbergen; Kinder, die durch diese Erkrankungen
sundheit. isoliert werden, einen Teil oder ihre gesamte Lebens-
5208 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Friedhelm Julius Beucher


qualität gar verlieren und nicht mehr unbeschwe rt Das erklärt vielleicht, daß Sie weniger Wohnungen
ritten ist, daß aufwchsenkö.Wubst bauen wollen. Sie haben gesagt: Je kleiner die Flä-
ein Großteil der Erkrankungen bei Kindern durch che, um so weniger können Kinder an Schadstoffen
Umweltbelastung ausgelöst und verstärkt wird, müs- aufnehmen. Frau Homburger, das haben Sie gesagt.
sen wir diese steigende Tendenz in den Griff bekom- Das haben wir so verstanden. Deshalb darf es doch
men. Der Gesetzgeber, d. h. in diesem Fall die han- nicht wahr sein, daß der natürliche Bewegungsdrang
delnde Bundesregierung, ist deshalb gefordert, eine des Kleinkindes, je nachdem, auf welchem Teppich
vorsorgende Gesundheitspolitik mit einer vorsorgen- es sich bewegt, zum Horrortrip wird.
den Umweltpolitik zu verknüpfen. Denn nur so kön-
nen wir unseren Kindern und künftigen Generatio- Hier kann eine „Technische Anleitung Innen-
nen eine lebenswerte Erde erhalten. raum" Abhilfe schaffen. Hierzu gehört dann eben
auch ein Verzicht auf Pyrethroiden in Innenräumen
Kindergesundheit darf in der Politik nicht länger und Textilien.
unter Kostengesichtspunkten diskutiert werden. Die
Vorbeugung darf nicht länger auf der Strecke blei- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie wir mit der
ben. Notwendig ist Vorsorge und ein ganzheitliches Gesundheit unserer Kinder und ihrer Umwelt umge-
Gesundheitsverständnis, eine Verzahnung von Um- hen, wird sich entscheidend auf die Entwicklung der
welt- und Gesundheitspolitik. Kinder selbst auswirken. Und damit wiederum auch
Genau dieses Problem greifen wir auf. Unser An- auf ihren Umgang mit der Natur.
trag enthält ein umfangreiches Aktionspaket mit 27
konkreten Forderungen zum Schutz von Kindern vor (Beifall der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann
Umweltgiften und Schadstoffen. Die Zeit erlaubt mir [PDS])
jetzt nicht, die Beispiele zu nennen. Trotzdem will ich
noch auf den Verkehr eingehen. Darin liegt nämlich - Sie können jetzt nicht mehr klatschen, sonst muß
ein Schwerpunkt. Unsere Forderung nach einer Som- ich so lange warten. Darum bitte ich wegen der man-
mersmogverordnung ist zwar in diesem Sommer for- gelnden Zeit um Nachsicht.
mal erfüllt worden, jedoch ist dem Bürger dabei eine
Mogelpackung untergeschoben worden. Ein vorsorgender Gesundheitsschutz kommt nicht
von allein. Nein, die bisherigen Erkenntnisse müssen
(Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ uns Warnung und Motivation zugleich sein. Es ist nur
DIE GRÜNEN) noch eine Frage der Zeit, wie lange der menschliche
und insbesondere kindliche Körper die Belastung mit
Angesichts des heutigen Themas nämlich sind diese Schadstoffen und Umweltgiften noch aushält, bevor
Grenzwerte und Verordnungen indiskutabel und das menschliche Ökosystem umkippt.
dringend verbesserungsbedürftig. Wollen wir den
Bedürfnissen der Kinder gerecht werden, brauchen Folgen Sie unserem Antrag, dessen Kern die Ver-
wir eine Ozonverordnung, die die Belastung der Luft zahnung von Umwelt- und Gesundheitspolitik ist. Er
mit dem Reizgas auf 120 Mikrogramm pro Kubikme- ist Zeichen des politischen Willens für die Zukunft
ter Luft festlegt. Wir brauchen Tempo 30 in allen der uns nachfolgenden Generationen. Dafür einzu-
Wohngebieten und das flächendeckend. treten ist unser aller Pflicht und Schuldigkeit.
Es besteht leider immer noch bei den Schadstoff-
messungen ein heikler Punkt: Probeentnahmen er- Ich danke Ihnen.
folgen in einer Höhe, die die Kinder nicht erreichen.
Schadstoffmessungen müssen z. B. in maximal 1 m (Beifall bei der SPD und der PDS)
Höhe durchgeführt werden. Sie werden im Moment
bei 1,5 m durchgeführt. Da ist doch weder ein Kind
im Buggy noch ein Kind in seiner normalen Wachs- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort zu
tumsgröße betroffen. Wir haben kinderfeindliche einer Kurzintervention hat die Kollegin Homburger.
Grenzwerte.
(Beifall bei der PDS)
Birgit Homburger (F.D.P.): Herr Kollege, ich möchte
Wir brauchen eine Absenkung der Grenzwerte für
auf diese Bemerkung eingehen. Ich habe mitnichten
Schadstoffbelastungen in Luft, Boden und Wasser.
gesagt, daß wir die Wohnungen kleiner machen sol-
Diese Grenzwerte müssen auf ein Niveau abgesenkt
len oder ähnliches. Ich habe lediglich referiert, was
werden, das damit auch der höheren Sensibilität des
auf wissenschaftlichen Tagungen festgestellt wurde:
kindlichen Organismus besser als bisher gerecht daß es einen Zusammenhang gibt zwischen unseren
wird. Es geht einfach nicht länger an, daß das Urteil
Ansprüchen, der Flächengröße, der dadurch gegebe-
von Kinderärzten zutrifft: „Kinder und Alte werden
nen Möglichkeit, daß sich dort beispielsweise Haus-
durch Grenzwerte ausgegrenzt. "
staubmilben aufhalten, die für einen großen Teil der
Dazu kommt die Schadstoffbelastung in den In- Auslösung von Allergien verantwortlich sind, und
nenräumen. Sie ist nicht nur besorgniserregend. Sie natürlich der damit zunehmenden Belastung.
ist dramatisch. Ich will jetzt nicht auf Ihren Vorschlag
eingehen, die Wohnungen zu verkleinern. (Friedhelm Julius Beucher [SPD]: Die Mate-
rialien sind entscheidend, nicht die Größen
(Heiterkeit bei der SPD) der Wohnungen!)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5209
Birgit Homburger
Diesen Zusammenhang habe ich referiert, sonst gar Frau Lengsfeld, es ist wirklich bedauerlich, wenn
nichts. Ich habe überhaupt keine Forderungen dar- ich bemerken muß, daß der Doppelzüngigkeit Ihrer
aus abgeleitet, sondern lediglich etwas wiederholt, Fraktion keine Grenzen gesetzt sind.
was auf einer Tagung wiedergegeben wurde.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
(Vera Lengsfeld [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
Sie sprechen von einer schleichenden Vergiftung der
NEN]: Der Umkehrschluß ist doch erlaubt,
Kinder. Gleichzeitig stellen Abgeordnete Ihrer Frak-
Frau Kollegin! Wenn Sie sich hinstellen und
tion den Antrag, Cannabis-Produkte und Heroin an
das behaupten, kann man den Umkehr
Kinder und Jugendliche auszugeben, weil Sie damit
schluß ziehen!)
überhaupt keine Gesundheitsgefährdung in Verbin-
- Deswegen stelle ich klar, daß der Umkehrschluß in dung bringen.
diesem Falle nicht erlaubt ist. Es soll auch der begrei- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU
fen, der es böswillig anders auslegen will. und der F.D.P.)
Herr Kollege, ich möchte noch auf etwas eingehen, Ich meine, das ist doppelzüngig. Es tut mir leid, daß
was Sie zu Beginn gesagt haben. Ich gebe zu, mich ich das ausgerechnet Ihnen sagen muß.
getäuscht zu haben: Dieser Antrag ist nicht abge-
lehnt worden, sondern der Diskontinuität verfallen. Meine Damen und Herren, vermeidbare Belastun-
Ich bleibe aber bei meiner Aussage, die ich zu den gen brauchen wir nicht lange zu suchen; wir finden
einzelnen inhaltlichen Punkten getroffen habe, die sie in unserem täglichen häuslichen Umfeld. Mehr
zu einem großen Teil bereits als einzelne Anträge be- als die Hälfte aller Kleinkinder sind Passivraucher,
raten - auch in der letzten Legislaturperiode - und d. h. sie leben mit mindestens einem Raucher in
mehrfach abgelehnt worden sind. Sie können also einem Haushalt. Die Folge davon ist, daß akute und
nicht sagen, wir hätten uns nicht mit den Forderun- chronische Atemwegerkrankungen bei ihnen häufi-
gen beschäftigt. ger, oft auch in stärkerer Form vorkommen als bei
Kindern von Nichtrauchern. Dies ist nur einer von
zahllosen Belastungsfaktoren.
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Möchten Sie ant-
worten, Herr Kollege Beucher? Gesundheitlich negative Einflüsse aus unserer Um-
welt kommen nicht nur aus Wasser, Luft und Boden.
Dazu müssen wir auch die zahllosen anderen Bela-
stungen - im häuslichen Umfeld, in der Schule oder
Friedhelm Julius Beucher (SPD): Nein.
für Erwachsene am Arbeitsplatz - zählen. Lebensge-
wohnheiten können nicht nur die eigene Gesundheit
beeinträchtigen. Viele Menschen in unserem Land
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Dann hat jetzt sehen sich eher als Opfer der Umweltzerstörung
für die Bundesregierung die Parlamentarische denn als Mittäter.
Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl das Wort.
Angesichts vielfältiger Einflußfaktoren ist es mehr
als berechtigt, daß wir uns auch in diesem Hause im-
Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Parl. Staatssekretärin mer wieder neu mit dem Thema Gesundheit und
beim Bundesminister für Gesundheit: Herr Präsident! Umweltbelastungen auseinandersetzen. Unsere Kin-
Meine Damen und Herren! Viele von uns wissen aus der verdienen dabei besondere Beachtung, und dies
eigenen Erfahrungen, daß sich Kinder mit dem be- nicht nur auf Grund unserer moralischen Verpflich-
schäftigen, was sie in der Schule, von den Medien tung, der kommenden Generation eine lebenswerte
und in der Familie über unsere Umwelt und unser Umgebung zu erhalten, sondern auch deshalb, weil
Verhältnis zu ihr aufnehmen. Sie erkennen Umwelt- Kinder bei bestimmten Umweltrisiken stärker ge-
gefahren als mögliche Bedrohungen ihrer Zukunft. fährdet sein können als Erwachsene.

Es bleibt nicht aus, daß sie nach Lösungen fragen. Herr Lennartz, es wäre unheimlich nett, wenn Sie
Sie hinterfragen aber auch kritisch das Verhalten der einmal zuhören würden. Ich habe Ihnen auch zuge-
Eltern, der Lehrer und anderer Erwachsener. Wir alle hört.
werden daran gemessen, ob sich unser persönliches
Verhalten immer mit dem Ziel verträgt, die Umwelt (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU -
und damit auch die Gesundheit der Kinder zu schüt- Zuruf des Abg. Klaus Lennartz [SPD])
zen. - Wahrscheinlich paßt Ihnen nicht, was ich sage, weil-
es Ihnen viel zu konform ist.
Diese Gedanken und Besorgnisse der Kinder sind
keineswegs von der Hand zu weisen. Schadstoffe Politik, Bund, Länder und Verwaltung müssen bei
und andere Belastungen sind Teil unserer Realität. Es ihren Maßnahmen grundsätzlich die besondere Risi-
ist unsere Aufgabe, Wege zu finden, um vorhandene kosituation bei den jungen und ganz jungen Men-
gesundheitsbelastende Umwelteinflüsse zu verrin- schen beachten.
gern und vielleicht auch zu vermeiden, soweit wir sie
als neue Belastungen erkennen können. Ich glaube, (Klaus Lennartz [SPD]: Wenn Sie langsamer
soweit gibt es auch Konsens innerhalb der Fraktio- sprechen würden, könnte ich besser zuhö-
nen. ren!)
5210 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl


- Sie werden ja wohl noch zuhören können. Es tut Die Akademie für Technikfolgenabschätzung des
mir leid, wenn Sie gedanklich und zerebral nicht so Landes Baden-Württemberg hat sich mit den Hinter-
schnell folgen können. gründen des häufig hergestellten Zusammenhangs
zwischen der Belastung durch elektromagnetische
Zerebral war kein Schimpfwort, Herr Präsident. Strahlung und der Krebshäufigkeit bei Kindern be-
schäftigt. Konkrete Hinweise auf einen tatsächlichen,
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Ich bedanke ursächlichen Zusammenhang haben sich dabei nicht
mich für die Belehrung. ergeben; Verdachtsmomente bestanden allenfalls
dort, wo Kinder lange Zeit sehr starken elektroma-
gnetischen Feldern unmittelbar ausgesetzt waren.
Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Parl. Staatssekretärin
beim Bundesminister für Gesundheit: Ich wollte das Die Studie hat aber noch einen anderen, wesent-
nur anmerken. Ich wollte nicht belehren. lich prägnanteren Zusammenhang festgestellt. Tu-
more bei Kindern traten nämlich nur do rt auf, wo
(Klaus Lennartz [SPD]: Sie lesen zu schnell außerdem andere, Krebserkrankungen begünsti-
ab!) gende Einflüsse vorlagen. Diese Studie hat damit ge-
nau das bestätigt, was in anderen Untersuchungen,
Die besondere Belastungssituation für bestimmte auch außerhalb Europas, immer wieder festgestellt
Bevölkerungsgruppen wird von uns bei allen Maß- worden ist: Es gibt keine tragfähigen wissenschaft-
nahmen berücksichtigt. Dabei wird es auch in Zu- lichen Belege für einen Zusammenhang zwischen
kunft bleiben. Krebs und Elektrosmog.
Worin bestehen unsere vorrangigen Aufgaben? Wo Wir haben durchaus - das wollten Sie ja wissen -
gesundheitliche Probleme auftreten, müssen sie zu- eine ganze Menge getan, um Erkenntnisse über die
erst erkannt werden. Nach wie vor, Herr Lennartz, ist Zusammenhänge zwischen Umweltbelastungen und
es umstritten, wie groß die Zahl von Erkrankungen Gesundheitsbeeinträchtigungen zu gewinnen. Ich
ist, die direkt bzw. indirekt auf Umweltbelastungen nenne hier beispielhaft die Untersuchungen zu Pseu-
zurückzuführen sind. In vielen Stellungnahmen und dokrupp, zur Dioxinbelastung und zu Leukämie-
öffentlichen Diskussionen wird auf diese Tatsachen erkrankungen in der Umgebung von Kernkraft-
viel zuwenig hingewiesen, und auch Sie haben ver- werken.
sucht, etwas anderes darzustellen. Was wir aber auf
einem so sensiblen Feld nicht brauchen, ist eine wö- Auf anderen Gebieten, z. B. bei der Erhebung von
chentliche Hitliste von angeblichen Schadstoffen. Fehlbildungen, Allergien oder Krebserkrankungen,
Hier helfen uns erst recht keine Untergangsprogno- fehlt es allerdings weiterhin an umfassenden verläß-
sen, wie sie immer wieder vorgebracht werden und lichen Daten. Hier sind auch die Länder gefordert.
ebenso keine Voraussagen, die sich auf nichts ande-
res als die freihändige Analyse von Vermutungen In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal
von selbsternannten Experten stützen. darauf hinweisen, daß jetzt auf der Grundlage des
Gesetzes über Krebsregister alle Bundesländer ihrer
(Beifall bei der CDU/CSU) Aufgabe nachkommen müssen, epidemiologische
Krebsregister einzurichten. Denn wir brauchen auch
Wir brauchen vielmehr wissenschaftlich fundierte
für Erwachsene die Daten, die mit dem Deutschen
Erkenntnisse, nur dann können wir mit Aussicht auf
Kinderkrebsregister schon seit langem vorliegen.
Erfolg dort ansetzen, wo tatsächlich Gesundheitsge-
Nur so kann Verdachtsmomenten konkret nachge-
fahren vorhanden oder möglich sind. Ernsthafte ge-
gangen werden.
sundheitliche Beeinträchtigungen, die sich unmittel-
bar und ausschließlich auf Umweltbelastungen zu- Auch das Thema Allergien hat die Bundesregie-
rückführen ließen, sind in Deutschland glücklicher- rung zunehmend beschäftigt. Bislang hat die Bun-
weise selten. desregierung für die Forschungsförderung zu Aller-
gien sowie Lungen- und Atemwegserkrankungen
Unseren Kindern geht es besser als vielen Kindern
insgesamt nicht 60 Millionen DM, Herr Lennartz,
in anderen Teilen der Welt, wo gesundes Trinkwas-
sondern 90 Millionen DM zur Verfügung gestellt.
ser, ausreichende Ernährung, ausreichende Sanitär
anlagen und eine Gesundheitsgrundversorgung feh- (Klaus Lennartz [SPD]: Und das Ergebnis?)
len. Umweltbelastungen führen nach heutigen Er-
kenntnissen in der Regel nicht zu regelrechten Um- - Das Ergebnis ist kompliziert. Reden Sie doch ein-
welterkrankungen. Sie sind eher als Risikofaktoren mal mit Wissenschaftlern! Weltweit versuchen Wis-
für verschiedene Erkrankungen anzusehen, wie an- senschaftler, z. B. die Zusammenhänge zwischen
-
dere Faktoren auch. Umwelt und Allergien zu erkunden. Es ist aber noch
nicht bekannt, welche Faktoren eine ursächliche
Welche Bedeutung einzelne Risikofaktoren für die Rolle für die Entstehung von Allergien spielen.
Gesundheit wirklich haben, ist oft noch unklar. Das
ist in der Wissenschaft unumst ritten, Herr Lennartz. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. -
Als Beispiel möchte ich den vielzitierten Elektro- Klaus Lennartz [SPD]: Es liegen doch be-
smog ansprechen, der ebenso wie die ionisierenden reits belastbare Ergebnisse vor! Das wissen
Strahlen oder die Chemikalien in Boden, Luft und Sie doch! - Wilhelm Schmidt [Salzgitter]
Wasser immer wieder als gesundheitsschädigend be- [SPD]: Der Zusammenhang wird doch nicht
schrieben wird. bestritten!)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5211
Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl
- Herr Lennartz, es ist doch völlig unwissenschaft- Hier sind alle gefordert, mit der notwendigen Sorg-
lich, was Sie fordern. Wir können doch nur do rt prä- falt an ein Thema heranzugehen, das jeder von uns
ventiv ansetzen, wo wir die Ursachen kennen. ernst nehmen muß, aber niemanden, erst recht nicht
Kinder, verängstigen darf. Angst ist immer ein
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
schlechter Ratgeber.
Es hat doch keinen Sinn, Ihrerseits Forderungen zu
stellen, die völlig ins Leere laufen, weil überhaupt Vielen Dank.
keine wissenschaftlichen Erkenntnisse zugrunde lie- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
gen. Wir sind mit Ihnen einer Meinung, daß auf die-
sem Gebiet mehr geforscht werden muß.
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wo rt hat der
(Volker Neumann [Bramsche] [SPD]: Kollege Dr. Wolfgang Wodarg, SPD.
Warum tun Sie es dann nicht?)
- Machen wir ja. Wir werden z. B. im Gesundheitsfor- Dr. Wolfgang Wodarg (SPD): Herr Präsident! Sehr
schungsprogramm 2000 eine Menge Mittel dafür zur geehrte Damen und Herren! Frau Bergmann-Pohl,
Verfügung stellen. Sie sind so richtig aus sich herausgekommen. Das
war schön.
Sie wissen auch genau, daß wir eine Reihe von
Schutzmaßnahmen bei Lebensmitteln getroffen ha- (Ulla Jelpke [PDS]: Aber nicht sehr hilf-
ben. Wir haben das beste Lebensmittel- und Bedarfs- reich!)
gegenständerecht in Europa und in der Welt, die Er-
nährung bei uns ist sicher, wir haben seitens der Sie haben hier viele gute Sachen vorgetragen. Sie
Bundesregierung sehr viele Maßnahmen durchge- haben gezeigt, daß Sie die Ziele kennen. Bedauerns-
führt, die das Leben bei uns sichern. Es ist gerade wert ist aber, daß Sie nicht danach handeln. Das ha-
nicht so, wie Sie es als Schwarzmalerei immer hin- ben wir auch schon in anderen Bereichen gesehen.
stellen, daß wir systematisch die Bevölkerung vergif- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
ten.
Sie wissen, was Sie tun sollten, aber Sie tun es nicht.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Es ist aber trotzdem schön, daß Sie hier heute ein-
Wir werden uns bei der Novellierung der Trink-
mal über Prävention gesprochen haben. Wir spre-
wasserrichtlinie ganz konsequent für ein hohes
chen in letzter Zeit sehr viel über Gesundheit, aber
Schutzniveau einsetzen. Auch da wissen Sie, daß wir
nur aus einem einzigen Grund: weil Gesundheit so
eine entsprechende Forderung an Europa erhoben
haben. viel kostet. Ich muß die Kollegen von der F.D.P. aller-
dings ausnehmen. Sie sprechen von Gesundheit,
Meine Damen und Herren, Umweltbelastungen weil man damit so viel verdienen kann.
sind Wirklichkeit, und wir müssen sie auf ein erträg-
liches Maß begrenzen. Für eine erfolgreiche Vor- (Jörg van Essen [F.D.P.]: Das war so etwas
sorge für das Überleben unserer Kinder bedarf es von intelligent!)
keiner revolutionären Änderungen in unserer Gesell- Die Tatsache ist jedenfalls - wenn schon über Geld
schaft. Jeder Schritt in die richtige Richtung ist hilf- geredet wird -, daß wir für Prävention von Krank-
reich. Ich bin davon überzeugt, daß alle Beteiligten heiten nur 1 % aller Ausgaben im Gesundheitswesen
und Verantwortlichen nach und nach solche Schritte verwenden - nur 1 % für Vorbeugung, Aufklärung,
gehen können und dies auch tun werden. Beratung etc. und 99 % für Reparatur und Begren-
So wird die Bundesregierung immer sorgfältig dar- zung bereits eingetretener Schäden!
auf achten müssen, daß innerhalb ihrer Forschungs- Wer, wenn nicht wir, kann als Lobby für die Kin-
anstrengungen die umweltbezogene Gesundheits- dergesundheit auftreten? Wir müssen das ändern.
forschung den ihr zukommenden Stellenwert auch Wir müssen die Maßstäbe anders setzen. Kinder sind
bekommt. Die Belange des umweltbezogenen Ge- empfindlicher als Erwachsene; das brauche ich nicht
sundheitsschutzes müssen kontinuierlich in der Aus- zu wiederholen. Sie nehmen Gifte schneller auf und
bildung von Ärzten und im öffentlichen Gesundheits- reagieren darauf empfindlicher als Erwachsene. Des-
dienst berücksichtigt werden. halb diskutieren wir heute über eine gesunde Um-
Herr Lennartz, auch in Wirtschaft und Industrie welt und über die Gesundheit unserer Kinder. Sie
sehe ich durchaus positive Ansätze zur weiteren Ent- sollen gesund groß werden, und wir wollen sie dabei
wicklung eines Umweltgedankens. Auch das können begleiten.
Sie nicht in Abrede stellen. Der Faktor Umwelt wird (Editha Limbach [CDU/CSU]: Richtig!)
überall zunehmend berücksichtigt.
Ich meine, daß es wichtig ist, daß wir bei einer
Meine Damen und Herren, ich sage es noch ein-
schnell sich weiterentwickelnden Medizin nicht nur
mal: Wer zum Schutz der Kinder Umwelteinflüsse so- auf die Krisen am Ende des Lebens schauen und daß
weit wie möglich verhindern oder reduzieren will, ist wir nicht nur den Reparaturbetrieb Medizin sehen,
auf wissenschaftlich fundierte Aussagen angewie- sondern daß wir etwas für die Vorbeugung tun.
sen. Niemandem ist damit gedient, wenn sensations-
heischende Mahnrufe über angebliche Gefährdun- Es reicht nicht, daß wir jetzt einfach Umweltmedi-
gen im Wochenabstand in die Welt gesetzt werden ziner finden und sagen, wir brauchen Umweltmedi-
und sich kurz danach als nicht stichhaltig erweisen. zin. Wir müssen genau hinschauen, was das ist; denn
5212 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Dr. Wolfgang Wodarg


auch in der Umweltmedizin kann es passieren, daß destens doppelt so hoch sein sollte wie die Mittel, die
diese erst dann aktiv wird, wenn es zu spät ist, und wir bisher haben. Das sollte ein ganz konkretes Ziel
daß sich die Umweltmediziner darauf spezialisieren sein. Wenn stimmt, was Frau Bergmann-Pohl sagte,
zu reparieren, anstatt vorbeugend tätig zu werden. dann müßten Sie dem eigentlich zustimmen.

Es wirkt ein wenig unverantwortlich: Bevor wir Aber ich sehe bei Ihnen keine Konzepte, die be-
neue Wachstumsmärkte in medizinischen Dienstlei- reits operationalisiert sind; ich sehe nur Ideen. Auf
stungsbereichen regeln, sollten wir zuerst an die Ver- der anderen Seite sehe ich, daß in Bayern, Herr See-
hinderung von Krankheiten und Schäden bei Kin- hofer, die CSU sogar versucht hat, den Schulärztli-
dern denken. chen Dienst abzuschaffen. Die Berufsverbände der
Kinderärzte haben daraufhin Alarm geschlagen und
(Beifall bei der SPD) mit Hilfe der SPD dann verhindert, daß diese wich-
tige öffentliche Aufgabe der Lobby der Kassenärzte
Wir brauchen deshalb Lebensräume für Kinder geopfe rt wurde. Die wollten nämlich die U 9 an die
und für ihre Eltern, die gesundheitsfördernd sind, Stelle der schulärztlichen Untersuchung setzen.
und zwar deshalb, weil sie die Kinder nicht mit
Schadstoffen belasten, sondern deren soziale Kompe-
tenz fördern und zu Gemeinsamkeit ermuntern, weil Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Zeit, Herr Kol-
sie dem natürlichen Bewegungsdrang von Kindern lege.
Platz geben und Erfahrungen ermöglichen, die eine
selbstverantwortliche Lebensgestaltung begünstigen, Dr. Wolfgang Wodarg (SPD): Danke, ja. - Ich
statt die Kinder mit akustischem und visuellem Müll meine, daß wir auch in der Epidemiologie noch viel
zuzuschütten. machen müssen, daß wir eine Task Force brauchen;
das Bundesgesundheitsamt hatte sie schon gefordert.
Es sind nicht nur Schadstoffe - da gebe ich Ihnen
recht, Frau Limbach -, die krank machen. Fast 20 % Wir können im Umweltschutz auch ganz einfache
der Schulkinder sind bei schulärztlichen Untersu- Dinge machen. Ein Beispiel dafür möchte ich noch
chungen verhaltensauffällig. Das ist in Bezug zu set- zum Schluß nennen: Die Tankstellen, an denen sich
zen mit der Tatsache, daß Zehnjährige heute im heute immer mehr das tägliche Leben in kleinen Ge-
Schnitt etwa zweieinhalb Stunden vor dem Fernse- meinden und auch des Nachts abspielt, sind benzol-
her sitzen - das sind statistische Erhebungen, die im- verseuchte Orte. Do rt wird gelesen, dort wird ge-
mer wieder zum gleichen Ergebnis kommen - und kauft. Es wäre ein leichtes, hier eine bekannte krebs-
daß sie zu ausweichendem Verhalten und zu Sucht erzeugende Noxe zu minimieren, indem man sich
durch die Werbung täglich verführt werden. endlich dafür einsetzt, daß das Benzol aus dem Treib-
stoff herausgeholt wird, soweit es geht.
Die Folgen sind soziale Desintegration, Aggressio-
nen und Verhaltensstörungen. Dagegen kommt auch Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege - -
die beste Aufklärungskampagne der Bundeszentrale
für gesundheitliche Aufklärung nicht an, wenn man
Dr. Wolfgang Wodarg (SPD): Herr Präsident, der
sieht, welchen Aufwand die Werbung für schädi-
letzte Satz, wenn ich darf.
gende Substanzen, für Gifte wie Alkohol und Nikotin
sowie für akustischen und visuellen Müll betreibt.
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Ja, aber wirk-
Die Aids-Kampagne hat allerdings beispielhaft lich.
aufgezeigt, daß es lohnt, sich ein wenig mehr anzu-
strengen. Hier hat man durch Prävention, durch In- Dr. Wolfgang Wodarg (SPD): Meine Damen und
vestitionen in Aufklärung viel erreichen können. Das Herren, nur 1 % der Mittel im Gesundheitswesen
ist ein Beispiel dafür, was wir auch in anderen Gebie- werden für Prävention ausgegeben. Angesichts des-
ten hervorholen und nutzen sollten. sen darf man sich später nicht wundern, wenn ein-
mal die 99 % für die Schadensbekämpfung nicht
Damit wir wissen, an welcher Stelle gezielt Präven- mehr ausreichen.
tion zu betreiben ist, brauchen wir eine vernünftige
Gesundheitsberichterstattung auf allen Ebenen. Da (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
muß viel investiert werden. Wir kommen mit 1 % der ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Mittel nicht aus. Es lohnt sich, um die Allokationen und der PDS)
später richtig zu betreiben, jetzt zu schauen: Wo sind
die prioritären Gesundheitsziele und die Brenn- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Ich schließe die-
punkte, wo wir die Kinder vor krankmachender Um- Aussprache.
welt schützen müssen?
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen
Die Bundesregierung muß für all diese Dinge die auf Drucksachen 13/1968 und 13/2574 an die in der
Rahmenbedingungen schaffen. Dazu gehört, daß sie Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überwei-
die nötigen Budgets für Prävention sicherstellt. Es sen. Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktion
nützt nichts, darüber zu reden. der SPD wünscht Federführung beim Ausschuß für
Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, die
Ich erwarte vom Gesundheitsminister, daß er sich Fraktion der CDU/CSU beim Ausschuß für Gesund-
für ein Budget für Prävention einsetzt, welches min heit.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5213
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
Wer stimmt für den Überweisungsvorschlag der aber in vielen Fällen auch ausreichende Standards
SPD? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Überwei- hinausgehen. Es geht um die Baulandausweisung,
sungsvorschlag ist mit den Stimmen der Koalition ge- die im Endeffekt zurückhaltend bet rieben wird und
gen die Stimmen der Opposition abgelehnt. die dadurch zwangsläufig zur Verteuerung beiträgt.
Wer stimmt für den Überweisungsvorschlag der Die Einsparungspotentiale sind, so sagen die Gut-
CDU/CSU? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der achter, besonders im Eigenheimbereich sehr groß.
Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der Ko- Sie lägen bei etwa 50 %, und davon entfielen je 20 %
alitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition auf Standardreduzierungen und auf Effizienzverbes-
angenommen. Die Federführung liegt damit beim serungen und etwa 5 % auf die Deregulierungen im
Ausschuß für Gesundheit. Normenbereich. Damit könnten wir ein niedriges
Baukostenniveau erreichen, wie es in den Niederlan-
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: den und in Skandinavien längst Realität ist.
Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung Die Bundesregierung hat aus dieser Analyse Kon-
sequenzen gezogen und den heute zu diskutieren-
Handlungsrahmen der Bundesregierung für
den Handlungsrahmen zur Kostensenkung im Woh-
eine Initiative zum kosten- und flächenspa-
nungsbau vorgelegt. Ich glaube, die aktuelle Lage
renden Bauen
am Wohnungsmarkt begünstigt spürbarere Erfolge.
- Drucksache 13/2247 - Denn bisher haben sich Baukostensenkungen nicht
Überweisungsvorschlag: immer in den Preisen für die Nachfrager niederge-
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
schlagen. Wir kennen das: Ein überhitzter Immobi-
(federführend) lienmarkt hat eine Nachfrage, die ein besseres, ko-
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend stengünstigeres Angebot brachte, eher in höhere Ge-
winne umgeschlagen.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Kein Wider- Der Wohnungsmarkt - das können wir heute sehr
spruch? - Dann ist es so beschlossen. deutlich einschätzen - hat sich inzwischen gewan-
Ich eröffne die Aussprache, sobald es etwas ruhi- delt. Ursache für diesen Investitionsboom der letzten
ger geworden ist. - Ich warte immer noch auf etwas Jahre ist - auch wenn das einige nicht gerne hören -
mehr Ruhe. eine kontinuierliche Wohnungspolitik, die diese Koa-
lition durchgeführt hat. Künftig schaffen niedrigere
Das Wo rt hat der Parlamentarische Staatssekretär Kosten, so hoffen wir, auch für normale Bürger eine
Joachim Günther. notwendige Voraussetzung, daß sie in die Eigen-
(Anhaltende Unruhe) heimbautätigkeit einsteigen können.

- Darf ich die Kolleginnen und Kollegen in dem mitt- Die Kostensenkungsinitiative ist daher auch mit
leren Gang noch einmal bitten, sich etwas schneller der Stoßrichtung der Reformierung der Eigenheim-
zu entfernen, damit wir zur Ruhe kommen? förderung, die wir ja gegenwärtig im Ausschuß dis-
kutieren, verzahnt. Ich hoffe im Interesse aller, daß
Bitte, Herr Staatssekretär. sie rechtzeitig fertig wird, um am 1. Januar 1996 in
die Tat umgesetzt werden zu können.
Joachim Günther, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
desministerin für Raumordnung, Bauwesen und Der Bund verfolgt eine Doppelstrategie zur Durch-
Städtebau: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Da- setzung kostengünstiger Bauprodukte am Markt:
men und Herren! Die Expertenkommission „Ko-
stensenkung" hat im Jahre 1994 den Abschlußbe- Zum einen geht es um die Nachfrager. Die Tradi-
richt „Mehr Wohnungen für weniger Geld" vorge- tion des teueren Bauens hat viel mit Einstellungen
legt. Diese Analyse hat deutlich gemacht, daß das unserer typischen Eigenheimbauer zu tun. Sie gehen
deutsche Baukostenniveau deutlich über dem euro- davon aus: Ich baue einmal im Leben, dann baue ich
päischen Standard liegt, und von Anfang an für viel richtig, möchte möglichst viele Extras haben und das
Diskussionsstoff gesorgt. Haus voraussichtlich bis zum Lebensende behalten.
Was ist das Ergebnis aus dieser Sicht? Es wird entwe-
Im deutschen Wohnungsbau fehlt ein preisgünsti- der gewartet, bis man das Eigenheim finanzieren
ges Marktsegment, und es herrscht ein gewisser kann, oder man baut oft spät bzw. zum Teil über-
Zwangskonsum, den viele Nachfrager gar nicht haupt nicht.
mehr bezweifeln.
Es gibt eine verfestigte Tradition des teuren Bau- Unser Ziel muß es sein, den Eigenheimerwerb
ens, die allein von der Nachfrageseite her nicht mehr schon in einer jüngeren Lebensphase vorstellbar zu
umgangen werden kann. Die auf deutschen Baustel- machen, vor allem wenn die Kinder noch klein sind;
len zwangsläufig verfestigten Abläufe haben zu die- denn sie benötigen vordringlich ein Eigenheim. Not-
sem teuren Bauen mit beigetragen. wendig dazu ist, daß man Starthäuser oder Einstiegs-
modelle, wie es diese auch auf dem Automarkt gibt,
Es geht um das Nebeneinander der Gewerke auf baut oder verkauft, die hinsichtlich der Ausstattung
den Baustellen, es geht um Regelungen auf allen fö- und Wohnfläche preiswert sind, damit sie auch von
deralen Ebenen, um Regelungen, die über einfache, jüngeren Bürgern finanziert werden können.
5214 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Parl. Staatssekretär Joachim Günther


