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Plenarprotokoll 17/27

Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht

27. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Inhalt:

Wahl der Abgeordneten Cornelia Behm als d) Antrag der Abgeordneten Monika Lazar,
stellvertretendes Mitglied im Stiftungsrat Ekin Deligöz, Kerstin Andreae, weiterer Ab-
der Stiftung zur Aufarbeitung der SED- geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
Diktatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2323 B DIE GRÜNEN: Quote für Aufsichtsrats-
gremien börsennotierter Unternehmen
Wahl der Abgeordneten Heidrun Dittrich als einführen
Schriftführerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2323 B (Drucksache 17/797) . . . . . . . . . . . . . . . . 2324 B
Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- e) Unterrichtung durch die Bundesregierung:
nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2323 B Dritte Bilanz der Vereinbarung zwi-
schen der Bundesregierung und den
Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . 2323 D Spitzenverbänden der deutschen Wirt-
schaft zur Förderung der Chancen-
gleichheit von Frauen und Männern in
Tagesordnungspunkt 3: der Privatwirtschaft
(Drucksache 16/10500) . . . . . . . . . . . . . . 2324 C
a) Antrag der Abgeordneten Nadine Müller
(St. Wendel), Elisabeth Winkelmeier- Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin
Becker, Dorothee Bär, weiterer Abgeord- BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2324 C
neter und der Fraktion der CDU/CSU so- Christel Humme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2326 B
wie der Abgeordneten Nicole Bracht-
Bendt, Miriam Gruß, Sibylle Laurischk Nicole Bracht-Bendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 2327 D
und der Fraktion der FDP: Internationa- Cornelia Möhring (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 2328 D
ler Frauentag – Gleichstellung national
Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/
und international durchsetzen
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2330 A
(Drucksache 17/901) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2324 A
Dorothee Bär (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 2331 B
b) Antrag der Abgeordneten Christel
Humme, Willi Brase, Petra Crone, weite- Krista Sager (BÜNDNIS 90/
rer Abgeordneter und der Fraktion der DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2332 B
SPD: Mit gesetzlichen Regelungen die Elke Ferner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2333 A
Gleichstellung von Frauen im Erwerbs-
Miriam Gruß (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2334 A
leben umgehend durchsetzen
(Drucksache 17/821) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2324 A Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 2335 A
c) Antrag der Abgeordneten Cornelia Monika Lazar (BÜNDNIS 90/
Möhring, Dr. Barbara Höll, Klaus Ernst, DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2336 A
weiterer Abgeordneter und der Fraktion Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 2337 A
DIE LINKE: Entgeltgleichheit zwischen
den Geschlechtern wirksam durch- Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 2338 C
setzen Elisabeth Winkelmeier-Becker
(Drucksache 17/891) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2324 B (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2339 D
II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Tagesordnungspunkt 4: b) Erste Beratung des von der Bundesregie-


rung eingebrachten Entwurfs eines Ach-
a) Antrag der Abgeordneten Dr. Karl
ten Gesetzes zur Änderung des Bundes-
Lauterbach, Elke Ferner, Bärbel Bas, wei-
Immissionsschutzgesetzes
terer Abgeordneter und der Fraktion der
(Drucksache 17/800) . . . . . . . . . . . . . . . . 2364 C
SPD: Paritätische Finanzierung in der
gesetzlichen Krankenversicherung wie- c) Antrag der Abgeordneten Dr. Sascha
der herstellen Raabe, Klaus Barthel, Lothar Binding
(Drucksache 17/879) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2341 D (Heidelberg), weiterer Abgeordneter und
b) Antrag der Abgeordneten Fritz Kuhn, der Fraktion der SPD: Zukunft für Haiti –
Birgitt Bender, Markus Kurth, weiterer Nachhaltigen Wiederaufbau unter-
Abgeordneter und der Fraktion BÜND- stützen
NIS 90/DIE GRÜNEN: Keine Zusatzbei- (Drucksache 17/885) . . . . . . . . . . . . . . . . 2364 C
träge für Bezieherinnen und Bezieher
d) Antrag der Abgeordneten Jan van Aken,
von Arbeitslosengeld II
Christine Buchholz, Sevim Dağdelen,
(Drucksache 17/674) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2341 D
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
Dr. Karl Lauterbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 2342 A DIE LINKE: Überprüfungskonferenz
des Atomwaffensperrvertrages durch
Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 2343 D
atomare Abrüstung stärken
Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . 2345 A (Drucksache 17/886) . . . . . . . . . . . . . . . . 2364 D
Dr. Barbara Hendricks (SPD) . . . . . . . . . . 2345 C e) Antrag der Abgeordneten Nicole Maisch,
Harald Weinberg (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 2346 B Ulrike Höfken, Cornelia Behm, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
Ulrike Flach (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2348 B NIS 90/DIE GRÜNEN: Kinderspielzeug –
Thomas Oppermann (SPD) . . . . . . . . . . . . 2348 C Risiko für kleine Verbraucher
(Drucksache 17/656) . . . . . . . . . . . . . . . . 2364 D
Dr. Karl Lauterbach (SPD) . . . . . . . . . . . . 2349 C
f) Unterrichtung durch die Bundesregierung:
Harald Weinberg (DIE LINKE) . . . . . . . . . 2350 A
Bericht der Bundesregierung über die
Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ größten Emissionsreduktionspotenziale
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2350 C in Schwellen- und Entwicklungsländern
und Sektoren
Jens Spahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2352 C (Drucksache 16/13771) . . . . . . . . . . . . . . 2365 A
Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2353 C g) Unterrichtung durch die Bundesregierung:
Achtzehnter Bericht nach § 35 des
Dr. Karl Lauterbach (SPD) . . . . . . . . . . . . 2354 A Bundesausbildungsförderungsgesetzes
Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ zur Überprüfung der Bedarfssätze,
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2355 A Freibeträge sowie Vomhundertsätze
und Höchstbeträge nach § 21 Absatz 2
Dr. Edgar Franke (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2356 C (Drucksache 17/485) . . . . . . . . . . . . . . . . 2365 A
Heinz Lanfermann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 2357 D
Dr. Barbara Hendricks (SPD) . . . . . . . . . . 2359 A Tagesordnungspunkt 26:
Lothar Riebsamen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 2359 C
a)–j)
Elke Ferner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2360 C
Beschlussempfehlungen des Petitionsaus-
Heinz Lanfermann (FDP) . . . . . . . . . . . . . 2361 C
schusses: Sammelübersichten 40, 41, 42, 43,
Jens Spahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 2362 C 44, 45, 46, 47, 48 und 49 zu Petitionen
(Drucksachen 17/801, 17/802, 17/803, 17/804,
Erwin Rüddel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 2363 B 17/805, 17/806, 17/807, 17/808, 17/809,
17/810) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2365 C
Tagesordnungspunkt 25:
a) Erste Beratung des von der Bundesregie- Tagesordnungspunkt 9:
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zu den Änderungsurkunden vom Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
24. November 2006 zur Konstitution und desregierung eingebrachten Entwurfs eines
zur Konvention der Internationalen Ersten Gesetzes zur Änderung des Direkt-
Fernmeldeunion vom 22. Dezember 1992 zahlungen-Verpflichtungengesetzes
(Drucksache 17/760) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2364 C (Drucksachen 17/758, 17/924) . . . . . . . . . . . . 2366 C
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 III

Zusatztagesordnungspunkt 2: Heike Brehmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 2395 B


Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion Gabriele Lösekrug-Möller (SPD) . . . . . . . . . 2396 B
DIE LINKE: Spenden- und Sponsoring-
Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . . 2397 C
Praxis von Parteien und die Glaubwürdig-
keit der Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2366 D Sabine Zimmermann (DIE LINKE) . . . . . . . . 2399 A
Ulrich Maurer (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 2366 D Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2399 D
Ingo Wellenreuther (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 2367 D
Sabine Zimmermann (DIE LINKE) . . . . . 2400 C
Gabriele Fograscher (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 2369 A
Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 2401 A
Marco Buschmann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 2370 B
Sabine Zimmermann (DIE LINKE) . . . . . 2402 A
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2371 D
Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU) . . . . 2373 B Tagesordnungspunkt 7:
Michael Groschek (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 2374 B Antrag der Abgeordneten Monika Grütters,
Tankred Schipanski, Albert Rupprecht (Wei-
Dr. Stefan Ruppert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 2375 D den), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . 2377 A der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Patrick Meinhardt, Dr. Martin Neumann
Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . . 2378 C (Lausitz), Dr. Peter Röhlinger, weiterer Abge-
Burkhard Lischka (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 2380 B ordneter und der Fraktion der FDP: Bologna-
Prozess vollenden – Länder und Hochschu-
Helmut Brandt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 2381 C len weiter unterstützen
(Drucksache 17/905) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2402 D
Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär
Tagesordnungspunkt 5:
BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2402 D
Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP Swen Schulz (Spandau) (SPD) . . . . . . . . . . . 2404 B
und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Einset-
zung einer Enquete-Kommission „Internet Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) . . . . . . 2405 C
und digitale Gesellschaft“ Nicole Gohlke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 2407 B
(Drucksache 17/950) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2383 A
Kai Gehring (BÜNDNIS 90/
Michael Kretschmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 2383 A DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2408 B
Lars Klingbeil (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2384 A Tankred Schipanski (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 2409 D
Manuel Höferlin (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2386 A Kai Gehring (BÜNDNIS 90/
Herbert Behrens (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 2386 C DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2410 C
Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) . . . . . . . . . . . 2411 B
Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2388 A
Jens Koeppen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 2389 B Tagesordnungspunkt 8:
Aydan Özoğuz (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2390 B Antrag der Abgeordneten Fritz Kuhn, Brigitte
Pothmer, Markus Kurth, weiterer Abgeordne-
Sebastian Blumenthal (FDP) . . . . . . . . . . . . . 2391 C ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU) . . . . . . . . . 2392 B NEN: Mehr Netto für Geringverdienende
(Drucksache 17/896) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2412 B
Jimmy Schulz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2393 B
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/
Marco Wanderwitz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 2393 D DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2412 B
Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 2413 B
Tagesordnungspunkt 6: Angelika Krüger-Leißner (SPD) . . . . . . . . . . 2414 D
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 2416 B
schusses für Arbeit und Soziales zu dem An-
trag der Abgeordneten Sabine Zimmermann, Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/
Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, weiterer DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2417 A
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/
Folgen der Krise für Arbeitnehmerinnen DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2418 A
und Arbeitnehmer abmildern – ALG I be-
Jutta Krellmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 2419 B
fristet auf 24 Monate verlängern
(Drucksachen 17/22, 17/269) . . . . . . . . . . . . . 2395 A Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 2420 B
IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Tagesordnungspunkt 11: Zusatztagesordnungspunkt 3:


Antrag der Abgeordneten Ingbert Liebing, Unterrichtung durch die Bundesregierung:
Marie-Luise Dött, Peter Altmaier, weiterer Finanzplan des Bundes 2009 bis 2013
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU (Drucksache 16/13601) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2441 B
sowie der Abgeordneten Angelika Brunkhorst,
Michael Kauch, Horst Meierhofer, weiterer Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär
Abgeordneter und der Fraktion der FDP: BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2441 C
11. Trilaterale Wattenmeerkonferenz: Johannes Kahrs (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2443 A
UNESCO-Weltnaturerbe würdigt Schutz
des Wattenmeeres Otto Fricke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2444 D
(Drucksache 17/903) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2421 D Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE) . . . . . . . . . 2446 C
Ursula Heinen-Esser, Parl. Staatssekretärin Otto Fricke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2447 B
BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2422 A
Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/
Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2422 D DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2447 D
Angelika Brunkhorst (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 2424 B Norbert Barthle (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 2448 D
Sabine Stüber (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 2425 B Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/
Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2449 C
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2426 A
Ingbert Liebing (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 2427 A Tagesordnungspunkt 12:
Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 2427 D Antrag der Abgeordneten Gabriele Hiller-
Ohm, Anette Kramme, Iris Gleicke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Das
Tagesordnungspunkt 10: Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zur
Bemessung der Regelsätze umsetzen – Die
Antrag der Abgeordneten Ingrid Arndt-
Ursachen von Armut bekämpfen
Brauer, Rainer Arnold, Sabine Bätzing und
(Drucksache 17/880) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2451 A
weiterer Abgeordneter der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Jan van Aken, Agnes Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 2451 B
Alpers, Dr. Dietmar Bartsch und weiterer
Abgeordneter der Fraktion DIE LINKE so- Dr. Carsten Linnemann (CDU/CSU) . . . . . . . 2452 D
wie der Abgeordneten Kerstin Andreae, Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 2453 C
Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck
(Köln) und weiterer Abgeordneter der Frak- Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2454 C
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Einset- Markus Kurth (BÜNDNIS 90/
zung eines Untersuchungsausschusses DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2455 D
(Drucksache 17/888 (neu)) . . . . . . . . . . . . . . . 2429 B
Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP) . . . . . . 2456 B
Dr. Matthias Miersch (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 2429 B
Mechthild Heil (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 2457 B
Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU) . . . . . . . . 2430 C
Ulrich Kelber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2431 B
Tagesordnungspunkt 13:
Dorothée Menzner (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 2432 A
Antrag der Abgeordneten Caren Lay, Dr. Axel
Angelika Brunkhorst (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 2433 B Troost, Karin Binder, weiterer Abgeordneter
Dorothée Menzner (DIE LINKE) . . . . . . . 2433 C und der Fraktion DIE LINKE: Finanziellen
Verbraucherschutz stärken – Finanz-
Ulrich Kelber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2434 B märkte verbrauchergerecht regulieren
(Drucksache 17/887) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2458 D
Angelika Brunkhorst (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 2434 C
Caren Lay (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 2458 D
Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2435 A Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU) . . . . . . . . 2460 A
Reinhard Grindel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 2436 B Dr. Carsten Sieling (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 2461 C
Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ Dr. Erik Schweickert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 2463 D
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2436 D
Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/
Ute Vogt (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2439 B DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2465 A
Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2440 C Lucia Puttrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 2466 A
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 V

Tagesordnungspunkt 14: b) Beschlussempfehlung und Bericht des


Ausschusses für Menschenrechte und Hu-
Antrag der Abgeordneten Dr. Konstantin von
manitäre Hilfe zu dem Antrag der Abge-
Notz, Beate Müller-Gemmeke, Kerstin
ordneten Tom Koenigs, Volker Beck
Andreae, weiterer Abgeordneter und der Frak-
(Köln), Thilo Hoppe, weiterer Abgeordne-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: ELENA
ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
aussetzen und Datenübermittlung strikt
GRÜNEN: Gemeinsame menschen-
begrenzen
rechtliche Positionierung der EU gegen-
(Drucksache 17/658) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2467 D über den Ländern Lateinamerikas und
Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ der Karibik einfordern
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2468 A (Drucksachen 17/157, 17/925) . . . . . . . . . 2484 A
Kai Wegner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 2468 D
Doris Barnett (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2470 C Tagesordnungspunkt 17:
Claudia Bögel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2472 A Antrag der Abgeordneten Katja Kipping,
Petra Pau (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2473 B Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE:
Europäisches Jahr gegen Armut und so-
Tagesordnungspunkt 15: ziale Ausgrenzung ernst nehmen
(Drucksache 17/889) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2484 C
a) Antrag der Fraktion der SPD: Europa 2020 –
Strategie für ein nachhaltiges Europa Mechthild Heil (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 2484 C
Gleichklang von sozialer, ökologischer
und wirtschaftlicher Entwicklung Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) . . . . . . . . 2486 A
(Drucksache 17/882) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2474 B Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 2486 C
b) Antrag der Abgeordneten Dr. Diether Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2487 C
Dehm, Alexander Ulrich, Andrej
Konstantin Hunko, weiterer Abgeordne- Heidrun Dittrich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 2488 B
ter und der Fraktion DIE LINKE: Gegen
Armut und soziale Ausgrenzung – Markus Kurth (BÜNDNIS 90/
Soziale Fortschrittsklausel in das EU- DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2490 C
Vertragswerk aufnehmen
(Drucksache 17/902) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2474 B
Tagesordnungspunkt 18:
c) Antrag der Abgeordneten Manuel
Sarrazin, Marieluise Beck (Bremen), Antrag der Abgeordneten Hans-Joachim
Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordne- Hacker, Uwe Beckmeyer, Sören Bartol, wei-
ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD:
GRÜNEN: EU 2020 – Für ein ökologi- Kinderlärm – Kein Grund zur Klage
sches und soziales Europa (Drucksache 17/881) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2491 B
(Drucksache 17/898) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2474 C
Dr. Michael Paul (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 2491 B
Dr. Eva Högl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2474 D
Dorothee Bär (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 2492 A
Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) . . . . . . . . . 2476 B
Hans-Joachim Hacker (SPD) . . . . . . . . . . . . 2492 D
Axel Schäfer (Bochum) (SPD) . . . . . . . . . 2477 A
Alexander Ulrich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 2478 B Judith Skudelny (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2493 C
Gabriele Molitor (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2479 B Heidrun Bluhm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 2494 B
Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2480 B
Tagesordnungspunkt 19:
Karl Holmeier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 2481 B
Antrag der Abgeordneten Katrin Kunert,
Dr. Axel Troost, Dr. Barbara Höll, weiterer
Tagesordnungspunkt 16: Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE:
Für eine Verstetigung der Kommunal-
a) Antrag der Abgeordneten Wolfgang finanzen – Die Gewerbesteuer zur Gemein-
Gunkel, Lothar Binding (Heidelberg), dewirtschaftsteuer weiterentwickeln
Dr. h. c. Gernot Erler, weiterer Abgeord- (Drucksache 17/783) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2495 A
neter und der Fraktion der SPD: Men-
schenrechtsschutz im Handelsabkom- Antje Tillmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 2495 A
men der Europäischen Union mit Bernd Scheelen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2497 A
Kolumbien und Peru verankern
(Drucksache 17/883) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2484 A Dr. Birgit Reinemund (FDP) . . . . . . . . . . . . . 2497 D
VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Katrin Kunert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 2498 C – Beschlussempfehlung und Bericht: Ge-


meinsame menschenrechtliche Positio-
Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/
nierung der EU gegenüber den Ländern
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2499 C
Lateinamerikas und der Karibik einfor-
dern
Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2500 C
(Tagesordnungspunkt 16 a und b)

Anlage 1 Michael Frieser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 2501 C

Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 2501 A Frank Heinrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 2502 B


Wolfgang Gunkel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2503 A
Anlage 2 Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2504 B
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung:
Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 2505 A
– Antrag: Menschenrechtsschutz im Han-
delsabkommen der Europäischen Union Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/
mit Kolumbien und Peru verankern DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2505 D
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2323

(A) (C)

Redetext

27. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. Norbert Lammert: ZP 3 Unterrichtung durch die Bundesregierung


Die Sitzung ist eröffnet.
Finanzplan des Bundes 2009 bis 2013
Nehmen Sie bitte Platz. – Guten Morgen, liebe Kolle-
– Drucksache 16/13601 –
ginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich zu
dieser Plenarsitzung verbunden mit der Hoffnung, dass Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)
sie nicht ganz so turbulent verläuft wie eine der letzten.
Dabei soll wie immer in solchen Fällen von der Frist
Ich habe einige Mitteilungen zu machen bzw. einige
für den Beginn der Beratungen, soweit erforderlich, ab-
Wahlen durchzuführen, bevor wir in die Tagesordnung gewichen werden.
eintreten.
Der bisher zur Beratung vorgesehene Tagesordnungs-
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen schlägt anstelle punkt 9 kann ohne Debatte abgeschlossen werden. Hier- (D)
(B) der ehemaligen Abgeordneten Silke Stokar von Neuforn
durch rücken die beiden nachfolgenden Tagesordnungs-
die Kollegin Cornelia Behm als neues stellvertretendes punkte der Koalitionsfraktionen entsprechend vor.
Mitglied im Stiftungsrat der Stiftung zur Aufarbeitung
der SED-Diktatur vor. Sind Sie damit einverstanden? – Ich mache auf zwei nachträgliche Ausschussüberwei-
Das ist offenkundig der Fall. Dann ist die Kollegin sungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Cornelia Behm hiermit zum stellvertretenden Mitglied
Der in der 24. Sitzung des Deutschen Bundestages
dieses Stiftungsrates gewählt.
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätz-
Die Kollegin Kathrin Senger-Schäfer hat ihr Amt als lich dem Ausschuss für die Angelegenheiten der Euro-
Schriftführerin niedergelegt. Als Nachfolgerin schlägt päischen Union (21. Ausschuss) zur Mitberatung über-
die Fraktion Die Linke die Kollegin Heidrun Dittrich wiesen werden. Die Überweisung an den Ausschuss für
vor. Darf ich auch hierzu Ihr Einvernehmen feststellen? – Kultur und Medien (22. Ausschuss) soll entfallen.
Das ist offenkundig der Fall. Dann ist die Kollegin Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
Dittrich zur Schriftführerin gewählt. gebrachten Entwurfs eines Ausführungsgesetzes
zur Verordnung (EG) Nr. 1060/2009 des Euro-
Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die ver-
päischen Parlaments und des Rates vom
bundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste 16. September 2009 über Ratingagenturen
aufgeführten Punkte zu erweitern: (Ausführungsgesetz zur EU-Ratingverordnung)
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der – Drucksache 17/716 –
SPD:
überwiesen:
Notwendigkeit einer einheitlichen Praxis beim Finanzausschuss (f)
Rechtsausschuss
Kauf von Steuer-CDs Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
(siehe 26. Sitzung) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE
LINKE: Der in der 25. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Spenden- und Sponsoring-Praxis von Parteien Rechtsausschuss (6. Ausschuss) zur Mitberatung über-
und die Glaubwürdigkeit der Politik wiesen werden.
2324 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan Ausschuss für Arbeit und Soziales (C)
Korte, Klaus Ernst, Dr. Petra Sitte, weiterer Ab- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
geordneter und der Fraktion DIE LINKE e) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
Datenschutz für Beschäftigte stärken gierung
– Drucksache 17/779 – Dritte Bilanz der Vereinbarung zwischen der
überwiesen:
Bundesregierung und den Spitzenverbänden
Innenausschuss (f) der deutschen Wirtschaft zur Förderung der
Rechtsausschuss Chancengleichheit von Frauen und Männern
Ausschuss für Arbeit und Soziales in der Privatwirtschaft
Auch hierzu erhebt sich kein Einwand oder Wider- – Drucksache 16/10500 –
spruch. Dann ist das so beschlossen.
Überweisungsvorschlag:
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 e auf: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Rechtsausschuss
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nadine Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Müller (St. Wendel), Elisabeth Winkelmeier-Becker, Ausschuss für Arbeit und Soziales
Dorothee Bär, weiterer Abgeordneter und der Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten die Aussprache 75 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
Nicole Bracht-Bendt, Miriam Gruß, Sibylle nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Laurischk und der Fraktion der FDP
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
Internationaler Frauentag – Gleichstellung die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und
national und international durchsetzen Jugend, Frau Dr. Kristina Schröder.
– Drucksache 17/901 –
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Christel
Humme, Willi Brase, Petra Crone, weiterer Ab- Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin für Fami-
geordneter und der Fraktion der SPD lie, Senioren, Frauen und Jugend:
Mit gesetzlichen Regelungen die Gleichstel- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
lung von Frauen im Erwerbsleben umgehend Vier Anträge zur Gleichstellungspolitik stehen heute auf
durchsetzen der Tagesordnung. Kein einziger dieser Anträge fordert
die Abschaffung des Weltfrauentages; denn zu lang ist
(B) – Drucksache 17/821 – die Liste der Themen, die an diesem Tag unsere Auf- (D)
Überweisungsvorschlag: merksamkeit verdienen. Ich möchte daher meine erste
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Rechtsausschuss
gleichstellungspolitische Rede als Ministerin für ein paar
Finanzausschuss grundsätzliche Bemerkungen zur Chancengerechtigkeit
Ausschuss für Arbeit und Soziales von Frauen und Männern in der beruflichen Entwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und nutzen.
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss Meine These ist, dass Strukturen und Kulturen in
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia der Arbeitswelt nicht nur Frauen benachteiligen, son-
Möhring, Dr. Barbara Höll, Klaus Ernst, weiterer dern zu einer Benachteiligung von Menschen, von Män-
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE nern und Frauen, führen, wenn sie Fürsorgeaufgaben in
der Familie übernehmen. Deshalb sehe ich mich hier so-
Entgeltgleichheit zwischen den Geschlechtern wohl als Familienministerin als auch als Gleichstel-
wirksam durchsetzen lungsministerin in der Pflicht.
– Drucksache 17/891 – Wir kritisieren zu Recht, dass Frauen immer noch
Überweisungsvorschlag: deutlich weniger verdienen als Männer. Wir kritisieren
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) zu Recht, dass auf höheren Hierarchieebenen, in Füh-
Rechtsausschuss rungspositionen, insbesondere in Vorständen und Auf-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales sichtsräten, sehr wenige Frauen vertreten sind. Aber wa-
rum reden wir so wenig über die kulturellen und
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika strukturellen Ursachen in der Arbeitswelt, die diesen Be-
Lazar, Ekin Deligöz, Kerstin Andreae, weiterer obachtungen zugrunde liegen? Ich glaube nicht, dass
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ Gehaltsunterschiede und die fehlende Präsenz von
DIE GRÜNEN Frauen in den Führungsetagen immer noch das Ergebnis
Quote für Aufsichtsratsgremien börsennotier- bewusster, schenkelklopfender Diskriminierung sind.
ter Unternehmen einführen Vielmehr glaube ich, dass wir es mit kulturellen und
strukturellen Ursachen zu tun haben.
– Drucksache 17/797 –
Überweisungsvorschlag:
Ich denke dabei zum Beispiel an ein Erlebnis, das ich
Rechtsausschuss (f) vor zwei Wochen im Zug hatte. Vor mir saß eine Frau
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Mitte dreißig mit Notebook, Handy und Tochter. Die
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2325
Bundesministerin Dr. Kristina Schröder
(A) Kleine plapperte: „Mein Zimmer ist das schönste, aber Sie sind es, die länger im Beruf aussetzen. Sie sind es, (C)
dein Zimmer und Papas Zimmer sind auch schön.“ Da die in Teilzeit zurückkehren. Sie sind es, die den Fami-
fragte die Mutter: „Mein Zimmer? Papas Zimmer?“ Die lienalltag managen. Das ist – das betone ich noch einmal –
Kleine antwortete: „Die Küche und das Büro.“ Da völlig in Ordnung, solange sich Paare dafür entscheiden.
musste ich natürlich erst einmal grinsen, aber in dieser Ungerecht ist es, wenn die äußeren Bedingungen ihnen
kindlichen Wahrnehmung wird, glaube ich, eines deut- keine andere Wahl lassen.
lich: Berufstätige Männer nehmen oft zwei, drei Karrie-
restufen auf einmal, während berufstätige Frauen meist (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
zwei, drei Jobs auf einmal machen, nämlich Beruf, Kin-
Von fairen Chancen für Frauen in der Arbeitswelt
dererziehung und Haushalt.
kann keine Rede sein, solange familiäre Aufgaben dort
Das hat wenig mit individuellen Denk- und Verhal- als Handicap gelten. Dies gilt übrigens genauso für Män-
tensmustern zu tun. Wenn Paare sich freiwillig für dieses ner, die bereit sind, mehr familiäre Verantwortung zu
Modell entscheiden, dann ist das ihre Privatsache. Aber übernehmen. Denn auch sie disqualifizieren sich häufig
in vielen Fällen ist es nicht so. Viele Paare heute wün- für höhere Aufgaben in einer von familienfernen Le-
schen sich eine gleichberechtigte Partnerschaft. In den bensnomaden geprägten Welt, in der sich Kulturen und
Führungsetagen vieler Unternehmen gibt es eine struktu- Strukturen nur sehr langsam verändern.
rell familienfeindliche Kultur, die diese häusliche Ar-
beitsteilung zementiert. Ich glaube, dass genau das das Was aber bedeutet es für unsere Gesellschaft, wenn
Problem ist. Diese Arbeitskultur ist von einer Leis- Zeit für Verantwortung in der Familie so massiv mit
tungselite geprägt, die sich deshalb so kompromisslos beruflichen Entwicklungschancen bezahlt werden muss?
ihrer Karriere widmen kann, weil sie die Zuständigkeit Diese Frage halte ich für entscheidend. Denn ich ver-
für Kinder und Küche weitgehend outgesourct hat. Dazu stehe meine Arbeit als Ministerin für Familie, Senioren,
lasse ich gern einen Mann zu Wort kommen. Ich zitiere Frauen und Jugend nicht nur als Arbeit für diese Ziel-
aus einem Artikel über Managerehen, der schon vor eini- gruppen, sondern auch als Gesellschaftspolitik mit ei-
ger Zeit in der Wirtschaftswoche erschienen ist. Der mo- nem zentralen Ziel: mit dem Ziel, den Zusammenhalt
derne Manager sei ein unserer Gesellschaft zu unterstützen und zu fördern.
Unter diesen Leitgedanken sollten wir auch unsere
familienferner Lebensnomade … Gleichstellungspolitik stellen, und unter dieser Prämisse
sollten wir auch die Forderung nach gesetzlichen Quo-
Ich zitiere weiter:
tenregelungen beurteilen.
Seine Firma verlangt den ganzen Mann, rund um
die Uhr und rund um den Globus, dafür wird er (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
(B) neten der FDP) (D)
schließlich bezahlt, und nicht nur er, auch seine
Frau und seine Kinder stehen auf der Gehaltsliste Die christlich-liberale Koalition hat sich in ihrem Ko-
der Firma, als entfernte Angestellte gewissermaßen, alitionsvertrag klar zum gemeinsamen Ziel bekannt, den
weil auch sie ihr Leben dem Job unterordnen, ganz Anteil von Frauen in Führungspositionen zu erhöhen.
klar …
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Ich glaube, die Luft für Frauen in den Führungsposi-
der FDP)
tionen ist auch deshalb so dünn, weil sie keine familien-
fernen Lebensnomaden sein wollen. Dabei kann man mit der Brechstange vorgehen und
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – gleichstellungspolitische Ziele gesetzlich vorschreiben,
Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- etwa in Form von gesetzlichen Quoten für alle Bereiche,
NEN]: Oh! Oh!) in denen Frauen fehlen. Das wirkt dann wie Kortison:
Die Symptome verschwinden, aber die Ursachen blei-
Dies wird aber in vielen Unternehmen unausgesprochen ben.
erwartet, und auch die Arbeitszeit in vielen Führungspo-
sitionen lässt es überhaupt nicht anders zu. Das meine (Elke Ferner [SPD]: Was ist los? Kortison?)
ich mit den Kulturen und Strukturen, die ich als die Ur-
sache für die Benachteiligung von Frauen in der Arbeits- Man kann aber auch versuchen, die Ursachen unglei-
welt genannt habe. Solange Frauen kinderlos bleiben cher Chancen in der beruflichen Entwicklung zu be-
und sich für den klassisch kompromisslosen männlichen kämpfen. Das ist eine langfristige Strategie, und sie
Lebenslauf entscheiden, ist das kein so großes Problem. fordert ein ganzes Bündel unterschiedlicher Maßnah-
Da gibt es zwar die typischen Vorurteile, die jede erfolg- men: Maßnahmen, die Denk- und Verhaltensmuster än-
reiche Frau kennt, aber das machen Frauen oft durch ei- dern, wie zum Beispiel die Vätermonate oder eine
nen besonderen Arbeitseinsatz wieder wett. Sobald Gleichstellungspolitik, die gezielt auch Jungen und
Frauen aber Mütter werden und sich Zeit für Verantwor- Männer in den Blick nimmt, Maßnahmen, die Zeit für
tung nehmen wollen, bezahlen sie dafür mit Gehaltsein- Verantwortung in die Arbeitswelt integrieren, wie zum
bußen und eingeschränkten beruflichen Entwicklungs- Beispiel das Teilelterngeld oder unser wichtiges Vorha-
möglichkeiten. ben einer Familienpflegezeit, und nicht zuletzt auch
Maßnahmen, die die Dominanz von Männern ab einer
(Ulla Burchardt [SPD]: Das ist ja eine ganz gewissen Hierarchiestufe transparent machen und Dis-
neue Erkenntnis! Guten Morgen!) kussionen darüber anstoßen.
2326 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Bundesministerin Dr. Kristina Schröder


(A) (Elke Ferner [SPD]: Da hilft eine Brille, Frau Familienpolitik und Gleichstellungspolitik gehören ei- (C)
Ministerin!) genständig nebeneinander. Das ist der richtige Weg.
Hier setzt unser Stufenplan an. Was wir brauchen, Wir behandeln heute nicht nur die Anträge der Frak-
sind Veränderungen, die wir am besten mit Unterstüt- tionen, sondern auch die Dritte Bilanz der Vereinba-
zung der Unternehmen und nicht im Kampf gegen die rung zwischen der Wirtschaft und der Bundesregie-
Unternehmen erreichen. rung zur Förderung der Chancengleichheit aus dem
Jahre 2008. Frau Schröder, es wäre gut gewesen, wenn
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Aber
Sie sich diese Bilanz einmal angeschaut und sich damit
das reicht nicht! – Elke Ferner [SPD]: Ich
beschäftigt hätten, was in den zurückliegenden neun Jah-
glaube, der Osterhase ist da!)
ren seit 2001 eigentlich passiert ist. Man muss sagen,
Deshalb halte ich eine Quotenregelung nicht für die gleich- dass gleichstellungspolitisch über Freiwilligkeit gar
stellungspolitische Offenbarung. Das gilt insbesondere im nichts erreicht worden ist, noch nicht einmal im Schne-
operativen Bereich, im Management und bei Vorständen; ckentempo. Alle Appelle, die wir an die Wirtschaft ge-
da wäre eine Quotenregelung schon verfassungsrechtlich richtet haben, sind verpufft. Freiwilligkeit hat überhaupt
problematisch. Für Aufsichtsräte allerdings schließe ich nichts gebracht.
eine Mindestanteilsregelung als Ultima Ratio nicht aus.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Denn ich bin überzeugt, als Damoklesschwert kann eine
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
gesetzliche Mindestanteilsregelung für Aufsichtsräte not-
LINKEN)
wendige Veränderungsprozesse in Gang setzen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Frau Schröder, schauen wir doch einmal hin, wo wir
neten der FDP) heute nach neun Jahren stehen: In der Bilanz 2008 ist
konstatiert worden – das haben Sie auch schon gesagt –,
Als Brechstange benutzt, würde sie aber nur die Zahlen dass Frauen bei gleicher Arbeit 22 Prozent weniger als
verändern. Männer verdienten; heute beträgt die Lohnlücke 23 Pro-
zent. In Westdeutschland sind wir – so sagt das Statisti-
Vielleicht brauchen wir aber weder das eine noch das
sche Bundesamt – bei 25 Prozent angelangt. Mit vier an-
andere. Denn Unternehmen können es sich gar nicht
deren Ländern in Europa haben wir die rote Laterne; wir
mehr leisten, in den Führungsetagen auf die Kompetenz
sind das Schlusslicht. Wollen Sie das etwa hinnehmen?
von Frauen zu verzichten.
Wie wollen Sie – das habe ich Ihrer Rede überhaupt nicht
(Elke Ferner [SPD]: Ja, ja! Das hören wir seit entnommen – eigentlich den negativen Trend durchbre-
zehn Jahren! – Christel Humme [SPD]: Guck chen, der sich hier ergeben hat? Brauchen wir dafür
(B) dir die Aufsichtsräte doch mal an!) nicht gesetzliche Regelungen anstelle von Freiwillig- (D)
keit? Brauchen wir nicht endlich ein Entgeltgleichheits-
So viel Selbstbewusstsein sollten wir haben, nicht nur gesetz?
am Weltfrauentag.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
DIE GRÜNEN)
Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Oh! Ist sie schon fertig?) Frauen in Führungspositionen sind immer noch mit
der Lupe zu suchen. Der Frauenanteil in Aufsichtsräten
Präsident Dr. Norbert Lammert: liegt heute bei 4 Prozent. Da, wo die Unternehmen mit-
Nächste Rednerin ist die Kollegin Christel Humme bestimmt sind, wo die Gewerkschaften aktiv sind, gibt es
für die SPD-Fraktion. 11 Prozent Frauen in Aufsichtsräten. Wie sieht es bei
den Vorständen aus? Lediglich eine einzige Frau hat es
(Beifall bei der SPD – Renate Künast [BÜND- geschafft, in den Vorstand eines der DAX-30-Unterneh-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt kommen wir zur men zu kommen. Wie wollen Sie diesen Trend brechen?
Sache!) Wir müssen uns doch die Frage stellen, was zu tun ist.
Hier rate ich Ihnen ganz eindeutig, Frau Schröder,
Christel Humme (SPD):
einmal über den Tellerrand zu gucken. Schauen Sie über
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! die Grenzen hinweg, aber nicht nur nach Norwegen, wo
Zugegeben, ich habe Ihre erste gleichstellungspolitische es schon Erfolge gibt. Schauen Sie einmal auf Ihre kon-
Rede mit Spannung erwartet, Frau Schröder. Was ich in servativen Kolleginnen und Kollegen in Belgien, die ge-
dieser Rede gehört habe, sind aber weder für eine junge rade eine Quote für die Aufsichtsräte einführen wollen.
Ministerin neue Impulse, noch sind es in irgendeiner Eine Quote von 40 Prozent für Aufsichtsräte ist der rich-
Weise konkrete Lösungen im Hinblick auf die berech- tige Weg. Das wollen wir ebenso wie die belgischen
tigte Kritik, die Sie vorgetragen haben. Ganz im Gegen- Freunde, die ebenfalls erkannt haben, dass Freiwilligkeit
teil, Sie machen nach wie vor den Fehler, Familienpolitik nichts bringt.
und Gleichstellungspolitik gleichzusetzen. Ich glaube,
das ist total falsch. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Ich will jedoch – wie das diese Beispiele vielleicht
LINKEN) vermuten lassen – nicht nur Negatives sagen. Positiv ist,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2327
Christel Humme
(A) dass wir eine Frauenerwerbsquote von 66 Prozent er- einem dreijährigen Projekt zur Gleichstellung von (C)
reicht haben. Dies ist mehr, als uns das Lissabon-Ziel Frauen in der Wirtschaft. Sie haben heute – was auch im-
vorschreibt. Aber schauen wir einmal genauer hin, wie mer das sein mag – einen Stufenplan angekündigt. Dabei
es mit dem Arbeitsvolumen aussieht: Das Arbeitsvolu- setzen Sie allerdings wiederum auf Freiwilligkeit. Damit
men ist konstant geblieben, was bedeutet, dass heute in führen Sie die Frauen an der Nase herum.
Deutschland nur 37 Prozent der erwerbstätigen Frauen
(Beifall der Abg. Andrea Nahles [SPD])
einen Vollzeitjob haben. Hätten Sie in die Bilanz hinein-
geschaut, hätten Sie gesehen, dass seinerzeit immerhin Sie suggerieren mit diesen Projekten, dass Sie etwas tun.
noch 45 Prozent der Frauen in Vollzeit beschäftigt wa- Die Wahrheit ist jedoch: An den Verhältnissen ändern
ren. Das heißt, wir haben auch da einen negativen Trend. Sie überhaupt nichts.
Die überwiegende Mehrheit der Frauen ist teilzeitbe-
schäftigt; dies gilt sowohl für sozialversicherungspflich- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
tige Jobs als auch für Minijobs. Von denen, die allein in Wir brauchen keine gleichstellungspolitischen Stroh-
Minijobs sind, sind wiederum zwei Drittel Frauen. feuer, Frau Schröder. Wir brauchen konkrete Maßnah-
Darum sage ich Ihnen, Frau Schröder: Schauen Sie men, die die Frauen ernst nehmen, Maßnahmen, wie wir
genau hin, wie es den Frauen in der Bundesrepublik sie mit unserem Antrag vorgeschlagen haben: einen ge-
geht. Teilzeitarbeit und Niedriglohnsektor sind vor al- setzlichen Mindestlohn, ein Entgeltgleichheitsgesetz, eine
len Dingen weiblich. Damit bauen wir eine Falle auf, die Frauenquote von 40 Prozent für Aufsichtsräte. Das ist
darin besteht, dass niedriger Lohn zugleich eine niedrige eine Politik, die die Forderungen der Frauen nach mehr
Rente für die Zukunft bedeutet. Dies können wir den Gleichstellung tatsächlich ernst nimmt.
Frauen nicht zumuten. Herzlichen Dank.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Darum kündige ich Ihnen jetzt schon einmal an, Frau
Schröder, dass wir ganz genau hinschauen werden, wie Präsident Dr. Norbert Lammert:
Sie die Elternzeit gestalten. Bauen Sie das Risiko für Das Wort erhält nun die Kollegin Bracht-Bendt für
eine Falle aus oder nicht? Ihr Vorschlag für zwei Jahre die FDP-Fraktion.
Pflegezeit, der heute überall herumgeistert, stellt doch (Beifall bei der FDP)
angesichts unserer Arbeitsmarktstrukturen ebenfalls eine
Falle für Frauen dar.
(B) Nicole Bracht-Bendt (FDP): (D)
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Damen und Herren! Nie zuvor waren Frauen so gut aus-
Welche Frau kann es sich denn heute leisten, über meh- gebildet wie heute; das bestätigt eine soeben veröffent-
rere Jahre auf Einkommen zu verzichten? Schauen Sie lichte Studie des Berliner Senats.
einmal hin, wie die Arbeitswelt wirklich aussieht. Der Gender Datenreport Berlin 2009 zeigt allerdings
auch, dass sich der Bildungserfolg von Frauen noch
Meine lieben Kollegen, liebe Kolleginnen, wir haben
nicht auszahlt: Rund 40 Prozent der 35- bis 45-jährigen
in unserem Antrag ganz konkrete Lösungen aufgezeigt,
Männer haben ein monatliches Nettoeinkommen von
die ich bei Ihnen vermisse. Wir können nur sagen: Der
über 1 500 Euro. Bei den Frauen sind es nur 32 Prozent.
gesetzliche Mindestlohn ist genau das richtige Instru-
Mit steigendem Alter wird diese Kluft noch größer.
ment, um Frauen im Niedriglohnsektor zu helfen. Natür-
Frauen gehören weit öfter als Männer zu den Geringver-
lich wollen wir auch den Anteil der Vollzeitbeschäfti-
dienern, aber nur selten zu den Spitzenverdienern.
gung erhöhen und die Einkommenssituation der Frauen
verbessern. Dies geht natürlich nur im Einklang mit der Teilzeitarbeit ist weiblich; daran hat auch das Gleich-
Vereinbarkeit von Familie und Beruf; das ist richtig. Wir stellungsdurchsetzungsgesetz, mit dem die Große Koali-
brauchen einen Ausbau der Betreuung für unter Drei- tion mehr Männer für Teilzeitarbeit motivieren wollte,
jährige und wollen an dem Rechtsanspruch auf diese Be- nichts geändert. 32 Prozent der weiblichen Beschäftigten
treuung festhalten. Auch hier gebe ich Ihnen eines mit arbeiten Teilzeit, ein Drittel davon, weil sie keine Kin-
auf den Weg, Frau Schröder: Nehmen Sie all Ihre Kraft derbetreuung für den ganzen Tag bekommen. Allein-
zusammen und verhindern Sie in Zukunft weitere Steu- erziehende Frauen beziehen statistisch betrachtet am
ersenkungen. Wir brauchen hier die Unterstützung für häufigsten Arbeitslosengeld II.
die Kommunen, die die Betreuungsmöglichkeiten für
unter Dreijährige schaffen müssen. Alles andere wäre Diese Fakten machen deutlich, warum wir auch im
ein gleichstellungspolitischer Rückschritt. Jahre 2010 den Internationalen Frauentag zum Anlass
nehmen sollten, offene Fragen anzusprechen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) Die CDU/CSU-Fraktion und die FDP-Fraktion haben
heute einen Antrag eingebracht. In diesem Antrag wei-
Zum Abschluss. Frau Schröder, ich will nicht ver- sen wir darauf hin, dass sich der Anteil der Frauen, die
hehlen, dass Sie auch Positives tun. Wir hören von der für das Familieneinkommen sorgen, in den letzten
Initiative „Perspektive Wiedereinstieg“, wir hören von 15 Jahren von rund 6 Prozent auf fast 10 Prozent erhöht
2328 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Nicole Bracht-Bendt
(A) hat, im Osten sogar von 10 Prozent auf 13 Prozent. Die nur ein geringes Gehalt bekommen und später wenig (C)
Frage der Frauenerwerbstätigkeit wird für den Alltag Rente zu erwarten haben. Verheiratete Frauen, die auf
der Familien immer wichtiger. das Familieneinkommen des Ehemanns angewiesen wa-
ren, haben meistens wenig für das Alter vorgesorgt.
Dennoch müssen wir feststellen: Obwohl in Deutsch- Altersarmut wird in einigen Jahren weiblich sein. Die
land heute fast 60 Prozent der Hochschulabsolventen Gleichstellungspolitik muss zum Ziel haben, soziale Ri-
Frauen sind, lag laut Statistischem Bundesamt der Ver- siken in den Lebensläufen zu erkennen. Wir brauchen fa-
dienstunterschied zwischen Frauen und Männern 2008 milien-, gleichstellungs- und kinderfreundliche Lebens-
weiterhin bei 23 Prozent. Deutschland liegt damit im eu- und Arbeitsbedingungen.
ropäischen Vergleich auf einem der letzten Plätze.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Es gibt viele Ursachen für Lohnunterschiede: Erstens. der CDU/CSU)
Viele junge Mädchen entscheiden sich noch immer für
traditionell als weiblich geltende Berufe. Viele dieser Ich möchte noch einmal den Begriff Wahlfreiheit
Berufe sind eine Einbahnstraße, weil es so gut wie keine aufgreifen; denn ob Mütter oder Väter berufstätig sind
Aufstiegsmöglichkeiten gibt. und in welchem Umfang, können sie erst dann wirklich
frei entscheiden, wenn die Kinderbetreuung funktioniert.
Zweitens. Wenn sich Frauen der Familie zuliebe für Hier ist auch weiterhin die Politik gefordert.
mehrere Jahre aus dem Beruf ausklinken, haben sie spä-
ter häufig schlechte Karten; denn da sie weniger Berufs- Aber auch die Unternehmen sind in der Pflicht. Wir
erfahrung haben, verdienen sie weniger als männliche brauchen familienfreundliche Arbeitszeitmodelle; denn
Kollegen. das wollen auch junge Väter. Viele von ihnen wollen
nicht nur Feierabendpapis sein. Diese Entwicklung ist
Drittens. Es gibt Probleme bei der Vereinbarkeit von erfreulich.
Familie und Beruf. Diese Probleme sind oft der Grund,
warum Frauen Teilzeit arbeiten. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Meine Damen und Herren, weniger Geld ist das eine.
Lassen Sie mich an dieser Stelle auch noch einmal sa-
Dass Frauen in leitenden Positionen nach wie vor deut-
gen: Die Zeit der Lila-Latzhosen-Frauenpolitik ist vor-
lich unterrepräsentiert sind, ist das andere. In der Privat-
bei.
wirtschaft beträgt der Anteil von Frauen in Führungs-
positionen rund 27 Prozent, im öffentlichen Dienst (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
23 Prozent. NEN]: Sie blicken nicht durch! Lila ist wieder
modern! Typisch FDP! – Jörg van Essen [FDP],
Ein Beispiel: Mittlerweile sind mehr als 50 Prozent an die Abg. Renate Künast [BÜNDNIS 90/ (D)
(B)
derer, die in Zeitungsredaktionen arbeiten, Journalistin- DIE GRÜNEN] gewandt: Typisch Frauen un-
nen. Je weiter es in der Hierarchie nach oben geht, umso tereinander!)
dünner wird die Luft: Chefredakteurinnen machen ge-
rade einmal 1 Prozent aus. Heute muss es darum gehen, das umzusetzen, worüber
wir jahrelang diskutiert haben. Frauen sind auch hier in
Hinzu kommt, dass in Deutschland Frauen, die Karriere der Pflicht. Wir müssen eigenverantwortlich und selbst-
machen, überdurchschnittlich oft kinderlos sind. Dies verständlich für unsere Rechte eintreten.
gilt bekanntlich nicht nur für den Medienbereich.
Am Internationalen Frauentag sollte es nicht aus-
Warum machen Frauen häufig einen Rückzieher, schließlich um die Belange der Frauen gehen. Gleichbe-
wenn Vorstandsposten und leitende Funktionen ausge- rechtigung von Frauen und Männern muss in allen ge-
schrieben werden? Wenn die Kindertagesstätte um fünf sellschaftlichen Bereichen selbstverständlich sein.
schließt, ist für Alleinerziehende eine Tätigkeit, die häu-
fig mit Überstunden verbunden ist, nicht machbar. Von (Beifall bei der FDP)
Wahlfreiheit kann erst die Rede sein, wenn das Infra- Lassen Sie uns gemeinsam die Weichen dafür stellen,
strukturangebot bei der Kinderbetreuung stimmt. damit Benachteiligungen in der Wirtschaft, in der Ar-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten beitswelt, in der Politik und in der Gesellschaft endlich
der CDU/CSU) ausgeräumt werden.