Wir haben daher die Kampagne „Das junge Haus" vatrechtlicher Vergabe, die Ausgestaltung von Archi-
vom Bundesministerium für Raumordnung, Bauwe- tektenverträgen im Zuge der fünften Novelle der
sen und Städtebau angestoßen. Wir hoffen auf die HOAI, aber auch die Vorbereitung der nächsten No-
Kooperation und die p rivate Beteiligung aller. Diese velle, die das BMWi hoffentlich genauso schnell in
Kampagne soll solchen Haushalten Mut zum Eigen Angriff nimmt wie die Überprüfung der Handwerks-
tum machen, die bei bisher üblichen Preisen nicht ordnung insbesondere wegen der Gewerketrennung.
oder nur sehr selten bauen konnten. Angestrebt wird Das ist ganz wichtig, wenn wir im Bauwesen voran-
die Stärkung des Kostenbewußtseins beim p rivaten kommen wollen.
Bauherrn, aber auch der Abbau von Vorurteilen, die
zum Teil gegen preiswerte Bauverfahren - ich nenne (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)
nur die Holz- oder die Typenhäuser - noch vorherr-
Meine Damen und Herren, niemand geht davon
schen.
aus, daß man die Baukosten mit einem einzigen oder
Kurz gesagt, die Kampagne soll deutlich machen, mit nur wenigen Instrumenten im Endeffekt be-
was auf der Grundlage der gegenwärtigen Rahmen- kämpfen oder herunterbringen kann. Also müssen
bedingungen möglich ist. Wir vom Bundesministe- auch solche Elemente in dieser Diskussion ernst ge-
rium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau nommen werden, die, allein betrachtet, nur einen
wollen die potentiellen Bauherren durch eine Infor- kleinen Schritt nach vorn versprechen. Ich hoffe des-
mationskampagne unterstützen. halb auf die Mitarbeit aller im Parlament, auf die
Ideen und Anregungen, auf Kontakte zu den Län-
Zum anderen geht es um die Angebotsfrage. Das dern, damit die Praxis einbezogen werden kann.
heißt, es geht um die Weiterentwicklung der Rah-
menbedingungen auf der Angebotsseite, so wie sie Die Kostensenkung im Bauwesen hat eine hohe
im Handlungsrahmen zusammengefaßt sind. Der Ko- sozialpolitische Brisanz. Preisgünstiges Bauen und
ordinierungsausschuß „Baukostensenkung" hat sich Wohnen bringt die Chance für Eigentum für Zigtau-
bereits konstituiert. Sinn ist es, alle am Bau Beteilig- sende von Familien. Es senkt die Wohnkosten der
ten an einen Tisch zu bringen, um miteinander und Mieter, senkt den Subventionsbedarf der öffentli-
nicht übereinander zu sprechen. chen Hände und ermöglicht damit im Endeffekt
Steuerentlastungen. Bei dem hohen Anteil, den der
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
Bau an den gesamten Investitionen in Deutschland
ten der CDU/CSU)
hat, den auch die Wohnkosten am verfügbaren Ein-
Wir hoffen, daß daneben auch jene Kreise ange- kommen haben, wird klar: Hier geht es um ein
sprochen werden, die in der Praxis zur Baukosten- Thema, das man nicht mit Sonntagsreden begleiten
senkung beitragen können. kann. Wir wollen handeln. Die Bundesregierung ist
dazu bereit, und ich fordere alle auf, daran aktiv mit-
Ein Erfolg der Kostensenkungsinitiative hängt zuwirken.
weiter von mehr Wettbewerb und mehr Baufreiheit
ab. Wettbewerb - das hat die Kostensenkungskom- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
mission eindeutig gezeigt - ist eine der wichtigsten
Voraussetzungen für Preissenkungen. Hier geht es
um Beispiele wie Erschließungskosten, Baulandan- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der
gebot, Vergabeverfahren der öffentlichen Hand - um Kollege Volkmar Schultz, SPD.
nur die wichtigsten zu nennen. Und Baufreiheit heißt
eben, jeden Bau und jede Bauweise zuzulassen,
wenn sie nicht Dritte und deren Rechte beeinträch- Volkmar Schultz (Köln) (SPD): Herr Präsident!
tigt. Besonders auf diesem Gebiet sollten wir einen Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Be-
großen Schritt nach vorn tun. richt der Kostensparkommission, den Herr Günther
erwähnt hat, hätte eigentlich hohe Wellen schlagen
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der müssen in Deutschland,
CDU/CSU)
(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist sehr rich
Viele beklagen in dieser Richtung zu Recht auch -tig!)
die Länderbauordnungen. Wir wissen, daß es hier
zum Teil noch deutliche Uneinheitlichkeiten gibt und wenn man sich die volkswirtschaftliche Bedeutung
daß z. B. der Einsatz von kostengünstigen Typenhäu- des Sektors Bauen anschaut und vor Augen hält, was
sern in einigen Regionen wirksam behindert wird zu gewinnen wäre, wenn es zu einer wirklich nen-
oder daß es erhebliche Behinderungen bei Holzbau- nenswerten Verbilligung käme.
weisen durch Brandschutzvorschriften gibt, die aber -
in der Wirklichkeit dem damit verbundenen Risiko Deshalb frage ich mich: Warum hat dieser Be richt
überhaupt nicht mehr gerecht werden. kein großes Echo gehabt?
Wichtige Handlungsfelder sind die Überprüfung (Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Das werden
der bisherigen Förderung des sozialen Wohnungs- Sie jetzt beantworten!)
baus, u. a. die verstärkte Einführung von Kostenober-
grenzen und Förderungspauschalen, der Wettbe- - Das werde ich Ihnen beantworten. - Wahrschein-
werb bei der Vergabe von Fördermitteln, der Reform- lich liegt es daran, daß nichts Neues in dem Be richt
bedarf bei den DIN-Vorschriften, die Weiterentwick- gestanden hat. Der Be richt ist eine saubere, eine so-
lung der Wettbewerbsverfahren bei VOB- und pri lide Zusammenfassung dessen, was seit 15, seit
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5215
Volkmar Schultz (Köln)
20 Jahren in zahllosen Pilotprojekten, in Demonstra- an Rhein und Ruhr kostet Bauland zwischen 500 und
tionsobjekten, in Versuchen, in Wettbewerben alles 950 DM pro Quadratmeter. Allein im Jahre 1994 sind
zusammengetragen worden ist. Aber der Be richt gibt die Preise im Durchschnitt um 8 % gestiegen. Wie
keine wirklich neuen Impulse. will die Bundesregierung bei solchen Entwicklungen
die Anhebung der Eigentumsquote, die sie landauf,
Jetzt haben wir die Tatsache festzustellen, daß ein
landab als oberstes Ziel ihrer Wohnungspolitik ver-
jahrzehntelanges Kartell von Gewohnheiten und In-
kündet, erreichen? Der Handlungsrahmen gibt dar-
teressen eine breite Umsetzung all dieser Erkennt-
auf keinerlei bef riedigende Antworten.
nisse bisher verhindert hat. Wir sind Weltmeister in
den Baukosten. Und warum sollte es auch ein biß- Mit ein paar Konversionsflächen, mit ein paar Pilot-
chen weniger sein? Es durfte ja allemal ein bißchen maßnahmen und mit einem etwas zweifelhaften
mehr sein. Bund-Länder-Baulanderschließungsprogramm läßt
Seien wir doch ehrlich: Wer hat eigentlich Inter- sich die uferlose Spekulation mit Bauland in Deutsch-
esse am kostengünstigen Bauen? Die Banken, weil land nicht bekämpfen. Wer holländische Kostenver-
sie dann weniger Kredite verleihen könnten? Die No- hältnisse will, der muß holländisches Bodenrecht
tare, die Ämter, die Architekten, die Ingenieure, weil einführen.
sich ihre Honorare und Gebühren an den Baukosten (Beifall bei der SPD)
ausrichten? Im Handlungsrahmen der Bundesregierung findet
(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Nur die Sozialpoli sich kein Wo rt zur Wiedereinführung der Grund-
tik!) steuer C, kein Ansatz für die Einführung eines kom-
munalen Satzungsrechtes zur Erhöhung der Grund-
Die Baustoffhändler, weil sie bei einer kühleren steuerhebesätze. Beides könnte dazu führen, daß
Tragwerksplanung auf 30 % Eisen verzichten könn- mehr Bauland auf den Markt kommt. So bleibt es
ten? Die Grundstückseigentümer? Die Makler? - nach dem Willen der Bundesregierung dabei, daß be-
Wenn sie alle kein Interesse an billigerem Bauen ha- reits bebautes Bauland höher besteuert wird als spe-
ben oder haben können, wer hat denn eigentlich In- kulativ zurückgehaltenes unbebautes Bauland.
teresse daran?
Meine Damen und Herren, im Baugesetzbuch ken-
Die Zeiten sind jetzt vorbei, in denen der Staat nen wir das Instrument der städtebaulichen Entwick-
endlos begründeten oder auch unbegründeten Stei- lungsmaßnahme mit der Abschöpfung von Planungs-
gerungsraten hinterherfördern könnte. wertgewinnen durch die Gemeinden. Dieses Prinzip
Plötzlich schauen wir ganz neidisch zu den kleinen sollte nach unserer Auffassung nicht nur für Einzel-
Nachbarn, nach Holland und Dänemark, denn die maßnahmen gelten, sondern für eine flächendek-
sind Weltmeister im Kostensparen. kende Anwendung weiterentwickelt werden. Zuge-
geben, das wäre ein konfliktreicher Weg. Die Bun-
Auch die Bundesregierung hat sich jetzt aufge- desregierung scheut ihn. In der zentralen Frage der
macht - wir begrüßen ausdrücklich die Initiative Grundstückskosten verfährt sie nach der Devise:
zum kosten- und flächensparenden Bauen -, „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht naß."
(Beifall bei der CDU/CSU) Kommen wir zu den Baukosten. Die SPD stimmt
allerdings spät, sehr spät. Vor 15 Jahren hätten Sie es der Einschätzung der Bundesregierung zu, daß der
machen können. soziale Wohnungsbau eine Leitfunktion für das ko-
stengünstige Bauen hat.
(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Da waren Sie doch
selber an der Regierung! - Jürgen
W. Möllemann [F.D.P.]: Vor 15 Jahren waren Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege
wir noch dran!) Schultz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kolle-
gen Braun?
- Oder vor 13 Jahren, na gut.
(Zuruf von der F.D.P.: Ja, ja, aufpassen!) Volkmar Schultz (Köln) (SPD): Ja, gerne.
Um ein bißchen Wasser in Ihren Wein zu gießen:
Der jetzige Handlungsrahmen enthält zwar eine Hildebrecht Braun (Augsburg) (F.D.P.): Mit Ver-
Reihe zutreffender Beschreibungen, aber er bleibt in wunderung höre ich von Ihnen, daß die Bundesregie-
allen zentralen Fragen unbestimmt, wolkig, vage rung das Instrument der städtebaulichen Entwick-
und ausweichend. lungsmaßnahmen nicht genügend ermutige. Ist es
(Beifall bei der SPD) nicht diese Bundesregierung bzw. diese Koalition ge- -
wesen, die im Jahre 1990 just dieses Instrument über-
Im wesentlichen sind es drei Kostengruppen, die haupt erst geltendes Recht hat werden lassen?
uns im Wohnungsbau beschäftigen: die Grund-
stückskosten, die reinen Baukosten und die Bau-
nebenkosten. Der Handlungsrahmen der Bundesre- Volkmar Schultz (Köln) (SPD): Herr Kollege Braun,
gierung ist in allen Teilbereichen unbef riedigend. ich habe nicht gesagt, daß sie es bisher nicht genü-
gend entwickelt hat, aber ich habe beklagt, daß es
Betrachten wir die Grundstückskosten: Sie können eine Einzelmaßnahme bleibt. Wenn es sich um eine
heute bis zu 40 % der Gesamtkosten eines Reihenein- Einzelmaßnahme in einer Gemeinde handelt, schaf-
familienhauses ausmachen. In den Ballungsräumen fen Sie durch die Anwendung des Instruments der
5216 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Volkmar Schultz (Köln)


Entwicklungsmaßnahme einen gespaltenen Grund- annehmen, weil sie weiß, daß sie im europäischen
stücksmarkt. Wettbewerb anders nicht bestehen kann. Wir sollten
also mit der Talk-Show aufhören und an die Arbeit
Meine Fraktion und ich plädieren dafür, daß wir gehen.
dieses Instrument auf eine flächendeckende Anwen-
(Beifall bei der SPD)
dung hin weiterentwickeln. Dann werden wir uns
schon einig. Wenn Sie uns da folgen wollen, freuen Meine Damen und Herren, eine deutliche Einspa-
wir uns sehr darüber. rung bei den Baukosten ist dann erreichbar, wenn
Wohnungen in größeren Stückzahlen erstellt wer-
(Beifall bei der SPD) den. Die Erfahrungen im benachbarten europäischen
Ausland belegen, daß die wi rt schaftliche Unter-
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Gestatten Sie grenze des Rationalisierungseffekts bei einer Min-
eine zweite Zwischenfrage? deststückzahl von etwa 60 bis 80 Wohnungseinheiten
liegt. Außerdem ist im Gegensatz zum europäischen
Ausland der Anteil an industriell gefertigten Bautei-
Volkmar Schultz (Köln) (SPD): Ja, gerne. len im Wohnungsbau der Bundesrepublik relativ ge-
ring. Hier liegen entscheidende Kosteneinsparpoten-
tiale.
Hildebrecht Braun (Augsburg) (F.D.P.): Herr Kol-
lege, würden Sie mir zustimmen, daß nicht etwa die Um diese zu nutzen und in die Praxis umzusetzen,
Bundesregierung eine städtebauliche Entwicklungs- fordern wir von der Bundesregierung nicht nur einen
maßnahme beschließen kann, sondern daß dies Auf- Koordinierungsausschuß, sondern die Einrichtung ei-
gabe der Kommunen wäre? Sehe ich es richtig, daß ner ständigen Innovationskonferenz mit allen Betei-
die Sozialdemokraten noch immer in einer namhaf- ligten: der Bauwirtschaft, den Planern, den Architek-
ten Reihe von Kommunen die Mehrheit stellen? ten, den Hochschullehrern, den Förderinstitutionen.
Ausgehend von technologischen Entwicklungen und
(Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Leider!) Optimierungserfahrungen in anderen Wirtschafts-
zweigen soll eine solche Konferenz neue Erkennt-
Volkmar Schultz (Köln) (SPD): Ich glaube, Herr nisse im Baubereich verbreiten und innovative Pro-
Kollege Braun, das sehen Sie falsch. Eine städtebau- dukte und Verfahren fördern. Einrichtungen, wie sie
liche Entwicklungsmaßnahme, wenn sie denn flä- zum Teil schon bestehen, z. B. das Zentrum für ratio-
chendeckend gelten sollte, müßte im Baugesetzbuch nelles und anwendungsorientiertes Bauen in Essen,
verankert werden. Dafür, glaube ich, sind wir zustän- könnten dabei eine sehr große Hilfestellung leisten.
dig. Aber auch schon jetzt kann konkret gehandelt
Ich fahre fort: Wir stellen fest, daß der soziale Woh- werden. Die Novellierung der Handwerksordnung
nungsbau eine Leitfunktion hat. Wenn das so blei- ist schon angesprochen worden. Ich glaube, da sind
ben soll, dann muß auch die Objektförderung in nen- wir auf dem richtigen Wege.
nenswertem, d. h. in marktbeeinflussendem Umfang Darüber hinaus ist im Handlungsrahmen eine er-
erhalten bleiben. Wer die Objektförderung gegen neute Novellierung der HOAI angesprochen. Nen-
eine wie auch immer gea rt ete Subjektförderung ein- nen wir das Kind beim Namen: Wir brauchen eine
tauscht, verliert die Leitfunktion in der lebenswichti- baukostenunabhängige HOAI. Für den Wohnungs-
gen Kostenfrage. Ich füge hinzu: Wer die Subjektför- bau ist dabei sehr wohl eine wohnflächenbezogene
derung ausweitet, der treibt eher die Kosten in die Honorierung vorstellbar.
Höhe, anstatt sie zu senken.
Ein wesentlicher Kostenfaktor, meine sehr verehr-
Insofern klingt es wenig überzeugend, wenn die ten Damen und Herren, ist die Herstellungszeit ei-
Bundesregierung einerseits Kostenobergrenzen pro- nes Bauwerks. Wir haben uns daran gewöhnt, daß
pagiert, andererseits aber auf die Aufhebung der Ob- neue Wohnungen erst zwei bis drei Jahre nach Ab-
jektförderung sinnt. Befremdlich mutet darüber hin- schluß einer Finanzierung bezogen werden können.
aus die Tatsache an, daß in dem vom Kabinett verab- Durch eine optimale Koordination des Bauprozesses
schiedeten Handlungsrahmen kein einziger konkre- und eine engere Kooperation aller Beteiligten, die
ter Wert für Kostenobergrenzen angegeben wird, bereits in der Planungsphase erfolgen muß, kann der
während in der dazugehörigen Pressekampagne Fertigungsprozeß von neuen Wohnungen deutlich
vollmundig mit dem „jungen Haus" für 2 000 DM verkürzt werden. Das spa rt einen erheblichen Auf-
Baukosten pro Quadratmeter operiert worden ist. wand an Finanzierungs- und Zwischenfinanzie-
Damit ist die Bundesregierung jedoch weit hinter rungsmitteln und führt zu entscheidenden Verbilli-
den tatsächlichen Entwicklungen zurückgeblieben; gungen.
denn wir haben in der Republik längst Angebote um Es kommt also darauf an, das Geflecht von Bezie-
1 500 DM pro Quadratmeter. Das sollte die Meßlatte hungen zwischen Planungs-, Genehmigungs- und
sein, meine Damen und Herren. Der Bundesbaumi- Bauvorbereitungsverfahren auch auf den Zeitfaktor
nister sollte gemeinsam mit seinen Kollegen aus den hin zu durchforsten.
Ländern der Bau- und Wohnungswirtschaft sagen:
Das ist die Meßlatte, diese müßt ihr in fünf Jahren er- Schließlich sollten, zumindest im öffentlich geför-
reichen. Sie sollten also eine konkrete Zielvorgabe derten Wohnungsbau, die Erfahrungen der Städte
machen. Ich bin sicher, die Bauwirtschaft würde dies Frankfurt und Wiesbaden mit einem privaten Con-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5217
Volkmar Schultz (Köln)
trolling-Unternehmen ausgewertet und für alle öf- die letzten 15 Jahre insgesamt 27 Projektdoku-
fentlich geförderten Wohnungsprojekte verbindlich mentationen und Einsparungskataloge auf. Das
vereinbart werden. Auch hier, meine ich, sollte die heißt, enorme Kosteneinsparungen sind möglich, ha-
Bundesregierung die Initiative ergreifen. ben sich aber bislang nicht durchsetzen können.

(Beifall bei der SPD) (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)
Fest steht, daß wir in Deutschland im Vergleich zu
Aber, meine Damen und Herren, was nützt uns
unseren europäischen Nachbarländern auf Grund
eine Kosteneinsparung von beispielsweise 100 000
der enorm hohen und allein in den letzten zehn Jah-
DM pro Wohneinheit, sei es im Eigenheim oder bei
ren um 40 % gestiegenen Baukosten zum einen eine
der Mietwohnung, wenn diese Kosteneinsparung
recht traurige Wohneigentumsquote - sie beträgt in
nicht an den Käufer oder an den Mieter weitergege-
den alten Bundesländern 41 % und in den neuen
ben wird? Neue Vertriebswege zu finden, über Ge-
Bundesländern 24 % - und zum anderen ein recht ho-
nossenschaften, Bauherrengemeinschaften, Grup-
hes Bauherrenalter von durchschnittlich 38 Jahren
penbaumaßnahmen, ist ein ganz wesentlicher
haben.
Aspekt bei der Förderung des kostengünstigen Bau-
ens. Fest steht auch, daß unsere nächsten Nachbarn,
insbesondere Holland, Vorbild im kosten- und flä-
Fazit: Der Handlungsrahmen der Bundesregierung chensparenden Bauen sein können und müssen.
läßt viele wichtige Fragen unbeantwortet. Sie sollten
ihn zurückziehen und neu formulieren. Wir sind gern (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr wahr!)
zur Hilfe dabei bereit. So kosten in Holland die eigenen vier Wände im
Schnitt nur vier bis fünf Jahresgehälter, in Deutsch-
Vielen Dank.
land dagegen neun. In Holland ist ein kleines Rei-
(Beifall bei der SPD) henhaus schon ab 130 000 DM zu haben, ein entspre-
chendes Haus in Deutschland kostet mehr als das
Doppelte.
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wo rt hat die Die Bauwerkskosten bei vergleichbaren Häusern
Kollegin Margarete Späte, CDU/CSU. liegen in Holland 40 bis 50 % unter denen in
Deutschland, wobei 25 % durch geringere Ausstat-
tungsstandards, z. B. durch Verzicht auf Unterkelle-
Margarete Späte (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr rung, erreicht werden, 5 % auf Grund vereinfachter
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine oder fehlender Normierung und Reglementierung
Damen und Herren! Die Bundesregierung hat für und 20 % durch Rationalisierung bei der Planung
diese Legislaturperiode eine Kostensenkungs- und und Ausführung des Bauvorhabens. Junge Familien
Wohnbaulandinitiative angekündigt, eine konzer- mit Kindern brauchen in unserem Land schätzungs-
tierte Aktion von Bund, Ländern und Gemeinden. weise 500 000 Wohnungen pro Jahr, die sie sich fi-
Dank der hervorragenden Arbeit der Kostensen- nanziell leisten können.
kungskommission, deren Be richt schon im Juli letz-
ten Jahres vorlag, und besonders dank des großen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Engagements von Herrn Minister Töpfer befinden
Daß dies keine Illusion bleiben muß, daß und wie
wir uns heute mit der Vorlage des Handlungsrah- kostengünstiges Bauen in Deutschland gefördert
mens der Bundesregierung nach erstaunlich kurzer
werden kann, belegt nicht zuletzt, alle bisherigen Er-
Zeit schon mittendrin.
kenntnisse - nicht nur aus Modellprojekten - und
Festgestellt werden muß, daß zu einer wirkungs- auch Erfahrungen der Nachbarländer zusammenfas-
vollen Förderung des kostengünstigen Bauens vor send, der Kommissionsbericht. Wie in diesem Zusam-
dem Hintergrund eines steigenden Wohnungsbe- menhang der politische Handlungsbedarf ganz kon-
darfs und knapper öffentlicher Haushalte und gerade kret aussehen soll, daran wird derzeit auf den unter-
auch unter familienpolitischen Gesichtspunkten schiedlichsten Ebenen gearbeitet.
dringender politischer Handlungsbedarf besteht, Die Bundesregierung hat in einem ersten Schritt
wenn sich kostengünstiges Bauen auch in Deutsch- auf der Grundlage des Kommissionsberichts, den ich
land und über Modellprojekte hinaus durchsetzen an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich würdigen
soll. möchte,
Fest steht, daß in Phasen von Wohnungsknappheit (Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Der ist ge-
immer besondere Anstrengungen auf dem Gebiet lungen! Der ist sehr gut!)
der Kostensenkung unternommen wurden, die aber
einen ersten Handlungsrahmen vorgelegt. Dabei ist
in der nächsten Entspannungsphase der Marktent-
zu betonen, daß sowohl mit dessen Konkretisierung
wicklung erlahmten. Fest steht: Kosteneinsparungs-
als auch mit dessen Ausfüllung und Umsetzung Mi-
kataloge liegen als Ergebnis ungezählter Modellpro-
nister Töpfer vor der Behandlung hier im Plenum be-
jekte, initiiert von Bund, Ländern und Verbänden,
gonnen hat - und das ist auch sehr gut so.
seit langem und zuhauf vor. Allein zwischen 1980
und 1985 wurden insgesamt 485 Projekte als Modell- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. -
vorhaben des kosten- und flächensparenden Bauens Zuruf von der F.D.P.: Der vorauseilende Ge-
realisiert, und der Kommissionsbericht listet allein für horsam!)
5218 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Margarete Spate
Denn Zeit kostet bekanntlich Geld, gerade im Baube- günstig bei rationeller Flächenausnutzung, zu er-
reich. Wir dürfen einfach keine Zeit mehr verlieren, schließen.
wenn wir unser Ziel erreichen wollen, daß die Ko-
stensenkung beim Endverbraucher tatsächlich an- (Achim Großmann [SPD]: Alles zusammen
kommt. beschlossen!)

So existiert bereits der Koordinierungsausschuß Zu den laufenden bodenpolitischen Maßnahmen


beim BMBau. Die Abteilung Kostensenkung im der Bundesregierung gehört zudem die kostengün-
BMBau ist eingerichtet, und auch der Bauausschuß stige Bereitstellung bundeseigener Liegenschaften,
hat bereits im Rahmen der Haushaltsberatungen ein- damit Bauland wieder bezahlbar wird. Allein zwi-
deutig Stellung zur Kostensenkungs- und Wohnbau schen 1980 und 1994 haben sich die Kosten für bau-
landinitiative bezogen. reifes Land um 77 % erhöht.

Wir haben sowohl für den sozialen Wohnungsbau Ziele unserer Kostensenkungs- und Wohnbauland-
als auch für die Wohneigentumsförderung nur be- initiative sind die Erweiterung des Angebots preis-
grenzte Mittel zur Verfügung. Aber wir wissen - und günstiger Wohnungen durch Etablierung des „jun-
Sie von der Opposition wissen es auch -: Es geht gen Hauses", die Erleichterung der Wohneigentums-
günstiger, und es geht effektiver. Hier und jetzt ha- bildung über die staatliche Förderung hinaus, damit
ben wir die Chance, es zu beweisen und das Effektiv- bis zum Jahr 2000 jeder zweite in Deutschland - hof-
ste aus den uns zur Verfügung stehenden Mitteln zu fentlich bereits in der Familiengründungsphase - in
machen, auch und gerade im sozialen Wohnungs- den eigenen vier Wänden lebt, und der effizientere
bau. Daher steht als Bestandteil der Kostensenkungs- Einsatz öffentlicher Mittel.
initiative in dieser Legislaturpe riode das gesamte An diesem ersten und frühen Punkt der Diskussion
Förderregularium vom Grund her auf dem Prüfstand. plädiere ich für eine intensive Auseinandersetzung
Unsere Wohnungspolitik der nächsten Jahre steht mit der Regierungsvorarbeit und für eine konstruk-
unter dem obersten Gebot der Kostensenkung und tive Beratung und Bearbeitung der Thematik im Aus-
Kostenkontrolle. Wir werden damit sowohl die neue schuß, für die Anberaumung einer öffentlichen An-
Wohneigentumsförderung nachhaltig unterstützen hörung und für die Beteiligung des Ausschusses im
und effektiver gestalten als auch und gerade die für Koordinierungsausschuß Baukostensenkung im
den sozialen Wohnungsbau bereitstehenden Mittel BMBau.
gezielter und effektiver einsetzen, beim ersteren Abschließend bleibt mir nur, uns viel Arbeit mit
durch mehr einkommensorientierte Förderung und diesem komplexen Anliegen zu wünschen, viel von
beim letzteren durch Einführung von Kostenober- Erfolg gekrönte Arbeit zugunsten aller.
grenzen im sozialen Wohnungsbau.
Ich danke Ihnen.
Mit öffentlichen Mitteln wird nicht selten Luxusso-
zialwohnungsbau zu horrenden Quadratmeterprei- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
sen bet rieben. Zum Beispiel Frankfu rt - Sie erwähn-
ten es - hat daraus endlich Konsequenzen gezogen. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wo rt hat der
Heute wird do rt der soziale Wohnungsbau von einem Kollege Helmut Wilhelm, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
privaten Kostenkontroll- und Rationalisierungsunter- NEN.
nehmen mit großem Erfolg überwacht.
(Zuruf von der CDU/CSU: Das war in Helmut Wilhelm (Amberg) (BÜNDNIS 90/DIE
Frankfu rt überfällig!) GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Her-
Übrigens ist in einer Studie der F riedrich-Ebe rt ren! Wohnen als menschliches Grundbedürfnis ist in-
-StifungzrWohspltiknOdeuchafol- zwischen etwas teuer geworden. Die Analyse der
gendes nachzulesen: derzeitigen Baukostensituation wird im Be richt zu-
treffend wiedergegeben, die Konsequenzen hieraus
Als Kernpunkt einer sozialen Wohnungspolitik im übrigen im wesentlichen auch. Ich zitiere:
wird immer wieder ein möglichst umfangreicher
sozialer Mietwohnungsbau gefordert. Eine sol- In Deutschland baut man teuer. Holländer, Eng-
che Position wird für Ostdeutschland in den mei- länder, Franzosen und Dänen schaffen es, mit 1 %
sten Fällen nicht adäquat sein. ihres Bruttoinlandsprodukts 2,5 bis 3,5 Woh-
nungen auf 1 000 Einwohner zu errichten. In
Warum denn diese Aufregung bei der notwendigen Westdeutschland waren es gerade 1,5 Woh-
Haushaltskonsolidierung? nungen.
-
Alles in allem loben Sie in dieser Studie die Arbeit Dabei entspricht das Angebot an bezahlbarem
der Bundesregierung im voraus und auch im nach- Wohnraum schon lange nicht mehr der Nachfrage.
hinein. Dort steht: Wir brauchen tatsächlich keine Bauherren- oder Ar-
chitektenunikate auf hohem Standard, sondern be-
Durch die Veränderungen im Baugesetzbuch zahlbaren Wohnraum für die breite Masse der Bevöl-
sind mit den städtebaulichen Entwicklungsmaß- kerung.
nahmen und dem Vorhaben- und Erschließungs-
plan rechtliche Instrumente geschaffen worden, Dieses Wissen ist natürlich nicht neu, doch verhin-
die es erlauben, im großen Stil Baugebiete für dert ein Geflecht verschiedener Regulierungen, Nor-
einfache Reihenhäuser, entsprechend kosten- men, eingefahrener Interessen und Planungsverhal-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5219
Helmut Wilhelm (Amberg)
ten kostengünstiges Bauen. Es gibt Modellprojekte, von Kosten von oben auf die Gemeinden schwierig. I
die bewiesen haben, daß Kostensenkungen bis zu 30 Viele Gemeinden sind im Gegenteil bereits gezwun-
oder 40 % erreichbar sind. Das Wissen um die Wege gen, ihre Vorräte an Grund und Boden zu verkaufen,
ist also vorhanden. um das nötige Kapital zur Abdeckung ihrer Haus-
halte zu erwirtschaften.
Das Festhalten am hohen Kostenniveau war auch
nicht ganz folgenlos. Der Druck auf Wohngeld und (Zuruf von der CDU/CSU: Wo denn?)
Sozialhilfe hat gewaltig zugenommen. Fälle von
Mietschulden, Räumungsklagen, Wohnungs- und Wir brauchen eine Mieterbeteiligung bereits im
Obdachlosigkeit haben sich gehäuft. Die finanzielle Planungsstadium. Es ist schon etwas merkwürdig,
Hauptlast traf dabei die Gemeinden, das schwächste daß am Bau eines Wohngebäudes sehr viele beteiligt
Glied in der Kette. sind: Architekten, Handwerker, Notare usw., nur ei-
ner nicht: der spätere Nutzer einer Wohnung, der
Nachdem das Problem der hohen Baukosten be-
Mieter. Hier wäre ein Einsparungspotential gegeben,
reits seit dem Ersten Weltkrieg bekannt ist - es gab
auch dadurch, daß man Mietern Freiräume bei der
nach dem Ersten Weltkrieg bekanntlich eine Vielzahl
Gestaltung des Wohnumfeldes, z. B. bei den Grünan-
von Siedlungsmodellen zur Kostenersparnis - und
lagen, zugesteht und ihnen auch die spätere Pflege
nachdem gerade in den letzten Jahren die Baukosten
überträgt.
explosionsartig gestiegen sind, sieht nun auch die
Bundesregierung dankenswerterweise Handlungs- Ich denke auch an die Möglichkeit genossen-
bedarf. Zeit war's. schaftlichen Bauens durch „Muskelhypothek".
Dabei stimmen wir mit den Zielvorgaben durchaus
Umsetzungsinstrumente für ökologisches Bauen
überein: Senkung der Baukosten auf unter 2 000 DM
sind endlich verbindlich festzuschreiben. Dazu zäh-
je Quadratmeter, Berücksichtigung ökologischer
len verpflichtende Vorgaben für verdichtetes Bauen.
Standards, sparsamer Flächenverbrauch.
Flächensparendes Bauen heißt nämlich auch kosten-
Ebenso ist richtig, daß die Honorarordnung für sparendes Bauen. Wir haben einen Gesetzentwurf
Architekten und Ingenieure kostensenkende Maß- zur Wohneigentumsförderung eingebracht, der diese
nahmen bisher bestraft hat. Eine Novellierung in Komponenten berücksichtigt, was im Regierungsent-
Richtung Erfolgshonorare bei Kostensenkung - in ei- wurf fehlt.
nigen Städten musterhaft praktiziert, z. B. in Langen-
hagen bei Hannover - ist dringend erforderlich. An- Vereinfachungen des Baurechts hingegen werden
sonsten gehen nämlich die besten Absichten ins die Baukosten nicht senken. Das steht explizit auf
Leere. Seite 1, Spalte 2 des Berichts der Experten. Im Ge-
genteil: Erfahrungen mit dem Modell des Herrn
Auch stimmt es, daß die Erschließungskosten ge- Beckstein in Bayern haben gezeigt, daß meist sogar (
senkt werden müssen. Dabei liegt allerdings unserer Kostensteigerungen die Folge solcher Maßnahmen
Ansicht nach der wesentliche Handlungsbedarf nicht sind, ganz einfach deswegen, weil notwendige Prü-
zuletzt im sinnvollen Umgang mit der „heiligen Kuh" fungen, die bisher die Gemeindebehörden vorge-
Auto. Ich nenne beispielhaft die Reduzierung des nommen haben, nunmehr von p rivaten Sachverstän-
Ausbaus der Erschließungsstraßen auf ein vernünfti- digen durchgeführt werden müssen und damit in
ges Maß - es muß nicht unbedingt so sein, daß sich den Kosten wesentlich höher liegen.
auf einer Anliegerstraße zwei Lkws begegnen kön-
nen müssen; so stand es einmal in der Richtlinie für Warum Herr Minister Töpfer seine in den letzten
den Ausbau von Stadtstraßen - und den Verzicht auf Tagen veröffentlichte Presseerklärung gerade hier-
kostenintensive Tiefgaragen. Statt dessen sollte die auf abstellt, weiß ich nicht. Der Kostensenkung dient
Standortplanung für Wohnsiedlungen unter dem es, siehe der Bericht, jedenfalls nicht.
Aspekt bestehender oder ausbaufähiger ÖPNV-Sy-
steme erfolgen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Nach unserer Überzeugung sind die Baukosten im
wesentlichen auch durch folgende Maßnahmen zu
reduzieren: Wir brauchen die Einführung eines Bo- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Franken-
denrechts, das spekulative Planungsgewinne bei hauser, Sie können keine Zwischenfrage mehr stel-
Baulandausweisungen verhindert. Ich erinnere hier - len. Wenn Sie möchten, gebe ich Ihnen die Möglich-
das wurde heute bereits angesprochen - an § 154 des keit zu einer Kurzintervention. Möchten Sie?
Baugesetzbuches, der allerdings nur im Bereich von
Städtebauförderungsmaßnahmen gilt. (Herbe rt Frankenhauser [CDU/CSU]: Ja!)

Wir brauchen eine konsequente und sinnvolle Bo- - Bitte.


denvorratspolitik der Kommunen
(Zuruf von der CDU/CSU: Die haben Sie im Herbe rt Frankenhauser (CDU/CSU): Herr Kollege
Ausschuß gerade abgelehnt, Herr Kollege!) Wilhelm, wären Sie in der Lage - -
statt der Forderung nach exzessiver Baulandauswei- (Zurufe: Kurzintervention!)
sung. Dies ist natürlich für die Gemeinden ange-
sichts des in der Vergangenheit praktizierten und - Ich kann bei einer Kurzintervention auch eine
auch in der Gegenwart stattfindenden Abdrückens Frage stellen. Das ist doch zulässig, oder?
5220 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Sie sind ganz Die Baunutzungsverordnung meint nun, daß eine
frei, wie Sie die Kurzintervention machen wollen, solche bauliche Verdichtung die Lebensqualität all-
aber machen Sie sie. zusehr einschränke und daher unzulässig sei. Merk-
würdig, daß die Münchener in Schwabing und Haid-
hausen dies ganz anders sehen.
Herbert Frankenhauser (CDU/CSU): Herr Kollege
Wilhelm, ich möchte hier ausdrücklich feststellen,
Der Dachgeschoßausbau wird noch in vielen Groß-
daß Sie nicht in der Lage waren, ein einziges Objekt
kommunen negativ gesehen und nicht ausreichend
zu benennen, bei dem auf Grund der richtungswei-
unterstützt. Daumenschrauben in Form von Anforde-
senden neuen Baumöglichkeiten, die der Freistaat
rungen in bezug auf nachträglich kaum mehr zu
Bayern geschaffen hat, Kostensteigerungen eingetre-
schaffende Stellplätze werden immer wieder be-
ten sind.
kannt. Richtig ist natürlich, daß der Dachgeschoßaus-
bau deutlich billiger ist als der Bau auf unbebauten
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Möchten Sie Grundstücken: Die Erschließung ist längst vorhan-
dazu etwas sagen, Herr Wilhelm? Sie müssen das den; die existierenden Ver- und Entsorgungsleitun-
aber nicht. gen lassen sich in der Regel verlängern, so daß der
Aufwand entsprechend gering ist.
Helmut Wilhelm (Amberg) (BÜNDNIS 90/DIE
Eine Senkung der Grundstückspreise wäre in all
GRÜNEN): Herr Kollege, ich empfehle Ihnen, an Ta-
den Gemeinden möglich - das sind über 99 % der
gungen von Baufachleuten und auch kommunalen
Gemeinden in Deutschland -, die über Flächen ver-
Baubeamten teilzunehmen. Die werden es Ihnen
fügen, die ohne gefährliche Eingriffe in die Natur
nämlich sehr deutlich sagen, auch unter Zugrundele-
und den Landschaftsschutz zur Verfügung gestellt
gung zahlreicher Beispiele.
werden könnten.