Fehlende flexible Öffnungszeiten von Kindergärten (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
sind aber nicht das einzige Motiv dafür, dass Frauen oft
keine Führungsaufgabe anstreben. Frauen fehlt es auch Präsident Dr. Norbert Lammert:
an Selbstbewusstsein. Frauen gründen selten Netzwerke. Die Kollegin Cornelia Möhring von der Fraktion Die
Seilschaften sind für sie etwas Unanständiges, während Linke ist die nächste Rednerin.
sie für Männer als klarer Karrierevorteil selbstverständ- (Beifall bei der LINKEN)
lich sind. Ich rate allen Frauen, mehr Eigen-PR zu leisten
und offensiv für sich einzutreten – auch bei Gehaltsver-
Cornelia Möhring (DIE LINKE):
handlungen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich be-
Wenn wir über Gleichstellungspolitik reden, dann fürchte, wir führen hier eigentlich eine völlig überflüs-
denke ich nicht nur an Frauen in der obersten Etage. Wir sige und auch verlogene Debatte, und ich glaube, die
müssen auch über die Situation von Frauen reden, die meisten von uns wissen das auch.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2329
Cornelia Möhring
(A) Mit dem Thema dieser Diskussion tun CDU, CSU Appellen der Bundesregierungen an die Wirtschaft zu (C)
und FDP so, als wollten sie mit ihrer Politik tatsächlich freiwilligen Selbstverpflichtungen, allen Aktionstagen
ernsthafte Fortschritte bei der Gleichstellung von Frauen und Förderprogrammen zum Trotz. Die Gründe für die
und Männern erreichen. Entgeltungleichheit sind vielfältig; aber alle sind poli-
tisch beeinflussbar, wenn ein entsprechender Wille dazu
(Iris Gleicke [SPD]: Nein, das würden die
vorhanden wäre.
niemals machen!)
In Wirklichkeit interessiert sie die Gleichstellung aber (Beifall bei der LINKEN)
nur dann, wenn es für die Wirtschaft nützlich ist und Der Bundesregierung fehlt aber der Wille. Sie ver-
nichts kostet. schärft die Lohndiskriminierung weiter, statt zu ihrer Be-
(Beifall bei der LINKEN) kämpfung beizutragen. Sie weiten den Niedriglohnsek-
tor aus, in dem überproportional viele Frauen beschäftigt
Die Lage der Betroffenen ist in ihrem Denken völlig au- sind. Internationale Erfahrungen zeigen uns, dass eine
ßen vor. wirksame Strategie zur Bekämpfung der Entgeltun-
Schon das Gleichstellungsverständnis der Koalitions- gleichheit die Einführung flächendeckender gesetzlicher
fraktionen ist selektiv und kritikwürdig. Sie beschränken Mindestlöhne beinhalten muss.
Gleichstellung auf Chancengleichheit bei der Teilhabe. (Beifall bei der LINKEN)
Dabei hat schon das Bundesverfassungsgericht vor Jah-
ren festgestellt, dass Gleichstellung Teilhabe und Anti- Die Linke fordert das seit Jahren: Wir wollen, dass spä-
diskriminierung sowie ein Leben frei von Rollenstereo- testens 2013 jede Frau und jeder Mann für jede Stunde
typen beinhalten muss. Erwerbsarbeit mindestens 10 Euro erhält.
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN)
Davon ist die Bundesregierung mit ihrer Gleichstel- Die Bundesregierung setzt auch in dieser Wahlpe-
lungspolitik Lichtjahre entfernt. riode auf freiwillige Selbstverpflichtungen der Wirt-
schaft. Das bedeutet erneuten Stillstand statt mehr
(Beifall bei der LINKEN)
Frauen in den Chefetagen.
Meine Damen und Herren, in vier Tagen begehen wir
den Internationalen Frauentag. In den 99 Jahren sei- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
nes Bestehens haben Frauen weltweit viele Fortschritte Besonders in den großen Konzernen haben Frauen so gut
erreicht. Dennoch müssen sie auch heute noch um ihre wie keine Chance, in höhere Hierarchieebenen aufzu- (D)
(B) demokratischen Rechte, für Frieden, für gleichen Lohn
steigen. Die wenigen, die es dorthin schaffen, erwartet
bei gleichwertiger Arbeit und um ihre Teilhabe an der eine herbe Enttäuschung: Sie erhalten für gleiche Arbeit
Gesellschaft kämpfen – auch in der Bundesrepublik. weniger Gehalt, weniger Sonderzahlungen und Boni. All
So mussten die Verkäuferinnen bei Hertie und Quelle das weiß die Bundesregierung, lehnt aber trotzdem eine
im letzten Jahr erfahren, dass formale Gleichberechti- verbindliche Festlegung von Quoten für die Privatwirt-
gung nicht automatisch auch reale Gleichbehandlung be- schaft ab. Da muss wirklich die Frage erlaubt sein, wie
deutet. Für die Rettung kriminell agierender Banken hat ernst Sie es mit der beruflichen Gleichstellung von
die Bundesregierung 2009 einen riesigen Schutzschirm Frauen meinen.
aus Hunderten Milliarden Euro aufgespannt. Für die (Beifall bei der LINKEN)
Verkäuferinnen hatten Sie nicht einmal ein Cocktail-
schirmchen übrig. Heute liegt Ihnen ein Antrag meiner Fraktion zur
wirksamen Durchsetzung der Entgeltgleichheit zwischen
Dieses Jahr ist das Europäische Jahr zur Bekämp- den Geschlechtern vor. Danach sollen Arbeitgeber und
fung von Armut und sozialer Ausgrenzung. Auch vor Tarifparteien vom Gesetzgeber zur Herstellung der Ent-
diesem Hintergrund ist es dringlich, endlich verpflich- geltgleichheit bei Wahrung der Tarifautonomie ver-
tende Maßnahmen zur Beseitigung der Entgeltungleich- pflichtet werden. Die Bundesregierung lehnt eine solche
heit zwischen Frauen und Männern festzulegen. Verpflichtung ab. Diese Haltung negiert die Verantwor-
(Beifall bei der LINKEN – Iris Gleicke [SPD]: tung der Politik gemäß Art. 3 Grundgesetz für den
Wohl wahr!) Schutz von Frauen vor Diskriminierung und für die Be-
seitigung aller bestehenden Benachteiligungen.
2010 sollte der Unterschied in der Bezahlung von
Frauen- und Männerarbeit in der BRD eigentlich nur Der uns vorliegende Antrag der Koalitionsfraktionen
noch 15 Prozent betragen. So hatte es die Bundesregie- listet fast alle Defizite auf, die zur Verbesserung der
rung 2008 beschlossen. Das wäre zwar immer noch kein Lage von Frauen in der Bundesrepublik zu beseitigen
Ruhmesblatt für die Politik, aber doch eine deutliche wären; aber er enthält für keines der Defizite eine Lö-
Verbesserung. sungsstrategie. Daher lehnt meine Fraktion den Antrag
ab. Stattdessen fordert die Linke: Schluss mit den Mini-
Die Realität sieht aber anders aus: In den unteren und jobs, her mit einem flächendeckenden gesetzlichen Min-
mittleren Gehaltsgruppen erhalten Frauen konstant im- destlohn in Höhe von 10 Euro bis 2013!
mer noch 22 bis 23 Prozent, in den höheren Gehaltsgrup-
pen sogar 27 Prozent weniger Lohn als Männer, allen (Beifall bei der LINKEN)
2330 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Cornelia Möhring
(A) Schluss mit den zarten Bitten an die Unternehmen, her (Iris Gleicke [SPD]: Ja!) (C)
mit einem Gleichstellungsgesetz für die Privatwirt-
Insbesondere durch das Ehegattensplitting halten wir
schaft!
weiter an einer Ideologie fest, die lautet: Frauen sollen
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) am besten zu Hause bleiben und dem Arbeitsmarkt fern-
bleiben. Das ist eine Ideologie. Sie haben noch keine
Schluss mit Prüfaufträgen und Evaluierungsverfahren, einzige Antwort darauf geliefert, wie wir diese Ideologie
her mit einem Gesetz, das gleiche Löhne für gleiche und in unserem Land überwinden können.
gleichwertige Arbeit garantiert!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. sowie bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall bei der LINKEN) Damit komme ich zu der Kernfrage. Die Gleichstel-
lung auf dem Arbeitsmarkt ist und bleibt die Kernfrage
Präsident Dr. Norbert Lammert: des neuen Feminismus. Jetzt höre ich aber von der Mi-
Frau Kollegin Möhring, das war Ihre erste Rede im nisterin und von Mitgliedern der CDU/CSU-Fraktion
Deutschen Bundestag, zu der ich Ihnen herzlich gratu- wie Frau Bär, dass Sie Feminismus als einen Kampfbe-
liere, verbunden mit allen guten Wünschen für die wei- griff sehen und sich gerne davon distanzieren.
tere Arbeit.
(Zuruf von der SPD: Sie wissen ja nicht, was
(Beifall) das heißt!)
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ekin Deligöz für Ich halte das für einen Fehler. Der Feminismus ist für
die Fraktion der Grünen. mich bzw. für uns junge Frauen das Ergebnis einer Frau-
enrechtsbewegung. Diesem Feminismus haben wir es zu
Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): verdanken, dass wir heute diese Debatte führen können.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Internationale Frauentag ist der Tag, an dem wir eine Bi- sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
lanz ziehen müssen: Wie steht es im Jahr 2010 um die KEN)
Gleichstellung der Geschlechter? Frau Ministerin, leider
hat mir Ihre Rede bei dieser Frage nicht wirklich viel Diesem Feminismus haben wir es zu verdanken, dass
Hoffnung gegeben. junge Frauen, dass unsere Generation aufrecht und
selbstbewusst durchs Leben gehen kann. Diesem Femi-
(Beifall der Abg. Elke Ferner [SPD] – Iris nismus haben wir es zu verdanken, dass meine Tochter
(B) Gleicke [SPD]: Das ist wohl wahr!) auch das Büro, also Frauen im Beruf, für selbstverständ- (D)
Sie haben uns hier eine Analyse geliefert; Sie haben ver- lich hält statt für irgendetwas, das in weiter Ferne liegt.
sucht, irgendwie die Verhältnisse zu erklären. Sie müs- Diesem Feminismus haben wir es zu verdanken, dass
sen aber schlicht und einfach die Fakten anerkennen, wir über Gleichstellung und gleiche Chancen von Män-
dass hier in Deutschland von Gleichberechtigung über- nern und Frauen reden. Von diesem Feminismus sollten
haupt keine Rede sein kann Sie sich nicht distanzieren. Vielmehr sollten Sie sich ihm
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) verpflichtet fühlen. Das ist Ihre Aufgabe.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und wir überhaupt nicht davon reden können, dass
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
Gleichstellung tatsächlich stattfindet. Dazu gibt es be-
KEN)
kanntermaßen jede Menge Zahlen und Fakten. Ihre Ana-
lyse bringt uns also nicht weiter. Nehmen Sie es einfach Was aber macht die Regierung? Sie machen Frauen-
zur Kenntnis! politik zu einer Prüfaufgabe. Sie reden. Sie wollen ein-
treten. Sie wollen werben. Sie wollen ankündigen. Sie
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
wollen prüfen, ob Sie prüfen, dass Sie prüfen.
sowie bei Abgeordneten der SPD)
(Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
Ein paar Beispiele: Frauen verdienen bei uns immer
SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)
noch deutlich weniger als Männer. Dies unterstreicht
auch der europäische Vergleich. Wenn es um Führungs- Das reicht doch nicht. Sie müssen schon ein bisschen
posten geht, bleiben Männer hierzulande lieber unter mehr machen.
sich; sie haben ungern Frauen mit dabei. Das ist Fakt.
Eines machen Sie: Sie halten an einem alten Gesell-
Nach wie vor sind es vor allem Frauen, die Opfer von
schaftsvertrag fest und machen aus einem kleinen Unter-
häuslicher Gewalt sind. Armut in Deutschland hat vor
schied einen großen, und darauf sind Sie auch noch
allem ein weibliches Gesicht. Das ist Fakt. Frauen sind
stolz. Das ist Ihr Fehler.
immer noch diejenigen, die die Frage der Vereinbarkeit
von Familie und Beruf alleine lösen müssen, auch wenn (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Sie noch so viel über Männerpolitik reden. Das ist Fakt. sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
KEN)
Ich könnte diese Aufzählung immer weiter fortsetzen.
Spitze ist Deutschland auch im europäischen Vergleich Es liegt viel im Argen. Wir Grünen haben in der letz-
nur in einem einzigen Punkt: in der Eheförderung. ten und in dieser Wahlperiode jede Menge Vorschläge
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2331
Ekin Deligöz
(A) gemacht: Gleichstellungsgesetz in der Privatwirtschaft, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (C)
Mindestlohn – davon würden vor allem Frauen profitie- Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
ren – und die eigenständige Existenzsicherung von NEN]: Wann denn sonst, Frau Bär?)
Frauen.
Das zeigt doch ganz deutlich, dass für uns Frauenpoli-
In diesem Zusammenhang muss ich leider der SPD tik kein Gedöns ist, wie das bei anderen Fraktionen der
sagen: Sie hätten dem allen zustimmen können. Sie hät- Fall ist, sondern dass wir Frauenpolitik ernst nehmen.
ten mutiger sein können. Sie hätten das alles mitmachen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
können. Wo waren Sie in den letzten Jahren?
Ich finde es beeindruckend, welche Beißreflexe aus-
(Christel Humme [SPD]: In der Großen Koali-
gelöst werden. Ganz ehrlich, meine lieben Kolleginnen
tion!)
von den Grünen und der SPD, Sie glauben doch nicht,
Es ist schön, dass Sie das jetzt endlich auch erkannt ha- dass Sie etwas für die Frauen in diesem Land erreichen
ben, aber es wäre besser gewesen, Sie hätten es früher können, wenn Sie eine Kollegin hier so behandeln.
erkannt. Dann wäre das jetzt nämlich alles per Gesetz
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
geregelt.
Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN NEN]: Setzen Sie sich mal durch, Frau Bär!)
sowie bei Abgeordneten der FDP)
– Frau Künast, immer die Lauteste zu sein, bringt nichts,
Wir wollen, dass jede und jeder so leben kann, wie sie wenn man keine Ergebnisse vorweisen kann. Da Sie sich
oder er es möchte, aber nicht auf Kosten des anderen Ge- angeblich so für Frauen und lila Latzhosen einsetzen,
schlechts. Eine echte Gleichberechtigung fordert beiden wie Sie vorhin betont haben
Seiten etwas ab. (Widerspruch bei der SPD und dem BÜND-
Sie propagieren Jungenpolitik bzw. Männerpolitik. NIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich erziehe einen Sohn und eine Tochter. Ja, ich will, – das hat sie gesagt; Sie hätten die Zwischenrufe hören
dass mein Sohn Chancen im Leben und die bestmögliche sollen –, hätte ich mir gewünscht, dass Sie sich in den
Förderung hat. Ich will aber auch, dass meine Tochter sieben Jahren von Rot-Grün auch für die Frauen einge-
die gleichen Chancen und Rechte hat, und zwar nicht setzt hätten. Es tut mir leid, aber das haben Sie nicht ge-
nur, indem ihr Bruder sich für sie einsetzt, sondern weil tan.
es in diesem Land selbstverständlich ist, dass sie die
gleichen Rechte hat. Das sollten wir durchsetzen, statt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(B) nur darüber zu reden. Ich habe mich vor 17 Jahren mit Begeisterung in mein (D)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN politisches Ehrenamt gestürzt und hätte jemandem, der
sowie bei Abgeordneten der SPD) mir damals gesagt hätte, dass wir im Jahr 2010 eine De-
batte wie die heutige führen würden, nicht geglaubt. Lei-
Präsident Dr. Norbert Lammert: der Gottes müssen wir eine solche Debatte führen, weil
in diesem Land nicht alles so ist, wie wir uns das vorstel-
Frau Kollegin Deligöz, ich erlaube mir den Hinweis,
len. Dass Frauenpolitik eine gesamtgesellschaftliche
dass mindestens bei der großzügigen Bemessung der Re-
Aufgabe und nicht nur ein Frauenthema ist, lässt nur die
dezeit der amtierende Präsident Kolleginnen mindestens
CDU/CSU-Fraktion erkennen; denn wir sind die einzige
gleichberechtigt behandelt.
Fraktion, die später auch einem Mann das Wort geben
(Heiterkeit) wird.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dorothee Bär für (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
die CDU/CSU-Fraktion.
Unter Zeugen hat unser Fraktionsvorsitzender vorhin ge-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sagt, dass er in dieser Debatte zu Wort kommen möchte.
Das ist hiermit notiert und wird ihm auch gewährt.
Dorothee Bär (CDU/CSU): Ich bitte Sie, sich nun dem Thema angemessen zu
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! verhalten und vielleicht auch denjenigen zuzuhören, die
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte am Rednerpult stehen.
mich zunächst bei unseren Parlamentarischen Geschäfts-
führern, Herrn Altmaier, Herrn Müller und Herrn van (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Essen, bedanken, dass unsere beiden Koalitionspartner NEN]: Redepult!)
die Wichtigkeit dieses Themas auch dadurch erkennen Eine Studie der Hertie School of Governance belegt,
lassen und zum Ausdruck bringen, dass nur 27 Prozent der Führungskräfte in der Privat-
(Widerspruch bei der SPD und dem BÜND- wirtschaft Frauen sind. Wir dürfen aber nicht nur mit
NIS 90/DIE GRÜNEN – Renate Künast dem Finger auf die Privatwirtschaft zeigen; denn im öf-
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was für eine fentlichen Dienst ist diese Quote mit 23 Prozent noch
lange Schleimspur!) schlechter. Wenn wir uns andere EU-Länder ansehen,
müssen wir feststellen, dass wir in Deutschland mit dem
dass wir es heute seit 9 Uhr in der Kernzeit behandeln. Anteil von Frauen in Führungsetagen nur im unteren
2332 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Dorothee Bär
(A) Mittelfeld liegen. In einigen Ländern gibt es gesetzliche (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (C)
Maßnahmen zur Gleichstellung – darüber haben wir bei der SPD und der LINKEN)
schon im Ausschuss gesprochen –, beispielsweise in
Norwegen und den Niederlanden. Leider gilt im Jahr Dorothee Bär (CDU/CSU):
2010 noch immer, dass es der beruflichen Entwicklung Es tut mir leid, dass Sie es einfach nicht kapiert ha-
junger Frauen schadet, wenn sie in der Familiengrün- ben.
dungszeit zu lange aussetzen oder in Teilzeit arbeiten.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wir haben in der letzten Legislaturperiode begonnen,
gegenzusteuern. Wir von der Union haben Zukunftspo- Mehr kann man dazu leider nicht sagen, Frau Sager.
litik gemacht. Zukunftspolitik ist natürlich nichts ande- Aber ein Blick in das Protokoll wird Ihnen vielleicht er-
res als Familienpolitik. Wir haben einige Maßnahmen in möglichen, das zu begreifen, was ich hier mitgeteilt
die Wege geleitet, zum Beispiel den quantitativen und habe.
qualitativen Ausbau der Kinderbetreuung in diesem (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Land. Wir haben des Weiteren das Elterngeld eingeführt
und für eine bessere steuerliche Absetzbarkeit der Be- Wir sollten uns hier eher damit beschäftigen, heraus-
treuungskosten gesorgt. Wir leisten dadurch einen wich- zufinden, wo die Ursachen liegen. In den Unternehmen
tigen Beitrag für die Vereinbarkeit von Beruf und Fami- gibt es immer noch eine übertriebene Anwesenheitskul-
lie. tur. Natürlich muss man das anprangern. Jeder von uns
weiß, dass alleine die Anwesenheit im Plenum keinen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Abgeordneten zu einem guten Parlamentarier macht.
Dasselbe muss auch für die Privatwirtschaft gelten. Es
Es ist nicht nachvollziehbar, dass gut ausgebildeten, darf nicht sein, dass diejenigen, die abends die Letzten
hochmotivierten Frauen nicht in gleichem Maße Verant- sind und das Licht ausmachen, befördert werden. Frauen
wortung übertragen wird wie Männern. Für mich ist es können sich oft nicht leisten, bis abends in Diskussions-
daher nicht nachvollziehbar, dass Frauen erst dann ge- runden zu sitzen. Frauen wollen effizient arbeiten und
holt werden, wenn es gar nicht mehr anders geht. Viel- Ergebnisse liefern.
mehr müssen schon im Vorfeld Schritte gemacht wer-
den. Man darf nicht so lange warten, bis es nicht mehr Wir wollen ein weiteres wichtiges Thema bearbeiten,
genügend Männer gibt. nämlich den Unterschied im Lohn. Heute wurde schon
mehrfach von verschiedenen Kolleginnen und Kollegen
Auch mir war zunächst nicht die Möglichkeit gege- der Oppositionsfraktionen angesprochen, dass Frauen
ben, in meiner Pfarrgemeinde zu ministrieren. Erst ein weniger als Männer verdienen. Das stimmt nicht.
(B) paar Jahre später, als es nicht mehr genügend Jungen (D)
gab, wurden die Mädels herangezogen. Mir ist wichtig, (Zurufe von der SPD: Was?)
dass die Privatwirtschaft erkennt, dass sie nun die Mög- Frauen verdienen genauso viel wie Männer, aber sie be-
lichkeit hat, Frauen zu beschäftigen, weil dann effizien- kommen weniger. Das ist der große Unterschied.
ter und wirtschaftlicher gearbeitet wird, Stichwort
„Fachkräftemangel“. Wir haben – das hat die Ministerin (Beifall bei der CDU/CSU)
bereits angesprochen – im Koalitionsvertrag einen Stu- Deswegen wollen wir die Bedingungen dafür schaffen,
fenplan zur Erhöhung des Anteils von Frauen in Vorstän- dass diese Lohnlücke geschlossen wird; denn
den und Führungspositionen vorgesehen. Wir setzen uns 40 Prozent Lohnlücke kann man nicht nur damit erklä-
mit der Vereinbarung der Bundesregierung mit der Pri- ren, dass Frauen niedrig bezahlte Berufe wählen und fa-
vatwirtschaft für mehr Gleichberechtigung ein. Aber – milienbedingte Erwerbsunterbrechungen haben. Bei-
auch das möchte ich an der Stelle sagen – wenn sich wei- spielsweise gibt es bei Berufsanfängerinnen immer noch
terhin nichts tut, dann werden wir zusätzlich konkrete einen Unterschied von 18,7 Prozent zum Lohn der Be-
Maßnahmen beschließen müssen. rufsanfänger. Der lässt sich dadurch nicht erklären.
(Abg. Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ein letztes Wort an die Kolleginnen von der SPD, die
NEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage) die ganze Zeit mehr mit sich selbst als mit der Sache be-
schäftigt sind. Sie sollten vielleicht einmal in Ihrer eige-
Präsident Dr. Norbert Lammert: nen Partei dafür sorgen, dass erstens diese Themen nicht
Bitte schön, Frau Kollegin Sager, Sie haben Gelegen- wie Gedöns behandelt werden – das habe ich vorhin an-
heit zu einer Zwischenfrage. gesprochen – und zweitens auch Ihre männlichen Kolle-
gen mit Frauen in der Politik anders umgehen. Wenn Ihr
ehemaliger Parteivorsitzender Herr Beck sagt, er wolle
Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): im Wahlkampf in Rheinland-Pfalz Frau Klöckner wie ei-
Frau Kollegin Bär, Sie haben gerade darauf hingewie- nen Mann behandeln, nämlich fair und sachlich, dann
sen, dass Sie einfach erfolgreich gewartet haben, bis heißt das im Umkehrschluss, dass er sonst mit Frauen
keine männlichen Messdiener mehr zur Verfügung stan- anders umgeht. Das empfinde ich als viel skandalöser als
den und Sie dann an der Reihe waren. Dürfen wir das so alles andere.
verstehen, dass wir einfach so lange warten sollen, bis
Vielen Dank.
keine Männer mehr in die Aufsichtsräte wollen und wir
endlich an der Reihe sind? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2333

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: nierung wahrlich nicht mehr, aber es gibt diskriminie- (C)
Elke Ferner ist die nächste Rednerin für die SPD- rende Strukturen in unserer Gesellschaft. Diese
Fraktion. Barrieren gilt es zu überwinden. Das ist die gläserne De-
cke, gegen die Frauen noch immer stoßen und die sie da-
(Beifall bei der SPD) ran hindert, in Führungspositionen hineinzukommen.

Elke Ferner (SPD): (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Ei- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
gentlich könnten wir jedes Jahr am Internationalen Frau- Diese Frauenministerin hält nach drei Monaten ihre
entag die Reden vom Jahr davor hervornehmen. Es hat erste gleichstellungspolitische Rede und hat nichts ande-
sich seit 99 Jahren leider immer noch nichts geändert. Es res als einen Antrag der Koalitionsfraktionen anzubie-
geht immer noch um die gleichen Themen. Was mich bei ten, in dem es um die Unterstützung bei Gehaltsverhand-
dieser Debatte – das muss ich ganz offen sagen – nach lungen geht. Equal Pay, gleiche Bezahlung, ist doch
30 Jahren Frauenpolitik und Gleichstellungspolitik wirk- keine Frage der Unterstützung bei Gehaltsverhandlun-
lich aufregt, ist, welches Verständnis zumindest Teile des gen. Gleiche Bezahlung für gleiche bzw. gleichwertige
Hauses vom Thema Gleichstellungspolitik haben. Arbeit ist ein Recht. Es ist kein Kavaliersdelikt, wenn
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dagegen verstoßen wird.
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
GRÜNEN) der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
Es geht hier nicht um die Frage, ob Gleichstellung ge- GRÜNEN)
währt wird, sondern es geht um Rechte. Wir haben ein
Das ist Diskriminierung, ob jetzt schenkelklopfend oder
Grundgesetz mit dem Art. 3. Viele Frauen haben damals
nicht, aber es ist und bleibt eine Diskriminierung, nichts
gekämpft, dass er in das Grundgesetz hineinkommt.
anderes. Dagegen muss man vorgehen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Länder, in denen es entsprechende gesetzliche Maß-
nahmen gibt, stehen auf dem Gender-Index besser als
Viele Frauen von der eben viel gescholtenen Lila-Latz- wir da. Dort sind mehr Frauen in Führungspositionen. Es
hosen-Generation haben in ihrer Zeit für eine Weiterent- gibt bessere Einrichtungen zur Kinderbetreuung und
wicklung der gesellschaftlichen Gleichstellung ge- bessere Möglichkeiten zur Vereinbarung von Familie
kämpft. Ich finde, es steht uns überhaupt nicht an, diese und Beruf. Das Gender-Pay-Gap, also der Unterschied in
(B) Frauengeneration in irgendeine Ecke zu stellen; denn der Bezahlung von Männern und Frauen, ist in solchen (D)
ohne diese Frauengeneration wären viele von uns heute Ländern nicht so groß wie bei uns. Darin, über diese Fra-
nicht da, wo sie heute sind. gen zu diskutieren, sind wir spitze. Aber wenn es darum
geht, Art. 3 des Grundgesetzes mit Leben zu füllen, dann
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
sind wir ganz hinten, insbesondere mit dieser Regierung.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Renate
Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vor Ich befürchte, dass es in den nächsten vier Jahren zu
allem die von der Union nicht!) einem Stillstand in der Gleichstellungspolitik kommen
Die Frage ist: Welches Verständnis von Gleichstel- wird, weil Sie nicht bereit sind, endlich entsprechende
lungspolitik haben wir? In dem Antrag der Koalitions- Maßnahmen zu ergreifen. Wir haben jetzt seit über zehn
fraktionen steht – ich zitiere –: Jahren freiwillige Vereinbarungen, die nichts gebracht
haben. Es wird die Frauen keinen Millimeter weiterbrin-
Gleichstellungspolitik muss gezielt die Unter- gen, noch einmal vier Jahre und danach noch weitere
schiede in den Lebensverläufen von Frauen und vier Jahre auf freiwillige Vereinbarungen zu setzen. Was
Männern berücksichtigen und bei der Familien- wir brauchen, sind verbindliche Regelungen, die bewir-
gründung oder in der Phase des Wiedereinstiegs ins ken, dass die Barrieren abgebaut werden, beispielsweise
Erwerbsleben zielgenaue Hilfe anbieten. auch die Barrieren in unserem Einkommensteuerrecht,
das das Zuhausebleiben befördert und nicht unbedingt
Das unterscheidet uns: Wir wollen uns mit diesen Ver- den Einstieg oder Wiedereinstieg in den Beruf.
hältnissen nicht abfinden. Wir wollen die Verhältnisse
ändern, nicht die Auswirkungen beklagen, aber dann et- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
was darüberstülpen, um das Ganze zu kaschieren.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, ich darf Ihnen einen
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten letzten Rat mit auf den Weg geben. Sie haben vernünfti-
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE gerweise das Betreuungsgeld in Ihrem Antrag schon gar
GRÜNEN) nicht mehr erwähnt. Beerdigen Sie diese Idee. Das Be-
Frau Schröder, es stimmt auch nicht, dass nur Eltern, treuungsgeld ist ein Baustein für mehr Ungleichheit statt
sprich Mütter, benachteiligt sind. Sie sind stärker be- zu mehr Gleichheit.
nachteiligt; das ist richtig. Aber auch Frauen ohne Kin- Vielen Dank.
der, ob sie nun gewollt oder ungewollt kinderlos sind,
werden benachteiligt. Sie kommen nicht in Führungspo- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
sitionen hinein. Gut, schenkelklopfend ist die Diskrimi- DIE GRÜNEN)
2334 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: chen, weil die Frauen viel von der Erziehungszeit (C)
Das Wort hat nun die Kollegin Miriam Gruß für die übernehmen. Aber es muss auch Ziel sein – und es ist
FDP-Fraktion. das Ziel dieser Regierung –, Jungen die gleichen
Startchancen zu geben und einen neuen Blick auf Jun-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gen- und Männerpolitik zu werfen.
der CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Miriam Gruß (FDP): Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr gut! Wir
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten sind nämlich auch sensibel!)
Damen und Herren! Liebe Frau Ferner, Sie haben gerade Wir müssen Stereotypen überwinden. Es ist beispiels-
beklagt, dass wir jedes Jahr den Internationalen Frauen- weise nach wie vor so, dass sich fast ausschließlich
tag begehen und immer wieder darüber reden, sich aber Frauen in Erzieherberufen wiederfinden und Männer
Jahr für Jahr nichts ändere. Ich glaube, in den letzten elf umgekehrt meist technische oder handwerkliche Berufe
Jahren haben Sie regiert. Sie hätten etwas tun können. ergreifen. Diese traditionell weiblichen oder traditionell
Warum stehen Sie jetzt hier und beklagen die Situation, männlichen Berufe bringen aber auch Probleme mit sich,
die Sie elf Jahre lang hätten ändern können? wie beispielsweise den Mangel an Männern in Erzieher-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten berufen. Es ist wichtig, dass wir daran etwas ändern,
der CDU/CSU) denn auch Jungen brauchen Vorbilder, und zwar auch
männliche. Deswegen brauchen wir mehr Männer in Er-
Für mich verhält es sich mit dem Internationalen zieherberufen. Es muss gestattet sein, auch das in der
Frauentag wie mit vielen Gedenktagen: Debatte zum Internationalen Frauentag zu sagen.
(Lachen bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Es ist wichtig und richtig, dass wir diese Gedenktage be- Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
gehen und an diesen Tagen über die Verhältnisse spre- NEN]: Nehmen Sie sich doch einen aus Ihrer
chen und diskutieren. Aber wir sollten eben nicht nur an Fraktion als Vorbild!)
diesem einen Tag darüber reden, sondern wir müssen Wir wollen deswegen Initiativen fortführen und er-
365 Tage im Jahr darüber reden, diskutieren, aber auch weitern, zum Beispiel neben dem Girls’ Day auch einen
Lösungen finden. Diese Koalitionsfraktionen bieten Lö- Boys’ Day ins Leben rufen und die Initiative „Neue
sungen an, und zwar im Gegensatz zu Ihnen, die Sie die Wege für Jungs“ fortführen, weil wir wissen, dass Jun-
letzten elf Jahre nur Maßnahmen verkündet, aber nichts gen, die beispielsweise im Rahmen von Schnupperprak-
davon durchgesetzt haben. tika Einblick in traditionell weibliche Berufe bekommen (D)
(B)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) haben, sich auch selbst eine Berufstätigkeit in diesen Be-
reichen vorstellen können.
Im Koalitionsvertrag haben wir einige Maßnahmen
festgehalten, wie zum Beispiel einen Rahmenplan zur Für alle gilt: Die Vereinbarkeit von Familie und Be-
gleichberechtigten Teilhabe von Frauen in den verschie- ruf ist ein ganz wichtiger Schritt für die Gleichstellung
denen Phasen des Lebensverlaufs, die Weiterführung der im Leben. Aber – das ist schon gesagt worden – auch
Bundesinitiative „Gleichstellung von Frauen in der Wirt- Männer wollen Familienzeit erleben können. Der Aus-
schaft“, Maßnahmen zur Förderung eines leichteren bau der Betreuung muss deshalb oberste Priorität haben,
Wiedereinstiegs in das Berufsleben und die Überwin- und zwar qualitativ wie quantitativ. Betreuung erschöpft
dung der Entgeltungleichheit durch das Lohntestverfah- sich im Übrigen nicht in der Betreuung von unter Drei-
ren Logib-D. jährigen, sondern bezieht sich auf die gesamte kindliche
Lebensphase. Deswegen müssen wir zusammen mit den
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ländern Lösungen finden, die eine qualitativ gute Be-
NEN]: Wir brauchen keine Modellprojekte treuung und bei Trägervielfalt eine flexible Betreuung
und Freiwilligendinger, sondern Sie müssen ermöglichen.
mal zur Sache kommen!)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zu-
Wichtig ist mir ganz persönlich aber auch die Erwei- ruf von der SPD: Sie müssen das dann aber
terung des Blickwinkels in der Gleichstellungspolitik auf auch finanzieren wollen!)
Jungen und Männer. Ich möchte an diesem Tag betonen
– weil es da auch bestimmte Befürchtungen gibt –, dass Vereinbarkeit von Beruf und Familie erfordert aber
wir durch die Einbeziehung von Jungen und Männern in auch familiengerechte Arbeitszeiten. Wir brauchen eine
unsere Gleichstellungspolitik nicht die Wichtigkeit der Arbeitswelt, die auf Familien Rücksicht nimmt. Dies gilt
weiteren Mädchen- und Frauenförderung vergessen dür- nicht nur für die Betreuung von Kindern, sondern – diese
fen. Das will auch diese Koalition nicht. Wir wollen nur Debatte ist gestern angestoßen worden – natürlich auch
den Blickwinkel erweitern, weil er in den letzten Jahren für die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf. Der gesamte
verengt war. Pflegebereich ist noch sehr weiblich geprägt. Wir müs-
sen diese Debatte anstoßen und Chancen eröffnen, die
Es kommt nicht von ungefähr, dass wir jetzt darüber die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf sowohl für
sprechen, dass Jungen die Bildungsverlierer sind und öf- Frauen als auch für Männer ermöglichen.
ter schlechtere Startchancen haben, aber dann irgend-
wann weiter Karriere machen und die Nachteile ausglei- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2335
Miriam Gruß
(A) Gestern hat eine Kollegin von den Linken im Hessi- dreimal geraten werden, wer der Hauptverdiener ist –, so (C)
schen Landtag, Frau Schott, gefordert, den Internationa- lange zementieren wir alte, überkommene Rollenmo-
len Frauentag in Hessen, aber auch nur in Hessen zum delle. Das Ehegattensplitting gehört abgeschafft. Die
Feiertag zu machen. Wir müssen den Internationalen Idee des Haupternährers ist ein alter Zopf, der im
Frauentag zum Anlass nehmen, um die bestehenden Pro- 21. Jahrhundert endlich abgeschnitten gehört.
bleme ins Bewusstsein zu rufen, sie anzugehen und Lö-
sungen für sie zu finden – und zwar über Hessen hinaus. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
Vielen Dank. GRÜNEN)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
In dem Antrag der FDP und der CDU/CSU werden zu
Recht wichtige Probleme, wie die Entgeltgerechtigkeit,
Präsident Dr. Norbert Lammert: festgestellt – so weit, so gut. Doch was schlagen Sie
Katja Kipping ist die nächste Rednerin für die Frak- dann vor? Zum Beispiel, dass der Übergang von Mini-
tion Die Linke. jobs, also prekärer Arbeit, in sozialversicherungs-
(Beifall bei der LINKEN) pflichtige Arbeit erleichtert wird. Damit erwecken Sie
geradezu den Eindruck, als ob der Minijob das Tor zu
guter Arbeit wäre. In der Realität ist das Gegenteil der
Katja Kipping (DIE LINKE): Fall: Minijob bedeutet Sackgasse Prekarität, und Mini-
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am jobs bedeuten Minirenten. Somit ist Altersarmut vorpro-
8. März findet zum 99. Mal der Internationale Frauentag grammiert.
statt. Anlässlich dieses Ereignisses sollten wir festhalten,
dass die Frauenbewegung in den letzten 100 Jahren eini- Die Erwerbsarbeit von Frauen wird zunehmend pre-
ges erkämpft hat. kär, das heißt unsicherer und schlecht bezahlt. Gegen
diese Prekarisierung regt sich nun Widerstand. Nicht nur
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
die Reinigungskräfte, nicht nur die Beschäftigten bei
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
Schlecker wehren sich vehement gegen Lohndumping.
GRÜNEN und des Abg. Lars Lindemann
Bei all diesen Kämpfen gegen die Prekarisierung von Er-
[FDP])
werbsarbeit geht es nicht nur um reine Abwehrkämpfe.
Es ist falsch, die Geschichte der Frauenbewegung als Nicht nur für mich sind die Kämpfe gegen diese Prekari-
eine Geschichte des Scheiterns zu beschreiben. sierung verbunden mit einem Aufbruch in die Vier-in-ei-
nem-Perspektive. Das wäre eine Vision, die für Männer
Nichtsdestotrotz gibt es immer noch sehr viel, was wie Frauen gleichermaßen mehr Lebensqualität bedeu- (D)
(B)
wir verändern müssen und was wir auch erkämpfen müs- ten würde. Danach besteht eine Woche aus den folgen-
sen, bis wir von wirklicher Geschlechtergerechtigkeit re- den vier gleichberechtigten Tätigkeiten: ein Viertel Er-
den können. Nur einige wenige Beispiele: werbsarbeit, ein Viertel Haus- und Familienarbeit, ein
Zwei Drittel aller Jugendlichen, die keinen Ausbil- Viertel politisches, gesellschaftliches Engagement und
dungsplatz bekommen, sind Frauen, und das bei glei- ein Viertel Arbeit an sich selber.
chen bis besseren Schulabschlüssen. Dem Armuts- und
Reichtumsbericht der Bundesregierung zufolge gehen Für diese wichtige Vision gibt es Reformschritte, die
zwei Drittel aller Mütter mit einem Kind unter drei Jah- uns dahin führen können. Dazu gehören für die Linke
ren keinerlei Arbeit nach. Damit jetzt keine Missver- die Einführung des Mindestlohnes, die Abschaffung des
ständnisse aufkommen: Ich finde nicht, dass man junge Ehegattensplittings und die Einführung von wirklich
Frauen unbedingt zu den Segnungen der Erwerbsarbeit verbindlichen Vorgaben für die Wirtschaft. Wer immer
zwingen muss. Meine Kritik setzt dann an, wenn ein noch glaubt, allein Appelle an die Freiwilligkeit der
Mangel an Kitaplätzen, ein Mangel an guter Arbeit oder Wirtschaft können hier etwas verändern, dem kann ich
aber Rollenklischees Frauen dazu zwingen, auf Erwerbs- nur sagen: Ihr Warten auf die freiwilligen Leistungen der
arbeit zu verzichten. Wirtschaft kann ganz schnell zum Warten auf Godot
werden, und der kam bekanntlich nie.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
GRÜNEN) neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Immer noch wird ein Großteil der Hausarbeit der
Zeitbudgeterhebung des Statistischen Bundesamtes zu- Ich habe am Anfang über die bisher erkämpften Fort-
folge von den Frauen erledigt; 80 Prozent der Putzarbeit schritte gesprochen. Ich will noch einmal sagen: Alle
tragen die Frauen weg. Wenn man diese Zahl nennt, hört bisherigen Fortschritte mussten erkämpft werden. Das
man im politischen Raum, besonders gern von Männern: Patriarchat hat noch nie den Frauen ihre Rechte auf dem
Was hat denn die Politik damit zu tun? Das muss inner- Silbertablett serviert. Insofern möchte ich uns einfach er-
halb der Familien geregelt werden. – Mit diesem Ein- muntern: Wenn es um die Rechte von Frauen geht, wenn
wand macht man es sich zu einfach. Solange wir Rege- es um Geschlechtergerechtigkeit geht, bleiben wir kämp-
lungen wie das Ehegattensplitting haben, die natürlich ferisch!
befördern, dass einer in der Familie der Haupternährer
ist und ein anderer maximal der Hinzuverdiener – es darf Danke schön.
2336 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Katja Kipping
(A) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- fassende Modernisierung der Unternehmensführung und (C)
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE -kontrolle. Frauen sollen zu mindestens 40 Prozent in
GRÜNEN) den Aufsichtsräten vertreten sein. Ziel ist eine paritäti-
sche Besetzung. Ähnliches fordert auch die SPD. Es ist
Präsident Dr. Norbert Lammert: allerdings wirklich traurig – das wurde ja vorhin auch
Monika Lazar ist die nächste Rednerin für die Frak- schon angesprochen –, dass Sie, liebe Kolleginnen und
tion Bündnis 90/Die Grünen. Kollegen von der SPD, in den Jahren, als Sie an der Re-
gierung waren – Sie waren ja noch mehr Jahre als wir an
der Regierung –, nichts davon umgesetzt haben.
Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Elke Ferner [SPD]: Wir haben Schwierigkei-
„Frauen sind mehr wert.“ Dieses Credo haben sich meh- ten gehabt mit unseren Koalitionspartnern!
rere europäische Länder auf die Fahnen geschrieben. In Das war auch mit Ihnen nicht ganz leicht!)
Norwegen müssen seit 2006 mindestens 40 Prozent der – Das gebe ich natürlich zurück. Es gab jemanden, der
Sitze in den Aufsichtsräten börsennotierter Unternehmen hieß Schröder, war männlich und hat sich in der Frauen-
von Frauen besetzt sein. Sanktionen bis hin zum Börsen- und Gleichstellungspolitik nicht mit Ruhm bekleckert.
entzug sind dabei vorgesehen. Auch in den Niederlanden
gibt es eine Quotenregelung. In Belgien und in Öster- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
reich wird diese diskutiert, und in Frankreich hat eine SES 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU –
entsprechende Initiative die erste parlamentarische Zuruf der Abg. Ulla Burchardt [SPD])
Hürde genommen. Die schwarz-gelbe Bundesregierung
Der Antrag der Linksfraktion spiegelt leider nur all-
nimmt sich an diesen Ländern kein Beispiel, obwohl sie
gemeine Forderungen wider. Es ist richtig, Mindestlöhne
nicht zu den politisch weit links stehenden gehören.
und auch Verbesserungen bei den Minijobs, also in den
Die Führungspositionen in der deutschen Privat- unteren Bereichen, zu fordern. Da sind wir uns einig,
wirtschaft sind nach wie vor fest in Männerhand. Das auch wenn gewisse Differenzen bleiben. Allerdings habe
gilt auch für die Aufsichtsräte. In den 200 größten deut- ich in Ihrem Antrag Forderungen nach Veränderungen
schen Unternehmen liegt der Frauenanteil bei unter auch in den Führungsetagen vermisst. So etwas hätte ich
10 Prozent. Den größten Teil hiervon stellen dann auch mir gewünscht.
noch die Arbeitnehmervertretungen. Die Vereinbarung
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Ma-
von 2001 zwischen der rot-grünen Bundesregierung und
chen wir in einem anderen Antrag!)
den Arbeitgeberverbänden ist de facto gescheitert. Hier-
mit sollte die Chancengleichheit von Frauen und Män- – Dann machen Sie den anderen Antrag. Darauf warten (D)
(B)
nern in der Privatwirtschaft gefördert werden. Passiert wir.
ist leider nichts. Das müssen wir wirklich schmerzhaft
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Nein,
zur Kenntnis nehmen. Aber daraus lernen wir: Es ist Zeit
der liegt vor!)
für verbindliche Regelungen nach einem festen Zeitplan.
Ich denke, wir müssen neben Absicherung in den unte-
Frau Ministerin Schröder hat ja von der Quote als
ren Etagen auch dafür sorgen, dass sich etwas in den
Brechstange gesprochen. Wenn wir das Wort schon ge-
Führungsetagen ändert. Diese müssen endlich weibli-
brauchen wollen, kann ich nur sagen: Manch einer merkt
cher werden.
es vielleicht nicht ohne Brechstange. Wahrscheinlich ist
jetzt die Zeit der Brechstange da. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD) Die Diskriminierung von Frauen hat viele Verliererin-
nen und Verlierer. Sie schadet den Unternehmen, der
Doch Union und FDP setzen weiterhin auf ein lahmes
Wirtschaft und unserer Demokratie. In einer Pressemit-
Pferd und halten unbeirrt an freiwilligen Selbstverpflich-
teilung des Deutschen Juristinnenbundes wurde das auf
tungen fest. Der vorgesehene Stufenplan ist unverbind-
den Punkt gebracht. Darin heißt es,
lich, beinhaltet keine festen Zeitvorgaben und sieht vor
allem auch keine Sanktionen vor. Das ist nur Säbelras- dass die Performance von Unternehmen, die Diver-
seln mit stumpfen Waffen. Das spiegelt sich auch im An- sity leben, um vieles besser ist. Daher liegt die Er-
trag der Koalition zu diesem Tagesordnungspunkt wider. höhung des Frauenanteils unmittelbar im Unterneh-
Der Forderungsteil ist wachsweich und beinhaltet keine mensinteresse.
konkreten Maßnahmen. Für einen Antrag einer Regie-
rungskoalition ist das wirklich peinlich; denn Sie sind Wir sollten es nicht länger hinnehmen, dass Bildungsin-
doch jetzt an der Regierung und könnten das umsetzen, vestitionen vergeudet werden, dass auf kreative Potenzi-
statt Prüfaufträge zu erteilen. ale verzichtet wird und die Chancen auf eine neue Dyna-
mik im Arbeitsmarkt verschlafen werden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD – Elke Ferner [SPD]: Ober- Zum Schluss noch ein kleiner Hinweis auf den Lohn-
peinlich!) unterschied, der, wie ja schon angesprochen wurde,
bundesweit 23 Prozent beträgt. In Ostdeutschland ist
Bündnis 90/Die Grünen fordern dagegen eine gene- dieser Unterschied geringer. Ein Grund ist unter ande-
relle Änderung des Aktiengesetzes. Wir wollen eine um- rem, dass Männer dort weniger verdienen. Mir fallen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2337
Monika Lazar
(A) auch bundesweit einige Männer in Führungspositionen politik weltweit geht, sondern auch um die Friedenspoli- (C)
ein, die weniger verdient hätten. Vielleicht ist das ja auch tik.
ein Weg.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Vielen Dank. neten der FDP)
(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ Meine Damen und Herren, ich stimme Frau Kipping
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der zu, wenn sie sagt, dass von der Frauenbewegung in den
SPD) vergangenen 100 Jahren sehr viel erkämpft worden ist.
Man sollte sich einmal vor Augen führen: Wenn Clara
Präsident Dr. Norbert Lammert: Zetkin vor fast genau 100 Jahren auf der Internationalen
Frauenkonferenz in Kopenhagen die Einführung eines
Nun erhält der Kollege Philipp Mißfelder für die
Frauentages gefordert hat, dann hat sie das nicht getan,
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
um einen Frauentag als Institution, als Selbstzweck zu
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- schaffen, sondern hat damit auch konkrete politische
neten der FDP) Forderungen und deren Umsetzung verbunden. Dank der
Frauenbewegung und dank der Emanzipation in
Philipp Mißfelder (CDU/CSU): Deutschland sind auf diesem Gebiet über Jahrzehnte hin
Erfolge zu verzeichnen. Deshalb möchte ich allen
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Frauen, die sich hierfür engagiert haben, herzlich dan-
Herren! Zunächst einmal möchte ich mich bei unserer ei-
ken.
genen Fraktion, bei den Kolleginnen und Kollegen aus
der AG Familie, Senioren, Frauen und Jugend, beson- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
ders bedanken, neten der FDP – Elke Ferner [SPD]: Da sind
Sie ein Stück weiter als Ihre Kollegen! Der
(Ulla Burchardt [SPD]: Das scheint er nötig zu
einzige Feminist in der CDU!)
haben!)
Vor diesem Hintergrund ist es wichtig zu sehen, wo
dass ich als einziger Mann in dieser Debatte sprechen
Deutschland international Verantwortung trägt, wo wir
darf.
uns mit dem wichtigen Anliegen der Emanzipation, der
(Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der Gleichstellung einbringen können. Die UNO hat sich
SPD) vor zehn Jahren mit der Resolution 1325 besonders für
die Frauenrechte eingesetzt. Unsere Kollegin Müller, die
Auch das zeigt, wie wichtig uns dieses Thema ist. kürzlich mit unserem UN-Botschafter Wittig gesprochen
(B) Mein Kollege Gauweiler gab mir gerade noch mit auf hat, hat mich gerade darauf hingewiesen, dass Deutsch- (D)
den Weg – ich glaube, das macht den Kontrast zu unse- land zurzeit versucht, in der UNO an dieser Stelle neue
rer Politik sehr deutlich –, Impulse zu setzen, indem unser Botschafter dort eine be-
sondere Arbeitsgruppe leiten wird. Ich sage ganz klar,
(Zurufe von der SPD) dass sich unsere Außenpolitik auch an Werten orientie-
an die engagierten „Feministen“ Schröder und Fischer ren muss. Ein ganz wichtiger Wert ist die Verwirkli-
zu erinnern. Sie haben gerade Gerhard Schröder er- chung der Rechte von Frauen und Mädchen. Wenn es da-
wähnt; aber Joschka Fischer stand ihm, glaube ich, in rum geht, in der Welt internationale Verantwortung zu
nichts nach. zeigen, dann ist das für uns ein ganz wichtiger Punkt.

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
NEN]: Frau Schröder war gemeint!) neten der FDP)

Aufgrund der Bandbreite, in der wir in unserer Frak- Dieser Weg ist bei weitem noch nicht zu Ende. Aber
tion den Internationalen Frauentag sehen, möchten wir ich möchte auch auf die Erfolge hinweisen, die erreicht
deutlich machen, dass es uns nicht nur darum geht, dass worden sind. Ich nenne das Beispiel Afghanistan. Bevor
wir heute über die Mängel diskutieren, die sicherlich die Taliban 1996 in Kabul einmarschiert sind und danach
auch in unserer Gesellschaft vorhanden sind. Ich sage den Besuch der Universität verboten haben, gab es knapp
nicht, dass all das, was Sie angesprochen haben, unbe- 10 000 Studenten, davon 40 Prozent Frauen. Während der
rechtigt ist. Aber ich glaube, dass es an einem solchen Herrschaft der Taliban gab es in Afghanistan keine ein-
Tag – bei einer Debatte zur Kernzeit ist es besonders zige Frau an den Universitäten. Wenn wir uns anschauen,
wichtig, dass wir breit darüber diskutieren – auch wich- was sich in dieser Gesellschaft heute verändert hat, dann
tig ist, den internationalen Aspekt – als außenpolitischer sehen wir – das ist ein ganz wichtiger Punkt –, dass zu ei-
Sprecher bin ich froh darüber, dass ich sprechen darf – ner Friedenspolitik und zum Aufbau einer Zivilgesell-
schaft selbstverständlich gehört, dass Frauen Zugang zu
(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Universitäten und zu Schulen überhaupt bekommen. Des-
Ach so!) halb ist es richtig, auch in dieser Debatte darauf hinzuwei-
sen, dass von heute 34 000 Studierenden in Afghanistan
in die Debatte hineinzubringen. Ich glaube, dass es einen 7 000 Frauen sind. Das ist noch zu wenig; das kann noch
inneren Zusammenhang zwischen Emanzipation, der mehr werden. Aber wir sind dort auf einem guten Weg.
Verwirklichung von Frauenrechten und der Implemen-
tierung des Friedens in der Gesellschaft gibt. Das ist der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Grund dafür, warum es heute nicht nur um die Frauen- neten der FDP)
2338 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Philipp Mißfelder
(A) Im Auswärtigen Dienst der afghanischen Regierung be- Herzlichen Dank. (C)
finden sich Frauen, zum Beispiel die Geschäftsträgerin
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
der afghanischen Botschaft, Frau Neda, hier in Berlin.
Ich habe sie in der großen Afghanistan-Debatte vor eini-
gen Wochen schon erwähnt. Präsident Dr. Norbert Lammert:
Gabriele Hiller-Ohm ist die nächste Rednerin für die
Ich möchte auf andere Beispiele zu sprechen kom- SPD-Fraktion.
men. In fast allen großen Konflikten auf der Welt sind
Frauen und Kinder die Hauptopfer von Auseinander- (Beifall bei der SPD)
setzungen. Auch in unserem Antrag ist davon die Rede.
Nach UN-Angaben sind 75 Prozent der Opfer in Krisen- Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
gebieten Frauen und Kinder. Gerade vor diesem Hinter- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein Mann
grund möchte ich das große Engagement von mutigen macht noch keine Gleichstellung.
Frauen herausheben. Es sind sehr häufig Frauen, die sich
für ihr eigenes Geschlecht sehr stark einsetzen, und dies (Dorothee Bär [CDU/CSU]: Was ist mit einem
unter sehr schwierigen Bedingungen. Ich rede von Mann?)
Kudakwashe Chitsike aus Simbabwe. Sie ist Anwältin Ich freue mich, dass sich auch in der CDU Männer vom
und engagiert sich für eine Menschenrechtsorganisation. Thema Gleichstellung angesprochen fühlen. Das sollte
Sie unterstützt vor allem die Aufarbeitung der Untaten sich dann aber auch im politischen Handeln, in den rich-
von Robert Mugabe, der schätzungsweise 2 000 Frauen tigen Konzepten niederschlagen. Da sieht es bei Ihnen
– es waren insgesamt viel mehr – gezielt für ihre Tätig- leider zappenduster aus, wie Sie auch heute wieder unter
keit in der Opposition zur Rechenschaft gezogen hat, Beweis gestellt haben.
und zwar auf brutalste Art und Weise: Sie wurden geprü-
gelt oder brutal vergewaltigt. Ich bin der Meinung, dass (Beifall bei der SPD – Jörg van Essen [FDP]:
es an einem solchen Tag zu einer solchen Debatte ge- Steinmeier und Gabriel sind noch nicht einmal
hört, dass wir neben Aufsichtsratsposten, Managergehäl- da!)
tern und anderem auch darüber reden, dass andernorts Der Equal Pay Day zeigt es schonungslos: Knapp drei
die Verhältnisse, in denen Frauen leben, wesentlich Monate länger, nämlich bis zum 26. März 2010, müssten
schlechter sind. Deswegen wollen wir von hier aus dazu Frauen in Deutschland arbeiten, um das gleiche Einkom-
aufrufen, dass diejenigen, die eine Verbesserung der Si- men zu erhalten, das Männer 2009 im Schnitt verdient
tuation von Frauen verhindern, wie zum Beispiel Robert haben. Selbst bei gleicher Arbeit haben Frauen oft weni-
Mugabe, für ihr Fehlverhalten und ihre schlimmen Ver- ger in der Lohntüte als ihre männlichen Kollegen, und
(B) brechen zur Rechenschaft gezogen werden. das bei ausgezeichneten Bildungsabschlüssen. „Schluss (D)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie damit!“, sagte deshalb die damalige rot-grüne Bundesre-
bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und gierung und setzte sich mit Vertretern der Wirtschaft zu-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sammen, um diesen unhaltbaren Zustand zu beenden.
Im ersten Schritt wurde eine freiwillige Vereinbarung
Frau Chitsike hat ein Internetvideo produziert, das ich
zur Durchsetzung gleicher Chancen für Männer und
Ihnen empfehle. Sie können es überall im Internet fin-
Frauen beschlossen. Leider ging diese in die Hose. Wir
den. Es heißt „Hear Us“. Dort schildern vier Frauen auf
haben gelernt: Freiwilligkeit hat ihre Grenzen. Aus die-
sehr bewegende Art und Weise ihre schlimmen Erleb-
ser Erfahrung heraus hatte Olaf Scholz im vergangenen
nisse in diesem schrecklichen Konflikt.
Jahr als Arbeitsminister einen Gesetzentwurf zur Ver-
Ich sehe, dass meine Redezeit leider schon vorbei ist, wirklichung von Entgeltgleichheit vorgelegt. Lohndis-
aber ich möchte ein weiteres Beispiel nennen. kriminierung würde damit aufgedeckt, und gleiche
Löhne wären rechtlich durchsetzbar. Die Arbeitgeber
(Zurufe von der SPD: Oh! – Heiterkeit) könnten sagen: In meinem Betrieb werden Frauen an-
ständig bezahlt. – Leider, werte Kolleginnen und Kolle-
Präsident Dr. Norbert Lammert: gen von der CDU/CSU-Fraktion, haben Sie diese drin-
gend notwendige Initiative eiskalt ausgebremst.
Da müssen Sie sich aber sehr beeilen, Herr Kollege
Mißfelder. (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Sie schreiben nun in Ihrem Antrag, den Sie gemeinsam
Philipp Mißfelder (CDU/CSU): mit der FDP vorlegen: Wir wollen auf die Beseitigung
Im Iran gehen mutige Frauen gegen das Regime von der Entgeltungleichheit hinwirken. Um Himmels willen,
Ahmadinedschad auf die Straße und werden dafür bru- dann wirken Sie doch endlich!
talst zusammengeschlagen. Deshalb denke ich, dass es
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
wichtig ist, am heutigen Tag darauf hinzuweisen, dass es
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
in allen Krisenherden der Welt fast immer Frauen sind,
die als Erste mit den schlimmen Auswirkungen zu leben Sie sind doch an der Regierung. Haben Sie das noch
haben. Deshalb möchte ich allen Frauen dieser Welt, die nicht begriffen? Wo bleibt Ihr Gesetzentwurf? Der von
an ihre Freiheit glauben und dafür kämpfen, für den Mut, Olaf Scholz liegt übrigens noch im Ministerium in einer
den sie aufbringen, danken. Schublade.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2339
Gabriele Hiller-Ohm
(A) (Volker Kauder [CDU/CSU]: Dort ist er auch Man muss keine Prophetin sein: Das Betreuungsgeld (C)
gut aufgehoben!) der CSU führt keineswegs zu einer besseren Vereinbar-
keit von Familie und Beruf,
Eine Verbesserung der Situation der Frauen können
wir auch durch entsprechende Richtlinien für die Ver- (Elke Ferner [SPD]: Nicht nur CSU! Die alle
gabe öffentlicher Aufträge durchsetzen. Warum – so wollen das angeblich!)
frage ich Sie – vergeben wir öffentliche Aufträge nicht sondern geradewegs in die Sackgasse. Ich hoffe, die
nur an Unternehmen, die Frauen und Männer gleich ent- neue Familienministerin Schröder, die auch Ministerin
lohnen? Wir fordern dies in unserem Antrag. für Frauen ist, hat die Kraft, sich gegen die unsägliche
Niedriglöhne sind viel zu oft Frauenlöhne. Zwei Herdprämie der CSU durchzusetzen. Wir brauchen die-
Drittel der Niedriglohnbeschäftigten in Deutschland ses Geld dringend für gute Betreuungs- und Bildungsan-
hängen in mies bezahlten Jobs fest, davon arbeiten gebote;
60 Prozent in Teilzeit oder Minijobs. Hier zeigt sich (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der
ganz deutlich: Wir brauchen dringend einen gesetzlichen Abg. Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Mindestlohn und eine Begrenzung der Minijobs. NEN])
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten denn trotz großer Anstrengungen unter sozialdemokrati-
der LINKEN) scher Regierung ist es nicht gelungen, die Betreuungssi-
tuation in Deutschland so zu gestalten, dass Eltern arbei-
Geringfügige Beschäftigungsverhältnisse sind keine ten gehen können, während ihre Kinder gut versorgt sind
Brücke in reguläre Beschäftigung. Das haben wir aus der und gefördert werden. Diese wichtige Grundlage für die
Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt gelernt. Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist immer wieder
Dumpinglöhne und unfaire Arbeitsbedingungen fin- am Widerstand der schwarz-gelb regierten Bundesländer
den wir auch im Bereich der Leiharbeit. Als wir hier im gescheitert.
Plenum über die XXL-Sauerei bei Schlecker diskutiert (Rita Pawelski [CDU/CSU]: Das stimmt doch
haben, war die Arbeitsministerin von der Leyen sehr be- überhaupt nicht!)
troffen und hat Änderungen zugesagt. Wo, so frage ich,
bleiben die Vorschläge zur Verbesserung der Situation Meine Damen und Herren von den Regierungsfrak-
der Beschäftigten in der Leiharbeitsbranche? tionen, nutzen Sie die Mehrheiten und die Zeit, die Ihnen
noch bleibt, und machen Sie Druck auf Ihre Ministerprä-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sidenten im Bundesrat, damit wir auch hier einen Schritt
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE vorankommen!
(B) (D)
GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Nicht einmal einen Branchenmindestlohn setzen Sie des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
durch. Außer Thesen nichts gewesen!
Präsident Dr. Norbert Lammert:
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Wir fordern: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit! Stopfen Elisabeth Winkelmeier-Becker für die CDU/CSU-Frak-
Sie endlich die Löcher im Gesetz! tion.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der SPD)
Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU):
FDP, durch die Verweigerung eines gesetzlichen Min- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
destlohns bringen Sie viele Menschen in Armut. Für Herren! Wir haben uns die Situation der Frauen in
den, der heute von Niedriglöhnen leben oder sogar mit Deutschland heute unter sehr vielen verschiedenen As-
Arbeitslosengeld II aufstocken muss, ist Armut im Alter pekten vor Augen geführt. In den Anträgen wird dazu ei-
vorprogrammiert. Sie, meine Damen und Herren von niges ausgeführt. Ich bin Philipp Mißfelder sehr dankbar
CDU/CSU und FDP, wollen allen Ernstes die Altersar- dafür, dass er den internationalen Aspekt und den Zu-
mut, die vor allem Frauen droht, mit Informations- und sammenhang zwischen Emanzipation und Frieden schaf-
Beratungsangeboten bekämpfen. Das ist ja geradezu lä- fenden Maßnahmen bzw. gesellschaftlichen Verhältnis-
cherlich. Realitätsferner geht es ja wohl nicht. sen plastisch dargestellt hat. Ich glaube, das ist ein ganz
wichtiger Zusammenhang. Das musste hier gerade aus
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Anlass des Internationalen Frauentages einmal gesagt
DIE GRÜNEN) werden.
Ihr Verhalten und die Äußerungen von Minister (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Westerwelle bestätigen: Das größte Armutsrisiko in
Deutschland ist Ihre Regierung. Nun ist Philipp nicht der Erste, der diesen Gedanken
formuliert hat. Dazu gibt es auch eine Resolution der
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Vereinten Nationen, die Resolution 1325. In ihr wird ein
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE besserer Schutz von Frauen gefordert, gerade in kriegeri-
GRÜNEN) schen Auseinandersetzungen bzw. in Zeiten politischer
2340 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Elisabeth Winkelmeier-Becker
(A) Umstürze, in denen Gewalt gegen Frauen ganz bewusst ferenziertes Hilfsangebot. Wir haben bereits über die (C)
als strategisches Mittel eingesetzt wird. Das müssen wir Frauenhäuser gesprochen. Dazu gibt es das Gewalt-
ächten. In dieser Resolution wird dazu aufgefordert, die schutzgesetz, auf dessen Grundlage die Polizei und die
Täter konsequent zur Verantwortung zu ziehen. In ihr Gerichte helfen. Es gibt die Sozialgesetze und das pri-
wird aber auch aufgezeigt, dass Frauen einen unverzicht- vate Unterhaltsrecht. Aber diese Hilfen wirken nur,
baren konstruktiven Anteil leisten können und müssen, wenn man sie kennt, verfügbar und erreichbar hat. In Be-
wenn es darum geht, eine bessere zivile Gesellschaft drohungssituationen kann man nicht lange nach der rich-
aufzubauen. Das ist genau das, was Ziel unseres Einsat- tigen Adresse suchen. Deshalb ist es ganz wichtig, dass
zes ist. wir eine einheitliche Notrufnummer einrichten. Das
würde Frauen in akuten Notsituationen helfen, in denen
Diese Resolution wird in diesem Jahr zehn Jahre alt.
sie nicht lange herumtelefonieren oder suchen können,
Allein das ist Anlass genug, an diese Resolution zu erin-
sondern ein konkretes Angebot vorhanden sein muss.
nern. Ein noch besserer Anlass aber ist ihre Aktualität.
Wir sind dabei, das Afghanistan-Konzept neu auszurich- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
ten. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, diese der Abg. Marlene Rupprecht [Tuchenbach]
Resolution in unser Afghanistan-Konzept einzubringen [SPD])
und ihre Forderungen dort ganz konkret umzusetzen.
Wir begrüßen es außerdem, dass die spanische Rats-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- präsidentschaft das Thema häusliche Gewalt auf die
neten der FDP) Agenda gesetzt hat. Wir werden an einer europäischen
Wir sind aber auch aufgerufen, zu überlegen, was die Schutzanordnung arbeiten, und wir werden dies zum
Situation von Frauen und Mädchen in unserem Land Anlass nehmen, bei uns in der Praxis noch einmal ganz
konkret verbessern kann. Wir müssen die Mädchen hier konkret zu fragen, ob alle Rechte für die Behörden und
noch besser vor Gewalt schützen. Genitalverstümme- die Eingreifmöglichkeiten vorhanden sind, um bei dro-
lung und Zwangsverheiratung sind ganz wichtige The- hender Gefahr das zu tun, was nötig ist, um Opfern auch
men. Beides sind massive Menschenrechtsverletzungen. im häuslichen Bereich zu helfen.
Wir müssen klarmachen, dass wir das nicht tolerieren. (Sibylle Laurischk [FDP]: Und der Frauen-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) hausbericht!)
Das ist kriminelles Unrecht; das lässt sich auch nicht mit – Und der Frauenhausbericht; auf den warten auch wir
dem Hinweis auf andere Traditionen rechtfertigen. Das mit Spannung.
muss strafrechtlich und auch ausländerrechtlich geahn-
(B) det werden. Wir haben den besseren Schutz vor Zwangs- Ich möchte noch einmal auf die ungenutzten Mög- (D)
verheiratung und vor allem einen besseren Opferschutz lichkeiten und Potenziale zurückkommen. Mir geht es
im Koalitionsvertrag vorgesehen. Für beides, Genital- dabei zum einen um die Chancen für Frauen, um Ge-
verstümmelung und Zwangsverheiratung, liegen bereits rechtigkeit für Frauen, zum anderen aber auch darum, ob
Gesetzentwürfe vor, die den Bundesrat passiert haben. die Wirtschaft alle Potenziale nutzt oder Potenziale un-
Sie werden demnächst bei uns auf der Agenda stehen. genutzt liegen lässt. Wir sehen die Unterschiede bei den
Wir werden uns sehr genau ansehen, ob wir da Verbesse- Entgelten, die ungleiche Beteiligung in Bezug auf ein-
rungen erzielen können. flussreiche Positionen in der Wirtschaft und die schlecht
abgesicherten Mini- und Midijobs. Die Analyse teilen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wir; die objektiven Zahlen sind vorhanden. In der Be-
wertung gibt es Parallelen, aber auch Unterschiede. Ich
Nicht zuletzt – auch das möchte ich erwähnen – sieht
bin mir sicher, dass wir deutlich mehr Frauen im Ma-
der Koalitionsvertrag eine Verbesserung der Situation
nagement unserer Unternehmen, gerade auch in den Vor-
für die Opfer von Menschenhandel vor; dies betrifft in
ständen und Aufsichtsräten, brauchen,
der Mehrzahl Frauen. Es ist an der Zeit, dass das Über-
einkommen des Europarates zur Bekämpfung des Men- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
schenhandels endlich auch bei uns ratifiziert wird.
um gerechte Chancen für Frauen zu sichern, aber auch
(Beifall der Abg. Marlene Rupprecht [Tuchen- als Chance für die Wirtschaft. Denn internationale Stu-
bach] [SPD]) dien zeigen, dass Unternehmen, die mehr Frauen in den
Wir hoffen, dass das Vertragsgesetz in Kürze vorgelegt Aufsichtsräten haben, besser wirtschaften; sie kommen
wird. besser durch diese Krise. Diese Chance wollen wir allen
Unternehmen gönnen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Wir haben in Deutschland auch die im wahrsten Sinne
des Wortes hausgemachte Gewalt. 37 Prozent der Frauen Der fast völlige Ausschluss von Frauen auf dieser
haben in einer Studie des Frauenministeriums angege- Ebene betrifft doch gerade die Unternehmen, deren kol-
ben, dass sie selbst schon mit körperlicher Gewalt kon- lektive Fehlentscheidungen die Finanz- und Wirtschafts-
frontiert gewesen sind. Dies ging durch alle soziologi- krise maßgeblich mit ausgelöst haben. Da sollte man
schen Gruppen und Schichten, ob bildungsnah oder einmal die Frage nach Ursache und Wirkung stellen. Ich
bildungsfern. Für diese Frauen gibt es durchaus ein dif- denke, dass die jetzt nötigen Umstrukturierungen eine
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2341
Elisabeth Winkelmeier-Becker
(A) gute Gelegenheit bieten, mehr Frauen in diese Positio- nach einer Phase der Teilzeitarbeit wieder voll in den (C)
nen zu bringen. Beruf stürzen will.
Die freiwillige Vereinbarung aus dem Jahr 2001 hat in Kritisch sehen wir allerdings die Zahl von Frauen in
der Tat nichts gebracht. Mini- und Midijobs.
(Beifall der Abg. Dorothee Bär [CDU/CSU])
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Beispiele aus dem zivilisierten europäischen Ausland Frau Kollegin!
zeigen, dass es auch im abendländischen Kulturkreis
möglich ist, über andere Wege nachzudenken, und dass Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU):
Quoten nicht den Untergang des Abendlandes bedeuten. Ich komme sehr bald zum Schluss. –
(Christel Humme [SPD]: Das ist aber schön! – (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der
Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- CDU/CSU)
NEN]: Erzählen Sie das mal Ihrer eigenen
Fraktion!) Sie können eine Brückenfunktion haben; dann haben sie
ihre Berechtigung. Wenn wir aber ernsthaft über eine
Wir haben in unserem Koalitionsvertrag eine erste Ausweitung und Dynamisierung von Minijobs diskutie-
Stufe beschrieben. ren wollen, müssen wir zum Prüfkriterium machen, ob
sie für Frauen wirklich eine Brückenfunktion haben oder
(Christel Humme [SPD]: Was ist denn das für
ob sie nicht doch eine Sackgasse sind.
eine erste Stufe?)
(Christel Humme [SPD]: Dann setzen Sie sich
Es muss klar sein, dass dieser ersten Stufe weitere Stufen gegenüber Ihrem Koalitionspartner doch mal
folgen werden. Bei uns steht die Quote nicht im Mittel- durch!)
punkt. Aber es ist ganz klar, dass wir hier zu verbindli-
chen Zielvorgaben und zu verbindlichen Maßnahmen Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
kommen müssen. Es dürfen nicht wieder neun Jahre ver-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
gehen, bevor wir die nächste Bilanz ziehen und uns an-
schauen, ob unsere Maßnahmen etwas gebracht haben.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ich schließe die Aussprache.
neten der FDP)
(B) Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der (D)
Differenziert sehen wir die Teilzeitarbeit. Sie ent- Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Druck-
spricht in der Tat dem Wunsch vieler Frauen und auch sache 17/901 mit dem Titel „Internationaler Frauentag –
mancher Männer, die sie in Anspruch nehmen. Diese Gleichstellung national und international durchsetzen“.
Wahlfreiheit erkennen wir ausdrücklich an. Wir sind Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? –
nicht erst zufrieden, wenn alle Eltern, auch die kleiner Wer enthält sich? – Damit ist der Antrag mit der Mehr-
Kinder, sofort wieder Vollzeit arbeiten. heit der Stimmen des Hauses angenommen.
(Katharina Landgraf [CDU/CSU]: Das wäre Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 3 b bis 3 e.
DDR!) Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/821, 17/891, 17/797 und 16/10500 an
Wir wollen nicht, dass man sich rechtfertigen muss, die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
wenn man sich entscheidet, einen wesentlichen Teil des schlagen. Die Vorlage auf Drucksache 17/797 soll feder-
Tages der Familie zu widmen. führend beim Rechtsausschuss beraten werden. Sind Sie
(Beifall bei der CDU/CSU) damit einverstanden? – Das ist offensichtlich der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Das kann verschiedene Gründe haben. Es kann pädago-
gische Gründe haben, es kann um Zeit für Pflege gehen, Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b
es kann aber auch schlichtweg um ein Stück Lebensqua- auf:
lität gehen, für das man die Nachteile, die damit verbun- a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl
den sind, bewusst in Kauf nimmt. Lauterbach, Elke Ferner, Bärbel Bas, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Wir müssen zweierlei tun: Erstens müssen wir darauf
achten, dass diese Entscheidung wirklich freiwillig ge- Paritätische Finanzierung in der gesetzlichen
troffen wird. Da, wo es um strukturelle Nachteile geht, Krankenversicherung wiederherstellen
die keine andere Wahl lassen, ist die Wahlfreiheit nicht
gewährleistet. Wir sind sicherlich alle der Meinung, dass – Drucksache 17/879 –
hier die Rahmenbedingungen verbessert werden müssen. Überweisungsvorschlag:
Zweitens müssen wir die unberechtigten Nachteile, die Ausschuss für Gesundheit (f)
Haushaltsausschuss
sich aus Teilzeitarbeit ergeben, abbauen. Teilzeitarbeit
darf keinen Knick in der Karriere bedeuten. Man muss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Fritz
auch dann noch Karrierechancen haben, wenn man sich Kuhn, Birgitt Bender, Markus Kurth, weiterer
2342 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C)
DIE GRÜNEN des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Keine Zusatzbeiträge für Bezieherinnen und Selbst 75 Prozent der FPD-Wähler sind gegen diese
Bezieher von Arbeitslosengeld II aberwitzige Idee. Aber der Minister hält stur an dem
Vorschlag fest.
– Drucksache 17/674 –
Mit Blick auf die NRW-Wahl kann ich nur sagen:
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f) Weiter so, Herr Rösler! Sie sind unser bester Wahlkämp-
Rechtsausschuss fer, neben Ministerpräsident Rüttgers, und für Sie müs-
Finanzausschuss sen wir wenigstens nicht bezahlen. Wir bekommen Sie
Ausschuss für Arbeit und Soziales gratis; wir müssen nicht 6 000 Euro auf den Tisch legen.
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss (Beifall bei der SPD)
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch Angst vor dem Wähler kann man Ihnen, Herr Rösler,
für diese Aussprache 75 Minuten vorgesehen. – Ich höre nicht zum Vorwurf machen.
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Wenn die Regierung die Oppositionsarbeit so wir-
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst kungsvoll leistet, dann müssen wir als Opposition die
der Kollege Dr. Lauterbach für die SPD-Fraktion. Regierungsarbeit übernehmen
(Beifall bei der SPD) (Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Oh!)
– wir kommen Ihnen zu Hilfe, ja – und konkrete Vor-
Dr. Karl Lauterbach (SPD): schläge zur Lösung der immer stärker drängenden Pro-
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und bleme bringen. Heute will die SPD einen Vorschlag für
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Ge- die Finanzierung des Gesundheitssystems einbringen. Er
sundheitspolitik der Regierungskoalition ist zurzeit eine ist das Gegenteil dessen, Herr Zöller, was Teile der
sehenswerte Mischung aus Stillstand in der Sache und Union und die FDP planen.
heftigem, hektischem Streit – jeder gegen jeden – zu be- Union und FDP haben sich zumindest in einem Punkt
obachten. Der Streit ist so würzig, dass man als Opposi- geeinigt – das ist die einzige Einigung, die ich sehen
tionspartei kaum zu Wort kommt. Auch ich habe es in kann –: Sie wollen, dass die Arbeitgeber bei der Finan-
diesen Tagen daher nicht leicht. zierung des Gesundheitssystems entlastet werden. Das
(B) (Heinz Lanfermann [FDP]: Geradezu drama- bedeutet natürlich im Umkehrschluss, dass die Arbeit- (D)
tisch muss das ja sein! – Jörg van Essen nehmer zusätzlich belastet werden sollen, denn nur so
[FDP]: Ich habe Sie nicht vermisst!) kann es ja gehen.