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wo rt hat der (Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Genau!)
Herr Kollege Braun, F.D.P.
Grundstücke, auch und gerade solche in öffentlicher
Hand, als Wohnbauland ausweisen und sie auch für
Hildebrecht Braun (Augsburg) (F.D.P.): Wertes Prä-
den Markt verfügbar machen, das ist das Gebot der
sidium! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Stunde.
Wer wie wir Liberalen niedrige Mieten will, muß da-
für sorgen, daß viel gebaut wird. Wer viel bauen will, (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
braucht viele Käufer. Diese können aber nur kaufen,
wenn die Häuser und Wohnungen billig sind, jeden- Ein gewaltiger Kostenfaktor, der sich aber speziell
falls billiger als bisher. Wir haben die höchsten Preise bei Behörden noch zu wenig herumgesprochen hat,
der Welt, und darauf sind wir gar nicht stolz. sind die Kosten der Vorfinanzierung von Grundstük-
Wir haben auch die höchsten Anforderungen an ken bis zur Baugenehmigung. Wir hören immer wie-
Wohnbauten. Darauf sind wir schon eher stolz, aber, der, daß Baugenehmigungsbehörden Anträge in ei-
ehrlich gesagt, mit Einschränkungen. Wir wünsch- ner Weise prüfen, als seien sie Bauverhinderungsbe-
ten, alle Bürger in unserem Land könnten Eigen- hörden.
tümer ihrer vier Wände werden. Dann müssen wir
uns aber ernsthaft um die angestrebte Verbilligung (Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Genau!)
kümmern.
Die Gemeinden und Landkreise sind aber aufgeru-
Wir leisten uns den Luxus, den Wohnungsbau, der fen, die Verfahrensdauer deutlich zu verkürzen. Dies
gegenüber dem gewerblichen Bau aus vielerlei spart Zinsen und natürlich auch Baukosten, da diese
Gründen teurer ist, z. B. durch viel mehr Sanitäranla- regelmäßig nach Verzögerungen nicht niedriger, son-
gen, durch Kinderspielplätze, durch kompliziertere dern höher liegen. Grundbuchämter, die zu langsam
Grundrisse usw., nochmals beträchtlich zu verteuern, arbeiten, verursachen horrende Kosten.
da wir die Bauherren von Wohnungsbauten nicht
zum Vorsteuerabzug berechtigen. Dies ist ein äu- (Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Das stimmt
ßerst unglücklicher Aspekt. Der Staat steuert hier wohl!)
durch Steuern in eine gefährliche Richtung: Gewer-
bebauten führen bei den Gemeinden zu Gewerbe- Die Regelungsdichte der Bauordnungen, die in
steueraufkommen, Wohnungen führen statt dessen weiten Bereichen vom Bild des unmündigen Bürgers
zu beträchtlichen Nachfolgelasten wie Kindergärten, geprägt sind, der vor sich selbst geschützt werden
Schulen, öffentlichem Nahverkehr usw. Wir dürfen müsse, tut ein übriges.
uns nicht wundern, wenn in vielen Gemeinden die
zu den Arbeitsplätzen gehörigen Wohnungen nicht (Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Genau!)
geschaffen werden. Falsche Strukturpolitik rächt sich
aber. Kleine Stückzahlen verhindern oft Kostensenkung
durch rationelle Vorfertigung. Gewiß wollen wir
Kostensparendes Bauen erfordert ein Umdenken. nicht die Rückkehr zum Plattenbau unseligen Ange-
Manche Stadtviertel aus der Jahrhundertwende mit denkens. Wer aber preiswertes Bauen wünscht, darf
einer außerordentlich hohen Akzeptanz weisen eine Rationalisierungsbestrebungen nichts in den Weg
durchschnittliche Geschoßflächenzahl von 2,0 auf. stellen.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5221
Hildebrecht Braun (Augsburg)
Wir fordern eine Rückbesinnung auf den heimi- Fragen auf Grund fehlender Analysen auch nicht be-
schen Baustoff Holz, der unter Umweltgesichtspunk- antworten kann und statt dessen nur fragmentarisch
ten positiv zu bewe rten und preiswert zu haben ist. Hypothesen nebeneinanderstellt, zum anderen, weil
Allerdings würden Holzhäuser wohl eine drastische nun weitere berufene Experten an einzelnen Vor-
Verschärfung der Wärmeschutzverordnung nicht schlägen arbeiten sollen, statt daß die Regierung
überstehen. Hier ist Vorsicht geboten. endlich zu handeln beginnt.
(Achim Großmann [SPD]: Schauen Sie ein Im Bericht wird dokumentiert, wie seit dem Ersten
mal nach Skandinavien!) Weltkrieg erfolglos am Problem der Baukosten her-
Ein Problem sind schließlich die deutschen DIN- umlaboriert wird. Zwei volle Seiten umfaßt allein die
Standards. Nach § 13 Nr. 1 VOB, Teil B, muß das Auflistung ausgewählter Projektdokumentationen
Bauwerk zum Zeitpunkt der Abnahme nach den an- und Einsparungskataloge aus den letzten 15 Jahren.
erkannten Regeln der Technik erstellt sein. Sind die Etliche Experten konnten damit ihre Brötchen ver-
DIN-Normen eingehalten, so gilt die allerdings wi- dienen - ich denke, nicht schlecht -, nur geändert
derlegbare Vermutung, daß diese Regeln eingehal- hat sich nichts.
ten worden seien. Die Gerichte behandeln die DIN-
(Gert Willner [CDU/CSU]: Es soll sich etwas
Normen aber quasi als gesetzliche Mindeststan-
ändern!)
dards. Dies erscheint außerordentlich bedenklich.
Richtig wäre wohl, nur die DIN-Normen, die der Bau- Im Gegenteil: Die Kosten für Bauland, Mietwoh-
sicherheit dienen, als Mindeststandards zu betrach- nungen und Eigenheime stiegen unter dieser Koali-
ten. Soweit es aber um Qualitätsstandards geht, müs- tion schneller als die Einkommen der Lohnabhängi-
sen die Vertragspartner in der Lage sein, aus Kosten- gen und die allgemeinen Lebenshaltungskosten.
gründen auch niedrigere Standards zu vereinbaren. Dies ist ein Eldorado für Banken, Bausparkassen, Im-
Wir werden daher prüfen, ob der Gesetzgeber hier mobilienbesitzer, Architekten und große Baufirmen.
tätig werden muß. Überhöhte Kosten für den Käufer auf der einen Seite
Zusammenfassend will ich feststellen: Die Phanta- bedeuten immens hohe Gewinne der Hersteller und
sie und die Tatkraft aller irgendwie mit dem Bauen Anbieter auf der anderen Seite.
befaßten Menschen sind gefordert, um Wohnungen
erschwinglich zu machen. Staatliche Subventionen Es ist eine richtige und zentrale Erkenntnis der
ersetzen nicht richtiges Handeln. Sie verführen häu- Kommission: Nicht überzogene Baunormen, sondern
fig nur zu geistiger und wirtschaftlicher Trägheit, die die Interessenlage der am Bau Beteiligten, alte Ge-
wir uns im Bausektor schon gar nicht leisten können. wohnheiten und Monopole - statt Wettbewerb - sind
die Hauptprobleme. Kartellmentalität, flächendek-
Vielen Dank. kende Korruption und ein dichter Filz von Politik und
Wirtschaft kommen hinzu. In dem Buch „Die deut-
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
sche Wohnungsmisere", erschienen im August 1995,
beschreibt Johannes Ludwig diese Misere sehr ein-
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der drucksvoll.
Kollege Klaus-Jürgen Warnick, PDS.
Schlußfolgerungen sind nach unserer Meinung in
zwei Richtungen möglich: Erstens. Der Staat hat dem
Klaus-Jürgen Warnick (PDS): Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Als sechster Redner in Kapital in seinem Drang nach maximalen Gewinnen
dieser Runde kann ich vieles meiner Vorredner nur bisher zuviel Raum gelassen, muß also stärker regu-
wiederholen und will deswegen einiges weglassen. lierend eingreifen. Das ist unsere Meinung. Zwei-
tens. Der Staat regelt zuviel, macht dadurch das
(Herbe rt Frankenhauser [CDU/CSU]: Sehr Bauen zu teuer, muß also dem freien Spiel der Markt-
lobenswert!) kräfte mehr Raum geben. Das ist die typische F.D.P.-
Meinung.
In einem sind wir uns ja einig: daß Bauen in Deutsch-
land viel zu teuer ist, daß es für zunehmend mehr Auf einem Kongreß in der vorigen Woche zum
Menschen unbezahlbar ist und auch gutverdienende Thema „Innenstädte contra grüne Wiese" mußte sich
Familien kaum noch eine Möglichkeit haben zu aber auch die F.D.P. eines Besseren belehren lassen.
bauen. Dies festzustellen reicht aber nicht. Man muß Herr Rexrodt hat dort keine besonders gute Figur ge-
Konsequenzen ziehen, man muß dem Taten folgen macht. Es sollte Ihnen zu denken geben, daß auch
lassen. Handel und Industrie dort der Meinung waren: Es ist
(Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Das ist soweit, daß der Staat eingreifen muß; der Markt kann-
wahr!) nicht alles regeln.

Der Bericht der vom Bundesbauministerium einge- Geringes oder gar kein Interesse an niedrigen Bau-
setzten Kommission liegt seit dem Sommer 1994 vor. kosten haben - unser Kollege Schulz hat schon dar-
Ein Jahr benötigte die Bundesregierung, um den Be- auf hingewiesen - Grundstücksverkäufer, deren Ge-
richt als Drucksache in den Bundestag einzubringen winn direkt vom Preis abhängt, Makler, die durch
- nun gut, angereiche rt mit einer fünfseitigen Stel- Cou rt age verdienen, Architekten und Ingenieure,
lungnahme der Bundesregierung. Wer denkt, das deren Honorar mit den Kosten steigt, Banken, an Ab-
Problem sei damit gepackt und werde nun gelöst, der schreibungsprojekten Beteiligte. Das Kräftegefüge
irrt, zum einen, weil die Kommission die wichtigsten und das Interessengeflecht sprechen hier für sich.
5222 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Klaus-Jürgen Warnick
Interessanter ist schon die Frage, wer Interesse am mehr Eigenheime zu schaffen, um die Eigentums-
preiswerten Bauen hat: Eigenheimer, Genossen- quote zu erhöhen.
schaften, Mieter - wobei diesen kaum die Zusam-
menhänge zwischen den einzelnen Faktoren der (Beifall bei der CDU/CSU)
Baukosten und ihrer späteren Miete bewußt sind -,
Richtig ist, daß die Bodenpreise einen bedeuten-
mit Einschränkungen auch Wohnungsunternehmen,
die die Baukosten aber zum Teil via Miete abwälzen den Anteil an den Baukosten ausmachen.
können. (Zuruf von der SPD: Bis zu 50 %!)
Es gäbe auch Alternativen. Nicht untersucht
- Bis zu 50 % in wenigen Ausnahmesituationen.
wurde z. B., ob gemeinnützige Unternehmen, Genos-
senschaften, Selbsthilfeprojekte oder auch kommu- Ich möchte Ihnen aus meiner weiteren Heimat
nale Eigenbetriebe kosten- und flächensparender zwei Beispiele geben, wie Kommunen mit diesem
bauen könnten. Es paßt logischerweise nicht in Ihr Problem umgehen: ein Beispiel der Nichtlösung und
Weltbild, einmal darüber nachzudenken, ob man ein Beispiel der Lösung dieses Problems. Es ist die
nicht auch Erfahrungen aus der DDR nutzen könnte. Stadt Ingolstadt, die offensiv die Instrumente des
Staatssekretär Günther hat darauf hingewiesen, daß Baugesetzbuch-Maßnahmengesetzes nutzt, Bauland
junge Familien nicht mehr in der Lage sind zu ausweist, damit die Bauwirtschaft anregt, zusätzli-
bauen. In der DDR war dies zum Teil möglich. Was in chen Wohnungsbau ermöglicht und im Ergebnis eine
der armen DDR möglich war, sollte doch auch in der Senkung der Mietpreise von Neubauwohnungen um
reichen Bundesrepublik möglich sein. bis zu 30 % bewirkt hat.
(Herbe rt Frankenhauser [CDU/CSU]: Ach
(Beifall bei der F.D.P.)
du grüne Neune!)
Es gab z. B. Modelle, daß man die Architekten da- Auf der anderen Seite steht das Beispiel der Stadt
durch sparen konnte, daß durch den Staat mehrere München mit ihrer rot-grünen Mehrheit.
Modelle entwickelt wurden, auf die man dann ganz (Zurufe von der CDU/CSU: Pfui! - Igitt!)
kostengünstig und billig zurückgreifen konnte. Aber
es ist mir klar, es paßt nicht in Ihr Weltbild, es darf Dort findet genau das Gegenteil statt. Do rt wird Bau-
nicht sein, weil in der DDR natürlich nichts funktio- landausweisung behindert, verzögert, verhindert.
niert hat.
(Lisa Peters [F.D.P.]: Sie findet gar nicht
Zum Schluß noch zu meinem Lieblingsthema Bo- statt!)
denpolitik.
Ein konkretes Beispiel ist die Panzerwiese, wo 6 000
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das muß aber Wohneinheiten nach langem Zerreden jetzt endlich
ganz kurz sein. entstehen werden, obwohl 12 000 Wohneinheiten
ohne Beeinträchtigung der Landschaft und Natur
möglich gewesen wären.
Klaus-Jürgen Warnick (PDS): Die Wohnungspro-
bleme in Deutschland kann man nur lösen, wenn (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)
man die Bodenpolitik ändert. Die Bodenspekulation
muß hoch besteue rt werden. Aber ich denke, das Dort findet eine Nichtausweisungspolitik, eine Nicht-
läuft hier nicht. Man verschenkt auf der einen Seite verdichtungspolitik statt, die im Ergebnis die Rei-
Milliarden und sagt dann auf der anderen Seite, im chen reicher macht und die weniger Begüterten, die
Haushalt ist kein Geld da. Das bestätigt immer wie- Geringverdiener aus der Stadt vertreibt. Das verant-
der meine Vermutung: Diese Regierung denkt und wortet eine Partei, die Sozialdemokratische Partei
fühlt zuallererst im Interesse der wenigen, die haben, Deutschlands heißt und den Beg riff „sozial" in ihrem
und nicht im Interesse der vielen, die Hilfe benöti- Parteinamen hat. Das ist eine unverantwo rtliche Poli-
gen. tik.

Vielen Dank. Damit Sie das Horrorszenario rot-grüner Nicht-


Bauland-Politik in Gänze ermessen können, muß ich
(Beifall bei der PDS - Lisa Peters [F.D.P.]: Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, sa-
Das stimmt nicht!) gen, daß die Stadt München im Jahre 1992 für den
sozialen Wohnungsbau 18 Millionen DM ausgege-
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der ben hat, aber für überwiegend ökologisch motivierte
Kollege Josef Holle rith, CDU/CSU. Verkehrsberuhigungsmaßnahmen 21 Millionen DM
übrig hatte. Das ist die Realität sozialdemokratischer
Josef Hollerith (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Verantwortung in den Kommunen.
sehr verehrten Damen und Herren! Ich freue mich, Wir dürfen und wollen die Kommunen aus ihrer
daß wir heute die Gelegenheit haben, über den Verantwortung für die Bauleitplanung, die Bereit-
Handlungsrahmen kosten- und flächendeckenden stellung von Bauland nicht entlassen.
Bauens zu diskutieren. Die Initiative der Bundesre-
gierung ist wertvoll, weil sie in Zeiten knapper öf- (Zurufe von der CDU/CSU: Jawohl! Das
fentlicher Kassen, knapper p rivater Mittel die mußte gesagt werden! - Das muß dort drü-
Chance eröffnet, mehr Wohnungen zu bauen und ben richtig weh tun!)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5223
Josef Holleri th
Zweiter Punkt. Es ist gesagt worden, daß Normen und private Kassen entlasten; und schließlich - das
Auswirkungen auf Baupreise haben. Ich bin nicht ist mir besonders wichtig - wollen wir eine neue
der Auffassung, daß mit einer Veränderung von DIN- Wohnkultur unterstützen und fördern, die mit Geld
Normen alle Probleme zu lösen sind. Aber ich und Raum bewußt umgeht.
möchte Ihnen ein Beispiel geben, woran Sie erken-
nen, wie wichtig die Veränderung von Normen ist. (Beifall bei der SPD)
Wir haben im Geschoßwohnungsbau natürlich zu
Recht die Vorschriften über die Trittschalldämmung. Wie ernst wir das Thema nehmen, können Sie
Aber warum soll es nicht möglich sein, im Einfami- daran erkennen, daß wir am 30. Oktober eine Fach-
lienhaus, wo es kein Schutzinteresse gibt, auf die tagung dazu veranstalten.
Trittschalldämmung zu verzichten? Das ist heute (Zuruf von der CDU/CSU: Ist das Ihre erste
nach den allgemeinen Regeln der Baustandards Fachtagung zu diesem Thema?)
nicht möglich.
Wir sind also mit großem Engagement dabei. Wir
Ich möchte zum letzten Punkt, der Frage der Ein- sind aber nicht kritiklos dabei. Es gibt in Ihrem Pa-
stellung, des Angebots und der Nachfrage, kommen. pier nämlich Formulierungen, die jedenfalls mich
Wir haben heute Angebote betreffend die Übertra- aufhorchen lassen. Es wäre jetzt, am Anfang einer
gung der amerikanischen Holzsystembauweise auf Umsetzungsphase, gut zu wissen, wohin der Weg auf
deutsche Baunormen, wonach wir für 1 800 DM pro Ihrer Seite führen soll.
Quadratmeter unter Einhaltung der Schallschutz
standards, der Wärmeschutzstandards und der Wenn Sie vorhaben, mit dem Thema kosten- und
Brandschutzstandards in Deutschland Wohnfläche flächensparendes Bauen endlich den Beweis zu er-
bester Qualität herstellen können. Warum findet die- bringen, daß der soziale Wohnungsbau im ersten
ses Angebot nicht mehr Nachfrage? Auch in diesem Förderwege zu teuer ist, um noch gefördert zu wer-
Punkt ist die öffentliche Hand gefordert. Ich verweise den, dann wird Ihnen das nicht gelingen. Es gibt
auf die Möglichkeit, im sozialen Wohnungsbau Ko- massenhaft Beispiele für preiswertes Bauen in die-
stenobergrenzen festzusetzen, um damit die Nach- sem Bereich. Wenn Sie das nicht wollen, dann sollten
frage anzuregen. Sie das hier deutlich machen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Abg. Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.]
meldet sich zu einer Zwischenfrage)
Ich bin sicher: Mit einer verantwortlichen Politik, - Herr Braun, Sie brauchen sich nicht zu bemühen.
mit einer In-die-Pflichtnahme aller am Bauprozeß Be- Sie wollen nur immer zusätzliche Redezeit. Ich habe
teiligten werden wir die Probleme lösen. keine Lust, Ihnen dabei zu helfen, wirklich nicht.
Ich danke. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD)

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ich möchte meine Befürchtungen an zwei Beispie-
len deutlich machen.

Erstens. Sie heben die vereinbarte Förderung in


Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat die besonderem Maße hervor; gleichzeitig diskreditieren
Kollegin Angelika Me rt ens, SPD. Sie das Kostenmieteprinzip, als glaubten Sie gar
nicht an Kosteneinsparungen, die sich in der Miete
(Zurufe von der CDU/CSU: Auf verlorenem widerspiegeln.
Posten! - Was sagen Sie zu München?)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Was passiert denn mit den Wohnungen, die nach


Angelika Me rt ens (SPD): Herr Präsident! Meine lie-
relativ kurzer Zeit nicht nur völlig frei zu Marktprei-
ben Kolleginnen und Kollegen! Das Thema kosten-
sen vermietbar sind, sondern darüber hinaus auch
und flächensparendes Bauen hat mittlerweile vier
noch in Eigentumswohnungen umgewandelt werden
Bauminister und -ministerinnen überlebt. Es wird
können? So viel, wie Sie dann alle zehn Jahre an Ei-
wahrscheinlich auch Herrn Hollerith überleben. Der
gentumsförderung bezahlen müssen, können Sie
erste Bauminister war übrigens ein Sozialdemokrat,
durch preiswertes Bauen gar nicht einsparen.
der das Thema in das Programm „Experimenteller
Wohnungs- und Städtebau" aufgenommen hat. Die Zweitens. Sie reden von Obergrenzen für Kosten, -
nächsten drei Wohnungsbauminister haben irgend- schweigen gleichzeitig aber über regionale Unter-
wie den Paternoster erwischt. schiede. Ich meine, hierzu müssen Sie sich noch ein-
mal erklären.
Hoffentlich hat der fünfte Minister einen besseren
Orientierungssinn. Sollte sich abzeichnen, daß wir Preis- und Mengeneffekte zu erzielen, ohne dabei
ihn zum Jagen tragen müssen, dann werden wir das den Aspekt der sozialen Versorgungswirkung aus
auch tun, und zwar aus folgenden Gründen: Wohnen den Augen zu verlieren, ist die Kunst. Alles andere
muß wieder bezahlbar werden; regionales Handwerk ist Kosmetik, verlagert Kosten in andere Bereiche
und Bauindustrie müssen eine Zukunft haben; wir und andere Haushalte. Das ist in der volkswirtschaft-
müssen die Umwelt schonen; wir wollen öffentliche lichen Bilanz eigentlich für die Katz.
5224 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Angelika Mertens
Sie beklagen in Ihrer Initiative zu Recht den Zu- Wir sollten uns auf eine verstärkte Mobilität der
stand, daß die Preise in den letzten zehn Jahren um Menschen einstellen. In den verschiedenen Lebens-
40 % zugenommen haben. Aber diese Erhöhung ist phasen gibt es auch verschiedene Bedürfnisse im
schließlich nicht vom Himmel gefallen. Sie ist das Er- Hinblick auf das Wohnen. Aufwachsen in einer über-
gebnis der Wohnungsbaupolitik dieser Bundesregie- schaubaren, gesunden, Freiräume bietenden Umge-
rung in den letzten zehn Jahren. bung ist etwas sehr Schönes. Ständige soziale Kon-
trolle durch wohlbekannte und gut informierte Nach-
(Beifall bei der SPD - Josef Holle rith [CDU/ barn ist für junge Menschen so ungefähr das Nervtö-
CSU]: Das kann man so nicht sagen!) tendste, was es gibt.
Das Angebot an Wohnungen wurde bewußt redu- Wenn Arbeitsplatz und Wohnort weit auseinander-
ziert. Man hat ein wichtiges Instrument des Woh- liegen, wenn Kinder keine Ausbildung am Ort erhal-
nungsbaus, nämlich das Baugebot, durch die Weg- ten können, mag der Wohnwert noch so hoch sein,
nahme der Gemeinnützigkeit zerschlagen und wun- die Lebensqualität sinkt.
dert sich jetzt, warum die Preise so hoch sind. Ich (Beifall bei der SPD)
kann Ihnen nur sagen: Das ist Marktwirtschaft.
Wenn der längere Urlaub im Rentenalter größere
Wenn man glaubt, ein Grundrecht, nämlich das auf Freundlichkeiten gegenüber den Nachbarn voraus-
Wohnen, frei-marktwirtschaftlich einlösen zu kön- setzt, weil einer den Schnee schippen oder den Ra-
nen, braucht man entweder viel Ideologie oder viel sen mähen muß, dann wird sich bei manchem auch
Geld. Man kann dem natürlich auch entgehen, in- der Wunsch nach einer Zweizimmermietwohnung
dem man sagt, es gibt gar kein Grundrecht auf Woh- verstärken.
nen.
Weil die meisten Menschen aber fast ihr Leben
Nun wollen wir das real existierende Problem, daß lang ein Haus abbezahlen müssen, sind sie zwangs-
nämlich Wohnraummangel besteht und der Wohn- weise auch immobil. Man trennt sich nicht gern von
raum gleichzeitig unnötig teuer ist, alle im Hause ge- Dingen, die teuer waren. Es macht aber keinen Sinn,
meinsam angehen. Das haben wir uns versprochen. allein und einsam in einem 140-Quadratmeter-Haus
Das ist eine gute Ausgangsbasis für eine Lösung. zu hocken oder die Hälfte des Gehaltes für die Miete
ausgeben zu müssen.
Ich möchte dabei auf zwei Aspekte eingehen. Im
Wir werden uns also auf neue und sehr unter-
vorliegenden Papier ist ganz viel von Eigentum die
schiedliche Wohnwünsche einstellen müssen. Wir
Rede, aber ganz wenig von Mietwohnungen. Als Ab-
werden uns nicht auf die Quantität der Einsparung
geordnete eines Ballungsgebietes möchte ich ver-
zurückziehen können; wir werden auch die soziale
ständlicherweise erstens eine Aussage, welchen Stel-
Brauchbarkeit einer Wohnung definieren müssen.
lenwert der Mietwohnungsbau bei Ihnen erhalten
soll, und zweitens wissen, wie sich die - ich formu- Das, was wir jetzt bauen, wird wohl auch in den
liere das sehr vorsichtig - „Eigentumseuphorie" mit nächsten 100 Jahren noch stehen. Wir sollten also
der Umwelt verträgt. alle zusammen nicht den Fehler machen, zu kurz zu
springen, indem wir glauben, alle Probleme könnten
Innerstädtische Bebauungen, Verdichtungen und durch junge Häuser gelöst werden. Preiswerte Lö-
Ergänzungen werden einen wesentlichen Beitrag bei sungen j a, billige nein.
der Versorgung mit preiswertem Wohnraum leisten
müssen. Flächen sparen zu wollen und gleichzeitig (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
in die Fläche zu gehen ist ein Widerspruch, der mei- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
ner Meinung nach auch mit den intelligentesten Lö-
sungen nur zum Teil aufgelöst werden kann. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wo rt hat der
Kollege Gert Willner, CDU/CSU.
Bauen ist immer ein Kompromiß zwischen Wün-
schen und finanziellen Möglichkeiten. Unsere finan- (Zuruf des Abg. Achim Großmann [SPD])
ziellen Möglichkeiten kennen wir; wir können dar-
über streiten, wie die Verteilung erfolgt. Unser Defi- Gert Willner (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine
zit liegt woanders. Die uns von interessierter Seite Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kolle-
definierten Wohnwünsche bewegen sich fast aus- gen! Ich gehe davon aus, daß Übereinstimmung be-
schließlich in den Kategorien von Keller und zusätzli- steht, kosten- und flächensparendes Bauen zu unter-
chem WC und natürlich Eigentum um jeden Preis. stützen. Es gibt mehrere wichtige Gründe, daß wir
uns heute damit befassen. Die eigene Wohnung ist
Die Kategorien „bewußter Umgang mit Geld und
ein hohes Gut. Ausreichender Wohnraum, breit ge-
Raum" , „sparsamer Verbrauch von Umwelt" , „so-
streutes Eigentum ist ein Beitrag zum sozialen Frie-
ziale Netze und Kommunikation" spielen in der Re-
den. Dem Thema Wohnungen ist in der Koalitions-
gel nur unter Fachleuten eine Rolle. Hier haben wir
vereinbarung deshalb ein hoher Stellenwert einge-
einen Nachholbedarf, und hier müssen wir Konzepte
räumt worden.
für die Regel und nicht für die Ausnahme entwickeln
und umsetzen. Diese werden vor allem in einer ver- Der Vermittlungsausschuß hat zum Jahressteuer-
dichteten Bauweise umgesetzt. Dies zu vernachlässi- gesetz 1996 entschieden, die Abschreibungen für
gen ist fahrlässig, und ich glaube, Sie befinden sich den frei finanzierten Wohnungsbau zu senken. Wir
genau auf diesem Weg. bedauern dies. Dadurch und durch verringerte Haus-
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5225
Gert Willner
haltsansätze für den öffentlich geförderten Woh- sein Erscheinen zugesagt hat und sich persönlich da-
nungsbau in Bund und Ländern müssen wir mit we- von überzeugen kann, daß do rt eine sehr gute Lei-
niger Geld beim Wohnungsbau auskommen. Des- stung und ein Beitrag zum kostengünstigen Bauen
halb ist es erstens nötig, die öffentlichen Mittel zu erbracht wird.
konzentrieren, Stichwort einkommensorientierte För-
derung. Zweitens ist es erforderlich, p ri vates Kapital Preiswertes Bauen, sehr geehrte Damen und Her-
zu mobilisieren, z. B. über die Revitalisierung der ren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist wohl, wie
Städtebauförderung für die alten Länder. Drittens gilt Biedenkopf sagt, im wesentlichen ein Denkproblem.
es, alle Möglichkeiten des kosten- und flächenspa- Ich sage sehr deutlich: Der Preis von morgen ist das
renden Bauens auszunutzen, denn hier sind zusätzli- Ergebnis des Nachdenkens von heute.
che Ressourcen zu mobilisieren, ohne daß es Geld (Beifall bei der CDU/CSU)
kostet. Um dieses Ziel geht es insgesamt: Mit weni-
ger Geld den Wohnungsbau auf möglichst hohem „Bauen muß in Deutschland zur Sicherung eines
Stand fortzuführen. breiten Wohnungsangebotes für alle Bevölkerungs-
schichten wieder preisgünstiger werden". Dies „er-
Der zweite Grund ist: Viele und gerade junge Fa- leichtert zugleich die Wohnungseigentumsbildung
milien mit Kindern stehen vor der Alternative, preis- und trägt ... zur Verstetigung der gesamten Woh-
günstig oder gar nicht zu bauen. Wenn wir mit dem nungsbautätigkeit bei." Dies schafft „sichere Ar-
Ziel, mehr Wohnungseigentum zu schaffen, Erfolg beitsplätze". So hat sich Minister Töpfer geäußert.
haben wollen, muß kosten- und flächensparendes Wo der Minister recht hat, hat er recht.
Bauen nicht nur Wunsch, sondern tägliche Realität
werden. (Beifall bei der CDU/CSU)

Ein dritter Grund ist, deutlich zu machen: Wir wol- Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freunde,
Sie haben die Eingangsbemerkung des Kollegen
len bereits geltendem Recht im Rahmen dieser öf-
Großmann gehört.
fentlichen Diskussion in der Verwaltungs- und Hand-
lungspraxis mehr Beachtung verschaffen. Denn das Entsprechend der Bitte
Wohnungsbauförderungsgesetz 1994 verpflichtet von Kollegen aus zwei Fraktionen
ausdrücklich im sozialen Wohnungsbau zu kosten- schließe ich gereimt
und flächensparendem Bauen, und für Bund, Länder — und bin sicher: im Ziel vereint —,
und Gemeinden besteht nach dem Zweiten Woh- denn unser Ziel ist Kosten senken,
nungsbaugesetz eine Rechtspflicht zur Beschaffung in der Planung keine Zeit verschenken —
von Bauland. Das Gesetz sagt klar: Bund, Länder deutlich kostensparend denken.
und Gemeinden haben die Aufgabe, geeignetes Bau-
land für den Wohnungsbau, nicht nur für den sozia- Vielen Dank.
len Wohnungsbau, bereitzustellen. Die Gemeinden (Beifall bei der CDU/CSU)
haben darüber hinaus die Aufgabe, für eine Bebau-
ung mit Familienheimen geeignete Grundstücke zu
beschaffen, baureif zu machen und zu überlassen. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Ich schließe die
Wir brauchen kein neues Recht, wir brauchen keine Aussprache.
Grundsteuer C. Wir wollen, daß das geltende Recht Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vor-
verstärkt beachtet und umgesetzt wird. Es mangelt lage auf Drucksache 13/2247 an die in der Tagesord-
an einem Angebot an Bauland. nung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit
Wie wichtig der Kostenfaktor Bauland auch im so- einverstanden? — Dann ist die Überweisung so be-
zialen Wohnungsbau ist, wird daran deutlich, daß auf schlossen.
Grundstückskosten immerhin 12 %, auf Gebäudeko-
sten dagegen nur 66,5 %, auf Stellplätze und Außen- Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:
anlagen 6 %, auf Baunebenkosten einschließlich Ar-
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ge rt
chitekten- und Ingenieurleistungen 15 % entfallen.
Weiskrchn(lo),D.WfganFrei-
Für die Grundstückskosten sind das bei sehr preis-
herr von Stetten, Gerd Poppe und weitere Ab-
werter Erstellung pro Quadratmeter 400 bis 500 DM.
geordnete
Deshalb sind die Städte und Gemeinden gefordert,
bereits bei der Bauleitplanung einen Beitrag zu ratio- Humanitäre Geste für die Opfer des UN-Un-
nellerem und kostengünstigerem Bau zu leisten, z. B. rechts in den baltischen Staaten Litauen, Lett-
durch sparsame Erschließung. Das Ziel heißt: kosten- land und Estland
günstig planen, kostengünstig bauen.
— Drucksache 13/1294 —
Es gibt auch in der Bundesrepublik sehr gute Bei- Überweisungsvorschlag:
spiele für kostengünstiges Bauen und für eine prakti- Innenausschuß (federführend)
zierte Zusammenarbeit am Bau, ein wichtiger Ge- Auswärtiger Ausschuß
sichtspunkt, um zu günstigeren Kosten zu kommen. Rechtsausschuß
Ich verweise auf eine Zusammenarbeit auf freiwilli- Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Haushaltsausschuß
ger Grundlage im Rahmen der Bauwirtschaft in
Schleswig-Holstein bei der Arbeitsgemeinschaft für Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die
zeitgemäßes Bauen, die in diesem Jahr immerhin Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — Kein
50 Jahre besteht und bei der auch Minister Töpfer Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
5226 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose


Ich eröffne die Aussprache. Das Wo rt hat Kollege ses Deutschen Bundestages angehören, hat sich be-
Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten, CDU/CSU. reit erklärt, die Verteilung kostenlos vorzunehmen,
und sich verpflichtet, dafür zu sorgen, daß nicht eine
einzige Mark verlorengeht.
Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Herren! Zunächst möchte ich allen Bundesregierun-
gen dafür danken, daß sie mit jewei liger Zustim- Unsere Parlamentariergruppe, die auch im neuen
mung der Deutschen Bundestage in 40 Jahren eine Deutschen Bundestag 76 Mitglieder hat, macht sich
in der Weltgeschichte einmalige Wiedergutma- stark dafür, daß die Regierungen in Litauen und Lett-
chungsaktion für Hunderttausende von Opfern des land ein solches Verfahren anerkennen und ihm zu-
Nationalsozialismus durchgeführt haben. Ich glaube, stimmen.
über die Dimension der Wiedergutmachung sind wir Der Verein hat im übrigen einschlägige Erfahrun-
uns im Deutschen Bundestag einig. Dies wird in aller gen. In den letzten drei Jahren wurden aus Spenden-
Welt anerkannt. geldern über 350 000 DM an Hilfsbedürftige in Tran-
chen von 30 bis 50 DM verteilt, darunter 190 000 DM
Weil das so ist, sollte die Bundesregierung im Fall an die uns bekannten 338 jüdischen KZ- und Getto-
der drei baltischen Staaten den Beschluß des Deut- überlebenden, jeweils in Kuverts mit persönlicher
schen Bundestages vom 29. Juni 1994 entsprechend Anschrift. Dadurch haben sie die Empfänger er-
den Wünschen der Mitglieder des Deutschen Bun- reicht.
destages umsetzen und damit die Not der 300 bis 400
überlebenden KZ- und Gettohäftlinge - es sind wirk- Die Sorge der Bundesregierung, Herr Staatssekre-
lich nur noch so viele - der drei baltischen Staaten tär, Prinzipien aufzugeben oder zur Nachahmung
Litauen, Lettland und Estland lindern. aufzufordern, kann nicht geteilt werden. Bei der Ver-
handlung mit der Sowjetunion über die Stiftung
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und „Verständigung und Aussöhnung " hat man im Früh-
dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei jahr 1993 - aus welchen Gründen auch immer -
Abgeordneten der PDS) schlichtweg übersehen, daß in der Zwischenzeit die
drei Republiken Litauen, Lettland und Estland frei
Es geht in der Relation nicht um Summen, sondern waren und daß man nicht über sie hinweg Verträge
nur darum, daß die humanitäre Geste die Menschen, schließen konnte.
die noch leben, persönlich erreicht und ihnen das Daran ändert auch die Bereitschaft der Regierung
schwere Leben erträglicher werden läßt, ihnen aber der Russischen Föderation, Anträge aus Litauen und
auch das Gefühl gibt, nachdem sie in der Hektik der Lettland, bzw. von Belarus, Anträge aus Estland an-
Verhandlungen mit der Sowjetunion übersehen wur- zunehmen, nichts, weil dies erstens für die souverä-
den, daß sie zumindest nicht vergessen sind. nen Staaten einen Affront darstellt und zweitens die
Betroffenen es zum Teil als Hohn empfanden. Denn
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS für sie ist es eine Zumutung, für durch Deutsche erlit-
SES 90/DIE GRÜNEN) tenes Unrecht bei einer anderen Besatzungsmacht,
durch die sie zum Teil 45 Jahre Unrecht erlitten hat-
Der Deutsche Bundestag hat seinerzeit im Juni ten, eine Entschädigung einzufordern und - das ist
1994 besonderen Wert darauf gelegt, daß die Ver- besonders wichtig - dazu noch ein Loyalitätsbe-
handlungen über die Hilfe den „individuellen Be- kenntnis zur ehemaligen Sowjetunion abzugeben.
dürfnissen der Opfer nationalsozialistischer Un- Das kann ja wohl nicht richtig sein.
rechtsmaßnahmen nahekommt".
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Das kann aber nicht heißen, daß man nur Kranken- Die Bundesregierung sollte daher zügig die Ver-
hauszuschüsse gewährt, Altersheime ausbaut oder handlungen mit Litauen und Lettland fortsetzen, um
allgemeine Sozialeinrichtungen bezuschußt, die, zu erreichen, daß neben den geplanten Hilfen für sta-
wenn überhaupt, nur durch Zufall auch von jüdi- tionäre Einrichtungen auch individuelle ambulante
schen Betroffenen benutzt werden. Dies kommt den Hilfen gegeben werden können. Eine leichte Auf-
individuellen Bedürfnissen der Betroffenen nicht im stockung der geplanten Hilfen von 2 auf 2,5 Millionen
entferntesten nahe. DM rechtfertigt sich auch gegenüber Estland, das be-
reits abgeschlossen hat und allein aus der Bevölke-
Es wurde im übrigen mit ziemlicher Verbitterung rungszahl, aber auch der Zahl der betroffenen Opfer
bei den Betroffenen aufgenommen, als von der deut- weit weniger belastet ist. -
schen Seite davon gesprochen wurde, daß es sich
Wir halten das Angebot aufrecht, die Verteilung
nicht lohne, für die wenigen Leute eine Fondslösung
für die ambulante Hilfe vorzunehmen, damit keine
vorzusehen oder eine Stiftung einzurichten, da die
Verwaltungskosten dafür zu hoch seien. neuen Rechtsansprüche entstehen, aber unbürokrati-
sche Hilfe geleistet werden kann.
Wem mit 50 DM monatlich geholfen ist, kann so et- Wenn wir diesen wenigen Menschen gegenüber
was nicht verstehen. Der Deutsch-Baltische Parla- keine persönliche humanitäre Geste zeigen, bleibt
mentarische Freundeskreis, ein gemeinnützig einge- einem Teil von ihnen zum Überleben nur die Chance
tragener Verein, dem u. a. über 100 Abgeordnete die der Auswanderung, weil sie im Westen oder in Israel
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5227
Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten
Ansprüche haben, die ein Vielfaches von dem aus- Aleksandrs Bergmanis - sein Großvater wurde an
machen, was sie zum Leben in Litauen oder Lettland dem Tag ermordet, als die Große Synagoge in Riga
benötigen. Nachdem diese Menschen in jungen Jah- brannte, am 4. Juli 1941 - sagt: „Wir gehen die
ren den sowjetischen Einmarsch 1940, dann die grau- Straße des Leidens." In jenen Tagen im Juli 1941 be-
envolle Vernichtungsaktion des Nationalsozialismus setzten Hitlers Truppen Lettland. Gerade noch tau-
ebenso wie die Rückkehr der Sowjets 1945 überlebt send Juden überlebten bis zum Ende des Krieges.
haben und danach weitere 40 Jahre unterdrückt wa- Zuvor lebten in Lettland 70 000. An einem einzigen
ren, wäre es traurig, wenn sie nun, nachdem das Tag, dem „Blutsonntag von Riga", dem 30. November
Land frei geworden ist, unter Umständen auswan- jenes Jahres, wurden allein 25 000 Juden ermordet.
dern müßten, um zu überleben. Das sollten wir ver- Der Tod machte Platz im Getto für Juden aus Berlin
hindern. und aus dem Rheinland. Was würden uns die Ermor-
deten, könnten sie reden, heute sagen - von ihrer Le-
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) benslust, von ihrer Todesangst, von ihrer unendli-
Deswegen möchte ich zum Schluß meine Bitte an chen Qual, von ihrer überwältigenden Verzweiflung?
die Bundesregierung wiederholen.
Noch leben die Zeugen einer schrecklichen Zeit.
(Vorsitz : Präsidentin Dr. Rita Süssmuth) Margers Vestermanis, Direktor des Dokumentations-
Der Bundestag will keine neuen Rechtsansprüche, zentrums der Juden in Lettland, kämpft an gegen
sondern will nur erreichen, daß sein Wille im Be- den endgültigen Tod, gegen das Vergessen.
schluß vom 29. Juni 1994 umgesetzt wird. Es geht
nicht um Geld, sondern um Menschen, und wir müs- Vilnius, Jeruschalaim de Lita, das litauische Jeru-
sen schnell handeln, damit diejenigen, die gelitten salem, beherbergte einmal 150 Synagogen und Bet-
haben, die Hilfen auch noch erleben. häuser, heute die Hauptstadt Litauens. Das war da-
mals Ort der Begegnung der Kulturen. Hier schnitten
Danke schön. sich die Kreuzwege von Ost und West: gemeinsames
Lernen voller Spannungen. Von der Viertelmillion
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem
Juden vor der Nazidiktatur überlebten 15 000.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)
Erschütternd die Zeilen aus dem Poem von Hirsch
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt Glick. Er schrieb in seinem Gedicht „Sog nit kejn-
der Kollege Ge rt Weisskirchen. mol" :