Kein noch so hässlicher Vorwurf gegen die Regierung (Zuruf von der FDP: Wer hat das denn einge-
würde nicht auch von der Regierung selbst gegen die ei- führt?)
genen Kollegen öffentlich vorgetragen. So wirft Minister Aber weshalb sollen die zusätzlichen Kosten im Gesund-
Söder Minister Rösler völlig zu Recht vor, dass er umge- heitssystem gerade in der heutigen Zeit von den Arbeit-
hend Vorschläge zur Kostensenkung machen soll, statt nehmern und nicht von den Arbeitgebern bezahlt wer-
überflüssige Kommissionen mit in der Sache nicht kom- den? Weshalb sollen wir ausgerechnet in der heutigen
petenten Kabinettskollegen zu organisieren. In der Berli- Zeit die Arbeitgeber entlasten? Welchen Sinn macht
ner Zeitung stellt er fest, dass der Pharmagipfel von das? Das will doch niemand. Weshalb sollen Ausbeuter-
Herrn Rösler keine Ergebnisse gebracht hat. Nun ja, man firmen wie Schlecker und andere ausgerechnet bei den
muss schon völlig neu im Geschäft sein, um zu glauben, Gesundheitskosten entlastet werden, und dies zulasten
dass ausgerechnet die Pharmaindustrie mit Sparvor- der Bürger, Herr Singhammer? Das ist auch für die CSU
schlägen ins Ministerium spaziert. eine untragbare Position. Sie wollen nicht den Bürger
entlasten, sondern die Arbeitgeber, und dies zulasten der
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie des Arbeitnehmer. Damit ist die Kritik von Herrn Seehofer
Abg. Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE und Herrn Söder in diesem Punkt ohne Wenn und Aber
GRÜNEN]) berechtigt und richtig.
Das ist uns in zehn Jahren nicht passiert – und ich sage (Beifall bei der SPD – Johannes Singhammer
Ihnen: Das wäre mir in Erinnerung geblieben. [CDU/CSU]: Wir wollen Arbeitsplätze schaf-
(Jörg van Essen [FDP]: Ich würde da auch fen!)
nicht freiwillig hingehen! – Weitere Zurufe Herr Westerwelle, wenn Sie wirklich wollen, dass
von der FDP) sich die Arbeit für den Geringverdiener wieder lohnt,
– Wir haben die Pharmaindustrie immer gemieden. dann setzen Sie die Pläne zur Kopfpauschale aus,
(Ulrike Flach [FDP]: Die gibt es ja gar nicht!)
Auch hat Herr Söder natürlich recht, genauso wie sein
Chef Seehofer, dass die Kopfpauschale, die die FDP wodurch Reiche entlastet und Geringverdiener belastet
einführen will, unsozial, ungerecht und unbezahlbar ist. würden, und hetzen Sie nicht die Geringverdiener gegen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2343
Dr. Karl Lauterbach
(A) die Arbeitslosen auf. Fangen Sie bei der eigenen Ge- Prämien abzuwenden. Seit fünf Monaten ist Stillstand (C)
sundheitsreform, die Sie vorhaben, an; denn das ist die im Ministerium. Selbst Ihnen wohlgesonnene Journalis-
Reform, die die Geringverdiener am stärksten belasten ten fangen an, sich zu wundern. Nichts passiert, um die
wird! Zusatzprämien abzuwenden.
(Beifall bei der SPD – Jörg van Essen [FDP]: (Beifall bei der SPD)
Dünner Beifall bei der SPD – zu Recht!)
Herr Lanfermann, die FDP beschimpft den Staat als Präsident Dr. Norbert Lammert:
teuren Schwächling, aber treibt gleichzeitig 20 Millio- Herr Kollege Lauterbach, Sie denken bitte auch an die
nen Leute als Bittsteller für einen Sozialausgleich zum Zeit.
selben Staat, den sie bisher nicht nötig hatten.
(Beifall bei der SPD – Ulrike Flach [FDP]: Dr. Karl Lauterbach (SPD):
Woher wissen Sie das denn?) Ich komme zum Schluss.
Sehen Sie diesen Widerspruch nicht, Mit jedem Tag wachsen die Sorgen der Bürger, und
das Defizit steigt. Zu einer langfristig gerechten Gesund-
(Ulrike Flach [FDP]: Den sehen nur Sie!) heitsversorgung mit guter Qualität für alle, ohne Zwei-
oder wollen Sie den Bürger verschaukeln? klassenmedizin, ohne immer mehr Bürokratie, ohne So-
zialausgleich auf Pump, ohne Bittstellerei beim Staat,
(Ulrike Flach [FDP]: Das tun Sie gerade! – führt nur die von Ihnen gehasste, aber von 80 Prozent
Lars Lindemann [FDP]: Das hätten Sie doch der Bürger gewollte Bürgerversicherung.
alles machen können, als Sie an der Regierung
waren!) (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Kein einziger
Vorschlag!)
Wir brauchen eine einfache, unbürokratische und ge-
rechte Finanzierung des Gesundheitssystems. Kurzfris- Darin haben weder Ihre kleinen noch Ihre großen Kopf-
tig schlägt die SPD daher vor, den Beitrag wieder paritä- pauschalen Platz.
tisch zu erheben – ohne kleine Kopfpauschalen, ohne
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Sonderbeiträge –, sodass sich auch die Arbeitgeber wie-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
der zur Hälfte beteiligen.
Lassen Sie mich schließen mit der Ankündigung, dass
(Beifall bei der SPD)
die SPD Sie in den nächsten Wochen mit konkreten Ge-
(B) Wenn die Löhne sinken oder stagnieren, ist es nicht ge- setzentwürfen zur Senkung der Arzneimittelkosten un- (D)
recht, die steigenden Gesundheitskosten, wie Sie, meine terstützen wird.
Kollegen von der Union und von der FDP, es für richtig
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Das haben Sie
halten, allein dem Arbeitnehmer aufzubürden. Sie wol-
schon im November versprochen!)
len keine Mindestlöhne, akzeptieren aber höhere Ge-
sundheitskosten für die Geringverdiener. Wir als SPD Von der Regierungskoalition erwarten wir diesbezüglich
wollen genau das Gegenteil. genauso wenig wie Herr Söder, nämlich nichts. Sie wer-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) den nach der Niederlage in Nordrhein-Westfalen im
Bundesrat ohnedies auf unsere Hilfe und Zuarbeit ange-
Sie werden jetzt höhnen – ich höre es schon –, die wiesen sein.
SPD verabschiede sich von alten Positionen.
(Ulrike Flach [FDP]: Oh Gott! – Jens Spahn
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Immer- [CDU/CSU]: Das möge Gott verhüten!)
hin gibt er es zu!)
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Wissen Sie was? Damit haben Sie zum Teil sogar recht.
Wir sind es dem Bürger schuldig als SPD. Wir sind ein (Beifall bei der SPD – Heinz Lanfermann
lernfähiges System. [FDP]: Er will Gesundheitsminister bei Rot-
Rot in Nordrhein-Westfalen werden! Das ha-
(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und ben wir schon gemerkt!)
der FDP)
Sie wissen genau wie ich, dass die kleinen Kopfpauscha- Präsident Dr. Norbert Lammert:
len, die Zusatzprämien, der SPD von der CDU/CSU aufs Max Straubinger ist der nächste Redner für die CDU/
Auge gedrückt worden sind. CSU-Fraktion.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zurufe (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
von der CDU/CSU und der FDP: Oh! – Arme neten der FDP)
SPD! – Ulrike Flach [FDP]: Sie hätten die Ko-
alition doch verlassen können!) Max Straubinger (CDU/CSU):
– Das ist die Wahrheit; stellen Sie sich doch nicht Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es
dumm! – Nur aus diesem Grunde, Herr Rösler, haben ist schon bedeutsam, dass sich bei der Einbringung des
Sie bisher noch nichts unternommen, um diese kleinen SPD-Antrags der gesundheitspolitische Sprecher der
2344 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Max Straubinger
(A) SPD zuerst beklagt hat, dass er nicht mehr wahrgenom- dass gerade dieser kassenindividuelle Zusatzbeitrag (C)
men wird in der Öffentlichkeit. Ausdruck des Wettbewerbs zwischen gut geführten
Krankenkassen und angeblich weniger gut geführten
(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und Krankenkassen ist.
der FDP – Elke Ferner [SPD]: Lieber so, als so
wahrgenommen zu werden wie Sie, Herr (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Straubinger! – Dr. Frank-Walter Steinmeier Das zeigt sehr deutlich: Die SPD schlägt hier vor, dass es
[SPD]: Sie werden wahrgenommen! Das ist keinen Wettbewerb mehr zwischen den gesetzlichen
wahr!) Krankenkassen geben darf.
Das zeigt, worum es letztendlich geht: Es geht um Wahl- In Ihrem Antrag wird natürlich reflexartig wieder ein-
kampf. Die gesamte Rede war davon durchtränkt. mal die PKV gegeißelt.
Nur, Herr Kollege Lauterbach, wenn Sie vom Bezah- (Elke Ferner [SPD]: Das stört Sie als Besitzer
len reden: Ich glaube, Sie sind einer der bestbezahlten einer Versicherungsagentur natürlich!)
Gesundheitspolitiker in diesem Plenum. Ihre Vorträge
mögen zwar umsonst sein; aber es gibt sie nicht um- – Nein, Frau Kollegin Ferner, das stört mich überhaupt
sonst. nicht. Ich frage mich nur, ob Sie bei diesem Vorschlag
tatsächlich richtig nachgedacht haben.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Elke
(Elke Ferner [SPD]: Wir denken im Gegensatz
Ferner [SPD]: Wie sind denn Ihre Einkünfte
zu Ihnen immer richtig nach!)
aus Ihrer Versicherungsagentur? – Dr. Karl
Lauterbach [SPD]: Ich arbeite für mein Geld! – Ich habe den Eindruck, dass Sie das nicht getan haben. –
Ich lasse mich nicht beschenken!) Ich habe in Ihrem Antrag gelesen, dass Sie einen Fi-
nanzausgleich entsprechend der Morbidität einführen
– Die Lenkung aus dem Rhön-Klinikum-Konzern direkt wollen. Die Ausgabenentwicklung, in der sich die Mor-
spricht Bände, Herr Kollege Lauterbach. – Das nur zu bidität letztendlich widergespiegelt, war bei der privaten
dem, was Sie hier vorhin ausgeführt haben. Krankenversicherung in der Vergangenheit doppelt so
Schön ist, dass ich nicht feststellen kann, dass die hoch wie bei der gesetzlichen Krankenversicherung. Ich
ehemalige Bundesgesundheitsministerin bei dieser De- weiß nicht, ob ein solcher Finanzausgleich in Ihrem ei-
batte anwesend ist. genen Sinne ist, verehrte Kolleginnen und Kollegen der
SPD.
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Wo ist Sie eigent-
(B) lich?) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (D)
Dies wird noch dadurch untermauert, dass gerade bei
Ich kann das verstehen; denn dieser Antrag der SPD ist der privaten Krankenversicherung eine Überalterung des
eine knallharte Abrechnung mit der Gesundheitspolitik Versichertenbestandes festzustellen ist. Deshalb kann bei
von Ulla Schmidt. der Pflegeversicherung mittlerweile festgestellt wer-
(Elke Ferner [SPD]: Das stimmt überhaupt den, dass die Zahl der Einstufungen in die Pflegestufe II
nicht!) bei den Versicherten in der PKV prozentual gesehen hö-
her ist als bei den gesetzlich Krankenversicherten. Un-
Hier wird alles, was unter Rot-Grün und in der Großen terstützen Sie also mit die gute PKV! Das wäre ehren-
Koalition beschlossen worden ist, zur Disposition ge- wert. Ich habe aber den Eindruck, Sie haben eigentlich
stellt und letztendlich eine rückwärtsgewandte Politik etwas anderes im Sinn.
eingeleitet.
Schön ist auch, dass die Bundesregierung in diesem
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Antrag aufgefordert wird, ein eigenes Konzept der Bür-
gerversicherung vorzulegen.
Es ist bemerkenswert, dass von der SPD fünf Monate,
nachdem sie die Regierungsämter verloren hat, Vor- (Elke Ferner [SPD]: Ja! Das wäre mal ein um-
schläge kommen, die von Bismarck kommen könnten. setzungswertes Konzept!)
Auf einmal soll der Zusatzbeitrag von 0,9 Prozentpunk- Die Erarbeitung eines Konzepts der Bürgerversicherung
ten, den Rot-Grün eingeführt hat, wieder abgeschafft überlassen wir Ihnen.
werden. Ich möchte zu bedenken geben, dass es für die
Einführung dieses Zusatzbeitrages gute Gründe gab. Zu- (Elke Ferner [SPD]: Dann legen wir es vor!
dem liefern Sie natürlich keinen Vorschlag, wie dies fi- Keine Sorge!)
nanziert werden soll. Hiermit haben Sie in der Vergangenheit nicht unbedingt
Das Schönste ist, dass Sie den kassenindividuellen die besten Erfahrungen gemacht. Ich bin davon über-
Zusatzbeitrag, das Lieblingskind der ehemaligen Bun- zeugt, dass sich die Leute darauf freuen, wenn sie auf
desgesundheitsministerin, ebenfalls abschaffen wollen. Zinseinnahmen, auf Mieteinnahmen und auf weitere au-
Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt hat hier im ßerordentliche Einkünfte Beiträge zahlen dürfen. Das ist
Plenum ständig darauf hingewiesen, Ihre Angelegenheit; das sollten Sie den Bürgerinnen und
Bürgern auch im nordrhein-westfälischen Wahlkampf
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Jawohl!) darlegen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2345
Max Straubinger
(A) Ich stelle fest: Das ist eine Politik, die rückwärtsge- Dr. Barbara Hendricks (SPD): (C)
wandt ist und mit der die Herausforderungen der Zu- Herr Kollege Straubinger, kann es sein, dass die Re-
kunft in keiner Weise bewältigt werden. gierungskommission eingesetzt worden ist, damit we-
nigstens ein Teil der Regierung schon einmal den An-
Präsident Dr. Norbert Lammert: schein von Arbeit erweckt?
Kollege Straubinger, gestatten Sie eine Zwischen- (Heiterkeit und Beifall bei der SPD)
frage des Kollegen Heil?
Max Straubinger (CDU/CSU):
Max Straubinger (CDU/CSU):
Ich kann dem Herrn Kollegen Heil den Wunsch nicht Liebe Frau Kollegin Hendricks, Sie beklagen tagtäg-
verwehren. lich in Ihren Debattenbeiträgen, dass die Regierung zu
schnell arbeitet,
Präsident Dr. Norbert Lammert: (Thomas Oppermann [SPD]: Bei der Hotel-
Bitte schön. steuer, ja!)
zum Beispiel als wir mit dem Wachstumsbeschleuni-
Hubertus Heil (Peine) (SPD): gungsgesetz die Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschafts-
Lieber geschätzter Herr Kollege Straubinger, ich habe standorts Deutschland gestärkt haben, was letztendlich
nur eine Frage: Hat Herr Söder mit seiner Kritik an der die Grundlage dafür ist, dass in unserem Land Arbeits-
Kopfpauschale, die Ihre Regierungskoalition plant, plätze entstehen. Arbeitsplätze sind die beste Grundlage
recht oder nicht? Ja oder nein? für die Finanzierung unserer sozialen Sicherungssys-
teme.
Max Straubinger (CDU/CSU):
Die Regierung plant keine Kopfpauschale in diesem (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Sinne. Wir sagen sehr deutlich – ich komme später noch neten der FDP)
darauf; aber ich bin dankbar, dass Sie dies hier anspre- Es ist mit entscheidend, dass die Wirtschaft wieder Kraft
chen –: Wir haben eine Regierungskommission einge- gewinnt, damit mehr Arbeitsplätze entstehen und damit
setzt. Dies steht auch im Koalitionsvertrag. viele Beitragszahler die gesetzlichen Sicherungssys-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Die ist über- teme, also die Renten-, die Kranken-, die Pflege- und die
flüssig, sagt Herr Söder! – Heinz Lanfermann Arbeitslosenversicherung, tragen. Das ist das Primat der
[FDP], an den Abg. Hubertus Heil [Peine] Politik dieser Großen Koalition –,
(B) [SPD] gewandt: Wer fragt, muss auch zuhö- (D)
(Heiterkeit bei der SPD und dem BÜND-
ren!) NIS 90/DIE GRÜNEN – Birgitt Bender
Diese Regierungskommission wird sich mit den zukünf- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das waren
tigen Herausforderungen bei der Finanzierung eines ge- gute Zeiten, was?)
rechten und auf Solidarität beruhenden Gesundheitssys- – dieser christlich-liberalen Koalition. Dafür legen wir
tems auseinandersetzen. Im Gegensatz zu manchen, die die Grundlagen.
sich aus der Landespolitik dazu äußern, ist die CSU-
Landesgruppe bereit, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
(Elke Ferner [SPD]: Aha!)
Diese Bundesregierung hat kurzfristig reagiert – wir
dies offensiv zu begleiten.
werden es morgen im Sozialversicherungs-Stabilisie-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) rungsgesetz und nächste Woche im Bundeshaushalt fest-
legen –: Wir stehen den Versicherten mit einem Auf-
Herr Kollege Heil, für die Gesamtpartei CSU gilt: Die
wuchs der Steuerzuschüsse um 3,9 Milliarden Euro bei.
CSU stand der Kopfpauschale in der Vergangenheit und
steht ihr auch in der Zukunft sehr kritisch gegenüber – (Elke Ferner [SPD]: Einmalig! Sie lassen sie
ganz einfach. im Regen stehen!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – – Frau Kollegin Ferner, wir machen es nicht wie in Zei-
Lachen bei Abgeordneten der SPD) ten von Rot-Grün. Damals hieß es: Rauchen für die Ge-
sundheit. Die Steuer auf Tabakerzeugnisse wurde ange-
Präsident Dr. Norbert Lammert: hoben; und schon ein Jahr später wurde von der
Kollege Straubinger, auch Kollegin Hendricks würde gleichen, der rot-grünen Bundesregierung der Bundeszu-
gern eine Frage stellen. schuss für die gesetzlichen Krankenversicherungen ge-
kürzt.
Max Straubinger (CDU/CSU): (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Ja. der FDP – Elke Ferner [SPD]: Ihre Haushälter
haben dem zugestimmt, Herr Straubinger! –
Präsident Dr. Norbert Lammert: Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Warum
Bitte sehr. haben Sie denn zugestimmt?)
2346 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Max Straubinger
(A) Wir sind für eine beständige und nachhaltige Finan- Partei, die diese Sozialkürzung kritisiert und nach der (C)
zierung unseres Krankenversicherungssystems. – Frau Einführung immer wieder ihre Abschaffung gefordert
Kollegin Bender hätte eine Zwischenfrage. hat.
(Beifall bei der LINKEN)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ja, ich glaube es. Ich lasse sie aber nicht zu; denn 2007 legten SPD und Union mit dem Gesundheits-
nach Ablauf der Redezeit kann ich nicht zur Verlänge- fonds gemeinsam den Grundstein für die Zusatzbeiträge.
rung derselben Zusatzfragen zulassen. Ich sage dies, ob- Das gleiche simple Konzept, die Entlastung der Arbeit-
wohl ich um die Großzügigkeit der Kollegen weiß, ge- geber auf Kosten der Beschäftigten, war die Richtschnur
rade in solchen Fällen Zusatzfragen besonders gerne der Politik, bis im letzten Jahr das Konjunkturpaket II
zuzulassen. Also: Ein schöner Schlusssatz krönt die auf der Tagesordnung stand. Da gab es auf einmal Geld
Übung. zu verteilen. Die Linke hat damals die Abschaffung des
Sonderbeitrags als Änderungsantrag auf die Tagesord-
(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP) nung gesetzt.
(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Genau!)
Max Straubinger (CDU/CSU):
Diese christlich-liberale Regierung ist angetreten, Als dann auch noch der CSU-Wirtschaftsminister die
eine der demografischen Entwicklung angepasste, gene- Abschaffung des Sonderbeitrags forderte, kippte die
rationengerechte und solidarische Finanzierung des Stimmung in der SPD, und plötzlich forderten SPD-Ver-
Krankenversicherungssystems in der Zukunft zu ge- treterinnen und -Vertreter öffentlich die Abschaffung.
währleisten, mit Bundesminister Rösler an der Spitze Aber wie ging die Abstimmung aus? SPD, Grüne, CDU/
und mit tatkräftiger Begleitung der Bundestagsfraktio- CSU und FDP lehnten in trauter Einigkeit die Abschaf-
nen von CDU/CSU und FDP. fung des Sonderbeitrags im Rahmen des Konjunkturpro-
gramms ab. Dabei wäre das ein sinnvoller Konjunktur-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – impuls gewesen.
Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Die Nase
wird immer länger!) (Beifall bei der LINKEN)
Nun liegt ein Antrag der SPD vor, in dem gefordert
Präsident Dr. Norbert Lammert: wird, nicht nur den Sonderbeitrag abzuschaffen, sondern
Das Wort erhält nun der Kollege Harald Weinberg für auch die Zusatzbeiträge. Ich freue mich über diesen
die Fraktion Die Linke. Wandel, hätte mich aber noch mehr gefreut, wenn die
(B) (Beifall bei der LINKEN) SPD diese Position schon vertreten hätte, als sie noch et- (D)
was zu sagen hatte.
Harald Weinberg (DIE LINKE): (Beifall bei der LINKEN)
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Noch mehr hätte es mich gefreut, wenn sie diese Rege-
Straubinger hat natürlich in einem Punkt recht; an einer lungen, die sie jetzt wieder abschaffen will, erst gar nicht
Stelle war uns die Regierung in der Tat zu schnell: bei eingeführt hätte.
der Entlastung der Hotels. (Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN – Heinz Lanfermann Ganz so weit sind die Grünen noch nicht; aber sie for-
[FDP]: Dass wir das endlich mal von Ihnen dern immerhin in ihrem Antrag die Abschaffung der Zu-
hören!) satzbeiträge für Hartz-IV-Betroffene, weil Zusatzbei-
Der Antrag der SPD hat mich zugegebenerweise et- träge die Versicherten einseitig belasten. Das ist völlig
was verwirrt. Früher galt die SPD als Partei, die sich für richtig, aber zu kurz gesprungen: Warum denken die
soziale Gerechtigkeit einsetzt. Dann kam Schröder und Grünen diesen Gedanken nicht zu Ende und fordern die
ab 2003 seine Agendapolitik. Diese Wende hat die Posi- Abschaffung der Zusatzbeiträge für alle
tionen der SPD verwechselbar mit denen der Union und (Beifall bei der LINKEN)
der FDP gemacht. Jetzt will die SPD Teile dessen, was
sie mit der Agendapolitik eingeführt hat, wieder ab- sowie die Abschaffung des Sonderbeitrags und damit die
schaffen. Wiederherstellung des Grundsatzes, dass Arbeitgeber
und Arbeitnehmer sich die Beiträge halbe-halbe teilen?
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Ich bin aber zuversichtlich, dass dieser Lernprozess noch
Aufgrund der Agenda 2010 mussten sich die Kran- nicht abgeschlossen ist, und freue mich, dass sich so-
kenversicherten mit Leistungskürzungen, höheren Zu- wohl SPD als auch die Grünen unseren Positionen
zahlungen und der Einführung der Praxisgebühr abfin- Schritt für Schritt annähern.
den. Die regierenden Parteien, SPD und Grüne, einigten Bei der FDP und der Mehrheit der Union jedoch ist
sich mit der Union auf das größte Kürzungsprogramm in kein Lernprozess zu verzeichnen. Immer noch laufen
der Geschichte der Krankenversicherung. Zu dieser Poli- Rösler und sein Gefolge der Idee der Kopfpauschale wie
tik gehörte auch die Entlastung der Arbeitgeber auf Kos- Lemminge hinterher.
ten der Beschäftigten durch den Sonderbeitrag von
0,9 Prozentpunkten. Die Linke war damals die einzige (Zuruf von der FDP: Falsch!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2347
Harald Weinberg
(A) Wenn Sie die Augen aufmachten, dann sähen Sie, dass haupt nichts. Die Krankenkassen sind schließlich keine (C)
dieser Weg direkt in den Abgrund führt. Die Kopfpau- gewinnorientierten Unternehmen, sondern ein Teil des
schale ist unsozial, weil sie eine direkte Umverteilung Sozialstaates. Hier darf das Kartellamt überhaupt keine
von unten nach oben ist. Sie ist nicht finanzierbar, weil Befugnisse haben; es hat tatsächlich auch nur wenige
ein sozialer Ausgleich dieser Umverteilung jedes Jahr Befugnisse. Die gesetzliche Krankenkasse auf eine Ebene
bis zu 40 Milliarden Euro kosten würde. mit Kaffeeröstereien oder Energiekonzernen zu stellen,
ist skandalös.
Es ist klar, dass Sie immer wieder versuchen, diese
Fakten wegzuwischen und zu beschwichtigen. Minister (Elke Ferner [SPD]: Tankstellen!)
Rösler, als junger Tiger dieser Bundesregierung gestartet
und inzwischen auf bestem Wege, als Flokati zu landen, Genauso gut könnte man fordern, dass sich das Kartell-
amt mal um die Preisabsprachen bei den Gesprächster-
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: minen mit CDU-Ministerpräsidenten kümmern soll.
Als Kätzle!)
(Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei
erwähnt mittlerweile in jedem Interview, dass alles nur der CDU/CSU)
schrittweise eingeführt werden soll und deswegen gar
nicht so schlimm würde. Aber egal, ob Sie die Kopfpau- Hier wird nämlich tatsächlich ein Monopol zum Schaden
schale sofort oder schrittweise in einer Salamitaktik ein- der Demokratie ausgenutzt.
führen wollen: Im Endergebnis bleibt sie unsozial und Zurück zur Kopfpauschale und zu den Zusatzbeiträ-
unfinanzierbar. gen. Nun wurde eine Regierungskommission zur Kopf-
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- pauschale einberufen, deren alleiniger Zweck es ist, die
neten der SPD) Öffentlichkeit zu täuschen. Diese Kommission kann
nichts Neues mehr herausfinden. Seit vielen Jahren wird
Im Gegensatz zur FDP versteht die große Mehrheit nonstop öffentlich über die Kopfpauschale debattiert.
der Bevölkerung dies und will deshalb keine Kopfpau- Egal welche Modelle im Detail ersonnen wurden, immer
schale. Sogar über 70 Prozent der FDP-Anhänger lehnen sehen diese Modelle vor, dass die Geringverdienenden
sie ab. Diesen FDP-Anhängern kann man eigentlich nur draufzahlen, damit die Wohlhabenden weniger in die
raten, bei den nächsten Wahlen diejenigen zu wählen, Krankenkassen zahlen. Das wollen die Menschen nicht.
die ihre Interessen tatsächlich vertreten. Der ganze Terminplan dieser Verschleierungskommis-
Ein weiterer Trick von Minister Rösler ist, die Verant- sion ist darauf aus, die Wählerinnen und Wähler bis zur
wortung für sein aktuelles Nichthandeln der Vorgänger- Wahl in Nordrhein-Westfalen über die wahren Absichten
regierung und ihrem Gesundheitsfonds in die Schuhe zu der Regierung im Unklaren zu lassen;
(B) schieben. Um die Kopfpauschale scheibchenweise ein- (D)
(Zuruf von der SPD: Das stimmt!)
zuführen, sind ihm die Zusatzbeiträge sogar sehr will-
kommen. Rösler gibt zwar vor, mit den Versicherten mit- denn diese Wahl ist auch eine Abstimmung über die
zuleiden, wenn jetzt eine Kasse nach der anderen Kopfpauschale. Wenn Schwarz-Gelb in Nordrhein-
Zusatzbeiträge einführen muss. Westfalen keine Mehrheit bekommt, hat Schwarz-Gelb
auch im Bundesrat die Mehrheit verloren. Dann kann die
(Thomas Oppermann [SPD]: Er leidet nicht! – Kopfpauschale nicht durchgesetzt werden.
Elke Ferner [SPD]: Er ist ja mitverantwortlich
dafür, dass die Kosten aus dem Ruder laufen!) (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Eine Kopfpau-
schale will doch niemand!)
Es läge jedoch in seiner Macht, diese Zusatzbeiträge zu
verhindern. Er müsste nur die Vorschläge der Linken zur Wer also mit seiner Stimme die Kopfpauschale verhin-
Finanzierung der Sozialversicherungssysteme aufgrei- dern will, darf in Nordrhein-Westfalen nicht CDU oder
fen, die morgen hier debattiert werden. FDP wählen.
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN – Lars Lindemann
Der FDP-Minister zieht es aber vor, sich einfach zu- [FDP]: Auch nicht die CSU!)
rückzulehnen und zuzuschauen, wie durch die Zusatz- – Die kann man in Nordrhein-Westfalen zum Glück
beiträge sein Herzenswunsch teilweise zur harten Reali- nicht wählen.
tät wird: Zusatzbeiträge sind nichts anderes als kleine
Kopfpauschalen. Rösler hat schon vor gut drei Wochen (Jens Spahn [CDU/CSU]: Die Linke kann man
im Weser-Kurier durchblicken lassen, dass er den Aus- dort nicht wählen; das stimmt! – Weiterer Zu-
bau der Zusatzbeiträge für eine Möglichkeit hält, die ruf von der CDU/CSU: Nicht wählbar!)
Kopfpauschale ohne großen gesetzgeberischen Aufwand
Zum Schluss ein Ausflug in die Geschichte. Kopfpau-
einzuführen. Genau deswegen müssen die Zusatzbei-
schalen waren noch nie beliebt. Als 1380 der englische
träge weg.
König Richard II. Krieg gegen Frankreich führte, ging
(Beifall bei der LINKEN) ihm das Geld aus. Er schuf eine Kopfsteuer und ver-
langte von jedem, egal ob armer Bauer oder wohlhaben-
Um eine weitere Nebelbombe zu werfen, ruft die der Händler, den gleichen Betrag.
Bundesregierung nun fast unisono nach dem Kartellamt,
das die Krankenkassen kontrollieren soll, wenn sie Zu- (Zuruf von der CDU/CSU: Sozialismus nennt
satzbeiträge einführen. Das ist populär, bringt aber über- man das!)
2348 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Harald Weinberg
(A) Ergebnis war die Peasants’ Revolt, ein gewaltsamer Nun sagen Sie einfach: Wir wollen eine Bürgerversiche- (C)
Aufstand der Bauern, die sich dies nicht bieten lassen rung. – Ein bisschen mehr Ehrgeiz von Ihrer Seite hätte
wollten. Aber auch aus der jüngeren Vergangenheit gibt ich mir gewünscht.
es ein Beispiel, wieder aus England. Ende der 80er-Jahre
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
ersetzte Margaret Thatcher eine vermögensabhängige
CDU/CSU – Heinz Lanfermann [FDP]: Vor al-
Steuer durch eine Kopfsteuer. Millionenfach weigerten
len Dingen Fleiß!)
sich die Menschen, diese Steuer zu zahlen. Es gab ge-
walttätige Proteste. Die „eiserne Lady“ musste zurück- Sie tun in Ihrem vorliegenden Antrag so, als hätten in
treten und ihr Nachfolger John Major die Kopfsteuer den letzten elf Jahren nicht Sie, sondern wir regiert. Die
wieder abschaffen. Zusatzbeiträge sind aber nicht das Ergebnis einer von Ih-
nen behaupteten Untätigkeit des Ministers Rösler, son-
Verstehen Sie mich nicht falsch: Es ist nicht so, dass dern das Ergebnis der Tätigkeit von Ulla Schmidt.
Sie, Herr Rösler, mein Wunschminister sind. Wenn Sie
aber länger im Amt bleiben wollen, ist Ihnen dringend (Elke Ferner [SPD]: Dass sie erhoben werden,
zu raten, auf solche Kopfpauschalenabenteuer zu ver- schon!)
zichten und endlich auch gegen die kleine Variante der So einfach ist das.
Kopfpauschale, die Zusatzbeiträge, vorzugehen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Vielen Dank.
Es ist Ihr Gesetz. Es ist Ihr Gesundheitsfonds.
(Beifall bei der LINKEN – Heinz Lanfermann
[FDP]: Die Kopfpauschale ist ein Hirnge- (Zuruf von der SPD: Nein!)
spinst! – Jens Spahn [CDU/CSU]: War das
jetzt der Aufruf zum Bauernaufstand?) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Frau Flach, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kol-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: legen Oppermann?
Die nächste Rednerin ist Ulrike Flach für die Fraktion
der FDP. Ulrike Flach (FDP):
Aber natürlich.
(Beifall bei der FDP – Birgitt Bender [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Die erklärt uns jetzt,
wo sie die 35 Milliarden hernimmt!) Thomas Oppermann (SPD):
Frau Kollegin Flach, Sie reden hier für die FDP-Bun-
(B) destagsfraktion. Können Sie uns mal erklären, warum (D)
Ulrike Flach (FDP): Bundesgesundheitsminister Rösler in dieser Debatte
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nicht das Wort ergreift? Hat er uns in dieser Diskussion
Lieber Herr Weinberg, das trifft auf Sie genauso wie auf nichts zu sagen, oder müssen Sie ihn verstecken?
Herrn Lauterbach zu: Wenn Sie hier von der Kopfpau-
schale reden, verschwenden Sie Ihre Redezeit. Diese Re- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Wider-
gierung plant keine Kopfpauschale. spruch bei der FDP)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Elke
Ulrike Flach (FDP):
Ferner [SPD]: Was?)
Lieber Kollege Oppermann, ich kenne und schätze
Ich kann Ihnen genau sagen, warum wir sie nicht wollen. Sie seit vielen Jahren als konstruktiven Gegner. Aber
Sie ist eben nicht sozial ausgeglichen mich hier zur Nanny von Herrn Rösler zu machen, ist si-
cherlich völlig neben der Kappe.
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: So ist es!)
(Elke Ferner [SPD]: Das bräuchte er aber drin-
und erfüllt nicht die Grundvoraussetzungen, die nach un- gend!)
serer Meinung für eine Gesundheitsreform gelten soll-
ten. Wir wollen eine einkommensunabhängige Ge- Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass unsere Fraktion
sundheitsprämie plus Sozialausgleich. schon Leute hat, die reden können. Herr Lanfermann
und ich machen das heute.
(Elke Ferner [SPD]: Was ist das anderes?)
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das reicht für
Das kann man nicht oft genug sagen. die!)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Wi- Es spricht heute auch nicht Ihr Fraktionsvorsitzender. Es
derspruch bei der SPD) hätte mich gefreut, wenn wir Herrn Steinmeier dazu ge-
Lieber Herr Lauterbach, ich war heute optimistisch hört hätten.
hierhergekommen und hatte gedacht, dass Sie das getan (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
haben, was Sie uns versprochen haben, nämlich einen CDU/CSU)
durchgerechneten Antrag zu Ihrer Bürgerversicherung
vorzulegen. Unabhängig davon darf ich Ihnen mit großer Freude be-
richten, dass in der nächsten Haushaltswoche selbstver-
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Genau, darauf war- ständlich Herr Rösler sprechen wird. Freuen Sie sich da-
ten wir noch immer!) rauf!
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2349
Ulrike Flach
(A) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Elke Ferner [SPD]: Wollten Sie nicht mehr?) (C)
der CDU/CSU)
Sie sagen, die Ärztinnen und Ärzte würden von der Bun-
Also, es ist Ihr Gesetz, es ist Ihr Gesundheitsfonds, desregierung besonders verwöhnt. In den letzten Jahren
und es sind natürlich auch Ihre Zusatzbeiträge. seien ihre Honorare überdurchschnittlich gestiegen, und
zwar von 2004 bis 2008 um 12,7 Prozent. Das ist ein
(Elke Ferner [SPD]: Nein!) Zitat aus Ihrer Kampagne. Das war Ihr Werk, es waren
Sie haben die Möglichkeit für die Krankenkassen ge- Ihre Ausgabensteigerungen,
schaffen, 8 Euro mehr zu nehmen, eine Regelung, die (Elke Ferner [SPD]: Ihnen war es doch nicht
Sie mit einer Überforderungsklausel versehen haben. genug!)
Lieber Herr Lauterbach, wir beide sind doch lange ge-
nug im Geschäft. Wenn Sie mit der Regelung so unzu- und es waren Ihre fehlgeschlagenen Versuche einer
frieden waren, warum haben Sie die Koalition nicht ver- gleichzeitigen Kostendämpfung.
lassen?
(Beifall bei Abgeordneten der FDP)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Wer etwas als unsozial empfindet und das nicht will, Frau Flach, der Kollege Lauterbach würde Ihnen
hätte das tun sollen. Das hätte ich von Ihnen erwartet. gerne eine Zwischenfrage stellen.
Dann wäre das, was Sie uns jetzt erzählen, ehrlich.
Ulrike Flach (FDP):
(Beifall bei Abgeordneten der FDP)
Aber natürlich.
Ich habe gestern in alten Protokollen des Gesund-
heitsausschusses nachgeschaut. Darin preisen Sie den Dr. Karl Lauterbach (SPD):
Gesundheitsfonds, den Sie jetzt angreifen, Frau Flach, Sie kritisieren, dass wir in der letzten Le-
(Elke Ferner [SPD]: Nein, den nicht!) gislaturperiode die Arzthonorare, also auch die Honorare
für Fachärzte und Hausärzte, angehoben haben. Verstehe
weil er die Solidarität und den Wettbewerb zum Wohle ich Sie richtig, dass Sie diese Anhebung für falsch halten
des Patienten stärke. und daher die Arzthonorare wieder kürzen wollen?
(Zurufe von der FDP: Hört! Hört!) (Heinz Lanfermann [FDP]: Sie sollten nur zu
dem stehen, was Sie getan haben!)
Jetzt frage ich mich: Was ist denn daraus geworden? Ha-
(B) (D)
ben Sie das vergessen? Sie sind damals mit diesem Ge-
setz zum Wohle des Patienten auf den Markt gegangen, Ulrike Flach (FDP):
und heute versuchen Sie, dem Patienten klarzumachen, Lieber Herr Lauterbach, ich kritisiere nicht, dass Sie
dass das alles nicht mehr wahr sei. Das ist politische dafür gesorgt haben, dass auch Ärzte in diesem Lande
Amnesie, Vergesslichkeit in hohem Grade. Etwas ande- das bekommen, was sie verdienen, und zwar leistungs-
res ist das nicht. gerecht und ordentlich.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Also haben wir
der CDU/CSU – Zuruf von der FDP: Die recht!)
Leute für dumm verkaufen ist das!) Ich kritisiere aber Sie, lieber Herr Lauterbach, weil Sie
Das Gleiche gilt übrigens für die Entkoppelung der so tun, als ob Sie das nicht selbst auf den Weg gebracht
Beiträge von Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Sie hätten.
sind damals zusammen mit den Grünen den ersten (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Schritt gegangen. Sie haben jetzt also eine Kampagne
gestartet, die sich gegen alles richtet, was Sie uns in den Sie versuchen, uns etwas in die Schuhe zu schieben, was
letzten elf Jahren auf den Tisch gelegt haben. zu der Zeit geschah, als wir noch auf den Oppositions-
bänken saßen. Das nenne ich – noch einmal – politische
(Elke Ferner [SPD]: Nein, es geht um die Vergesslichkeit.
Kopfpauschale von Ihnen!)
(Elke Ferner [SPD]: Eine Verdrehung der Tat-
Eigentlich müsste die Kampagne „Nein zu den Auswir- sachen, Frau Flach!)
kungen der SPD-Gesundheitspolitik!“ heißen; dann wäre
sie nämlich ehrlich. Jetzt kommen Sie mit einem Gegenmodell, von dem
ich gehofft hätte, dass wir heute ordentlich darüber reden
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten können: die Bürgerversicherung. Sie sollten den Leuten
der CDU/CSU) auch sagen, dass der Großmutter, die für ihren Enkel ein
Sparkonto angelegt hat und deren Zinseinkünfte dann für
Sie kritisieren uns in diesen Tagen in Ihrer Kampagne
die Finanzierung der Kassen herangezogen werden, eine
und auch in Ihrem Antrag für angebliche Geschenke für
zusätzliche Belastung ins Haus steht.
die Ärzte. Jetzt frage ich mich: Wer hat denn die beson-
deren Arzthonorarsteigerungen des letzten Jahres zu (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Elke
verantworten? Doch nicht die FDP oder Herr Rösler. Ferner [SPD]: Es gibt Freibeträge!)
2350 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Ulrike Flach
(A) Sie sollten das auch der Familie sagen, die in ihrem Das wird nicht einfach werden. Aber wie hat Philipp (C)
Hause eine Einliegerwohnung vermietet und deren Miet- Rösler das so schön formuliert? Dann hätten auch Sie es
einnahmen mitberechnet werden. All dies verschweigen machen können.
Sie den Leuten. Sie tun mit Ihrer Kampagne so, als ob in (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
diesem Land nur Menschen lebten, die sich an nichts der CDU/CSU – Wolfgang Zöller [CDU/
mehr erinnern können. CSU]: Das war keine flache Rede! – Heiterkeit
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) bei der FDP)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:


Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Die nächste Rednerin ist Biggi Bender für die Frak-
Frau Flach, möchten Sie noch eine letzte Zwischen- tion Bündnis 90/Die Grünen.
frage des Kollegen Weinberg von der Linksfraktion zu-
lassen?
Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Da kann man Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Was ist
nur gewinnen!) eigentlich mit der CSU los?
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Der geht
Ulrike Flach (FDP): es gut! – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Da
Aber sicher, Herr Weinberg. machen Sie sich keine Sorgen!)

(Weiterer Zuruf des Abg. Wolfgang Zöller Ist das wichtig? Ja, Herr Kollege Zöller, es ist wichtig,
was mit der CSU los ist, wenn einem der Zustand des öf-
[CDU/CSU])
fentlichen Gesundheitswesens am Herzen liegt.