Sag niemals, daß es dein letzter Gang sei,


Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Frau Präsi-
dentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! weil du kein Himmelblau siehst in den Wolken,
Herr Staatsminister, wenn Sie anschließend sprechen schwer wie Blei.
sollten, Einst kommt die Stunde, die wir im Herzen tra-
gen.
(Staatsminister Helmut Schäfer: Ich muß!) „Hier sind wir!" wird jeder Schritt dann von uns
sagen.
sprechen werden, sprechen müssen, wie Sie sagen,
dann bitte ich Sie herzlich darum, nicht allein eine Am 23. September 1943 gingen die Juden des
formale Rechtsposition zu beziehen, Gettos von Vilnius ihre letzten Schritte. Sie wurden
(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Dafür braucht erschossen im Wald, gehetzt in Todeslagern. Mit ih-
man keine Politiker, genau!) nen starb der Humus für die unverwechselbare Kul-
tur des Schtetl im europäischen Osten. Das Schtetl
sondern noch einmal darüber nachzudenken, worum sog in sich auf die Sehnsucht nach Geborgenheit und
es hier geht. das Verlangen nach Grenzüberschreitung, nach ver-
Es leben noch wenige hundert Opfer, die das Lei- trauter Nähe und verheißender Ferne. Alles Neue
den unter dem NS-Terror überlebt haben. Um diese fand einen Platz im Innern: Sprache, Musik, Malerei.
möchten wir uns kümmern; sie hat der Bundestag im Das Fremde behielt aber seine Würde. Das Äußere
Auge gehabt, als er in der letzten Legislaturpe riode konnte bedrohlich werden - und das wurde es in den
einen Beschluß gefaßt hat. Wir sind der Meinung, Jahrhunderten -, und doch verlor es seinen Schrek-
daß die Opfer endlich individuell zu ihrem Recht ken, weil es der eigenen Unvollkommenheit ein
kommen müssen. Wir wollen dabei nicht ein Rechts- Spiegel war. Die Kultur des osteuropäischen Juden-
prinzip oder ein Rechtssystem durchbrechen, wir ha- tums sprang über die Mauern und bewah rte sich
ben niemanden anderes als die Menschen im Blick. doch ihren eigenen Kern.
Ich bitte Sie, Herr Staatsminister - ich meine jetzt
nicht Sie persönlich, sondern ich meine damit die Davon ist nichts mehr, nur noch die wenigen, die
Bundesregierung -: Blicken Sie diesen Menschen überlebt haben. Die Heimat faßte Mordechaj Gebir-
einmal ins Auge! Es kann gar nicht anders sein, als tig in die Zeilen:
-daß Sie danach sagen, daß das, was wir parteien
und fraktionenübergreifend wollen, auch die Mehr- Gehabt hab' ich a Hojm, a bisl Rojm,
heit des Bundestages nachempfinden muß. a Schtikl Wi rtschaft,
Gebunden Worzln, wie a Bojm.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Davon ist nichts mehr.
5228 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Gert Weisskirchen (Wiesloch)


Fragen Sie den Kollegen von Stetten. Als er am den mit dem Gesicht nach unten nebeneinander
23. September 1993 in Vilnius in Erinnerung an das legen. Aus kurzer Entfernung wurden sie durch
Getto war, haben die Leute ihm gesagt - nicht mit Genickschüsse getötet. Die nachfolgenden Opfer
Worten, sondern mit ihren Augen -: Tu was, bevor mußten sich unter Ausnutzung des vorhandenen
wir sterben. - Das lesen wir in den Gesichtern der Raums und der entstandenen Lücken auf die so-
Überlebenden des Naziterrors. eben vor ihnen Erschossenen legen.
Unser Antrag will nichts anderes, als daß wir etwas Die Tatzeugen berichten, daß es dabei auf dem Ge-
für die Opfer tun, solange sie noch leben. lände „von Uniformierten gewimmelt" habe. Einige
Wir erkennen an, daß die Leistungen der Bundes- Tage später setzte das Reichssicherheitshauptamt in
regierung Gutes bewirken können. Krankenhäuser Berlin eine „Ereignismeldung UdSSR" Nr. 155 ab.
und Altersheime, das alles hilft. Nur, jeder sollte wis- Darin hieß es lakonisch:
sen, was in Lettland das Wo rt „Altersheim" bedeutet.
Die Zahl der in Riga verbliebenen Juden -
Es hat dort eine andere Bedeutung als bei uns. Dort
29 500 - wurde durch eine vom höheren SS- und
wird es als ein Armenhaus aufgefaßt, in das in Not
Polizeiführer Ostland durchgeführte Aktion auf
Gefallene eingewiesen werden.
2 500 verringert.
Margers Vestermanis sagt dazu:
Zu den wenigen Überlebenden dieser Massaker
Wir wollen in unsere Wohnungen, wo wir unser gehören z. B. Ella Medalje, die wegen ihres soge-
Leben gelebt haben. Da wollen wir auch sterben. nannten arischen Aussehens noch vor der Grube ent-
Es geht ja nicht ums Leben. Es geht ja um die letz- kommen konnte, und der hier schon mehrfach ange-
ten Lebensjahre. Ich denke, wir werden den deut- sprochene Margers Vestermanis, der damals als
schen Staat nicht sehr lange belasten. 16jähriger der SS als „Arbeitsjude" noch nützlich
Das sagen die Opfer: Wir werden den deutschen war. Es wurde auch schon angesprochen, daß nach
Staat nicht sehr lange belasten. Ich bitte uns alle, daß der Vernichtung der Rigaer Juden in den leeren
Wohnungen Juden aus Deutschland, aus dem Ham-
wir diese Wo rte, wenn wir im Januar oder wann im-
burger Raum, aus dem Rheinland, aus Westfalen, aus
mer wir über den Antrag abstimmen, aufgenommen
und gehört haben. Sie leben nicht mehr lange. Ihre Süddeutschland, zusammengepfercht wurden.
Zahl schrumpft. Es sind nur noch wenige. In der sowjetischen Zeit wurde der Massenmord
Die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusam- an den Juden weitgehend totgeschwiegen, und es
menarbeit hat uns vorgestern einen B rief geschrie- galt über Jahrzehnte als ihr Schicksal, verfolgt, ver-
ben. In dem Brief heißt es am Schluß: gessen, gedemütigt zu sein.
Die betroffenen Menschen sind alt. Ihr Leben Seit fünf Jahren nun haben sich die Vereine ehe-
wurde von uns Deutschen so tief beschädigt, daß maliger Getto- und KZ-Häftlinge an die Repräsen-
sie bis heute darunter schwer zu leiden haben. Es tanten der Bundesrepublik gewandt. Sie haben viel
sollte für Deutschland eine selbstverständliche Mitgefühl erfahren. Aber wie ist es mit Taten gewe-
Geste der Menschlichkeit sein, den Opfern durch sen? Angeboten worden sind sicherlich nützliche hu-
regelmäßige persönliche Zuwendungen wenig- manitäre Investitionen. Nur mußten die Betroffenen
stens ihren Lebensabend etwas erträglicher zu selbst feststellen, daß das so etwas sei, wie wenn
gestalten. man Ertrinkenden eine Rettungsstation baut, statt ih-
nen Rettungsringe zu geben. In der letzten Zeit wird
(Lebhafter Beifall im ganzen Hause)
deutlich, daß dieses Angebot nicht nur den indivi-
duellen Bedürfnissen der Betroffenen nicht entge-
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Es spricht jetzt der genkommt, sondern daß diese humanitären Investi-
Kollege Winfried Nachtwei. tionen ihnen im besten Fall nur zufällig zugute kom-
men.
Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Bundesregierung lehnt eine individuelle Re-
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
gelung mit der Begründung ab, damit würde man -
und Kollegen! Am Stadtrand von Riga in Lettland etwas platt gesprochen - ein Faß aufmachen. Das
liegt neben der Bahnstation Rumbula ein kleines stimmt in mehrfacher Hinsicht ganz und gar nicht.
Waldstückchen. Vor zwei Jahren bin ich mit etwa
hundert alten Menschen dorthin gegangen. Es wa- Erstens wird damit die verzweifelte Lage dieser ei-
ren Juden aus aller Welt, die dort 1941 ihre Familien, nigen hundert Menschen völlig negiert; zweitens-
ihre Freunde verloren hatten. läuft es auf die Bestrafung der Menschen hinaus, die
Am 30. November und am 8. Dezember 1941 wur- eben in ihrer Heimat blieben und nicht in den We-
den aus dem Rigaer Getto jeweils Kolonnen von tau- sten auswandern, und drittens schlägt es schlichtweg
send Menschen hinaus nach Rumbula get rieben. den wenigen tausend noch lebenden NS-Opfern in
Tatzeugen berichten von diesem Tag: ganz Osteuropa die Tür vor der Nase zu.

Bis auf die Unterwäsche entkleidet, mußten die Ich meine, daß diese bisherige Verweigerungshal-
Juden in gleichbleibendem Fluß auf die Gruben tung der Bundesregierung tatsächlich auf eine „bio-
zurücken, die sie dann über eine Schräge betre- logische Lösung" hinausläuft, und der Bundestag,
ten mußten. In den Gruben mußten sich die Ju der hier vor Monaten so würdig und bewegend der
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5229
Winfried Nachtwei
Befreiung von Auschwitz, des Kriegsendes und der einzelnen Ausgleichsvoraussetzungen, die Auszah-
Millionen Opfer gedacht hat, darf, denke ich, nicht lungsmodalitäten, die Organisationsfragen etc. wäre
zulassen, daß die ärmsten der überlebenden NS-Op- sicherlich noch zu sprechen. Dabei müssen sicherlich
fer bewußt vergessen werden. auch die Präzedenzwirkungen, das Gesamtvolumen,
der jeweils staatspolitische Kontext und ähnliches
(Beifall im ganzen Hause)
eine Rolle spielen. Das mag angesichts des erlittenen
Wenigstens ein Lebensabend ohne materielle Not, Leids der Menschen immer rasch als engherzig und
das ist die Selbstverständlichkeit, die wir mit unse- bürokratisch erscheinen, ist aber für einen haushalts-
rem Gruppenantrag für die NS-Opfer im Baltikum mäßig so durchreglementierten Korpus wie den deut-
bewirken wollen. Bürgerinnen und Bürger in Frei- schen Staat unumgänglich.
burg, Göttingen, Münster, Lingen, Bielefeld, Ham-
Jedoch muß wieder darauf hingewiesen werden,
burg, Bremen, Lübeck, Berlin, Leipzig und anderen
daß es sich wirklich nur um wenige Fälle handelt
Städten setzen sich inzwischen sehr engagiert und
und die zu bedenkenden Menschen ein Alter er-
persönlich für diese Menschen ein. Ich meine, wir als
reicht haben, das jedes weitere Zuwarten verbietet.
Parlament und die Bundesregierung sollten diesem
vorzüglichen Vorbild von Bürgerinnen und Bürgern Für den Antrag spricht also vieles, wenn nicht sehr
in diesem Land endlich nachkommen. vieles. Es gilt, ihn mit den fortgeschrittenen Verhand-
Danke schön. lungen und deren Resultaten noch irgendwie in Ein-
klang zu bringen. Man bedauert, daß sich die Bera-
(Beifall im ganzen Hause) tungen nicht früher, aus welchen Gründen auch im-
mer, in diese Richtung bewegen konnten.
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wo rt hat jetzt Ich hoffe sehr, daß es für eine zusammenführende
der Kollege Professor Dr. Schmidt-Jortzig. Lösung noch nicht zu spät ist und daß am Ende ein
für die betroffenen Menschen wirklich gedeihliches
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig (F.D.P.): Frau Präsiden- Ergebnis steht. Ich persönlich jedenfalls würde dies
tin! Meine Damen und Herren! Das ist nun - nament- sehr gern unterstützen.
lich für einen Abgeordneten der Regierungskoali- Danke.
tion - mit diesem Antrag wirklich einigermaßen (Beifall im ganzen Hause)
schwierig. Im Grundsatz kann es ja überhaupt nie-
manden geben, der dagegen ist, daß sich die Bun-
desrepublik Deutschland weiter für jene Opfer des Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächste hat die
Nationalsozialismus engagiert, die bisher noch ohne Kollegin Ulla Jelpke das Wo rt .
oder jedenfalls ohne angemessene Entschädigung
geblieben sind. Das gilt namentlich bezüglich derje-
nigen Menschen, die erst nach dem Fall des Eisernen
Ulla Jelpke (PDS): Frau Präsidentin! Meine Damen
Vorhangs überhaupt in die Lage kamen, eigenstän- und Herren! Das Gute an dem uns heute vorliegen-
dig und individuell ihre Ansprüche vorzubringen. den Antrag ist, daß er nicht versucht, die Lage zu be-
schönigen, daß er in klaren Worten sagt, worum es
Ich will auch persönlich sagen, daß sich die Wie- geht, nämlich lediglich um eine humanitäre Geste in
dergutmachung nicht nur aus Gründen der Gleich- Richtung der baltischen NS-Opfer.
behandlung, sondern aus unmittelbarem Gerechtig-
keitsempfinden an dem messen lassen muß, was an- Der Staat BRD hat in den zurückliegenden
dere Opfer bereits erhalten bzw. erhalten haben. Ich 50 Jahren nie ein Hehl daraus gemacht, für wen er
denke insbesondere an die Fälle in Rußland, Polen sich in Lettland verantwortlich fühlt und für wen er
und Weißrußland. Do rt werden zwar insgesamt weni- die Rechtsnachfolge übernommen hat. 50 Jahre lang
ger Mittel pro Entschädigungsfall ausgezahlt, weil hat man den Opfern mit größtem Zynismus und in al-
die Stiftungsförderung mit dem Kapitallimit die Lei- ler Konsequenz Hilfeleistungen verwehrt. Nicht ein
stungen begrenzt, dafür gibt es aber individuelle einziger hat eine Entschädigung ausgezahlt bekom-
Entschädigungen, was bei der Armut in jenen Län- men. Ganz offensichtlich haben die diversen Regie-
dern sicherlich noch besonderes Gewicht hat. rungen dieses Bundes auf die biologische Lösung des
Problems gesetzt, nämlich auf das langsame Dahin-
Andererseits: Wie paßt das jetzt noch, wo die Ver- sterben der NS-Opfer.
handlungen mit Estland, Lettland und Litauen abge-
schlossen sind bzw. kurz vor dem Abschluß stehen? 80 000 Jüdinnen und Juden haben die Nazi-Scher-
Freilich zählte die deutsche Verhandlungslinie dort gen während ihres Terrorregimes in Riga umge-
nur auf institutionelle Förderung. Dreimal 2 Millio- bracht. Nach der systematisch bet riebenen Vernich- -
nen Mark sollten in die baltischen Staaten gehen. tung der Jüdinnen und Juden durch die SS folgte die
Damit werden Altersheime, Pflegeeinrichtungen, Verweigerungshaltung der Verantwortlichen in der
Krankenhäuser finanziert, aber das kann im Grunde BRD.
nicht zufriedenstellen. Von den KZ-Häftlingen lebten 1993 nur noch
(Beifall im ganzen Hause) 124 Menschen in Litauen. Heute leben sie unter den
schlimmsten materiellen Bedingungen; das haben
Denn Wiedergutmachung für persönlich erlittenes wir hier schon von einigen Kolleginnen gehört. Sie
Unrecht bedarf nun einmal individueller Entschädi sind teilweise nicht einmal in der Lage, ihre medizini-
gung. Über die Höhe der Ausgleichsleistungen, die sche Versorgung zu finanzieren.
5230 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Ulla Jelpke
Das rührt die Bundesregierung wenig. Selbst heute Hilfe für die Opfer der nationalsozialistischen Ge-
wird mit allen bürokratischen Schlichen versucht, waltherrschaft in den baltischen Staaten zu leisten,
sich der Entschädigungszahlungen zu entziehen. die vorher nicht entschädigt werden konnten. Sie
Nichts charakterisiert dieses Verhältnis krasser als kennen die Gründe.
die Tatsache, daß die Täter, die lettischen Angehöri-
gen der Waffen-SS, selbstredend Ansprüche auf eine (Zuruf von der CDU/CSU: Auch von der
Kriegsversehrtenrente haben. Während die Opfer DDR nicht!)
leer ausgehen, bekommen die Veteranen der SS
gleich das Siebenfache der normalen lettischen Ich will das jetzt nicht zu einer Gegenpolemik ma-
Rente durch die BRD ausgezahlt. Hier hat die BRD chen, sondern nur feststellen, aus welchen Gründen
sofort die Rechtsnachfolge übernommen; den Tätern die Opfer do rt im Gegensatz zu denen in anderen
gilt die Fürsorgepflicht dieses Staates. Staaten nicht früher entschädigt werden konnten.

(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ Das Entschädigungsangebot - Sie versuchen hier
CSU]: Sie sind sehr hilfreich!) schon wieder die Dinge zu verdrehen - heißt nicht
2 Millionen DM für die drei baltischen Staaten, son-
Nichts charakterisiert diese Verbundenheit besser dern es heißt jeweils 2 Millionen DM für jeden einzel-
als die Äußerung eines SS-Rentners mit Namen Bo ris nen baltischen Staat.
Michailows gegenüber dem Fernsehteam von
„Panorama". Er bedankte sich bei der deutschen Re- Dieses Angebot - ich muß das sagen, sosehr ich
gierung dafür, daß sie die alten Kämpfer der Waffen- mir bewußt bin, wie wenig populär es sein wird -
SS nicht vergessen hat. Er sagte, er hätte nie ge- liegt im Vergleich zu den do rt noch lebenden Opfern
dacht, daß einmal wieder eine Zeit kommen werde, natürlich erheblich höher als die Mittel, die wir für
in der seine Dienste für Hitler vom deutschen Staat Moskau, für Minsk, für Kiew zur Verfügung stellen
honoriert würden. konnten, und Sie müssen das wirklich auch beden-
ken. Wenn Sie diese Mittel individuell auszahlen
Die Bundesregierung will sich nun mit einer ein- wollen, werden - darüber sind wir uns völlig im kla-
maligen Zahlung von 2 Millionen DM an die drei bal- ren - Nachforderungen kommen. Es wird dann ein
tischen Staaten von den Entschädigungsforderungen Präzedenzfall ausgelöst, über den man hier nachden-
freikaufen. Das tatsächlich erfahrene Leid, der tat- ken muß.
sächlich entstandene Schaden der Opfer wird damit
weiterhin nicht berücksichtigt und bis zum bitteren Meine Damen und Herren, es ist mit allen drei bal-
Ende ignoriert. tischen Regierungen Einigkeit darüber erzielt wor-
den, daß mit den Projekten, die durch die jeweils
Ich hoffe dennoch, daß dieser Antrag in diesem 2 Millionen DM, die wir jedem der baltischen Staaten
Haus eine Mehrheit finden wird; denn ich denke, zur Verfügung stellen werden, den individuellen Be-
daß meine Gruppe ihn unterstützen wird. dürfnissen der NS-Opfer nahegekommen wird, so
Danke. wie es in Ihrem Antrag auch heißt.
(Beifall bei der PDS) Wir haben am 22. Juni 1995 eine Regierungsver-
einbarung über die Finanzierung solcher Projekte
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als letzter zu die- abgeschlossen. Wir schaden uns außenpolitisch,
sem Tagesordnungspunkt spricht der Staatsminister wenn nunmehr von neuem mit Estland verhandelt
Helmut Schäfer. werden sollte, obwohl Estland davon Gebrauch ge-
macht hat und einverstanden ist. Solche Neu- und
Nachverhandlungen würden auch die laufenden
Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen Verhandlungen mit Lettland und Litauen verzögern.
Amt: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Ich glaube, daß dieses Thema zu ernst ist - das war ja Die litauische Regierung ist mit der von uns vorge-
auch bei den Ausführungen der ersten drei Redner schlagenen Lösung einer humanitären Geste einver-
deutlich -, als daß es für Versuche ausgenutzt wer- standen und will ein konkretes Projekt vorlegen. Das
den könnte, die Bundesregierung in irgendeiner dortige Außenministerium drängt darauf, daß bereits
Weise anzugreifen. Ich muß hier sowohl die vom auf der nächsten Kabinettssitzung dieses Thema ab-
Redner der Grünen geäußerte Behauptung zurück- schließend beraten wird. Die lettische Regierung hat
weisen, wir warteten eine biologische Lösung ab, als angekündigt, in Kürze einen konkreten Vorschlag
auch Ihre Ausführungen zur Waffen-SS, die schlicht vorzulegen, sobald die Regierung dort neu gebildet
falsch sind. Erkundigen Sie sich bitte über die ge- wird. Die deutsche Botschaft in Riga ist angewiesen,
nauen Einzelheiten, dann werden Sie sehen, daß den neuen Minister sofort darauf anzusprechen.
Ihre Ausführungen unzutreffend sind.
Der Bundesregierung ist die Situation durchaus be-
Meine Damen und Herren, ich muß Ihnen sagen, kannt, Herr Kollege Weisskirchen. Ich teile Ihre Be-
daß die Entschließung, die am 29. Juni 1994 im Deut- schreibung des grauenvollen Unrechts; denn ich war
schen Bundestag verabschiedet wurde, von der Bun- bei meiner allerersten Reise, die mich jemals in die
desregierung von Anfang an begrüßt worden ist. Sie Sowjetunion geführt hat, 1968 schon in Litauen. Ich
wissen, daß es in diesem Zusammenhang Verhand- war auch in Wäldern, in denen solches Unrecht ge-
lungen auch mit der Zielsetzung dieses Antrages ge- schehen ist. Ich erinnere mich sehr wohl, auch wenn
geben hat, und zwar sehr deutlich, um humanitäre das schon sehr lange zurückliegt.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5231

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Staatsmi- Ich wäre dankbar, wenn das Signal von der Regie-
nister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen rung käme. Wir machen uns in persönlichen Ver-
Volker Beck? handlungen mit den dafür Zuständigen in Litauen
und in Lettland dafür stark, eine Zustimmung zu ei-
ner wie auch immer gearteten Individuallösung ne-
Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen ben der stationären Lösung zu erreichen.
Amt: Ich möchte gern meine Rede fortsetzen.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und
Ich darf Ihnen sagen, daß es auch für die drei balti- dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
schen Regierungen nicht einfach war, die zum Teil
erheblich divergierenden Meinungen der Betroffe-
nen zum deutschen Angebot angemessen zu beant- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Eine weitere Kurz-
worten. Wir wollen diese Schwierigkeiten der balti- inte rv ention vom Kollegen Volker Beck.
schen Regierungen und auch die hier aufgezeigten
Schwierigkeiten in keiner Weise ignorieren, aber ich Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
muß hier sagen: Es ist vor allem auch Sache der Re- Herr Schäfer, ich hätte Sie gerne zu der Verhand-
gierung der baltischen Staaten, eine für möglichst lungsstrategie der Bundesregierung gegenüber den
alle Opfer des nationalsozialistischen Regimes zufrie- baltischen Staaten befragt. Wir hatten ein Berichter-
denstellende Lösung zu finden. stattergespräch im Innenausschuß mit einer Vertrete-
rin Ihres Ministeriums, bei dem ich den Eindruck ge-
Ich bin der letzte, Herr Kollege Schmidt-Jortzig, wonnen habe, daß man mit Estland prioritär dahin
der hier nicht auch die Meinung vertritt, daß man bei gehend verhandelt hat, daß es zu einem Notenaus-
den Beratungen, die noch anstehen und die sich tausch kommt, mit dem Estland für seine Staatsbür-
auch mit dem uns zur Verfügung stehenden Finanz- ger auf weitere Ansprüche gegenüber der Bundesre-
rahmen beschäftigen müssen - das muß eine Bun- publik Deutschland verzichtet. Das klingt meines Er-
desregierung hier auch sagen dürfen -, Überlegun- achtens danach, daß man mehr an einem außenpoli-
gen anstellen kann, in welcher Weise man dieses tischen Ablaßhandel als an einer Entschädigung der-
oder jenes noch verändern wird. jenigen Menschen Interesse hat, die so unendliches
Wir sind uns durchaus bewußt, wie die Interessen- Leid durch einen deutschen Staat, dessen Rechts-
lage ist und welche dringenden Probleme von Ihnen nachfolger wir sind, erlitten haben.
erkannt und hier auch dargestellt worden sind. Aber Ich meine, es gibt einfache Lösungen. Die
ich muß noch einmal sagen: Wir haben bei den bishe- Deutsch-Baltische Parlamentariergruppe und die
rigen Verhandlungen versucht, das, was uns zur Ver- Claims Conference haben angeboten, die individu-
fügung steht, einigermaßen sinnvoll anzuwenden, im elle Entschädigung dieses Personenkreises zu orga-
Gespräch mit den Regierungen zu einer Einigung zu nisieren. Das ist neben den Vereinbarungen über die
finden. Wenn Sie im Deutschen Bundestag der Auf- 2 Millionen DM für die jeweiligen Staaten organisier-
fassung sind, das sei so nicht richtig, muß das hier bar. Wenn Sie die Summen, die in Rußland und in Be-
neu bedacht und im Verlauf der Beratungen, die lorußland an die Opfer individuell über die Stiftung
noch anstehen, auch neu diskutiert werden. Ich ausgezahlt werden, auch diesen 340 noch lebenden
weise nur darauf hin, daß es Bedenken gibt, die ich NS-Opfern zukommen lassen, wird die Bundesrepu-
hier zumindest vorsichtig angedeutet habe und die blik davon nicht arm. Ich denke, sie nützt ihrem in-
nicht mit den einzelnen Opfern do rt, sondern mit Fol- ternationalen Ansehen dadurch sehr und wird dieser
gewirkungen, die nicht auszuschließen sind, in Zu- historischen Aufgabe gerecht.
sammenhang stehen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Vielen Dank. bei der CDU/CSU, der SPD und der PDS)
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Damit schließe ich
die Aussprache.
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wo rt zu einer
Kurzintervention hat der Kollege Wolfgang von Stet- Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vor-
ten. lage auf Drucksache 13/1294 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit
einverstanden? - Dann ist die Überweisung so be-
Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten (CDU/CSU): schlossen.
Herr Staatsminister Schäfer, wenn von der Bundesre-
publik Deutschland ein Signal gegeben wird, daß ein Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Teil dieser Gelder - mit oder ohne Aufstockung - für
individuelle Maßnahmen zur Verfügung steht, ma- Erste Beratung des von den Fraktionen der
chen wir von der Deutsch-Baltischen Parlamentarier- CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs
gruppe uns dafür stark, die Regierung in Litauen und eines ... Strafrechtsänderungsgesetzes -
Lettland dazu zu bringen, dem zuzustimmen, und §17bis9StGB(.rÄnd)
sorgen dafür, daß die Regierung in Estland, die jetzt - Drucksache 13/2463 -
wieder gewechselt hat, keine Inte rvention macht; Überweisungsvorschlag:
denn die Sache mit Estland ist abgeschlossen, und Rechtsausschuß (federführend)
Estland hat das Problem auch nicht. Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
5232 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth


Ich stelle fest, daß die Reden zu Protokoll gegeben auf Antrag der Koalitionsfraktionen vertagt. Den Ver-
worden sind.*) tagungsantrag begründeten die Koalitionsfraktionen
damit, daß zur Entscheidung über den Gesetzent-
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung des Ge-
wurf ergänzende Informationen notwendig seien.
setzentwurfs auf Drucksache 13/2463 an die in der
Mein Kollege Gres wird dazu nähere Ausführungen
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es
machen.
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Demgegenüber hielten die Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN den Gesetz-
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: entwurf für entscheidungsreif. Ich gehe davon aus,
daß auch sie ihre Begründung hier vortragen wer-
Beratung des Berichts des Rechtsausschusses den.
(6. Ausschuß) gemäß § 62 Abs. 2 der Ge-
schäftsordnung zu dem vom Bundesrat einge- Der Vertagungsbeschluß erfolgte dann mehrheit-
brachten Entwurf eines Gesetzes zum Schutz lich mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
der Mieter von Geschäftsraum in den Län- die Stimmen der Fraktionen der SPD und des BÜND-
dern Berlin und Brandenburg NISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Gruppe der
- Drucksachen 13/206, 13/2529 - PDS. So weit der Bericht.
(Erste Beratung 15. Sitzung) Meine sehr verehrten Damen und Herren, gestat-
Berichterstattung: ten Sie mir aus Fairneßgründen noch, im Berliner
Abgeordnete Joachim Gres Wahlkampf verbreiteten falschen Behauptungen
Hans-Joachim Hacker über den Verlauf der Rechtsausschußsitzung am
20. September dieses Jahres entgegenzutreten und
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die diese Behauptungen richtigzustellen. Ich habe ein
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Das er- Flugblatt der Arbeitsgemeinschaft „Selbständige in
fährt keinen Widerspruch. der SPD Berlin", das kurz nach der Sitzung vom
Ich eröffne die Aussprache. Als erster spricht der 20. September in Berlin verbreitet wurde, vorliegen.
Kollege Horst Eylmann. Dort heißt es:
Besonders perfide ging der Ber liner CDU-Abge-
Horst Eylmann (CDU/CSU): Frau Präsidentin! ordnete Dr. Diet ri ch Mahlo vor. In dem ebenfalls
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Frak- heute tagenden federführenden Rechtsausschuß
tion der SPD hat gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsord- verließ er rechtzeitig vor Aufruf des Berliner Ta-
nung beantragt, einen Zwischenbericht des Rechts- gesordnungspunktes den Ausschuß, der nun
ausschusses über den Stand der Beratungen dieses ohne den zuständigen Berichterstatter den An-
Gesetzentwurfs zu geben. trag nicht behandeln konnte. Sein Grund: Er
müsse zum Wahlkampf nach Berlin fliegen. Wohl
Ich gebe Ihnen diesen Bericht als Vorsitzender des um den Berliner Gewerbetreibenden zu erzäh-
Rechtsausschusses wie folgt: Das Plenum hat den len, was er alles für sie in Bonn macht.
Gesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 13/
206 in seiner 15. Sitzung vom 26. Januar 1995 in er- (Zuruf von der CDU/CSU: Ungeheuerlich!)
ster Lesung beraten und an den Rechtsausschuß zur Die Tatsachen, die von den Mitgliedern der SPD im
Federführung sowie an den Ausschuß für Wi rt schaft Rechtsausschuß sicherlich bestätigt werden können,
und an den Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen sind folgende: Wir hatten in dieser Sitzung insgesamt
und Städtebau zur Mitberatung überwiesen. 22 Tagesordnungspunkte. Dieser Gesetzentwurf war
Der Ausschuß für Wi rt schaft hat den Gesetzent- unter Tagesordnungspunkt 9 aufgeführt. Die Rechts-
wurf in seiner 3. Sitzung am 8. Februar 1995 beraten. ausschußsitzung begann wie üblich um 9.30 Uhr,
Er empfiehlt mehrheitlich mit den Stimmen der Mit- und sie dauert in aller Regel vormittags bis etwa ge-
glieder der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. gen 13 Uhr.
gegen die Stimmen der Mitglieder der Fraktion der Da die Beratung zweier Tagesordnungspunkte, die
SPD und der Gruppe der PDS bei Abwesenheit der vor dem Tagesordnungspunkt 9 auf der Tagesord-
Mitglieder der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE nung standen, sehr lange dauerte, zeichnete sich ge-
GRÜNEN, den Gesetzentwurf abzulehnen. gen 13 Uhr ab, daß es nicht möglich sein würde, die
Der Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Tagesordnung vollständig abzuarbeiten. Gegen
Städtebau hat noch nicht votiert. Der Rechtsausschuß 13.30 Uhr konnte ich als Vorsitzender feststellen, daß
hat die Beratung des Gesetzentwurfs am 15. Februar von 22 Tagesordnungspunkten nur sieben behandelt
aufgenommen und eine öffentliche Anhörung be- waren. Der Tagesordnungspunkt 9 war zu diesem
schlossen, die am 24. Ap ril dieses Jahres stattfand. Zeitpunkt von mir noch nicht aufgerufen worden.
Dieser Gesetzentwurf stand dann auf der Tages- Ausweislich der Bandaufnahme, die das Sekreta-
ordnung des Rechtsausschusses in der Sitzung am riat abgehört hat, habe ich um 13.33 Uhr wörtlich er-
20. September 1995, konnte aber nicht behandelt klärt:
werden. Die Vorlage wurde am 27. September 1995 So, jetzt haben wir halb zwei. Draußen wartet
weiter beraten, jedoch nicht abgeschlossen, sondern noch eine Delegation von Haus- und Grundbesit-
zern, die uns eine „Petition" übergeben will.
* Siehe 62. Sitzung Anlage 4
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5233
Horst Eylmann
Wird noch etwas Dringendes gewünscht? - Das Ein Ablehnungsgrund war die Behauptung, daß
ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Sitzung. das nicht zu leugnende Problem des Mangels an Ge-
werbeflächen und der damit verbundenen Mietpreis-
(Norbert Geis [CDU/CSU]: So war es!) steigerungen in
Zu diesem Zeitpunkt hatten bereits Abgeordnete
der SPD, aber auch Abgeordnete der CDU/CSU- einem größeren Zusammenhang zu erörtern und
Fraktion die Sitzung verlassen, und zwar zwischen zum jetzigen Zeitpunkt
13 und 13.30 Uhr. Da bröckelt es immer etwas ab.
- zu Beginn des Jahres 1995 -
Auch der Kollege Mahlo hatte wenige Minuten vor
halb zwei die Sitzung verlassen. nicht mit dem Wiederaufleben einer Kündigungs-
Ich kann somit feststellen, meine Damen und Her- schutzklausel zu lösen ist.
ren: Der Tagesordnungspunkt 9 wurde von mir in der
Ausschußsitzung vom 20. September 1995 nicht auf- So die Argumentation der Koalition zu Beginn dieses
Jahres.
gerufen. Dies war ausschließlich auf Zeitmangel zu-
rückzuführen. Die Abwesenheit des Kollegen Diese Diskussion in einem größeren Zusammen-
Dr. Mahlo in den Schlußminuten der Sitzung hat da- hang wird nun seit mehr als 9 Monaten geführt, lei-
bei weder mittelbar noch unmittelbar eine Rolle ge- der auf einer Einbahnstraße. Am 26. Januar 1995 hat
spielt. Ich stelle ferner fest, daß zum Schluß der Sit- der Bundestag den heute zu behandelnden Gesetz-
zung niemand im Rechtsausschuß die Behandlung entwurf in erster Lesung beraten und an die Aus-
des Tagesordnungspunktes 9 verlangt hat. schüsse verwiesen. Bereits am 8. Februar hat der
Ich glaube, bei aller Hitze des Wahlkampfes ist es Wirtschaftsausschuß mit den Stimmen der Koalition
ein Gebot der Fairneß, dies auch in Berlin richtigzu- den Gesetzentwurf abgelehnt. Der Rechtsausschuß
stellen. Ich gehe davon aus, daß die SPD-Fraktion führte am 24. Ap ril 1995 eine Anhörung durch. Mehr-
das Notwendige dazu in die Wege leiten wird. heitlich wurde in der Anhörung gesetzlicher Rege-
lungsbedarf vor dem Hintergrund der Gewerbe-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - raummietensituation im Ballungsgebiet Berlin/Bran-
Heinz Lanfermann [F.D.P.]: Wir können die denburg angemahnt.
Debatte jetzt schließen, Herr Vorsitzender!)
Die Stellungnahmen der unabhängigen Sachver-
ständigen wurden unterstützt von politischen Gre-
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wo rt hat der
mien der Region Berlin/Brandenburg. Nicht nur die
Kollege Hans-Joachim Hacker.
bereits zitierte Arbeitsgruppe Selbständiger der Ber-
liner SPD - aber insbesondere sie - forde rt marktbe-
Hans-Joachim Hacker (SPD): Frau Präsidentin! gleitende Regelungen. Auch die Wirtschafts- und
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Mittelstandsvereinigung der Berliner CDU forde rt in
Herr Eylmann! Herr Mahlo! Ich möchte Ihnen sagen, einem gemeinsamen Schreiben mit der SPD-Arbeits-
daß auch ich die Wortwahl, die in dem Brief der AGS gruppe Selbständiger vom 7. März 1995 an den
benutzt wurde, nicht akzeptieren kann und daß sie Rechtsausschuß des Bundestages eine möglichst
den Sachverhalt nicht richtig widerspiegelt, wenn- schnelle, positive Beschlußfassung zum Gesetzent-
gleich, Herr Eylmann, es doch üblich ist, daß wir im wurf der Länder Berlin/Brandenburg, da sich die Si-
Rechtsausschuß Beratungen zu Tagesordnungs- tuation bei den Gewerberaummieten, speziell bei
punkten unter Teilnahme der Berichterstatter durch- den Geschäftsraummieten, weiterhin katastrophal
führen. Das war an dem Tag nicht möglich. Herr entwickelt habe. Verdoppelung und Verdreifachung
Mahlo war nicht anwesend. sei die Regel, so die Mittelstandsvereinigung der
CDU in Berlin. Die Verdrängung der kleinen und
(Zuruf des Abg. Heinz Lanfermann [F.D.P.]) mittelständischen Einzelhändler, Gewerbebetriebe
- Das ist doch geprüft worden. Er war nicht anwe- und Handwerksbetriebe wird zutreffend beklagt, ge-
send. Ich denke, darüber sollten wir uns jetzt nicht nauso wie der Verlust von Arbeitsplätzen.
mokieren. Die Art und Weise der Argumentation be-
dauere auch ich. Ich möchte das Herrn Mahlo aus- Meine Damen und Herren von der Koalition, hier
drücklich versichern. Mir geht es jetzt darum, daß können wir in einem konkreten Fall beweisen, wie
wir uns über die Sache unterhalten und hier nicht um Arbeitsplätze gemeinsam gesichert werden können,
Finessen kämpfen. anstatt allgemein über den Wi rt schaftsstandort
Deutschland zu schwadronieren. Die Forderungen,
Meine sehr verehrten Damen und Herren, fast alle, über die wir heute diskutieren, sind ja auch nicht
die vor Ort die Sachlage bewe rt en, forde rn Schutzre- neu. An die CDU-Fraktion sind entsprechende
gelungen für Mieter von Geschäftsraum in den Län- Schreiben bereits vor Jahren gerichtet worden. Ein
dern Brandenburg und Berlin. Dies ist das Ziel des Schreiben unseres verehrten Kollegen Herrn Geis,
Gesetzentwurfes vom 12. Januar 1995 der Länder ohne Datum aus dem Jahre 1992, an die Arbeits-
Berlin und Brandenburg. Eine solche Regelung ist gruppe Selbständiger der Berliner SPD ließ tat-
um so wichtiger, als die Regierungskoalition eine sächlich hoffen. Herr Geis, Sie lehnten zwar gene-
Verlängerung des Kündigungsschutzes für gewerb- relle Marktregulierungsmaßnahmen für gewerbliche
lich genutzte Räume und für gewerblich genutzte un- Räume ab, unterbreiteten aber folgenden Vorschlag
bebaute Grundstücke über den 31. Dezember 1994 - ich zitiere jetzt einmal aus Ihrem Schreiben aus
hinaus für die neuen Länder abgelehnt hatte. dem Jahr 1992 -:
5234 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Hans-Joachim Hacker
Etwas anderes ist es, befristete Sonderregelun- Norbert Geis (CDU/CSU): Kollege Hacker, würden
gen für Ballungsräume zu ermöglichen und Sie mir zugestehen, daß wir entsprechend dem Vor-
durch Änderung im Gesetz für Milderung der schlag aus dem Jahre 1992, den Sie zitiert haben, die
Folgen zu sorgen. Zu der letztgenannten Mög- Kündigungsfrist auf sechs Monate verlängert haben
lichkeit zähle ich die bei uns vorhandene Bereit- und daß wir entsprechend diesem Schreiben auch in
schaft, die Kündigungsfrist für gewerbliche der letzten Rechtsausschußsitzung vorgegangen
Räume von bislang drei auf sechs Monate zu ver- sind, als wir darum gebeten haben, dieses Problem
doppeln. Denkbar ist auch eine auf bestimmte nicht nur bezogen auf Berlin und Brandenburg zu se-
Ballungsräume beschränkte Regelung hinsicht- hen, sondern auch bezogen auf andere Ballungszen-
lich der Miethöhe bei gewerblichen Objekten. tren in der Bundesrepublik Deutschland, beispiels-
weise Frankfu rt , München und Stuttgart?
Meine Damen und Herren, genau dies ist die Ziel-
richtung des Gesetzentwurfes der Länder Berlin und
Brandenburg. Fast könnte man meinen, Herr Geis, Hans-Joachim Hacker (SPD): Vielen Dank, Herr
Sie wären der Inspirator des Bundesrates. Geis, für die Frage. Selbstverständlich haben Sie in
der letzten Rechtsausschußsitzung diese Forderun-
(Norbe rt Geis [CDU/CSU]: Eine Rolle, die gen gestellt. Diese Forderung kam für mich aber aus
mir durchaus zustehen würde!) heiterem Himmel.
- Das wäre schön. (Norbert Geis [CDU/CSU]: Das kam sie
Auch die Liberalen setzen auf verbale Erklärun- schon im Jahre 1992!)
gen. In einem Brief vom 18. April dieses Jahres er- - Sie haben das im B rief von 1992 dargestellt.
klärt der Bezirksvorsitzende der F.D.P. Spandau an
die Abgeordnete des Berliner Abgeordnetenhauses, Die Argumentation, die ich seit vier Monaten bei
Frau Gerlinde Schermer, folgendes: dem Versuch, Berichterstatterrunden zu organisie-
ren, gehört habe, lautete, daß sich Ihre Fraktion zu
Zu Ihrer freundlichen Kenntnis darf ich Ihnen dem Antrag der Länder Berlin und Brandenburg
mitteilen, daß der letzte Landesparteitag der Ber- keine einheitliche Meinung gebildet habe. Die Vor-
liner F.D.P. auf meinen Antrag hin fast einstimmig schläge könnten in einer Berichterstatterrunde und
folgenden Satz in die Wahlplattform der F.D.P. daher auch im Rechtsausschuß nicht abschließend
Berlin für die Abgeordnetenhauswahl 1995 auf- zur Abstimmung gestellt werden. Daher ist es in der
genommen hat: Zugleich setzt sie sich dafür ein, letzten Ausschußsitzung nicht zur Abstimmung ge-
den Schutz der Atelier- und Gewerbemieter nach kommen, unabhängig von den Hakeleien vorher. In
Beispielen anderer Staaten der Europäischen der letzten Ausschußsitzung haben Sie die Forde-
Union zu verbessern. Es wäre nett, wenn Sie rung der SPD-Bundestagsfraktion und der Fraktion
noch einmal nach der Zusammenstellung der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, zur Abstimmung zu
Schutzbestimmungen für Gewerbemieter suchen kommen, abgelehnt mit dem Hinweis, Sie seien nicht
könnten. Ich würde den zum offiziellen Pro- beschlußfähig.
gramm erhobenen Schutz der Gewerbemieter
gern mit Beispielen aus der Europäischen Union Entscheidend ist für mich: Das Argument, es be-
ausfüllen. stehe noch Diskussionsbedarf, greift nach meiner
Auffassung nicht. Alle Argumente sind bei der Anhö-
Die F.D.P. geht also noch deutlich weiter, als Herr rung ausgebreitet worden. Wir hätten die Chance ge-
Geis 1992 zu gehen bereit war. Warum nur will die habt, in der Zeit von der Anhörung am 24. April 1995
F.D.P. gleich einheitliches europäisches Schutzrecht bis in den September hinein das Problem auszudis-
schaffen? Die Vorschläge der Länder Berlin und kutieren. Ich habe zweimal das Angebot einer Be-
Brandenburg sind doch für die Lösung der vorliegen- richterstatterrunde gemacht, aber wenig Resonanz
den Probleme völlig ausreichend. erfahren.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist ein Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will
Zickzackkurs, den die Koalition in dieser Sache fährt. mich ausdrücklich noch einmal gegen die Auffas-
Mit dem Gesetzentwurf der Länder Berlin und Bran- sung wenden, mit diesem Gesetzentwurf sollten In-
denburg wird nicht die Einführung der Planwirt- vestitionsblockaden aufgerichtet werden; denn
schaft bei den Gewerberaummieten beabsichtigt, Mietvereinbarungen sollen bei neugeschaffenem
auch Investitionen werden nicht gefährdet; denn nur oder umfassend modernisiertem Geschäftsraum wei-
für bestimmte Gebiete sollen die Regelungen gelten, terhin frei aushandelbar sein. Es gibt also keine Inve-
die erst nach Rechtsverordnung bestimmt werden. stitionsbremse.
Der Kern der beabsichtigten Regelung, nämlich
Nachweis eines berechtigten Interesses des Vermie- Im Sommer erklärte Ihre Parteikollegin Frau Wöhrl
ters bei Kündigung und Kappungsgrenze bei Neu- zu dem Gesetzentwurf - daraus wird noch einmal
vermietung in Höhe von 30 %, ist vertretbar. deutlich, welche Position Ihre Partei dazu einnimmt -,
man müsse den Regenschirm nicht mehr aufspan-
nen, wenn es nicht mehr regnet. Das waren ihre
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Hacker, ge- Worte.
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Geis?
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Hacker, ge-
Hans-Joachim Hacker (SPD): Von Herrn Geis statten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeord-
gerne. neten Feilcke?
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5235