Harald Weinberg (DIE LINKE): (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Machen


Sie sich mal um die CSU keine Sorgen!)
Reden Sie doch nicht dauernd dazwischen.
Der Kollege Straubinger hat vorhin vorgeführt, dass
(Heinz Lanfermann [FDP]: Nur nicht nervös in der CSU etliche ein schlechtes Gedächtnis haben. Sie
werden!) haben uns vorgehalten, den Steuerzuschuss an die ge-
setzliche Krankenversicherung gekürzt zu haben. Es
Frau Kollegin Flach, meine Frage lautet ganz simpel:
ist genau umgekehrt: Rot-Grün hat ihn aufwachsend ein-
Haben Sie schon einmal von Freibeträgen im Zusam- geführt. Es war die erste Amtshandlung der Großen
menhang mit Zins- und Kapitaleinkünften gehört? Koalition, Herr Straubinger, mit der dieser Steuerzu- (D)
(B)
schuss auch mit Ihrer Stimme wieder heruntergesetzt
Ulrike Flach (FDP): wurde.
Lieber Herr Weinberg, selbstverständlich habe ich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
von Freibeträgen gehört, aber ehrlich gesagt können wir
heute über Freibeträge überhaupt nicht reden, weil Herr Genauso ist es mit dem Koalitionsvertrag. Da hat
Lauterbach sein Versprechen nicht gehalten hat. Läge Herr Seehofer einen Vertrag unterschrieben, in dem die
uns ein durchgerechnetes Modell vor, dann könnten wir Rede von „einkommensunabhängigen Arbeitnehmerbei-
über Freibeträge reden. Wir tun das gerne. Aber jetzt trägen“ ist, also von Kopfpauschalen,
sind wir noch nicht so weit. Insofern sind wir beide in (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Nein, das ist
dieser Frage unwissend, weil Herr Lauterbach uns un- etwas anderes! – Heinz Lanfermann [FDP]:
wissend gelassen hat. Die Kopfpauschale ist ein Hirngespinst!)
(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Das die man langfristig in das bestehende Ausgleichssystem
stimmt! Keiner widerspricht!) überführen wolle. Herr Lanfermann, eigentlich sollten
Sie sich mit der CSU direkt streiten. Jetzt weiß Herr
Meine lieben Kollegen, wir haben in diesen Tagen Seehofer nichts mehr davon. Seehofer und Söder ziehen
eine Kommission eingesetzt, die dazu beitragen wird, zu Felde und sagen: Die Kommission muss erst gar nicht
dass wir dieses Gesundheitssystem auf wirklich stabile arbeiten, die ist mit ihrer Arbeit ganz schnell fertig.
finanzielle Füße stellen werden.
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Hier ist nicht
(Elke Ferner [SPD]: Das glaubt doch keiner!) der Nockherberg! Hier ist der Bundestag!)
Wir werden es demografiefest machen. Wir werden in Daraufhin keilt der Landesgruppenvorsitzende zurück.
den nächsten Tagen die Ausgabenseite angehen. Sie Das wiederum garantiert dem Herrn Söder das nächste
können sicher sein, dass wir am Ende dieser vier Jahre Interview.
eine Gesundheitsreform auf den Weg gebracht haben, (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Nockerherberg
mit der zumindest die eine Seite dieses Hauses und die war gestern!)
Menschen in diesem Lande äußerst zufrieden sein wer-
den. Das ist das Wichtigste. Das alles hat einen hohen Unterhaltungswert. Man
könnte geneigt sein zu sagen: Ist doch schön, wenn die
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten CSU das Geschäft der Opposition gleich mit besorgt.
der CDU/CSU) Dann sind wir entlastet.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2351
Birgitt Bender
(A) (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Ihr macht ja ergänzt werden und diese sind dann so bald wie möglich (C)
nichts! Das ist ja das Schlimme!) durch ein Prämienmodell zu ersetzen.
Ich fürchte nur, Herr Kollege Zöller, es ist eben nicht so. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das ist ein Un-
Dieser Widerstand ist inszeniert. terschied zu einer Kopfpauschale!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es ist also folgendermaßen: Erstens sind CDU und
So wie zu jedem Komödienstadl eine ordentliche Wirts- FDP sich darin einig, die Kopfpauschale einzuführen.
hausschlägerei gehört, so ist auch diese Auseinanderset- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie sagen schon
zung nichts anderes als Theaterdonner. wieder das Verkehrte! – Heinz Lanfermann
Schauen wir uns mal an, worin Sie sich einig sind. Sie [FDP]: Kopfpauschale ist ein Hirngespinst!)
sind sich doch völlig einig – das stellt überhaupt nie- Verhandeln werden sie über das Reformtempo; das ist
mand infrage –, dass Sie den Arbeitgeberbeitrag ein- ihre Intention.
frieren wollen. Jetzt gucken wir einmal auf die Kosten-
steigerungen der letzten Jahre in der gesetzlichen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Krankenversicherung zurück. In den letzten 20 Jahren Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Lesen Sie doch
sind die Beiträge in der GKV um 2,5 Prozentpunkte ge- einmal den Koalitionsvertrag!)
stiegen. Das würde für einen durchschnittlich verdienen-
den Menschen, der das in dieser Zeit alleine ohne den Zweitens. Wer darauf hofft, dass die CSU die Kopf-
Arbeitgeberanteil tragen müsste, bedeuten, dass er heute pauschale verhindert, wird bitter enttäuscht sein. Denn
30 Euro mehr im Monat zahlen müsste. Für einen Men- ihr geht es nur darum, die Klientel im eigenen Bundes-
schen, der nahe an der Beitragsbemessungsgrenze ver- land zu bedienen.
dient, wären das 45 Euro mehr im Monat. Drittens. Wer die Kopfpauschale nicht will – und die
Sie glauben doch wohl nicht, dass in den nächsten Grünen wollen sie nicht –,
Jahren angesichts der demografischen Entwicklung und (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sagen Sie mir
des medizinischen Fortschritts die Gesundheitskosten einen, der sie will! – Heinz Lanfermann
nicht mehr ansteigen werden. Also bedeutet das Einfrie- [FDP]: Niemand will sie!)
ren des Arbeitgeberbeitrages, dass das die Versicherten
teuer zu stehen kommt. Diese werden einseitig belastet. der darf hinsichtlich der Zusatzbeiträge nicht schwei-
Dagegen haben die Bayern nicht das Geringste einzu- gen. Denn die Zusatzbeiträge sind der Türöffner für die-
wenden. ses Prämiensystem.
(B) (D)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD) sowie bei Abgeordneten der SPD)
Hier geht es doch nur darum, dass sich die CSU als Es gibt doch zu denken, dass es bereits Forderungen aus
das inszeniert, was sie eigentlich ist, nämlich eine baye- der CDU gibt, die Belastungsgrenze von 1 Prozent bei
rische Regionalpartei mit bayerischen Sonderinteressen. den Zusatzbeiträgen an- oder gleich aufzuheben.
Da geht es nämlich um das, was Herr Söder „regionale
Differenzierungsmöglichkeiten“ nennt. Auf Deutsch: Es Vor diesem Hintergrund freue ich mich, dass die SPD
soll mehr Geld nach Bayern kommen, damit die CSU neuerdings auch gegen Zusatzbeiträge ist. Sie wird aller-
ihre teuren Wahlversprechen gegenüber der bayerischen dings ein gewisses Glaubwürdigkeitsproblem haben,
Ärzteschaft finanzieren kann. denn immerhin ist das entsprechende Gesetz von der
Großen Koalition verabschiedet worden.
(Elke Ferner [SPD]: Genau!)
Zusatzbeiträge sind für alle Versicherten eine Belas-
Das ist doch der Casus knacktus. Das ist gar keine
tung, und zwar eine einseitige. Deswegen lehnen wir sie
gute Nachricht.
ab. Aber es gibt eine Gruppe von Menschen, für die
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) diese Zusatzbeiträge nicht nur eine Belastung, sondern
bereits heute eine soziale Bedrohung sind. Ich rede von
Spätestens seit der Kollege Kauder sich für die CDU den Hartz-IV-Empfängern. Sie müssen die Zusatzbei-
an die Seite des Bundesgesundheitsministers gestellt hat, träge aufgrund der Gesetzeslage nämlich aus eigener Ta-
wissen wir doch, dass Sie im Grundsatz bereit sind, die- sche bezahlen.
ses Kopfpauschalenmodell einzuführen.
Gerade erst gab es eine Entscheidung des Bundesver-
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Gesundheitsprä- fassungsgerichts, mit der der Politik ins Stammbuch ge-
mie! Lernen Sie es doch!)
schrieben wurde, dass aus dem Grundsatz der Achtung
– Schließlich, Herr Kollege Spahn, steht das auch im der Menschenwürde ein Recht auf Existenzsicherung
Grundsatzprogramm der CDU aus dem Dezember 2007. folgt und dass zwar ein monatlicher Festbetrag ausge-
Da heißt es, die einkommensabhängigen Beiträge sollen wiesen werden kann, aber unabweisbare zusätzliche Be-
durch Prämienelemente darfe auch zusätzlich finanziert werden müssen.
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Aha! Prämien- (Jens Spahn [CDU/CSU]: Das ist aber nicht
modell!) unabweisbar!)
2352 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Birgitt Bender
(A) Die einzige Alternative zur Zahlung eines Zusatzbei- Jens Spahn (CDU/CSU): (C)
trages ist für einen Menschen, der ALG II bezieht, Kran- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
kenkassenhopping, Man muss noch einmal in Erinnerung rufen, worüber wir
hier eigentlich debattieren. Es geht um einen Antrag ins-
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Aha! – Wolfgang besondere der SPD-Fraktion, der, Herr Kollege
Zöller [CDU/CSU]: Ist das schlimm?) Oppermann, es nicht wert ist, dass der Minister dazu
spricht,
und zwar so lange, bis es keine Kasse mehr gibt, die ei-
nen Zusatzbeitrag erhebt. Das war bisher in allen Ant- (Heinz Lanfermann [FDP]: Da steht ja nichts
worten auf unsere parlamentarischen Initiativen die drin! Da kann man kaum drüber sprechen!)
Empfehlung der letzten wie der jetzigen Regierung.
denn die Substanz Ihres Antrags ist mehr als überschau-
Meine Damen und Herren, das darf doch wohl nicht
bar.
wahr sein!
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD – Wolfgang Die eigentliche Aussage Ihres Antrages ist, dass Sie
Zöller [CDU/CSU]: Sie beklagen doch immer sich von elf Jahren Regierungspolitik verabschieden und
die Verwaltungskosten der Krankenkassen!) mit der Arbeit der Gesundheitsministerin Ulla Schmidt
abrechnen,
Wir wollen, dass der Zusatzbeitrag, solange es ihn
(Elke Ferner [SPD]: Nein, eine Abrechnung
gibt, genauso behandelt wird wie der Krankenkassenbei-
mit Ihnen!)
trag selbst, der ja von den Jobcentern übernommen wird.
Wir wollen ALG-II-Empfänger nicht zwingen, die Kran- als schämten Sie sich dessen, was wir auch zum Teil ge-
kenkasse in einem Hase-und-Igel-Spiel ständig zu wech- meinsam beschlossen haben. Sie fallen zurück auf den
seln. Stand von vor 1998, in den Populismus, den Sie in den
80er- und 90er-Jahren an den Tag gelegt haben. Das
Wenn man den Presseberichten der letzten Tage glau- bringt Sie vielleicht näher zu den Linken; aber das bringt
ben darf, dann soll es jetzt eine Liste von Ausnahmen Sie nicht näher zur Regierungsbeteiligung in diesem
geben, in denen das Jobcenter den Zusatzbeitrag viel- Land, und das ist auch richtig so.
leicht doch übernimmt, zum Beispiel wenn jemand
schon eine Zahnbehandlung beantragt hat oder derglei- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
chen. Widerspruch bei der SPD)

(Jens Spahn [CDU/CSU]: Die stehen im Ge- Sie wollen zurücknehmen, dass der Arbeitnehmer ei- (D)
(B)
setz, die Ausnahmen!) nen Beitrag von 0,9 Prozent allein tragen muss.
(Elke Ferner [SPD]: Genau! Steht in unserem
Es geht jedoch gerade nicht darum, dass Menschen, die Wahlprogramm, Herr Spahn!)
von Hartz IV leben, Einzelverhandlungen mit dem Amt
führen müssen, sondern es geht um eine generelle Rege- Das ist im Übrigen etwas, was unter der rot-grünen Bun-
lung, nach der diese Zusatzbeiträge übernommen wer- desregierung in diesem Land eingeführt worden ist. Ich
den. darf einmal zitieren, was Frau Ministerin Schmidt 2003
gesagt hat – ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ministerin Schmidt gleich mehrfach in einer Rede zitiere;
Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Die brauchen aber es scheint nötig zu sein, um Sie an das zu erinnern,
sie doch gar nicht zu zahlen!) was auch Sie einmal für richtig gehalten haben –: „Ziel
ist es, die Lohnnebenkosten zu senken. Die Alternative
Da sollten Sie wirklich in sich gehen. Anders lässt sich wäre gewesen, die Zuzahlungen weiter zu erhöhen. Wer
das ohnehin nicht halten. Ich verspreche Ihnen für die die Lohnzusatzkosten senken will, um die Rahmenbedin-
Grünen, dass wir gegen die Zusatzbeiträge als Türöffner gungen für Wachstum und Arbeitsplätze zu verbessern,
für das Prämiensystem muss die paritätisch finanzierten Ausgaben verringern.“ –
Das sagte Ulla Schmidt 2003. Was gilt denn nun? Das,
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Aha! Prämie!
was die ehemalige Gesundheitsministerin gesagt hat,
Sie sagen es! Alle Achtung! Sie haben schon
oder das, was Karl Lauterbach heute erzählt? Diese Frage
gelernt!)
müssen Sie uns einmal beantworten, liebe Kolleginnen
kämpfen werden. Bei uns ist das kein Theaterdonner, und Kollegen von der SPD.
Herr Zöller! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich möchte ein zweites Thema behandeln – es ist ge-
rade schon angesprochen worden –: Sie wollen den Ge-
sundheitsfonds wieder abschaffen. Wir haben gemein-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
sam für den Gesundheitsfonds gekämpft und ihn auch
Für die Unionsfraktion spricht jetzt der Kollege Jens durchgesetzt.
Spahn.
(Elke Ferner [SPD]: Das stimmt doch gar
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nicht, dass wir ihn abschaffen wollen!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2353
Jens Spahn
(A) – Natürlich. Lesen Sie einmal genau, was in Ihrem An- terschied von 8 Euro den Untergang des Abendlandes (C)
trag steht. – Wir haben gesagt: Das, was sich mit der aus. In der politischen Debatte so vorzugehen, ist nicht
Einführung des Gesundheitsfonds ändert, ist, dass sich besonders redlich.
die Einnahmen der Krankenkassen nicht mehr nach der
Einkommensstruktur ihrer Versicherten richten, sondern (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
nach der Risiko-, also der Krankheitsstruktur ihrer Versi-
cherten. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
(Elke Ferner [SPD]: Das wollten Sie doch gar Herr Spahn, der Kollege Kuhn würde Ihnen gerne
nicht, Herr Spahn!) eine Zwischenfrage stellen.

Das haben wir gemeinsam mit der Einführung des Ge-


Jens Spahn (CDU/CSU):
sundheitsfonds beschlossen. Das stellen Sie jetzt wieder
infrage. Gerne.

(Elke Ferner [SPD]: Das stimmt doch gar nicht,


Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Spahn! – Dr. Frank-Walter Steinmeier
[SPD]: Ist doch gar nicht wahr! Hören Sie auf Herr Spahn, ich möchte etwas zu Ihrer argumentati-
zu lügen!) ven Figur fragen. Es geht darum, dass Sie darauf verwei-
sen, eine Fraktion habe früher etwas mitgetragen, was
Ich möchte gerne einmal hören, wie Sie das insbeson- sie heute kritisiert. Wir zum Beispiel kritisieren, dass Ar-
dere den chronisch Kranken in diesem Land erklären beitnehmer für 0,9 Prozent des Krankenkassenbeitrags
wollen. allein aufkommen müssen. Halten Sie es eigentlich für
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- unmöglich, dass Fraktionen zu etwas, was sie früher in
neten der FDP – Elke Ferner [SPD]: Lesen! einer Koalition mitgetragen haben – in diesem Fall geht
Lesen bildet!) es um ein Vorgehen aus dem Jahr 2003, also um etwas,
was sieben Jahre zurückliegt –, nach reiflicher Überle-
– Ich habe Ihren Antrag sehr genau gelesen, Frau Kolle- gung sagen: Das wollen wir nicht weiter mittragen, weil
gin Ferner. wir aus bestimmten Gründen eine andere Konzeption
Ich komme auf einen dritten Punkt zu sprechen – er besser finden.
ist ebenfalls schon angesprochen worden –: Sie wollen Ich persönlich finde, dass Lernprozesse in der Politik
die Zusatzbeiträge wieder abschaffen, die wir – ich muss das Einzige sind, was Politik wirklich erträglich macht.
es noch einmal sagen; ich kann es gar nicht oft genug Stellen Sie sich einmal vor, wir würden immer Politik
(B) wiederholen – gemeinsam in der Großen Koalition be- nach dem Muster machen: Alles, was man mitgetragen (D)
schlossen haben. hat, muss man ewig mittragen. Wir sagen zum Beispiel,
(Elke Ferner [SPD]: Die Sie wollten!) dass dieser Beitrag von 0,9 Prozent nicht richtig ist, weil
er ein Schritt in Richtung Auflösung der Parität ist. Dazu
– Stellen Sie Ihr Lichtlein doch nicht so sehr unter den hatten wir eine lange Diskussion, und mittlerweile sind
Scheffel, als wenn Sie in der Großen Koalition irgendet- wir auf Grundlage eines breiter angelegten Gesundheits-
was hätten machen müssen. Sie haben oft genug den Bo- konzepts zu einer anderen Auffassung gekommen.
ckigen gespielt und Dinge nicht mitgemacht.
Wenn alle Reden hier mit Ihrer Technik gehalten wer-
(Max Straubinger [CDU/CSU]: So ist es!) den, dann wird ein ziemlich simples Spiel gespielt, weil
Da muss man die Frage stellen, warum Sie an dieser jeder bei jedem irgendetwas findet, was er früher anders
Stelle mitgemacht haben. Sie haben bei diesen Zusatz- gesehen hat. Sollte das unser Niveau sein, oder wollen
beiträgen zugestimmt. Wenn man das tut, dann vertritt wir doch mehr um die Sache ringen?
man das auch gemeinsam politisch nach außen. Das ist
zumindest mein Verständnis von politischer Rechtschaf- Jens Spahn (CDU/CSU):
fenheit an dieser Stelle. Lieber Herr Kollege Kuhn, wenn es denn um einen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lernprozess im Sinne von positiver Erfahrung, die dann
Widerspruch bei der SPD) zu neuen Entscheidungen und gegebenenfalls zur Revi-
dierung von Entscheidungen führte, ginge, dann könnte
Stichwort „Zusatzbeitrag von 8 Euro“. Schauen wir man Ihnen sicherlich zustimmen. Aber ich habe auch in
einmal, wie es früher war: Jemand mit einem Bruttoein- Ihrem Beitrag keine Begründung gehört, warum die
kommen von 1 000 Euro musste früher bis zu 32 Euro 0,9-Prozent-Regelung zurückgenommen werden sollte.
im Monat mehr als andere zahlen; denn es gab Kranken- Sie müssen sich doch damit auseinandersetzen, warum
kassen mit einem Beitragssatz von 13,5 Prozent und an- die Aussagen von Ulla Schmidt zum Schaffen und Si-
dere mit einem Beitragssatz von 16,7 Prozent. Bei einem chern von Arbeitsplätzen, die ich vorhin zitiert habe,
Bruttoeinkommen von 3 000 Euro konnte der Unter- heute nicht mehr gelten sollen. Ich habe noch nicht einen
schied bis zu 96 Euro im Monat betragen. Es hat nie- Satz in dieser Debatte dazu gehört, warum die Begrün-
manden in diesem Land, im Übrigen auch nicht die Grü- dung von damals heute nicht mehr gelten soll.
nen, gestört, dass man bei der AOK Berlin im Monat
viel mehr zahlen musste, als man bei anderen Kassen (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
zahlen musste. Dennoch rufen Sie heute bei einem Un- Kann ich gerne sagen!)
2354 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Jens Spahn
(A) Bei den Forderungen der Kollegen von der SPD han- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (C)
delt es sich nicht um einen Lernprozess, sondern damit der CDU/CSU – Zuruf der Abg. Elke Ferner
geben sie ihrer Sehnsucht nach der guten alten Opposi- [SPD])
tionszeit in den 80er-Jahren mit der entsprechenden Rhe-
torik Ausdruck. Es handelt sich um den Versuch, über Wir haben zudem im Zusammenhang mit den Zusatz-
populistische Politik vielleicht etwas mehr Prozent- beiträgen immer gesagt – auch hier möchte ich noch ein-
punkte als bei der letzten Bundestagswahl zu erreichen. mal ein Zitat bringen –:
Das ist doch der einzige Grund für die Debatte, die wir Deshalb können sich die Versicherten entscheiden,
an dieser Stelle führen. ob ihnen ihre Kasse einen Zusatzbeitrag wert ist
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) oder ob sie in eine andere Kasse wechseln, in der
sie keinen Zusatzbeitrag zahlen müssen. So funk-
tioniert das. Ich glaube, das ist notwendig, damit
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: von den Versicherten Druck auf die Kassen ausge-
Herr Spahn, jetzt gäbe es eine Zwischenfrage von übt wird, vernünftig mit den Geldern umzugehen.
Herrn Lauterbach.
Zitat von Ulla Schmidt in diesem schönen Hause bei der
Debatte um die Einführung von Zusatzbeiträgen!
Jens Spahn (CDU/CSU):
Bitte schön. Auch mit diesem Argument müssen Sie sich inhalt-
lich auseinandersetzen, statt die Uhr einfach nur zurück-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: zudrehen. Jetzt gibt es nämlich eine bessere Preistrans-
Bitte schön. parenz für die Versicherten. Die Versicherten müssen
nicht mehr wie ehedem per Dreisatz mühsam errechnen,
welche unterschiedlichen Kostenstrukturen sich in den
Dr. Karl Lauterbach (SPD): Beitragssätzen der Krankenkassen verstecken, was man
Herr Spahn, leuchtet Ihnen denn das Argument nicht dann im Zweifel in der Lohnabrechnung gar nicht immer
ein, dass wir es deswegen, weil die Löhne verfallen – Sie ganz nachvollziehen konnte. Das war alles sehr unüber-
tun ja nichts zur Einführung von Mindestlöhnen –, für sichtlich. Heute gibt es dadurch, dass ein fester Eurobe-
falsch halten, ausgerechnet die Arbeitgeber von den stei- trag erhoben wird, ein ganz anderes Preissignal. Ich als
genden Belastungen durch die Gesundheitskosten auszu- Versicherter kann ganz individuell entscheiden, ob mir
nehmen? Das ist doch eine Begründung. Die Situation meine Krankenkasse diesen Zusatzbeitrag wert ist oder
ist doch anders als 2003, als es die Finanzkrise noch nicht. Auch das war damals unsere gemeinsame Begrün-
nicht gab dung dafür, die Möglichkeit zur Erhebung von Zusatz- (D)
(B)
(Ulrike Flach [FDP]: Da hatten wir gerade beiträgen einzuführen. Ich halte sie inhaltlich nach wie
eine hinter uns! Was war denn 2002?) vor für vollkommen richtig, liebe Kolleginnen und Kol-
legen.
und die Löhne noch höher waren. Damals brauchten wir
im Gegensatz zu heute, wo Sie das blockieren, keine (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Mindestlöhne. Das müssen Sie doch zumindest als Ar- neten der FDP)
gument verstehen, auch wenn Sie es nicht nachvollzie- Wir haben im Übrigen gesagt, dass es uns nicht um
hen oder mittragen. eine Kopfpauschale geht, wie die Kollegin Flach schon
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) deutlich gemacht hat, auch wenn Sie diesen Kampfbe-
griff immer weiter munter verwenden.
Jens Spahn (CDU/CSU): (Elke Ferner [SPD]: Das machen wir auch!)
Zum Ersten ist zu sagen: Dieses Argument hört man
Darum geht es uns nicht.
in dieser Debatte zum ersten Mal. In Ihrem Antrag findet
es sich nicht. (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das war doch einmal Ihr eigener Be-
(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Dann gehen Sie
griff!)
doch darauf ein!)
Uns geht es um die Weiterentwicklung des heutigen Sys-
Sie sollten vielleicht einmal ein wenig über die Inhalte
tems, und zwar nicht um einen Totalumbau, sondern um
Ihrer Anträge diskutieren.
einen schrittweisen Umbau: Evolution statt Revolution.
Zum Zweiten bleibe ich dabei – das ist unsere politi-
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
sche Auffassung –, dass das, was 2003 richtig war,
Na ja!)
(Elke Ferner [SPD]: Kopfpauschale!)
Sie haben recht: Wir haben gesagt, die 1-Prozent-Re-
gerade jetzt in Zeiten der Krise richtig ist, nämlich die gel, wie sie heute gilt, funktioniert nicht. Warum funk-
Begrenzung von Lohnnebenkosten. Wenn diese die Ar- tioniert sie nicht? Weil heute, wenn der Versicherte mehr
beit in Deutschland noch teurer machen, befördert das als 1 Prozent seines Einkommens als Zusatzbeitrag zah-
im Zweifel die Flucht in die Schwarzarbeit. Somit ist len müsste, die Zahlung einfach gekappt wird, die Kasse
dieses Vorgehen in der Krise noch viel richtiger, als es aber die Differenz zwischen dem Betrag, der eigentlich
2003 war. Auch um diese Frage geht es an dieser Stelle. gezahlt werden müsste, und dem auf 1 Prozent des Ein-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2355
Jens Spahn
(A) kommens begrenzten Betrag nicht bekommt. Diese Dif- Wie wäre es denn, wenn wir die erst einmal arbeiten las- (C)
ferenz fehlt der Kasse einfach. Es findet kein Ausgleich sen und wir hier dann alle gemeinsam über die Ergeb-
statt. Genau dieses Problem wollen wir über einen sozia- nisse der Regierungskommission debattieren
len Ausgleich aus Steuermitteln lösen. Diesen würden
(Elke Ferner [SPD]: Arbeiten die denn schon?
im Übrigen all die, die nicht in der GKV versichert sind,
Ich glaube, die warten den 9. Mai ab, Herr
mitfinanzieren, und auch all diejenigen, deren Beitrag
Spahn!)
aufgrund der Beitragsbemessungsgrenze gekappt ist,
würden dieses anteilig mitfinanzieren. und wenn wir nicht jede Woche mit irgendwelchen Show-
anträgen die gleichen Debatten führen?
Deswegen sagen wir, es ist gerechter, die Zusatzbei-
träge weiterzuentwickeln und noch mehr Elemente ein- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
kommensunabhängiger Prämien in der gesetzlichen Im Übrigen will ich darauf hinweisen, welches Ziel
Krankenversicherung einzuführen, aber, und das sagt je- hinter unserem Konzept steckt. Es ist kein Fetisch ir-
der in dieser Koalition, Schritt für Schritt. Deswegen gendeiner Fraktion oder irgendeiner Partei,
sollten Sie alle, liebe Kolleginnen und Kollegen, egal wo
Sie in Deutschland ansässig sind, damit aufhören, etwas (Elke Ferner [SPD]: Doch! – Fritz Kuhn
anderes zu behaupten. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe
schon den Eindruck! – Elke Ferner [SPD]:
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Kopfpauschale ist Ihr Fetisch!)
der CDU/CSU)
über einkommensunabhängige Prämien zu reden. Da-
hinter steckt ja auch eine Idee, nämlich die, dass wir die
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Entwicklung der steigenden Gesundheitskosten – dazu
Herr Spahn, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage wird es in einer älter werdenden Gesellschaft und auf-
der Kollegin Bender? grund des medizinisch-technischen Fortschritts automa-
tisch kommen; bei der Steigerung der Arzneimittelaus-
gaben geht es ja nicht um Hustensaft, sondern in aller
Jens Spahn (CDU/CSU): Regel um Krebsmedikation und andere Medikamente,
Bitte schön. die mit hohen Innovationskosten verbunden sind – nicht
immer eins zu eins zulasten der Arbeitskosten in
Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Deutschland ausgleichen und dadurch Arbeit in
Deutschland teurer machen. Die eigentliche Frage, um
Herr Kollege Spahn, ich habe Sie so verstanden, dass die es geht, ist, wie einerseits die Dynamik, nämlich stei- (D)
(B) Sie an den Zusatzbeiträgen festhalten, aber die 1-prozen-
gende Ausgaben, möglich gemacht wird, ohne anderer-
tige Überforderungsklausel abschaffen und stattdessen seits gleichzeitig die Arbeitskosten in Deutschland zu
einen Sozialausgleich einführen wollen. Bedeutet das belasten. Ich finde, es ist es inhaltlich und jenseits von
dann, dass in Zukunft jeder, der den Bescheid von der Überschriften wert, darum zu ringen, was die richtige
Krankenkasse bekommt, dass ein Zusatzbeitrag erhoben Lösung sein kann. An diese Arbeit sollten wir uns alle
wird, anschließend zum Amt gehen und dort einen Sozial- gemeinsam machen.
ausgleich beantragen soll, und halten Sie das für ein bü-
rokratiearmes Verfahren? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Im Übrigen reicht es nicht, einfach zu sagen: Wir
Jens Spahn (CDU/CSU): wollen zurück und all das abschaffen, was wir gemein-
sam – in welcher Konstellation auch immer – irgend-
Liebe Frau Kollegin Bender, hätten Sie mir die
wann einmal beschlossen haben.
Chance gegeben, meine Rede fortzusetzen, wäre ich auf
diesen Punkt zu sprechen gekommen. Wir wissen natür- (Elke Ferner [SPD]: Nein! Das wollen wir
lich um die Herausforderungen, die sich aus dem, wie auch nicht!)
ich finde, wunderbaren theoretischen Konzept in der
praktischen Umsetzung noch ergeben. Da ist zum einen Sie müssen vielmehr eine Frage beantworten: Am
die Frage der Haushaltsmittel: Wie viele Euro stehen tat- 1. Januar 2011 werden wir wahrscheinlich ein Defizit
sächlich zur Verfügung, um diesen sozialen Ausgleich von 11 Milliarden Euro in der gesetzlichen Krankenver-
herzustellen? Die Antwort darauf wird unter anderem sicherung haben, Tendenz steigend.
die Größe der Schritte bemessen müssen. Zum anderen (Elke Ferner [SPD]: Ja! Die Frage haben aber
sprechen Sie die noch grundsätzlicher zu lösende Frage Sie zu beantworten, Herr Spahn!)
an, wie wir den sozialen Ausgleich so organisieren, dass
es nicht zu millionenfachen zusätzlichen Einkommens- 2020 wird es 15 Prozent mehr Rentner in Deutschland
prüfungen für die Betroffenen kommt. Genau damit wird und 20 Prozent weniger Beitragszahler geben.
sich die Regierungskommission in den nächsten Wo- (Elke Ferner [SPD]: Die Rentner zahlen doch
chen und Monaten in aller Ruhe beschäftigen. auch Beiträge! Wo leben Sie denn? – Zuruf des
Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE])
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Elke Ferner [SPD]: Da werden die noch in Die demografische Entwicklung wird dazu führen, dass
20 Jahren dransitzen!) der Beitragssatz, wenn wir nichts tun, in Richtung
2356 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Jens Spahn
(A) 20 bzw. 25 Prozent geht. Derjenige, der nichts tut und al- der Umsetzung der gerade beschriebenen Ziele arbeiten. (C)
les zurückdrehen will, muss zumindest die Frage beant- Ob Sie es glauben oder nicht: Wir jedenfalls gehen wei-
worten, wie er mit diesen Herausforderungen klarkom- terhin frohen Mutes an die Arbeit.
men will.
Danke schön.
Der Kollege Lauterbach – Frau Kollegin Flach hat
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
schon darauf hingewiesen – hat im Dezember letzten
Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Welche
Jahres, glaube ich, angekündigt, die SPD werde das
Arbeit? Ich sehe nur frohen Mut, aber keine
durchgerechnete Konzept zur Bürgerversicherung, auf
Arbeit!)
das wir seit Jahren warten,
(Elke Ferner [SPD]: Das werden Sie auch Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
noch erleben, Herr Spahn! Verlassen Sie sich Jetzt hat das Wort der Kollege Dr. Edgar Franke für
darauf! – Heinz Lanfermann [FDP]: Einen Su- die SPD-Fraktion.
perantrag hat er versprochen! Die Mutter aller
Anträge sollte es werden!) (Beifall bei der SPD)
bald präsentieren. Wir hatten eigentlich gehofft, dass es
Dr. Edgar Franke (SPD):
Bestandteil der heutigen Debatte wird; denn Sie werden
ein paar Fragen beantworten müssen: Wo soll denn dann Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
die Beitragsbemessungsgrenze liegen? Damen und Herren! Herr Bundesminister Rösler, als
Person sind Sie nicht nur im Ausschuss, sondern auch
(Elke Ferner [SPD]: Wie viel Prämie sollen die hier im Bundestag sehr sympathisch aufgetreten.
bei Ihnen zahlen?)
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Er ist so!)
Sollen Zinsen, Kapitaleinkünfte, Mieten berücksichtigt
werden und, wenn ja, wie? Sie werden vor allem den Aber Ihre Politik, Herr Minister, ist alles andere als sym-
Facharbeitern und den Angestellten in diesem Land er- pathisch. Ihre Politik geht in die völlig falsche Richtung,
klären müssen, warum es wieder sie sind, die alles be- weil sie nur eine Klientel bedient, nämlich Ihre Wähler.
zahlen sollen, und warum die Kosten allein auf deren (Beifall bei der SPD)
Schultern abgeladen werden und warum nicht, etwa über
das Steuersystem, insbesondere die ganz starken Schul- Dem Antrag, den die SPD heute vorlegt, könnten Sie
tern in diesem Land, eigentlich – wenn ich Frau Flach richtig verstanden
habe – zumindest in Teilen zustimmen; denn ob man es
(Elke Ferner [SPD]: Die sollen doch weniger Kopfpauschale – das ist, glaube ich, kein Kampfbegriff – (D)
(B)
Steuern zahlen, wenn es nach Ihnen geht! Sie
wollen doch die Steuern senken, Herr Spahn!) (Ulrike Flach [FDP]: Doch! Es ist das, was wir
wollen!)
deren Einkommen über der Beitragsbemessungsgrenze
und der Versicherungspflichtgrenze liegt, mit einbezo- oder Gesundheitsprämie nennt:
gen werden. (Ulrike Flach [FDP]: Nein! Wir wollen die
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Kopfpauschale!)

Sie wissen ganz genau, warum Sie hier keine Zahlen Kopfpauschalen bzw. Gesundheitsprämien haben im-
vorlegen. Dann würden die Menschen nämlich merken, mer einen Sozialausgleich. Aber der Zusatzbeitrag von
was Sie eigentlich vorhaben und dass es für viele in die- 8 Euro hat diesen Sozialausgleich nicht. Insofern ist es
sem Land teurer wird. nur konsequent, diesen Zusatzbeitrag abzuschaffen.

(Elke Ferner [SPD]: Also Milchbubenrech- Aber das werden Sie nicht machen, Herr Rösler. Sie
nung, Herr Spahn!) versuchen vielmehr, die Kosten der Arbeitgeber zu mini-
mieren. Sie versuchen, die private Versicherungswirt-
So bleibt es am Ende dabei: Sie präsentieren auch schaft zu begünstigen. Sie wollen vor allen Dingen die
heute keine konkreten Zahlen. Sie bleiben bei Über- Besserverdienenden finanziell entlasten. Dafür haben
schriften. Es ist eine Showveranstaltung, wie wir sie wir aber kein Geld. Am Dienstag habe ich mit Herrn
schon in den letzten Sitzungswochen – diese Debatte er- Rürup, der als Erfinder der Kopfpauschale gilt, disku-
folgt ja inzwischen wöchentlich – erlebt haben. tiert. Er hat mir gesagt: Man kann nicht die Gesundheits-
prämie einführen und gleichzeitig die Steuern senken.
(Elke Ferner [SPD]: Ihr Koalitionsstreit
Das Konzept wird nicht aufgehen.
kommt täglich!)
(Beifall bei der SPD – Elke Ferner [SPD]: Wo
Es wurde bereits angekündigt, auch in den nächsten Sit-
er recht hat, hat er recht!)
zungswochen ähnliche Debatten führen zu wollen. Mit
jeder Woche heißer Luft Herr Rösler, Ihre Politik führt in eine Dreiklassenme-
dizin. Es wird die Holzklasse für Arme geben. Eine gute
(Elke Ferner [SPD]: Meinen Sie jetzt den
Versorgung wird es nur für diejenigen geben, die sich ei-
Herrn Minister?)
nen privaten Aufschlag finanziell leisten können. Für
helfen wir den Menschen in diesem Land nicht weiter. Reiche wird es eine Luxusklasse geben. Das kann keine
Wir wollen in der Regierungskommission gemeinsam an Politik für die Mehrheit der Menschen sein.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2357
Dr. Edgar Franke
(A) (Ulrike Flach [FDP]: Woher wissen Sie das?) verdienenden in diese Versicherung einzahlen. Dadurch (C)
haben wir mehr Geld im System. Zweitens haben wir
Wir haben – Herr Spahn hat es angedeutet – durch
mehr Wettbewerb zwischen den Krankenkassen, weil
medizinischen Fortschritt und durch eine älter werdende
alle Krankenkassen unter gleichen Bedingungen mit-
Gesellschaft steigende Kosten. Diese Kosten müssen wir
einander konkurrieren. Es kann ja nicht sein, dass die
gerecht verteilen. Herr Spahn, es ist richtig, dass 2006
eine Krankenkasse die chronisch Kranken und die
die Zusatzbeiträge eingeführt worden sind. Die Zusatz-
Schlechtverdienenden hat, während eine andere Kran-
beiträge sind aber nur auf Druck von CDU/CSU einge-
kenkasse die Gutverdienenden hat und deswegen ganz
führt worden; das muss man klar sehen.
andere Tarife anbieten kann. Das ist kein gerechter Wett-
(Beifall bei der SPD) bewerb. Deswegen brauchen wir echten Wettbewerb. Sie
von der FDP sind doch immer für Wettbewerb. Insofern
Sie haben damals gesagt: Den Gesundheitsfonds gibt es müssten auch Sie, Herr Rösler, eigentlich für die Bürger-
nur, wenn Zusatzbeiträge eingeführt werden. Das ist die versicherung sein.
Wahrheit.
(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Maria
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Deshalb hat die Mi-
Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE
nisterin sie so fröhlich verteidigt!)
GRÜNEN])
Sie brauchen sich also nicht darüber aufzuregen.
Dann hätte man ein System, das sozial gerecht wäre;
Zu dem, was wir eben diskutiert haben und wozu Herr dann hätte man ein System, das die Wettbewerbsfähig-
Kuhn auch noch einmal nachgefragt hat: Wir haben vor keit steigern würde; dann hätte man ein System, das die
der Finanz- und Wirtschaftskrise beschlossen, einen Einnahmesituation der Krankenkassen stabilisieren
Sonderbeitrag in Höhe von 0,9 Prozent des Einkommens würde. Die Probleme bei der Finanzierung eines moder-
zu erheben. Momentan befinden wir uns wirtschaftlich nen Krankenversicherungssystems können nicht mit Zu-
in einer ganz anderen Situation. Wenn sich die SPD da- satzbeiträgen, Kopfpauschalen oder Gesundheitsprä-
für ausspricht, zur paritätisch finanzierten Kranken- mien, wie Sie das bezeichnet haben, gelöst werden. Es
versicherung zurückzukehren, weil wirtschaftlich gese- gibt nur eine Lösung für die dringenden Probleme. Diese
hen andere Bedingungen herrschen, dann muss man das Lösung heißt: Bürgerversicherung.
zur Kenntnis nehmen.
Ich danke Ihnen.
Wir brauchen keine Kopfpauschale. Vielmehr brau-
chen wir eine solidarische Politik und eine solidarische (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Maria
Krankenversicherung. Eine solidarische Krankenversi- Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE
(B) cherung ist das, was die Bevölkerung will. Es gibt eine GRÜNEN]) (D)
aktuelle Umfrage von Infratest. Darin steht, dass über
70 Prozent der Befragten an einer solidarischen Kran- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
kenversicherung festhalten. Über 70 Prozent sagen: Wir Herr Kollege Franke, das war Ihre erste Rede hier im
brauchen eine paritätisch finanzierte Krankenversiche- Deutschen Bundestag. Dazu gratulieren wir Ihnen recht
rung. herzlich und wünschen alles Gute für Ihre Arbeit.
(Heinz Lanfermann [FDP]: Wir auch! (Beifall)
100 Prozent!)
Jetzt hat der Kollege Heinz Lanfermann für die FDP-
Das ist eine ganze Menge. Das sind auch Wähler. In Fraktion das Wort.
Nordrhein-Westfalen werden Sie sehen, dass sie Wahlen
entscheiden können. (Beifall bei der FDP)

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Heinz Lanfermann (FDP):
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Wir brauchen eine funktionierende Krankenversiche- Damen und Herren! Der Kollege Lauterbach hat aus gu-
rung. Wir brauchen eine moderne Krankenversicherung. ten Gründen kaum über den eigenen Antrag gesprochen.
Eine moderne Krankenversicherung ist die Bürgerver- Das ist schon allein deshalb verständlich, weil er sich zu
sicherung. Helmut Schmidt hat gesagt: Ein Sozialstaat der Behauptung verstiegen hat, die Opposition müsse
ist eine Kulturleistung. – Solidarität gehört zum Sozial- jetzt schon die Arbeit der Regierung mitmachen. Tat-
staat dazu. Wenn sich gerade die Gutverdienenden dem sächlich ist es umgekehrt. In dem Antrag steht lapidar in
Solidaritätsgedanken entziehen können, dann ist das einem Satz, man solle bitte einsehen, dass eine Bürger-
nicht richtig. Welche Situation haben wir momentan in versicherung das Richtige sei. Es wird aber überhaupt
der Krankenversicherung? Momentan ist es so, dass die nicht erklärt, was darunter zu verstehen ist.
wirtschaftlich Leistungsstärksten und die im Durch-
(Elke Ferner [SPD]: Das weiß mittlerweile je-
schnitt Gesündesten privat versichert sind und sich somit
der, Herr Lanfermann!)
dem Solidarprinzip entziehen.
Ganz zum Schluss heißt es dann: „… fordert die Bundes-
(Beifall bei der SPD)
regierung … auf, bis Ende 2010 ein Konzept zur Einfüh-
Die Bürgerversicherung hat zwei Vorteile. Erstens. rung einer … Bürgerversicherung vorzulegen.“ Also soll
Die Einnahmebasis wird verbreitert, weil auch die Gut- doch wohl eher die Regierung die Arbeit der SPD
2358 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Heinz Lanfermann
(A) machen. Herr Kollege Lauterbach, ich gebe zu, dass Ihre genannt. Das, was man irgendwann einmal als soge- (C)
Fraktion sehr geschrumpft ist, aber trotzdem muss man nannte Kopfsteuer – darum ging es – in England gewollt
in der Opposition selber arbeiten – als Sprecher werden hat, war, dass jeder Bürger unabhängig von seinen wirt-
Sie das noch merken –, wenn man hier Konzepte vorle- schaftlichen Verhältnissen genau den gleichen Betrag an
gen will. den Staat abführen muss. Indem Sie diesen Begriff ver-
wenden, versuchen Sie, die einkommensunabhängige
(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der Prämie zu diskreditieren.
CDU/CSU – Elke Ferner [SPD]: Die Regie-
rung soll endlich mal richtig arbeiten!) (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Ja! Genau! – Elke
Ferner [SPD]: Die wollen die Leute auch
Sie haben versprochen, hier ein durchgerechnetes
nicht!)
Modell vorzulegen. Das sollte die Mutter aller Anträge
werden, was die Gesundheitspolitik angeht. In Wirklich- Diese Prämie ist nicht eine Prämie,
keit haben Sie hier heute ein äußerst dürftiges, schmales
Papier vorgelegt, aus dem nur hervorgeht, dass Sie sehr (Elke Ferner [SPD]: Doch!)
vergesslich sind. Den Namen „Ulla Schmidt“ erwähnen sondern ein System, in dem ein Teil des Arbeitnehmer-
Sie schon gar nicht mehr. beitrages in einem ersten Schritt in eine einkommensun-
Dann haben Sie gesagt, die Pharmaindustrie sei völ- abhängige Prämie überführt wird, die jede einzelne
lig unnachgiebig gewesen, mit ihr sei überhaupt nicht zu Krankenkasse kalkulieren und festsetzen kann. Abhän-
reden gewesen, elf Jahre lang hätten Sie das sozusagen gig von ihren Bedingungen, von dem, was sie in Verträ-
ertragen. Aber gleichzeitig schreiben Sie in Ihrem An- gen erwirtschaftet, je nachdem, wie wirtschaftlich und
trag – es ist bemerkenswert, dass gleich der erste Satz unbürokratisch sie arbeitet usw., setzt jede Krankenkasse
mit einer Unwahrheit beginnt –: einen anderen Betrag fest. Das ist das Erste, das zeigt,
dass nicht alle den gleichen Betrag zahlen.
Seit seinem Amtsantritt … hat der Bundesgesund-
heitsminister … keinerlei Initiativen ergriffen, … Zweitens behaupten Sie – das sind Halbwahrheiten,
Effizienzreserven … zu nutzen und insbesondere mit denen Sie die Öffentlichkeit täuschen, insbesondere
die überproportional steigenden Arzneimittelausga- jetzt bei Ihrer Kampagne, bei der Sie Unterschriften ge-
ben zu begrenzen. gen den Weltuntergang sammeln –, jeder zahle den glei-
chen Betrag,
(Elke Ferner [SPD]: Was hat er denn ge-
macht?) (Elke Ferner [SPD]: Ja!)
Zur Lektüre habe ich Ihnen Überschriften aus der und verschweigen, dass ein Großteil am Ende – darauf (D)
(B)
Presse der letzten Wochen mitgebracht, kommt es doch wohl an –
(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Sätze, nicht (Elke Ferner [SPD]: Die Großverdiener zahlen
Überschriften! Herr Lanfermann, ich bitte noch weniger!)
Sie!) einen Sozialausgleich bekommt. Dieser Sozialausgleich
aus denen hervorgeht, was der Minister gefordert hat macht es für den Einzelnen – auch die Sekretärin und die
und mit wem er gesprochen hat. Das waren die Kranken- Verkäuferin, die Sie immer wieder anführen – billiger als
kassenvertreter. Das waren die Pharmaverbände. Wenn für den von Ihnen zitierten Manager,
Ihnen die eine Überschrift „Pharmakonzerne lenken ein“
(Elke Ferner [SPD]: Das glauben Sie doch sel-
aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nicht gefällt,
ber nicht! Stimmt doch gar nicht, Herr
haben Sie vielleicht mehr Spaß an der Süddeutschen Zei-
Lanfermann! Sie lügen ja, ohne rot zu wer-
tung: „Pharmalobby bietet Hilfe an“.
den!)
(Elke Ferner [SPD]: Gesundheitspolitik nach
der diesen Teilbeitrag zahlt und nichts erstattet be-
Almosen und Gutdünken der Pharmaindustrie,
kommt. Auch wenn Sie diese einfache Subtraktion nicht
oder was?)
hinbekommen, sollten Sie zumindest nicht die Öffent-
Lassen Sie sich vom Minister doch einmal informieren. lichkeit darüber täuschen.
Er ist in den Gesprächen mit der Pharmaindustrie nach
drei Monaten weiter als Frau Schmidt nach neun Jahren. (Elke Ferner [SPD]: Milchbubenrechnung,
Das ist die Wahrheit. kann ich nur sagen!)

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Deswegen sage ich Ihnen noch einmal: Der Begriff
der CDU/CSU – Lachen bei der SPD) „Kopfpauschale“ ist ein Hirngespinst und dient nur der
Täuschung der Öffentlichkeit.
Meine Damen und Herren, um mit diesem Hirnge-
spinst gleich aufzuräumen: Es gibt keine Kopfpauschale. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Niemand will eine Kopfpauschale. der CDU/CSU)

(Elke Ferner [SPD]: Doch! Sie!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:


Das ist ein unsinniger Begriff. Der Kollege Weinberg hat Die Kollegin Hendricks würde Ihnen gern eine Zwi-
uns dankenswerterweise ein paar historische Beispiele schenfrage stellen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2359

(A) Heinz Lanfermann (FDP): jetzigen Arbeitnehmerbeitrag, der prozentual vom Lohn (C)
Bitte schön. erhoben wird, während dagegen der Zusatzbeitrag, wie
der Name unschlagbar klar sagt, zusätzlich zu dem vol-
Dr. Barbara Hendricks (SPD): len einkommensabhängigen prozentualen Beitrag erho-
Herr Kollege Lanfermann, wollen Sie mit mir viel- ben wird. Ich hoffe, dass zumindest dieser eine Satz bei
leicht einmal die Anzahl der Worte zählen, die Sie ge- Ihnen auf Verständnis getroffen ist.
rade gebraucht haben, um zu begründen, dass die Kopf- Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
pauschale keine Kopfpauschale sei?
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Heinz Lanfermann (FDP):
Ich empfehle Ihnen, das Protokoll zu lesen. Dann ha- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
ben Sie es ganz genau, sogar per Wortzählung am Com- An der Reihe ist jetzt der Kollege Lothar Riebsamen
puter; das macht es einfacher. Ich könnte es einfacher er- für die CDU/CSU-Fraktion.
klären, aber da Sie es immer so kompliziert darstellen,
Lothar Riebsamen (CDU/CSU):
(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
NEN]: Nein, alles ganz einfach!)
Kollegen! Wenn man die vorliegenden Anträge ein-
wollte ich den Kollegen die Möglichkeit geben, alle As- dampft, dann bleibt übrig: Hartz IV erhöhen,
pekte kennenzulernen. Ich hoffe, das ist mir gelungen,
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
und wir werden unsachliche Argumente wie das, alle
müssten den gleichen Betrag zahlen, in Zukunft nicht Schuld für die Finanzierungslücke der GKV bei der Re-
mehr hören. Ich lade Sie jedenfalls ein, einmal über die gierung suchen
Sache selbst zu diskutieren und eigene Modelle vorzule-
gen. (Elke Ferner [SPD]: Ja! Wo denn sonst?)

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten und Sündenbock suchen für die Probleme der paritäti-
der CDU/CSU) schen Finanzierung, die es schon seit vielen Jahren gibt.
Aber eigentlich geht es im Wesentlichen darum, in den
Im Übrigen haben Sie auch nicht gemerkt, dass es nächsten Wochen und Monaten, solange die Regierungs-
eine seltsame Argumentation ist, wenn Sie hier gegen kommission tagt, destruktive, schrille Begleitmusik zu
Ihre eigene frühere Politik gerichtet kritisieren, die Bei- machen. Das wird nicht funktionieren, und das wird
träge seien nicht paritätisch. auch die Regierungskommission nicht beeindrucken.
(B) (D)
Soweit wir wissen, soll bei Ihrer Bürgerversiche- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
rung die Bemessungsgrundlage verbreitert werden, neten der FDP)
nicht nur bezüglich der Personen, sondern auch bezüg-
lich der Einkommen. Die Zinsen aus Bausparverträgen, Zu der Frage: Wer hat die paritätische Finanzierung
das, was die Oma für die Enkel anlegt, die Mieteinnah- aufgegeben? Dazu wurde schon einiges gesagt. Während
men und anderes werden dazugerechnet. der rot-grünen Regierung im Jahr 2003 wurden die Las-
ten um 0,9 Prozent einseitig verschoben,
(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Stimmt doch alles
nicht!) (Elke Ferner [SPD]: Es wurden vor allem
Schulden getilgt!)
Sie sagen, dadurch sinke der Beitrag, das sei ganz toll.
Ja, dann sinkt aber auch der Arbeitgeberbeitrag, und es wurde die Praxisgebühr eingeführt und anderes mehr,
dann entlasten Sie die Arbeitgeber. Vielleicht möchten und während der Großen Koalition wurde der Arbeitge-
Sie einmal mit denen darüber diskutieren; die freuen sich berbeitrag bei 7 Prozent eingefroren – alles unter einer
darüber. SPD-Ministerin. Die CDU/CSU hat dem zugestimmt,
weil diese Maßnahmen im Kern richtig waren und sind.
(Heiterkeit und Beifall bei der FDP sowie bei Wir halten Kurs. Sie aber distanzieren sich von Ihren ei-
Abgeordneten der CDU/CSU – Harald genen Entscheidungen, die Sie selbst einmal als notwen-
Weinberg [DIE LINKE]: Die meisten finden dig erachtet haben, ausgerechnet in der jetzigen Krise, in
unser Konzept auch besser!) der es mehr denn je darum geht, Arbeitsplätze zu sichern
und international wettbewerbsfähig zu bleiben.
Wir laden Sie zu einer fairen und sachlichen Diskus-
sion ein. Eines muss klar sein: Die Zusatzbeiträge, die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Sie eingeführt haben und die, weil sie keinen Sozialaus- neten der FDP)
gleich haben,
Was die Finanzsituation der GKV betrifft, kann
(Elke Ferner [SPD]: Weil die CDU einen ver- man vieles behaupten; es gibt in der Tat sehr viele Bau-
hindert hat!) stellen. Aber zu behaupten, die Finanzierungslücke sei
von der Regierung verursacht, das ist schlicht absurd.
unsozialer sind als das, was wir vorhaben, dürfen Sie
Ursache der Finanzierungslücke ist die Kostenentwick-
nicht mit einer einkommensunabhängigen Prämie ver-
lung.
wechseln. Um es mit einem Satz zu erläutern: Die ein-
kommensunabhängige Prämie ersetzt zu einem Teil den (Elke Ferner [SPD]: Aha!)
2360 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Lothar Riebsamen
(A) Die Kosten steigen viel stärker als die Lohnsumme. Die- aufgrund der Steigerung der Energiekosten bzw. der (C)
ses Delta schließen wir mit 11,8 Milliarden Euro; das ist Fahrtkosten mehr ausgeben müssen, wenn sie 20, 30 Ki-
so viel wie noch nie. Wir verursachen keine Lücken, lometer zu ihrem Arbeitsplatz fahren? Es wäre gegen-
sondern wir schließen sie, und das mit großen Anstren- über denen, die keine Sozialleistungen bekommen, nicht
gungen. gerecht, wenn wir diese 8 Euro übernehmen würden.
Aber das interessiert Sie nicht.
Fakt ist, dass die Beiträge im Jahr 2003 noch ausge-
reicht haben, um die GKV zu finanzieren. 2004 wurden Die christlich-liberale Koalition wird einen Vorschlag
zu Recht die versicherungsfremden Leistungen über- machen. Die Regierungskommission unter der Leitung
nommen. 2008 waren wir bei 2,5 Milliarden Euro, 2009 von Minister Rösler wird dafür sorgen, dass mit den Bei-
bei 7,2 Milliarden Euro, und nun sind wir bei 11,8 Mil- trägen zukünftig effizient umgegangen wird und dass sie
liarden Euro. Sie haben offensichtlich vergessen, wer bezahlbar bleiben. Es wird dem medizinischen und dem
diese Steigerungen mit zu verantworten hat. Das waren demografischen Fortschritt Rechnung getragen. Das ist
nämlich unsere gemeinsamen Entscheidungen. Ich erin- unser Ziel. Dieses Ziel werden wir auch erreichen, mit
nere daran: Die Krankenhäuser – Stichwort „Pflege- oder ohne Begleitmusik.
dienste“ – haben 3 Milliarden Euro mehr bekommen,
Herzlichen Dank.
und der ambulante Bereich, also die niedergelassenen
Ärzte, in etwa die gleiche Summe. Eines ist klar: Es (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
kann so nicht weitergehen.
(Elke Ferner [SPD]: Aha!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Riebsamen, das war Ihre erste Rede heute hier
Aber anstatt den Menschen die Wahrheit, die sie ohnehin im Deutschen Bundestag. Alles Gute für Sie und auf
schon kennen, zu sagen, streuen Sie ihnen weiter Sand in gute Zusammenarbeit!
die Augen. Das ist falsch.
(Beifall)
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Richtig!)
Jetzt hat Elke Ferner das Wort für die SPD-Fraktion.
Im Antrag der Grünen werden die Zusatzbeiträge als
unsozial bezeichnet. Der Zusatzbeitrag von 8 Euro wäre (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
doppelt so hoch – er würde 16 Euro betragen –, hätten
wir nicht über die 11,8 Milliarden Euro hinaus einen Elke Ferner (SPD):
Schutzschirm für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!
mer bzw. für die Geringverdiener in Höhe von 3,9 Mil- Das, was eben teilweise geboten worden ist, insbeson-
(B) liarden Euro gespannt, dere an Rechenkünsten, kann man wirklich nur als (D)
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Milchbubenrechnung bezeichnen. Ich will das an ein
Und was ist mit den Arbeitslosengeld-II-Be- paar Beispielen deutlich machen.
ziehern?) (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Dafür
um die krisenbedingten Ausfälle auszugleichen. kann er ganz gut rechnen!)

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Der Kollege eben sagte, wir hätten 11,8 Milliarden
neten der FDP) Euro zusätzlich im System; zusätzlich kämen 3,9 Mil-
liarden Euro hinzu. Von den 11,8 Milliarden Euro sind
Ich sage Ihnen, was unsozial ist: Mit knappen Res- aber 6,2 Milliarden Euro gar nicht zusätzlich im System.
sourcen unwirtschaftlich umzugehen, das ist unsozial. Vielmehr ersetzen sie Beiträge in Höhe von 0,6 Beitrags-
satzpunkten, um die abgesenkt worden ist. Insofern
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
sollte man nicht nur die Höhe, die Quantität, sondern
Das Gesundheitswesen unseres Landes, das nach wie auch die Qualität heranziehen.
vor eines der besten der Welt ist, durch ein stures Weiter-
Der zweite Punkt: Die Kopfpauschale bleibt eine
so! an die Wand zu fahren, das wäre unsozial. So weit
Kopfpauschale. Der Ausdruck mag Ihnen nicht gefallen,
lassen wir es nicht kommen, meine Damen und Herren.
aber es verhält sich so.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Heinz Lanfermann [FDP]: Sie blamieren sich
Wir brauchen in diesem System in der Tat mehr doch damit!)
Transparenz und mehr Wettbewerb; die Zusatzbeiträge
Wenn Sie den gleichen Beitrag pro Versichertem neh-
machen dies deutlich. Die ALG-II-Empfänger sind in
men, dann heißt das, der Chef zahlt zumindest für den
der gleichen Situation wie alle anderen. Sie können und
einen Teil so viel wie seine Sekretärin.
müssen die Kasse wechseln, und in Härtefällen wird der
Zusatzbeitrag vom Staat übernommen. (Heinz Lanfermann [FDP]: Immer noch nicht
verstanden!)
Ausgehend von einem Monatseinkommen in Höhe
von 800 Euro sind 8 Euro 1 Prozent. Das liegt im Rah- Dann bedeutet das, dass die Sekretärin, weil sie gerade
men der üblichen Preissteigerungen. Wer fragt denn, ge- so über der Grenze für den Sozialausgleich liegt, aber
rade in diesen Tagen, da die Benzinkosten steigen, da- keine Steuern zahlt, den gleichen Betrag zahlt, während
nach, wie viel die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihr Chef nicht nur weniger Krankenkassenbeitrag zahlt
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2361
Elke Ferner
(A) als vorher, sondern auch noch, wenn Sie die Steuern re- auch überhaupt nichts dazu getan, die Ausgaben zu be- (C)
duzieren, weniger Steuern zahlt und zusätzlich durch die grenzen.
steuerliche Absetzbarkeit des Beitrages stärker entlastet
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Ulrike Flach
wird, weil er einen höheren Grenzsteuersatz als seine Se-
[FDP]: Und Sie in sieben Jahren nicht!)
kretärin hat.
Wer sich auch nur ein kleines bisschen im System aus-
(Beifall bei der SPD)
kennt, weiß, dass Ausgabenbegrenzungen bei den Arz-
Wer jetzt behauptet, dies sei gerechter, der kann entwe- neimitteln nicht mit dem Umlegen eines Schalters zu er-
der nicht rechnen oder reichen sind, sondern dass es Monate, teilweise Jahre
dauert, bis ergriffene Maßnahmen sich tatsächlich in ge-
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Ist Sozialdemokrat!) ringeren Kosten ausdrücken.
hat ein höchst merkwürdiges Verständnis von Gerechtig- (Beifall bei der SPD)
keit.
(Heinz Lanfermann [FDP]: Von wem kommt Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
denn der Steuerausgleich? Der kommt doch Frau Ferner, Herr Lanfermann würde gern Ihre Rede-
nicht von den Leuten, die keine Steuern zah- zeit durch eine Zwischenfrage bereichern.
len!)
– Natürlich, Herr Lanfermann. Dafür müssen Sie aber Elke Ferner (SPD):
zusätzlich mehr Steuermittel in die Hand nehmen, um ei- Ja, gerne.
nen sogenannten Sozialausgleich überhaupt finanzieren
zu können. Wir reden immerhin über die Kleinigkeit von Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
fast 10 Milliarden Euro, wie man so hört. Da muss man Bitte schön.
auch sagen, woher das Geld kommen soll.
(Heinz Lanfermann [FDP]: Das ist aber schon Heinz Lanfermann (FDP):
ein Fortschritt! Lauterbach sagt, 46 Milliar- Frau Kollegin Ferner, nachdem Sie gerade hier die
den!) Vermutung geäußert hatten, den Bürgern werde irgendet-
was vor der Landtagswahl nicht bekannt, darf ich Sie
Wenn Sie jetzt beabsichtigen, eine zusätzliche Steuer fragen: Sind Sie denn bereit, nachdem Sie hier diesen
einzuführen, um das zu finanzieren, dann sagen Sie das Antrag vorgelegt haben, in dem nur der eine Satz steht,
doch. Sie wollten eine solidarische Bürgerversicherung, uns
(B) (D)
(Heinz Lanfermann [FDP]: Von Steuern ver- einmal rechtzeitig vor der Wahl am 9. Mai in Nordrhein-
stehen wir auch nichts?!) Westfalen im Einzelnen zu erklären, wie die Verbreite-
rung der Bemessungsgrundlage aussehen soll? Welche
Sie aber setzen eine Kommission ein, die keine ist. Für Elemente außer dem Prozentsatz vom Lohn der Arbeit-
das, was früher eine Ministerin gemacht hat, muss jetzt nehmer sollen, um diese Bürgerversicherung zu finan-
gleich ein halbes Kabinett herhalten. Weiter wird ver- zieren, von allen Bürgern erhoben werden? Was ist ins-
sucht, das, was wirklich Sache ist, das, was die Leute er- besondere mit Einkommen aus Zinsen oder Mieten?
wartet, wenn Sie Ihr Kopfpauschalenkonzept umsetzen,
bis zur Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am 9. Mai Elke Ferner (SPD):
zu verschweigen. Das ist keine verantwortliche Politik, Herr Kollege Lanfermann, da Sie nicht erst seit ges-
sondern Wegducken vor den Problemen. tern im Gesundheitswesen unterwegs sind, dürfte Ihnen
(Beifall bei der SPD) das Konzept der SPD zur Bürgerversicherung bekannt
sein.
Ich sage Ihnen eines, Herr Rösler: Sie sind hier nicht
Chefarzt in der Schwarzwaldklinik, sondern Sie sind (Jens Spahn [CDU/CSU]: Nein! Kennt kein
Bundesgesundheitsminister. Mensch! – Max Straubinger [CDU/CSU]: Sie
sagen doch selbst, dass Sie eines vorlegen wer-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) den!)
Der dritte Punkt betrifft das Thema Zusatzbeiträge. Es gibt dazu eine Veröffentlichung des SPD-Parteivor-
Die Zusatzbeiträge sind nach dem Gesetz möglich. Aber standes, und zwar aus dem Jahr 2005, wenn ich mich
wenn man nicht bereit ist, bei den Ausgaben schnell zu richtig erinnere.
handeln,
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Mit Zahlen?)
(Ulrike Flach [FDP]: Aber das haben Sie ja
– Mit Zahlen, werter Herr Spahn.
nicht getan!)
(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: 75 Seiten! – Jens
und gleichzeitig nicht dafür sorgt, dass die Einnahmen
Spahn [CDU/CSU]: Erzählen Sie mal!)
die Ausgaben zu 100 Prozent decken, dann sind die Zu-
satzbeiträge zwangsläufig. Derjenige, der jetzt handeln – Wir reden jetzt über das Jahr 2005. Erstens soll für
könnte – das ist der Bundesgesundheitsminister –, hat in sonstige Einkünfte zunächst einmal ein Freibetrag gel-
den viereinhalb Monaten seiner Amtszeit nichts, aber ten, nämlich unten. Der Sparerfreibetrag, der damals
2362 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Elke Ferner
(A) gegolten hat, war schon recht hoch. Bei den jetzigen (Heinz Lanfermann [FDP]: Das ist doch eine (C)
Zinssätzen muss man schon ordentlich Vermögen haben, ganz andere Ausgangsbasis! Die Niederländer
um Zinsen zu generieren, mit denen man über die Frei- haben ganz umgestellt! Hier ist das nur teil-
beträge kommt, sprich: dass man überhaupt etwas zahlen weise der Fall!)
muss.
– Es ist keine andere Ausgangslage.
Wenn Sie sich richtig erinnern – ich weiß nicht, ob Jetzt möchte ich noch etwas zu den Zusatzbeiträgen
Sie das können, Herr Lanfermann –, werden Sie mir sagen. Sie werden in keinem Protokoll eine Rede von
recht geben, dass das Thema Mieteinkünfte in unserem mir zur Gesundheitspolitik finden, in der ich erklärt
Konzept keine Rolle gespielt hat. hätte: Zusatzbeiträge sind klasse.
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Bleibt es
dabei? Oder ändern Sie das jetzt?) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Frau Ferner, möchten Sie eine Zwischenfrage von
Das Thema Mieteinnahmen hat in der Diskussion eine Herrn Spahn zulassen?
Rolle gespielt, im endgültigen Konzept und in dem Be-
schluss dazu aber nicht mehr.
Elke Ferner (SPD):
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Und Gerne.
jetzt? Was gilt jetzt? – Jens Spahn [CDU/
CSU]: Wie viel Geld bringt Ihr Konzept?) Jens Spahn (CDU/CSU):
Jetzt wollen wir einmal sehen, was es bedeutet, wenn Liebe Frau Kollegin Ferner, ich habe eine ganz einfa-
Sie Ihr Konzept durchsetzen. che Frage – sie lässt sich mit einem Satz beantworten,
und der braucht nicht einmal ein Verb –: Wann werden
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Sie haben ge- Sie das vom Kollegen Lauterbach – er ist, wenn mich
sagt, Sie legen ein Konzept vor!) nicht alles täuscht, gesundheitspolitischer Sprecher Ihrer
Fraktion, spricht also für Ihre Fraktion – angekündigte,
Ihr Konzept heißt: Der Arbeitgeberbeitrag wird dauer- durchgerechnete Konzept für eine Bürgerversiche-
haft festgeschrieben. Das heißt, die Arbeitgeber sollen rung vorlegen? Wenn Sie sich nicht auf ein Datum eini-
auch in Zukunft nicht mehr als 7 Prozent zahlen. gen können: Wird das vor oder nach der Landtagswahl
in Nordrhein-Westfalen sein?
(Heinz Lanfermann [FDP]: Sie antworten ja
gar nicht auf meine Frage!)
(B) Elke Ferner (SPD): (D)
– Sie müssen schon mir überlassen, wie ich auf Ihre Frage Wir werden unser Konzept vorlegen, wann wir das
antworte, Herr Lanfermann. So viel Freiheit würde ich für richtig halten.
von einem Liberalen doch erwarten.
(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Heinz der FDP – Max Straubinger [CDU/CSU]: Also
Lanfermann [FDP]: Ich habe nach Ihrem Kon- nach der Landtagswahl! – Heinz Lanfermann
zept gefragt, nicht nach unserem! – Johannes [FDP]: Ich glaube, das müssen Sie dann in
Singhammer [CDU/CSU]: Werden Mietein- Düsseldorf mit der Linkspartei abstimmen!)
künfte eingerechnet, ja oder nein?)
Auf alle Fälle werden wir ein Konzept vorlegen, das ge-
Der zweite Punkt. Sie wollen, dass alle zusätzlichen recht finanziert ist, das solidarisch finanziert ist, wo die
Kosten – Kosten, die durch die Demografie bedingt sind, starken Schultern mehr tragen als die schwachen und wo
aber auch Kosten, die durch Nichtstun dieser Regierung vor allen Dingen die Arbeitgeber nicht aus der Verant-
bedingt sind – allein auf die Versicherten abgewälzt wer- wortung entlassen werden.
den. Das wird dazu führen, dass die Kopfpauschale jedes (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Jahr steigt und dass der Bedarf an Steuerzuschüssen grö-
ßer wird. Vor allen Dingen wird die Anzahl derer, die auf Wir werden kein Modell für eine Kopfpauschale vorle-
einen Sozialausgleich angewiesen sind, steigen. gen, sondern ein Modell für eine Bürgerversicherung.
Das Modell, das wir vorlegen,
Als wir uns damals das niederländische Modell an-
geschaut haben, haben wir hochgerechnet, wie viel Steu- (Jens Spahn [CDU/CSU]: Wann? – Max
ermittel man bräuchte, um dieses Modell auf eine Bevöl- Straubinger [CDU/CSU]: Nach der Landtags-
kerung von 82 Millionen auszudehnen. Das ist nicht zu wahl!)
finanzieren. Selbst die Kollegen und Kolleginnen von wird durchgerechnet sein.
der Union haben angesichts der Zahlen Fracksausen be-
kommen. (Heinz Lanfermann [FDP]: Das Datum hätte
uns gereicht!)
(Jens Spahn [CDU/CSU]: So geht es ja auch
nicht!) Ich möchte noch ein Wort zum Sozialausgleich und
zu den Zusatzbeiträgen sagen. Die Zusatzbeiträge sind
Genauso wenig ist Ihre Kopfpauschale finanzierbar, auf Druck der Union in das Gesetz aufgenommen wor-
Herr Rösler. den.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2363
Elke Ferner
(A) Hier wurde eben eine Falschaussage gemacht. Mit Sind die damaligen Ziele – mehr Wettbewerb, mehr (C)
keinem Wort stellen wir im Antrag den Verteilungsme- Transparenz, mehr Anreize zum sparsamen Wirtschaften
chanismus des Gesundheitsfonds infrage – nirgendwo. und zur Begrenzung der Arbeitskosten – nichts mehr
wert, nur weil Sie jetzt in der Opposition sind? Warum
Falsch gelaufen ist damals allerdings – das haben uns stehen Sie nicht zu dem, was Sie in der Großen Koalition
sowohl Professor Fiedler, der von uns benannt worden beschlossen haben,
ist, als auch Professor Rürup, der von der Union benannt
worden ist, übereinstimmend gesagt –, dass der Sozial- (Elke Ferner [SPD]: Suchen Sie sich einen an-
ausgleich, der für den Zusatzbeitrag auch noch erforder- deren Redeschreiber!)
lich ist, von der Union verweigert wurde.
statt andere Leute für die Folgen dessen zu attackieren,
Wo das hinführt, wenn die Union Gesundheitspolitik was ohne Sie niemals Gesetz geworden wäre?
macht – insbesondere die CSU –, möchte ich Ihnen
gerne einmal an folgendem Beispiel abschließend darle- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
gen: Die Eingeweihten werden sich an die sogenannte der FDP – Elke Ferner [SPD]: Dann wären wir
Bayern-Klausel erinnern, die der Herr Stoiber durchge- bei 20 Prozent!)
setzt hat. Sie hat dazu geführt, dass Bayerns Kassen Stattdessen legen Sie heute einen Antrag vor, der sich
vorab 324 Millionen Euro aus dem Gesundheitsfonds vor allem dadurch auszeichnet, dass Sie damit die Reali-
bekommen haben, weil ja angeblich so groß umverteilt täten, wie die demografische Entwicklung, die Folgen
wird. des medizinischen Fortschritts und die Lebensfähigkeit
Man hat nun festgestellt, dass es gar keine Umvertei- der Betriebe, souverän außen vor lassen.
lung gab. Das Geld müsste jetzt zurückgezahlt werden. Warum wollen Sie die Arbeitskosten denn schon
Die Kassen haben das aber schon ausgegeben. Warum wieder in die Höhe treiben? Außerdem: Unternehmen,
haben sie das ausgegeben? Ich will einmal zitieren: Was die mehr Sozialabgaben zahlen, zahlen weniger Steuern.
meinen Sie, was los gewesen wäre, wenn wir denen Warum versuchen Sie seit Wochen, die im Koalitions-
– den Ärzten – gesagt hätten, wir müssten 90 Millionen vertrag vorgesehene Gesundheitsreform geradezu zu dä-
Euro auf die hohe Kante legen? – Das heißt: Sie betrei- monisieren, als ob Union und FDP nichts Besseres zu
ben Klientelpolitik. Es ist wieder einmal bewiesen. Ge- tun hätten, als die Bürgerinnen und Bürger leichtfertig
nau so eine Klientelpolitik ist Ihre Kopfpauschale, die mit überflüssigen Lasten zu beschweren?
hoffentlich niemals kommen wird.
(Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Weil das genau
Eines ist aber schon jetzt sicher: Einer wird bei dem so ist!)
(B) Thema auf alle Fälle umfallen müssen, entweder die (D)
FDP, die CDU/CSU-Fraktion, Herr Seehofer oder wer Ich will es Ihnen sagen: Sie tun das, weil Sie jede ratio-
auch immer. Ohne Umfaller wird es das Ding nicht ge- nale Diskussion über die zukünftige Finanzierung der
ben. Gesundheitspolitik verhindern wollen und weil Sie die-
ses sensible Thema benutzen, um die Menschen zu ver-
Schönen Dank. unsichern und ihnen Angst zu machen.
(Beifall bei der SPD – Jens Spahn [CDU/ (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
CSU]: Sie liegen ja noch immer! – Heinz
Lanfermann [FDP]: Die SPD steht erst gar Lassen Sie die Bundesregierung und ihre Regie-
nicht auf!) rungskommission doch arbeiten!
(Dr. Carola Reimann [SPD]: Wenn sie arbeiten
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: würden, dann wäre das ja in Ordnung!)
Der Kollege Erwin Rüddel hat jetzt das Wort für die Wir werden sehen, dass ordentliche Ergebnisse heraus-
CDU/CSU-Fraktion. kommen. Wer sagt Ihnen denn, dass die Kommission
nicht zu Ergebnissen kommt,
Erwin Rüddel (CDU/CSU):
(Elke Ferner [SPD]: Herr Söder sagt uns das!)
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Der Gesundheitsminister gehört bekanntlich die für Geringverdiener und sozial Benachteiligte sogar
nicht meiner Fraktion an, aber ich will es dennoch ein- günstiger ausfallen als die gegenwärtige Rechtslage?
gangs sagen: Es befremdet mich, wie die SPD hier im
Haus in Versammlungen, Veranstaltungen, Verlautbarun- Tun Sie nicht so, als ob Sie ein Patentrezept hätten!
gen mit dem Minister umgeht. Ihre sogenannte solidarische Bürgerversicherung ist
doch in erster Linie eine Wortgirlande, ein Paradebei-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) spiel für die verbalen Wattebäusche, mit denen Sie den
Menschen auch auf anderen Feldern eine Wohlfühlwelt
Man kann es nicht häufig genug sagen: Herr Minister vorgaukeln,
Rösler hat den Gesundheitsfonds und damit die Zusatz-
beiträge nicht beschlossen. Das waren Sie zusammen (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Einkommens-
mit uns und unter Federführung der zuständigen Minis- unabhängige Gesundheitsprämie, so ein komi-
terin. scher Begriff!)
2364 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Erwin Rüddel
(A) in der im Zweifel immer die anderen für die von Ihnen schüsse zu überweisen, die in der Tagesordnung vorge- (C)
versprochenen Wohltaten aufkommen müssen. sehen sind. – Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das
so beschlossen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ich rufe auf die Tagesordnungspunkte 25 a bis 25 g:
Dabei enthält Ihr Konzept in Wahrheit eine ganze
Reihe schwerwiegender Pferdefüße, von denen ich nur a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
einige aufzählen will: Ihr Konzept treibt die Arbeitskos- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Än-
ten in die Höhe, verschärft die demografischen Probleme, derungsurkunden vom 24. November 2006 zur
verhindert Transparenz und Wettbewerb, verhindert da- Konstitution und zur Konvention der Interna-
mit Strukturreformen und verschüttet Einsparpotenziale, tionalen Fernmeldeunion vom 22. Dezember
schreibt Mängel des vorhandenen Systems fort, weil ein- 1992
kommensschwächere Versicherte den Krankenversiche-
– Drucksache 17/760 –
rungsschutz einkommensstärkerer beitragsfrei versicher-
ter Ehepartner mitbezahlen müssen. Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
(Elke Ferner [SPD]: Wollen Sie die Mitversi- b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
cherung von Ehepartnern abschaffen, Herr gebrachten Entwurfs eines Achten Gesetzes zur
Kollege?) Änderung des Bundes-Immissionsschutzgeset-
Was soll eigentlich aus der bisherigen Quersubven- zes
tionierung der GKV durch die Privatversicherten wer- – Drucksache 17/800 –
den, wenn Sie – das entspricht offenbar Ihrer Wunsch-
Überweisungsvorschlag:
vorstellung – die Privaten endlich kleingekriegt haben? Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
Sollen die Milliarden, die jetzt aufgrund höherer Ab- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
rechnungssätze in der ambulanten Behandlung und bei
Wahlleistungen im Krankenhaus aufgebraucht werden c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
können, also die Beiträge, ohne die viele Praxen gar Dr. Sascha Raabe, Klaus Barthel, Lothar Binding
nicht existieren könnten, auf die Abrechnungssätze der (Heidelberg), weiterer Abgeordneter und der
gesetzlichen Kassen aufgeschlagen werden? Nein, so Fraktion der SPD
einfach ist die Sache nicht. Lassen Sie die Kommission Zukunft für Haiti – Nachhaltigen Wiederauf-
in Ruhe arbeiten und hören Sie auf, die Menschen zu bau unterstützen
verunsichern!
– Drucksache 17/885 –
(B) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Überweisungsvorschlag:
(D)
Harald Weinberg [DIE LINKE]: Wenn sie mal Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
arbeiten würde! – Dr. Barbara Hendricks Entwicklung (f)
[SPD]: Für die Verunsicherung sorgen Sie Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
ganz alleine, und zwar gründlich!) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ich sage das auch mit Blick auf die Fraktion Bünd- Haushaltsausschuss
nis 90/Die Grünen. Was den Antrag der grünen Fraktion d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
zu den Zusatzbeiträgen angeht, so bin ich im Übrigen Aken, Christine Buchholz, Sevim Dağdelen, wei-
sicher, dass die Bundesregierung und die Bundesagentur terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
für Arbeit hier vernünftige und sozialverträgliche Lösun-
gen finden. Wir werden uns jedenfalls von niemandem Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperr-
in unserer sozialen Verantwortung für die Versicherten vertrages durch atomare Abrüstung stärken
übertreffen lassen. – Drucksache 17/886 –
(Elke Ferner [SPD]: Um Gottes Willen! Die Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)
armen Versicherten!) Verteidigungsausschuss
Wir stehen auch künftig für ein Gesundheitssystem ein, e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
in dem alle Bürgerinnen und Bürger Anspruch darauf Maisch, Ulrike Höfken, Cornelia Behm, weiterer
haben, auf der Höhe des medizinischen Fortschritts ver- Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
sorgt zu werden, unabhängig von ihrem Alter, ihrer Her- DIE GRÜNEN
kunft, ihrem Einkommen und ihrem gesundheitlichen
Risiko, und zwar ohne dabei finanziell überfordert zu Kinderspielzeug – Risiko für kleine Verbrau-
werden. cher
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) – Drucksache 17/656 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Ich schließe die Aussprache. Verbraucherschutz (f)
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Zwischen den Fraktionen ist verabredet, die Vorlagen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
auf den Drucksachen 17/879 und 17/674 an die Aus- Federführung strittig
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2365
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
(A) f) Unterrichtung durch die Bundesregierung Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 26 a bis (C)
26 j sowie dem Tagesordnungspunkt 9. Es handelt sich
Bericht der Bundesregierung über die größten dabei um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen
Emissionsreduktionspotentiale in Schwellen- keine Aussprache vorgesehen ist.
und Entwicklungsländern und Sektoren
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe-
– Drucksache 16/13771 – titionsausschusses.
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Tagesordnungspunkt 26 a:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)
g) Unterrichtung durch die Bundesregierung
Sammelübersicht 40 zu Petitionen
Achtzehnter Bericht nach § 35 des Bundesaus-
bildungsförderungsgesetzes zur Überprüfung – Drucksache 17/801 –
der Bedarfssätze, Freibeträge sowie Vomhun-
dertsätze und Höchstbeträge nach § 21 Absatz 2 Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 40 ist mit den Stimmen
– Drucksache 17/485 – des ganzen Hauses so angenommen.
Überweisungsvorschlag:
Tagesordnungspunkt 26 b:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss ausschusses (2. Ausschuss)

Es handelt sich hierbei um Überweisungen im ver- Sammelübersicht 41 zu Petitionen


einfachten Verfahren ohne Debatte. – Drucksache 17/802 –
Wir kommen zunächst zu einer Überweisung, bei der Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
die Federführung strittig ist. tungen? – Die Sammelübersicht 41 ist wiederum mit den
Tagesordnungspunkt 25 e: Interfraktionell wird die Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Überweisung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Tagesordnungspunkt 26 c:
Grünen mit dem Titel „Kinderspielzeug – Risiko für
kleine Verbraucher“ auf Drucksache 17/656 an die in der Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
(B) Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. ausschusses (2. Ausschuss) (D)
Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP wünschen Fe- Sammelübersicht 42 zu Petitionen
derführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Techno-
logie. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht – Drucksache 17/803 –
Federführung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Sammelübersicht 42 ist ebenfalls mit den
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen – Federführung beim
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- Tagesordnungspunkt 26 d:
cherschutz – abstimmen. Wer stimmt für diesen Über- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
weisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- ausschusses (2. Ausschuss)
tungen? – Die Überweisung ist damit bei Zustimmung
durch Bündnis 90/Die Grünen und SPD abgelehnt; die Sammelübersicht 43 zu Petitionen
übrigen Fraktionen haben sich dagegen entschieden. – Drucksache 17/804 –
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
Fraktionen der CDU/CSU und FDP – Federführung beim tungen? – Die Sammelübersicht 43 ist angenommen bei
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie – abstimmen. Zustimmung durch die Fraktionen der CDU/CSU, FDP,
Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Ge- SPD und Linkspartei. Dagegen hat die Fraktion Bünd-
genstimmen? – Enthaltungen? – Der Überweisungsvor- nis 90/Die Grünen gestimmt. Es gab keine Enthaltungen.
schlag ist bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktio-
nen und die Fraktion Die Linke angenommen; SPD und Tagesordnungspunkt 26 e:
Bündnis 90/Die Grünen haben dagegen gestimmt. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
Wir kommen jetzt zu den unstrittigen Überweisun- ausschusses (2. Ausschuss)
gen. Sammelübersicht 44 zu Petitionen
Tagesordnungspunkte 25 a bis 25 d sowie 25 f bis – Drucksache 17/805 –
25 g: Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der tungen? – Die Sammelübersicht 44 ist angenommen bei
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Zustimmung durch die Fraktionen der CDU/CSU, FDP,
2366 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) Bündnis 90/Die Grünen und SPD. Die Fraktion der Lin- haben gestimmt die Fraktion von SPD und Bündnis 90/ (C)
ken hat dagegen gestimmt. Die Grünen. Die Fraktion Die Linke hat sich enthalten.
Tagesordnungspunkt 26 f: Tagesordnungspunkt 9:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
ausschusses (2. Ausschuss) gierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Direktzahlungen-
Sammelübersicht 45 zu Petitionen Verpflichtungengesetzes
– Drucksache 17/806 – – Drucksache 17/758 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
tungen? – Die Sammelübersicht 45 ist angenommen. richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
Dafür haben gestimmt CDU/CSU, FDP und SPD. Dage- schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss)
gen haben gestimmt die Fraktion Die Linke und Bünd-
nis 90/Die Grünen. Es gab keine Enthaltungen. – Drucksache 17/924 –

Tagesordnungspunkt 26 g: Berichterstattung:
Abgeordnete Johannes Röring
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Dr. Wilhelm Priesmeier
ausschusses (2. Ausschuss) Dr. Christel Happach-Kasan
Dr. Kirsten Tackmann
Sammelübersicht 46 zu Petitionen
Cornelia Behm
– Drucksache 17/807 – Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
tungen? – Die Sammelübersicht 46 ist angenommen bei lung auf Drucksache 17/924, den Gesetzentwurf der
Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung auf Drucksache 17/758 anzunehmen.
Linke und Gegenstimmen durch Bündnis 90/Die Grünen Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
und SPD. Enthaltungen gab es keine. wollen, um ihr Handzeichen. – Gegenstimmen? – Ent-
haltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Be-
Tagesordnungspunkt 26 h: ratung angenommen mit den Stimmen des gesamten
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Hauses.
ausschusses (2. Ausschuss) Dritte Beratung
(B) (D)
Sammelübersicht 47 zu Petitionen und Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zu-
– Drucksache 17/808 – stimmen will, möge sich bitte erheben. – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in dritter
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Beratung mit dem gleichen Stimmverhältnis wie vorher
tungen? – Die Sammelübersicht 47 ist angenommen. angenommen.
Dafür haben gestimmt die Koalitionsfraktionen und die Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf:
Linke. Dagegen hat die SPD-Fraktion gestimmt. Bünd-
nis 90/Die Grünen hat sich enthalten. Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
Tagesordnungspunkt 26 i:
Spenden- und Sponsoring-Praxis von Parteien
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- und die Glaubwürdigkeit der Politik
ausschusses (2. Ausschuss)
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Sammelübersicht 48 zu Petitionen Kollegen Ulrich Maurer für die Fraktion Die Linke.
– Drucksache 17/809 – (Beifall bei der LINKEN)
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 48 ist angenommen bei Ulrich Maurer (DIE LINKE):
Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen und Ableh- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen
nung durch die Oppositionsfraktionen. Sie uns zunächst einen Blick auf die bisher bekannt ge-
wordenen Fakten werfen, die diese Debatte notwendig
Tagesordnungspunkt 26 j: machen. Wir haben zur Kenntnis zu nehmen, dass hohe
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Repräsentanten unseres Staates, leibhaftige Ministerprä-
ausschusses (2. Ausschuss) sidenten, zumindest stundenweise angemietet werden
können. Nichts anderes ist das, was wir gehört haben.
Sammelübersicht 49 zu Petitionen Der eine Ministerpräsident hat mittlerweile erklärt, er sei
– Drucksache 17/810 – gegen seinen Willen vermietet worden. Bei dem anderen
hat der Vermieter erklärt, er habe nicht den Ministerprä-
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- sidenten vermietet, sondern den Landesvorsitzenden.
tungen? – Die Sammelübersicht 49 ist angenommen bei Zufälligerweise handelt es sich dabei um dieselbe Per-
Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. Dagegen son. Der eine Vermieter ist wegen der bevorstehenden
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2367
Ulrich Maurer
(A) Wahl entlassen worden. Der andere ist noch im Amt, (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: (C)
vermutlich weil in Sachsen keine Wahlen bevorstehen. Schröder!)
Fühlen Sie sich eigentlich in der CDU/CSU für Ihre und wenn das Vertrauen weiter zerstört wird, dann wer-
Zweigniederlassungen beispielsweise in Dresden noch den ganz andere Leute die Oberhand gewinnen, nämlich
zuständig, oder wollen Sie stillschweigend weiterhin to- die von rechts außen, die Rattenfänger, die es schon seit
lerieren, was dort abläuft? Ich sage Ihnen eines: Es ist jeher in dieser Republik gibt. Sie machen sich mit dem
doch klar, dass die Herren Mieter diese Personen nicht Sumpf, den Sie hier anrichten, an der deutschen Demo-
wegen ihrer Unterhaltsamkeit und Kurzweiligkeit stun- kratie schuldig.
denweise anmieten, sondern deshalb, weil sie sich davon
Vorteile versprechen. (Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN) Zurück zu diesem sogenannten Sponsoring. Man fragt
sich, warum eigentlich die Staatsanwaltschaften nicht tä-
Wenn man in Deutschland einen Ministerpräsidenten tig werden; denn es handelt sich um Vorteilsannahmen,
– und sei es nur auf Stundenbasis – mieten kann, weil
die an Personen geknüpft sind. Diese Frage stellt sich,
man sich davon Vorteile verspricht, dann untergräbt das
und ich stelle sie in diesem Plenum. Das verwundert
das Vertrauen der Bevölkerung – man muss leider sagen:
mich übrigens genauso wie die Einstellung von fünf Er-
das Restvertrauen – in die Demokratie.
mittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft gegen Herrn
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Ostermann an der Saar. Aber lassen wir das einmal au-
neten der SPD) ßen vor. Ich will es nur erwähnt haben. Es gibt ein ganz
schlichtes Ergebnis dieser Debatte, das ich Ihnen nahe-
Wir lernen derzeit an der Saar, dass man sogar ganze
Regierungen zusammenkaufen kann. lege – das ist das Mindeste –: Raffen Sie sich dazu auf,
dieses sogenannte Parteiensponsoring durch das Partei-
(Zuruf von der FDP: Fragen Sie Herrn engesetz zu verbieten!
Lafontaine!)
(Beifall bei der LINKEN – Josef Philip
Wir lernen mittlerweile auch den Marktwert der Grünen Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So-
an der Saar kennen. Der beläuft sich nach den heutigen lange es transparent ist, ist es kein Problem!)
Aussagen von Herrn Ulrich auf 38 000 Euro plus X.
Ich entnehme der heutigen Zeitung, dass das schon
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE die Zustimmung des SPD-Vorsitzenden Gabriel findet.
GRÜNEN]: So billig sind wir nicht zu krie- Insofern sind wir der Wahrheitsfindung wieder etwas nä-
gen!) her. Ich hoffe, dass auch Sie von der FDP, auch wenn es
(B)
Dabei hat er seine persönlichen Apanagen, die er vom Sie möglicherweise schwer trifft, sich zu diesen Verlus- (D)
sogenannten Paten von der Saar bezogen hat, noch nicht ten für Ihre Parteikasse zum Wohle des Staatsganzen be-
mitgezählt. Wie weit sind wir eigentlich gekommen, kennen können.
wenn sich ein einziger Unternehmer durch Parteispen-
(Beifall bei der LINKEN – Thomas Strobl
den und Bezahlung von Parteifunktionären Regierungen
[Heilbronn] [CDU/CSU]: Der Maurer hat auch
zusammenkaufen kann?
schon bessere Reden gehalten in seinem ver-
(Beifall bei der LINKEN) gangenen Leben!)
Für die Grünen gilt natürlich dasselbe, was ich über die
CDU in Sachsen gesagt habe. Sie begleiten alles, was Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
dort abläuft, mit Stillschweigen. Das ist ein unvorstellba- Ingo Wellenreuther hat das Wort für die CDU/CSU-
rer Vorgang. Fühlen Sie sich für Ihren saarländischen Fraktion.
Landesverband unzuständig? Tolerieren Sie das durch
Schweigen, oder was hat man davon eigentlich zu hal- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ten? Wir kennen seit längerem auch den Marktwert des
Kollegen Westerwelle, jedenfalls vor seiner Amtszeit als Ingo Wellenreuther (CDU/CSU):
Außenminister. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
(Zuruf von der CDU/CSU: Gysi kassiert doch Damen und Herren! Allein der Titel dieser Aktuellen
auch schön! – Weiterer Zuruf von der CDU/ Stunde zeigt, dass es Ihnen von den Linken weder um
CSU: Der größte Kassierer ist Lafontaine!) eine seriöse Aufklärung der Sachverhalte in Nordrhein-
Westfalen oder in Sachsen geht noch um eine ernsthafte
Der Kern der Debatte ist, liebe Kolleginnen und Kol- Diskussion über das Parteienrecht, das sich in den letz-
legen von FDP und CDU/CSU: Wir haben heute schon ten Jahren sehr gut bewährt hat, weil es Transparenz ge-
einen so breiten Graben zwischen den Wählenden und schaffen hat. Ihnen geht es um etwas ganz anderes: Sie
den Gewählten. Wenn Sie nicht kapieren wollen, dass wollen die Parteienfinanzierung in Deutschland diskre-
das Prinzip der Demokratie darauf basiert, dass die Wäh- ditieren, Sie wollen Spender verunsichern, und Sie wol-
lerinnen und Wähler darauf bauen können, dass ihre len sich mit einer gezielten politischen Skandalisierung
Stimme über die Geschicke des Staates entscheidet und Vorteile im Landtagswahlkampf verschaffen und den
nicht die Höhe eines ausgestellten Schecks und nicht ein politischen Gegner verunglimpfen.
in Aussicht gestellter Vorstands- oder Aufsichtsratspos-
ten, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
2368 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Ingo Wellenreuther
(A) Dass es Ihnen nicht um die Aufklärung geht, ergibt des Bundesfinanzministeriums aus dem Jahr 1998 han- (C)
sich auch daraus, dass Sie die Prüfung der Sachverhalte delt es sich dabei um eine Gewährung von Geld durch
durch die Bundestagsverwaltung, die im Gange ist, nicht Unternehmen zur Förderung unter anderem von Par-
abwarten können. Ich sage Ihnen ganz offen: Es ist uner- teien, mit der regelmäßig auch eigene unternehmensbe-
träglich, dass Sie wieder einmal bei den Bürgerinnen zogene Werbung oder Öffentlichkeitsarbeit verbunden
und Bürgern in Deutschland bewusst den Eindruck er- sind. Die Gegenleistung der Partei besteht in der Zurver-
wecken, man könne in unserem Land politische Ent- fügungstellung von Werbemöglichkeiten zugunsten des
scheidungen kaufen. Sie wissen genau: Das ist abwegig Sponsors, aber gerade nicht in der Gewährung eines
und trifft nicht zu. Es ist selbstverständlich, dass ein Mi- politischen Vorteils.
nisterpräsident nicht vermietet werden kann. Das wider-
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
spricht dem öffentlichen Amt, das er innehat. Die Kanz-
GRÜNEN]: Das hat sich nicht bewährt! Das
lerin hat dazu bereits das Entsprechende gesagt. Mit der
ist nicht transparent genug!)
Käuflichkeit politischer Entscheidungen hat das nichts,
aber auch gar nichts zu tun. Deshalb ist der Vorwurf der Käuflichkeit geradezu ab-
wegig. Solche Geldzuflüsse müssen bereits jetzt nach
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
dem Parteiengesetz als Einnahmen aus Veranstaltungen
Michael Groschek [SPD]: Das hat man bei
angegeben werden, allerdings nicht gesondert und nicht
Mövenpick gesehen!)
unter dem Stichwort Sponsoring.
Was Sie treiben, ist schäbig und schadet in hohem Maße
(Joachim Poß [SPD]: Sie wissen es besser!)
unserer Demokratie und der Politik im Gesamten. Vor
allem weiß die Staatsanwaltschaft in Deutschland ganz Um es noch einmal zu sagen: Der Leistungsaustausch
genau, ob und wann sie tätig wird, und bedarf dazu kei- beim Sponsoring ist der entscheidende Unterschied zur
ner anmaßenden Aufforderung von Ihnen, Herr Maurer. Spende, für die es keine Gegenleistung gibt. So eindeu-
tig Parteispenden zulässig und erwünscht sind, so wenig
Die konkreten Fälle werfen aber die grundsätzliche
ist Sponsoring in dem genannten Sinne unzulässig oder
Frage auf, wie mit Parteienfinanzierung und insbeson-
anrüchig.
dere mit Parteiensponsoring rechtlich umzugehen ist. Sie
wissen, dass die Parteien nach dem Grundgesetz den (Joachim Poß [SPD]: Das hat mit Sponsoring
Auftrag, aber auch den Anspruch haben, an der politi- gar nichts zu tun!)
schen Willensbildung des Volkes mitzuwirken. Um das
tun zu können, haben sie einen berechtigten Finanzie- In beiden Fällen, Herr Poß, geht es um eine wünschens-
rungsbedarf. Wir haben uns in Deutschland ganz be- werte Unterstützung einer Partei, wobei im Falle des
Sponsorings dem Unterstützenden noch die Möglichkeit
(B) wusst gegen eine rein staatliche Alimentierung entschie- (D)
den und die gesellschaftliche Verankerung als zur Werbung und zur Öffentlichkeitsarbeit gegeben
Wesenselement politischer Parteien definiert. wird.

(Michael Groschek [SPD]: Wir haben nicht (Zuruf von der LINKEN)
November!) – Auch das kann er. Wenn Sie betriebswirtschaftliche
Im Wesentlichen wird dieser Bedarf durch Mitgliedsbei- Kenntnisse hätten, wüssten Sie, warum. – Um es klar zu
träge, durch staatliche Zuwendungen und durch Spenden sagen: Sponsoring ist eine zulässige Form der Finanzie-
gedeckt. rung politischer Veranstaltungen, wie zum Beispiel bei
Parteitagen oder Kongressen, bei denen es in der Regel
(Zuruf von der LINKEN) um die Vermietung von Standflächen mit der Gelegen-
heit zum politischen Meinungsaustausch geht. Das ist
– Hören Sie zu, dann verstehen Sie es vielleicht. –
gängige Praxis bei allen Parteien. Wenn trotz der Recht-
(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Da mäßigkeit des Sponsorings der Eindruck entsteht, dass
habe ich wenig Hoffnung!) Sponsoringmaßnahmen in einer rechtlichen Grauzone
liegen, so könnte es förderlich sein, Sponsoring klarer im
Im Gegenzug ergibt sich die grundgesetzliche Verpflich-
Parteiengesetz zu verankern, um es noch transparenter
tung, dass die Parteien über die Herkunft und über die
zu machen.
Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen öf-
fentlich Rechenschaft ablegen. Das ist im Parteiengesetz Meine Damen und Herren von der Linken, wir haben
geregelt und auch gut so. Wir wissen, dass Spenden über kein Problem mit der Transparenz.
10 000 Euro im Rechenschaftsbericht angegeben und
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Ach
Spenden über 50 000 Euro dem Bundestagspräsidenten
ne! Da haben wir aber einen anderen Einruck! –
gemeldet werden müssen, der sie unverzüglich im Inter-
Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Von
net veröffentlicht. Diese Transparenz hat sich bei den
Moskau kam das Geld! – Joachim Poß [SPD]:
Parteispenden ausdrücklich bewährt.
Sie haben mit den schwarzen Kassen viel Er-
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE fahrung! In Hessen und in der ganzen Repu-
GRÜNEN]: Alle Spenden angeben!) blik mit Kohl! Das ist noch nicht ausgestan-
den!)
Jetzt stellt sich die Frage, wie es sich beim Sponsoring
verhält. Im Parteiengesetz gibt es dafür keine ausdrückli- Transparenz ist bei politischen Entscheidungen unver-
che Regelung. Nach dem sogenannten Sponsoringerlass zichtbar. Aber dass Sie damit große Probleme haben, hat
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2369
Ingo Wellenreuther
(A) gerade das Verwaltungsgericht in Berlin im Januar fest- (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: So (C)
gestellt. Ausgerechnet die Linke hat gegen das Transpa- ist das!)
renzgebot des Parteiengesetzes verstoßen, indem sie eine
Spende in Höhe von 146 000 Euro im Landtagswahl- Anders aber verhält es sich, wenn der Vertrag über ei-
kampf Rheinland-Pfalz in ihrem Rechenschaftsbericht nen Werbestand auf einer Parteiveranstaltung mit einem
nicht angegeben hat. Gesprächstermin mit dem Ministerpräsidenten oder mit
anderen Amtsträgern verknüpft wird
(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Ah! –
Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Hört! (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Hört!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
In dieser Aktuellen Stunde wollten Sie die Glaubwür- und dafür auch noch zusätzlich Geld verlangt wird. Ein
digkeit der Politik durch Spenden und Sponsoring in- solcher Vertrag ist eben kein Sponsoring mehr. Die öf-
frage stellen. Das Beispiel, das ich gerade genannt habe, fentlich gewordenen Vorgänge um die Ministerpräsiden-
zeigt aber, dass Sie die Einzigen sind, die mit der Glaub- ten Rüttgers und Tillich sind kein Sponsoring mehr. Gel-
würdigkeit ein Problem haben und selbst nicht glaub- der für Gesprächstermine sind Zweckspenden, die schon
würdig sind. heute im Parteiengesetz verboten sind.
Herzlichen Dank. Ich will aus dem Gesetz zitieren. In § 25 Abs. 2 des
Parteiengesetzes heißt es:
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Von der Befugnis der Parteien, Spenden anzuneh-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: men, ausgeschlossen sind:
Für die Fraktion der SPD hat die Kollegin Gabriele Und dort steht unter Nr. 7:
Fograscher das Wort.
Spenden, die der Partei erkennbar in Erwartung
(Beifall bei der SPD)
oder als Gegenleistung eines bestimmten wirt-
schaftlichen oder politischen Vorteils gewährt wer-
Gabriele Fograscher (SPD): den;
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Schon seit einigen Wochen steht die Finanzierung (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
von Parteien im Fokus der Öffentlichkeit. Dabei geht es GRÜNEN]: Genau!)
um ganz unterschiedliche Sachverhalte. Daneben ist es Amtsträgern sowieso verboten, Geld für
(B) Der eine Sachverhalt war die fragwürdige Millionen- Gespräche zu verlangen oder anzunehmen. Eine solche (D)
spende des Mövenpick-Besitzers an FDP und CSU, die Praxis ist von vornherein sittenwidrig und hat mit Spon-
in zeitlicher Nähe zu der Entscheidung stand, den Mehr- soring nichts zu tun.
wertsteuersatz für Hotelübernachtungen zu senken. Da-
rüber haben wir bereits diskutiert. Wir haben dazu Vor- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
schläge unterbreitet, mit denen mehr Transparenz der LINKEN und des Abg. Josef Philip
ermöglicht würde, zum Beispiel die Begrenzung der Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Höhe von Parteispenden, die unverzügliche Veröffentli- Dass das alles nicht in Ordnung ist, sagt auch Rüttgers
chung großer Spenden durch den Bundestagspräsidenten und feuert seinen Generalsekretär, will aber als Partei-
und das Verbot von Verbandsspenden. Leider lehnen Sie vorsitzender nichts von der Rent-a-Rüttgers-Praxis ge-
diese Vorschläge ab und verweisen auf das geltende Par- wusst haben.
teiengesetz. Dass diese Spenden ein Geschmäckle ha-
ben, sehen Sie bis heute nicht ein. (Helmut Brandt [CDU/CSU]: Hat er auch
nicht!)
Heute geht es aber um einen anderen Sachverhalt,
nämlich um das sogenannte Sponsoring. Dass sich Un- Entweder hat Rüttgers diese besonderen vertraglichen
ternehmen auf Parteitagen oder Parteiveranstaltungen Regelungen gebilligt und die bezahlten Termine absol-
gegen eine Standmiete präsentieren oder Sachspenden viert, oder er hat keinen Überblick darüber, was in seiner
leisten, ist ein öffentlicher und transparenter Vorgang. Partei geschieht, um die Finanzen aufzubessern. Beides
Wenn Einnahmen erzielt werden, werden diese entspre- ist nicht akzeptabel.
chend im Rechenschaftsbericht der Parteien als Einnah-
men aus Veranstaltungen ausgewiesen und selbstver- (Beifall bei der SPD)
ständlich auch versteuert. Bei der SPD machen diese Nun fordert also der Bundestagspräsident, der be-
Einnahmen unter 1 Prozent der Gesamteinnahmen aus. kanntlich CDU-Mitglied ist und aus NRW stammt, Än-
(Marco Buschmann [FDP]: Was ist mit den derungen im Parteiengesetz, da es sich – das haben Sie
11 Millionen aus den Unternehmensbeteiligun- gerade dargestellt – nach Meinung der CDU um einen
gen?) ungeregelten Bereich handelt. Nein, es ist nichts ungere-
gelt. Die Handlungsweise der CDU ist bereits verboten.
Selbstverständlich und nicht anrüchig ist es, wenn die
Organisatoren oder Verantwortlichen einen Rundgang (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
machen und sich bei den Sponsoren für ihr Engagement des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
bedanken. Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE])
2370 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Gabriele Fograscher
(A) Weil es sich bei diesen Sachverhalten um verbotene Das Thema begleitet die politische Öffentlichkeit schon (C)
Zweckspenden handelt, fordern wir den Bundestagsprä- seit Jahrzehnten, und die Ursache dieser permanenten
sidenten auf, Strafzahlungen gegen die CDU zu verhän- Diskussionen liegt im Wesen der Parteien.
gen,
(Zuruf von der SPD: Auf welchem Mond lebst
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten du denn?)
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]) Sie sind Zwitter des Staatslebens, und das macht den
Umgang mit ihnen bisweilen komplex. Die Parteien ste-
und zwar unverzüglich und nicht erst nach der Wahl in hen zwischen den beiden Sphären, die das liberale
Nordrhein-Westfalen. Darüber hinaus ist zu prüfen, ob Staatsverständnis prägen, nämlich zwischen Staat und
es sich nicht um Vorteilsnahme handelt. Gesellschaft. Als Transmissionsriemen transportieren sie
den gesellschaftlichen Diskurs in die Sphäre des Staates
(Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Das ist eine hinein.
bösartige Unterstellung!)
(Burkhard Lischka [SPD]: Was ist das für ein
Wählerinnen und Wähler haben das Recht, vor der Wahl Politikkurs hier?)
zu erfahren, wie diese Praxis zu bewerten ist.
Das Wesen der Parteien als Mittler zwischen Staat
Was sollen wir Ihrer Meinung nach eigentlich ins Par- und Gesellschaft gebietet es, dass sie auf keinen Fall
teiengesetz schreiben? Vielleicht: „Gespräche mit Minis- vollständig staatlich finanziert werden dürfen. Vielmehr
terpräsidenten sind manchmal umsonst, aber auf jeden soll durch das Angewiesensein auf Mitgliedsbeiträge,
Fall kostenlos“? Das ist doch absurd. Immer wenn Sie aber auch auf Zuwendungen wie Spenden die Anbin-
bei unsauberen Praktiken erwischt werden, rufen Sie dung an die Sphäre der Gesellschaft durch die Finanz-
lautstark nach Gesetzesänderungen, statt den Rechts- verfassung der Parteien stipuliert werden. Das heißt ganz
bruch zuzugeben und die Praxis abzustellen. konkret: Spenden einzuwerben ist nichts Ehrenrühriges.
Wer etwas anderes behauptet, steht nicht im Einklang
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.
der LINKEN – Thomas Strobl [Heilbronn]
[CDU/CSU]: Der Gabriel will das Gesetz än- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
dern!) Joachim Poß [SPD]: Das macht auch keiner!
Das ist doch gar nicht das Thema!)
Glaubwürdig und verantwortungsvoll ist es, wenn Sie
sich an die Gesetze, die Sie ja selbst mit beschlossen ha- Natürlich darf es nicht dazu kommen, dass durch Zu-
(B) ben, auch halten. In einer Demokratie muss jeder Zu- wendungen gesellschaftliche Finanzkraft in staatspoliti- (D)
gang zu Amts- und Mandatsträgern haben können. Ein sche Macht umgewandelt wird. Natürlich darf niemand
solches Gespräch darf nicht denjenigen vorbehalten sein, den Eindruck erwecken, dass man Repräsentanten unse-
die dafür bezahlen können. res Staates oder eines Bundesstaates kaufen oder mieten
könnte.
Parteien haben nach Art. 21 Grundgesetz eine beson-
dere Stellung im Staat. Daraus ergibt sich auch eine be- (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das
sondere Verantwortung, und dieser, meine Damen und ist das schlechte Gewissen!)
Herren von der Regierungskoalition, werden Sie nicht
gerecht. Das ist gar keine Frage. Aber um dieser Gefahr vorzu-
beugen, setzt das Grundgesetz auf finanzielle Transpa-
Danke schön. renz. Art. 21 Abs. 1 Satz 3 Grundgesetz setzt klar auf
transparente Rechenschaft der politischen Parteien. Die-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sem Gebot kommt jedenfalls meine Partei stets und mit
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) großer Sorgfalt bei allen Sachverhalten, die immer wie-
der ins Feld geführt werden, nach.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Marco Buschmann ist der nächste Redner für die NEN]: Was? Das kann ich so nicht stehen las-
Fraktion der FDP. sen!)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Was das verfassungsrechtliche Gebot der finanziellen
der CDU/CSU) Transparenz angeht, sind die Oppositionsfraktionen die-
ses Hauses bestimmt nicht dazu berufen, irgendjeman-
Marco Buschmann (FDP): dem Nachhilfe zu erteilen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
und Kollegen! Wir debattieren heute über die Finanzie- der CDU/CSU)
rung der politischen Parteien.
Ich frage die Kollegen von der SPD: Warum hat denn
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE der SPD-eigene Vorwärts-Verlag bis heute immer noch
GRÜNEN]: Heute geht es nur um Sponso- nicht aufgeklärt, wie viel für die Vermarktung von Peer
ring!) Steinbrück kassiert wurde?
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2371
Marco Buschmann
(A) (Beifall bei der FDP – Zurufe von der FDP: weisen: Im Zusammenhang mit der strafrechtlichen Auf- (C)
Aha! – Joachim Poß [SPD]: Es gab keine Ver- arbeitung dieser Vorgänge haben Gregor Gysi und
marktung! Da gibt es nichts aufzuklären!) Lothar Bisky die Aussage verweigert, wahrscheinlich
aus der Sorge, sich selbst zu belasten.
Wie viel ist denn geflossen, als auf der Höhe der Finanz-
krise über milliardenschwere Programme entschieden (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Ach
worden ist? Warum hat denn Ihr Parteivorsitzender Quatsch!)
Sigmar Gabriel die Zahlungen des VW-Konzerns an die
So viel zur strafrechtlichen Aufklärung.
CoNeS GmbH verantwortet? Warum sollte dieses Geld
dahin fließen? Es handelt sich um eine Gesellschaft ohne (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Anschrift im Telefonbuch oder im Internet. Es ging doch Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Hört!
nur darum, den gesellschaftsrechtlichen Schleier einer Hört!)
GmbH über den Geldfluss zu legen, sodass die Spur
Wer so mit dem verfassungsrechtlichen Gebot der fi-
nicht direkt zu ihm führt.
nanziellen Transparenz umgeht, der besitzt keinerlei
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Glaubwürdigkeit, um hier über irgendjemanden Anklä-
Joachim Poß [SPD]: Das ist Diffamierung, ger oder Richter zu sein.
Herr Buschmann! – Thomas Strobl [Heil-
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Wo ist
bronn] [CDU/CSU]: Solche Sachen macht der
denn das Vermögen der LDPD?)
Gabriel!)
– Hören Sie gut zu! – Zur Glaubwürdigkeit gehört im-
Die geringste Glaubwürdigkeit, was Transparenz an-
mer auch, sich an die eigene Nase zu fassen, und die ist
geht, besitzen nun wahrlich die Linken, also die Initiato-
bei Ihnen länger als bei Pinocchio.
ren dieser Aktuellen Stunde.
(Heiterkeit bei der FDP)
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das
stört Sie, nicht wahr? – Thomas Strobl [Heil- Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
bronn] [CDU/CSU]: Das sind die Kommunis-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
ten, nicht die Linken!)
Eigentlich müsste man in dieser Debatte nur das Stich- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
wort „Operation Putnik“ nennen; mehr müsste man nicht Jetzt hat das Wort der Kollege Volker Beck für Bünd-
sagen. Es ist eigentlich zu unappetitlich für dieses Haus, nis 90/Die Grünen.
was Sie da zu verantworten haben. Aber weil dieser Vor-
(B) gang noch nicht transparent genug ist, (D)
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Alles Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Da
aufgeklärt! Schauen Sie den Abschlussbericht haben Sie ja schön die Backen aufgeblasen, Herr
an!) Buschmann.
erlaube ich mir, ein paar Worte darüber zu verlieren. Ihre (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
Partei, verehrte Kolleginnen und Kollegen, hat erwiese- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)
nermaßen dreistellige Millionenbeträge aus dem SED-
Altvermögen auf Schwarzgeldkonten zu schaffen ver- Können Sie mir eigentlich sagen, wie sehr die FDP in
sucht. NRW noch an den Möllemann-Strafzahlungen zu tragen
hat?
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Dazu wurden Altschulden der Moskauer Firma Putnik bei der SPD und der LINKEN)
mit falschen Belegen vorgetäuscht und Schwarzkonten
Wer so austeilt, der sollte klarstellen, wie sehr die eigene
eingerichtet.
Landespartei unter dieser Bürde heute noch leidet, auch
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Schauen unter der Bürde der mangelnden Glaubwürdigkeit in die-
Sie in den Abschlussbericht! Das liegt alles sen Debatten.
vor!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Nicht nur wegen dieser, sondern auch wegen vieler wei- bei der SPD und der LINKEN – Marco
terer Transaktionen kam die unabhängige Untersu- Buschmann [FDP]: Wir klären auf!)
chungskommission des Deutschen Bundestages in ihrem
Das politische Versagen damals bestand nicht einfach
Abschlussbericht zu dem Ergebnis, dass Ihre Partei – Zi-
nur darin, dass ein ganzer Landesvorstand zu falsch ver-
tat – „eine Strategie der Vermögensverschleierung“ ver-
buchten Spenden geschwiegen hat, sondern es bestand
folgt habe.
vor allen Dingen in der politischen Substanz dessen, was
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Herr Möllemann mit diesen ergaunerten Mitteln im
Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Was sagen Sie Wahlkampf gegen den Zentralrat der Juden und gegen
denn zur LDPD?) Israel gemacht hat.
Weil Herr Maurer die strafrechtliche Verfolgung an- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
gesprochen hat, möchte ich ihn gerne auf Folgendes hin- bei der SPD und der LINKEN)
2372 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Volker Beck (Köln)


(A) Auch daran darf man in dieser Debatte noch einmal erin- sondern es handelt sich um die Ermöglichung von politi- (C)
nern. schem Einfluss auf einen Amtsträger, in diesem Fall den
Ministerpräsidenten.
Die parlamentarische Demokratie in unserem Land ist
gegenwärtig in keiner guten Situation: Mövenpick-Spen- Nach dem Parteiengesetz – das hat die Kollegin vor-
den, Ministerpräsidenten-Flatrates bei Herrn Rüttgers, hin zu Recht zitiert; das ist da klipp und klar geregelt –
Staatskanzlei-Sparabo bei Herrn Tillich. Bei den Bürge- handelt es sich um eine Spende, die der Partei erkennbar
rinnen und Bürgern entsteht der Eindruck – ich will gar in Erwartung oder als Gegenleistung eines bestimmten,
nicht behaupten, dass es so ist; aber wir müssen uns mit in dem Fall politischen, Vorteils vermutlich gewährt
diesem Problem ernsthaft auseinandersetzen –, dass worden ist.
Politik in diesem Land käuflich ist, (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
(Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Verantwor- GRÜNEN]: So ist es!)
tungsloses Geschwätz!) Deshalb ist es eine unzulässige Spende. Sie ist nach dem
dass man die entscheidenden Gesprächstermine be- Parteiengesetz sanktioniert.
kommt, wenn man Geld auf den Tisch legt. Zumindest (Joachim Poß [SPD]: So ist es! – Ingo
Letzteres ist in der Tat Gegenstand von Vereinbarungen Wellenreuther [CDU/CSU]: Null Punkte im
der CDU Sachsen und der CDU Nordrhein-Westfalen Examen!)
mit Sponsoren gewesen.
Ich erwarte vom Bundestagspräsidenten, auch wenn
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, er Ihrer Partei angehört, auch wenn er aus Nordrhein-
bei der SPD und der LINKEN – Marco Westfalen kommt,
Buschmann [FDP]: 10 000 Euro für Joschka (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Was
Fischer!) soll das denn jetzt?)
Um Schaden von uns allen abzuwenden, von Ihrer dass die entsprechenden Verfahren bis spätestens Mitte
Partei wie von der Legitimität aller politischen Parteien April abgeschlossen sind. Die Wählerinnen und Wähler
hier im Deutschen Bundestag, ist es dringend erforder- haben einen Anspruch darauf, vor der Landtagswahl in
lich, dass diese Vorgänge unverzüglich von der Bundes- Nordrhein-Westfalen zu erfahren, wie diese Dinge nach
tagsverwaltung aufgeklärt werden und die entsprechen- dem Parteiengesetz zu bewerten sind.
den Sanktionen ergehen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bei der SPD und der LINKEN)
(B) und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der (D)
LINKEN – Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Ich bin sicher, dass der Bundestagspräsident – so kenne
Das läuft doch schon alles! – Helmut Brandt ich ihn – so unabhängig sein wird und dafür sorgen wird,
[CDU/CSU]: Wenn es welche geben sollte!) dass die Verwaltung zügig arbeitet und das zu einem Ab-
schluss bringt.
– Ach, Sie bestreiten, dass es so war?
Meine Damen und Herren, wir haben hier schon vor
(Helmut Brandt [CDU/CSU]: Ich bestreite, einigen Wochen über einen Antrag unserer Fraktion zur
dass es Sanktionen geben muss!) Reform des Parteiengesetzes diskutiert, damals aus An-
lass der Mövenpick-Spenden an die FDP und der damit
Warum ist denn Herr Wüst zurückgetreten? Weil nichts zusammenhängenden Mehrwertsteuersenkung. Ich denke,
war? Bei Ihnen tritt man offensichtlich zurück, obwohl wir sollten jetzt schleunigst im Innenausschuss eine An-
nichts vorgefallen ist. hörung machen und dabei auch über die Probleme des
Sponsorings reden.
(Zuruf von der SPD: Schön wäre es!)
Es gibt nämlich eine Unwucht im Parteiengesetz: Wir
Es ist ja so gewesen: Sie haben Sponsorenverträge ge- haben zwar auf der einen Seite relativ klar reguliert, was
macht, die mit der Möglichkeit eines Gesprächstermins an Spenden möglich ist. Wir meinen, man sollte die
beim Ministerpräsidenten verbunden waren. Spendenhöhe auf 100 000 Euro pro Spender und pro
(Joachim Poß [SPD]: So ist es!) Jahr begrenzen. Das ist eine klare Grenze. Das führt nie-
manden, auch nicht die Schwächsten von uns hier im
Wer diese Möglichkeit wahrnehmen wollte, musste et- Hause, in Versuchung, durch Spenden politisch beein-
was mehr zahlen, flusst zu werden. Wir dürfen aber nicht zulassen, dass
auf der anderen Seite über das Sponsoring all das um-
(Dr. Barbara Hendricks [SPD]: 6 000 Euro für gangen werden kann, was wir für Spenden minutiös im
ein Gespräch!) Parteiengesetz geregelt haben.
als wenn er nur einen Stand auf der Messe gebucht hätte. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Das ist eindeutig kein Gegenstand von Sponsoring. Es sowie bei Abgeordneten der SPD)
handelt sich auch nicht um eine Werbemaßnahme,
Wir brauchen beim Sponsoring die gleiche Transparenz.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Wir müssen auch darüber reden, ob man es begrenzen
bei der SPD und der LINKEN) soll, und über die Frage diskutieren, ob es weiterhin
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2373
Volker Beck (Köln)
(A) steuerlich in vollem Umfang absetzbar sein soll. Wenn nanzieren sich auch über Mitgliedsbeiträge, Spenden (C)
es dabei wie heute um Beträge unbegrenzter Größenord- und sonstige Einnahmen wie etwa über das Sponsoring.
nung gehen kann, dann läuft die Begrenzung der steuer-
Als ich im Jahr 2005 Generalsekretär der baden-
lichen Absetzbarkeit, die es im Spendenbereich gibt,
württembergischen CDU geworden bin, habe ich Wert
faktisch ins Leere; denn Unternehmen und andere wirt-
darauf gelegt, dass wir die Praxis des Sponsorings auch
schaftliche Subjekte können diese Begrenzung durch
mit der Bundestagsverwaltung, die sozusagen kraft Am-
entsprechend hohes Sponsoring, das faktisch steuerlich
tes für die Parteienfinanzierung zuständig ist, abklären
begünstigt ist, kompensieren. Das ist eine Unwucht. Das
lassen, und habe im November 2005 die Auskunft be-
ist vom Gesetzgeber so auch nicht gewollt.
kommen, dass Sponsoring nach umfangreicher Abstim-
mung mit der Bundestagsverwaltung abgesichert, also
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: rechtlich nicht zu beanstanden ist. Das ist zunächst ein-
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen. mal der Sachverhalt.
Nun gab es in den letzten Tagen eine aufgeregte De-
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
batte. Frau Künast von den Grünen redet von einem An-
Deshalb lassen Sie uns unverzüglich an dieses Thema griff auf die Demokratie.
herangehen. Ich glaube, es trägt erheblich zur Legitimi-
tät der Parteien und der parlamentarischen Demokratie (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Na ja!)
bei, wenn wir dafür sorgen, dass hier absolute Transpa- Aus den Reihen der SPD ist zu hören: Es stinkt zum
renz herrscht. Transparenz ist immer noch die beste Kor- Himmel. Politische Korruption! Politische Prostitution!
ruptionsprophylaxe und die beste Prophylaxe vor Be-
schädigungen der Legitimität der parlamentarischen (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN –
Demokratie. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Zumindest der Anfangsverdacht
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, ist da!)
bei der SPD und der LINKEN)
Herr Gabriel möchte die Immunität von Kollegen aufhe-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: ben und die Staatsanwaltschaften einschalten. Keine ver-
Thomas Strobl ist der nächste Redner für die CDU/ bale Kraftmeierei ist also zu schade, um in Nordrhein-
CSU-Fraktion. Westfalen beim Wahlkampf ein paar läppische Punkte zu
machen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Sagen Sie doch mal was zum
(B) Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU): Sachverhalt! – Joachim Poß [SPD]: Zum (D)
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Sachverhalt hat er keinen Satz gesagt!)
Herr Kollege Beck, das war weniger ein Beitrag zur par-
lamentarischen Demokratie als mehr ein Beitrag zum – Verehrte Kollegen von den Grünen, sehr gerne sage ich
nordrhein-westfälischen Landtagswahlkampf. Deswe- Ihnen etwas zur Sache. Zunächst möchte ich Ihnen zuru-
gen möchte ich wieder zur Sache zurückkommen. fen: Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen.
Das kann schiefgehen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP – Zuruf vom BÜNDNIS 90/ (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
DIE GRÜNEN: Das ist die Sache!) der FDP – Hans-Christian Ströbele [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit mir kann jeder
„Die Parteien wirken bei der politischen Willensbil- reden!)
dung des Volkes mit“, so heißt es in Art. 21 des Grund-
gesetzes für die Bundesrepublik Deutschland. Ich Zum Sponsoring beim Bündnis 90/Die Grünen.
glaube, wir sind mit dieser Parteiendemokratie in den Daniel Holefleisch, der Vorstandsreferent der Grünen für
über 60 Jahren der Bundesrepublik Deutschland gut ge- Unternehmenskontakte/Fundraising, schreibt auf seiner
fahren, Kontaktseite im Internet – nachzulesen beim Business
Network XING –:
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Na ja!) Ich suche … Sponsoren für Parteitage und andere
Parteiveranstaltungen.
auch wenn die Feinde der Demokratie, etwa die extre-
mistische Linke, keine Gelegenheit auslassen, dieses de- (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Hört! Hört!)
mokratische System verächtlich zu machen. So weit, so gut. Und weiter:
(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Ein bisschen Ich biete direkten Zugang zu Gesprächspartnern in
Anstand!) Parteispitze und Bundestagsfraktion von BÜND-
Jedenfalls läuft es dort, wo es diesen Wettbewerb der NIS 90/DIE GRÜNEN …
Parteien nicht gibt, nicht besser. (Zurufe von der FDP: Oh! – Helmut Brandt
Klar ist auch: Parteien brauchen, um ihre Aufgaben [CDU/CSU]: Unglaublich! – Weiterer Zuruf
zu erfüllen, finanzielle Mittel. Dafür gibt es Staatszu- von der CDU/CSU: Das sind die größten Pha-
schüsse, aber aus gutem Grund nicht nur staatliches risäer! – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/
Geld, weil wir keine Staatsparteien wollen. Parteien fi- DIE GRÜNEN]: Wir sind keine Amtsträger!)
2374 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Thomas Strobl (Heilbronn)


(A) „Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet“, heißt Nebel stapfen. Wir lassen aber weder einen Eintopf ko- (C)
es in der Bergpredigt, Kollege Winkler. chen, noch gestatten wir den Blockparteierben, mit dem
Finger auf die Linke zu zeigen und von den eigenen Ver-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ingo
säumnissen abzulenken.
Wellenreuther [CDU/CSU]: Das ist so ein ver-
logener Haufen!) (Beifall bei der SPD – Widerspruch bei Abge-
Meine Damen und Herren von der Sozialdemokrati- ordneten der CDU/CSU)
schen Partei Deutschlands, auch Ihnen wäre zu empfeh- Von Ihnen war kein Wort zur Sache zu hören.
len, sich etwas sachlicher und ruhiger zu verhalten. Die
SPD in Sachsen schreibt für jedermann nachlesbar: Worum geht es? Es geht darum, dass die Menschen
draußen im Lande den Eindruck haben, es sei politischer
Unser Angebot an Sie: Als Sponsor der SPD Sach- Winterschlussverkauf in Dresden, Düsseldorf und Ber-
sen möchten wir Ihnen die Gelegenheit geben, in lin, und zwar durch Sie verursacht.
direkter und gezielter Weise mit Ihrer Ziel- und
Kundengruppe in Kontakt zu treten. Machen Sie (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
auf sich aufmerksam! Leistungen und Sponsormög-
lichkeiten im Überblick: Zunächst der Ratenkauf bei der Mövenpickerei und dann
der Mietkauf von Politikern und Staatsämtern bei der
Und dann heißt es unter einem der vielen Punkte: CDU in Nordrhein-Westfalen. Immerhin ist der Landes-
Vermittlung exklusiver Gesprächspartner auf Ver- vorsitzende der Stellvertreter von Frau Merkel. Dazu ist
anstaltungen von Ihnen kein Wort zu hören.