Hans-Joachim Hacker (SPD): Ja, bitte. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt
der Kollege Gerald Häfner.
Jochen Feilcke (CDU/CSU): Herr Kollege, würden
Sie mir als Nichtjuristen folgende Frage beantwor- Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau
ten: Würde es der von mir unterstützten Intention Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
dieses Gesetzentwurfes helfen, wenn bei der Formu- denke, zur Sache selbst sollte ich nicht mehr allzuviel
lierung nicht der Begriff der Gewerberaummieten, sagen. Das ist zum Teil schon vorgetragen worden.
sondern der Begriff der Geschäftsraummieten be- Wir haben es mit einem Gesetzentwurf zu tun, der
nutzt wird? Denn es geht ja in der Tat nicht allgemein uns seit Jahren vorliegt; einem Gesetzentwurf, der
um alle Gewerberäume - sie stehen teilweise leer -, ebenso notwendig wie überfällig ist; einem Gesetz-
sondern um Läden, um Geschäftsräume. Wäre das entwurf, der vernünftig ist. Es geht um ein nicht
nicht möglicherweise ein hilfreicher Vorschlag, um mehr schleichendes, sondern galoppierendes Pro-
hier zu einem Erfolg zu kommen? blem: den Verlust der Urbanität der Stadt, ganz be-
sonders in Berlin und im Speckgürtel um Berlin, aber
Hans-Joachim Hacker (SPD): Seitens der SPD ist auch in anderen Bereichen.
von Anfang an Gesprächsbereitschaft signalisiert Das kleinere und mittlere Gewerbe geht kaputt,
worden. Ich räume ein, daß es unterschiedliche Miet- wird verdrängt. Man kann sich do rt die exorbitanten
preisentwicklungen gibt - nicht nur in den neuen Mietsteigerungen nicht mehr leisten. Damit stirbt -
Ländern, auch in den Ballungsgebieten der alten ich glaube, das wissen alle hier im Raum - ein Stück
Länder - und die Preisentwicklung bei Büroräumen Stadt, ein Stück Leben. Das betrifft den Bäcker wie
wohl anders zu bewerten ist als die Preisentwicklung den Klempner, den Kinderladen wie den Frisör. Das
bei Mieträumen für Handwerksbetriebe und die Ent- ist schlimm, besonders für alte Menschen. Es ist
wicklung der Ladenmieten. schlimm für Familien, für Menschen mit Kindern. In
Das hätten wir im Berichterstattergespräch ausdis- manchen Stadtteilen sind gegenwärtig 40 bis 50 %
kutieren können. Wir hätten uns dazu die Meinung der Ladengewerbe in ihrer Existenz bedroht.
des zuständigen Bundesministeriums einholen kön- Nun liegt uns seit Jahren ein Gesetzentwurf des
nen. Wenn verfassungsrechtliche Bedenken gegen Bundesrates vor, der, wie ich meine, eine maßvolle
eine solche Formulierung beständen, hätten wir eine und vernünftige Lösung vorschlägt: Begrenzung der
solche Differenzierung nicht vornehmen können. Wir Mietpreissteigerungsmöglichkeiten, Einschränkung
hätten das, wie gesagt, im Berichterstattergespräch des Kündigungsschutzes - und dies nur in begrenz-
wohl ausdiskutieren können. Ich hatte zweimal dazu ten Gebieten für eine Übergangszeit. Nun reden wir
eingeladen, aber die CDU war der Meinung, der Re- seit Jahr und Tag über diesen Gesetzentwurf - ohne
genschirm sei nicht mehr nötig, die Probleme seien jedes Ergebnis.
verflogen wie der Nebel in der Sommersonne.
Es gibt in manchen anderen Parlamenten die Me-
(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Das kann man thode des Filibusterns, also so lange zu reden, bis es
so nicht sagen!) zu spät ist.
Frau Wöhrl, die Berichterstatterin zu diesem
(Michaela Geiger [CDU/CSU]: Das gibt es
Gesetzentwurf, hat gesagt, es bestehe kein Hand-
manchmal auch bei uns!)
lungsbedarf. Dann verstehe ich allerdings nicht die
Forderung, die jetzt, nach mehreren Monaten, vorge- Die Menschen sitzen dann gebannt und lauschen, ob
tragen wird, es bestehe neuerlicher Handlungsbe- es dem Redner gelingt, tatsächlich so lange zu reden,
darf, man müsse weitergehende Analysen über die bis der Zeitpunkt der Entscheidung verstrichen ist
Mietenentwicklung von Gewerberaum in anderen und man in der Sache nichts mehr tun kann. Es hat
Ballungsgebieten der Bundesrepublik einholen; dazu wenigstens noch einen gewissen sportlichen Aspekt,
solle die Bundesregierung nun endlich Unterlagen solchen Debatten zu folgen. Ich glaube, nicht jeder
vorlegen. im Bundestag wäre den sportlichen Anforderungen
Um es auf den Punkt zu bringen - Herr Eylmann eines solchen Filibusterns gewachsen. Aber manche
Reden - ich denke gerade an die Reden des Kollegen
hat das angesprochen, und ich meine, es ist auch so -:
Die Koalition verzögert die Debatte bis zur Wahl in Scharping - würden von daher einen ganz anderen
Stellenwert bekommen. Die Fraktion könnte froh
Berlin. Sie will ihren Anspruch, eine mittelstands-
sein, über solche Redner zu verfügen. Auch Herr
freundliche Politik zu betreiben, nicht auf den Prüf-
Kleinert hätte da wieder Möglichkeiten. Doch das
stand stellen lassen. Ansonsten hätten Sie sich längst
empfinden wir zu Recht als undemokratisch und un-
den Forderungen der Handwerker, Ladenbesitzer -
parlamentarisch. Deswegen machen wir das nicht.
und der kleinen Geschäftsleute im Ballungsgebiet
Berlin/Brandenburg angeschlossen und bereits vor Aber ich stelle fest: Es gibt bei uns eine andere A rt
der Sommerpause die Beratung des Gesetzentwurfes desFilbutrn.EgaheimlcFbustrn.
zu einem positiven Abschluß gebracht. Genau darum Das findet dann im Ausschuß statt. - Insofern ist es
geht es hier; das sollte auch jeder wissen. richtig, dies einmal ins Plenum zu bringen. - Das
Vielen Dank. sieht im vorliegenden Fall so aus, daß eine Anhörung
mit einem bestimmten Fragenkatalog beantragt
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne wurde, die wir im Ap ril 1995 durchgeführt haben.
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Wenn wir dann nach der Anhörung entscheiden wol-
und der PDS) len, geht das nicht immer, weil die zuständigen Her-
5236 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Gerald Häfner
ren im Ausschuß nicht anwesend sind. Wenn ihr Heinz Lanfermann (F.D.P.): Frau Präsidentin!
dann gar nichts mehr einfällt, erklärt die Union - wie Meine Damen und Herren! Der Hinweis auf die
in der letzten Ausschußsitzung - sie wolle eine wei- Stunde gibt mir tatsächlich Gelegenheit, meinen Ein-
tere Anhörung - Herr Geis, Sie haben das vorge- druck wiederzugeben, daß das Ganze hier jetzt zu
schlagen - im Frühjahr nächsten Jahres über die Mitternacht doch ein bißchen gespenstisch wirkt,
Frage durchführen, ob man nicht das, was hier vor- wenn man sich die Argumente anhört.
geschlagen ist, auf andere Gebiete ausweiten könne.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie waren gar
nicht dabei!) Herr Kollege Häfner, ich habe nur die Erinnerung,
daß der Kollege Geis - da wir jetzt bei der Vergan-
- Da irren Sie, Herr Geis. Ich bin dabei gewesen und genheitsbewältigung der letzten Ausschußsitzungen
habe mich mit Ihnen heftig auseinandergesetzt. Sie sind - sehr wohl die Frage aufgeworfen hat, wie das
können das im Protokoll nachlesen, wenn Ihre E ri n- Verhältnis zu anderen Zentren sei und ob die Bun-
nerung versagt. desjustizministerin nicht etwas dazu berichten
könne, vor allen Dingen vor dem Hintergrund, ob es
Also Herr Geis, Sie haben gesagt, das Problem - auch aus verfassungsrechtlichen Gründen oder
stelle sich auch in Frankfurt und München; Sie woll- überhaupt aus rechtlichen Gründen, wie ich es vor-
ten jetzt gerne eine Anhörung durchführen, um zu sichtig sagen wi ll - angehen könne, für einen Bal-
klären, ob man das nicht ausweiten könne. Ich habe lungsraum an solche Maßnahmen zu denken, das bei
Sie dann daran erinnert, daß just diese Frage in der anderen aber nicht zu tun. Das ist eine ernste Frage;
Anhörung vom April dieses Jahres bereits gestellt das wird niemand bestreiten. Von einer Anhörung
worden ist. - So können wir weder mit uns selbst war da keine Rede. Sie sollten es auch nicht übertrei-
noch mit Sachverständigen umgehen: daß wir sie ben.
einladen, ausladen und wieder einladen, nur um Zeit
zu gewinnen. Ich habe insbesondere auch an der Rede des Kolle-
gen Hacker bis auf die Tatsache, daß in Berlin in
Was Sie wollen, ist doch klar: Sie wollen dieses Kürze Wahlen sind, so manches nicht verstanden. Ich
Thema bis nach der Wahl in Berlin verschieben, um grüble immer noch darüber nach, wie der Kollege
dann den Gesetzentwurf hier zu beerdigen. Das Mahlo es geschafft haben soll, nicht anwesend zu
heißt auch, Sie wollen sich endgültig von dem, wofür sein, obwohl der Vorsitzende des Rechtsausschusses
Sie früher einmal eingetreten sind, verabschieden: uns gerade berichtet hat, er sei herausgegangen. Ir-
vom kleineren und mittleren Gewerbe, von der Urba- gendwie habe ich das noch nicht ganz erfaßt.
nität und der Lebensqualität in der Stadt. Sie wollen
die Stadt Berlin großen Investoren ausliefern, Sie sagen, die Diskussion sei eine Einbahnstraße
gewesen. Ich weiß nicht, warum der Wirtschaftsaus-
(Zurufe von der CDU/CSU: Das können Sie schuß dann entschieden hat. Er hat gegen die Sache
uns nicht vorwerfen! - Das versteht der Häf entschieden. Wenn Sie meinen, im Wahlkampf poli-
ner doch nicht!) tisch verwerten zu müssen, daß eine eindeutige Stel-
lungnahme der Koalitionsfraktionen vorgelegen hat,
die mit gigantischen Bauprojekten das Leben und
dann tun Sie das ruhig; denn die besseren Argu-
die Lebensqualität in dieser Stadt, gerade im Zen- mente in dieser Angelegenheit sind keineswegs auf
trum der Stadt, Stück um Stück zerstören. Ihrer Seite. Das wird auch nicht dadurch erreicht,
Ich denke, die Menschen sollten wissen, zwischen daß ein solches Ziel jahrelang verfolgt wird.
welchen verschiedenen politischen Ansätzen sie hier Im übrigen wird es Ihnen nicht gelingen, die F.D.P.
zu entscheiden haben. Es steht in der Bibel - Sie ken-
Berlin auf Ihre Seite zu reden. Daß der Parteitagsbe-
nen das -: Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. - Ein schluß, den Sie erwähnt haben - selbstverständlich
besserer Stil wäre es gewesen, Sie hätten den Mut
im Sinne des „gutgemeint"; so verstehe ich Ihren An-
besessen, hier zu dem Gesetzentwurf Stellung zu trag auch -, nur ein Tendenzbeschluß sein kann und
nehmen, ihn abzulehnen, wenn Sie das ohnehin vor-
keine klare inhaltliche Aussage hat, geht doch aus
haben, und nicht mit fadenscheinigen Begründun-
dem von Ihnen zitierten alten B ri ef hervor. Wenn der
gen das Ganze seit Jahren zu verschleppen, um
Kollege von der F.D.P. in dem B ri ef darum bittet, man
dann, wenn die Berliner gewählt haben, die Sache zu
möge die europäische Rechtslage eruieren, kann der
beerdigen und die Menschen in der Stadt sozusagen Hinweis in dem Parteitagsbeschluß auf die europä-
erneut im Regen stehenzulassen. ische Rechtslage nur als Tendenz gemeint sein und
Ich danke Ihnen. nicht als etwa eine Zustimmung zu Ihren Vorschlä- -
gen. Deswegen hat es keinen Sinn, alte B riefe vorzu-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lesen. Man muß sich vielleicht doch einmal um die
sowie bei Abgeordneten der SPD und der Sache selbst kümmern.
PDS)
Abgesehen von dem ganzen Drumherum, was be-
schrieben worden ist, ist doch ganz klar, daß Ihr An-
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Zu Mitternacht trag bei uns nicht auf Gegenliebe stoßen kann. Er ist
werden wir sehr munter. mit diesen dirigistischen Mitteln gar nicht geeignet,
das von Ihnen dargestellte Ziel zu erreichen, ganz im
Herr Kollege Lanfermann. Gegenteil: Er ist sogar kontraproduktiv. Wenn Sie
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5237
Heinz Lanfermann
das nicht glauben wollen, dann müssen Sie nur in Das Mietrecht ist für die Ziele bezüglich der La-
Berlin selbst in die Vergangenheit schauen. denmieten nicht geeignet. Diese klare Überzeugung
will ich hier ausdrücken. Der Versuch, über das Miet-
Was haben wir dort erlebt? Wir haben die endlose recht Politik zu machen, stellt sich vordergründig -
Geschichte der langjährigen und immer wieder ver- siehe die Überschrift des Antrags „Schutz der Mieter
längerten Mietpreisbindungen für Wohnraum erlebt. von Geschäftsräumen" - als Wohltat für eine Gruppe
Dieser staatliche Eingriff hat in Berlin einen funktio- von Menschen dar, hat aber als Kehrseite der Me-
nierenden Markt für ganz lange Zeit verhindert; erst daille auch einen Nachteil für andere.
nach Auslauf der Mietpreisbindung hat sich das
Mietniveau für Wohnraum einigermaßen marktwirt- Man muß natürlich sehen, daß das mit der vorgeb-
schaftlich eingependelt. Viele Wohnungen wurden lich sozialen Politik immer so ist: Der Schutz des ei-
so genutzt, daß die Familien zu kleine Wohnungen nen ist die Last des anderen. Anders als im Vertrags-
hatten und daß große Wohnungen von einzelnen Per- recht, wo das verboten ist bzw. zur Nichtigkeit führt,
sonen bewohnt wurden, die aber darauf vertrauen neigt die Politik immer dazu, Politik zu Lasten Dritter
konnten, daß der Staat dauernd seine schützende zu machen. Ich habe den Eindruck, daß diese Nei-
Hand über sie hält. Diese Mieten konnten nicht stei- gung auf der einen Seite des Hauses in der Tendenz
gen, wodurch es sogar zu Renovierungsstaus größe- etwas stärker vertreten ist.
ren Umfanges kam. Das alles scheinen Sie jedenfalls Intelligente Politik muß etwas mehr als Umvertei-
nicht in Erinnerung und auch nicht zur Grundlage lung leisten. Sie schafft und gestaltet Rahmenbedin-
Ihrer Überlegungen gemacht zu haben. gungen, unter denen sich dann nach den Regeln der
Natürlich müssen Sie auch zugeben, daß Ihr An- Marktwirtschaft die besten, weil ausgeglichensten,
trag, zumindest vom Zeitablauf her, in vielem über- Lösungen entwickeln, und zwar zum besten Nutzen
holt ist; denn Sie wissen ganz genau, was der Markt für alle Bürger.
z. B. für Büromieten nach den anfangs übertriebenen Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Vorstellungen hergibt. Die Büromieten haben sich
ebenfalls marktwirtschaftlich entwickelt. Auch in gu- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
ten Lagen sind sie rapide gesunken. Nach Zeitungs-
berichten ist Berlin mit fast 30 % sogar Spitzenreiter Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ich erteile jetzt das
bei den Preisrückgängen in den vergangenen zwei Wo rt dem Abgeordneten Dr. Uwe-Jens Heuer.
Jahren, gefolgt von München, Leipzig und Dresden
mit minus 20 %. Die Marktwirtschaft ist also etwas
klüger als manches, was in diesem Hause an Anträ- Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS): Frau Präsidentin!
gen fabriziert wird. Meine Damen und Herren! Herr Lanfermann, ich
möchte Ihnen empfehlen, sich anzusehen, was in
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Berlin wirklich passiert. Da spielt sich etwas in einem
urbanen Ballungsraum ab, in dem durch die Vereini-
Meine Damen und Herren, neben den Büromieten gung wie in keinem anderen Teil Deutschlands fast
ist - das ist selbstverständlich ein wichtiger Punkt - alle Verhältnisse umgewälzt wurden.
auch das Problem der Ladenmieten angesprochen.
Aber ich denke, bei den Ladenmieten geht es darum, Viele Gebiete liegen jetzt plötzlich wieder mitten
zu überlegen, wie man erreichen kann, daß sich in im Zentrum einer Metropole. Viele p rivate Einzel-
guten Lagen - nicht nur in guten, aber insbesondere händler, kleine Gewerbebetriebe und Handwerker,
in guten Lagen - Geschäfte, Gaststätten und anderes häufig alte Familienbetriebe, die die DDR mehr oder
ansiedeln, weil man sich das für ein erfreuliches weniger gut überstanden hatten, sind von diesen
Stadtbild und die Lebensqualität einer Stadt Mieten schon hinweggefegt worden oder stehen vor
wünscht. Schließlich will man die Innenstädte attrak- existentiellen Problemen. Ich kann mich noch gut er-
tiv halten oder noch attraktiver gestalten. innern, mit welchem Enthusiasmus viele von ihnen
die Marktwirtschaft begrüßt haben und wie viele von
Das ist aber zunächst einmal eine Forderung an die ihnen bei den Wahlen des Jahres 1990 die Parteien
Politik des Gemeinwesens, um das es geht, nämlich der heutigen Regierungskoalition gewählt haben.
der Stadt Berlin. Da muß man sich natürlich etwas in-
telligentere Gedanken darüber machen, wie man Nun haben die Regierungen von Berlin und Bran-
Strategien entwickeln kann, solche Lagen zu entwik- denburg einen Gesetzentwurf über den Bundesrat
keln. Man muß sich überlegen, ob man do rt selber eingebracht, der diese Kreise vor der Eliminierung
eingreift und als Kunde am Markt auftritt. durch spekulative Mietforderungen schützen soll.
Die Koalitionsparteien verhindern mit allen Mitteln
Das ist eine Frage, die man vor Ort bitte ernsthaft seine Annahme, während die demokratischen Sozia-
diskutieren soll, um anschließend zu entscheiden. listen und die Sozialdemokraten, die ja nun nicht ge-
Das kennen andere Städte auch, aber die schreien rade typische Mittelstandsparteien sind, für seine
nicht gleich danach, daß man für sie ein spezielles Annahme eintreten.
Gesetz schneidern soll.
Die Debatte findet noch dazu unmittelbar nach der
Ich glaube, die Horrorszenarien, die der Kollege Behandlung eines Antrags derselben Koalitionsfrak-
Häfner heute entwickelt hat, müßten direkt zu einer tionen unter der Überschrift „Den Mittelstand entla-
Massenflucht aus Berlin führen, wenn das nur halb- sten" statt. Man fragt doch, wenn man Logik hat, wie
wegs so zuträfe, wie er das übertrieben dargestellt das eine und das andere Verhalten der Koalitions-
hat. fraktionen unter einen Hut zu bringen ist.
5238 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Dr. Uwe-Jens Heuer