(Zurufe von der CDU/CSU: Hört! Hört!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Thomas
Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Das Einzige,
Die Beteiligung für Sie als Sponsor richten wir was hier billig ist, ist Ihr Redebeitrag!)
ganz individuell nach Ihren Wünschen aus.
Ich finde, man muss deutlich machen, welches Sys-
(Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Jetzt wird es tem hinter all dem steckt. Die geistig-moralische Hal-
peinlich, Herr Poß!) tung bei dem Verkauf von Politik und Ämtern ist, dass
Gustav Heinemann war Mitglied der SPD. Er hat ge- der Staat als Beute begriffen wird. Sie wollen den Staat
sagt: Wer mit dem Finger auf andere zeigt, vergisst zur Beute machen.
meist, dass drei Finger derselben Hand auf ihn selber
(Beifall bei der SPD)
zeigen.
(B)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Sie verwechseln den Besitz politischer Macht auf Zeit, (D)
Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE legitimiert durch Wahlen, mit dem Recht auf Missbrauch
GRÜNEN]: Jetzt mal Selbstkritik!) politischer Macht. Das ist der große Unterschied.

Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Ob und (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
welche Regeln wir brauchen, lassen Sie uns das sine ira Ihre Denke ist: Willkommen im Klub.
et studio miteinander besprechen. Aber lassen Sie uns
keinen billigen Jakob für den Landtagswahlkampf in (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: In Ihrem
Nordrhein-Westfalen daraus machen, Klub anscheinend!)
(Joachim Poß [SPD]: Zum Vorgang Rüttgers Man kennt sich, man gönnt sich etwas; uns kann keiner,
haben Sie keinen Satz gesagt! Zu Rüttgers und wir können alles. Das ist der Geist, durch den aus bloßer
Tillich haben Sie keinen Satz gesagt!) Klientelpolitik knallharte Günstlingswirtschaft wird. Da-
sondern folgen wir dem Rat des Bundestagspräsidenten, rüber wollen wir jetzt im Einzelnen sprechen.
mit zeitlichem Abstand ganz nüchtern miteinander zu (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
schauen, ob wir gesetzgeberischen Änderungsbedarf ha-
ben und welche gegebenenfalls neuen Regeln wir brau- Willkommen im Klub – „Platin-Club“, so nannte das
chen. die CDU in Nordhrein-Westfalen. Damit war systemati-
sche Abzocke gemeint. Pakete wurden geschnürt. Das
Danke fürs Zuhören. Dabeisein bei Veranstaltungen gab es schon für
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 16 000 Euro.
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Ist das ei-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: gentlich einer von der Linken oder von der
Der Kollege Michael Groschek spricht jetzt für die SPD?)
SPD-Fraktion.
Oder man konnte de luxe den „Platin-Club“ buchen.
(Beifall bei der SPD) Dort gab es für 4 000 Euro den Oppositionsführer und
für 6 000 Euro den Ministerpräsidenten, das Schoßsitzen
Michael Groschek (SPD): bei Dr. Rüttgers und die erste Reihe bei Fernsehauftrit-
Sie hätten es wohl gern, meine Kolleginnen und Kol- ten. Diese Haltung verurteilen wir, weil das nach Politi-
legen von Union und FDP, dass wir mit Ihnen durch den kerkauf riecht. Das sagen wir ganz deutlich.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2375
Michael Groschek
(A) (Beifall bei der SPD – Ansgar Heveling [CDU/ Sie erstatten Anzeige gegen die Aufklärer und versu- (C)
CSU]: Das gab es früher schon!) chen, die Staatsanwaltschaft zu missbrauchen.
Sie müssten nicht das Grundgesetz zitieren – das ist (Beifall bei der SPD – Thomas Strobl [Heil-
keine Rezitierstunde –, bronn] [CDU/CSU]: Jetzt schreit er schon wie-
der so!)
(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Es
schadet Ihnen nicht, wenn Sie nachlesen, was – Herr Strobl, Sie werden mich nicht mundtot machen. –
im Grundgesetz steht!) Die Perspektive ist, dass Sie einen Überschwappeffekt
organisieren wollen, nach dem Motto: Wenn die Staats-
sondern Sie müssten gemeinsam mit uns anerkennen, anwaltschaft ermittelt, muss etwas schiefgelaufen sein.
dass immer gewiss sein muss, dass der Wert der Politik
in einer Demokratie keinen Preis hat. Der Wert von Poli- (Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Gott
tik darf keinen Preis haben. sei Dank geht Ihre Redezeit zu Ende!)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Diejenigen, die sich dann noch trauen, einen Skandal
auch einen Skandal zu nennen, sollen kriminalisiert und
Das ist der Punkt. Deshalb haben Sie die politische Kul- weichgekocht werden. Auch das werden wir nicht mit
tur ins Abseits geschoben und durch politische Deka- uns machen lassen.
denz ersetzt. In diesem Zusammenhang ist Dekadenz der
richtige Begriff. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN)
(Beifall bei der SPD – Thomas Strobl [Heil-
bronn] [CDU/CSU]: Warum schreien Sie ei- Eine letzte Anmerkung: Dr. Rüttgers verfährt als Chef
gentlich so? Ihr Hochdruck steht im Zusam- des Rüttgers-Klubs nach dem Prinzip „Er duckt sich, er
menhang mit der Heuchelei, die Sie drückt sich, er opfert die Lämmer und schweigt“. Das ist
fabrizieren!) eines Ministerpräsidenten, eines Landes- und stellvertre-
tenden Bundesvorsitzenden unwürdig.
– Herr Strobl, ich habe das Gefühl, dass Sie sonst nicht
zuhören. (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Ihr
Beitrag ist des Parlaments unwürdig!)
Sie haben nämlich einen Baden-Württemberger ver-
gessen, dessen Person höchstspannend ist. Er spielt im- Wir erwarten, dass er sich stellt und aufklärt und dass er
mer wieder – nach dem Motto „Willkommen im Klub“ – nicht andere vorschiebt, die die Suppe auslöffeln sollen.
eine unrühmliche juristische Rolle. Es ist der hochge- Das ist der Maßstab für einen Ministerpräsidenten.
(B) schätzte Professor Lenz, einer der Ihren. Den kennen wir Auch Bundestagspräsident Lammert ist in besonderer (D)
schon aus der Kohl’schen Spendensumpfpraxis.
Weise gefordert. Er hat mit Blick auf die NRW-CDU-
(Joachim Poß [SPD]: Aus Schwarze-Kassen- Praxis gesagt: „Selten dämlich.“ Das ist richtig, aber das
Zeiten!) reicht nicht als Beurteilung. Warum? Gerade er, der oft
Gast und Teilnehmer dieser dubiosen Verkaufsveranstal-
Schon damals hat er versucht, den Bundestagspräsiden- tungen war, müsste das größte Interesse an schnellst-
ten Wolfgang Thierse mundtot zu machen. Er hat sich möglicher Aufklärung haben. Deshalb appellieren wir an
bei jeder gerichtlichen Auseinandersetzung eine Nieder- die Politiker- und Parlamentarierehre von Norbert
lage abgeholt. Heute ist ausgerechnet dieser Professor Lammert: Sorgen Sie dafür, dass schnellstmöglich auf-
Lenz der angebliche Kronzeuge und Gutachter dafür, geklärt wird. Die Dunkelmänner in Düsseldorf müssen
dass die Vorgänge in der CDU in Nordrhein-Westfalen enttarnt werden. Das ist das Gebot der Stunde.
nicht zu beanstanden sind. Ein Freibrief dieses Mannes
ist das beste Vorverurteilungsinstrument, das man sich (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
nur vorstellen kann. So sieht es doch aus. der LINKEN – Thomas Strobl [Heilbronn]
[CDU/CSU]: Wer so schreit, hat unrecht! –
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Das war eine
LINKEN) linke Rede! Vorbereitung der rot-roten Koali-
Zu einem anderen Thema: Aus den Opfern Täter ma- tion in NRW!)
chen, mit diesem System versuchen Sie, durchzukom-
men. Das war in Nordrhein-Westfalen wieder zu besich- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
tigen. Nach der Videoüberwachungsaffäre wurde nicht Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Stefan Ruppert von
etwa untersucht, wer in der Arbeitsteilung Staatskanzlei/ der FDP-Fraktion.
Parteizentrale CDU dafür verantwortlich ist,
(Beifall bei der FDP)
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Sie meinen
die SPD-Videokonferenz, oder?)
Dr. Stefan Ruppert (FDP):
sondern das Landeskriminalamt wurde dafür miss- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
braucht, die Gewissensnöte des Informanten zu krimina- ren! Meine Kolleginnen und Kollegen von der SPD,
lisieren. Das war Ihr Ansatz. Auch aktuell geht es nicht welch gesteigertes Interesse Sie an einer sachlichen Ar-
darum, dass Sie per Selbstanzeige bekennen, beim Miet- gumentation haben, zeigt schon die Auswahl Ihrer Red-
kauf von Dr. Rüttgers gefehlt zu haben. Im Gegenteil: ner. Sie stellen den Generalsekretär der im Wahlkampf
2376 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Dr. Stefan Ruppert


(A) befindlichen SPD NRW hier auf, der mit großer Laut- Wie gesagt: Es ist völlig richtig, dass man Staatsamt (C)
stärke fleißig auf die an den Vorgängen der vergangenen und Parteienfinanzierung nicht vermischen darf. Wenn
Wochen Beteiligten einhackt, ohne eine einzige sachli- wir schon genauer fragen, dann würden wir hier gerne
che Äußerung zu dem Thema zu machen, die uns in der auch noch einige andere Fragen stellen wollen, etwa, wie
Sache irgendwie weiterbringen könnte. es mit den Einnahmen aus den Medienimperien der SPD
aussieht.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Ingo
Wellenreuther [CDU/CSU]: Wenig Inhalt! – (Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Gutes
Joachim Poß [SPD]: Jeder Satz stimmte! Jeder Thema! – Joachim Poß [SPD]: Das hat mit
Satz saß!) dem Thema überhaupt nichts zu tun! Nur ab-
lenken!)
Uns ist eine sachliche Diskussion wichtig – manch
heuchlerisches Wort ist hier schon gefallen –, die dazu Was kosten denn Anzeigen in der WAZ? Wer schaltet
führen könnte, dass wir die Transparenz als oberstes Ge- sie? Welche politischen Unterstützer werden so indirekt,
bot der Parteienfinanzierung weiter stärken. Eine sachli- anstelle von Mieten und Ständen auf Parteitagen, an der
che Diskussion ist notwendig und nicht solch billige und Parteienfinanzierung beteiligt? Es ist doch so: Sie erzie-
kleine Münze im Vorfeld von Wahlen, die uns am Ende len aus den Unternehmensbeteiligungen mehr Einnah-
alle in unserer demokratischen Legitimation beschädi- men als die FDP an Spenden.
gen wird. (Beifall bei der FDP – Burkhard Lischka
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) [SPD]: Darum geht es doch gar nicht! –
Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Hört!
Warum warten Sie denn nicht ab, was Herr Lammert Hört! Da lacht die Frau Schatzmeisterin und
zu dem Vorgang sagt? Er hat eine Prüfung angekündigt. freut sich über die Kohle! – Gegenruf der Abg.
Frau Merkel hat sich ebenfalls geäußert. Am Ende dieser Dr. Barbara Hendricks [SPD])
Prüfung wird ein ganz sachliches Ergebnis stehen. Die-
ses Vertrauen habe ich. Dann können wir uns darüber Ich habe Herrn Hunzinger und den damaligen Schatz-
unterhalten, was wir damit machen. meister der Grünen gefragt, warum Joschka Fischer da-
mals nicht 20 000 Mark annahm. Herr Hunzinger sagte:
(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Ge- 19 999 Mark sollten es sein, damit es unterhalb der
nau!) Grenze ist. Der Schatzmeister der Grünen hat das indi-
Wir als FDP würden gerne mit Ihnen ins Gespräch rekt bestätigt. Hören Sie also auf, im Glashaus sitzend
kommen, aber, wie gesagt, in einer anderen Tonlage. mit Steinen auf andere zu werfen.
(B) Eine so aufgeheizte Atmosphäre erschwert das. Was Sie (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Wir sitzen (D)
machen wollen, ist, pure Symbolpolitik an die Stelle von nicht im Glashaus! Wir machen ordentliche
sachlichen Lösungen zu setzen. Wirtschaftstätigkeit! Wir sind nicht auf Spen-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten den angewiesen!)
der CDU/CSU) – Seien Sie beruhigt, Sie waren in dieser Frage gar nicht
Die Parteienfinanzierung in Deutschland ist im inter- angesprochen; bei Ihnen war ich vorhin.
nationalen Vergleich rigide. Wir wollen – das hat Herr Es wäre aber auch interessant zu wissen, wie etwa die
Buschmann richtigerweise gesagt – keine Staatsparteien, Abwrackprämie mit Parteispenden von Automobilkon-
sondern die klassischen, gesellschaftlich getragenen Par- zernen an Sie zusammenhängt. Diese Punkte werfen Sie
teien als Mittler von politischer Willensbildung aus der uns immer vor, stehen aber bei Ihnen genauso im Raum.
Mitte der Gesellschaft. Wenn der Pulverdampf etwas verraucht ist, sollten wir
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten zur sachlichen Diskussion zurückkommen.
der CDU/CSU) (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Fangen Sie an damit!)
Nur durch solche Parteien – das möchte ich Ihnen noch
einmal sagen – sind breite Bevölkerungskreise hier ver- Am Ende meiner Rede noch etwas zu den Linken.
treten. Sie schaffen es, die Verbindung zwischen Staat Herr Buschmann hat zum SED-Parteivermögen schon
und Gesellschaft herzustellen. das Nötige gesagt.
Wenn wir uns nun fragen, wie wir mit Sponsoring (Zuruf der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [DIE
umgehen wollen, dann müssen wir auch einmal klarstel- LINKE])
len: Das steht heute schon in jedem Rechenschaftsbe-
Sie legen solch eine Intransparenz an den Tag, dass Sie
richt einer Partei. Tun Sie bitte nicht so, als ob wir die
sich ja noch nicht einmal trauen, ein Programm aufzu-
Dinge nicht aufführen würden. Das macht jeder: die
schreiben.
Grünen, die SPD, die Linken, die FDP und die CDU ge-
nauso. (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Quatsch! –
Zurufe von der FDP: Sehr gut!)
(Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Mietkauf des
Ministerpräsidenten hat sowieso nichts mit Wer soll für diesen Irrsinn spenden, von dem keiner et-
Sponsoring zu tun! – Joachim Poß [SPD]: was Genaues weiß? Alle denken, dass die Maske fällt,
Thema verfehlt!) wenn man ein Programm aufschreibt.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2377
Dr. Stefan Ruppert
(A) (Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Guter An- Das würde im Übrigen auch die FDP nicht zulassen, die (C)
satz! – Zuruf der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann mit Sicherheit gelernt hat aus Lambsdorff, Möllemann
[DIE LINKE]) und Rexrodt.
Ein Letztes. Wer, wie am Freitag letzter Woche, den (Beifall bei der LINKEN – Thomas Strobl
kalkulierten Rechtsbruch hier im Parlament plant – Frau [Heilbronn] [CDU/CSU]: Sagen Sie auch noch
Enkelmann, Sie haben gesagt: Ja, wir wissen, das dürfen etwas zur Sache und zum Thema?)
wir nicht, aber manchmal muss man eben zu anderen
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, es hat
Mitteln greifen –,
ja schon postpubertäre Züge, wie Sie hier auf die Linke
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE reagieren.
GRÜNEN]: Herr Möllemann! – Dr. Dagmar (Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN –
Enkelmann [DIE LINKE]: Richtig!) Zuruf von der FDP: Die Pubertät war schö-
der sollte etwas stiller sein, wenn es um Fragen von Mo- ner!)
ral im Umgang von Parteien und Fraktionen untereinan- Ich habe Ihnen das letzte Mal gesagt – das wüssten Sie,
der geht. würden Sie zuhören –, was mit dem SED-Vermögen ge-
Vielen Dank. schehen ist. Ich nenne zwei Daten: 31. August 1991,
sämtliche Konten gesperrt; 18. Juli 1995, Vergleich mit
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) der Kommission zur Überprüfung des Vermögens der
Parteien.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
(Marco Buschmann [FDP]: Gab es schwarze
Das Wort hat jetzt die Kollegin Halina Wawzyniak Konten oder nicht?)
von der Fraktion Die Linke.
Was unser Programm angeht, da zweifle ich an Ihren
(Beifall bei der LINKEN) Lesefähigkeiten; denn wir haben eines. Im Übrigen hat
ziviler Ungehorsam diesem Parlament noch nie gescha-
Halina Wawzyniak (DIE LINKE): det.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Als ich vor einem halben Jahr in den Bundestag ge- (Beifall bei der LINKEN – Thomas Strobl
wählt wurde, hätte ich nicht gedacht, dass ich hier so [Heilbronn] [CDU/CSU]: So haben die Extre-
häufig reden muss, men immer argumentiert!)

(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Ich Nun kommen wir noch einmal zum Sponsoring. Die-
(B) ses ist im Parteiengesetz mit seinen Publikationspflich- (D)
hätte auch nicht gedacht, dass ich Sie so häufig
ten tatsächlich nicht vollständig geregelt. Dennoch sind
ertragen muss!)
die Leistungen des Sponsors steuerlich absetzbar und für
und das nur, weil ältere Herren zu blöd sind, mit Geld ihn aufgrund der Werbewirksamkeit durchaus attraktiv.
umzugehen. „Sponsoring ist“, so hat Professor Martin Morlok formu-
liert, „eine praktisch bedeutsame Form der Parteien-
(Beifall bei der LINKEN) finanzierung“. Es ist aus Sicht der CDU eine durchaus
Herr Wellenreuther, man sollte vielleicht etwas mehr zauberhafte Variante, ihre politisch fragwürdigen Ma-
lesen als Überschriften. Ich verstehe ja, dass Sie ein Pro- chenschaften zu betreiben, ohne die in Verruf geratenen
blem mit der Gründung der neuen Linken haben. Parteispenden zu nutzen. Im Übrigen ist es mir völlig
wurscht, ob die Ministerpräsidenten von NRW und Sach-
(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Das sen, Rüttgers und Tillich, käuflich und daher als Landes-
ist die alte SED!) väter nicht tragbar sind oder ob sie nicht wissen, was ihre
Das, was Sie angesprochen haben, war eine Unterstüt- Partei hinter ihrem Rücken veranstaltet. Am Ende gilt nur
zung des Wahlkampfes der WASG, weil die Linke nicht eines – der Bundestagspräsident hat recht –: Es ist selten
angetreten ist. Dies war im Rechenschaftsbericht der dämlich.
WASG nicht aufgeschrieben worden. Machen Sie daraus (Beifall bei der LINKEN)
keinen Skandal.
Diese Art der Parteienfinanzierung ist nur ein Teil des
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Ingo Puzzles aus Geld, Macht und Politik. Abgeordnetenbe-
Wellenreuther [CDU/CSU]: War es ein Ver- stechung und Lobbyismus, Sponsoringleistungen an die
stoß, oder war es kein Verstoß?) Bundestagsverwaltung, die Entsendung von Mitarbeite-
rinnen und Mitarbeitern großer Unternehmen und Ver-
Nun will ich aber nicht – ich bin ja ein freundlicher
bände in die Ministerien – das alles macht das Puzzle
Mensch – mit gleicher Münze zurückzahlen. Deswegen
komplett.
will ich der in Verruf geratenen CDU jetzt nicht voller
Misstrauen unterstellen, sie setze das Sponsoring zur Es ist genau dieses Puzzle, das zu Parteienverdrossen-
Umgehung des Parteiengesetzes absichtsvoll ein. Nie- heit, Politikverdrossenheit und letztendlich zu Demokra-
mals. Es wäre ja absurd, anzunehmen, dass ausgerechnet tieverdrossenheit führt.
Sie so handeln würden wie Kohl, Koch und Kanther.
(Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Alles Krokodils-
(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN) tränen!)
2378 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Halina Wawzyniak
(A) Die Menschen haben nämlich das Gefühl: Nicht die Ab- Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): (C)
gabe der Stimme bei der Wahl ist entscheidend. Viel- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
mehr ist es so: Wer Geld hat, kommt an die Mächtigen in Kolleginnen und Kollegen! Ich wollte nur etwas Zeit
Politik und Staat heran und kauft sich die entsprechen- sparen.
den politischen Entscheidungen einfach. (Zuruf von der SPD: Ja, ja! Dass Sie dieses
(Helmut Brandt [CDU/CSU]: Ja, ja! Das war Thema schnell erledigen wollen, glaube ich Ih-
früher ganz anders!) nen sofort!)
Ich glaube, es ist durchaus sachgerecht, darauf zu ach-
Der Gedanke der Repräsentation in unserem politischen ten, dass unsere Debatten, auch wenn sie dadurch quali-
System wird damit ad absurdum geführt. Aber Sie stel- tativ teilweise vielleicht nicht sehr hochwertig sind, zü-
len sich hierhin und beklagen ernsthaft, dass die Leute gig durchgeführt werden.
nicht mehr zur Wahl gehen. Meinen Sie denn im Ernst,
die lassen sich von Ihnen an der Nase herumführen? Für Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich
wie dumm halten Sie die Menschen eigentlich? glaube, es wäre zunächst einmal ratsam, in dieser Ange-
legenheit die politische Dimension von der rechtlichen
(Beifall bei der LINKEN – Marco Buschmann Dimension zu trennen. Was die politische Dimension an-
[FDP]: Nicht für so dumm, dass sie das Zeug, belangt, möchte ich gar nicht verhehlen, dass die Schrei-
das Sie erzählen, glauben! – Dr. Stefan Ruppert ben der CDU-Landesgeschäftsstellen in Nordrhein-
[FDP]: Wahlpflicht wie in der DDR!) Westfalen und Sachsen, um die es geht, durchaus un-
glücklich formuliert sind.
Die Linke hat in der letzten Legislaturperiode einen
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
Gesetzentwurf eingebracht, mit dem der Tatbestand der
GRÜNEN]: Das ist aber sehr milde! – Gegen-
Abgeordnetenbestechung an das internationale Niveau ruf des Abg. Thomas Strobl [Heilbronn]
angeglichen werden sollte. [CDU/CSU]: Die SPD und die Grünen ma-
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE chen es aber nicht besser!)
GRÜNEN]: Wir auch!) Allerdings möchte ich auch deutlich zum Ausdruck
bringen, dass man sich gerade angesichts der heutigen
Abgelehnt! Die Linke hat in der letzten Legislaturperiode Debatte des Eindrucks nicht erwehren kann, dass es Ih-
einen Antrag eingebracht, um ein Lobbyistenregister nen von den Oppositionsfraktionen nicht darum geht,
einzuführen. moralischen Grundsätzen in der Politik zum Durchbruch
zu verhelfen
(B) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (D)
GRÜNEN]: Alles unsere Anträge!) (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Ach so?)
Abgelehnt! Wenn Sie das, was Sie sagen, ernst meinen,
dann stimmen Sie diesem Gesetzentwurf bzw. Antrag, oder die politische Kultur in Deutschland zu verbessern,
die wir erneut einbringen werden, einfach zu. sondern dass es Ihnen in heuchlerischer und pharisäi-
scher Art und Weise
(Beifall bei der LINKEN) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Na, na!)
Meine Damen und Herren, Repräsentation bedeutet
nicht nur Stellvertretung, sondern auch das Sichtbarma- um genau das Gegenteil geht.
chen von Unsichtbarem, also Transparenz. Wir brauchen
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
ein System der öffentlichen Finanzierung mit vollständi-
GRÜNEN]: Zu uns ist er so streng, aber bei
ger Transparenz. Wir brauchen eine Kontrollinstanz, die den eigenen Sünden so milde!)
durch gesetzliche Sanktionsmöglichkeiten gestützt wird.
Transparenz verlangt auch eine systematische Berichter- Sie haben das Ziel, den Eindruck zu erwecken, dass die
stattung und Rechnungsprüfung. Kontrolle erfordert eine politische Klasse in Deutschland insgesamt korrupt, be-
starke Instanz, ausgestattet mit ausreichenden gesetzli- stechlich und käuflich ist.
chen Vollmachten, um zu überwachen und gegebenen- (Gabriele Fograscher [SPD]: Das hat keiner
falls auch einen Staatsanwalt einschalten zu können. gesagt!)
Wenn wir das alles machen, dann sind wir einen Schritt
weiter. Alles, was dahinter zurückbleibt, führt weiterhin Damit erweisen Sie der politischen Kultur in Deutsch-
zu Politikverdrossenheit und damit auch zu einer gerin- land einen Bärendienst.
geren Wahlbeteiligung. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Oh nein!
Das machen Sie! – Dr. Dagmar Enkelmann
(Beifall bei der LINKEN) [DIE LINKE]: Das haben Sie ja wohl getan! –
Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: GRÜNEN]: Das ist die Methode: Haltet den
Das Wort hat der Kollege Stephan Mayer, den ich Dieb!)
bitte, erst dann ans Podium zu kommen, wenn er aufge- Indem Sie vom Mieten eines Ministerpräsidenten und
rufen ist. – Bitte schön, Sie haben das Wort. von korrupten Politikern sprechen, versuchen Sie genau
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2379
Stephan Mayer (Altötting)
(A) das Gegenteil dessen, was, wie ich glaube, das Ziel in (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE (C)
diesem Hause sein sollte. Wir sollten nämlich versuchen, GRÜNEN]: Ja! Nachdem es in der Zeitung
den Eindruck zu vermeiden, wir seien wirklich käuflich. stand! – Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Selten
dämlich war das! – Iris Gleicke [SPD]: Peinli-
(Joachim Poß [SPD]: Herr Kollege, Sie dürfen
che Erklärungen waren das! – Alexander
nicht Ursache und Wirkung verwechseln!)
Ulrich [DIE LINKE]: Zurücktreten müssen
Das Gegenteil ist nämlich der Fall. sie!)
Die meisten Abgeordneten – ich kann dies zumindest Ich stelle auch in aller Deutlichkeit fest: Weder Minis-
für die Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion bestätigen – terpräsident Rüttgers noch Ministerpräsident Tillich ist
nehmen sich tagein, tagaus in kleinteiliger und teilweise käuflich.
mühevoller Arbeit der Sorgen und Nöten der Bevölke-
rung an. Sie nehmen an Veranstaltungen teil, ob hier in (Joachim Poß [SPD]: Woher wissen Sie das?
Berlin oder in ihrem Wahlkreis, Haben Sie mit denen gesprochen?)
(Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Das machen Ebenso ist aus dieser Rücknahme der Sponsoringange-
wir auch!) bote kein wie auch immer geartetes Schuldeingeständnis
hören sich die Nöte an, zu konstruieren. Es wäre, meine sehr verehrten Kollegin-
nen und Kollegen, auch rundweg naiv, anzunehmen,
(Joachim Poß [SPD]: Darum geht es ja gar dass große politische Weichenstellungen, dass politische
nicht!) Grundentscheidungen durch ein kurzes Gespräch mit
seien es die Nöte der Bürgerinnen und Bürger, seien es dem Ministerpräsidenten an einem Stand eines Parteita-
die Nöte der Wirtschaft, ges oder am Rande einer Parteiveranstaltung beeinflusst
würden.
(Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Das alles ma-
chen wir auch! Aber wir nehmen kein Geld da- (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Hotelüber-
für!) nachtung!)
und all das – um auch das zum Ausdruck zu bringen – Ich möchte aber insbesondere noch auf die rechtliche
ohne Geld von den Bürgern zu nehmen. Dimension dieser Angelegenheit eingehen. Der Bundes-
tagspräsident prüft jetzt, ob ein Verstoß gegen das Partei-
(Joachim Poß [SPD]: Was ist los? –
engesetz vorliegt. Die dafür nötige Zeit sollte er sich
Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das
meines Erachtens auch nehmen. Ich weise auch, lieber
wäre ja wohl noch schöner! – Gabriele Herr Maurer, in aller Deutlichkeit darauf hin: Hier geht (D)
(B) Fograscher [SPD]: Das ist doch eine Selbst-
Qualität ganz klar vor Eilbedürftigkeit.
verständlichkeit! – Hans-Christian Ströbele
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sprechstun- (Joachim Poß [SPD]: Das versteht sich! Alles
den ohne Bezahlung? Und das bei Ihnen?) nach dem 9. Mai!)
Wir werden ordentlich bezahlt; über unsere Bezahlung Es ist vollkommen verfehlt, anzunehmen, es ginge hier
dürfen wir uns nicht beschweren. Diese kleinteilige, mü- darum, die Zeit bis zur Nordrhein-Westfalen-Wahl am
hevolle und sehr redselige Arbeit vieler Politiker auf 9. Mai abzuwarten. Wir setzen hier auf Qualität, auf eine
Bundes- und Landesebene wird durch die pauschale Kri- sorgfältige und intensive Prüfung.
tik, die Sie zum Ausdruck bringen, eindeutig diskredi-
tiert. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Aber zügig!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Am Ende dieser Prüfung werden wir mit Sicherheit auch
GRÜNEN]: Nein! Nicht dadurch, sondern in diesem Haus darüber zu debattieren haben, ob es not-
durch Herrn Rüttgers und Herrn Tillich! – wendig ist, das Parteiengesetz zu novellieren. Vor ei-
Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das nem warne ich in aller Offenheit, nämlich vor falschem
sind Fakten! – Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Aktionismus in der Form, jetzt vorschnell etwa das Par-
Das war nicht pauschal! Wir haben zwei CDU- teiengesetz novellieren zu wollen und die Regelungen
Ministerpräsidenten genannt! – Joachim Poß der Parteienfinanzierung, die sich aus meiner Sicht in
[SPD]: Genau! Es geht um Rüttgers und den letzten Jahren wirklich bewährt haben, über Bord
Tillich!) werfen und diese auf neue Beine stellen zu wollen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, den CDU- Wir sind in den letzten 60 Jahren gut damit gefahren,
Landesvorsitzenden in Nordrhein-Westfalen und Sach- dass wir in Deutschland keine staatsfinanzierten Parteien
sen, dem Kollegen Rüttgers und dem Kollegen Tillich, hatten, und ich möchte dies beileibe auch nicht. Meine
ist hoher Respekt zu zollen, sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der Links-
(Joachim Poß [SPD]: Was ist los?) partei, das gab es ja leider in der DDR, dass alle Parteien
am Tropf des Staates hingen.
und zwar dafür, dass sie umgehend und unverzüglich ge-
handelt, die Angebote des Sponsorings sofort zurückge- (Burkhard Lischka [SPD]: Darum geht es doch
nommen und diese Vorgehensweise eingestellt haben. gar nicht!)
2380 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Stephan Mayer (Altötting)


(A) Ich möchte nicht, dass die Parteien am Tropf des Staates (Helmut Brandt [CDU/CSU]: Aber noch nicht (C)
hängen. Es ist wichtig – auch das Bundesverfassungsge- genug!)
richt hat in vielen Entscheidungen darauf hingewiesen –,
dass es eine Staatsfreiheit der Parteien gibt, dass die Par- über Geld, das manchmal eben doch gewaltig zum Him-
teien, indem sie sich um Spenden und Unterstützung be- mel stinkt. Vieles davon hat sich mittlerweile auch in
den Köpfen der Bevölkerung festgesetzt, so etwa der
mühen müssen, sich natürlich auch attraktiv gestalten
Vorwurf der schamlosen Klientelpolitik. Viele Bürgerin-
und das Band zwischen sich und der Bevölkerung erhal-
nen und Bürger meinen seit den Mövenpick-Spenden
ten müssen.
tatsächlich, dass Politik in diesem Land käuflich ist. Das
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE ist ein fataler Eindruck; er schadet unserer Demokratie.
GRÜNEN]: Heute geht es ja gar nicht um Aber dafür trägt Schwarz-Gelb die Verantwortung.
Spenden, sondern um Sponsoring!)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Der Erhalt dieses Bandes ist ganz entscheidend, und des- der LINKEN)
wegen warne ich in aller Deutlichkeit davor, jetzt auf- Das, was wir seit den Mövenpick-Spenden erlebt ha-
grund dieses Sachverhalts, der bisher in keiner Weise als ben, ist noch nicht genug gewesen. Wir haben außerdem
irgendwie rechtswidrig deklariert wurde, erlebt, dass sehr viel mehr zwischen Himmel und Erde
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE bzw. zwischen Ruhr und Elbe zum Himmel stinkt: Mi-
GRÜNEN]: Doch, doch, doch! Das steht jetzt nisterpräsidenten werden durch ihre Parteiapparate zum
schon im Parteiengesetz! Das sehen Sie Geldanschaffen geschickt – Rent a Rüttgers, Politik am
falsch!) Wühltisch –, und das alles interessanterweise auch noch
zu Ost-West-Regelsätzen: In Sachsen kostet ein
die Regelungen unserer Parteienfinanzierung komplett Schwätzchen mit dem Ministerpräsidenten 4 000 Euro,
über Bord werfen zu wollen. während Sie im reicheren Nordrhein-Westfalen mindes-
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE tens 6 000 Euro berappen müssen. Rüttgers und Tillich
GRÜNEN]: Es fordert keiner, das über Bord sind begehrte Mietobjekte und nur im Nebenberuf Mi-
zu werfen!) nisterpräsident, denken viele Menschen in diesem Land
inzwischen.
Deswegen sollten wir die Überprüfung durch den Bun-
destagspräsidenten in aller Ruhe abwarten und dann, (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
wenn wieder Sachlichkeit und Nüchternheit eingekehrt LINKEN)
sind, die Angelegenheit bei Lichte betrachten, Das muss bei all den Nebelkerzen, die heute gezündet
(B) (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE wurden, deutlich als das benannt werden, was es ist: Das (D)
GRÜNEN]: Hauptsache, alles vor der Land- ist politisch katastrophal, das ist moralisch verwerflich,
tagswahl!) und das ist ein Verstoß gegen das Parteiengesetz. Es ist
deshalb schlicht und einfach illegal.
wenn sich der gesamte Rauch verzogen hat.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Ich danke für die Aufmerksamkeit. der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP) Eines hat Schwarz-Gelb in den ersten Monaten dieser
Bundesregierung geschafft: Das Thema Parteienfinan-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: zierung hat wieder Hochkonjunktur wie zum Ende der
Das Wort hat der Kollege Burkhard Lischka von der Kohl-Ära mit schwarzen Kassen und dem bösen Begriff
SPD-Fraktion. der gekauften Republik. Meine Damen und Herren von
den Regierungsfraktionen, ich frage Sie: Wollen Sie al-
(Beifall bei der SPD) len Ernstes da nahtlos anschließen, wo Sie Ende der
90er-Jahre aufgehört haben? Das wäre eine ganz selt-
Burkhard Lischka (SPD): same Kontinuität.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Kolleginnen und Kollegen von der Union, wenn ich Sie
heute hier so von „redseliger Arbeit“ und „Transparenz“ Verstehen Sie mich nicht falsch: Es ist nichts Anrü-
reden höre, dann kommen Sie mir so vor wie der Verein chiges dabei, wenn jemand einer Partei etwas spendet.
„Gib Gummi“, der sich auf einmal für Tempo-30-Zonen Das tun viele Menschen erfreulicherweise, und das ist
einsetzt, nur weil es den Vereinsvorsitzenden aus der vollkommen in Ordnung. Es wäre falsch, wie der Kol-
Kurve getragen hat. lege Maurer das gefordert hat, Sponsoring generell zu
verdammen. Wer das tut, verfehlt den Kern des Themas.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Es ist überhaupt nichts dagegen zu sagen, wenn der hei-
mische Bäckermeister zum Sommerfest der Linken oder
Sie haben hier einen Haufen Nebelkerzen gezündet. Ich
der CDU oder der SPD Brötchen mitbringt oder Grill-
sage einmal als Neuling hier im Deutschen Bundestag:
kohle sponsert.
In diesen fünf Monaten habe ich wirklich vieles lernen
müssen: über Hotellobbyisten, über Mövenpick-Spen- Mit dem Täuschen und Tricksen, damit muss Schluss
den, sein.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2381
Burkhard Lischka
(A) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Helmut Brandt (CDU/CSU): (C)
Und es muss Schluss sein mit Kopplungsgeschäften, die Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
nach dem Motto laufen: Zahl was, dann leiht dir der ge- Herren! Dass uns heute diese Debatte beschert wird,
wählte Ministerpräsident sein Ohr. Solche Kopplungsge- folgt einem gewissen System – insbesondere der Linken,
schäfte sollte man in der Politik nicht einmal mit spitzen im Augenblick aber wohl der gesamten Opposition –,
Fingern anfassen. nämlich dem System, Sachverhalte zu skandalisieren.
Anders als es der Titel dieser Aktuellen Stunde sugge-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) riert, wird die Glaubwürdigkeit der Politik durch solch
eine Handhabung gerade nicht gefördert. Das Gegenteil
Es geht um nicht weniger als um die Grundregeln der
ist der Fall.
Demokratie: dass jeder Bürger, unabhängig von Status
oder Geldbeutel, die gleiche Chance auf Einfluss und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Mitsprache hat; dass der gewählte Landesvater auch dem neten der FDP – Hans-Christian Ströbele
sein Ohr leiht, der nicht mit einem dicken Bündel Geld- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wollen
scheine kommt. das wohl unter den Tisch kehren! Das geht
aber nicht!)
Gespräche gegen Geld sind nur der Anfang. Wer Geld
zahlt, erwartet eine Gegenleistung. Meine Damen und Ich persönlich – ich denke, die meisten Redner haben
Herren von den Regierungsfraktionen, ich glaube, Sie diese Auffassung bestätigt – halte die Spenden- und
haben noch nicht verstanden, dass es in einer Demokra- Sponsoringpraxis der Parteien generell für angemessen.
tie keine Grauzone zwischen Geldzuwendung und Ein- Sie ist erforderlich, und sie entspricht im Übrigen den
flussnahme geben darf; dass gewählte Ministerpräsiden- Vorschriften des Parteiengesetzes.
ten ihre Zeit nicht verscherbeln und damit den Eindruck
erwecken dürfen, dass Politik in diesem Land käuflich (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
wäre. GRÜNEN]: Na!)