Man kann sicher gegen den Entwurf einwenden, wurf nicht besonders eilig gehabt. Der Gesetzent-
daß er nicht besonders gut handhabbar ist. Das hat wurf, Herr Hacker, ist im Rechtsausschuß des Bun-
der Kollege Dr. Mahlo bei der Anhörung richtig be- desrates zunächst abgelehnt worden.
merkt. Man kann auch einwenden, daß er nicht völ-
lig zielgenau ist. Diese Mängel hätte man aber in den (Norbe rt Geis [CDU/CSU]: Hört! Hört!)
Monaten, um die es hier geht, beheben können. Erst nach fast zwei Jahren, nämlich Ende 1993, hat
Wenn man den Gesetzentwurf noch länger liegen- das Plenum des Bundesrates die Einbringung des
läßt, wird man bald gegen ihn einwenden können, Gesetzentwurfs im Bundestag beschlossen. Der Ge-
daß er inzwischen überflüssig geworden ist, weil es setzentwurf ist dann im Ap ril 1994 im Deutschen
die zu schützenden privaten Einzelhändler, Hand- Bundestag in erster Lesung - übrigens ohne Ausspra-
werker und kleinen Gewerbetreibenden dann nicht che, die Sie hätten veranlassen können, wenn Ihnen
mehr geben wird. wirklich soviel daran gelegen wäre - verabschiedet
Rund 50 % der nach der Wende abgeschlossenen worden. Im Rechtsausschuß wiederum ist der Gesetz-
Mietverträge stehen jetzt und in den nächsten Mona- entwurf nicht mehr zur Abstimmung gebracht wor-
ten zur Neuverhandlung an. Der Verdrängungspro- den, so daß der Gesetzentwurf am Ende der Legisla-
zeß der privaten Einzelhändler im Zentrum von Pots- turperiode der Diskontinuität verfallen ist. Er ist jetzt
dam - Brandenburger Straße und umliegende Stra- Anfang 1995 neu eingebracht worden.
ßen - und den Subzentren von Berlin - z. B. Schön Der Datenhintergrund und die Erfahrungsgrund-
hauser Allee und umliegende Straßen - durch Ban- lage für die heute zu diskutierende Gesetzesinitiative
ken und Filialisten ist doch offensichtlich und we- des Bundesrates war die unmittelbare Nachwende-
sentlich durch die Gewerbemieten verursacht. zeit in Berlin. Es ist richtig, daß sich im Westteil Ber-
Das hätte nicht nur Auswirkungen auf die Struktur lins auf Grund seiner Insellage bis zur Wende 1989/
der Berliner und Brandenburger Zentren und Sub- 90 im Immobiliensektor im Bereich der gewerblichen
zentren, die weiter veröden würden, sondern würde Miete eine besondere Situation entwickelt hatte. Um
auch das Aus für viele Projekte der Wohlfahrtspflege, so sprunghafter war nämlich damals die Anpassung
für kulturelle Projekte und für Jugendprojekte be- an die rapide veränderten Verhältnisse. Es ist wohl
deuten. Gleichzeitig gefährdet es auch die Einstel- auch richtig, daß der Ostteil Berlins in den Jahren
lung weiterer Lehrlinge. Kein verantwortungsbewuß- 1990/91 möglicherweise anders als die Zentren in an-
ter Ausbilder wird Lehrlinge einstellen, wenn er deren neuen Bundesländern durch die unmittelbare
nicht weiß, ob er im nächsten oder im übernächsten Einbeziehung in die sich sprunghaft entwickelnde
Jahr überhaupt noch existieren wird. Metropole Berlin auf dem Geschäftsraumsektor ei-
nem stürmischen Anpassungsdruck ausgesetzt war.
Ich halte es für ausgesprochen demagogisch, daß
dann im Rechtsausschuß gesagt wird: Vielleicht ist Aber in der Zeit seit 1990/91 bis heute hat sich vie-
das alles richtig, aber vielleicht gilt das auch noch für les grundlegend verändert. Wir wissen aus der Anhö-
andere Städte, und deswegen müssen wir jetzt unter- rung im April dieses Jahres, daß in Berlin mittler-
suchen, ob es nicht auch noch für weitere Städte, weile ein Leerstand von Bürofläche von 1 Million
etwa für Frankfurt, angewendet werden sollte. Quadratmetern allein im Maklerangebot besteht.
Hinzu kommt die Fläche im unmittelbaren Eigenan-
(Norbe rt Geis [CDU/CSU]: Warum nicht?) gebot der Eigentümer, so daß bereits im April von ei-
Ich halte das - entschuldigen Sie, Herr Geis - für nem Leerstand von weit über 1 Million Quadratme-
ein ausgesprochen demagogisches Argument. tern Bürofläche auszugehen war. Bei den Gewerbe-
flächen standen ebenfalls ca. 1 Million Quadratmeter
(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne im Angebot; bei den Ladenflächen standen ca.
ten der SPD) 35 000 Quadratmeter zur Anmietung frei. So weit die
Daten Anfang dieses Jahres.
Machen Sie es doch hier! Jetzt ist noch Zeit.
Mittlerweile hat sich die Tendenz zur weiteren
(Beifall bei der PDS - Norbe rt Geis [CDU/ Ausweitung der Geschäftsraumflächen fortgesetzt.
CSU]: Heute abend!) An den Stadtgrenzen Berlins entstehen 12 Ein-
kaufszentren mit jeweils mehr als 20 000 Quadratme-
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Letzter Redner zu tern Verkaufsfläche. Die Berliner Forschungsstelle
diesem Tagesordnungspunkt ist Kollege Joachim für den Handel hat festgestellt, daß es im Jahr 2000,
Gres. also in noch nicht einmal fünf Jahren, in Berlin auf
der Basis der genehmigten Planungen einen Über-
schuß von ca. 300 000 Quadratmetern Ladenfläche -
Joachim Gres (CDU/CSU): Frau Präsidentin!
geben wird, weil die Kaufkraft mit dem steigenden
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir spre- Flächenangebot nicht Schritt gehalten hat. Von dem
chen heute über einen Gesetzentwurf, der im März Überangebot an Büroflächen auf Grund der geneh-
1992 im Bundesrat erstmals behandelt worden ist migten und der im Bau befindlichen Projekte in Ber-
und der demgemäß zunächst einmal als Reaktion auf lin will ich ganz schweigen.
die damalige Geschäftsraumsituation in Berlin in den
Jahren 1990 und 1991 zu verstehen ist. Der Bundes- Meine Damen und Herren, ich will jetzt auch nicht
rat mit seiner SPD-Mehrheit hat es dann ab 1992 weiter über die schweren Mängel des Gesetzentwur-
trotz der gewiß problematischen Entwicklung der fes im einzelnen reden. Der besonders ins Auge fal-
Geschäftsraummieten in Berlin mit dem Gesetzent lende Mangel ist die völlig fehlende Zielgenauigkeit
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5239
Joachim Gres
des Gesetzentwurfs, weil er Bürofläche, Einzelhan- gute kommen zu lassen, die auf der zwischenzeitlich I
delsfläche und Gewerbefläche gleich behandeln will, eingetretenen Entwicklungsbasis des Schutzes in der
obwohl auf der Hand liegt, daß das Schutzbedürfnis Form - jedenfalls als Sonderrechte Berlins - nicht
der jeweiligen Gruppen völlig unterschiedlich ist. mehr bedürfen.
Wie wollen Sie den Bürgerinnen und Bürgern in Ber-
lin erklären, daß der Sinn dieses Gesetzentwurfs Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Gestatten Sie eine
darin liegt, daß beispielsweise der Deutschen Bank weitere Zwischenfrage?
für die von ihr auf dem Ku'damm gemietete Bankfi-
liale plötzlich Mieterschutz gewährt werden soll oder
daß beispielsweise ein Geldautomatenbetreiber in Joachim Gres (CDU/CSU): Sofort.
der Kantstraße plötzlich Mieterschutz bekommen Eine ganz andere Frage ist es, ob die Situation, wie
soll? Was soll denn das? sie sich abzeichnet, nicht im Grunde genommen
(Beifall bei der CDU/CSU) einen Sachverhalt darstellt, der insgesamt aufgegrif-
fen werden muß. Dazu komme ich gleich noch in
Oder was soll es für einen Sinn ergeben, Herr einer abschließenden Bewertung.
Hacker, daß Existenzgründer, die erstmals eine Flä-
che anmieten wollen, nach dem Gesetzentwurf von Herr Hacker.
der Schutzwirkung völlig ausgenommen sind? Das
kann doch nicht Sinn eines vernünftigen Gesetzes Hans-Joachim Hacker (SPD): Herr Gres, Sie stellen
sein. hier viele Vorschläge zur Nachbesserung des Geset-
Aber die Grundfrage bleibt, Herr Hacker, ob wir zes vor und nennen Gründe, weshalb Sie dem Ge-
angesichts der Veränderungen in Berlin seit 1992 setzentwurf nicht zustimmen können. Könnten Sie
noch Verhältnisse haben, die es rechtfertigen, jetzt mir einmal die Tatsache erklären, daß während der
neues pa rtielles Bundesrecht zu schaffen. Im Grunde angestrebten Beratungen zu dem Gesetzentwurf
genommen greift der Gesetzentwurf heute, nachdem nicht ein einziger konkreter Vorschlag von Ihrer
sich die Geschäftsraummieten in Berlin so entwickelt Seite unterbreitet worden ist - ich schließe jetzt ein-
haben, wie ich das dargestellt habe - von punktuel- mal Ihre gesamte Fraktion ein -, den Gesetzentwurf,
len, örtlichen Ungleichgewichten, die es immer noch wenn er denn Mängel hat, nachzubessern?
geben mag, abgesehen -, eine Problematik auf, die
es jetzt in fast allen Zentren und Metropolen in Joachim Gres (CDU/CSU): Nein, Herr Hacker, das
Deutschland in gleicher Weise gibt. Es ist die gleiche ist nicht richtig. Ich will Ihnen dazu folgendes aus-
Problematik in Hamburg, München, Stuttgart, führen: Wenn wir ein solches Gesetz zum Schutze
Frankfu rt und übrigens auch in Dresden und Leipzig. bestimmter gewerblicher Mieten diskutieren, sollten
wir dies meiner Ansicht nach nicht auf der Basis
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Gres, gestat- einer gesetzlichen Sonderregelung für Berlin tun.
ten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Denn die Industrie- und Handelskammer in Berlin
Heuer? hat ausdrücklich immer wieder betont, daß eine sol-
che Sonderregelung Investitionen in und für die
Stadt Berlin möglicherweise abwürgt.
Joachim Gres (CDU/CSU): Gerne.
In der Anhörung hat einer der Sachverständigen
gesagt, Herr Hacker, daß der vorgelegte Gesetzent-
Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS): Kann man das alles, wurf mit einem Medikament vergleichbar sei, das
was Sie gesagt haben, vielleicht als Verbesserungs- zwar die Krankheit beseitige, an dessen Nebenwir-
vorschlag für den Gesetzentwurf betrachten? Natür- kungen der Patient aber zugrunde gehe, weil das
lich kann man eine solche Differenzierung vorneh- Gesetz zu einem gespaltenen Markt und einem
men. Dann sollten wir diesen Verbesserungsvor- Standortnachteil für die Region Berlin führe.
schlag aber nicht vertagen, sondern jetzt im Aus-
schuß so beschließen. Wir haben ja Zeit genug. Wir meinen, wenn wir die Diskussion führen, soll-
ten wir sie grundsätzlich für das ganze Bundesgebiet
führen. Da der Gesetzentwurf aber nur auf der Da-
Joachim Gres (CDU/CSU): Herr Heuer, wenn Sie tenerhebung für Berlin in den Jahren 1991/92 be-
die Begründung des Gesetzentwurfes gelesen hät- ruht, haben wir das BMJ gebeten, uns rechtstatsäch-
ten, hätten Sie in der Abwägung zu Art. 14 des liche Auskünfte über die Situation in den anderen
Grundgesetzes feststellen können, daß es verfas- Ballungsräumen Deutschlands zu geben. Das kann
sungsrechtlich höchst problematisch ist, den Gesetz- am besten an Hand der Aktualisierung der IFS-Stu-
entwurf nur auf Einzelhandelsflächen zu konzentrie- die aus dem Jahre 1990 geschehen, die seinerzeit
ren und zu verengen. Das steht in der Begründung vom Bundesjustizministerium in Auftrag gegeben
des Gesetzentwurfes. Es war wahrscheinlich aus worden ist. Damals ist genau diese Frage schon als
Sicht der Verfasser des Gesetzentwurfes notwendig, zentraler Aufgabenschwerpunkt gesetzt worden.
ihn auf die gesamte Gewerbefläche auszudehnen.
Daß der Gesetzentwurf bei einem Überangebot von Sobald uns diese Unterlagen vorliegen, werden wir
1,5 Millionen Quadratmetern Büromietenflächen in die Diskussion darüber fortsetzen, ob es sinnvoll und
Berlin damit praktisch ad absurdum geführt wird, ist zielführend ist, den Geschäftsraummietenmarkt ins-
die Konsequenz aus der Überlegung, den Ladenbe- gesamt unter Kuratel einer speziellen Schutzgesetz-
treibern in einem Sektor unbedingt noch Schutz zu- gebung für gewerbliche Mieter zu stellen. Denn die
5240 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Joachim Gres
Anliegen der mittelständischen Einzelhändler, Hand- und wenn ich mich an die hochemotionale Debatte
werker und Gewerbetreibenden in den großen Städ- bei der ersten Lesung der Anträge der SPD und von
ten der Republik sind uns genauso wichtig wie BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Gesetzent-
Ihnen. wurfes der PDS erinnere, dann hätte diese Debatte
eigentlich heute morgen als ein Teil der Debatte zum
Ich danke Ihnen.
Rückblick auf fünf Jahre deutsche Einheit stattfinden
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge müssen;
ordneten der F.D.P.)
(Beifall bei der SPD, beim BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und bei der PDS) _
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ich schließe die
Aussprache. denn im Kern der Diskussion um eine Korrektur des
RentenÜberleitungsgesetzes geht es doch darum,
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: wie wir mit dem Leben, das in der DDR gelebt
wurde, umgehen.
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Für viele Menschen ist der Rentenbescheid nicht
das Bundeskriminalamt und die Zusammenar- nur ein Papier, das den Zahlbetrag ihrer Rente aus-
beit des Bundes und der Länder in kriminal- weist. Für viele ist der Rentenbescheid auch eine A rt
polizeilichen Angelegenheiten (Bundeskrimi- BilanzhresAbt,inWruelübds
nalamtgesetz - BKAG) Arbeitsleben. Das erklärt vielleicht auch die Emotio-
nen, die dieses Thema auslöst, und es erklärt ganz
- Drucksache 13/1550 -
sicher die vielen langen handschriftlichen Briefe, in
Überweisungsvorschlag: denen ein ganzes Leben erzählt wird und die uns,
Innenausschuß (federführend) die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, auf-
Rechtsausschuß
fordern, das Urteil, das in der Kürzung der Renten
Die zu Tagesordnungspunkt 11 gehörigen Debat- liegt, endlich zu revidieren.
tenbeiträge sind zu Protokoll gegeben worden * ).
Die SPD hat die Notwendigkeit einer Korrektur
Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Geset- des Renten-Überleitungsgesetzes von Anfang an ge-
zentwurfs auf Drucksache 13/1550 an die in der Ta- sehen.
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der (Dr. Uwe-Jens Heuer [PDS]: Falsch! - Wei-
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. tere Zurufe von der PDS - Gegenruf von
der CDU/CSU: Ruhe da drüben!)
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Wir haben deshalb in der letzten Legislaturpe riode
Beratung des Berichts des Ausschusses für Ar- das Rentenüberleitungs-Ergänzungsgesetz durchge-
beit und Sozialordnung (11. Ausschuß) gemäß setzt und jetzt erneut einen Antrag und einen Ge-
§ 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dem setzentwurf eingebracht.
von den Abgeordneten der PDS eingebrach- (Dr. Dagmar Enkelmann [PDS]: Wir haben
ten Entwurf eines Gesetzes zur grundlegen- ihn doch eingebracht!)
den Korrektur des RentenÜberleitungsgeset-
zes (Rentenüberleitungs-Korrekturgesetz Vor der Sommerpause waren die Anträge der SPD
-Rü-KG) und von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Ge-
setzentwurf der PDS Grundlage einer großen öffent-
- Drucksachen 13/216, 13/2549 -
lichen Anhörung. Nach dieser Anhörung ist für die
(Erste Beratung 15. Sitzung) SPD eine Korrektur und eine Ergänzung des Renten-
Berichterstattung: Überleitungsgesetzes noch dringlicher geworden.
Abgeordnete Ulrike Mascher
Leider sieht es auf der Seite der Regierungskoali-
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die tion anders aus. Da darf zwar eine Gruppe von CDU-
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei Abgeordneten aus Ostdeutschland mit einem Grup-
die Gruppe der PDS fünf Minuten erhalten soll. - Ich penantrag in der Öffentlichkeit auftreten; aber offen-
sehe keinen Widerspruch. Wir verfahren so. bar gibt es dafür keine Mehrheit in der CDU und
schon gar keine in der CSU, so daß ich den Eindruck
Es beginnt die Kollegin Ulrike Mascher.
habe, es handelt sich dabei vor allem um Spielmate-
rial für den 22. Oktober 1995, für den Wahltag in Ber-
Ulrike Mascher (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kol- lin.
leginnen! Liebe Kollegen! Warum befassen wir uns -
heute kurz nach Mitternacht mit einer Korrektur des (Beifall bei der SPD, beim BÜNDNIS 90/DIE
Renten-Überleitungsgesetzes? Wenn ich die mate- GRÜNEN und bei der PDS)
rielle Bedeutung des Renten-Überleitungsgesetzes Aber ich lasse mich gerne überraschen, sollten die
für viele Menschen in den neuen Bundesländern be- CDU und die CSU eine Korrektur des Geburtsfehlers
trachte, wenn ich die vielen B riefe lese, die mich als des RentenÜberleitungsgesetzes versuchen.
Ausschußvorsitzende zu diesem Gesetz erreichen,
Es muß doch auch für Sie bitter sein, daß die große
Die zu Protokoll gegebenen Reden werden als Anlage 3 zum Leistung, die rasche Angleichung der ostdeutschen
Stenographischen Be richt über die 62. Sitzung abgedruckt. Renten, die ganz erhebliche Verbesserung der mate-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5241
Ulrike Mascher
riellen Situation der großen Mehrheit der Rentner ten diese Debatte ganz bewußt heute oder, besser
und Rentnerinnen, durch die Vermischung von gesagt, gestern vor allem und auch, weil uns Ihr Ge-
Rentenrecht und politischem Werturteil verdunkelt klingel mit der Rentenüberleitung im Berliner Wahl-
wird. Die Folgen sind fatal. Viele Menschen in Ost- kampf langsam unerträglich wird.
deutschland haben durch diese Vermischung von
(Beifall bei der PDS)
Rentenrecht und politischem Werturteil das diffuse
Gefühl, ihnen sei bei der Überleitung des Rentensy- Sie vermitteln über die Medien, in Veranstaltungen
stems der DDR in die gesetzliche Rentenversiche- und die Koalition in sogenannten Wohnzimmerge-
rung etwas weggenommen worden, selbst wenn sie sprächen ein Bild, als wären wir mitten im gesetzge-
von den Kürzungen gar nicht persönlich betroffen berischen Prozeß und als käme zum 1. Januar 1996
sind. Das ist angesichts der erheblichen Transferlei- eine Gesetzesänderung. Nicht nur in Berlin, sondern
stungen der gesetzlichen Rentenversicherung sicher in allen neuen Bundesländern werden die Betroffe-
nicht gerechtfertigt. Aber dieses Gefühl läßt sich poli- nen derart getäuscht. Die Befürchtung liegt nahe,
tisch vortrefflich ausbeuten. daß der „heiße Herbst" in Sachen Rente am
22. Oktober beendet sein wird.
Damit komme ich zum formalen Anlaß unserer mit-
ternächtlichen Debatte. Die PDS hat einen Be ri cht Wie groß waren die Wahlversprechen vor der Bun-
über den Stand der Beratungen gemäß § 62 der Ge- destagswahl? Ein Jahr ist herum, doch passiert ist
schäftsordnung verlangt. Dieser Berichtswunsch hat nichts. Einzig der Gesetzentwurf der PDS befindet
mich als Ausschußvorsitzende etwas verwundert, sich in der parlamentarischen Beratung. Warum ha-
ben Sie von der SPD Ihren Gesetzentwurf vom 31.
(Dr. Dagmar Enkelmann [PDS]: Das steht
Mai heute nicht zur Debatte gestellt,
uns zu!)
(Beifall bei der PDS)
da von der PDS bisher nicht der Antrag gestellt
wurde, ihren Gesetzentwurf im Ausschuß zu beraten warum nicht die Koalitionsfraktionen den lange an-
und damit auch eine zweite und dritte Lesung im Ple- gekündigten und nun mit dem 6. Oktober datierten
num zu erreichen. Antrag von 57 im Osten und in Berlin gewählten Ab-
geordneten?
(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist
ja interessant!) Was den heutigen Zeitpunkt betrifft, muß ich sa-
gen: Es gibt eine Mehrheit im Ältestenrat. Ihre Parla-
Ich habe Zweifel, ob diese Debatte zur Geister- mentarischen Geschäftsführerinnen und -führer ha-
stunde eine Ergänzung, eine Korrektur des Renten-
ben letztlich beschlossen, daß der Tagesordnungs-
Überleitungsgesetzes voranbringt punkt hier zu so später Stunde diskutiert wird.
(Dr. Dagmar Enkelmann [PDS]: Wir hätten Wie ernst ist es Ihnen tatsächlich mit einer Korrek-
das gerne eher gehabt!)
tur? Oder frönen Sie bereits wieder Ihrer Gepflogen-
- wenn Sie es gerne eher gehabt hätten, dann hätten heit, daß einige wenige Herren im stillen Kämmer-
Sie die Aufsetzung verlangen müssen; ihre Obfrau lein etwas aushandeln, was die Masse der Abgeord-
hat das nicht getan - oder ob wir heute nacht nach neten im Eilverfahren schlucken so ll, wie es im Juni
der Melodie „Zwölfmal werden wir noch wach, und 1991 zwischen den Herren Blüm, Seehofer und Dreß-
dann ist Wahltag in Berlin" antreten durften. ler beim sogenannten Kompromiß zum Renten-Über-
leitungsgesetz geschah? Heute ist jedenfalls Gele-
(Birgit Homburger [F.D.P.]: Sehr richtig!) genheit, einigermaßen offiziell Position zu beziehen,
Jedem auf allen Seiten dieses Parlaments, der sich auch wenn die Debattenzeit mit 30 Minuten wieder
ernsthaft mit den schwierigen Fragen einer Korrek- sehr kurz und die nächtliche Stunde der Dimension
tur des Renten-Überleitungsgesetzes beschäftigen des Problems keineswegs angemessen ist.
will, empfehle ich die Lektüre des Protokolls der gro- (Beifall bei der PDS)
ßen Anhörung am 21. Juni. Denn dabei wird, unab-
hängig von kurzatmiger Wahltaktik, deutlich: Der Meine verbleibende Redezeit will ich dazu nutzen,
Bundestag hat beim Renten-Überleitungsgesetz Ihnen unseren Standpunkt zu Ihren bisher bekannt-
noch etwas nachzuarbeiten. Ich hoffe im Interesse gewordenen Vorschlägen mitzuteilen. Neben den
der deutschen Einheit noch immer, daß wir das auch bereits genannten beziehe ich mich auch auf den Ge-
schaffen. setzentwurf des Berliner Senats, der morgen im Bun-
desrat beraten wird.
Danke.
Lassen Sie mich eines vorausschicken: Bei der Ab-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne schaffung des politischen Strafrechts im Rentenrecht-
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ist unsere unerbittliche Forderung, die allgemeine
Bemessungsgrenze für alle ohne Abstriche und Ein-
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Vom Geschrei wer- schränkungen anzuwenden.
den die Renten nicht korrigiert. (Beifall bei Abgeordneten der PDS)
Jetzt hat die Abgeordnete Petra Bläss das Wo rt . Bemerkenswert finden wir, daß die SPD hier im
Bundestag und in Berlin unterschiedliche Wege geht.
Petra Bläss (PDS): Frau Präsidentin! Meine Damen Während im Gesetzentwurf der Bundestagsfraktion
und Herren! Ich sage es Ihnen ganz offen: Wir woll die allgemeine Bemessungsgrenze pur gefordert
5242 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Petra Bläss
wird, gestaltet der Senatsentwurf den Ansatz aus, tel der Rentnerinnen und Rentner im Osten erhalten
das Einkommen von bisher als staatsnah Eingestuf- sonst zum Teil bis ins nächste Jahrtausend hinein
ten von Überhöhungen zu bereinigen. Leider verläßt keine Rentenerhöhungen mehr. Das bet rifft rund
Frau Stahmer dabei ihre am 10. Mai hier in Bonn ge- 400 000 Männer und mehr als 1,7 Millionen Frauen.
äußerte Position, und sie führt für die Angehörigen Das empfinden wir als skandalös.
des ehemaligen MfS per Einkommensbereinigung
noch eine gesonderte Bemessungsgrenze bei 1,4 ein. (Beifall bei der PDS)
Das bleibt Willkür.
Hinter vielen Auffüllbeträgen verbergen sich auch
Der Vorschlag der Ost-CDU vermittelt den An- sozialpolitisch progressive Elemente des DDR-Ren-
schein von rentenrechtlicher Akribie. Danach sollen tenrechts, insbesondere für Frauen, die eine Gnaden-
für MfS-, zusatz- und sonderversorgte Personen, die frist erhielten.
- ich zitiere - „auf Grund eigener politischer Verant-
wortung ein überhöhtes Einkommen bezogen", Ta- Unser Vorschlag zur weiteren Gewährung des So-
bellenwerte des SGB VI Anlage 14 angewendet wer- zialzuschlags für Niedrigstrenten soll einen Anstoß
den. für die dringend erforderliche Verbesserung des
Aber der Teufel steckt bekanntlich im Detail. Frauenrentenrechts in Ost und West geben. Dazu hat
Wenn statt der dort aufgeführten, das gesamte ge- sich dieses Haus bekanntlich über alle Parteigrenzen
sellschaftliche Tätigkeitsspektrum umfassenden hinweg im Juni 1991 anläßlich der Verabschiedung
23 Tabellen nur die mit den jeweils niedrigsten Ver- des Rentenüberleitungsgesetzes verpflichtet. Packen
diensten angewandt werden, kommt verschärftes wir es also endlich an!
Strafrecht heraus, nämlich Entgeltpunkte von 0,5 bis
(Beifall bei der PDS)
maximal 1,15. Einige kommen aus dem Strafrecht
heraus, für andere wird es verschärft. Wie wollen Sie
das alles mit der Wertneutralität des Sozialrechts
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt
vereinbaren?
der Abgeordnete Volker Kauder.
In Berlin wird propagiert, der Senatsentwurf
schaffe das Versorgungsunrecht ab, indem ergän-
zend zur Überführung der Zusatz- und Sonderversor- Volker Kauder (CDU/CSU): Frau Präsidentin!
gungen in die gesetzliche Rentenversicherung eine Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist
zusätzliche Altersversorgung geschaffen werden soll. nicht verwunderlich, daß die PDS einen Antrag auf
Allerdings bleibt der Gesetzentwurf des Senats bei Änderung des Rentenüberleitungsgesetzes im Ja-
der Absichtserklärung stehen, das für „noch zu be- nuar dieses Jahres einbringt - es sind keine zwölf
stimmende Personenkreise" in einem besonderen Nächte mehr, sondern nur noch zehnmal müssen wir
Gesetz zu tun. Es scheint also wieder einmal so, als aufwachen, einschließlich heute, bis die Wahl in Ber-
müsse die PDS die Initiative ergreifen und detail- lin ist -, um vor der Wahl noch ein bißchen Rabatz für
lierte Vorschläge machen. sich zu machen. Aber, Frau Bläss, der wahre Skan-
dal, den Sie angesprochen haben, ist nicht der, daß
Uns erfreut, daß sich inzwischen alle für die Über- wir unser bewährtes Rentensystem in die neuen Bun-
führung der Dienstbeschädigten- in Unfallrenten ein- desländer übertragen haben, sondern als den wah-
setzen. Ein kleiner Hinweis am Rande für die Kolle- ren Skandal habe ich immer empfunden, daß Ihre
ginnen und Kollegen der CDU: Es geht hierbei nicht Vorgänger - und viele von Ihnen haben dazugehört -
um Dienst „beschäftigungen", wie Sie seit dem Früh- die alte Generation, die älteren Menschen in der ehe-
jahr schreiben, sondern um Dienstbeschädigungen, maligen DDR in die Armut getrieben haben
also Arbeitsunfälle im Dienst bei bewaffneten Orga-
nen. Ebenso erfreulich ist, daß Beschwernisse für (Beifall bei der CDU/CSU)
Bahn- und Postbeschäftigte auch vom SPD- und Se-
natsentwurf aufgegriffen wurden. und die alten Menschen so gedemütigt haben, daß
Unerklärlich bleibt uns aber Ihre permanente Ver- sie nur dann in die Bundesrepublik Deutschland aus-
weigerungshaltung gegenüber einem wesentlichen, reisen konnten, wenn die Verwandten in der Bundes-
in unserem Gesetzentwurf angepackten Problem- republik auch garantiert haben, daß sie sie finanziell
kreis, den sogenannten Überführungslücken, die unterhalten.
sich aus DDR-typischen, mit bundesdeutschen Ver-
Dies war die Demut. Das war ein Skandal und
hältnissen nicht vergleichbaren Sachverhalten erge-
nichts anderes. Da brauchen Sie gar nicht so hochnä-
ben. Wenn rentenrechtliche Zeiten hier anerkannt sig zu lachen.
würden, avancierte ein Großteil der derzeitigen Auf- -
füllbeträge in anpassungsfähige Renten. Wir fordern (Zurufe von der PDS - Gegenrufe von der
Sie deshalb auf, schnellstens gesetzgeberisch tätig CDU/CSU)
zu werden, damit der rentenrechtliche Skandal, der
sich ab 1. Januar 1996 anbahnt, vermieden wird. - Ja, es ist immer so. Sie wollen nicht an das erinnert
(Beifall bei der PDS) werden, was Sie da drüben angerichtet haben, aber
das werden wir Ihnen immer wieder sagen. Es ist
Die Auffüllbeträge dürfen jetzt, wo die Anglei- auch bezeichnend für die PDS, daß sie nicht von den
chung der Einkommensverhältnisse noch in weiter 99 % der Rentner spricht, die durch die Überleitung
Ferne steht, nicht abgeschmolzen werden. Zwei Drit des Rentenrechtes von den alten Bundesländern auf
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5243
Volker Kauder
die neuen in ganz hervorragender Weise begünstigt führen. Entweder Herr Kauder kann jetzt reden - -
werden, sondern daß sie sich immer noch um große Herr Kauder, darf ich zuvor fragen, ob Sie eine Zwi-
Teile derjenigen kümmert, die zu ihren alten Kadern schenfrage der Abgeordneten Höll zulassen?
gehören.
(Beifall bei der CDU/CSU - Zurufe von der Volker Kauder (CDU/CSU): Ich lasse auch keine
PDS) Zwischenfrage zu. Die PDS spricht schon genügend
im Deutschen Bundestag, sie braucht nicht noch Fra-
Durch das Rentenüberleitungsgesetz gilt ein ein-
gen zu stellen. Wir hätten Fragen an sie zu stellen,
heitliches Rentenrecht in ganz Deutschland: Gleiche
nicht sie an uns.
Altersgrenze, gleiche Witwenversorgung, gleiche Be-
wertungsmaßstäbe. (Dr. Barbara Höll [PDS]: Das ist eine ganz
Das bewährte System der lohn- und beitragsbezo- konkrete Sachfrage, die ich stellen möchte!)
genen Rente wurde auch in den neuen Bundeslän- Unrichtig ist auch die Behauptung, daß die Zusatz-
dern eingeführt, und das Rentenüberleitungsgesetz
versorgung nicht in das neue Rentenrecht überge-
brachte für die Rentnerinnen und Rentner in den
führt worden sei. Richtig ist vielmehr, daß der Ge-
neuen Bundesländern entscheidende Verbesserun- samtanspruch aus Sozialversicherung und Zusatzver-
gen. Seit Juli 1995 beträgt die verfügbare Eckrente in
sorgung an der Beitragsbemessungsgrenze orientiert
den neuen Bundesländern rund 80 % der Westrente,
werden muß, der in der Rentenversicherung auch im
während es im Juli 1990 noch knapp 30 % waren. Westen gilt. So kam es zu den Begrenzungen, die im
Die Witwenrente wurde entscheidend verbessert. System liegen und bei deren Nichtanwendung eine
150 000 Witwen erhielten erstmals eine Rente; das Bevorzugung gegenüber den Rentnern in den alten
hat es früher gar nicht gegeben. Bundesländern stattfinden würde.

Die allermeisten Rentnerinnen und Rentner - und Die PDS soll dann mit ihrem Antrag auch offen sa-
dies sage ich ganz klar - sind deshalb auch zufrie- gen, daß es ihr darum geht, beispielsweise die Ange-
den. Sie können mit ihrer Rente jetzt erstmals über- hörigen der früheren Stasi besserzustellen, als sie
haupt etwas anfangen. jetzt dastehen. Dies müssen Sie klar sagen, und dies
müssen Sie dann vor allem auch vor denen vertreten,
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) um die Sie sich als Opfer des ehemaligen Systems
bisher nicht gekümmert haben.
Durch die ständigen Attacken auf das Rentenüber-
leitungsgesetz versucht die PDS den Eindruck zu er- Wir haben uns in der Koalitionsvereinbarung ver-
wecken, als ob den Rentnerinnen und Rentnern in pflichtet, die bisherigen Begrenzungen im Renten-
den neuen Ländern etwas genommen wurde. Richtig überleitungsgesetz zu überprüfen. Herauskommen
ist aber, daß den Rentnern etwas gegeben wurde, kann bei dieser Überprüfung allerdings allenfalls
was sie bisher gar nicht hatten. Genommen wurde eine größere Feinsteuerung, aber keine Umkrempe-
denen etwas, die in der roten Diktatur bevorzugt wa- lung des ganzen Systems. Voraussetzung dafür ist
ren. Es war der Wi ll e des Einheitsvertrages, daß Privi- aber - und dies, Frau Mascher, sage ich vor allem
legien aus dem alten System nicht in die Rente fort- auch in Ihre Richtung -, daß die neuen Bundesländer
gesetzt werden dürfen. Es handelt sich also nicht, sich auf einen einheitlichen Vorschlag einigen.
wie die PDS behauptet, um eine Strafe, sondern um
ein Abschneiden von Privilegien. Wir haben auf Antrag der CDU/CSU und der F.D.P.
eine Anhörung im Sozialausschuß durchgeführt. Da
So wurden die Renten bei der Stasi gekürzt und
hat sich gezeigt, daß die Meinungen unter den
bei denjenigen, die auf Grund einer herausragenden
neuen Bundesländern meilenweit auseinanderlie-
Funktion beim Staat oder bei den Parteien gemessen
gen. Vor allem hat sich gezeigt, daß die Vorstellun-
an anderen Positionen überhöhte Gehälter bezogen
gen von SPD-regierten Bundesländern und die der
haben. SPD-Bundestagsfraktion meilenweit auseinanderlie-
(Zuruf des Abg. Dr. Gregor Gysi [PDS]) gen. Sie können also nicht behaupten, daß die Dis-
kussion um die Änderung des Rentenüberleitungs-
- Herr Gysi, Sie hätten Ihren Mut zum Widerspruch gesetzes an Diskussionen innerhalb der Koalition
in der ehemaligen DDR beweisen können, nicht hier scheitert. Sie selbst sind nicht in der Lage, einen ein-
in der Freiheit des Deutschen Bundestages. heitlichen Vorschlag zu präsentieren.
(Beifall bei der CDU/CSU - Erneuter Zuruf Deswegen fand ich es etwas eigentümlich, daß
des Abg. Dr. Gregor Gysi [PDS]) sich die Vorsitzende des Sozialausschusses hier hin-
gestellt und behauptet hat, die SPD habe überhaupt
An diesem Grundsatz lassen wir deshalb auch nicht
keinen Anteil an den Diskussionen gehabt. - Ich bin
rütteln.
schon sehr darauf gespannt, wie die Kolleginnen und
(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Sie sind das Kollegen aus der Fraktion und die aus den neuen
Fettauge auf der roten Suppe!) Bundesländern zusammenkommen werden.

Es ist ganz ausgeschlossen, daß wir eine Ergän-


Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ich sehe keinen zung des Rentenüberleitungsgesetzes durchführen,
Sinn in dieser Debatte, wie wir sie im Augenblick wenn die neuen Länder nicht dabei sind. Sie müssen
5244 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Volker Kauder
nämlich einen ganz erheblichen Teil der Kosten tra- Dr. Christa Luft (PDS): Herr Abgeordneter Kauder,
gen. Sie haben uns mit dem, was Sie gesagt haben, wirk-
lich nicht enttäuscht. Es war abzusehen, daß Sie die-
(Jörg Tauss [SPD]: Wie sehen denn Ihre
ses Thema in Richtung Fürsorge für alte Kader schie-
Vorschläge aus?)
ben würden. Wir fragen uns aber natürlich, weshalb
- Warten Sie es einmal ab. Sie noch am 6. Oktober einen Antrag zur Korrektur
der Renten eingebracht haben, wenn Sie meinen,
Wir führen zur Zeit eine Reihe von Gesprächen dies alles habe nichts mit Wahlkampf zu tun.
darüber, ob wir bei den Beurteilungen von Privile-
gien noch treffsicherer werden können. Einzelfall- Lassen Sie mich aber ein Wort zu den alten Kadern
überprüfungen, die vielfach gefordert werden, um sagen. Ich bin kein Spezialist im Rentenrecht; das
eine größtmögliche Gerechtigkeit erreichen zu kön- gebe ich zu.
nen, werden nicht möglich sein. Das wissen Sie,
(Zurufe von der CDU/CSU: Aber für die al-
meine Damen und Herren von der SPD, ganz genau.
ten Kader!)
Dies würde so viel Zeit in Anspruch nehmen, daß die
allerwenigsten in den Genuß einer überprüften Ich habe aber - nun hören Sie doch einmal zu - sehr
Rente kämen. viel Zulauf in meinem Wahlkreisbüro und fahre
durchs Land. Zwei Beispiele will ich Ihnen nennen.
Die Fortführung der Privilegien der Stasi bezüglich
der Rente - dies sage ich ganz klar - wird es mit uns Erstes Beispiel: Zu mir ist ein Mediziner gekom-
nicht geben. Deswegen lehnen wir auch den Antrag men, der vor zehn Jahren, also noch zu DDR-Zeiten,
aus Berlin und Brandenburg ab. berentet worden ist. Er war ein bekannter Mediziner.
Er war im Ausland anerkannt; um seinen Rat wird
(Beifall bei der CDU/CSU)
auch heute noch gefragt. Heute aber, sagte er mir,
Die PDS, deren Vorgängerin, die SED, die Men- könne er sich nicht mehr die Literatur kaufen, die er
schen in die Altersarmut entlassen hatte, hat ohnehin brauche, um in seinem Beruf fit zu sein und als Rat-
jede Berechtigung verloren, die Rente im geeinten geber auftreten zu können. Er sagte, er könne auch
Deutschland herunterzureden. keine Kongresse mehr besuchen. Dies alles konnte er
von seiner DDR-Rente bezahlen. Heute kann er dies
Nachdem die Meinungen der neuen Länder noch nicht. Heute erhält er ein Drittel dessen, was ein
weit auseinanderliegen, kann ich eine zeitliche Vor- westdeutscher, gleichqualifizierter Kollege erhält.
stellung noch nicht entwickeln. Ich halte es jedoch
für dringend erforderlich, daß wir sehr bald zu einem Was hat das mit irgendwelchen alten Kadern zu
Ende der Diskussion kommen. Die Menschen brau- tun? Außer der Tatsache, daß der Mann hinsichtlich
chen Klarheit, und die wenigen, die mit der Renten- seines Lebensalters alt ist, hat das mit dem, was Sie
überleitung nicht zufrieden sind, dürfen nicht stän- „alte Kader" nennen, nichts zu tun.
dig Irritationen bei den Rentnerinnen und Rentnern
hervorrufen. Wir werden uns deshalb zusammen mit Ein zweiter, noch gravierenderer Fall: Wenn ich in
den neuen Bundesländern bemühen, recht bald die meiner mecklenburgischen Heimat zu Besuch bin,
in der Koalitionsvereinbarung festgelegte Überprü- komme ich durch die Dörfer und treffe viele Bäuerin-
fung abzuschließen. nen. Das sind zumeist Umsiedlerinnen aus Schlesien.
Sie haben nach 1945 ein Stück Bodenreformland be-
Ich sage aber an die Kolleginnen und Kollegen von kommen. Sie sind nicht gleich in den 50er Jahren mit
der PDS: Was Sie hier machen, ist durchsichtig. Sie wehenden Fahnen in die landwirtschaftlichen Pro-
kümmern sich um einige wenige Bürger und meinen, duktionsgenossenschaften gegangen, sondern erst
damit könnten Sie Stimmen fangen. Wir haben aber Anfang der 60er Jahre. Folglich fehlen ihnen heute
gerade in den von Ihnen so gefürchteten Wohnzim- die Jahre, die sie als mithelfende Ehefrauen auf ih-
mergesprächen deutlich machen können, worum es rem privaten Grundstück gearbeitet haben. Das sind
wirklich geht. Wir werden nicht zulassen, daß Sie nicht zwei, drei Jahre, sondern das sind zehn, fünf-
Ihre alten Kader in bessere Situationen bringen und zehn Jahre.
dies mit unwahren Behauptungen auch hier, im
Deutschen Bundestag, noch zu verbrämen versu- Sie können das doch nicht unter „alte Kader" ab-
chen. buchen. Sie müssen diesen Frauen erklären, wie das
mit Ihren Prinzipien übereinstimmt und wie Sie
Wir wollen, soweit dies überhaupt geht, Gerechtig- grundsätzlich diese Problematik lösen wollen. Sie
keit haben. Einzelfallgerechtigkeit wird es wegen müssen die ideologischen Scheuklappen endlich ab-
der Probleme der Überprüfung nicht geben. Wir wer- legen und nicht weiter ein Flickwerk hier vorneh-
den aber nicht zulassen, daß diejenigen, die über men.
viele Jahre hinweg in der DDR die Opfer waren, jetzt (Beifall bei der PDS)
auch noch mit ansehen, daß die Täter hohe Renten
kassieren und sie selbst leer ausgehen. Dies machen
Sie mit uns nicht! Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wo rt zu einer
Kurzintervention hat der Kollege Volker Kauder.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Volker Kauder (CDU/CSU): Frau Kollegin von der
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wo rt zu einer PDS, ich muß Ihnen nach den Fragen, die Sie gestellt
Kurzintervention hat die Abgeordnete Frau Luft. haben, leider bescheinigen, daß Sie wirklich keine
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5245
Volker Kauder
Ahnung vom Rentenrecht haben; denn ansonsten für den Rechtsstaat gekämpft, und das ist für uns ein
hätten Sie solche Fragen nicht stellen können. sehr hoher Wert; ihn werden wir anwenden, und sei
es auch gegen unsere ehemaligen Feinde.
Es geht um die Begrenzung, um das, was Sie
fälschlicherweise immer in übler Polemik als „Ren- Dies ist die Haltung, mit der wir herangehen, und
tenstrafrecht" bezeichnen. Genau die Fälle wie der ich empfinde es als eine große Ehre, diese Politik
des Arztes, den Sie eben genannt haben, sind davon meiner Freundinnen und Freunde aus der Bürgerbe-
überhaupt nicht betroffen. wegung fortzuführen.
(Lachen bei der PDS)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Da findet die Begrenzung nicht statt. Das müssen Sie
jetzt einmal anhören. Es wäre gut, wenn sich noch Wir reden seit vier Jahren darüber, seitdem diese
ein paar mehr in unserem Ausschuß mit diesen Fra- Rentenkürzung damals in das Rentenüberleitungs-
gen beschäftigen würden als eben nur ein oder zwei gesetz hineingenommen wurde. Ich glaube, alle Be-
Kollegen. Man kann nicht reden wie der Blinde von teiligten, aber vor allen Dingen die betroffenen Rent-
der Farbe, wenn es um Sachthemen geht. nerinnen und Rentner sind es inzwischen unglaub-
Wir haben dort keine Begrenzung vorgenommen. lich müde, daß sich da so wenig bewegt. Es ist so viel
Es sind zunächst einmal vorläufige Zahlbeträge, bis darüber geredet worden. Ich sage es jetzt hoffentlich
die Renten in all diesen Fällen ganz konkret ausge- zum letztenmal in diesem Hause: Das Rentenrecht ist
rechnet werden. Die BfA ist ja gerade dabei, dies mit ein denkbar schlechter Ort für Vergangenheitspoli-
tik. Mit den bestehenden Regelungen wird nicht Ge-
einer großen Kraftanstrengung zu bewältigen. Es
werden auch ganz beachtliche Summen nachge- rechtigkeit hergestellt. Vielmehr werden bei dem
zahlt, wenn die tatsächlichen Renten festgestellt wor- Versuch, frühere Privilegien zurückzuführen, neue
den sind. Ungerechtigkeiten geschaffen.
(Zurufe von der PDS)
Manchmal werden sogar die falschen getroffen.
Bringen Sie also nicht alles durcheinander, son- Ich habe vor einigen Tagen den B rief eines Bürgers
dern bemühen Sie sich zumindest, den Sachverhalt bekommen. Er war 27 Jahre lang NVA-Offizier. 1982
zu klären. Wir haben - um es untechnisch zu sagen - ist er nach Verhören durch die Stasi unehrenhaft ent-
im staatsnahen Bereich und bei der Stasi begrenzt, lassen worden. Die üblichen Begründungen: zuviel
bei denen also, die für das System Verantwortung ge- Westkontakte mit der Familie, Feindsender abgehört
tragen haben, bei der NVA usw. Dort haben wir be- und die falschen Gedanken gehegt. 1990 wurde die-
grenzt. ser Mann durch Minister Eppelmann rehabilitie rt .
(Widerspruch bei der PDS) 1995 schreibt ihm das Bundesministerium der Vertei-
digung, daß er vermutlich Ansprüche nach dem
Sie können an den Fakten nicht vorbei! Bei den an- Zweiten SED-Unrechtsbereinigungsgesetz habe. Ein
deren haben wir vorläufige Zahlbeträge. Wir haben Jahr vorher mußte ihm der Rentenversicherungsträ-
dann gesagt, daß nach der Einzelfallüberprüfung, ger mitteilen, daß er für seine 27 Jahre NVA drastisch
wie das bei jedem Rentner in den alten Bundeslän- gekürzte Einkommen für die Rentenberechnung zu-
dern auch ist, die Renten bis zur Beitragsbemes- grunde gelegt bekommt.
sungsgrenze ausbezahlt werden. Diese Renten sind
weit höher, als Sie es in verschiedenen Veröffentli- Es gibt etliche Opfer des SED-Regimes - Sie wis-
chungen sagen. sen, daß sie sich häufig an uns wenden -, die solche
Reden wir also nur von den Begrenzungen, und und ähnliche Fälle geschildert haben. Ich glaube,
dann kommen wir auch sehr schnell zu den Kadern, auch an diesem Fall kann man deutlich machen, daß
von denen ich gesprochen habe. Irritieren Sie die das so nicht gewollt sein kann.
Menschen nicht dadurch, daß Sie sagen, es werde
begrenzt, wo gar nicht begrenzt wird.' (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall bei der CDU/CSU - Zurufe von der
PDS) Die Koalition hat längst den Handlungsbedarf zu-
gegeben. Allerdings haben Sie inzwischen eine der-
art heillos unübersichtliche Lage geschaffen, daß
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Jetzt hat Andrea
selbst eine wirklich hochinteressierte Zeitgenossin
Fischer das Wort.
wie ich den Überblick verloren hat. Da schlagen ost-
deutsche Bundestagsabgeordnete etwas vor, dann ir-
Andrea Fischer (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gendwelche ostdeutschen Ministerpräsidenten, dann
NEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! ostdeutsche Sozialminister. Offensichtlich ist es bei
Herr Kauder hat eben ins Feld geführt, daß die For- der CDU ohnehin ein reines Ostthema, und West-
derung nach Rücknahme der Kürzungen gerade vor deutsche interessieren sich dafür gar nicht.
den Opfern nicht zu vertreten sei. Die Position vom
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wurde in der vergange- (Zurufe von der CDU/CSU: Na, na, na!)
nen Legislaturperiode von unseren Freundinnen und
Freunden aus der Bürgerrechtsbewegung der DDR Fakt ist jedenfalls, daß wir inzwischen überhaupt
entwickelt. Ich habe große Hochachtung vor den Op- nicht mehr wissen, was Sie damit wollen, was Ihre
positionellen der DDR, die gesagt haben: Wir haben Vorschläge sind. Wir erwarten von Ihnen, daß Sie
5246 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Andrea Fischer (Berlin)


endlich sagen, was Sie wollen, und vor allen Dingen, Jetzt vor der Wahl in Berlin macht der Regierende
daß Sie etwas tun. Bürgermeister in Berlin wieder dasselbe. Aber Taten
folgen dem nicht. Das nenne ich üblen Wahlkampf.
(Zuruf von der CDU/CSU: Wir haben doch
etwas eingebracht!) (Beifall bei der PDS - Jochen Feilcke [CDU/
CSU]: Unwahr!)
Wir werden den Antrag der SPD unterstützen und
deswegen keinen eigenen Gesetzesantrag einbrin- Wir haben immerhin Anträge eingebracht mit dem
gen. Wir werden allerdings einen Änderungsantrag Ziel, daß das Rentenrecht überwunden wird.
stellen, nach dem die berücksichtigungsfähigen Ent-
Sie haben eben auch ganz eindeutig in Unkenntnis
gelte für Angehörige der Staatssicherheit auf das in
gesprochen, denn der ärztliche Direktor z. B. ist na-
der DDR übliche Entgelt zurückgeführt werden. Dies
türlich nach der geltenden Regelung ein klarer
ist keine Strafaktion, sondern eine Gleichstellung mit
Staatsnaher. Sie haben überhaupt nicht gewußt, was
allen Bürgerinnen und Bürgern der DDR, da nach-
das ist, als Sie das beschlossen haben. Oder haben
weislich im Bereich des MfS überhöhte Entgelte er-
Sie wirklich geahnt, daß Sie die Ballettmeister, die
zielt wurden.
Leute von der Reichsbahn usw. alle mitbestrafen,
Meine Damen und Herren, ich finde, über diese weil sie natürlich alle in staatlichen Einrichtungen
Frage ist wirklich genug Zeit ins Land gegangen. Es der DDR tätig waren? Das ist das Ergebnis Ihres Ge-
sind genug Worte gewechselt, Briefe geschrieben setzes.
worden. Ich appelliere an das gesamte Haus, daß wir Bei dem Fall der Bäuerin geht es um die Überfüh-
alle zusammen rasch eine Regelung finden, die den rungslücke, weil Sie das Rechtsinstitut des mithel-
Rechtsfrieden wiederherstellt. fenden Familienmitglieds in der Bundesrepublik
Deutschland nun mal nicht kannten, aber das war
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ein Rechtsinstitut in der DDR, das insbesondere den
und bei der SPD) Frauen von Bauern und den Frauen von Handwer-
kern und Gewerbetreibenden einen eigenen Rechts-
anspruch zusicherte, sicherlich keinen hohen, aber
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wo rt zu einer immerhin einen. Und jetzt ist er ganz weggefallen.
Kurzintervention hat der Kollege Gysi. Diese Überführungslücke muß unbedingt geschlos-
sen werden.
(Zuruf von der CDU/CSU: Gerade er! - Zu
ruf von der SPD: Noch ein Betroffener! - Jo (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Unfug!)
chen Feilcke [CDU/CSU]: Ein Staatsferner!
- Heiterkeit bei der CDU/CSU) Eine letzte Bemerkung: Sie haben gesagt, es gehe
nicht um Strafrecht, und dann haben Sie nachgewie-
sen, daß es Ihnen genau darum geht, denn Ihre
Dr. Gregor Gysi (PDS): Der Kollege von der CDU ganze Begründung mit alten Kadern usw. strotzt vor
hat mich darauf hingewiesen, daß ich vielleicht frü- diesem Argument des Strafrechts.
her hätte Widerspruch üben sollen und nicht gerade
jetzt in dieser Gesellschaft. (Zuruf des Abg. Dr. Dietrich Mahlo [CDU/
CSU])
(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Sehr wahr!)
Es geht mir gar nicht um die Rechtfertigung einzel-
Dazu sage ich Ihnen: Sie können überhaupt nicht be- ner Biographien, aber eine Fraktion, die so vehement
urteilen, wann und wo ich Widerspruch geübt habe. dafür gekämpft hat, daß alle Angehörigen der SS, die
Witwe von Freißler und sonstwem, ihre Renten be-
(Widerspruch bei der CDU/CSU) kommen, soll mir in dieser Frage nicht mit Moral
kommen. Es geht genau darum, Rentenrecht und
Ich stelle nur fest, daß Sie selbst in einer Gesell- Moral nicht miteinander zu vermischen.
schaft, wo das ohne jede Schwierigkeit möglich
wäre, nicht einmal den Mut haben, Widerspruch zur (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne-
Regierung zu üben. ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

(Zuruf von der CDU/CSU: Sie wollen alles


Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Kauder.
verdunkeln! - Hartmut Schauerte [CDU/
CSU]: Sie haben in beiden Fällen abkas (Zuruf von der SPD: Jetzt hört damit auf! Es
siert!) wird nicht besser!) -

Zweitens. Sie haben uns Wahlkampf vorgeworfen.