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Nach § 24 Abs. 4 – Herr Ströbele, Sie schütteln den
LINKEN) Kopf; es ist dennoch so – müssen Spenden von Personen
und Firmen ausgewiesen und Einnahmen aus Veranstal-
Ich habe den Eindruck, dass nach fünf Monaten tungen im Rechenschaftsbericht dargestellt werden.
Schwarz-Gelb die politischen Sitten wieder einmal ver-
lottern, zumindest an Rhein, Ruhr und Elbe. Das werden (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
wir Sozialdemokraten Ihnen nicht durchgehen lassen. GRÜNEN]: § 25 Abs. 2! Schauen Sie mal
nach!)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
(B) Nichts wird verschleiert. Es gibt auch nichts zu ver- (D)
Wir begrüßen nachdrücklich, dass der Bundestagsprä- schleiern.
sident in diesen Vorgängen ermitteln will. Ich sage aber:
Er muss schnell ermitteln, er darf das nicht auf die Zeit Sie können gerne unsere Parteitage besuchen,
nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen ver- (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Um
schieben. Gottes willen!)
(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]:
was viele Leute, auch unabhängige, gerne tun. Dann
Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit, Herr
können Sie sehen, wer da als Sponsor auftritt. Die
Kollege!)
Stände sind genau zu erkennen, und sie sind im Pro-
Dieses Thema darf man nicht auf die lange Bank schie- gramm auch alle benannt. Es gibt keine Heimlichtuerei
ben. oder Verschleierung.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich gebe zu: Es gibt einen Punkt, bei dem die Grenze
überschritten ist.
Dadurch würde man die Politikverdrossenheit vergrö-
ßern. Irgendwann werden die Bürger uns dann sagen, (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
dass wir den Bundesadler besser durch eine Möwe erset- GRÜNEN]: Aha!)
zen – das wäre der Anfang vom Ende.
Das ist nämlich zweifellos dann der Fall, wenn ein Mi-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nisterpräsident oder ein Minister gegen Bezahlung sozu-
der LINKEN – Ingo Wellenreuther [CDU/ sagen angeboten wird; das ist ganz klar.
CSU]: Lieber Gott, war das ein Bild! –
Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Was (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
ist das denn für ein Vogel?) GRÜNEN]: Also doch! Verstoß gegen Partei-
engesetz!)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: – Herr Ströbele, Sie müssen mich zu Ende reden lassen.
Als letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde hat der Das haben Sie doch auch für sich immer in Anspruch ge-
Kollege Helmut Brandt von der CDU/CSU-Fraktion das nommen.
Wort.
(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Las-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und sen Sie sich doch von dem Straftäter nicht un-
der FDP) terbrechen!)
2382 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Helmut Brandt
(A) – Das stimmt zwar auch, aber ich möchte ihm doch wei- sche Bahn kofinanziert hat, und darf an dieser Stelle ein- (C)
terhelfen. Ich bin ja bei der Resozialisierung. mal Ihren Bundesschatzmeister, Dietmar Strehl, zitieren.
Er hat gesagt: Ich habe keine Probleme damit, so etwas
(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU
mitzumachen, weil es natürlich auf solchen Parteitagen
und der FDP)
eine geniale Gelegenheit gibt. Die Leute kommen alle,
Nachdem dieses Tun bekannt geworden ist, ist es sofort und da kann man Gesprächsmöglichkeiten schaffen. Ich
eingestellt worden. Ich muss ganz offen zugeben – das ist glaube nämlich, das ist eigentlich das Uransinnen der
auch unstreitig –: Eine solche Vermischung zwischen Politik. – Das ist der Originalton Ihres Bundesschatz-
Parteiinteressen und Regierungsämtern darf es nicht ge- meisters.
ben, wird es nicht geben und hat es auch nicht gegeben.
(Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Ist doch okay!)
Das ist nämlich das, was Sie suggerieren wollen.
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE – Sie haben sich hier ja schon oft durch Zwischenrufe
GRÜNEN]: Verstoß gegen das Parteienge- bemerkbar gemacht.
setz!) Ich komme jetzt auch zur SPD. Sie hat ja nun wirklich
Der Ministerpräsident hat solche Gespräche nie ge- ganz erhebliche Einkünfte aus ihren Zeitungsverlagen.
führt, und ich muss Ihnen ganz offen und ehrlich sagen Eben wurde ja schon die mögliche Verknüpfung zwi-
– ich komme ja zum Glück aus Nordrhein-Westfalen –: schen Anzeigen und Annoncen von Unternehmen und
Ich kenne keinen Ministerpräsidenten in diesem Land den SPD-Beteiligungen deutlich gemacht.
wie Jürgen Rüttgers, der täglich das Gespräch mit Bür- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
gern, Betriebsräten, Unternehmen und Verbandsvertre- GRÜNEN]: Es wird Ihnen nicht gelingen, die
tern sucht, um unser Land in diesen schwierigen Zeiten Öffentlichkeit mit Ihrem Stuss zu verwirren!)
nach vorne zu bringen.
Ich will jetzt aber einmal auf den Vorwärts kommen,
(Beifall bei der CDU/CSU) der ja bekanntlich Kamingespräche organisiert. Ehren-
Wenn man über die Glaubwürdigkeit in der Politik gäste, Redner und Gesprächspartner waren die Granden
diskutiert, was Sie ja gerne möchten, dann muss man der SPD. Ich darf aus einem Artikel in Spiegel Online
auch die Frage stellen, ob die staatliche Parteienfinanzie- vom 23. Februar 2010 zitieren, in dem ein regelmäßiger
rung nicht generell einmal überprüft werden sollte und Teilnehmer dieser Kamingespräche zu Wort gekommen
entsprechend geändert werden müsste. Für mich ist es ist und gesagt hat, dass das eben keine sogenannten Kun-
unerträglich, dass vom Verfassungsschutz überwachte denbindungsgespräche sind, sondern dass er das ganz
links- und rechtsextreme Parteien vom Staat Geld erhal- anders erlebt hat: „Man wird nur eingeladen, wenn man
(B) etwas geleistet hat.“ (D)
ten, solange sie nicht verboten werden.
Zur Erhöhung der Glaubwürdigkeit würde es im Üb- Bevor man also mit dem Finger auf andere zeigt – das
rigen auch beitragen – das ist heute ja mehrfach gesagt hat der Herr Kollege Strobl eben schon zu Recht gesagt –,
worden; damit wende ich mich einmal an die Linke –, sollte man wirklich bedenken, dass dann immer auch
endlich einmal offenzulegen, was aus dem aus DDR- drei Finger auf einen selbst gerichtet sind.
Zeiten stammenden Vermögen Ihrer Vorgängerorganisa- Lassen Sie mich am Ende dieser Aktuellen Stunde
tion, der SED, geworden ist. zum Schluss noch Folgendes zusammenfassend ausfüh-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ren: Die Spenden- und Sponsorenpraxis der Parteien ist
der FDP – Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/ – ich habe es zu Beginn gesagt – wegen der Offenheit
CSU]: Das alte Geld aus Moskau! – und aufgrund der Vorschriften des Parteiengesetzes nach
Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das meiner Auffassung kein Grund für eine Diskussion, son-
liegt doch alles da! Unabhängige Parteienkom- dern damit wird im Grunde genommen die Glaubwür-
mission!) digkeit der Politik untermauert. Allerdings sehe ich
schon Fehlentwicklungen, die auf einer Amerikanisie-
Einmal abgesehen davon, dass bei Ihrer politischen Pro- rung der Partei- und Wahlkampffinanzierung basieren.
grammatik in einem freiheitlich-demokratischen Land Diese sollten wir frühzeitig erkennen und auch abstellen.
wahrscheinlich kein Sponsor gefunden wird, kommen Insofern mag diese Debatte doch einen Sinn gehabt ha-
Sie aufgrund dieses Hintergrundes offensichtlich auch ben.
ohne Sponsoren gut aus.
Ich danke Ihnen.
(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]:
Vielleicht gibt Chávez etwas!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Mein Appell an SPD und Grüne geht allerdings auch
dahin, die eigene Praxis einmal zu betrachten und dann Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
öffentlich darzulegen, wie es dort aussieht. Der Kollege Strobl hat einen Zwischenruf gemacht:
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Lassen Sie sich doch von dem Straftäter nicht un-
GRÜNEN]: Ja!) terbrechen!
Herr Ströbele, zu den Grünen. Ich erinnere einmal (Zuruf von der CDU/CSU: Ja, rechtskräftig
beispielhaft an den Parteitag 2004 in Kiel, den die Deut- verurteilt!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2383
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) Das entspricht nicht dem parlamentarischen Sprachge- Wir wissen: Bereits heute sind 70 Prozent aller Inter- (C)
brauch. Sie treten dort dem Kollegen persönlich zu nahe. netnutzer fast jeden Tag online. Das Internet ist für den
Ich rüge diesen Zwischenruf. überwiegenden Teil der Gesellschaft etwas ganz Selbst-
verständliches geworden und findet im Alltag statt. Zu-
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- gleich müssen wir uns klarmachen, dass das Netz eine
NIS 90/DIE GRÜNEN) Welt der verschiedenen Geschwindigkeiten ist: Natür-
Die Aktuelle Stunde ist beendet. lich gibt es eine Avantgarde der Internetnutzer; aber es
gibt auch viele, die das Internet weit weniger nutzen, die
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf: es als Erleichterung des Alltagsgeschäfts sehen, beim
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, Onlinebanking und -shopping, bei Onlinebuchungen
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN oder -recherchen. Es gibt auch diejenigen, die sich mit
klugem Hintergrund für eine Entschleunigung der Da-
Einsetzung einer Enquete-Kommission „Inter- tenflut einsetzen.
net und digitale Gesellschaft“
Allen gemeinsam ist, dass das Netz ein Teil ihres Le-
– Drucksache 17/950 – bens geworden ist. Deshalb müssen wir aufhören, zwi-
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die schen dem wahren Leben und dem virtuellen Leben zu
Linke vor. unterscheiden. Nein, das Internet ist ein Teil des Lebens,
und das schon seit einer ganzen Weile.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es Wider- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
spruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be-
schlossen. Im Internet gelten auch keine anderen Gesetze. Persön-
lichkeitsrechte, Rechte auf Privatsphäre, Selbstbestim-
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- mung und Chancengleichheit gelten hier wie dort. Es ist
ner das Wort dem Kollegen Michael Kretschmer von der eine staatliche Aufgabe, diese Rechte auch im Internet
CDU/CSU-Fraktion. zu garantieren, zu schützen und zu fördern. Das mag im
globalen Netz etwas schwieriger sein, weil die Komple-
(Beifall bei der CDU/CSU)
xität höher ist; aber wir erwarten von dieser Enquete-
Kommission konkrete Anstöße, wie wir bei diesem glo-
Michael Kretschmer (CDU/CSU): balen Medium mittelfristig weltweit zu gemeinsamen
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine En- Standards kommen. Ich glaube, dass die Enquete-Kom-
quete-Kommission soll für die Gesellschaft bedeutende mission „Internet und digitale Gesellschaft“ des Deut- (D)
(B) Entwicklungen unabhängig vom Alltagsgeschäft beleuch-
schen Bundestages auch international wahrnehmbar sein
ten und analysieren. Deswegen ist es wichtig, dass bereits kann, wenn sie gute Vorschläge macht; das wünsche ich
bei der Einsetzung ein breiter Konsens der politischen mir außerordentlich.
Parteien hier im Parlament herrscht. Das ist der Fall. Das
wird für den Erfolg der Arbeit eine große Bedeutung ha- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
ben. Ich freue mich sehr darüber, dass es uns von der bei Abgeordneten der SPD und des Abg.
CDU/CSU gelungen ist, mit den anderen Parteien – nicht Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
nur mit dem Koalitionspartner – Einigkeit darüber zu er- GRÜNEN])
zielen, dass eine Enquete-Kommission zum Thema „In-
Wir wissen, dass Suchmaschinen immer intelligenter
ternet und digitale Gesellschaft“ notwendig ist, weil sich
in unserer heutigen Zeit in der Tat sehr vieles verändert. werden und gewaltige Sammlungen privater Daten orga-
nisieren. Auch hier brauchen wir besondere internatio-
Wir sollten zu den 17 Sachverständigen, die in Zu- nale Regeln für den Datenschutz. Ich wünsche mir, dass
kunft in dieser Enquete-Kommission mitarbeiten wer- wir dies zu einem zentralen Thema der Enquete-Kom-
den, einen 18. Sachverständigen gedanklich hinzuneh- mission machen.
men: den sachverständigen Bürger.
Hinzu kommt, dass jeder Mensch selbst für die Daten
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) verantwortlich ist, die er ins Netz einstellt und anderen
Wir wollen bei dieser Enquete-Kommission eine breite zur Verfügung stellt. Aus diesem Grund muss die Me-
Partizipation. Ich halte es – auch im Hinblick auf die Ak- dienkompetenz ein großes Thema sein. Wir müssen früh
zeptanz und das Ergebnis der Arbeit der Enquete-Kom- und intensiv schulen, wie man mit diesem Medium um-
mission – für ganz wichtig, dass die Bürger mitgestalten geht. Wir können die Komplexität des Internets nicht
können. Wir wünschen uns, dass die Bundestagsverwal- verändern, aber wir müssen vermitteln und lehren, wie
tung diesen Gedanken offensiv aufgreift, dass es eine man mit dieser Komplexität umgeht, damit man sich im
breite Diskussion in Blogs, Foren und auf andere Art Internet genauso sicher bewegen kann wie auf unseren
und Weise geben kann, sodass die Arbeit von all jenen, Straßen. Das muss zumindest unser Ziel sein.
die mitarbeiten wollen, im Netz verfolgt werden kann. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Es ist schon ein erster Erfolg, dass wir nicht übereinan- neten der FDP)
der, sondern miteinander sprechen. Ich glaube, auch das
ist ein wichtiges Signal für diejenigen, die sich für das Ich kann unseren Bundesinnenminister nur unterstüt-
Internet besonders interessieren. zen, wenn er sagt – ich zitiere –:
2384 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Michael Kretschmer
(A) Jeder Einzelne muss die Wahl haben, wie er im In- schen Parteien engagiert haben. Lassen Sie uns das heute (C)
ternet kommuniziert, ob er seine Identität preisgibt noch einmal deutlich betonen.
oder nicht. Es ist legitim und schützenswert, be-
stimmte Kommunikationsformen im Internet ano- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
nym oder unter einem Pseudonym zu nutzen. der FDP, der LINKEN und des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN)
Das Internet ist eine große Chance für die Freiheit
und die Demokratiebewegung in der Welt. Denken Sie Die Politik hat Fehler gemacht. Lassen Sie mich zu-
daran, welche Bedeutung das Internet in autoritären mindest für meine Partei sagen: Wir haben aus diesen
Staaten wie dem Iran hat. Auch hier gilt es, diese Frei- Fehlern gelernt. Das Internet ist nicht ein Raum der Be-
heit zu erhalten und zu fördern. drohung, sondern der Chance. Auch die Aussage vom
Internet als rechtsfreier Raum wird nicht durch Wieder-
Wir wünschen der Enquete-Kommission, dass sie in- holung richtig: Das Internet war nie ein rechtsfreier
tensiv arbeitet und regelmäßig Zwischenberichte ver- Raum, und genauso wenig darf es ein bürgerrechtsfreier
fasst und dass wir darüber auch in diesem Hause debat- Raum sein. Wir haben begriffen, dass der kompetente
tieren. Ich glaube, es ist notwendig, das digitale Zeitalter Umgang mit neuen Medien einen Mehrwert für die Ge-
mit dieser Enquete-Kommission noch einmal neu zu be- sellschaft darstellt, und wir haben verstanden, dass sich
arbeiten und neue Antworten zu finden. Ich wünsche da- Gesellschaft und Öffentlichkeit durch das Internet im-
bei viel Erfolg. mer stärker online manifestieren und die Politik ihren
Gestaltungsanspruch wahrnehmen muss.
Herzlichen Dank.
Ich betone: Netzpolitik ist keine Politik für eine dif-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie fuse Klientel, die wir Politiker gern als Community be-
bei Abgeordneten der SPD) zeichnen. Netzpolitik ist Gesellschaftspolitik. Bei der
Arbeit der Enquete-Kommission wird es darauf ankom-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: men, genau das deutlich zu machen.
Das Wort hat der Kollege Lars Klingbeil von der In den vergangenen Monaten wurden von allen Parteien
SPD-Fraktion. viele Hände in die Richtung derjenigen ausgestreckt, die
(Beifall bei der SPD) sich lautstark gegen politische Fehlentscheidungen in der
Netzpolitik gewehrt haben. Eine ausgestreckte Hand und
ein kulturelles Bekenntnis zum Web 2.0 reichen aber
Lars Klingbeil (SPD): noch lange nicht aus, um Vertrauen zu schaffen oder zu-
(B) Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen rückzugewinnen. Ein funktionierender Twitter-Account (D)
und Herren! Dass wir heute im Bundestag die Einset- macht noch keinen guten Netzpolitiker.
zung einer Enquete-Kommission „Internet und digitale
Gesellschaft“ beschließen, zeigt, dass die netzpolitische Wenn die FDP-Fraktion in einer Pressemitteilung zur
Debatte kein Nischenthema mehr ist. Netzpolitik und die Einsetzung des Unterausschusses „Neue Medien“
Herausforderung, die digitale Welt zu gestalten, sind schreibt: „Parlament unterstreicht seine Web-2.0-Kom-
mitten in der politischen Debatte angekommen. Ich habe petenz“, dann klingt das für mich eher bemüht als kom-
die Hoffnung, dass mit der Einsetzung der Enquete- petent.
Kommission diese Debatte auch endlich im Deutschen Es reicht eben nicht aus, die Hand auszustrecken und
Bundestag ankommt. ein Smartphone bedienen zu können. Es kommt darauf
Der Grund für die Einsetzung der Enquete-Kommis- an, dass wir hier im Parlament substanzielle Lösungen
sion ist sicherlich das persönliche Engagement einiger erarbeiten. Es kommt darauf an, dass wir Rahmenbedin-
hier im Haus, und zwar parteiübergreifend. Der haupt- gungen setzen, die das Leben, Arbeiten und Wirtschaf-
sächliche Grund für diese Enquete-Kommission – auch ten in der digitalen Gesellschaft ermöglichen. Das wird
das gehört zur Wahrheit dazu – ist allerdings, dass uns in den nächsten zwei Jahren unsere Aufgabe sein.
als Parlamentariern gerade im letzten Jahr vielfach ver- (Beifall bei der SPD)
deutlicht wurde, dass wir mit unseren Debatten nicht
mehr auf der Höhe der Zeit waren, Die Zeit der Symbolpolitik muss vorbei sein. Natür-
lich werden wir kontrovers diskutieren. Natürlich wird
(Zuruf von der CDU/CSU: Quatsch!) es Widersprüche geben. Natürlich haben wir viele unter-
dass sich gerade junge Menschen von dem abgewandt schiedliche Interessen zusammenzubringen. Klar ist
haben, was wir hier machen, und dass wir auch gemerkt schon jetzt: Es wird keine einfachen Lösungen geben. Es
haben, dass wir gerade die junge Generation mit vielen muss aber vor allem darum gehen, dass wir als Enquete-
Entscheidungen nicht mehr erreicht haben. Kommission deutlich machen: Es gibt im Internet andere
Logiken als in der Offlinewelt. Wir werden die Wert-
Wir haben diese Enquete-Kommission also vor allem schöpfungsmechanismen aus der Offlinewelt nicht eins
denjenigen zu verdanken, die zu Zigtausenden eine On- zu eins in die Onlinewelt übertragen können. Gleiches
linepetition gegen die Netzsperren unterzeichnet haben. gilt für die Balance zwischen Bürger- und Freiheitsrech-
Wir haben sie denjenigen zu verdanken, die auf die ten. Diese neuen Logiken und neuen gesellschaftlichen
Straße gegangen sind, um für Bürgerrechte im Netz zu Entwicklungen zu begreifen, zu erklären und umzuset-
kämpfen, und denjenigen, die sich jenseits der politi- zen, wird Aufgabe der Enquete-Kommission sein.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2385
Lars Klingbeil
(A) Die SPD-Fraktion unterstützt den interfraktionellen und Staatskanzleien beteiligt. Mein Eindruck – zumin- (C)
Antrag zur Einrichtung der Enquete-Kommission gerade dest in den letzten Wochen – war, dass all diese Akteure
deshalb, weil alle aus unserer Sicht relevanten Themen in völlig unterschiedliche Richtungen laufen. Es fehlt an
aufgegriffen wurden. Die SPD-Fraktion hat in der Ver- Koordination, vor allem fehlt es aber an Konzeption.
handlung darauf gedrängt, dass im Vergleich zum Ur- Man muss sich das einmal anschauen: Der Innenminister
sprungsentwurf der gesamte Bereich der sozialen Absi- lädt zu einer Dialogreihe „Netzpolitik“. Die Familien-
cherung einer digital geprägten Arbeitswelt mit auf die ministerin will ein Forum „Internet“ gründen.
Agenda kommt. Es gibt wohl kaum ein Politikfeld, das
sich durch Digitalisierung so verändert hat wie der Be- (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
reich der Arbeitswelt. Wir haben völlig veränderte Er- Aber die kümmern sich sehr intensiv!)
werbsbiografien und Erwerbsformen. Genau hierauf Die Verbraucherschutzministerin ist damit beschäf-
muss die Politik Antworten finden. Ich bin froh, dass es tigt, Google zu beschimpfen. Auch der regierungsinterne
meiner Partei zusammen mit den Grünen gelungen ist, Streit nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts
diesen Bereich in die Enquete-Kommission aufzuneh- zur Vorratsdatenspeicherung zeigt: Diese Regierung hat
men. keine Linie in der Netzpolitik.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD)
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wir brauchen ganzheitliche gesellschaftspolitische
Ich halte es für einen Fortschritt, dass wir in der En- Ansätze, weil es uns nur dann gelingt, die Potenziale des
quete-Kommission Themen wie Open Data oder Open- Internets völlig auszuschöpfen. Wir alle reden von einer
Government-Strategien diskutieren. Der Versuch von Konvergenz der Medien. Wir sehen aber auch, dass wir
Barack Obama, in den USA mehr Transparenz und Of- eine Konvergenz der Politik oder auch eine Konvergenz
fenheit in Bezug auf staatliches Wissen herzustellen, des Rechts noch nicht haben. Wenn man sich die Debatte
sollte auch uns beschäftigen. Seine Ansätze in den USA um die Novellierung des Jugendmedienschutz-Staatsver-
stehen für ein Staatsverständnis, das von Offenheit und trages anschaut, sieht man auch da: Wir streiten über Zu-
Transparenz geprägt ist. Ich wünsche mir, dass wir die- ständigkeiten, erledigen aber nicht die eigentlichen Auf-
sen Weg auch in Deutschland gehen und dadurch mehr gaben, die uns die digitale Gesellschaft mit auf den Weg
Offenheit und Transparenz schaffen. gibt.
Ich habe einige Themenschwerpunkte skizziert und Lassen Sie mich zu meinem letzten Punkt kommen:
halte es für sinnvoll, dass wir in den nächsten zwei Jah- zu den Chancen für eine demokratische und politische
ren über all diese Fragen grundsätzlich diskutieren. Ich Partizipation. Ich bin davon überzeugt, dass wir in Zei- (D)
(B) sage aber auch: Diese Enquete-Kommission darf nicht
ten einer hohen Politikverdrossenheit und katastrophalen
zur Ausrede werden, um drängende politische Fragestel- Wahlbeteiligung das Internet durch diese Enquete-Kom-
lungen auf die lange Bank zu schieben. Wir als SPD mission stärker aufstellen können, um Menschen an
werden in den verschiedenen Ausschüssen, vor allem im politischen Prozessen zu beteiligen. Ich bin fest davon
Unterausschuss „Neue Medien“, die Debatten zu einer überzeugt, dass wir durch eine intensive Nutzung des In-
gesetzlichen Verankerung der Netzneutralität, zu Me- ternets für eine Revitalisierung der Demokratie sorgen
dienkompetenz, zu Grundrechtsschutz und zur Wahrung können. Die ersten Ansätze, beispielsweise die Online-
von Medienfreiheit und Medienvielfalt vorantreiben, petition, hat es bereits gegeben. Ich plädiere dafür, dass
weil der Handlungsbedarf im Hier und Jetzt besteht und wir auch im Rahmen dieser Enquete-Kommission neue
wir uns nicht auf Vorschläge einer Kommission verlas- Ideen ausprobieren, indem wir zum Beispiel Gesetzent-
sen können, die erst in zwei Jahren vorliegen. Diese En- würfe und Papiere online zur Verfügung stellen und um
quete-Kommission darf nicht zum Ruhekissen der Re- Kommentierung bitten. Der Kollege Kretschmer hat ge-
gierung werden und so ermöglichen, dass drängende rade vom 18. Sachverständigen geredet. Ich plädiere
Sachverhalte der Netzpolitik um zwei Jahre vertagt wer- ausdrücklich dafür, dass wir nicht nur die Sachverständi-
den. gen und die Abgeordneten einbeziehen, sondern dass wir
diese Enquete auch für die Bevölkerung öffnen und
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
diese mitdiskutieren lassen.
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
Ohnehin erwarte ich mir von der Regierung eine stär- Das hat er gerade gesagt!)
kere Koordination ihrer netzpolitischen Arbeit. Chaos
scheint der rote Faden dieser Regierung zu sein, auch in Lassen Sie uns diesen Weg gehen. Lassen Sie uns unse-
der Netzpolitik. rem Auftrag gerecht werden. Lassen Sie uns die Erwar-
tungen erfüllen, die in uns gesetzt werden. Lassen Sie
(Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Bitte?) uns vor allem dafür sorgen, dass diese Enquete-Kom-
Von Ressort zu Ressort gibt es völlig unterschiedliche mission kein netzpolitisches Feigenblatt des Deutschen
Richtungen. Auch wenn ich vielleicht die Forderungen Bundestages ist. Wir haben viel zu tun. Ich bin optimis-
der Internetwirtschaft nach einem Internetminister für zu tisch, dass wir das schaffen können.
hochgesteckt halte, so ist das Ansinnen hinter dieser For- Herzlichen Dank für das Zuhören.
derung doch berechtigt. Weil Netzpolitik Gesellschafts-
politik ist, sind unterschiedliche Ressorts, Ministerien (Beifall bei der SPD)
2386 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: genau das, was die Community von uns erwartet. Wir in (C)
Das Wort hat jetzt der Kollege Manuel Höferlin von der FDP-Fraktion setzen unser Web-Engagement damit
der FDP-Fraktion. konsequent weiter um. Ich freue mich sehr, dass der
Deutsche Bundestag und die FDP-Fraktion mit der Netz-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gemeinde diesen Dialog suchen. Eines sollte uns allen
der CDU/CSU) klar sein: Wir müssen diesen Input und das Wissen der
Community nutzen. Es handelt sich um ein kollektives
Manuel Höferlin (FDP): Wissen und kollektive Vorschläge. Dieses Potenzial wol-
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten len wir nutzen, und dieses Potenzial müssen wir in die
Damen und Herren! Mit der Einsetzung der Enquete- Arbeit integrieren. Ich freue mich außerordentlich auf
Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ schla- die Arbeit in der Enquete-Kommission.
gen wir ein neues Kapitel in der Netzpolitik auf. Als Vielen Dank.
selbstständiges Gremium ist die Enquete-Kommission
bewusst als Querschnittskommission ausgelegt. Das ist (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
ein ganz wichtiger Punkt; denn die Enquete-Kommis- der CDU/CSU)
sion soll gerade nicht Tagespolitik machen. Sie entwi-
ckelt vielmehr langfristige Perspektiven in der Netzpoli- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
tik. Das ist ein wesentlicher Unterschied. Sie ist gerade Das Wort hat der Kollege Herbert Behrens von der
nicht dazu gedacht, tagespolitische Themen zu behan- Fraktion Die Linke.
deln, sondern es handelt sich um ein langfristig angeleg-
tes Projekt, in dem Netzpolitik in ihrer Gesamtheit be- (Beifall bei der LINKEN)
handelt wird. Die Enquete-Kommission unterscheidet
sich damit grundsätzlich von den regulären Ausschüs- Herbert Behrens (DIE LINKE):
sen. Netzpolitik ist eine Querschnittsaufgabe, die in je- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
dem Politikbereich ressortiert ist. Kolleginnen und Kollegen! Ich habe den Eindruck:
Schon bevor die erste Sitzung der Enquete-Kommission
Das politische Debakel der Vorgängerregierungen stattgefunden hat, findet eine parteipolitische Profilie-
– dabei richte ich mich gerade an Ihre Seite – bei den rung statt.
Themen Netzsperren oder Vorratsdatenspeicherung zeigt
uns, dass kein Ministerium allein die Antwort auf die (Zuruf von der CDU/CSU: Falscher Eindruck! –
Herausforderungen finden kann. Netzpolitik ist nicht nur Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Man darf
Innenpolitik, nicht nur Rechtspolitik und nicht nur Wirt- nicht von sich auf andere schließen!)
(B) schaftspolitik, sondern eine Querschnittsaufgabe. Es ist Das spiegelt sich in dem Punkt wider, wie mit diesem (D)
gut, dass wir so viele kompetente Herren und Damen in Antrag umgegangen worden ist. Dieser Antrag wird von
den Ministerien haben, die sich dazu äußern können und vier Fraktionen dieses Hauses eingebracht, nämlich von
wollen. der CDU/CSU, von der SPD, von der FDP und von den
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Grünen. Man hat es trotz aller breiten Konsensbeschwö-
der CDU/CSU) rungen in den Einführungen, trotz der versprochenen
Partizipation als Grundlage für diesen Auftrag und trotz
Wir werden in der Enquete-Kommission Fachpoliti- der Zusage, die Community einzubeziehen, nicht für
ker und Sachverständige aus den verschiedensten Berei- notwendig erachtet, auch die fünfte Fraktion hier im
chen haben. Sie werden gemeinsam die Antworten auf Hause einzubeziehen, um diesen breiten Konsens wirk-
die Herausforderungen geben. Entscheidend ist aber lich von vornherein zu demonstrieren.
auch die neue Transparenz, die wir in dieser Enquete-
Kommission installieren möchten. Der Deutsche Bun- Einige Bemerkungen zur inhaltlichen Herangehens-
destag wird die Arbeit der Kommission auf einer Web- weise an die Enquete-Kommission. Die Linke steht in
seite begleiten und für Transparenz und Bürgernähe sor- der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesell-
gen. Die einen reden, die anderen machen. Wir von der schaft“ an der Seite der Nutzerinnen und Nutzer. Viel-
FDP-Bundestagsfraktion haben bereits eine Webseite leicht ist das der Grund, dass man sich uns gegenüber et-
online gestellt: open-enquete.de. Wir möchten die Com- was spröde verhält.
munity gerne einbinden, wir möchten sie befragen. Herr (Beifall bei der LINKEN)
Kretschmer hat es schön gesagt: Der 18. Sachverstän-
dige kann bei uns teilhaben. Wir möchten deswegen auf Viele der Nutzerinnen und Nutzer werden uns zurzeit
dieser Internetpräsenz alle Interessierten zum Dialog über Livestream zuhören oder unsere Beiträge über
einladen. Wir wollen die Menschen, die uns einen Input Netzpolitik.org oder auch in Twitter-Feeds nachvollzie-
geben können, daran beteiligen. hen und verfolgen, was wir dazu zu sagen haben. Uns
geht es zudem bei der Mitarbeit in dieser Kommission
(Beifall bei der FDP) um ein modernes Urheberrecht, um einen verbesserten
Datenschutz. Uns geht es insbesondere auch um die hier
Die Seite open-enquete.de wird von uns so begleitet, viel beschworene Transparenz, die aber offenbar nicht so
dass unsere Mitglieder in der Enquete-Kommission be- alltäglich zu sein scheint. Es geht um demokratische
fragt werden können. Sie werden sich dort äußern kön- Teilhabe im Netz.
nen, und wir werden die Möglichkeit haben, Input von
außen in die Enquete-Kommission aufzunehmen. Das ist (Beifall bei der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2387
Herbert Behrens
(A) Es ist für uns selbstverständlich, dass niemand unse- auch gegen den bestehenden Status quo der Schutzquali- (C)
rer Meinung sein muss. Wir akzeptieren abweichende tät. Wir brauchen mehr Datenschutz. Wir brauchen qua-
Einschätzungen und Positionen. Wir kämpfen aber mit litativ höheren Datenschutz, und zwar einen Daten-
der Kraft des Arguments für unsere Positionen und hö- schutz, der zu der neuen Netzgeneration passt.
ren dabei auf die klugen Ratschläge aus der Netzwelt:
von Profis und auch von Gelegenheitsnutzern aus dem Wir werden in der Enquete-Kommission zentrale As-
Netz. pekte einer digitalen Gesellschaft bearbeiten. Dazu ge-
hört ebendiese neue Qualität von Datenschutz, neue For-
Sie, werte Abgeordnete von CDU/CSU, SPD, FDP men politischer Beteiligung im Netz sowie Fragen der
und den Grünen, haben die Anzahl der Sitze in der En- Zugänglichkeit von Wissen und digitalen Ressourcen.
quete-Kommission erhöht. Alle Fraktionen haben mehr Dazu gehören insbesondere auch die Arbeitsbedingun-
Sitze bekommen, alle, außer der Linken. gen der im Netz Agierenden.
(Jens Koeppen [CDU/CSU]: Wie kommt denn Mit der Digitalisierung verändern sich ganze Bran-
das? – Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Das chen. Klassische Wirtschaftsbereiche kämpfen ums
muss mit dem schlechten Wahlergebnis zu- Überleben, neue entstehen. Der Linken ist es dabei be-
sammenhängen!) sonders wichtig, die neuen Beschäftigungsverhältnisse
zu reflektieren. Sittenwidrige Total-Buyout-Verträge für
Sie verweigern sich den einfachsten demokratischen
Journalistinnen und Journalisten zum Beispiel, neue For-
Spielregeln, so mein Eindruck. Sie wollen nicht einmal
men gemeinsamer Arbeit in Wikis und Clouds, soziale
unseren Namen auf Ihrem Antrag zur Einsetzung der
Standards in der Informationsgesellschaft und eine bes-
Kommission sehen. Das ist eine ziemlich kleinkarierte
sere kollektive Absicherung der Beschäftigten müssen
Entscheidung von Ihnen und auch keine schlaue. Es geht
auf den Tisch. In der Enquete-Kommission werden wir
darum, sehr sorgfältig zu arbeiten, den Expertinnen und
dieses Thema auf den Tisch legen und gründlich disku-
Experten zuzuhören, Argumente abzuwägen, bestehende
tieren wollen.
Gesetze auf den Prüfstand zu stellen
(Zuruf von der FDP: Was sind denn
(Manuel Höferlin [FDP]: Genau!)
„Clouds“?)
und über den Tellerrand des Parlaments und über den
– In der Kommission kommen wir sicherlich auch dazu,
Tellerrand der eigenen Erfahrungen zu sehen. Jeder von
den Begriff der Clouds, der Ihnen heute noch nicht be-
uns kann lernen, jeder von uns muss lernen, dass eine
kannt ist, aufzuklären.
Politik der Ausgrenzung hier fehl am Platz ist. Das ist
ein Fehlstart der Kommission. (Beifall bei der LINKEN)
(B) (D)
(Beifall bei der LINKEN) Die Antragsteller haben sich geweigert, in den An-
trag, der heute beraten wird, den Komplex aufzunehmen,
Nehmen wir die Nutzerinnen und Nutzer einfach ein-
in dem es um Arbeitsplätze, Arbeitsbedingungen und die
mal ernst: die Onlineunternehmer; diejenigen, die Ab-
Verbesserung des Datenschutzes geht. Auch das ist
mahnungen im Briefkasten haben; diejenigen, die nicht
ziemlich peinlich, meine Damen und Herren von den an-
wissen, wie sie ihr Forum rechtssicher gestalten müssen;
tragstellenden Fraktionen.
diejenigen, die diese Gesellschaft von einer analogen in
die digitale überführen wollen; die Nerds, die Hacker, Die Linke setzt sich für ein modernes Urheberrecht
die Strategen und die vielen unbezahlten und aus Lei- ein. Die Regelungen, die wir haben, taugen nicht für die
denschaft handelnden Netzpolitikerinnen und Netzpoliti- digitale Welt. Es funktioniert nicht, einfach die Regelun-
ker. Mit Letzteren sind nicht jene gemeint, die sich hier gen für analoge Medien zu übertragen und zu sagen, da-
im Bundestag als solche bezeichnen, sondern das sind mit seien wir in der digitalen Welt angekommen. Das
die wirklichen, die echten, die Betreiber und Nutzer von Urheberrecht ist aus dem Lot geraten, es verliert an Ak-
Blogs und Websites, die Nachrichten generieren, die In- zeptanz. Wir müssen uns dagegen wehren, dass das Ur-
formationen über Wikileaks transparent machen, die dis- heberrecht zulasten der Urheber missbraucht werden
kutieren und sich kontroverse Debatten liefern. kann. Wir müssen sicherstellen, dass Urheber abgesi-
Die Linke begrüßt das Urteil des Bundesverfassungs- chert werden. Gleichzeitig müssen wir sicherstellen,
gerichts zur Vorratsdatenspeicherung. Es ist ein erster dass die Nutzerinnen und Nutzer gesetzlich garantierte
kleiner Schritt auf dem Weg zu ihrer Abschaffung. Alles Freiheiten haben.
ständig im Netz zu überwachen, halten wir für mit dem Am Ende der Arbeit der Enquete-Kommission wird
Grundgesetz unvereinbar. Wir halten es auch für einen es einen Bericht mit Hunderten von Seiten geben. Die
notwendigen Schutz der Nutzerinnen und Nutzer, dieses wenigsten von Ihnen werden diesen lesen. Lassen Sie
Abschöpfen von Daten zu verhindern. uns deshalb parallel andere Kommunikationsmöglich-
(Beifall bei der LINKEN) keiten nutzen; das ist schon angesprochen worden. Wir
brauchen Transparenz, aber wir brauchen auch die Ex-
Je stärker unser Leben digital geprägt wird, je mehr pertinnen und Experten sowie die Nutzerinnen und Nut-
Daten gespeichert werden, desto mehr muss auch der zer. Wir wollen eine aktive Begleitung durch die Nutze-
Gesetzgeber darauf achten, die Privatsphäre der Bürge- rinnen und Nutzer in dieser Kommission, und zwar nicht
rinnen und Bürger zu schützen. Die Linke ist nicht nur nur als Konsumenten, sondern auch als Akteure; wir
gegen eine Aufweichung des Datenschutzes, sondern brauchen ihre Kommentare und ihre Kritik.
2388 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Herbert Behrens
(A) Es geht einzig und allein darum, Antworten darauf zu Bereichen große Linien. Einfache Antworten wie „Man (C)
finden, wie das Netz der Zukunft gestaltet werden soll, darf nicht mehr so lange vor dem Computer sitzen“ ver-
welche Leitplanken wir brauchen und welche schon bieten sich, wenn man bedenkt, dass die Arbeitswelt von
heute nicht mehr taugen. Die Linke stellt die Nutzerin- morgen, aber auch schon von heute sich immer stärker
nen und Nutzer in den Vordergrund. Für sie gehen wir in um das Internet und den Computer dreht.
die Kommission.
Natürlich sollen auch Kinder weniger am Computer
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. sitzen. Sie sollen aber gleichzeitig Medienkompetenz
vermittelt bekommen, und dazu gehört der Umgang mit
(Beifall bei der LINKEN) dem Medium Computer.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Noch vor kurzem hat man gefragt – Sie alle kennen
diese Umfragen –: Wie viele Stunden bist du online?
Das Wort hat der Kollege Dr. Konstantin von Notz
Wie viele Tage in der Woche verbringst du im Internet?
von Bündnis 90/Die Grünen.
Inzwischen ist Gesprächsthema, ob man sein Smart-
phone an Weihnachten auch einmal ausschalten sollte
Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- oder nicht.
NEN):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man spricht Das ist auch gut so!)
bei der Aufgabe, die wir jetzt zu bewältigen haben, näm- Daran kann man erkennen, wie radikal und schnell diese
lich der Digitalisierung, auch von der vierten Revolu- Umbrüche sind. Die reale und die digitale Welt verwe-
tion. Nach der Entwicklung der Sprache, der Schrift und ben sich; es gibt im Grunde keine Unterschiede mehr
der Erfindung des Buchdrucks ist die Digitalisierung der zwischen ihnen. Dieser Wirklichkeit muss die Politik in
vierte große gesellschaftliche Umbruch in diesem Be- diesem Land endlich gerecht werden.
reich.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Das sagt sich so leicht dahin, und man kann sicherlich sowie bei Abgeordneten der SPD)
in Nuancen von der Bewertung, ob der Digitalisierung
diese Bedeutung beizumessen ist oder nicht, abweichen. Vor diesem Hintergrund ist festzuhalten: Das Internet
Aber dass die Digitalisierung, also die Möglichkeit, digi- ist eben kein rechtsfreier Raum. Es ist aber auch kein
tale Inhalte in Sekundenschnelle unendlich oft und ohne grundrechtsfreier Raum. Mit dem jüngsten Urteil des
Qualitätsverlust zu vervielfältigen, einen gesellschaftli- Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung
wurde festgestellt: Die Politik hat hier zu kurz gegriffen.
(B) chen Umbruch bewirken wird, sollte allen klar sein. (D)
Dass wir heute diese Enquete-Kommission gründen, ist Wir haben über Verbote diskutiert, nicht über die Grund-
Ausdruck dieser Erkenntnis. rechte auf informationelle Selbstbestimmung, über die
Privatsphäre, über die Menschenwürde. Es ist eine ganz
Die Digitalisierung und das Internet haben fundamen- konkrete Aufgabe dieser Enquete-Kommission, sich der
tale soziologische und ökonomische Auswirkungen auf Verwirklichung der Grundrechte im Internet anzuneh-
unsere Gesellschaft, und zwar in praktisch allen Lebens- men.
bereichen. Die bisherige Politik in diesen Bereichen war
Stückwerk; da brauchen wir uns nichts vorzumachen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Wo auch immer ein Problem aufgetreten ist, hat man sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
versucht, schnell irgendwie zu reagieren. Entsprechend SPD und der FDP)
unnachhaltig war leider auch die Netzpolitik dieses Hau- Für uns Grüne war wichtig, folgende Punkte in den
ses. Wir Grünen versprechen uns von dieser Enquete- Auftrag für die Enquete-Kommission hineinzuverhan-
Kommission, dass dicke inhaltliche Bretter gebohrt wer- deln:
den. Deshalb glauben wir, dass sich heute ein Neustart in
diesem Bereich vollzieht. Die Fortentwicklung des Urheberrechts: Wer glaubt,
in diesem Bereich in alten Mustern verharren zu können,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der irrt; denn eine Revolution, also auch die digitale Re-
sowie bei Abgeordneten der FDP) volution, ist immer mit Umbrüchen und Veränderungen
verbunden. Diesen Herausforderungen müssen wir in
Netzpolitik ist kein Modethema, das in irgendwelchen
der Enquete-Kommission und hier im Hohen Haus ge-
Kaffeerunden bei Ministerien abgehandelt werden kann,
recht werden.
sondern es ist eine der zentralen Arbeitsaufgaben der
Politik im Jahre 2010. Deswegen ist die heutige Einset- Die Diskussion der Bedeutung und der Förderung
zung der Enquete-Kommission richtig und wichtig. freier Software und offener Standards: Gerade interna-
tionale Ansätze sind erforderlich; denn das Internet ist
Wir brauchen konkrete Antworten – das ist schon
ein internationales Medium. Es gibt keine Landesgren-
vielfach angesprochen worden –, aber auch große Li-
zen im Internet. Das muss die Politik begreifen, und das
nien. Wir brauchen konkrete Antworten im Urheber-
muss auch Grundlage dieser Enquete-Kommission und
recht, wo sich drängende Fragen des Ausgleichs zwi-
unseres Arbeitsansatzes sein.
schen Urhebern, Verwertern und Nutzern stellen. Wie
man aber zum Beispiel an der Diskussion über Compu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei
tersucht feststellen kann, brauchen wir auch in anderen der CDU/CSU, der SPD und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2389
Dr. Konstantin von Notz
(A) Gleichzeitig brauchen wir Barrierefreiheit für Men- geworden. Wir leben mit dem Internet, wir leben im In- (C)
schen mit Behinderungen – auch sie müssen das Internet ternet, wir arbeiten damit, gestalten unsere Freizeit und
nutzen können – und Zugangsgerechtigkeit. Wir fordern unseren Alltag mit ihm.
die E-Partizipation. Dafür ist diese Kommission in der
Tat ein guter Anfang. Wie wir da kommunizieren, darf Die Bedeutung des Internets wächst rasant an und da-
keine Einbahnstraße – schicke Presseerklärungen und mit natürlich auch die Herausforderung für politisches
Berichte darüber, was die Enquete-Kommission am je- Handeln. Ich nenne hier nur: Verbraucherschutz, Daten-
weiligen Tage verhandelt hat – sein, sondern wir müssen schutz, Jugendschutz, Urheberschutz. Natürlich wird ein
in diese Kommission auch hineintragen, was draußen solches Medium oftmals auch missbraucht; Internetkri-
diskutiert wird. Dazu gibt es einige interessante Ansätze, minalität gibt es. Darauf müssen wir Antworten finden.
die wir hoffentlich so umsetzen werden, wie wir sie auf- Hier prallen offensichtlich zwei Welten aufeinander: die
geschrieben haben, also in Form von Foren und Ähnli- sogenannte virtuelle und die reale Welt. Wir müssen uns
chem. aber von dieser Vorstellung lösen; denn das Internet ist
nicht virtuell. Es ist ganz real. Das ist unsere Gesell-
Meine Fraktion begrüßt ausdrücklich, dass es gelun- schaft; das sind wir. Es geht nicht um irgendeine unver-
gen ist, hier einen gemeinsamen Antrag zustande zu standene Technologie oder um irgendeine imaginäre In-
bringen. Ich möchte auf den Umstand eingehen, dass die ternetcommunity.
Linke diesen Antrag nicht mit eingebracht hat. Ich darf
für meine Fraktion sagen: Wir bedauern das. Es war (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Conditio sine qua non, über die Dinge zu diskutieren. Ich neten der FDP)
glaube, uns wäre kein Zacken aus der Krone gefallen,
wenn wir die Linke einbezogen hätten. Gerade ange- Der Zugang zu freiem Wissen und freier Informa-
sichts des Änderungsantrages, der minimale Änderun- tion – das ist das kostbarste Gut, das wir haben. Es ist für
gen an dem Programm für die Enquete-Kommission be- uns teilweise schon so selbstverständlich geworden, dass
inhaltet – wir werden ihm zustimmen –, sehe ich nicht, wir oftmals nicht mehr in der Lage sind, es wertzuschät-
warum man dem vorliegenden Antrag nicht zustimmen zen und zu verteidigen und zu schützen. Vor mir wurde
kann. ja schon angesprochen, dass zum Beispiel die Opposi-
tion im Iran ohne das Internet keine Möglichkeit hätte,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf ihre Lage aufmerksam zu machen, keine Möglich-
sowie bei Abgeordneten der LINKEN) keit hätte, die Familienmitglieder und die Freunde im
Ich hoffe, dass wir in der Arbeit in der Tat einen gemein- Ausland zu benachrichtigen, keine Möglichkeit hätte,
samen Weg finden. die Machenschaften dieser Diktatur öffentlich zu ma-
chen. (D)
(B)
Mit Blick auf die nächsten zwei Jahre halte ich für
absolut notwendig, dass wir eine offene, progressive Wir brauchen aber gar nicht so weit weg zu gehen.
Diskussion über die digitale Revolution und ihre Aus- Ich bin im Osten dieser Republik aufgewachsen, und ich
wirkungen führen. Wenn es nach uns Grünen geht, dann bin 1989 für Pressefreiheit auf die Straße gegangen. Für
wird diese Enquete-Kommission der transparente und uns war es natürlich sehr wichtig, Zugang zu freier In-
kreative Arbeitsspeicher des deutschen Parlaments. formation und freiem Wissen sowie, banalerweise, zu
guter Musik zu erhalten. Das ging nur über grenzüber-
Herzlichen Dank. schreitende Medien wie Rundfunk und Fernsehen. Des-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wegen sehe ich das neue Medium Internet als eine
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der unverzichtbare Bereicherung unserer globalen Gemein-
SPD, der FDP und der LINKEN) schaft an.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat der Kollege Jens Koeppen von der Meine Damen und Herren, die digitale Welt kann man
CDU/CSU-Fraktion. auch nicht binär nur in Null und Eins, in Schwarz und
Weiß, in Falsch und Wahr auseinanderdividieren. Es ist
Jens Koeppen (CDU/CSU): auch kein Selbstzweck für trockene Verarbeitung von di-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! gitaler Information, sondern diese digitale Welt ist viel
mehr. Sie ist bunt, sie ist vielfältig, sie ist informativ, sie
Das Internet ist das freiheitlichste und effizienteste ist voller Wissen und voller Unterhaltung. Unsere Auf-
Informations- und Kommunikationsforum der Welt gabe ist es nun erstens, dieses wertvolle Gut zu schützen
und trägt maßgeblich zur Entwicklung einer globa- und weiterzuentwickeln bzw. dafür zu sorgen, dass es
len Gemeinschaft bei. weiterentwickelt werden kann, zweitens, Antworten auf
Das ist schlicht und ergreifend der erste Satz in unserem die Herausforderungen zu finden, die dieses Medium mit
Einbringungsantrag und auch der maßgeblichste. In der sich bringt, und drittens, klare, nachvollziehbare und ak-
Tat, das Internet bietet eine Vielzahl von persönlichen zeptable Lösungen und Regeln zu finden.
Entfaltungsmöglichkeiten, informelle Selbstbestimmung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
und auch wirtschaftliche Betätigung. Das Netz ist nicht
nur eine technische Plattform, sondern ist ein wichtiger Ich persönlich wünsche mir dabei mehr Technologie-
Bestandteil des alltäglichen gesellschaftlichen Lebens offenheit, mehr Innovationsfreundlichkeit, Sachlichkeit,
2390 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Jens Koeppen
(A) gute technische und rechtliche Lösungen. Das ist besser beantworters revolutionär, und es fiel nicht wenigen (C)
als Verteufelung und Gängelei. schwer, sich mit diesen Apparaturen anzufreunden. –
Dies zur Basis, auf der wir arbeiten.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP) Die Welt hat sich trotzdem weiterentwickelt. Heute ist
es üblich, dass beispielsweise 11-Jährige über ein eige-
In einer funktionierenden Gesellschaft – das ist ganz nes Profil bei schülerVZ verfügen. Computerverbot ge-
klar – braucht man Leitplanken. Diese Leitplanken müs- hört zu den gängigen Erziehungsmethoden. Nach der
sen aber so ausgestaltet sein, dass man sich darin sicher KIM-Studie 2008 gehen inzwischen rund 60 Prozent al-
und frei bewegen kann. Der Nutzer muss frei sein und ler 6- bis 13-Jährigen ins Internet. Über diese hohe Zahl
sich sicher bewegen können, und zwar unabhängig von ist schon gesprochen worden. Zwei Drittel von ihnen
sozialer Herkunft, unabhängig von regionaler Herkunft sind mindestens einmal pro Woche online, 17 Prozent
und vor allen Dingen auch unabhängig von Fragen der
sogar täglich. Das bedeutet aber auch – das ist mir wich-
Technik und von Fragen der Infrastruktur. Das Internet tig –, dass eine nicht unwesentliche Zahl von Schülerin-
ist für mich ein Teil der Daseinsvorsorge. nen und Schülern in unserem Land keinen unmittelbaren
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Zugang zum Netz hat. Auch das sollte uns bei unserer
der FDP) Arbeit beschäftigen.
Was haben wir als Gesetzgeber nun zu tun? Wie soll (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
die Bestandsaufnahme ausgestaltet werden? Ich bin der der CDU/CSU und der FDP)
Meinung, wir sollten die Enquete-Kommission nicht Auf eine, wie ich finde, etwas widersprüchliche Art
überfrachten. Wir können in ein, zwei oder drei Jahren nimmt die Schule Einfluss auf das Onlineverhalten. Die
nicht das lösen, was auf der Agenda steht. Wir wollen zweithäufigste Tätigkeit der regelmäßig ausgeübten In-
mit den Experten zusammen Denkansätze finden und ternetaktivitäten der Kinder ist die Suche nach Informa-
aufnehmen. Wir wollen aufklären. Wir wollen informie- tionen für den Unterricht. Gleichzeitig aber schneidet
ren, und vor allen Dingen wollen wir Transparenz schaf- Deutschland beim Einsatz digitaler Medien in den Schu-
fen. Wir wollen kommunizieren, offen sein für Argu- len äußerst schlecht ab. Das hat eine repräsentative Um-
mente und ohne Vorurteile und Scheuklappen vorgehen. frage der Initiative D 21 und von TNS Infratest belegt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Zurück zu den Kindern und Jugendlichen. Je älter diese
Wir wollen das in gelassener Ernsthaftigkeit sowie mit werden, desto regelmäßiger und länger wird dann auch
Offenheit und Sachverstand tun. die Nutzung von Computer und Internet. Laut der JIM-
(B) Studie 2009 verfügen immerhin drei Viertel der 12- bis (D)
Wenn uns das gelingt, dann haben wir am Ende etwas 19-Jährigen über einen eigenen Computer oder Laptop,
Gutes erreicht. Ich wünsche uns für die Enquete-Kom- und mehr als die Hälfte, also 54 Prozent, kann vom eige-
mission alles Gute und lade alle ein, dort konstruktiv nen Zimmer aus ins Internet gehen. Was bedeutet das
mitzuarbeiten. aber für unsere Arbeit? Wir dürfen bei aller Kompetenz
Vielen herzlichen Dank. und aller Begeisterung, die wir haben, nicht vergessen,
dass es viele Menschen, darunter viele Eltern, gibt und
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) weiterhin geben wird, die über keine große Medienkom-
petenz verfügen – ich habe schon zu Beginn meiner
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Rede versucht, dies deutlich zu machen – und die zum
Das Wort hat jetzt die Kollegin Aydan Özoğuz von Teil recht hilflos den eigenen Kindern gegenüberstehen.
der SPD-Fraktion. Die Nutzung findet längst nicht nur zu Hause statt, wie
wir wissen. Wie können Eltern beispielsweise internet-
(Beifall bei der SPD) fähige Handys noch kontrollieren? Wie können sie da
noch auf Gefahren hinweisen? Mit Verboten – das wurde
Aydan Özoğuz (SPD): hier angedeutet – werden wir da ganz sicher nicht wei-
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und terkommen.
Kollegen! Auch ich freue mich über die Einsetzung einer
Unbestritten bietet das Internet viele positive Mög-
Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“.
lichkeiten für Kinder und Jugendliche. Aber es kann nur
Es ist schon einiges dazu gesagt worden; das alles muss
der von der Informationsfülle des Internets profitieren,
man nicht wiederholen.
der auch die Fähigkeit hat, aus dem Angebot sinnvoll
Als Familienpolitikerin möchte ich heute gleich zu auszuwählen und verantwortungsvoll mit den eigenen
Beginn unserer Arbeit den Blick auf den Bereich Kinder, Daten umzugehen. Es ist schon erschreckend, wie viele
Jugendliche und ihre Eltern, aber auch auf unser Bil- persönliche Informationen gerade Jugendliche im Inter-
dungssystem im Umgang mit digitalen Medien richten. net über sich selbst preisgeben. Ein gängiges Beispiel
Denn wir dürfen nicht vergessen, dass die meisten Eltern – das werden viele von Ihnen schon kennen – ist das
von heute – wahrscheinlich sind auch einige hier – nicht Vorstellungsgespräch. Es ist möglich, dass der Personal-
von klein auf mit PC und Computerspielen groß gewor- chef gegoogelt und eine Menge über den Jugendlichen
den sind, Großeltern schon gar nicht. Für manche – ich im Internet gefunden hat, was er vielleicht gar nicht wis-
weiß nicht, ob sich der eine oder andere daran erinnern sen sollte oder wissen muss. Und nicht zu vergessen:
wird – war durchaus schon die Einführung eines Anruf- Das Internet vergisst nichts!
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2391
Aydan Özoğuz
Özoðuz
(A) Gefahren drohen auch von anderen Seiten, zum Bei- Vielen Dank. (C)
spiel beim sogenannten Grooming, also wenn sich ein
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und
erwachsener Täter in Chatrooms eine kindliche Identität
dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
gibt und getarnt Kontakt zu seinen Opfern aufnimmt,
oder beim Cyber-Mobbing, das heißt, dass Einzelne im
Internet ungeschützt an den Pranger gestellt werden. Ich Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
finde es daher besonders wichtig – wie auch im Antrag Frau Kollegin Özoğuz, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer
formuliert wird –: Der Schutz der Persönlichkeit und des ersten Rede im Deutschen Bundestag. Herzlichen
Rechts auf informationelle Selbstbestimmung muss auch Glückwunsch!
im Netz gelten. (Beifall)
(Beifall im ganzen Hause) Das Wort hat jetzt der Kollege Sebastian Blumenthal
Das sind nur einige Aspekte. Ich habe leider nicht die von der FDP-Fraktion.
Zeit, auf alles einzugehen. Aber es ist klar, dass wir auf (Beifall bei der FDP)
die bestehenden Fragen schlüssige Antworten finden
müssen. Wir müssen dafür sorgen, dass schon die Kinder
lernen, welche Konsequenzen es haben kann, Privates Sebastian Blumenthal (FDP):
im Netz preiszugeben. Wir müssen dieses Bewusstsein Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
und einen sparsamen Umgang mit den eigenen Daten Herr Kollege Behrens, Sie haben uns von der Regie-
fördern. Und wir müssen Eltern und Lehrer – das Wort rungskoalition in einer Art und Weise angesprochen, so-
„Lehrer“ möchte ich besonders unterstreichen – für die dass ich jetzt etwas von meinem Redeskript abweichen
Gefahren sensibilisieren und die Vermittlung von Me- möchte; das mache ich aber gern.
dienkompetenz bereits in Grundschulen zum Thema ma- Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Als ich eben ge-
chen. hört habe, wie Sie uns in einer losen Aneinanderreihung
(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des von Fachbegriffen Sachverhalte dargelegt haben, hatte
Abg. Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/ ich, offen gestanden, nicht den Eindruck, dass sie über-
DIE GRÜNEN]) haupt durchdringen, was Sie uns vortragen. Wenn wir
über Medienkompetenz und Fachkompetenz sprechen,
Alle bereits in diese Richtung steuernden Initiativen soll- dann muss man feststellen: Das war schon einmal nicht
ten von uns berücksichtigt werden; denn am Ende soll der beste Beitrag. Uns als Koalition einen Fehlstart zu
ein stringentes Gesamtkonzept stehen. unterstellen, bevor wir begonnen haben, ist sicherlich
(B) auch nicht produktiv und tut der Sache nicht gut. Darauf (D)
Ich war mit einigen von Ihnen letzte Woche bei der können wir gerne verzichten.
Präsentation von fragFINN.de; das ist ein von der Bun-
desregierung gefördertes Angebot eines geschützten (Beifall bei der FDP)
Surfraumes, der speziell für Kinder geschaffen wurde
Wir beraten heute über die Einsetzung einer Enquete-
und in dem sich die Kinder frei im Internet bewegen
Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“. Wir
können, ohne auf ungeeignete Inhalte zu stoßen. Diese
als FDP-Fraktion haben dieses Vorhaben von Anfang an
Initiative hat bundesweit Schulen Kooperation und In-
ausdrücklich unterstützt; denn wir sind der Meinung,
formation angeboten, aber nur in drei Bundesländern
dass diese Enquete längst überfällig ist.
kam man auf das Angebot zurück. Drei von 16: Das ist
eindeutig zu wenig. Sie ist deshalb überfällig, weil das Internet in der poli-
tischen Diskussion oftmals nur als Hort für illegale In-
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Michael
halte oder als Hilfsmittel für kriminelle Handlungen
Kretschmer [CDU/CSU] und Uwe Schummer
diskreditiert wurde. Etwas mehr Sachverstand in der poli-
[CDU/CSU])
tischen Debatte hätte ich mir, offen gestanden, bereits in
fragFINN.de muss nicht das einzige Programm sein, der Vergangenheit oft gewünscht.
aber ich finde, dass das fehlende Interesse eine gewisse (Beifall bei der FDP)
Tendenz zur bislang mangelnden Sensibilität für das
Thema aufzeigt. Wir brauchen kompetente Lehrerinnen Ich bin mir aber sicher, dass wir mit den neuen Kollegen
und Lehrer und kompetente Eltern, dann haben wir auch aus allen Fraktionen, die zu uns gestoßen sind, in Zu-
kompetente Kinder und Jugendliche im Umgang mit den kunft einen besseren Kurs fahren können.
Medien unserer Zeit.
Wichtig ist uns von der FDP eine grundsätzliche Fest-
Zum Schluss möchte ich noch an ein Schreiben erin- stellung: Es sind und bleiben Menschen, die als Nutzer
nern, das die Minderheitenverbände Anfang des Jahres in Einzelfällen kriminell oder illegal handeln, und dieser
an die Fraktionsvorsitzenden richteten. Sie fordern darin Umstand kann nicht zu einem Generalverdacht gegen-
die Abgeordneten des Deutschen Bundestages auf, bei über dem Medium oder den Nutzern führen.
der Einsetzung dieser Enquete-Kommission auch dem
(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Michael
Schutz vor und der Verfolgung von Hasspropaganda im
Kretschmer [CDU/CSU])
Internet Aufmerksamkeit zu schenken. Ich denke, dieser
Aufforderung sollten wir unbedingt nachkommen. Ich Die FDP möchte den Fokus und den Blickwinkel erwei-
freue mich auf die gemeinsame Arbeit. tern und auch darüber sprechen, welchen Nutzen das In-
2392 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Sebastian Blumenthal
(A) ternet jedem einzelnen Mitglied unserer Gesellschaft zu und für Wissenschaftler und Unternehmen entstehen (C)
bieten hat. Das bezieht sich auf den privaten Bereich ge- ganz neue Formen der Kooperation und der Wertschöp-
nauso wie auf das berufliche Umfeld. Aus Sicht der fung. Davon können alle Beteiligten profitieren. Es ist
FDP-Fraktion muss es darum gehen, die Chancen und im Interesse eines starken Wissens- und Wirtschafts-
die Potenziale des Internets in den Mittelpunkt zu stellen standorts Deutschland, dass wir vonseiten der Politik
und die entsprechenden politischen Rahmenbedingun- diese Entwicklungen unterstützen.
gen zu schaffen. Auch dazu brauchen wir diese Enquete-
Kommission. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Den vorliegenden Einsetzungsantrag brauchen wir Die Bevölkerung will, dass wir uns dieses Themas
vor allem, um sicherzustellen, dass wir uns folgenden vermehrt annehmen. Bei einer Umfrage des BITKOM
konkreten Themen stellen: Wichtig ist, dass die Men- haben 60 Prozent angegeben, dass die Internetpolitik in
schen sich ihrer Rechte und ihrer Verantwortung bei der dieser Legislaturperiode ein wichtiges oder sehr wichti-
Nutzung des Mediums Internet bewusst sind, aber sie ges Thema sein soll. Gleichzeitig zweifelt aber eine
müssen auch ihr Bewusstsein dafür schärfen, dass der Vielzahl der Menschen daran – 44 Prozent waren es in
Freiheitsgedanke dort zum Tragen kommt. dieser Umfrage –, dass in der Politik der notwendige
Sachverstand dafür existiert.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) Die Diskussionen der letzten Wochen haben gezeigt,
dass der Staat seine Rolle in der Informationsgesell-
Wichtig ist ferner, dass wir im Bereich Medienkompe- schaft noch nicht richtig gefunden hat. Es ist deswegen
tenz dafür Sorge tragen – da möchte ich gerne an die höchste Zeit, dass wir losgelöst vom Tagesgeschäft mit
Ausführungen der Kollegin von der SPD anschließen –, Experten und mit der Öffentlichkeit darüber nachdenken
dass die Nutzer eigenverantwortlich, bewusst und frei und diese Rolle genauer definieren.
entscheiden können, wo sie welche Daten publizieren.
Wir müssen aber auch das Bewusstsein dafür schärfen, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
welche Gefahren im Internet vorhanden sind, dass an- neten der FDP)
dere mit diesen Daten Missbrauch treiben können. An
Ich begrüße daher ausdrücklich den fraktionsübergrei-
dieser Stelle stimme ich der Kollegin von der SPD völlig
fenden Antrag zur Bildung dieser Enquete-Kommission.
zu. Diesbezüglich treffen Sie die Linie der Freien Demo-
Wir werden darin natürlich auch die Debatten der letzten
kraten: Die Schaffung von Medienkompetenz ist eine
Wochen weiterführen. Das Internet ist ein freies Me-
wichtige Aufgabe, der wir uns in der Enquete-Kommis-
dium. Es lebt von der Freiheit. Wir wollen diese Freiheit
sion widmen möchten. Ich freue mich insofern auf die
(B) Zusammenarbeit mit den Kollegen in der Enquete-Kom- auch bewahren. Aber wir dürfen dabei nicht vergessen: (D)
Zur Freiheit gehört untrennbar ein Mindestmaß an Si-
mission.
cherheit.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Das Internet ist kein rechtsfreier Raum.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Brigitte Zypries [SPD]: Ach ja?)
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Reinhard Brandl
von der CDU/CSU-Fraktion. Der Staat muss auch in der Informationsgesellschaft
Mittel und Wege haben, wirkungsvoll gegen Kriminali-
(Beifall bei der CDU/CSU) tät vorzugehen. Das sind wir unseren Bürgerinnen und
Bürgern schuldig.
Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU): Dabei haben Fragen des Datenschutzes für mich
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! oberste Priorität. Nicht der Staat, nicht ein Unternehmen,
Das Internet hat in den vergangenen 15 Jahren unsere sondern der Bürger selbst ist Eigentümer seiner persönli-
Welt und unsere Gesellschaft verändert. Bis vor wenigen chen Daten.
Jahren haben auch in der Politik viele eher skeptisch auf
die Entwicklungen in der sogenannten virtuellen Welt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
geschaut. Heute ist klar: Es gibt keine Trennung mehr
zwischen virtueller und realer Welt. Für fast 60 Prozent Auch im Internet gilt das Grundrecht der informationel-
der Deutschen ist ein Leben ohne Internet nicht mehr len Selbstbestimmung. Wir müssen die Bürger rechtlich,
vorstellbar. Es ist zum festen Bestandteil ihres realen Le- technisch und bezüglich ihres Kenntnisstands in die
bens geworden. Lage versetzen, dort dieses Recht durchzusetzen. An
dieser Stelle ist nach meiner Ansicht der Unterschied
Das Netz hat dabei einen grundlegenden Wandel hin- zwischen offline und online, dass der Bürger online, um
ter sich. Es ist gestartet als eine eher technische Informa- überhaupt teilhaben zu können, oftmals gezwungen ist,
tions- und Kommunikationsplattform. Heute ist es eine seine persönlichen Daten preiszugeben. Es gibt Bürger,
Lebensplattform, auf der grenzüberschreitend Menschen die hier sehr freigiebig sind; das liegt primär in ihrer ei-
zusammenfinden. Im Internet, auf dieser Plattform, wer- genen Verantwortung. Sie müssen aber auch über mögli-
den Freundschaften gepflegt und geschlossen, Interes- che Konsequenzen ihres Tuns informiert werden. Auf
sengemeinschaften bilden und organisieren sich dort, der anderen Seite gibt es Bürger, die übervorsichtig sind
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2393
Dr. Reinhard Brandl
(A) und sich zum Beispiel nicht trauen, online ein Buch zu online gestellter Videos. Die Grenzen sind schon jetzt (C)
kaufen. fließend, und die Entwicklung – Sie werden es ahnen –
ist längst nicht am Ende. Medienkonvergenz ist kein
Hier sind Staat und Wirtschaft gefordert, Vertrauen in Endzustand.
die Sicherheit des Netzes zu schaffen. Denn nicht nur an
dieser Stelle droht uns eine digitale Spaltung. Während (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
das Internet für viele zur Lebensplattform geworden ist, der CDU/CSU)
sind es in der Gesamtschau nur 71 Prozent, die das Inter-
Die Funktionen von heute noch getrennten Geräten wie
net tatsächlich nutzen. Wir dürfen die anderen 29 Pro-
Telefon oder Radio werden sich annähern und ver-
zent nicht vergessen oder gar von gesellschaftlicher Teil-
schmelzen.
habe ausschließen.
Die Verbesserung der Kommunikationsmöglichkeiten
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) und der bessere Zugang zu Informationen werden auch
Sie sehen: Es gibt viel zu tun. Wir werden den Auf- einen positiven Einfluss auf unsere Demokratie haben.
trag des Deutschen Bundestages ernst nehmen und in Es wird eine deutlich größere Teilhabe der Bürgerinnen
den kommenden zwei Jahren mit Experten und der inte- und Bürger am politischen Geschehen geben. Die Inter-
ressierten Öffentlichkeit intensiv daran arbeiten. Ich aktion zwischen Politikern und Bürgern und auch zwi-
wende mich an dieser Stelle auch explizit an die Bürge- schen Herstellern und Verbrauchern ändert sich gerade
rinnen und Bürger, die diesen Debattenbeitrag nicht live, auf fundamentale Weise. Deshalb kann die Einsetzung
wie die Kollegen oder die vielen Besucher hier, verfol- dieser Enquete-Kommission nur ein Startschuss für die
gen, sondern ihn online über das Internet, zum Beispiel dringend notwendige politische Begleitung dieser The-
auf bundestag.de, abrufen. Dort wird in wenigen Wo- men sein.
chen auch diese Enquete-Kommission mit einem Ange- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
bot vertreten sein. der CDU/CSU)
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Ich freue mich ganz besonders, dass diesem Bundes-
Das ist gut so!) tag eine ganze Reihe neuer junger Abgeordneter mit
Dort haben Sie die Möglichkeit, sich aktiv in unsere Ar- Kompetenz angehört. Herr Kollege Klingbeil, Kompe-
beit einzubringen. Nutzen Sie auch diese Möglichkeit tenz beweist man jedenfalls nicht, indem man bei der
des Internets und der politischen Beteiligung. Wir freuen Besetzung der Enquete-Kommission auf die Generation
uns über jeden Beitrag. Münzfernsprecher setzt. Wir setzen auf Abgeordnete,
die aus der Branche und der Community kommen.
(B) Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (D)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie der CDU/CSU)
des Abg. Dr. Konstantin von Notz [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]) Wir werden uns Gedanken machen, wie wir als Ge-
sellschaft und als Gesetzgeber den technologischen Fort-
schritt und seine Auswirkungen dauerhaft beobachten
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
und, falls erforderlich, regelnd eingreifen. Wir brauchen
Das Wort hat der Kollege Jimmy Schulz von der langfristig brauchbare Erkenntnisse und Positionen. Wir
FDP-Fraktion. können diese Enquete-Kommission schließlich nicht in
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten jeder Legislaturperiode neu einsetzen. Dieses Quer-
der CDU/CSU) schnittsthema verdient auch in diesem Haus seinen eige-
nen Platz.
Jimmy Schulz (FDP): Vielen Dank.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Damen und Herren! Die Einsetzung dieser Enquete-
Aydan Özoğuz [SPD]: Sie sind doch gar nicht
Kommission ist ein Meilenstein für dieses Haus und für
so jung! Was erzählen Sie denn?)
die Politik in Deutschland. Dort wird über sehr viele der
gesellschaftlichen Herausforderungen auf dem Weg in
die Kommunikationsgesellschaft des digitalen Zeitalters Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
diskutiert werden. Gerade im Bereich Medienkonver- Das Wort hat jetzt der Kollege Marco Wanderwitz
genz tritt dies besonders deutlich zutage. von der CDU/CSU-Fraktion.
Medienkonvergenz ist ein eher dröges Wort für die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
dominierende Entwicklung in unserem Alltag. Es geht neten der FDP)
um Fragen wie: Was ist Fernsehen? Was ist Rundfunk?
Was ist Telefonie? Ist YouTube ein Fernsehsender? Ist Marco Wanderwitz (CDU/CSU):
die Tagesschau eine Internetplattform? – Das gilt ge- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
nauso für uns in diesem Haus; denn fast alle Kollegen Internet ist eine Kommunikations- und Informations-
sind mittlerweile im Internet aktiv. Sie sind tätig als He- plattform, die in der Geschichte der Menschheit bisher
rausgeber und Redakteure von Texten auf der eigenen kein Vorbild kennt. Deshalb ist vieles, wie so oft bei
Homepage, als Reporter auf Twitter oder als Regisseure neuen Entwicklungen, für erfreulich viele Menschen erst
2394 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Marco Wanderwitz
(A) einmal sehr positiv. Sie gehen unvoreingenommen und Meinungen gibt. Unsere Sicht ist bekannt. Wir sind der (C)
positiv an die Dinge heran. Das ist, wie ich glaube, eine Meinung, dass im Bereich der neuen Medien und damit
gute Sache. Aber neben dem Positiven und all den auch im Internet der Schutz des geistigen Eigentums
Potenzialen gibt es im Zusammenhang mit dieser neuen – dort vielleicht mit anderen Mitteln – den gleichen Stel-
Informations- und Kommunikationsplattform auch Risi- lenwert haben muss wie außerhalb der neuen Medien,
ken und Gefahren. Diese will ich, wollen wir als Union
nicht in den Vordergrund stellen, aber wir wollen sie (Beifall bei der CDU/CSU)
auch nicht ausblenden. weil uns ansonsten irgendwann ein Stück weit die Dyna-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- mik verlorengeht. Wenn wir das geistige Eigentum nicht
neten der FDP) schützen, dann werden diejenigen, die in diesem Bereich
tätig sind, irgendwann wirtschaftlich an ihre Grenzen ge-
Der Kollege Koeppen hat vorhin davon gesprochen, dass raten, weil man dann von diesen Innovationen nicht le-
wir Leitplanken brauchen; das ist ein richtiges und schö- ben kann.
nes Bild. Wir brauchen ein Leitbild – ich hoffe, wir kön-
nen uns möglichst einvernehmlich darauf verständigen –, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
und wir müssen hier und da gewisse Leitplanken setzen. neten der SPD und der FDP)