Ich sage Ihnen: Sie führen den übelsten damit. Vor Volker Kauder (CDU/CSU): Herr Kollege Gysi, Ihr
der letzten Bundestagswahl war es Ihre Partei, die polemisches Talent ist bekannt, aber damit können
durch die neuen Bundesländer gereist ist und überall Sie keine Fakten kaputtmachen. Im übrigen nehme
erklärt hat, das Rentenüberleitungsgesetz müsse kor- ich zur Kenntnis, daß Sie die Stasi mit der SS ver-
rigiert werden. glichen haben.
(Zuruf von der CDU/CSU: Stimmt auch!) (Zurufe von der PDS: Oh!)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5247
Volker Kauder
Wenn es sich um einen ärztlichen Direktor handelt, malen Rechts der Geschäftsordnung des Deutschen
dann hätte Ihre Kollegin es auch gleich sehr präzise Bundestages, um - um es im Klartext zu sagen - in
sagen müssen. Es ist natürlich völlig klar, daß ein Berlin Wahlkampf zu machen.
Arzt, der bei der Stasi angestellt war,
(Zuruf des Abg. Gerhard Zwerenz [PDS])
(Lachen bei der PDS - Dr. Gregor Gysi
[PDS]: Kreiskrankenhaus!) Vorgeschoben wird die Begründung, die Beratungen
über das Rentenüberleitungsgesetz würden ver-
natürlich ebenfalls begrenzt wird und daß der Arzt, schleppt.
der als ärztlicher Direktor in einer besonderen Funk-
tion war, ebenfalls begrenzt wird. Festzustellen ist, daß seit der ersten Debatte am
26. Januar dieses Jahres lange Zeit ins Land gegan-
(Zurufe von der PDS: Keine Ahnung!) gen ist, ohne daß das Gesetz bisher hätte beschlos-
Aber das sind ganz wenige, die wir ausdrücklich aus- sen werden können. Diese lange Zeit ist aber mit-
gewiesen haben. Alle anderen sind davon nicht be- nichten Ergebnis einer erfolgreichen Verschlep-
troffen. pungstaktik, sondern vielmehr Ausdruck der
Schwierigkeit, einer akzeptablen Regelung näherzu-
(Zurufe von der PDS: Keine Ahnung!) kommen.
Sie argumentieren mit Dingen, die nicht wahr sind. Es geht um kein geringeres Problem, als den Spa-
Frau Bläss und Herr Gysi, Sie haben gesagt, es inter- gat zu schließen zwischen etwa dem Anspruch der
essiere die Westdeutschen nicht. Ich bin aus West- Frau auf der einen Seite, die mir schrieb:
deutschland und interessiere mich, seit ich im Deut-
schen Bundestag bin, für die Rentenüberleitung. Ich Wir sind doch nicht deshalb auf die Straße gegan-
habe mich bei vielen ostdeutschen Kollegen sehr ge- gen, damit die Strolche, die uns am Hochschul-
nau kundig gemacht, was wirklich vorgegangen ist, studium und adäquater Beschäftigung gehindert,
was wirklich geschehen ist. Wir haben uns um Ge- sogar eingesperrt haben, jetzt auch noch über-
rechtigkeit bemüht. durchschnittliche Renten beziehen,

Ich empfehle Ihnen sehr dringend, sich nicht nur (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
mit den Menschen zu befassen, sondern auch mit
und dem Anspruch des Mannes auf der anderen
den Leuten zu sprechen, die aus der Bürgerbewe- Seite, der unter den Nazis gelitten, sich dann am Auf-
gung kommen, Frau Bohley und anderen. Sie sind
bau eines anderen Deutschland beteiligt hat und
hell entsetzt über das, was Sie gerade wieder vorha-
jetzt auf Grund pauschalierter Staatsnähe Kürzungen
ben, daß eben nicht über die Opfer geredet wird,
seiner Rente hinnehmen muß. Rentenrecht darf nicht
sondern über die, die 40 Jahre dafür Verantwortung
Strafrecht sein, Rentenrecht darf aber auch nicht un-
getragen haben, daß Opfer in der roten Diktatur ent-
gerechtfertigt begünstigen.
standen sind. Deswegen können wir es uns nicht so
leicht machen wie Sie und einfach nach dem Motto Die Bewe rt ung der unterschiedlichen Facetten der
darüber hinweggehen: Die CDU, die F.D.P. und an- DDR-Wirklichkeit und die Umsetzung in anwend-
dere, die sind für die Opfer zuständig, und wir küm- bare Gesetze stellt uns nicht nur vor technische
mern uns um die anderen. So einfach geht die Rech- Schwierigkeiten, sondern auch vor emotionale. Das
nung in diesem Deutschen Bundestag nicht auf. ist zeitraubend. Das ist bedauerlich, aber das ist Rea-
lität. Soweit ich das sehe, ist das in allen Fraktionen
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU -
anzutreffen - in der PDS natürlich nicht; das war
Dr. Gregor Gysi [PDS] meldet sich zur Ent
auch nicht zu erwarten. Im Gegenteil: Für den Ber-
gegnung)
lin-Wahlkampf werden charakterlose Schauanträge
gestellt, die unerfüllbare Erwartungen bei den Be-
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Gysi, wir ha- troffenen wecken sollen.
ben inzwischen 1 Uhr. Bitte! Ich habe die Kurzinter-
ventionen bis jetzt zugelassen. (Beifall bei der CDU/CSU)

(Dr. Gregor Gysi [PDS]: Frau Präsidentin, Die Anträge, die im übrigen erst am 9. Oktober im
wieso muß ich das auf mir sitzen lassen? - Ausschußsekretariat eingegangen sind, belaufen
Zurufe von der CDU/CSU: Setz dich doch sich - jetzt hören Sie genau hin - auf mehr als
mal!) 6,3 Milliarden DM.

Nach dem nächsten Debattenredner ist Schluß.


Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Lühr, gestat- -
(Anhaltende Zurufe von der CDU/CSU und ten sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Höll?
der PDS)
Letzter Debattenredner zu diesem Punkt ist der Uwe Lühr (F.D.P.): Nein, ich gestatte keine Zwi-
Kollege Uwe Lühr. schenfrage. Es ist spät genug.
(Dr. Barbara Höll [PDS]: Lassen Sie doch
Uwe Lühr (F.D.P.): Sehr geehrte Frau Präsidentin! eine Sachfrage zu!)
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Zu dieser
Geisterstunde ist es natürlich verständlich, daß die Die PDS, die sich hier um den Eindruck der Ver-
Emotionen hochgehen. Die PDS bedient sich des for schleppung bemüht, hat noch am 22. September
5248 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Uwe Lühr
einen Änderungsantrag zu ihrem eigenen Gesetzent- Grundwerten der Demokratie verpflichtet sind, so
wurf eingebracht. Von Verschleppung kann hier also wie Sie es, Herr Verteidigungsminister, anläßlich der
wahrlich nicht die Rede sein. Einweihung der Julius-Leber-Kaserne am 5. Januar
1995 in Berlin ausgedrückt haben - ich zitiere -:
Meine Fraktion, die F.D.P.-Fraktion, wird sich wei-
ter darum bemühen, daß der Kappungskatalog auf- Der Soldat der Bundeswehr ist bereit, sein Vater-
gehoben wird und rechtmäßig erworbene Ansprüche land zu schützen und den Frieden zu sichern; er
und Anwartschaften aus Zusatz- und Sonderversor- steht ein für unsere Verfassung, und er über-
gungssystemen und die Versorgungszusagen bei nimmt Verantwortung für Freiheit und Würde an-
Post, Reichsbahn und Gesundheitswesen berück- derer. Julius Leber kämpfte gegen Nationalsozia-
sichtigt werden. lismus und Diktatur - offen, unerschrocken, mit
prinzipientreuer Kraft und vor allem: von Anfang
Ich gehe davon aus, daß die Bundesregierung in an. Das unterscheidet ihn von vielen anderen, bei
allernächster Zeit einen Novellierungsentwurf, der denen Einsicht und Mut zur Gegnerschaft erst im
mit den neuen Bundesländern abgestimmt ist, vor- Laufe der Zeit wuchsen.
legt, und ich hoffe weiterhin, daß dazu ein fraktions-
übergreifender Konsens in diesem Haus möglich ist, 1965 hatte der damalige Verteidigungsminister
wie es bei Rentenfragen üblich ist. Kai-Uwe von Hassel die Gebirgsjägerkasernen in
Füssen und Mittenwald nach Generaloberst Dietl
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. und General Kübler benannt, ohne damals die örtli-
chen Stadt- und Gemeinderäte vorher auch nur zu
(Beifall bei der CDU/CSU)
befragen. Seitdem tragen diese Kasernen die Namen
zweier Militärführer, die ausweislich aller jetzt vorlie-
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ich schließe die genden Studien und nachlesbaren Veröffentlichun-
Aussprache. gen überzeugte Nationalsozialisten der ersten
Stunde waren und die auch dann noch mit Durchhal-
teparolen treu zu ihrem Führer standen, als - um Sie
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
noch einmal zu zitieren - bei anderen „Einsicht und
Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans Mut zur Gegnerschaft im Laufe der Zeit wuchsen".
Büttner (Ingolstadt), Gerd Andres, Klaus Bar- Diet! war bereits maßgeblich am Kapp-Putsch im
thel und weiterer Abgeordneter der Fraktion Frühjahr 1920 beteiligt. Ihm war „bei der Durchfüh-
der SPD rung des Putsches in München eine tragende Rolle
Umbenennung der Generaloberst-Dietl-Ka- zugedacht" - so selbst die in vielen Bereichen unvoll-
serne in Füssen und der General-Kübler-Ka- ständige Studie des Militärgeschichtlichen For-
serne in Mittenwald schungsamtes der Bundeswehr. Er war ein Anhänger
Hitlers der ersten Stunde und hat ihm bereits 1919
- Drucksache 13/1628 - seine Soldaten als Saalschutz zur Verfügung gestellt
Überweisungsvorschlag: und, so die Studie, war zeit „seines Lebens
Verteidigungsausschuß (federführend)
überzeugter Anhänger jener menschenverachtenden
Rechtsausschuß Bewegung" . Deutlich wird dies anhand mehrerer Re-
den, die Diet' u. a. im November 1943 in Süddeutsch-
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die land hielt. Eine Rede Dietls ist z. B. in der Ausgabe
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich des „Donauboten" aus Ingolstadt vom 15. November
sehe keinen Widerspruch. 1943 nachzulesen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wo rt hat der Kol- Im Zusammenhang mit dem sogenannten Kommis-
lege Hans Büttner. sarbefehl, nach dem alle gefangenen sowjetischen
politischen Kommissare zu erschießen waren, stellt
die Studie fest:
Hans Büttner (Ingolstadt) (SPD): Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Bundesminister Waigel Unbestritten ist ..., daß man in den Stäben des
hat heute früh während der Aussprache über die Gebirgskorps Norwegen .. .
fünfjährige Wiedervereinigung unter anderem er-
klärt: Die Aufklärung über das SED-Unrechtsystem - dessen kommandierender General war Dietl seit
bleibt eine zentrale Aufgabe. Recht hat er. Juni 1940 -

Zum Schluß der Tagesordnung steht nun ein Punkt von der Existenz des Befehls und von Erschießun-
an, der ebenso zur Aufarbeitung der deutschen Ge- gen im unterstellten Bereich gewußt hat und daß
-
schichte gehört, nämlich der Umgang mit den Nazi- in dem ihm unterstellten Bereich 1941 und 1942
verbrechen, die Ursache für die Teilung dieses verschiedentlich nach diesem Befehl verfahren
Deutschlands waren. wurde.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Schließlich ist die Verantwortung Dietls für zwei
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Feldstraflager in Finnland festzuhalten. Die Lager
unterstanden der Armee und damit Dietl, der also für
Die Bundeswehr feiert in diesen Tagen ihr 40jäh- die Zustände do rt verantwortlich war. Auf einem von
riges Bestehen als Armee in einem demokratischen Diet! in einer Ansprache als „Bewährungsmarsch"
Deutschland, eine Armee, deren Soldaten den bezeichneten Marsch über 500 km, die von den Ge-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5249
Hans Büttner (Ingolstadt)
fangenen in 30 Tagen zurückzulegen waren, wurden grunde gelegt werden. Ausschlaggebend ist viel-
mindestens 16 Menschen erschossen, entsprechend mehr, ob ihre Gesamtpersönlichkeit und ihr Ge-
der Ankündigung DietIs: „Meine Herren, wer nicht samtverhalten beispielgebend in unsere Zeit hin-
mitkommt, der fällt. " einwirken.
Obwohl die Studie einige fragwürdige Wertungen (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
zugunsten Dietls trifft, ist ihr Ergebnis doch eindeu-
tig: Deshalb ist es mehr als bedauerlich, daß es über-
haupt dieses Antrages auf Umbenennung dieser bei-
Neben sie den Kasernen im Parlament bedarf.
- gemeint ist die „vorbildliche Menschenführung" (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
Dietls - ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
und der PDS)
tritt aber die - auch persönliche - Verstrickung in
die Unrechtstaten des nationalsozialistischen Re- Es muß erwartet werden, daß sich alle demokra-
gimes, die ihn aus der Masse der Wehrmacht tischen Parteien in unserem Land darüber einig sind,
deutlich heraushebt. Nach einem modernen Ge- daß überzeugte Nationalsozialisten nicht Pate für Ka-
schichtsverständnis ist bei der Beurteilung von sernennamen der Bundeswehr stehen können.
Persönlichkeiten eine Reduzierung auf einzelne
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
Elemente - im Fall Dietls auf nur soldatische und
militärische Haltungen und Leistungen - nicht ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
möglich. und der PDS sowie des Abg. Hildebrecht
Braun [F.D.P.])
Kübler, der „Bluthund von Lemberg", war ab Ok-
Das Festhalten an den Namen der beiden national-
tober 1943 Befehlshaber der Operationszone adria-
sozialistischen Generäle ist ein falsches Signal für die
tisches Küstenland. Er wurde 1947 von einem jugo-
Bundeswehr. Den jungen Soldatinnen und Soldaten
slawischen Militärgericht als Kriegsverbrecher zum
Tode verurteilt und hinge richtet. Die Studie des Mili- werden dadurch falsche Vorbilder vermittelt. Das ist
eine gefährliche und auch den eigenen Richtlinien
tärgeschichtlichen Forschungsamtes stellt bei Kübler
widersprechende Traditionspflege, für die Sie, Herr
eine „äußerst positive Einstellung zum Nationalsozia-
lismus" fest. Minister Rühe, die alleinige Verantwortung tragen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
Im Rußlandfeldzug forderte Kübler, als Vergeltung
PDS)
für die Ermordung von 19 verwundeten deutschen
Soldaten sämtliche gefangenen russischen Oberbe- Es ist scheinheilig, rechtsextremistische Vorkomm-
fehlshaber, Kommandeure und Stabsoffiziere zu er- nisse in den Streitkräften in Weisungen zu verurtei-
schießen. len und gleichzeitig ausgewiesene Nazi-Offiziere in
Kasernennamen der Bundeswehr zu dulden. Ganz
Im Kampf gegen die jugoslawischen Partisanen offensichtlich sollen damit rechte Wähler bei der
zeichnete sich Kübler, so die Studie, durch „überzo-
Stange gehalten werden. Deshalb ist es wohl auch im
gene Härte und Brutalität" aus. So ließ er Frauen und
Interesse von bestimmten Vertretern der CDU/CSU,
Kinder erschießen.
diese Debatte zur Geisterstunde durchzuführen,
In seiner Wertung über General Kübler kommt (Zuruf von der CDU/CSU: Die ist schon vor-
selbst das Militärgeschichtliche Forschungsamt der
bei, die Geisterstunde!)
Bundeswehr zu dem Ergebnis:
in der Hoffnung, dieses schäbige und verantwor-
Er
tungslose Spiel unter Ausschluß der Öffentlichkeit
- gemeint ist Kübler - betreiben zu können.

trieb seine Truppen ohne Rücksicht auf perso- (Günther F riedrich Nolting [F.D.P.]: Auch
nelle Verluste an und erweckte damit den Ein- eure Geschäftsführer haben dem zuge-
druck der menschenverachtenden Brutalität ei- stimmt!)
nes Hasadeurs. Die allermeisten Vorgesetzten der Bundeswehr, die
Im Traditionserlaß der Bundeswehr aus dem Jahre ein integraler Bestandteil unserer Demokratie gewor-
1982 heißt es u. a.: den ist, stehen fest und überzeugt zu den Grundwer-
ten unseres Staates. Es ist feige, wenn die politische
Kasernen ... können ... nach Persönlichkeiten Führung der Bundeswehr diese Männer nun unter
benannt werden, die sich durch ihr gesamtes Wir- dem Vorwand angeblicher demokratischer Entschei- -
ken oder eine herausragende Tat um Freiheit und dungsprozesse den Konflikt mit den CSU-nahen Re-
Recht verdient gemacht haben. servistenverbänden austragen läßt, der durch eine
In den Richtlinien für die Benennung von Kaser- skandalöse und von der politischen Führung zu ver-
nen wird ergänzt: antwortende falsche Traditionspflege ausgelöst wor-
den ist.
Bei der Beurteilung, ob Persönlichkeiten der
deutschen Militärgeschichte für die Bundeswehr (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist grotesk!)
überlieferungswürdig sind, können nicht nur sol- Das 40jährige Bestehen der Bundeswehr ist der ge-
datische Haltung und militärische Leistungen zu eignete Anlaß, die Generaloberst-Dietl-Kaserne in
5250 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Hans Büttner (Ingolstadt)


Füssen und die General-Kübler-Kaserne in Mitten- Daran ändert auch eine solche Namensnennung
wald umzubenennen. Dieses Jubiläum der ersten nichts.
deutschen Streitkräfte in einem freiheitlich verfaßten
demokratischen Staat, auf das wir alle gemeinsam (Detlev von Larcher [SPD]: Haben Sie nicht
stolz sein können, ist für Sie, Herr Minister, eine zugehört, Herr Kollege? Wie können Sie so
Chance und Verpflichtung zugleich. Belasten Sie die etwas sagen! - Wilhelm Schmidt [Salzgitter]
Truppe nicht länger mit einer Diskussion, die sie [SPD]: Das ist doch längst in Vorbereitung,
nicht zu verantworten hat, und bedenken Sie in die- wissen Sie das gar nicht?)
sem Zusammenhang auch Ihre Fürsorgepflicht ge- Ihr Antrag berührt außerdem die alte Streitfrage, in
genüber den Soldaten, die bereits jetzt auf dem Bo- welchem Umfang die deutsche Wehrmacht für die
den des ehemaligen Jugoslawiens mit unserer Zu- Untaten des Nationalsozialismus Mitverantwortung
stimmung humanitäre Hilfe leisten und dies auch trug. Trotz erwiesener Kriegsverbrechen muß ich sa-
künftig im verstärkten Umfang zur dauerhaften Si- gen: Das Gros der Wehrmachtsoldaten hat sich ta-
cherung des Friedens tun sollen! Handeln Sie end- delsfrei verhalten,
lich, handeln Sie als wehrhafter Demokrat, und ord-
nen Sie die Namensänderung an! (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE soweit dies unter den mörderischen Umständen ei-
GRÜNEN und der PDS) nes Krieges möglich ist. Die Tragik der Soldaten im
Zweiten Weltkrieg bestand ja gerade darin, daß sie
sich in dem Glauben, für die Heimat zu kämpfen,
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wo rt hat jetzt von einem skrupellosen Regime mißbrauchen ließen.
der Kollege Benno Zierer.
(Dr. E ri ch Riedl [München] [CDU/CSU]: Das
ist die Wahrheit!)
Benno Zierer (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Ver-
ehrte Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich, Den heute noch lebenden Soldaten zur Ehre sei ge-
bevor ich zum Thema selbst Stellung nehme, eine sagt, daß ihre Verstrickung in das dunkelste Kapitel
Bemerkung machen: Gibt es für die Opposition am deutscher Geschichte in den wenigsten Fällen auf
Ende des 20. Jahrhunderts, gibt es für die Opposition persönlicher Schuld beruhte.
im Jahre fünf nach der deutschen Einheit keine be- (Dr. E ri ch Riedl [München] [CDU/CSU)]:
wegenderen Themen, Genauso ist es! Das ist die Wahrheit!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Anders - differenzierter - ist der Anteil persönlicher
Widerspruch bei der SPD) Schuld beim deutschen Offizierskorps zu sehen, wo
keine wichtigeren Probleme als die Umbenennung viele zu Komplizen der Nazis wurden.
von Kasernen? Wer aber mit den Maßstäben von heute das Ver-
halten von damals mißt, der handelt unredlich.
(Detlev von Larcher [SPD]: Unglaublich!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Soll 50 Jahre nach dem Krieg mit einer zweiten Ent-
nazifizierung, mit einer Entnazifizierung von Gebäu- Es ist einfach, aus dem Schutz gesicherter demokrati-
den, begonnen werden? scher Grundrechte heraus Menschen zu verurteilen,
(Detlev von Larcher [SPD]: Was reden Sie (Detlev von Larcher [SPD]: Es geht nicht um
für einen Unsinn!) eine Verurteilung, es geht um Namensände-
rung!)
Hängt denn die Qualität unserer Demokratie von der
Unzweifelhaftigkeit eines militärischen Namenspa- denen ein solcher Schutz damals nicht zuteil war.
trons ab? Das sogenannte Dritte Reich hat viele mitschuldig
werden lassen, die mit dem Ungeist der braunen
Ich meine, dieser Antrag ist der durchsichtige Ver- Machthaber an sich nichts gemein hatten. Als Bei-
such, die Traditionspflege der Bundeswehr - spiel mag der von vielen von uns verehrte General-
(Jörg Tauss [SPD]: Nicht zu fassen! - Wei feldmarschall Rommel dienen,
tere Zurufe von der SPD) (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Von wem
denn?)
den Genossen schon immer ein Dorn im Auge - als
„rückwärtsgewandt", „mit braunen Flecken" zu dif- der aus Einsicht, daß er mit seinem demokratischen-
famieren. Einsatz den Nazis den Weg ebnen half, die tragische
Konsequenz zog.
(Detlev von Larcher [SPD]: Haben Sie nicht
zugehört? - B rigitte Schulte [Hameln] (Uwe Hiksch [SPD]: Das ist ja reaktionär!)
[SPD]: Herr Zierer, so ein Unfug!)
Auch ein Generaloberst Diet! glaubte, seinem
Unsere Bundeswehr als Armee im demokratischen Land dienen zu können
Staat ist über einen dera rt igen Verdacht erhaben.
(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Und den
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Nazis!)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5251
Benno Zierer
und galt bei den Soldaten als großes Vorbild. Er irrte. der auf fast 40 Dienstjahre ohne Krieg stolz war. Das
Aber er glaubte wie so viele in der Wehrmacht und ist angesichts der langen deutschen Militärge-
auch im deutschen Volk an den sogenannten Führer schichte, denke ich, ein sehr erfreuliches Novum. In
und an seinen militärischen Auftrag. den Traditionsrichtlinien der Bundeswehr von 1982
heißt es:
(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Und das
sind die Vorbilder für die Bundeswehr! Das In den Nationalsozialismus waren Streitkräfte
ist unglaublich!) teils schuldhaft verstrickt, teils wurden sie
schuldlos mißbraucht. Ein Unrechtsregime, wie
Ich gebe zu: Aus heutiger Sicht wäre er als Na- das Dritte Reich, kann Tradition nicht begründen.
mensgeber für eine Einrichtung der Bundeswehr un-
geeignet. Das hat auch der Bundesminister der Ver- Am 5. Januar dieses Jahres gab Minister Rühe der
teidigung wiederholt erklärt. größten Kaserne in Berlin den Namen von Julius Le-
(Zuruf von der SPD: Also umbenennen!) ber. Diese begrüßenswerten Bemühungen um demo-
kratisches Selbstverständnis und demokratische Tra-
Es ist eine andere Frage, ob die Einwände gegen ditionspflege in der Bundeswehr werden allerdings
seine Person wie auch gegen General Kübler so groß z. B. durch solche Namen konterkariert.
sind, daß eine Umbenennung der Kasernen in Füs-
sen und Mittenwald zwingend ist. Es ist richtig: Sol- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
che Entscheidungen sollen nicht auf oberster politi- bei der SPD und der PDS)
scher Ebene getroffen werden, sondern sie sollen von Die Belege dafür, daß die Namen gerade von Ge-
unten, von der Bevölkerung, von den do rt gewählten neral Diet! und Kübler im Rahmen einer solchen Tra-
Vertretern der Kommunen kommen. ditionspflege völlig ungeeignet sind, sind gerade
(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Die wur vom Kollegen Büttner genannt worden, auch nach
den nicht gefragt, als die Namen den Kaser den letzten Studien des Militärgeschichtlichen For-
nen gegeben wurden!) schungsamtes. Ich brauche sie nicht zu wiederholen.
General Winfried Wolf hat als Kenner ähnliche Aus-
Das von Ihnen, meine Herren von der Opposition, führungen dazu gemacht.
viel strapazierte Wo rt von der Basisdemokratie bietet
hier die beste Gelegenheit, sie zu praktizieren, oder Wir müssen allerdings feststellen: Das Ministe rium
in Bayern bei der geschaffenen Möglichkeit eines prüft inzwischen sieben Jahre diesen ganzen Kom-
Bürgerentscheids. plex. Ich habe den Eindruck, man versteckt sich im
Grunde hinter dem, was lokal an unzweifelhafter Zu-
Ich darf abschließend sagen: Die CDU/CSU-Frak- stimmung zu diesen Namen vorhanden ist.
tion legt keinen gesteigerten Wert darauf, die be-
stehende Benennung zu ändern. Zwingender Anlaß
besteht nicht. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Nachtwei, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Gysi?
Vielen Dank.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Zuruf von der SPD: Unverschämtheit, so Ja, bitte schön.
eine Rede hier zu halten!)

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster Dr. Gregor Gysi (PDS): Zu den beiden Namen ha-
spricht der Kollege Winfried Nachtwei. ben Sie ausreichend Stellung genommen. Aber Ihr
Vorredner hat darauf hingewiesen, daß man die
Wehrmacht sehr differenzie rt beurteilen müsse und
Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): daß viele dachten, daß sie sozusagen die Heimat ver-
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- teidigen, obwohl sie in Wirklichkeit mißbraucht wur-
gen! Guten Morgen! Herr Kollege Zierer, Sie fragen, den, um einem System zu dienen. Er hat dabei insbe-
ob es kein wichtigeres Thema gibt. Natürlich gibt es sondere Herrn Rommel hervorgehoben.
viele wichtige Themen. Allerdings ist Traditions-
pflege für die Bundeswehr insofern enorm wichtig, Würden Sie mir in der Annahme folgen, daß, wenn
weil es da um eigenes Selbstverständnis und eigene man in Afrika kämpft, man ahnt, daß man nicht seine
Identität geht. Das hat natürlich ganz stark mit der Heimat verteidigt, weil man das eigentlich nur in der
eigenen Vergangenheit zu tun. Zweitens geht es Heimat kann? Wenn man nach Polen, in die Sowjet-
hier, glaube ich, den meisten im Saale nicht darum, union und in viele andere Länder marschiert, muß-
die Traditionspflege bei der Bundeswehr pauschal zu man zumindest davon ausgehen, daß man einen Er-
diffamieren. Da müssen wir genau hinschauen. Das oberungskrieg führt.
werde auch ich versuchen.
(Beifall bei der PDS - Widerspruch bei der
(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Ihnen geht CDU/CSU)
es um etwas ganz anderes, um die Presseer
klärung von dem Büttner!)
Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Vor wenigen Wochen erlebte ich in meiner Heimat- Eine kurze Antwort darauf: Grundsätzlich ja. Ich will
stadt Münster, daß ein General pensioniert wurde, jetzt aber nichts zur Wehrmacht sagen. Es geht hier
5252 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Winfried Nachtwei
um konkrete Namen. Ich glaube, da kommt man wei- Von 443 deutschen Kasernen tragen nur 40 die Na-
ter. men von Soldaten der ehemaligen Wehrmacht. Von
diesen Soldaten waren 13 allerdings Angehörige des
(Beifall bei der SPD - Dr. Erich Riedl [Mün militärischen Widerstands. Die anderen 27 Namen
chen] [CDU/CSU]: So eine Scheinheiligkeit! schaffen uns mehr Probleme als die Namen der ver-
Sie waren in Kuba, in Angola, in Mosam bleibenden 416 Kasernen zusammen.
bik!)
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P., Der
- Herr Riedl, darf ich um Ruhe bitten? - Danke schön. SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
und der PDS)
Allerdings muß ich feststellen, daß diese beiden
Kasernennamen nicht einfach nur als Fall von viel- Diese sind nach Landschaften, nach historischen Per-
leicht militaristischer Folklore abgetan werden kön- sönlichkeiten oder nach der jewei ligen Waffengat-
nen, sondern daß sie auch etwas wie die Spitze eines tung benannt.
Eisberges sind. Wenn wir uns Kasernennamen ins-
gesamt ansehen, müssen wir feststellen, daß ein gro- Ich bin selbst Reserveoffizier der Gebirgstruppe.
ßer Teil dieser Kasernen nach sogenannten Helden Als ich in Mittenwald diente, hieß die Kaserne noch
des Ersten Weltkrieges, von Kolonialkriegen und an- nicht General-Kübler-Kaserne, sondern Pionierka-
deren sogenannten Helden des Zweiten Weltkrieges serne. In Füssen gab es die Jägerkaserne und keine
benannt ist. Sehr viele Namen wurden aus der hitler- Generaloberst-Dietl-Kaserne. Aber die Bundeswehr,
schen Traditionsoffensive von 1936/1937 übernom- eine Friedensarmee mit einem völlig neuen Auftrag,
men und dann beibehalten. suchte Traditionen, die sie betrüblicherweise bei den
Generälen Kübler und Diet' fand.
Wenn solche Namen als Kasernennamen gewählt
werden, hat das Symbolkraft; denn die Bezeichnung Kübler als erster Kommandeur der 1. Gebirgsdi-
von Kasernen nach bestimmten Personen soll vision erfüllte sicher die Vorstellung vieler von einem
Schlichtweg Vorbilder markieren. Wenn man solche deutschen Truppenführer. Er war ein echter Haude-
Art von Kriegshelden in Mengen als Vorbilder dar- gen, der die Gebirgsjäger kompromißlos zu einer Eli-
stellt, soll man sich allerdings nicht wundern, daß tetruppe der deutschen Wehrmacht machte. Daß er
sich an der Basis in einzelnen Einheiten Beunruhi- dabei keinerlei Schranken kannte, störte die Traditi-
gendes tut. Das wurde im letzten Be ri cht des Wehr- onssucher in den 60er Jahren nicht. Die militärge-
beauftragten dargestellt, und zwar in dem Kapitel schichtliche Forschung von heute entlarvt Kübler mit
„Traditionspflege". seiner äußerst positiven Einstellung zum Nationalso-
zialismus allerdings als menschenverachtenden, bru-
Herr Minister Rühe, meiner Meinung nach ist es an talen Hasardeur.
der Zeit, daß Sie in Sachen Kasernennamen endlich
Führungsstärke beweisen. Dafür wäre die Umbenen- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der
nung dieser beiden Kasernen ein sehr wichtiger er- CDU/CSU sowie bei der SPD und der PDS)
ster Schritt. Ansonsten muß sich der Eindruck auf-
drängen, daß Ihr Eintreten für eine demokratische Ich zitiere aus einer offiziellen Untersuchung. Es ist
Traditionspflege in der Bundeswehr nicht ganz ernst nicht meine persönliche Bewertung; aber ich stimme
gemeint ist. ihr zu.
Kübler hat als Vergeltung - hören Sie mir bitte zu -
Danke schön.
für die Ermordung von 19 deutschen Soldaten durch
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Partisanen nachhaltig die Erschießung sämtlicher ge-
bei der SPD und der PDS) fangener russischer Oberbefehlshaber, der komman-
dierenden Generäle, der Kommandeure und Stabs-
offiziere gefordert. General Kübler hat damit unmiß-
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt verständlich zu offensichtlichen Kriegsverbrechen
der Kollege Hildebrecht Braun. erster Ordnung aufgerufen. Er taugt nicht zum Vor-
bild für die Bundeswehr.

Hildebrecht Braun (Augsburg) (F.D.P.): Wertes Prä- (Beifall bei der F.D.P., der SPD, dem BÜND-
sidium! Die Deutschen sind schon ein undankbares NIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS sowie
Volk. Da kämpfen die Generäle Kübler und Dietl jah- bei Abgeordneten der CDU/CSU)
relang mit großem Erfolg. Sie besiegen den bösen
Feind reihenweise, der einfach nicht verstehen will, Er war ein Kriegsverbrecher.
-
daß es der göttlichen Vorsehung entsprechen soll, Die Kübler-Kaserne in Mittenwald mit der Winter-
wenn deutsche Soldaten sein Land besetzen. Sie sor- kampfschule der Bundeswehr wird laufend von Dele-
gen für einen Ruf der neugebildeten 1. Gebirgsdi- gationen aus aller Welt besucht. Sie darf seinen Na-
vision wie Donnerhall. Sie stellen den P rimat der men nicht mehr tragen. Es ist unverständlich, warum
Politik nicht in Frage, sondern lesen dem Führer die das Verteidigungsministerium nicht schon längst ge-
Wünsche von den Lippen ab - und das auch noch mit handelt hat.
glühendem Herzen. - Und dann das! Da kommen
50 Jahre später Politiker und wünschen, daß Kaser- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, des
nen, die man in den 60er Jahren nach den früheren BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
Helden der Truppe benannt hat, umbenannt werden. PDS)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5253
Hildebrecht Braun (Augsburg)
Sehr viel schwieriger ist die Sache mit der Dietl- nämlich Ludwigs II., heranzuziehen, der der Stadt
Kaserne. Diet! zeichnete sich nicht nur durch große Füssen durch seine Schlösser jährlich weit über eine
militärische Leistung aus, sondern auch durch solda- Milli on Touristen beschert und der in den Herzen der
tische Haltung. Er ging anständig mit seinen Unter- Bayern viel tiefer verankert ist, als es Dietl trotz sei-
gebenen um. So nimmt es nicht wunder, daß er vie- nes Charismas je schaffen konnte?
len noch heute als ehrenhafte Persönlichkeit, ja als
väterlicher Freund in Erinnerung ist. Er hatte ein Vielen Dank.
herzliches Einvernehmen mit großen Teilen der Be-
völkerung, die ihm noch heute einen Heiligenschein (Beifall bei der F.D.P., der SPD, dem BÜND-
umhängen wollen. Es ist aber an der Zeit, Heiliges NIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS sowie
von Unheiligem zu trennen. bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dietl war ein zutiefst überzeugter Anhänger des


Nationalsozialismus und Freund von Adolf Hitler. Er Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Es spricht jetzt der
hielt wohl bis zum bitteren Ende die Nazis für die Abgeordnete Gerhard Zwerenz.
Träger einer Bewegung, die das Gute wollte. Er ver-
stand sich als unpolitischer Heerführer, der dem Füh-
rer ohne Wenn und Aber zu dienen hatte. Nach heu- Gerhard Zwerenz (PDS): Sehr geehrte Frau Präsi-
tigem Geschichtsverständnis zeigt er einen eklatan- dentin! Meine Damen und Herren! Mit den Wertun-
ten Mangel an historisch-kritischer Urteilsfähigkeit. gen meines Vorredners könnte ich mich sehr an-
freunden. Ich werde versuchen, noch ein paar neue
Es reicht aber nicht für ein Vorbild unserer Solda- Akzente hinzuzusetzen.
ten, auf soldatische und militärische Leistungen nach
früheren Kriterien verweisen zu können. Ich meine, daß über die lang erwarteten und end-
lich vorliegenden Gutachten des Militärgeschichtli-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des chen Forschungsamtes zu den Fällen Generaloberst
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dietl und General Kübler unterschiedliche Meinun-
Ein Vorbild unserer Bundeswehr kann nur sein, wer gen und Bewe rtungen möglich sind.
selbständig mitdenkt und Befehle daraufhin über-
prüft, ob sie nicht vielleicht verbrecherisch sein Ausgenommen sind die Sätze der Schlußbetrach-
könnten. tungen, in denen beide Gutachter, nachdem sie alles
denkbar Entlastende erwogen haben, die politmora-
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne lische Legitimation zur Verwendung in der Tradi-
ten der CDU/CSU, der SPD, des BÜNDNIS tionspflege der Bundeswehr eindeutig in Abrede
SES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) stellen. Dies ist etwas, was eigentlich unstrittig sein
sollte.
Was von jedem einfachen Soldaten nach dem Prinzip
der inneren Führung erwartet wird, muß erst recht Bei Dietl ist von der „Verstrickung in die Unrechts-
bei einem Heerführer erwartet werden können, der taten des nationalsozialistischen Regimes" die Rede,
Verantwortung über Leben und Tod von Hunderttau- „die ihn aus der Masse der Wehrmacht deutlich her-
senden hatte. aushebt". Im Falle Kübler spricht das Verdikt von
l Dietl wird diesem Anspruch nicht gerecht. Diet „menschenverachtender Brutalität ... eines Hasar-
hatte keinen inneren Bezug zum zentralen Auftrag deurs, der in Rußland und Jugoslawien zu Kriegsver-
unserer Soldaten, nämlich die Freiheit der Menschen brechen aufforderte", was in einem Fall selbst einen
zu verteidigen. Freiheit und Rassismus sind wie NS-Gauleiter dazu brachte, mildernd einzugreifen.
Feuer und Wasser.
Es stellt sich die Frage - sie ist heute noch nicht ge-
Eine Kaserne ist eine Einrichtung der gesamten stellt worden -, weshalb diese Gutachten erst so spät
deutschen Bundeswehr, nicht nur des Ortes, in dem und nach so langer Zeit nach dem Kriege erstellt
sie liegt. Die Soldaten, die in Füssen aus- und fortge- worden sind und weshalb sie, obwohl seit Februar
bildet werden, werden nicht gefragt, ob sie Soldaten 1995 vorliegend, uns, d. h. dem Verteidigungsaus-
sein wollen. Sie haben unserem Land und der Frei- schuß, erst Ende September übergeben worden sind.
heit der Menschen treu zu dienen. Sie haben auch
Anspruch darauf, dies nicht in einer Kaserne zu tun, Es ist allerdings so: Die schlimmsten Fakten in bei-
die nach einem Heerführer benannt ist, für den Frei- den Fällen sind nicht erst durch das Gutachten oder
heit ein Fremdwort war. in jüngster Zeit bekanntgeworden. Ich selbst habe
seit drei Jahrzehnten mehrfach in Büchern und in der
(Beifall bei der F.D.P., der SPD, dem BÜND Presse über diese Fälle berichtet. Aber die Bundes- -
NIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS sowie wehr nimmt Darlegungen freier Autoren offenbar
bei Abgeordneten der CDU/CSU) nicht zur Kenntnis. Die Frage ist, ob sie jetzt die Dar-
Die Sorge für unsere Bundeswehr und ihre Rolle in legungen dieser beiden Gutachten wenigstens zur
unserem Staat gebietet es uns, darauf hinzuwirken, Kenntnis nimmt. Es ist natürlich zu fragen, wie die
daß in absehbarer Zeit - möglichst im Einvernehmen Bundeswehrsoldaten der betroffenen Kasernen und
mit der Stadt Füssen - eine Umbenennung erfolgt. die betreffenden Ortspolitiker von Füssen und Mit-
tenwald, die sich für ihre Kasernenpatrone bisher so
Ich erlaube mir hierzu noch einen Vorschlag: Was vehement und in blindem Lokalpatriotismus einge-
hindert eigentlich den Bund und die Stadt Füssen, setzt haben, nun argumentieren werden, denn nun
den Namen eines f riedlichen bayerischen Königs, müssen sie noch einmal befragt werden.
5254 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Gerhard Zwerenz
Beispiel Kübler, Korpstagesbefehl vom 7. August Die Panzergrenadiere nehmen das Telefonge-
1941: bäude zum dritten Mal. Der Mut ist ungeheuer.
Das Gemetzel ist riesig.
Soldaten! Größer
Die Schlacht von PODWYSSOKOJE ist siegreich Ist der Mut dessen, der dem Befehl
beendet. Widersteht.
Der Feind ist vernichtet.
Ich danke Euch allen. Das ist allerdings nicht die Lyrik von diesen Gene-
Wir neigen uns in Ehrerbietung vor unseren To- rälen, nicht von Kübler und nicht von Dietl. Das ist
ten und grüßen unsere Verwundeten. die Lyrik, das sind sechs Zeilen von Brecht. Nach ihm
Wir grüßen die Heimat. sollte die Dietl-Kaserne jetzt benannt werden.
Es lebe der Führer!
Unterschrift: Kübler Ich danke Ihnen.

Dies ist die typische Kriegslyrik in der Zeit, in der (Beifall bei der PDS und dem BÜNDNIS 90/
gesiegt wurde. Als dann die Niederlage kam, hat DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
man geheult, als die andere Seite, die nun der Sieger SPD)
war, so ha rt in der Lyrik wurde.
Aus Dietls Nazi-Reden und Hitlers Lobreden auf
Dietl brauche ich nichts zu zitieren. Dies hieße nicht Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Es spricht der Bun-
Eulen nach Athen tragen, nein, das hieße Verlegen- desminister der Verteidigung, Volker Rühe.
heiten auf die Hardthöhe tragen. Es wurde schon ge-
sagt - zur Ehre von Minister Rühe kann es noch ein-
mal erwähnt werden -: Er hat sich mehrfach distan- Volker Rühe, Bundesminister der Verteidigung:
ziert. Er hat gesagt, er würde eine Kaserne heute na- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
türlich nicht nach Dietl benennen. Derjenige, der das Gutachten in Auftrag gegeben
hat, bin ich. Nachdem es vollständig war und auch
Als Goebbels 1943 zum „totalen K rieg" aufrief, die völkerrechtlichen Untersuchungen vorlagen,
sandte Dietl ihm dazu aus Norwegen ein Glück- habe ich es unverzüglich dem Verteidigungsaus-
wunschtelegramm. Am selben Tag wurden in Mün- schuß sowie den Kommandeuren vor Ort und auch
chen die Geschwister Scholl verhaftet. Ich meine, den Gemeinden zugeleitet. Der Streit, um den es ei-
hier zeigen sich Zusammenhänge, die bisher ausge- gentlich nur gehen kann, ist: Soll ich entscheiden,
blendet worden sind. Alle diese Zusammenhänge, bevor ich die Betroffenen gehört habe? Ich glaube,
die für sich selbst sprechen, sind leider auch in den das wäre falsch. Das würde im übrigen auch den Re-
beiden Gutachten nicht erwähnt. Ich zitiere aus geln widersprechen, an die ich mich zu halten habe.
Dietls Ingolstädter Rede vom November 1943:
Der Frontsoldat weiß ..., daß sich die Juden der Der sozialdemokratische Verteidigungsminister
ganzen Welt zusammengeschlossen haben zur Hans Apel hat 1982 festgelegt, daß die Traditions-
Vernichtung Deutschlands und ganz Europas. pflege in der Verantwortung der Kommandeure und
Einheitsführer liegt. Bestehende Kasernennamen
Ich verzichte darauf, noch sehr viel schlimmere an- können auf Antrag der Truppe und im Einvernehmen
tisemitische Stellen zu zitieren. Sie sind bekannt. Ich mit den betroffenen Gemeinden geändert werden.
habe sie dutzendfach veröffentlicht. Sie sind vom
„Spiegel" bis zur „Frankfu rter Rundschau" und in Die Kommandeure in Füssen und Mittenwald ha-
Büchern veröffentlicht worden. Sagen Sie mir nicht, ben deshalb von mir den Auftrag erhalten, im Lichte
daß Sie davon nichts gewußt haben! Sie stellen sich der Untersuchungsergebnisse des Militärgeschichtli-
trotzdem auf die Seite dieser Generäle. chen Forschungsamtes zu prüfen und Stellung zu
nehmen, ob sie - und zwar erstmals auf der Grund-
Der CSU-Abgeordnete Rossmanith, der heute hier lage dieser eindeutigen Dokumente - die Namen ih-
auch allerhand zu sagen hat, schrieb über Dietl: rer Kasernen noch für vertretbar halten. Die Gemein-
Generaloberst Dietl war und ist auch heute noch den sollen in die Diskussionen einbezogen werden.
für mich ein Vorbild in menschlichem und soldati- Auch sie haben die Studien erhalten.
schem Handeln.
Ich denke, es ist in der Demokratie guter Brauch
(Zurufe von der SPD und der PDS) und vernünftig, die Betroffenen vor einer Entschei-
dung an der Meinungsbildung zu beteiligen, um De-
Dies wird auch vom weit überwiegenden Teil der krete von oben zu vermeiden.
Bevölkerung im Südbayerischen und dem daran
angrenzenden Gebiet so gesehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. -
Ich frage mich: Wieso beleidigt er eigentlich diese Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: So macht
Bevölkerung? man das!)

Ich lese voller Verzweiflung, voller Trauer in sol- Die Menschen vor Ort müssen notwendige Ent-
chen Situationen etwas anderes. Ich lese zum Bei- scheidungen mittragen, wenn wir unnötige Verhär-
spiel: tungen vermeiden wollen. Denn Tradition muß von
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5255
Bundesminister Volker Rühe
den Menschen in der Bundeswehr, in den Gemein- zogen - sie haben übrigens auch tapfer an der Front
den und Regionen gelebt werden, wenn sie in der gekämpft, um das einmal deutlich zu sagen - und
Zukunft tragen soll. aus voller Überzeugung daran mitgewirkt, die Bun-
deswehr im demokratischen Staat zu verankern.
(Zuruf von der SPD: Aber doch nicht jede
Tradition! — Abg. Gerald Häfner [BÜND Sie haben die Innere Führung mit dem Leitbild
NIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer des Staatsbürgers in Uniform für die Armee in der
Zwischenfrage) Demokratie entwickelt. Darauf baut die eigene Tra-
dition auf, die unsere Bundeswehr in den letzten
- Warten Sie doch ab, Sie können ruhig Platz neh- 40 Jahren gebildet hat und auf die sie stolz sein
men. kann.
Bei der Frage, ob die Dietl-Kaserne in Füssen und Daher habe ich auch Kasernen nach Persönlichkei-
die Kübler-Kaserne in Mittenwald umbenannt wer- ten der Gründergeneration der Bundeswehr be-
den sollen, geht es im Kern darum, wie die Bundes- nannt: die Generalleutnant-Graf-Baudissin-Kaserne
wehr mit der Geschichte, mit der militärischen Tradi- in Hamburg und die Johannes-Steinhoff-Kaserne in
tion und dabei insbesondere mit der Wehrmacht um- Berlin-Gatow.
geht. Das hat auch die Debatte gezeigt.
Von den 368 Kasernen der Bundeswehr sind der-
Die Bundeswehr stellt sich der ganzen deutschen zeit 179 nach Persönlichkeiten der Geschichte be-
Geschichte mit ihren Höhen und Tiefen. Tradition ist nannt. Die Namen umfassen Politiker, Wissenschaft-
aber nicht Geschichte. Tradition ist verantwortungs- ler, Schriftsteller, Künstler und Soldaten aus den letz-
bewußte Auswahl aus der Geschichte. Sie orientiert ten drei Jahrhunderten. Alle sind Ergebnis eines
sich am Werterahmen unserer Verfassung. Die Bun- Meinungsbildungsprozesses von unten. Häufig sind
deswehr stützt sich deshalb vor allem auf die freiheit- regionale Bezüge für die Namensvorschläge maß-
lichen Werte der deutschen Militärgeschichte. Die geblich gewesen.
preußischen Reformen und der deutsche Widerstand
gegen Hitler stehen daher im Zentrum der Traditi- Stets hat es dabei engagierte Befürworter und
onspflege der Bundeswehr. Gegner gegeben, bei einigen Namensgebern mehr,
bei anderen weniger. Das liegt in der Natur der Sa-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so che. Wo immer Namensgebungen nach Persönlich-
wie bei Abgeordneten der SPD) keiten der Geschichte erfolgen, ist der Grat schmal,
auf dem man sich bewegt. Es geht um Menschen mit
Ich habe mit der Wahl des Bendler-Blocks zum ihren Vorzügen und ihren Fehlern. Deshalb ist die
zweiten Dienstsitz in Berlin, den Namensgebungen Gesamtpersönlichkeit so wichtig und nicht nur be-
für die Dr.-Julius-Leber-Kaserne, die Henning-von- stimmte Facetten.
Treskow-Kaserne in Potsdam und gerade in den letz-
ten Tagen für die Wilhelm-Leuschner-Kaserne in Dies war ein maßgeblicher Grund für den Auftrag
Hennickendorf entsprechende Akzente gesetzt. an das Militärgeschichtliche Forschungsamt, zu Küb-
ler und Dietl geschichtswissenschaftliche Untersu-
Die Wehrmacht war als Organisation des Dritten chungen vorzulegen, die umfassende Aussagen zu
Reiches, in ihrer Spitze, mit Truppenteilen und mit ihrer Persönlichkeit machen. Und daß Sie hier heute
Soldaten in Nazi-Verbrechen verstrickt. Daran gibt so breit zitieren konnten, haben Sie allein mir zu ver-
es keinen Zweifel. Als Institution Wehrmacht kann danken, der diese Gutachten do rt in Auftrag gege-
und darf sie deshalb keine Tradition begründen. ben und sie vollständig dargelegt hat.
Nicht die Wehrmacht, aber einzelne Soldaten kön- (Zuruf von der SPD)
nen traditionsbildend sein, wie die Offiziere des
20. Juli, aber auch wie viele Soldaten im Einsatz an - Gut, ich w ill das nicht weiter hochstilisieren; aber
der Front. Wir können diejenigen, die tapfer, aufopfe- es ist eine Tatsache.
rungsvoll und persönlich ehrenhaft gehandelt haben,
(Erneuter Zuruf von der SPD)
aus heutiger Sicht nicht pauschal verurteilen.
- Es ist etwas anderes, wenn Sie aus der Presse zitie-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, ren, als wenn Sie hier aus den Dokumenten des Mili-
der F.D.P. und der SPD) tärgeschichtlichen Forschungsamtes der Bundes-
Ich nehme auch nicht an, daß das irgend jemand ma- wehr zitieren. Das gibt eine ganz andere Autorität,
chen würde. und es war mir wichtig, eine solche Autorität zu
schaffen.
Immer geht es um die Frage nach der individuel- -
len Schuld oder dem individuellen Verdienst. Dabei (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
dürfen wir uns natürlich nicht nur auf rein militäri-
sche Haltungen und Leistungen beschränken. Ent- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Minister, ge-
scheidend sind Gesamtpersönlichkeit und Gesamt- statten Sie jetzt eine Zwischenfrage des Abgeordne-
verhalten. ten Häfner?
Ehemalige Soldaten der Wehrmacht haben die
Bundeswehr mit aufgebaut. Offiziere wie die Gene- Volker Rühe, Bundesminister der Verteidigung: Ja,
rale de Maiziere, Graf Baudissin und Graf Kiel- da ich kurz vor dem Ende bin, hat er vielleicht jetzt
mannsegg haben die Lehren aus der Geschichte ge die letzte Chance. Bitte.
5256 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich Deswegen verdient es auch zu dieser Stunde, daß Sie
bedanke mich herzlich, Herr Minister, daß Sie gesagt eine kurze Inte rvention auch noch von denen, die
haben, Sie wollen dies alles demokratisch gestalten. sich um diese Debatte bemüht haben, bekommen.
Da freue ich mich, daß auch noch eine Frage zulässig
ist. Ich möchte darauf hinweisen, daß in Ihren Ausfüh-
rungen die Frage offengeblieben ist, warum Sie wäh-
Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß ich rend Ihrer Amtszeit so lange gebraucht haben, um
dieses Thema in der 11. Legislaturpe riode des Bun- die Entscheidung des Petitionsausschusses und die
destages hier im Hause zum Gegenstand der Diskus- Entscheidung des Hauses über die Empfehlung des
sion gemacht habe, daß dann nach langen Debatten Petitionsausschusses, nämlich die Namen abzulegen,
im Ausschuß der Bundesminister der Verteidigung vorzubereiten.
beschlossen hat, beim Militärgeschichtlichen For-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
schungsamt ein Gutachten in Auftrag zu geben, daß
wir über dieses Gutachten, das ausgesprochen um- Sie haben, Herr Bundesminister, zu Recht ausge-
fangreich und im Ergebnis sehr klar war, hier im führt, Tradition sei verantwortungsvolle Auswahl der
Deutschen Bundestag ausführlich diskutiert haben, Geschichte. Ich möchte Sie mit einem Satz unseres
daß der damalige Bundesminister der Verteidigung geschätzten verstorbenen Kollegen Hugo Brandt aus
dann gesagt hat, er wolle mit den Bürgermeistern, einer ähnlichen Debatte über Tradition konfrontie-
mit den Standortältesten usw. in ein Gespräch eintre- ren, in der er gesagt hat: „Du bist nicht frei in der
ten, und daß heute, sieben Jahre später, nichts ge- Wahl deiner Geschichte, aber frei in der Wahl der
schehen ist, und können Sie mir vor diesem Hinter- Tradition, in der du Geschichte pflegen willst."
grund sagen, wie lange der Nachdenkensprozeß
jetzt noch dauern wird, bis ein Ergebnis zu verkün- Glauben Sie, Herr Bundesminister, daß die Namen
den ist? Baudissin oder Leuschner nicht in ihrer Würde ange-
tastet werden, wenn sie neben Diet! und Kübler ste-
hen?
Volker Rühe, Bundesminister der Verteidigung:
Das Gutachten ist nicht vergleichbar. Ich glaube, das, (Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/
was wir jetzt vorgelegt haben, ist wirklich eine ver- DIE GRÜNEN sowie des Abg. Gerhard
nünftige Basis für eine Entscheidung. Wenn Sie noch Zwerenz [PDS])
einen Augenblick gewartet hätten, hätten Sie auch Sie haben, was auch eine Auseinandersetzung ver-
alles erfahren. dient, auf die Demokratie von unten nach oben hin-
Diese Gutachten sind jetzt Grundlage für eine fun- gewiesen. Wir begegnen uns hier mit unterschied-
dierte und verantwortliche Diskussion vor O rt . Dieser lichen Auffassungen. Auch Demokratie von unten
Prozeß ist in beiden Garnisonen im Gange. Ich habe nach oben hat Schranken. Sie hat Schranken, Herr
einen Termin gesetzt: Ich erwarte die Stellungnah- Bundesminister, liebe Kolleginnen und Kollegen,
men der Truppe bis zum Ende dieses Monats. Durch wenn dabei Verbrechen und eine Gesinnung im
eine simple Frage hätten Sie das von mir auch vorher Spiel sind, die unser Land in den Untergang geführt
erfahren und sich überlegen können, ob Sie zu dieser haben. Deswegen liegt unser Antrag vor.
Stunde über dieses wichtige Thema - wir haben (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
überhaupt keinen Anlaß, die Diskussion zu scheuen - ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
diskutieren müssen. Ich habe einen Termin bis Ende und der PDS)
dieses Monats gesetzt. Danach werde ich den Vertei-
digungsausschuß unterrichten und entscheiden.
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als letzter in dieser
(Zuruf von der CDU/CSU: So wird das ge Debatte hat der Kollege Kurt Rossmanith das Wo rt .
macht!)
- So ist der Ablauf. Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn wir
Ich bedanke mich. in diesen Tagen das 40jährige Jubiläum unserer Bun-
deswehr feiern, dann können wir mit Recht stolz sein
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
auf eine Armee, die mit ihrem Auftrag und mit dem
Selbstverständnis ihrer Soldaten in unserem demo-
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort zu einer kratischen Rechtswesen und Staatswesen tief ver-
Kurzintervention hat der Kollege Kolbow. wurzelt ist.
Diese Bundeswehr hat einen ganz entscheidenden-
Walter Kolbow (SPD): Herr Bundesminister, mit Beitrag zur Friedenssicherung in Europa geleistet.
Ihrer Rede und mit Ihren Argumenten kann und muß Dieser Einsicht können sich selbst eingefleischte,
man sich auseinandersetzen. Sie haben wesentlich selbsternannte sogenannte Pazifisten heute nicht
bessere und diskussionswürdigere Argumente auch mehr versperren. Die Soldaten unserer Bundeswehr
hinsichtlich dessen, was Sie veranlaßt haben, hier verdienen deshalb unseren Dank und von ihren Kriti-
vorgetragen, als in der bedauernswerten Rede des kern zumindest Fairneß im Umgang.
Kollege Zierer zum Ausdruck kamen.
Was die Herren Kolbow und Büttner in dieser Wo-
(Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ che in ihrer Pressemitteilung mit der Überschrift
DIE GRÜNEN) „Falsche Traditionspflege in der Bundeswehr" von
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5257
Kurt J. Rossmanith
sich gegeben haben, zeigt ein Horrorgemälde, als raus" gerufen haben? Eine Verurteilung hat statt-
gäbe es beunruhigende Entwicklungen in der Bun- gefunden. Beim Panzergrenadierbataillon 212 in
deswehr in Richtung einer Radikalisierung nach Augustdorf wurden Gewaltakte und Schikanen ge-
rechts. Das ist Polemik in Reinkultur. Das muß ich in meldet.
aller Deutlichkeit sagen. Gerade von Ihnen, Herr
Kolbow, hätte ich das nicht erwartet. Wären Sie bereit, auf Grund dieser bedauernswer-
ten Einzelfälle mit mir darüber nachzudenken, wie
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wir Konsequenzen im Sinne der Verbesserung der
politischen Bildung ziehen könnten?
Dies darf schlicht und einfach so nicht stehenblei-
ben. Die Bundeswehr ist ein Teil unserer Gesell- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
schaft. Eine 1992 vom Sozialwissenschaftlichen Insti- ten der PDS)
tut der Bundeswehr vorgelegte Studie hat richtiger-
weise auf ein damals gehäuftes Vorkommen rechts- Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Herr Kollege Kol-
radikaler Vorfälle unter Jugendlichen insbesondere bow, ich bin nicht nur bereit, darüber nachzudenken
in den neuen Bundesländern hingewiesen. Es kann und mit Ihnen diese Fälle aufzuarbeiten und die ent-
nicht verwundern, daß dies natürlich auch in der sprechenden Konsequenzen zu ziehen, sondern ich
Bundeswehr in Einzelfällen seinen Niederschlag ge- bin der Meinung, es ist unsere verdammte Pflicht
funden hat. Denn die Bundeswehr ist ja ein Teil unse- und Schuldigkeit, das zu tun. Nur: In Ihrer Presseer-
rer Gesellschaft und in vielen Bereichen, da alle ihre klärung - gemeinsam mit Herrn Büttner - haben Sie
Wehrpflicht leisten, ein Spiegelbild dieser Gesell- die Bundeswehr in toto in einer A rt und Weise in die
schaft. Ecke gestellt, als wenn der größte Teil der Bundes-
wehr und der Wehrpflichtigen rechtsradikalen Ten-
Doch was gibt Ihnen das Recht, dies hier zu gene- denzen nachhinge.
ralisieren und die Soldaten der Bundeswehr pau-
schal zu diffamieren? (Zuruf von der SPD: Diffamierung!)

(Widerspruch bei der SPD) Dagegen verwahre ich mich mit allem Nachdruck.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU -
Den Lehrsatz „Wehret den Anfängen", mit dem Sie
Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Rossma-
Ihre Verallgemeinerungen rechtfertigen, nehme ich
nith, Sie sind ein Rechtsradikaler!)
sehr wohl ernst. Doch für mich hat er in diesem Fall
eine andere Bedeutung: Wehret den Anfängen, eine Die Bundeswehr und die Soldaten, die in der Bun-
falsche Legende in die Welt zu setzen. deswehr Dienst leisten, haben in diesen 40 Jahren
auch ein gutes Stück demokratischer Gelassenheit
erworben. Ich persönlich vertraue auf das Prinzip der
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Rossmanith, Inneren Führung, und ich vertraue auch auf die Vor-
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten gesetzten in der Bundeswehr. Ich vertraue darauf,
Kolbow? daß es ihnen gelingt, die Einzelfälle, die Sie, Herr
Kollege Kolbow, noch einmal aufgeführt haben und
die Sie mit Recht beklagen, zu bewältigen und nicht
Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Selbstverständ-
zum Schaden ihrer Truppe ausarten zu lassen. Ich
lich.
traue es den Unteroffizieren und den Offizieren die-
ser Bundeswehr auch zu, daß sie die Besonnenheit
Walter Kolbow (SPD): Herr Kollege Rossmanith, haben, sich in aller Ruhe und Sachlichkeit mit der
wären Sie bereit, den Vorwurf der pauschalierten Geschichte des Generaloberst Dietl auseinanderzu-
Verunglimpfung der Bundeswehr zurückzunehmen setzen.
unter Hinweis auf unsere Erklärungen, in denen wir Jetzt zitiere ich auch aus dieser Studie, aber nicht
von Einzelfällen und unserem Bemühen, den Anfän- wie Sie, Herr Kollege Büttner, sektiererhaft, sondern
gen zu wehren, gesprochen haben? Wären Sie bereit, einen ganzen Absatz. In dieser Studie kommt der Au-
die Fälle, auf die wir uns bezogen haben, gemeinsam tor zu folgender Bewertung:
mit mir durchzugehen, um gemeinsame Konsequen-
zen zu ziehen? (Zuruf von der SPD)

Sind Ihnen folgende Beispiele bekannt? „Schon- - Wollen Sie hören, was in der Studie steht, oder
gauer Nachrichten" vom 4. Juli 1995 mit der Über- nicht?
schrift „Erst flogen Gläser, dann ertönte ein ,Sieg (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Es ist
Heil!' " . Bei einem studierenden Offizier der Univer- schon fast zwei Uhr! Da nehmen wir Sie
sität München bestand der begründete Verdacht auf nicht mehr ganz ernst!)
Gefährdung des demokratischen Rechtsstaats wegen
rechtsradikaler, antijüdischer und rassistischer Äuße- Wenn Sie es gelesen hätten, hätten Sie es gleich ge-
rungen. Durch die Initiative von Herrn Bundesmini- wußt, aber Sie haben es nicht gelesen.
ster Rühe wurde er Gott sei Dank sofort aus dem
Ich zitiere aus der Studie über Generaloberst Dietl:
Dienst entfernt. - Angehörige des Wachbataillons
sind in einem Siegburger Linienbus gegenüber an- Dietls menschlicher Umgang über Dienstgrade
deren Fahrgästen handgreiflich geworden. Ist Ihnen hinweg, seine auf die Vermeidung von menschli-
bekannt, daß sie „Juden vergasen" und „Ausländer chen Verlusten bedachte Führungsweise und sei-
5258 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Kurt J. Rossmanith
ne Fürsorge, wie sie in vielen Einzelschilderun- - Ich betone noch einmal, daß ich den Fall Dietl und
gen dargestellt werden, können auch nach heuti- den Fall Kübler nicht über einen Kamm scheren will,
gen Maßstäben als vorbildlich gelten. sondern daß hier eine differenzie rte Betrachtungs-
weise not tut.
Genau das, Herr Zwerenz, habe ich gesagt und
nichts anderes. Ich finde es schon erstaunlich, daß (Zuruf von der SPD: Alte Nazis!)
Sie die Dreistigkeit haben, aus einem B rief zu zitie-
Aber ich sehe auch heute noch keinen Grund, der
ren, den ich einem Mitglied des Bundestages ge-
Dietl-Kaserne einen anderen Namen zu geben,
schrieben habe. Ich wi ll nicht fragen, woher Sie den
Brief haben. Er kann jedenfalls nicht auf legale A rt (Detlev von Larcher [SPD]: Das hätte mich
undWeisaSgltn.DeochabSi bei Ihnen auch gewundert!)
die Dreistigkeit, aus diesem Brief auch noch zu zitie-
ren. Aber ich habe in dem B rief genau das gesagt, wobei ich aber auch hier ganz klar zum Ausdruck
was auch das Ergebnis der Studie ist. bringen möchte - -
(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Das ist die
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Rossmanith, Nazi-Tradition, in der Herr Rossmanith
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten steht!)
Zwerenz? - Das ist eine Unverschämtheit, was Sie hier sagen,
eine Unverschämtheit! Wenn Sie wüßten, Herr Bütt-
Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Nein, von Herrn ner, wie meine Familie in der Zeit des Nationalsozia-
Zwerenz nicht. lismus und danach unter dieser Zeit gelitten hat,
würden Sie diese Unverschämtheit, die Sie jetzt von
Heute, 50 Jahre und mehr danach, halte ich es ge- sich geben, nicht wiederholen. Das muß ich Ihnen in
radezu für vermessen, wenn Sie sich zum Richter von aller Deutlichkeit sagen.
Geschehnissen aufspielen, ohne auch nur den ge-
ringsten direkten Bezug zu den damaligen Vor- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU -
kommnissen zu haben. Zeitzeuge sind Sie, Herr Bütt- Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Wie kön-
ner, ebensowenig wie ich, und leider gibt es nur noch nen Sie einen Nazi als Vorbild für die De-
wenige aus der Erlebnisgeneration, die dokumenten- mokratie darstellen!)
echt berichten könnten.
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Rossmanith,
(Zuruf des Abg. Hans Büttner [Ingolstadt] Ihre Redezeit ist beendet.
[SPD])
(Zuruf von der SPD: Gott sei Dank!)
- Ich weiß schon: Wenn jemand eine andere Mei-
nung hat als Sie, dann ist es nach Ihrem Demokratie-
verständnis natürlich nicht berechtigt, daß er diese Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Ich bin der Mei-
Meinung auch von sich gibt. nung, daß die in unserer Demokratie verwurzelten
Soldaten der Bundeswehr sehr wohl auch dieses poli-
Lassen wir die Angelegenheit doch in den Händen tische Selbstbewußtsein haben, daß sie selbst ent-
der unmittelbar betroffenen Soldaten und Bürger. scheiden können und daß sie sich mit der histori-
Dabei will ich auf die Beschlußlage des Stadtrats schen Person Dietl auch vor dem Hintergrund seiner
Füssen vom 29. März 1993 verweisen, der sich da- Zeit auseinandersetzen und die richtigen Lehren zie-
mals mit 20 Stimmen einschließlich der Stimmen von hen können.
SPD-Stadträten - auch hier sagen Sie in Ihrer Presse-
erklärung die Unwahrheit, Herr Büttner - gegen fünf (Zuruf von der SPD: Unbelehrbar! - Weitere
Stimmen für die Beibehaltung des Namens „Gene- lebhafte Zurufe von der SPD)
raloberst-Dietl-Kaserne" ausgesprochen hat. Die jungen Männer unserer Bundeswehr haben
heute sicher andere Vorbilder. Aber ich glaube, wir
(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
unterschätzen unsere Soldaten, wenn wir es für not-
Und wie haben die Grünen gestimmt? -
wendig halten würden, wie dies die SPD vorschlägt,
Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Gegen die
sie von jeder Auseinandersetzung auch mit histori-
Stimme des Oberbürgermeisters!)
schen Personen - -

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Rossmanith, Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Rossmanith,
kommen Sie bitte zum Schluß. ich bin dazu nicht bereit! Ich habe Sie jetzt dreimal
(Detlev von Larcher [SPD]: Diese Rede ist gebeten, aber Sie machen stur weiter. Sie haben be-
eine Blamage für das ganze Haus! - Hans reits um vier Minuten überzogen.
Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Sie sollten sich (Zuruf von der CDU/CSU: Der ist laufend
schämen!) gestört worden! - Zuruf von der SPD: Jetzt
ist Schluß!)
Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Ich will den Fall
Dietl und den Fall Kübler nicht über einen Kamm Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Frau Präsidentin,
scheren. ich darf in aller Bescheidenheit sagen: Die anderen
(Zurufe von der SPD) Redner haben wesentlich länger überzogen.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5259

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Nein, das ist nicht Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Liebe Kolleginnen
wahr. und Kollegen, nach dieser erregten Debatte - ich
bitte auch Herrn Zwerenz, von der Kurzintervention
Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Ich habe die Na- jetzt abzusehen; es ist bereits 2 Uhr - schließen wir
mensliste vorliegen. Aber ich beende jetzt natürlich die Debatte.
meine Rede gerne. Ich danke, daß Sie so lange ausgehalten haben. Ich
halte dies für eine wichtige Debatte, die wir geführt
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Büttner, ich haben.
gebe Ihnen das Wo rt zu einer Kurzintervention.
(Zuruf von der F.D.P.: Wenn das das Ergeb-
(Zuruf von der CDU/CSU: Frau Präsidentin, nis der Parlamentsreform ist, tut es mir
das können Sie doch nicht stehenlassen! wirklich leid!)
Das kann doch nicht so stehenbleiben!)
Ich bitte Sie, heute morgen um 9 Uhr wieder anwe-
- Ich muß sagen, bei diesem Lärm muß ich zunächst
send zu sein.
einmal prüfen, um welchen Zwischenruf es geht.
(Zuruf von der CDU/CSU: In der Nazi-Tra Einen Punkt habe ich im Eifer des Gefechts verges-
dition sein!) sen. Wir müssen die Vorlage auf Drucksache 13/1628
noch an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
- Dann frage ich: Wer hat den Zwischenruf gemacht? schüsse überweisen. Ich hoffe, es gibt keinen Wider-
(Zuruf von der CDU/CSU: Der Büttner!) spruch. - Einverstanden.

- Herr Büttner, dann würde ich Sie bitten, dazu Stel- Die Reden zu Tagesordnungspunkt 18 wurden zu
lung zu nehmen. Protokoll gegeben.*) ier wird interfraktionell die
Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache
13/2575 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Hans Büttner (Ingolstadt) (SPD): Herr Rossmanith,
Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es Gegenvor-
ich will Ihnen nicht unterstellen, daß Sie persönlich
im Verhältnis zur Nazi-Tradition stehen. Ich wi ll aber schläge? - Nein. Damit ist die Überweisung so be-
deutlich machen: Wer sich hier hinstellt und behaup- schlossen.
tet, ein Nazi-General wie Dietl, der von Anfang an Ich hoffe, daß Sie noch einige Stunden Nachtruhe
bis zum Schluß ein glühender Verfechter der Nazis haben werden.
war, könne ein traditionsbildendes Element und ein
Vorbild für Soldaten der Bundeswehr sein, der liegt Die Sitzung ist geschlossen.
falsch, und der müßte sich gefallen assen, daß man
ihm einen solchen Vorwurf macht. (Schluß der Sitzung: 2.01 Uhr)

(Beifall bei der SPD - Zuruf von der CDU/


CSU: Das ist die gleiche Unverschämtheit s) Die zu Protokoll gegebenen Reden werden als Anlage 4 zum
wie vorhin!) Stenographischen Be richt über die 62. Sitzung abgedruckt.

-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995 5261*

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 Anlage 2

Liste der entschuldigten Abgeordneten Antwort

entschuldigt bis des Staatsministers Helmut Schäfer auf die Fragen


Abgeordnete(r) des Abgeordneten Gernot Erler (SPD) (Drucksache
einschließlich
13/2407 Fragen 19 und 20):
Altmann (Pommelsbrunn), BÜNDNIS 12. 10. 95
Welche Vorstellungen und Konzepte hat die Bundesregierung
Elisabeth 90/DIE für eine künftige Friedensordnung im ehemaligen Jugoslawien
GRÜNEN entwickelt, und wie wird sie diese in die internationalen Bemü-
Augustin, Anneliese CDU/CSU 12. 10. 95 hungen um eine Friedenslösung auf dem Balkan einbringen?
Beer, Angelika BÜNDNIS 12. 10. 95 Welche Rolle sollte nach den Vorstellungen der Bundesregie-
90/DIE rung die Russische Föderation bei einer Friedenslösung für das
GRÜNEN ehemalige Jugoslawien spielen, und auf welche Weise wird die
Eymer, Anke CDU/CSU 12. 10. 95 Bundesregierung eine Einbeziehung Moskaus sicherzustellen
versuchen?
Fograscher, Gabriele SPD 12. 10. 95 * *
Graf (Friesoythe), SPD 12. 10. 95
Günter Zu Frage 19:
Grasedieck, Dieter SPD 12. 10. 95 Mit ihren Vorstellungen hat die Bundesregierung
Heym, Stefan PDS 12. 10. 95 wesentliche konzeptionelle Anstöße für eine
Heyne, Kristin BÜNDNIS 12. 10. 95 künftige Friedensordnung im ehemaligen Jugosla-
90/DIE wien gegeben. Mit der Kinkel/Juppé-Initiative hat
GRÜNEN sie die Grundlagen für den europäischen Aktions-
Hörsken, Heinz-Adolf CDU/CSU 12. 10. 95 plan gelegt. Der im Juli 1994 in Genf formulierte
Dr. Jacob, Willibald PDS 12. 10. 95 Kontaktgruppenplan, der die wesentlichen Parame-
Kemper, Hans-Peter SPD 12. 10. 95 ter einer Friedenslösung festlegt, wurde von der
Lummer, Heinrich CDU/CSU 12. 10. 95 Bundesregierung maßgeblich mit formuliert. Die
bosniakisch-kroatische Föderation wurde von Be-
Dr. Maleuda, Günther PDS 12. 10. 95
ginn an durch die Bundesregierung engagiert ge-
Pfeiffer, Angelika CDU/CSU 12. 10. 95 fördert. Die „Petersberger Vereinbarung" vom
Pützhofen, Dieter CDU/CSU 12. 10. 95 10. März 1995 ist das Ergebnis einer deutschen
Dr. Reinartz, Bertold CDU/CSU 12. 10. 95 Initiative. Darüber hinaus gestaltet die Bundesre-
Rübenkönig, Gerhard SPD 12. 10. 95 gierung die europäischen Initiativen gemeinsam
Schlauch, Rezzo BÜNDNIS 12. 10. 95 mit ihren Pa rtnern in der EU. Wesentliche konzep-
90/DIE tionelle Elemente der EU-Administration Mostar
GRÜNEN gehen auf Anregungen der Bundesregierung zu-
Schloten, Dieter SPD 12. 10. 95 * rück. Die Bundesregierung wird in ihren Anstren-
gungen nicht nachlassen.
Schmidt (Aachen), Ulla SPD 12. 10.95
Schönberger, Ursula BÜNDNIS 12. 10. 95 Am 26. September fand in New York ein Treffen
90/DIE der internationalen Kontaktgruppe mit den Außen-
GRÜNEN ministern Bosnien-Herzegowinas, Kroatiens und der
Schoppe, Waltraud BÜNDNIS 12. 10. 95 BRJ (Serbien/Montenegro) statt.
90/DIE
GRÜNEN Am 28. September fand in New York auf Außenmi-
Dr. Schube rt , Mathias SPD 12. 10. 95 nisterebene ein Treffen der internationalen Kontakt-
Schumann, Ilse SPD 12. 10. 95 gruppe mit der Kontaktgruppe der Organisation für
Dr. Stadtler, Max F.D.P. 12. 10. 95 * * Islamische Staaten (OIC) statt. Dieses Treffen unter
Steen, Antje-Marie SPD deutschem Vorsitz geht auf eine Initiative von Au-
12. 10. 95
ßenminister Kinkel zurück.
Terborg, Margitta SPD 12. 10. 95
Teuchner, Jella SPD 12. 10. 95
Vogt (Duren), Wolfgang CDU/CSU 12. 10. 95 Zu Frage 20:
Vosen, Josef SPD 12. 10. 95 Die Bundesregierung hält die Zusammenarbeit in
Dr. Wieczorek, Norbe rt SPD 12. 10.95 der internationalen Kontaktgruppe für eine bei-
spielhafte Möglichkeit, die Russische Föderation in
den internationalen Meinungsbildungs- und Ent-
scheidungsprozeß einzubeziehen. Die Bundesregie-
* für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen rung hat Verständnis für den Wunsch der Russi-
Union schen Föderation, auch bei einer Friedenslösung
* für die Teilnahme an der Jahreskonferenz der Interparla- für das ehemalige Jugoslawien einbezogen zu wer-
mentarischen Union den.
5262* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Oktober 1995

Am 26. September fand eine Kontaktgruppensit-


zung in New York mit den Außenministern Kroa-
tiens, Bosnien-Herzegowinas und der BRJ (Serbien/
Montenegro) statt, und am 28. September folgte auf
Außenministerebene eine Begegnung der internatio-
nalen KG mit der Kontaktgruppe der Organisation Is-
lamischer Staaten.
Die Russische Föderation ist in diesen Verhand-
lungsprozeß voll einbezogen. Die Bundesregierung
legt größten Wert darauf, daß dieses erfolgreiche
Verfahren auch bei den weiteren Bemühungen um
eine internationale Verhandlungslösung fortgesetzt
wird.

Das könnte Ihnen auch gefallen