Mehr oder weniger freiwillig – die Kollegin hat da- Ein weiteres Thema, das wir in diesem Hause durch-
rauf schon hingewiesen – werden heute im Internet von aus kontrovers diskutieren – ich will der Debatte hier
vielen Leuten viele Informationen preisgegeben: beim nicht aus dem Wege gehen, sondern sie im Gegenteil of-
Onlinebanking, beim Einkaufen oder wenn sie Fotos ins fensiv ansprechen –, ist die Aussage, die Kollege
Netz stellen. Sie tun das manches Mal sicherlich auch, Kretschmer vorhin traf: Im Internet gelten die gleichen
ohne zu wissen, was alles mit ihren Daten passieren Rechte. Ich will es etwas anders formulieren: Es gilt das
kann. Deswegen ist es wichtig, dass wir bei der Vermitt- gleiche Recht. Wir müssen uns mit der Frage beschäfti-
lung von Medienkompetenz vorankommen, einerseits gen, wie wir mit Kinderpornografie, Extremismusdar-
bei den jungen Leuten, andererseits aber natürlich auch stellungen, Gewaltverherrlichung und dergleichen mehr
bei denen, die nicht mit dem Internet groß geworden umgehen, und hier zu ernsthaften Lösungen kommen.
sind. Bisher ist es uns noch nicht gelungen, im Internet auch
nur ansatzweise einen vergleichbaren Schutz sicherzu-
Als Sie, Herr Kollege, gerade die „Generation Münz- stellen wie außerhalb dieses Mediums. Das ist ein wich-
fernsprecher“ erwähnt haben, klang das für mich ein tiges Thema, bei dem wir meines Erachtens ein Stück
bisschen negativ. So war es sicherlich nicht gemeint. weiterkommen müssen. Die Position, gegen alles zu
sein, die so manch einer vertritt, ist mir jedenfalls etwas
(Jimmy Schulz [FDP]: Nein! So war das doch
(B) zu einfach. (D)
nicht gemeint! – Aydan Özoğuz [SPD]: Vor al-
lem ist er genauso alt wie wir! – Weiterer Zu- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
ruf von der SPD: Genau! Er ist auch nicht neten der FDP)
mehr der Jüngste!)
Der Arbeitsauftrag an die Enquete-Kommission, wie
Aber Spaß beiseite: Bei vielen neuen technischen Ent- ich ihn einmal definieren will, könnte lauten: Wie schaf-
wicklungen ging es immer darum, auch die vielen mitzu- fen wir es, auf der einen Seite die Chancen zu nutzen,
nehmen, die nicht mit dem Internet groß geworden sind. ohne übermäßig einzuschränken und zu gängeln, aber
Deswegen ist mir einerseits wichtig, junge Leute mit auf der anderen Seite auch die schützenswerten Rechte
Medienkompetenz auszustatten, aber andererseits eben nicht völlig außer Acht zu lassen?
auch, diejenigen, die für sich bis jetzt noch nicht den
richtigen Zugang gefunden haben, mit Angeboten zu (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
versehen, damit sie den Einstieg finden und zumindest
teilweise die Chancen des Internets nutzen können. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Ich schließe die Aussprache.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der SPD) Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des
Es wurde bereits angesprochen, dass wir im Bereich Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 17/950 mit
Jugendmedienschutz eine ziemlich große Baustelle ha- dem Titel „Einsetzung einer Enquete-Kommission ‚In-
ben. Es gibt allerdings einige erfreuliche Entwicklungen. ternet und digitale Gesellschaft‘“. Hierzu liegt ein Ände-
fragFINN ist schon genannt worden. Ich halte dies für rungsantrag der Fraktion Die Linke vor, über den wir zu-
ein tolles Projekt, auf dem man aufbauen kann und das nächst abstimmen.
durch die Bundesregierung entsprechend vorangetrieben
wird. Aber da müssen wir eine ganze Menge mehr tun. Wer stimmt dem Änderungsantrag der Fraktion Die
Deshalb will ich diesen Bereich der Enquete-Kommis- Linke auf Drucksache 17/951 zu? – Gegenstimmen? –
sion bei ihrer Arbeit mit auf den Weg geben. Enthaltungen? – Der Änderungsantrag ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der SPD-
Ein Punkt, der bisher noch keine so große Rolle ge- Fraktion und Zustimmung der Fraktionen Die Linke und
spielt hat, obwohl ihn einige Kolleginnen und Kollegen Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
angesprochen haben, ist der Schutz des geistigen Eigen-
tums. Wir haben aufgrund vieler Debatten in diesem Jetzt kommen wir zum Einsetzungsantrag auf Druck-
Hause gesehen, dass es hier durchaus eine Bandbreite an sache 17/950. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dage-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2395
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) gen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist einstimmig ange- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C)
nommen. neten der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP Diese Zahlen zeigen, dass wir in den zurückliegenden
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Monaten durch die Einführung der Kurzarbeiterrege-
lung, durch die Absenkung des Arbeitslosenversiche-
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 6 auf: rungsbeitrages auf 2,8 Prozent und durch die Verlänge-
rung der Arbeitslosengeld-I-Bezugsdauer für ältere
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Arbeitnehmer die richtigen Maßnahmen getroffen ha-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
ben, um in der Krise Arbeitsplätze zu erhalten.
(11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten
Sabine Zimmermann, Klaus Ernst, Matthias W. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Frak- neten der FDP)
tion DIE LINKE
Ein Wort zur Kurzarbeiterregelung. Mit den Konjunk-
Folgen der Krise für Arbeitnehmerinnen und turpaketen I und II hat die unionsgeführte Bundesregie-
Arbeitnehmer abmildern – ALG I befristet auf rung die Weichen richtig gestellt. Daran haben Sie von
24 Monate verlängern der SPD mitgewirkt.
– Drucksachen 17/22, 17/269 – (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Paul Lehrieder [CDU/CSU], an die SPD ge-
Berichterstattung: wandt: Da könnt ihr auch klatschen!)
Abgeordnete Katja Mast
Die christlich-liberale Koalition hat im November letz-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die ten Jahres die Bezugsdauer von Kurzarbeitergeld verlän-
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi- gert. Diese Maßnahme finanzieren wir aus dem Bundes-
derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das haushalt mit circa 1,5 bis 2 Milliarden Euro. Dadurch
so beschlossen. unterstützen wir in der Krise Arbeitnehmer und mittel-
ständische Betriebe dort, wo Hilfe gebraucht wird.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
nerin der Kollegin Heike Brehmer von der CDU/CSU- Die Bundesagentur für Arbeit hat jüngst mitgeteilt,
Fraktion das Wort. dass gerade kleine und mittelständische Betriebe die
Kurzarbeiterregelung nutzen. 15 Prozent der Unterneh-
(Beifall bei der CDU/CSU) men, die weniger als 20 Mitarbeiter beschäftigen, nutzen
die Kurzarbeiterregelung. Die Hälfte der Betriebe, die
(B) Heike Brehmer (CDU/CSU): zwischen 20 und 500 Mitarbeiter beschäftigen, nutzt die (D)
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kurzarbeiterregelung. Von den großen Unternehmen
Damen und Herren! Wir behandeln heute einen Antrag nutzt nur ein Drittel die Kurzarbeiterregelung. Die
der Linken, in dem formuliert wird, dass der christlich-liberale Koalition wird die Rahmenbedingun-
gen dafür schaffen, dass die Arbeitsplätze der Arbeitneh-
Einbruch am Arbeitsmarkt geringer ist, als befürch- mer in den mittelständischen Unternehmen erhalten blei-
tet. ben.
Meine Damen und Herren von der Linken, worüber (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
diskutieren wir dann heute? neten der FDP)

Unsere Maßnahmen zur Bewältigung der Krise haben Eine Verlängerung der Arbeitslosengeld-I-Bezugs-
Wirkung gezeigt. Der große Einbruch am Arbeitsmarkt, dauer würde die schon zu hohen Lohnnebenkosten wei-
den einige Experten in düstersten Prognosen ausgemalt ter ansteigen lassen. Die Linke macht in ihrem Antrag
haben, hat bisher nicht stattgefunden. Dies belegen die keinen einzigen Vorschlag, wie diese Maßnahme gegen-
Zahlen der Bundesagentur für Arbeit. Saisonbereinigt finanziert werden soll. Eine Anhebung des Arbeitslosen-
sind die Zahlen angesichts der Krise sogar positiv zu be- versicherungsbeitrages und somit die Gefährdung von
werten. In Ostdeutschland liegt die Arbeitslosenquote Hunderttausenden sozialversicherungspflichtigen Be-
gegenwärtig bei 13,7 Prozent. Insgesamt sind 3,6 Millio- schäftigungsverhältnissen wären die Folge.
nen Menschen arbeitslos. Dies ist Ausdruck einer Ar- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
beitsmarktpolitik mit Augenmaß, an der vor allem die Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Das
unionsgeführte Bundesregierung einen großen Anteil interessiert die doch gar nicht! Die freuen sich
hatte und hat. doch über jeden neuen Arbeitslosen! –
Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das ist der
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Humus, auf dem sie Politik machen!)
neten der FDP)
Im letzten Wahlkampf hat die Linke mit dem Slogan
Unsere Arbeitsmarktreformen haben gewirkt. Vor der „Reichtum für alle“ geworben.
Krise nahm die Zahl der Arbeitslosen von über 5 Millio-
nen auf knapp 3,2 Millionen ab. Im Februar 2010 sank (Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der
die Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern gegen- CDU/CSU: Und „Reichtum besteuern“! –
über dem Vorjahresmonat sogar um 3,5 Prozent. Das Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: In der
sind Erfolge, die Sie nicht wegdiskutieren können. DDR gab es Armut für alle!)
2396 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Heike Brehmer
(A) Im Gegensatz zu Ihnen müssen wir verantwortungsvoll Deutschland derart geholfen hat? Ich erinnere mich hier (C)
handeln. Wir können keine leeren Versprechungen abge- doch gerne an den ehemaligen Bundesarbeitsminister
ben. Olaf Scholz.
(Beifall bei der CDU/CSU) Der Wermutstropfen bei der Kurzarbeit ist natürlich,
dass alle, die kurzarbeiten, Lohneinbußen hinnehmen
Mit der Verabschiedung des morgen auf der Tages-
müssen. Da ich glaube, dass es hier einige gibt, die sich
ordnung stehenden Entwurfs eines Sozialversicherungs-
in den Details nicht so gut auskennen, will ich auf eines
Stabilisierungsgesetzes werden wir Folgendes tun: Ers-
hinweisen: Wenn wir über Kurzarbeit und Arbeitslosen-
tens. Die Beitragssätze und damit die Lohnnebenkosten
geld I reden, besteht immer die Sorge, dass sich die
werden stabilisiert. Zweitens. Die Bundesagentur erhält
Kurzarbeit nachteilig auf das Arbeitslosengeld auswir-
einen Bundeszuschuss, um ihre Mindereinnahmen aus-
ken könnte. Ich will daran erinnern: Für Kurzarbeiter,
zugleichen. Drittens. Wir werden die Freibeträge für das
die Arbeitslosengeld I beziehen müssen, spielt die Höhe
Altersvorsorgevermögen von 250 Euro auf 750 Euro je
des Kurzarbeitergeldes keine Rolle, da das Arbeitslosen-
vollendetem Lebensjahr erhöhen. Viertens. Außerdem
geld auf der Grundlage ihres ursprünglichen Einkom-
stärken wir die private Altersvorsorge.
mens berechnet wird. Lohneinbußen zählen hier also
Im Vergleich zu den Maßnahmen in anderen EU-Län- nicht. Das ist sehr wichtig.
dern haben unsere Maßnahmen zur Bekämpfung der
Krise Wirkung gezeigt. Darauf können und werden wir Ich setze mich gerne mit dem Antrag der Linken aus-
uns nicht ausruhen. Viele Arbeitnehmerinnen und Ar- einander, insbesondere mit der ersten Forderung. Ich
beitnehmer konnten sehr schnell wieder in den Arbeits- denke, wir haben morgen in der Debatte noch Gelegen-
markt vermittelt werden. Ein Grund dafür ist die aktive heit, zu der Frage Stellung zu nehmen, wie haushalts-
Arbeitsvermittlung. Ich möchte diese Gelegenheit heute relevant die zweite Forderung ist.
nutzen und mich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbei- Meine Kolleginnen und Kollegen von den Linken, Sie
tern der BA und allen privaten Arbeitsvermittlern bedan- übernehmen einen Vorschlag des Wirtschafts- und So-
ken, welche mit großem persönlichen Einsatz tagtäglich zialwissenschaftlichen Instituts in der Hans-Böckler-
Menschen wieder in Arbeit bringen. Stiftung, greifen aus dieser klugen Analyse einen Teil
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. heraus und machen daraus einen Antrag. Sie wollen die
Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]) maximale Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes einheit-
lich auf 24 Monate verlängern und das Ganze bis zum
Mit Blick auf die demografische Entwicklung in den Jahresende 2012 befristen. Wer allerdings die kluge
nächsten Jahren können wir es uns nicht leisten, jüngere Analyse des Instituts gelesen hat, der weiß, dass dies in
(B) Arbeitnehmer zu Hause zu lassen. Wir brauchen drin- weitere Vorschläge eingebettet ist. Diese kommen in Ih- (D)
gend Fachkräfte, vor allem in technischen und naturwis- rem Antrag nicht vor. Ich habe darin beispielsweise
senschaftlichen Berufen. Wir werden alles daransetzen nichts zum Umbruch und zur Neuausrichtung des Ar-
und entsprechend dem Bedarf auf unserem Arbeitsmarkt beitsmarkts gelesen. Ein Schwerpunkt der Analyse ist:
verstärkt qualifizieren und ausbilden. Als nächste Wie sieht es mit den Branchen aus, in denen die Zukunft
schwierige Aufgabe steht die Neuordnung der Jobcenter der Arbeit liegt? Wie sieht es mit anderen Branchen aus,
im SGB II vor uns. Dies ist eine große, wichtige und be- in denen wir möglicherweise einen erheblichen Rück-
deutende Aufgabe. Die Betroffenen sollen ihre Leistun- gang bei der Zahl der Arbeitsplätze zu verzeichnen ha-
gen ab dem 1. Januar 2011 in gewohnter Weise erhalten. ben? – Das Resultat ist – wir alle wissen das –: Wir brau-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) chen Qualifizierung, Bildung und Weiterbildung, und
zwar in den Branchen, die zukunftsträchtig sind. Dazu
Wir lehnen den Antrag der Linken ab. sagen Sie gar nichts. Sie kaprizieren sich auf die Bezugs-
dauer.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wenn man sich genauer mit Ihrem Vorschlag befasst,
erkennt man, dass er erhebliche Ungerechtigkeiten birgt.
Ich will das kurz darlegen: Am meisten profitieren jene
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Arbeitnehmer, die nur kurz Beiträge eingezahlt haben
Das Wort hat die Kollegin Gabriele Lösekrug-Möller und damit über eine geringe Anwartschaft verfügen. Sie
von der SPD-Fraktion. würden, folgte man Ihrem Antrag, sozusagen achtfach
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) die Gewinner sein. Ältere Arbeitnehmer ab 55 aufwärts
profitieren leider überhaupt nicht von Ihrem Vorschlag;
denn die Bezugsdauer ist für sie bereits heute so gere-
Gabriele Lösekrug-Möller (SPD):
gelt, wie Sie das in Ihrem Antrag fordern. Das halte ich
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
nicht für ausgewogen; das kritisiere ich. In der Regel
Meine Damen und Herren! Die Kurzarbeit als breitere
– darauf beziehen Sie sich – geht man von einer Be-
und längere Beschäftigungsbrücke ist ein Erfolg. Ich
schäftigungsdauer von zwei Jahren aus; nur dann würde
sage das, weil das schnell in Vergessenheit gerät, und
sich die Bezugsdauer verdoppeln.
will auch daran erinnern, dass Gelb-Schwarz schlecht
beraten war, sie vorschnell zurückzubauen. Und wer hat Ich finde den Vorschlag, den der DGB gemacht hat,
diese breite Beschäftigungsbrücke erfunden – ich frage viel interessanter. Dieser Vorschlag ist aus guten Grün-
einmal wie in der Werbung –, Frau Brehmer, die uns in den viel differenzierter. Demnach könnte es eine Lösung
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2397
Gabriele Lösekrug-Möller
(A) sein, ein befristetes Überbrückungsgeld zu zahlen, und che Weiterbildung kümmern. Das sind nicht zuletzt die (C)
zwar im Anschluss an den Bezug von Arbeitslosengeld I, Gewerkschaften, die mit vielen Tarifabschlüssen dafür
für zwölf Monate und in voller Höhe des ALG I. Das gesorgt haben, dass wir den Einstieg geschafft haben.
käme – so der DGB – für jeden vierten oder fünften Ar-
beitslosengeld-I-Bezieher infrage. Ich finde den Vor- Ich weise abschließend darauf hin, dass sich auch die-
schlag interessant. Er enthält auch eine gute Empfehlung ses Haus darum kümmern muss; denn wir müssen fest-
für die Kostentragung: Steuerzahler und Arbeitslosen- stellen, dass die Unternehmen das offenkundig nicht von
versicherung sollen die Kosten hälftig übernehmen. alleine machen. Sie haben die SPD auf Ihrer Seite. Die
gute Nachricht für alle Bezieher von Arbeitslosengeld I
In Wirklichkeit geht es um ein anderes Thema – ich und II ist: Auch sie geben wir nicht auf. Auch ihnen gilt
habe es schon angesprochen –: Wir müssen viel größeres unser Angebot: Steigt ein in Qualifizierung und Weiter-
Augenmerk auf Qualifizierung und Weiterbildung in bildung! Das ist die Perspektive, für die wir eintreten.
Verbindung mit dem Bezug von Arbeitslosengeld I le-
gen. Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD)


Da ist die Debatte in der SPD richtig; denn wir wählen
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
anders als Sie – das muss ich leider sagen – eine größere
Perspektive: Wir schauen über 2012 hinaus und schauen, Das Wort hat jetzt der Kollege Johannes Vogel von
wie die Arbeitswelt von morgen und übermorgen sein der FDP-Fraktion.
wird. Da gibt es eigentlich nur eine kluge Richtung: Der (Beifall bei der FDP)
Schlüssel zu guter Arbeit für morgen und für alle liegt in
Qualifizierung und Weiterbildung. Das ist unser Thema.
Es lässt sich hervorragend mit all dem verbinden, was Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP):
wir möglicherweise und klugerweise in Bezug auf das Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Arbeitslosengeld ändern wollen. Aus Sicht der FDP-Fraktion kann ich sagen, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen von der Linken: Wir werden Ihren
Wir alle wissen, dass die betriebliche Weiterbildung Antrag aus fünf Gründen ablehnen.
in Deutschland ein Sorgenkind bzw. Stiefkind ist: Die
Teilnehmerquote liegt bei nur 30 Prozent; das ist er- Der erste Grund ist, dass der Antrag von falschen Vo-
bärmlich. Im europäischen Vergleich haben uns Öster- raussetzungen ausgeht. Die Arbeitslosigkeit wird weit
reich und Spanien längst überholt. Daraus folgt: Wenn weniger dramatisch steigen als gedacht. Das ist erst ein-
wir darüber reden, wie wir uns gut aufstellen, müssen mal eine gute Nachricht. Sie wissen so gut wie ich, dass
(B)
wir uns fragen, wie wir die Bereitschaft zur Weiterbil- sich der Einbruch am Arbeitsmarkt im zweiten Halbjahr (D)
dung fördern und was dabei der richtige Weg ist. Ich 2009 stabilisiert hat und dass wir im Januar 2010 saison-
kann nur sagen: In dieser Hinsicht gibt es gute Unterstüt- bereinigt sogar einen leichten Zuwachs bei den Arbeits-
zung von Arbeitsmarktexperten des IAB, die auch sagen, plätzen hatten. Alle Prognosen geben Anlass zur Hoff-
dass wir die große Linie sehen müssen. nung, dass wir im Jahresmittel vielleicht sogar unter
4 Millionen Arbeitslosen bleiben werden. Aber statt sich
Die SPD hat dazu eine kleine Faustregel aufgestellt. darüber zu freuen, legen Sie veraltete Anträge vor. Ich
Sie heißt: zwei mal drei. Ich will sie gerne erläutern. Wir glaube, solchen Anträgen sollten wir nicht zustimmen;
wollen für jede und jeden den bestmöglichen Einstieg in wir sollten sie in die Tonne kloppen. Der Facharbeiter-
die Erwerbstätigkeit. In der Regel braucht man dafür mangel nach der Krise ist schon in Sicht. Das ist doch
drei Jahre. Dies soll unter bestmöglichen Rahmenbedin- auch eine gute Nachricht. Ihr Hinweis auf die drohende
gungen stattfinden. Wir alle wissen aber, dass Erwerbs- Arbeitslosigkeit am Ende der Kurzarbeit geht insoweit
biografien nicht mehr so ungebrochen sind, wie das ein- ins Leere.
mal war. Deshalb sind wir der festen Überzeugung: Wir
brauchen im Erwerbsleben weitere drei Jahre, in denen Der zweite Grund bezieht sich auf Ihre Forderung, die
Weiterbildung und Qualifizierung ermöglicht und geför- Defizithaftung des Bundes wieder einzuführen. Entspre-
dert werden. Das ist eine Perspektive für Männer und chend geringer wird auch der Finanzbedarf sein. Die von
Frauen im Arbeitsleben. Diese Perspektive wollen wir Ihnen genannten Zahlen sind längst überholt. Sie spre-
entwickeln. chen noch von einem Defizit von 55 Milliarden Euro
von 2010 bis 2013. Die aktuelle Prognose geht von
(Beifall bei der SPD) 41 Milliarden Euro aus. Im Übrigen muss die Finanzier-
Die SPD hat in der Debatte dazu verschiedene Vor- barkeit nicht über die Wiedereinführung der Defizithaf-
schläge entwickelt. Manche sagen: Wir wollen eine Ver- tung gesichert werden; denn sie ist jederzeit gesichert.
längerung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I nur Sie wissen so gut wie ich, dass der Bund zu Liquiditäts-
dann gewähren, wenn der Bezug mit mindestens zwölf hilfen verpflichtet ist, aber eben als Darlehen.
Monaten Weiterbildung verbunden wird. Ich glaube, das (Sabine Zimmermann [DIE LINKE]: Eben!
ist ein richtiger Einstieg; aber wenn wir ehrlich sind, Das ist ja das Problem!)
reicht es nicht. Wir reden auch über Weiterbildung und
Qualifizierung bereits im Job. Das heißt, es gibt viel zu Ich glaube, das ist eine gute Sache. Wenn Sie die Bera-
tun für diejenigen, die in Arbeit sind und diese halten tungen im Ausschuss verfolgt hätten, dann hätten Sie
wollen. Es gibt viel zu tun für alle, die sich um betriebli- mitbekommen, dass selbst der Chef der Bundesagentur,
2398 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Johannes Vogel (Lüdenscheid)


(A) Herr Weise, gesagt hat, dass das Darlehen grundsätzlich gerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I ver- (C)
die sinnvollere Lösung ist, braten wollen?
(Sabine Zimmermann [DIE LINKE]: Da (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
waren die Bedingungen anders!)
Dies gilt ferner für die Verbesserung der Vermittlung;
weil es dazu anhält, sinn- und maßvoll mit den Mitteln denn auch das wird nicht kostenfrei gehen. Es geht
umzugehen. Das hat er so gesagt. schließlich auch um das Verhältnis zwischen Arbeitsver-
In einer Jahrhundertkrise, wie wir sie gerade erlebt mittlern und Arbeitslosen. An der Stelle ist es ebenfalls
haben, in der durch das Kurzarbeitergeld zwangsläufig nicht sinnvoll, das Geld für eine solche Maßnahme aus-
höhere Kosten auf die BA zukommen, muss man Son- zugeben.
derlösungen finden. Das haben wir als Regierung mit Und schließlich gilt es für einen niedrigen Beitrag.
dem Sonderzuschuss getan. Darüber werden wir morgen Ziel muss doch sein, den Beitrag langfristig stabil und
im Zusammenhang mit dem Sozialversicherungs-Stabi- niedrig zu halten, da das die Lohnnebenkosten unten hält
lisierungsgesetz nochmals beraten. Das ist der Ausdruck und so neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Insofern
dessen, dass wir in der Krise bereit sind, zu agieren. atmet Ihr Antrag den völlig falschen Geist. Sie wollen
Aber der BA langfristig einen Freifahrtschein auszustel- nur Folgen abmildern. Sie machen sich zu wenige Ge-
len und zu signalisieren, dass es egal ist, ob das Darlehen danken darüber, wie wir aus der Krise herauskommen
zurückgezahlt wird, weil der Bund für das Defizit haftet, und langfristig Arbeitsplätze schaffen.
ist ein völlig falscher Weg, der selbst von der Bundes-
agentur abgelehnt wird. Ich möchte darauf hinweisen, dass man, wenn man
den parlamentarischen Beratungsprozess – Plenum,
Ein weiterer Punkt neben den falschen Voraussetzun- Ausschuss, Plenum – ernst nimmt, zur Kenntnis nehmen
gen ist, dass wir es für besser halten, die Folgen der muss, dass der Antrag nicht nur von der Regierung, son-
Krise zu verhindern, statt sie abzumildern. Ziel muss dern auch im Ausschuss einhellig abgelehnt wurde. Alle
doch sein, Arbeitsplätze zu schaffen. Fraktionen außer der Ihren haben diesen Antrag abge-
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lehnt. Ich glaube, man sollte diese große Allianz von
NEN]: In der Hotellerie!) Fachpolitikern ernst nehmen; es wird etwas dran sein.
Insofern sollten Sie vielleicht darüber nachdenken, ob
– Ja, Frau Pothmer, lassen Sie mich doch ausführen, was Ihr Antrag nicht ganz durchdacht ist.
wir tun. – Sie signalisieren, dass die Arbeitslosigkeit
nicht mehr so schlimm wäre, wenn wir die Bezugsdauer Wir von der Regierung werden richtigerweise andere
des Arbeitslosengeldes verlängern. Ich halte das für ein Dinge unternehmen, um die Krise abzumildern und den
(B)
völlig falsches Signal. Wir müssen vielmehr die beste- Menschen Perspektiven zu geben. Als Erstes haben wir (D)
henden Arbeitsplätze sichern und neue schaffen, indem notwendigerweise die Bezugsdauer des Kurzarbeitergel-
wir Wachstum fördern. Das ist allemal sinnvoller, als die des verlängert, weil es das richtige Mittel ist, um Men-
Arbeitslosigkeit komfortabler zu gestalten. schen in Beschäftigung zu halten. Weiterhin setzen wir
auf Wachstum, weil wir, liebe Frau Pothmer, nicht Ho-
(Beifall bei der FDP) tels, sondern kleine und mittlere Unternehmen sowie Fa-
Der dritte Grund, den Antrag abzulehnen, ist, dass er milien entlasten wollen.
neue Ungerechtigkeiten produziert. Mit welcher Begrün- (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
dung wollen Sie, wenn die Arbeitslosigkeit alle Men- NEN]: Und die Hotels auch! Das Adlon auch! –
schen gleich hart trifft, heute ein Jahr Arbeitslosengeld, Gegenruf von der FDP: Die Hotelgeschichte
morgen zwei Jahre und übermorgen wieder drei Jahre ist doch langweilig! Da müssen Sie sich was
Arbeitslosengeld gewähren? Das nimmt Ihnen niemand Besseres einfallen lassen!)
ab. Das kann man auch niemandem vermitteln. Die
Menschen würden das zu Recht als ungerecht empfin- Das ist ein wichtiger Beitrag zu mehr Wachstum und auf
den; insofern kann man das nicht machen. Man kann dem Weg aus dieser Krise.
niemandem vermitteln, warum jemand, wenn er zufällig (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
in einem bestimmten Zeitkorridor arbeitslos wird, anders
behandelt wird als derjenige, den dieses Schicksal davor Wir wollen außerdem die Abgabenbelastung und die
oder danach ereilt hat. Steuerbelastung der Menschen niedrig halten; darüber
machen wir uns Gedanken. Wir wollen die Steuern wei-
(Beifall bei der FDP)
ter senken und den Sozialstaat so ausgestalten, dass sich
Der vierte Grund ist, dass wir meines Erachtens die der Weg in den Arbeitsmarkt durch bessere Zuverdienst-
Mittel der Bundesagentur besser einsetzen müssen, möglichkeiten lohnt und dass nicht der Verbleib in der
Arbeitslosigkeit befördert wird.
(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich finde, Ihr Antrag ist für Ihre Verhältnisse insgesamt
zum Beispiel für die Qualifikation. Sie haben selber aus-
ungewöhnlich konsistent; das muss man sagen. Gewöhn-
geführt, dass wir den Menschen Qualifikationsangebote
lich ist allerdings in meinen Augen die vollkommen ver-
machen sollten.
fehlte Zielsetzung. Sie verschlimmern die Situation und
Ich frage Sie: Woher wollen wir das Geld für die Qua- wollen dies konsequenterweise durch die Wiedereinfüh-
lifikation nehmen, wenn Sie den Beitrag für die Verlän- rung der Defizithaftung finanzieren. Der Unterschied ist:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2399
Johannes Vogel (Lüdenscheid)
(A) Sie wollen die Arbeitslosigkeit verwalten. Wir wollen sie die Sie alle betrieben haben. Deshalb sind Sie von SPD, (C)
bekämpfen. Anstatt an den vermeintlichen Folgen herum- FDP, CDU/CSU und Grünen sich auch alle einig. Das ist
zudoktern, nehmen wir die Herausforderung ernst und bedenklich, und das werden wir als Linke verhindern.
schaffen neue Perspektiven und neue Arbeitsplätze für
(Beifall bei der LINKEN)
die Menschen. Deshalb werden wir den Antrag ablehnen.
Deshalb wollen wir die Bezugsdauer des Arbeitslo-
Vielen Dank.
sengeldes I krisenbedingt – die Betonung liegt auf „kri-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) senbedingt“ – von derzeit 12 Monaten auf 24 Monate
verlängern.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich nenne Ihnen ein ganz konkretes Beispiel. Ein Kol-
Das Wort hat Sabine Zimmermann für die Fraktion lege, Metaller, 48 Jahre, aus Baden-Württemberg, arbei-
Die Linke. tete bis zum März letzten Jahres in einem Automobilzu-
(Beifall bei der LINKEN) liefererbetrieb. Die Krise hat ihn voll erwischt. Er besaß
einen Arbeitsvertrag, der nur befristet war. Das Unter-
nehmen hatte leichtes Spiel und hat ihn sofort entlassen.
Sabine Zimmermann (DIE LINKE): Die Aussichten auf einen neuen Job – das wissen Sie alle –
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und sind sehr schlecht. Bis sich die Automobilbranche wie-
Herren! Herr Vogel, welche Arbeitsplätze wollen Sie der erholt, werden noch Monate vergehen. Das Fazit ist:
schaffen? Welche Arbeitsplätze haben Sie geschaffen? Dem Kollegen droht jetzt der Absturz in Hartz IV; denn
Das waren nur Arbeitsplätze im Minijobbereich und im Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer können jahrzehn-
Midijobbereich, also im Bereich der prekären Beschäfti- telang in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben,
gungsverhältnisse. Das ist Ihr Slogan. Wir hatten beim aber soweit sie nicht älter als 50 Jahre sind, erlischt ihr
Arbeitslosengeld I einst eine Bezugsdauer von 32 Mona- Anspruch auf Arbeitslosengeld I nach zwölf Monaten,
ten. Das ist mein erster Punkt. und sie erhalten nur Arbeitslosengeld II. Genau das ist
(Beifall bei der LINKEN) ungerecht, und dagegen wehren wir uns.

Nun zu meinem zweiten Punkt. Frau Brehmer, wenn (Beifall bei der LINKEN)
man Ihnen so zuhört, dann denkt man, die Welt sei in Diese Regelung ist ein Produkt Ihrer Hartz-IV-Gesetze;
Ordnung. Ich muss Ihnen aber sagen, dass die Realität denn davor richtete sich die Bezugsdauer des Arbeits-
wesentlich anders aussieht. Sie müssen einmal in einen losengeldes I stärker nach der Zahl der Versicherungs-
Betrieb gehen und sich sachkundig machen, wie es den jahre.
(B) Menschen geht. Ihr Slogan ist nicht „Reichtum für alle“, (D)
sondern „Mehr Armut in diesem Land“. Das ist bedenk- Es sind keine Einzelfälle. Im letzten Jahr gingen mo-
lich. natlich 20 000 Menschen direkt vom Arbeitslosengeld I
in das Arbeitslosengeld II, und die Tendenz ist steigend.
(Beifall bei der LINKEN) Dieser schnelle Absturz in Hartz IV verängstigt Millio-
Was wir hier im Moment erleben, ist eine unerträgli- nen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Unser Vor-
che und verlogene Sozialhetze durch die FDP und ganz schlag ist einfach: Wir wollen die Bezugsdauer des Ar-
konkret durch Herrn Westerwelle. Daran sind auch Sie beitslosengeldes I krisenbedingt von 12 auf 24 Monate
beteiligt, Herr Vogel. verlängern. Machen Sie endlich eine Politik, damit die
Menschen nicht ärmer werden! Nehmen Sie ihnen die
(Beifall bei der LINKEN) Angst vor der Armut!
Es werden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit ei- Danke für die Aufmerksamkeit.
nem niedrigen Lohn gegen Arbeitnehmerinnen und Ar-
(Beifall bei der LINKEN)
beitnehmer mit einem guten Tarif ausgespielt. Arbeits-
platzbesitzer werden gegen Erwerbslose aufgehetzt; das
kann es einfach nicht sein. Der Grund ist aus meiner Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Sicht, dass Sie offensichtlich einen weiteren Sozialabbau Für das Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt Brigitte
vorbereiten. Pothmer.
(Beifall bei der LINKEN)
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Unser Antrag, der heute zur Abstimmung steht – ich Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
gehe davon aus, dass Sie ihm alle zustimmen –, Frau Brehmer, lieber Herr Vogel, die Krise auf dem Ar-
beitsmarkt ist entgegen dem, was Sie hier formuliert ha-
(Lachen bei der FDP)
ben, noch lange nicht vorbei.
geht natürlich in die andere Richtung. Wir wollen den
(Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Frau
Sozialstaat und die Arbeitslosenversicherung stärken,
Pothmer, Sie müssen zuhören! Das habe ich
und das im Interesse von Millionen Arbeitnehmerinnen
nicht gesagt!)
und Arbeitnehmern. Worum geht es? Im Zuge der Wirt-
schaftskrise verlieren Hunderttausende ihren Job. Nicht Die Arbeitslosenzahlen steigen, und sie werden in den
wenige rutschen wegen fehlender Jobs nach einem Jahr nächsten Monaten noch weiter ansteigen. Das wahre
vom Arbeitslosengeld I in Hartz IV. Das ist eine Politik, Ausmaß der Unterbeschäftigung ist deutlich größer, als
2400 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Brigitte Pothmer
(A) es die offiziellen Arbeitslosenzahlen vermuten lassen. In Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C)
Deutschland fehlen im Moment mehr als 5 Millionen Frau Pothmer, Frau Zimmermann möchte Ihnen gerne
Vollzeitarbeitsplätze. In dieser zugespitzten Situation eine Zwischenfrage stellen. Möchten Sie sie zulassen?
müsste eine Regierung alles, aber auch alles tun, um vor-
handene Arbeitsplätze zu sichern und die Entstehung Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
neuer Arbeitsplätze anzuregen. Ja, bitte.
(Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Frau
Pothmer, das tun wir doch!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Bitte.
In dieser Situation müssten Sie alles, aber auch alles tun,
um vor allen Dingen diejenigen bestmöglich zu unterstüt-
Sabine Zimmermann (DIE LINKE):
zen, die einen Arbeitsplatz suchen. Das heißt vor allem
langfristige Qualifizierung. Was tut Ihr Außenminister, Vielen Dank. – Frau Pothmer, nehmen Sie zur Kennt-
Herr Vogel? In dieser arbeitsmarktpolitisch schwierigen nis, dass wir hier nicht über die 55-Jährigen, sondern die
Situation bricht er eine Hetzkampagne gegen Arbeitslose bis 50-Jährigen reden, also die unter 50-Jährigen? Um
vom Zaun. diese Menschen geht es. Wenn jemand zum Beispiel
zehn Jahre eingezahlt hat, bekommt er trotzdem nur
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zwölf Monate lang Arbeitslosengeld I. Uns geht es da-
rum, dass dieser Mensch 24 Monate lang Arbeitslosen-
Ich persönlich hätte eigentlich erwartet, dass die Kanzle- geld I beziehen kann.
rin wirklich mehr als eine Stilkritik äußert, dass sie sich
ohne Wenn und Aber von ihrem Außenminister abgrenzt Ich frage Sie: Meinen Sie, dass es einem Menschen,
und sich vor die Geringqualifizierten und die Arbeitslo- der nach zwölf Monaten vom Arbeitslosengeld I sofort
sen stellt. Das hat sie nicht getan. in Hartz IV abstürzt, besser geht, als wenn er 24 Monate
Arbeitslosengeld I beziehen würde? Was denken Sie da-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rüber?
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ich kann daher nur sagen: Shame on you!
Frau Zimmermann, wollen Sie allen Ernstes behaup-
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- ten, dass nach Ihren Vorstellungen ein 55-Jähriger weni-
SES 90/DIE GRÜNEN) ger lange Arbeitslosengeld I beziehen soll? Das meinen
Sie doch nicht wirklich. Wir müssen dann auch dem
(B) Was Sie in dieser Krise, die auch eine Strukturkrise 55-Jährigen länger Geld geben. (D)
ist, tun sollten, wäre, Konzepte für Innovationen und zu-
kunftstaugliche Arbeitsplätze vorzulegen. Wir brauchten (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
von Ihnen Konzepte für Aus- und Weiterbildung. Der NEN]: Ja, genau!)
letzte Tag der Krise – damit haben Sie, Herr Vogel, aus- Frau Zimmermann, die Anstrengungen, die wir unter-
nahmsweise recht – ist der erste Tag des Fachkräfteman- nehmen müssen, bestehen darin, Menschen wieder in
gels. Aber, lieber Herr Vogel, wo bleiben denn Ihre Kon- Arbeit zu bringen. Die Umsetzung Ihres Vorschlages
zepte, um Fachkräfte tatsächlich vorzuhalten? würde unglaublich viel Geld verschlingen und brächte
uns einer qualitativen Lösung keinen Millimeter näher.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deswegen müssen unsere Anstrengungen in eine andere
Frau Zimmermann, Sie liegen mit der Beschreibung Richtung gehen, Frau Zimmermann. Das denke ich da-
der Arbeitslosenproblematik nicht ganz falsch. Aber Sie rüber.
können doch nicht allen Ernstes glauben, dass bei einer (Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Sehr gut!)
Problembeschreibung dieser Kategorie, der Sie nicht wi-
dersprechen, die einfache Verlängerung der Bezugsdauer Was ich an Ihrem Antrag übrigens auch problema-
des Arbeitslosengeldes I eine richtige und angemessene tisch finde, ist die Tatsache, dass die Grundsicherungs-
Lösung ist. Die reine Verlängerung der Bezugsdauer empfänger davon überhaupt nicht profitieren. Die wahre
passiver Leistungen ist keine hinreichende Antwort. Herausforderung, der wir uns zu stellen haben, ist, Men-
schen nicht in Dauerarbeitslosigkeit zu entlassen. Was
Ich frage Sie: Was ändert sich qualitativ tatsächlich wir machen müssen, ist, sie für die Umsetzung neuer, in-
für einen 55-jährigen Arbeitslosen, wenn er sechs Mo- novativer Produktideen und eine ökologisch ausgerich-
nate länger Arbeitslosengeld I erhält? Das bringt ihn ei- tete Wirtschaft zu gewinnen.
nem Arbeitsplatz keinen Millimeter näher. Was wir ihm
Ich will Ihnen sagen, worauf wir setzen. Wir Grüne
anbieten müssen, ist Qualifizierung. Sie wissen genauso
setzen auf regionale und weiterbildungsorientierte
gut wie ich, wie schnell Arbeitslosigkeit dequalifiziert.
Transfergesellschaften. Transfergesellschaften geben
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) den Menschen eine finanzielle Absicherung und bieten
ihnen Qualifizierung und Beschäftigung. Kurzarbeit und
Ich finde es wirklich schade, dass Sie außer der Ver- Transfergesellschaften sind arbeitsmarktpolitische Kon-
längerung der Bezugsdauer von Transferleistungen we- zepte, die Beschäftigungsfähigkeit erhalten und wirksam
nig anzubieten haben. vor einem Abgleiten in die Grundsicherung schützen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2401
Brigitte Pothmer
(A) Die reine Ausweitung passiver Leistungen eröffnet über- Jetzt legen Sie in Ihrer allumfassenden Weisheit einen (C)
haupt keine Perspektive. Das ist der Grund, warum wir Antrag vor, in dem Sie unter Punkt II.2 fordern, dass
Ihren Antrag ablehnen. „die Finanzbasis der Bundesagentur für Arbeit unver-
züglich und nachhaltig“ gestärkt wird. Was haben wir
Ich danke Ihnen.
bei den Haushaltsberatungen denn gemacht? – Wir ha-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ben 16 Milliarden Euro nicht als Darlehen, sondern als
Zuschuss gewährt; darauf hat der Kollege Kober bereits
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: hingewiesen. Zu Ihrem Punkt II würden wir im Peti-
Das Wort für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege tionsausschuss sagen: Abschluss, weil teilweise entspro-
Paul Lehrieder. chen wurde.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Unter Punkt II.1 fordern Sie, unverzüglich „einen Ge-
neten der FDP – Karl Schiewerling [CDU/ setzentwurf vorzulegen, der die Bezugsdauer des Ar-
CSU]: Guter Mann!) beitslosengeldes I für alle Anspruchsberechtigten befris-
tet bis 2012 auf 24 Monate erhöht“. Schauen wir uns
doch einmal die jetzige Rechtslage an. Derzeit bekommt
Paul Lehrieder (CDU/CSU):
ein 58-Jähriger bis zu 24 Monate ALG I, wenn er
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen! 36 Monate Vorversicherungszeit in den letzten fünf Jah-
Werte Kollegen! Wir haben vor einigen Wochen hier im ren hat. Für einen 58-Jährigen bringt Ihr Antrag also
Plenum über einen Antrag der Linkspartei zu der Ent- schon einmal gar nichts. Hinsichtlich der 50- bis 55-Jäh-
scheidung des Bundesverfassungsgerichts beraten und rigen haben Sie, Frau Kollegin Zimmermann, ausge-
diskutiert. Dieser Antrag datiert vom 10. Februar; das führt, dass wir ihnen die Angst vor der Armut nehmen
Urteil ist vom 9. Februar 2010. Man hatte den Eindruck: sollen. Ich frage Sie: Ist einem 50-Jährigen die Angst vor
Die Tinte war noch nicht trocken, da haben Sie Ihren der Armut genommen, wenn er ein Jahr länger ALG I
Antrag schon geschrieben, oder er war schon vorgefer- bezieht, oder ist ihm die Angst genommen, wenn er eine
tigt. Chance hat, wieder einen Job zu bekommen? Das Geld,
Heute ist es genau umgekehrt. Wir stimmen über ei- das Sie in die Verlängerung der ALG-I-Bezugsdauer ste-
nen Antrag vom 10. November 2009 ab, in welchem Sie cken wollen, müssen wir – auch darauf hat die Kollegin
ausführen: Lösekrug-Möller zutreffend hingewiesen – woanders
wieder einsparen. Wir können den Menschen doch nicht
Der Einbruch am Arbeitsmarkt ist geringer, als be- im Gegenzug ein Stück weit die Vermittlungstätigkeit
fürchtet wurde. Dies ist auf die stabilisierende Wir- vorenthalten und statt Arbeit Arbeitslosigkeit finanzie-
(B) kung des verlängerten Kurzarbeitergeldes zurück- ren. Diese Entwicklung, Frau Kollegin Zimmermann, (D)
zuführen. geht in die falsche Richtung.
Frau Kollegin Lösekrug-Möller hat bereits auf die Vo- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.
raussetzungen dafür, die wir seinerzeit noch in der Gro- Pascal Kober [FDP])
ßen Koalition schaffen konnten, hingewiesen. Nicht nur
Olaf Scholz, sondern auch wir haben daran mitgewirkt. Deshalb können, wollen und werden wir Ihrem Antrag
nicht zustimmen.
„Viele der derzeit von Kurzarbeit Betroffenen sind
aktuell von Arbeitslosigkeit bedroht“, haben Sie am Die nächsten Monate werden zeigen, dass wir gerade
10. November 2009 geschrieben. die Facharbeiterqualifikation von älteren Menschen ganz
anders zu betrachten haben, als es in den letzten Jahr-
Mittlerweile dürfen wir feststellen, dass zum Glück zehnten der Fall war. Wir werden froh sein, wenn auch
– dafür gebührt den kleinen und mittelständischen Unter- ältere Menschen in Lohn und Brot bleiben und weiterhin
nehmen ein ganz besonderes Lob – sehr viele Unterneh- zur Verfügung stehen.
men das Instrument der Kurzarbeit länger und ausgiebi-
ger nutzen, als wir es uns bei seiner Einführung vorstellen Für jüngere Arbeitnehmer, also diejenigen unter
konnten. Allen Unternehmen gebührt Respekt, die uns 50 Jahren, beträgt die Anspruchsdauer tatsächlich zwölf
trotz Auftragsflaute geholfen haben, das Tal nicht so tief Monate, allerdings bereits seit Inkrafttreten des Arbeits-
werden zu lassen, wie es uns noch vor Jahresfrist alle förderungsgesetzes – man höre und staune – am 1. Juli
Wirtschaftsinstitute prognostiziert haben. 1969. Ihr Antrag geht irrtümlicherweise davon aus, dass
ein möglichst langer Arbeitslosengeldbezug ein Garant
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. für sozialen Frieden ist. Das Gegenteil ist der Fall. Wenn
Pascal Kober [FDP]) jemand bereits im zweiten Jahr ALG I bezieht, kann er
Der eine oder andere ist vielleicht noch im Besitz alter davon ausgehen, dass er noch weniger vermittelbar ist
Tageszeitungen von Januar und Februar 2009. Wenn als im ersten Jahr. Wir sind sehr froh, dass es uns gelingt,
man sich die damaligen Prognosen für die heutige Zeit einen Großteil der ALG-I-Bezieher wieder in eine so-
anschaut, sieht man, dass uns kein einziges Institut unter zialversicherungspflichtige Beschäftigung zu bekommen.
4 Millionen Arbeitslose gesehen hat. Durch die Verlän-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.
gerung der Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes haben
Pascal Kober [FDP])
wir eine viel geringere Delle in der Wirtschaft und im
Arbeitsmarkt erlitten, als wir es noch vor einem Jahr be- Auch dafür gebührt den Agenturen für Arbeit sowie den
fürchtet haben. Argen, die im Bereich des ALG II dafür zuständig sind,
2402 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Paul Lehrieder
(A) ein ausdrückliches Wort des Dankes. Sie bemühen sich, wiesen. Die Bezugszeit des Arbeitslosengeldes sollte so (C)
Arbeitsplätze zu schaffen und ihrer Vermittlungsaufgabe kurz wie möglich sein. Der Ansatz, die Vermittlungstä-
nachzukommen. tigkeiten zu intensivieren, ist der bessere. Es kann nicht
angehen, dass wir einfach nur den Verbleib im ALG I
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: verlängern. Wir sollten vielmehr gemeinsam mit der
Lassen Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Agentur für Arbeit über eine Verstärkung der Vermitt-
Zimmermann zu? lungstätigkeiten im ALG-I-Bereich versuchen, sowohl
die Qualifizierten als auch die Nichtqualifizierten in so-
zialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse
Paul Lehrieder (CDU/CSU):
zu bringen. Begleiten Sie uns auf diesem Weg, Frau Kol-
Ja, Frau Zimmermann, bitte. legin Zimmermann; dann sind wir nahe beieinander. Mit
Ihrem Antrag erreichen wir nicht das, was Sie wollen. So
Sabine Zimmermann (DIE LINKE): nehmen wir den Menschen nicht die Angst vor der Ar-
Verehrter Herr Kollege Lehrieder, ich habe eine ganz mut.
kurze Frage: Wo, bitte schön, sind die Millionen von Ar-
beitsplätzen, die wir für unsere hohe Zahl von arbeitslo- Herzlichen Dank.
sen Menschen brauchen? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Paul Lehrieder (CDU/CSU): Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:


Anders als die Linkspartei glaubt, sind Millionen von Ich schließe die Aussprache.
Arbeitsplätzen keineswegs staatlich zu garantieren. Sie
fordern letztendlich einen öffentlichen Arbeitsmarkt, der Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
steuerfinanziert aufgebaut werden müsste. ses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion
Die Linke mit dem Titel „Folgen der Krise für Arbeitneh-
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- merinnen und Arbeitnehmer abmildern – ALG I befristet
NEN]: Aber Herr Westerwelle fordert dies auf 24 Monate verlängern“. Der Ausschuss empfiehlt in
auch! – Gegenruf des Abg. Johannes Vogel seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/269, den
[Lüdenscheid] [FDP]: Das haben Sie falsch Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/22 ab-
verstanden!) zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wir müssen den Unternehmen die Möglichkeit geben, Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist die Be-
diese Arbeitsplätze hier zu schaffen, und zwar für alle schlussempfehlung bei Zustimmung durch die Fraktio-
nen von CDU/CSU, FDP, SPD und Bündnis 90/Die
(B) Lohngruppen. Es geht hier eben nicht nur um den Be- Grünen angenommen. Die Fraktion Die Linke hat dage- (D)
reich der Hochqualifizierten. Unsere Kanzlerin hat die
Aussage getroffen: Die Krise bietet die Chance, aus ihr gengestimmt.
besser aufgestellt herauszukommen, als wir in sie hi- Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 7 auf:
neingegangen sind, wenn wir die richtigen Bereiche för-
dern. Ich denke an Elektromobilität und die regenerati- Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika
ven Energien; da haben die Grünen in den letzten Jahren Grütters, Tankred Schipanski, Albert Rupprecht
gut mitgewirkt. Wir haben schon die Chance, der Welt (Weiden), weiterer Abgeordneter und der Frak-
auch in Zukunft Produkte anzubieten und so wieder zu tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
dem Exportweltmeister zu werden, der wir in den letzten Patrick Meinhardt, Dr. Martin Neumann (Lau-
Jahren waren. Ob wir das mit dem Export großkalibriger sitz), Dr. Peter Röhlinger, weiterer Abgeordneter
Autos erreichen werden, das mag dahingestellt sein. und der Fraktion der FDP

Natürlich müssen wir auch Arbeitsplätze schaffen. Bologna-Prozess vollenden – Länder und
Wir haben in diesem Haushalt – das, Frau Zimmermann, Hochschulen weiter unterstützen
haben Sie sicherlich gemerkt – den Bereich Bildung, – Drucksache 17/905 –
Entwicklung und Forschung ausgeweitet, ganz einfach
deshalb, weil wir, wenn wir im internationalen Wettbe- Es ist vorgesehen, hierzu eine halbe Stunde zu debat-
werb konkurrenzfähig bleiben wollen, auch in Zukunft tieren. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das
gute, unserem Lebensstandard entsprechende, hochwer- so beschlossen.
tige Produkte herstellen müssen, die wir weltweit ex- Das Wort hat Herr Parlamentarischer Staatssekretär
portieren können. In dieser Hinsicht müssen wir die Un- Thomas Rachel.
ternehmen unterstützen. Da können wir einiges tun. Da
entstehen die Arbeitsplätze der Zukunft. Unsere Ziele er- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
reichen wir nicht mit staatlichem Dirigismus und VEBs, der FDP)
wie es sie früher einmal gegeben hat.
Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.
desministerin für Bildung und Forschung:
Pascal Kober [FDP])
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Die Arbeitslosenversicherung ist eine Risikoversiche- Herren! Gemeinsame Ziele, vergleichbare Strukturen in
rung und keine Ansparversicherung. Das Ziel muss sein, Europa, aufeinander aufbauende Hochschulabschlüsse,
Arbeitsplätze zu schaffen; ich habe bereits darauf hinge- gemeinsame Instrumente der Qualitätssicherung, dies al-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2403
Parl. Staatssekretär Thomas Rachel
(A) les beschreibt den europäischen Hochschulraum. Mit schung ausgeben. Das ist einmalig in der Geschichte der (C)
dem Bologna-Prozess sind wir dieser Vision ein gutes Bundesrepublik Deutschland.
Stück nähergekommen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Was ist seit 1999, seit Beginn des Bologna-Reform-
der FDP) prozesses, geschehen? Es gibt mehr Bewegung, mehr
Viele junge Menschen profitieren davon. Wir sehen Mobilität: Hier in Deutschland hat sich die Zahl der Stu-
aber auch, dass es an vielen Stellen hakt und die Umset- dierenden, die einen Abschnitt ihres Studiums im Aus-
zung nicht überall so problemlos verläuft, wie wir uns land durchführen, nahezu verdoppelt. Wir möchten, dass
das erhoffen. Bei der Bologna-Jubiläumskonferenz in noch mehr Studierende einen studienbedingten Auslands-
Budapest und Wien wird es deshalb – neben der Zufrie- aufenthalt wahrnehmen. Deshalb wird die Bundesregie-
denheit mit bereits Erreichtem – um eine kritische Aus- rung einen Mobilitätspakt auf den Weg bringen, mit dem
einandersetzung mit offenbar gewordenen Defiziten in wir dieses Vorhaben durch Individualstipendien unter-
der konkreten Umsetzung gehen müssen. Grundlage für stützen, Hochschulkooperationen verstärken und Joint-
die Bewertung werden die Ergebnisse einer unabhängi- Degree-Programme einführen.
gen Evaluation durch ein internationales Konsortium (Zuruf von der SPD: Was?)
von Hochschulforschern sein sowie Studien der am Bo-
logna-Prozess beteiligten Studierenden und Hochschul- Wir wollen aber zusätzlich gemeinsam mit den Bun-
organisationen. desländern den Hochschulpakt um eine dritte Säule in
Form eines Qualitätspakets „Lehre“ ergänzen. Weiteres
Wo stehen wir? Der überwiegende Teil der 46 Bolo- Personal für die Hochschulen ist das eine; Zentren für
gna-Länder hat die notwendigen rechtlichen Rahmenbe- Studium und Lehre, die neue Impulse zur Professionali-
dingungen geschaffen. Es wurden in allen Ländern ge- sierung und Qualitätssicherung der Lehre an den Hoch-
stufte Studienstrukturen eingeführt, mit einem ersten schulen geben sollen, sind das andere. Der Bund ist be-
Abschluss nach drei oder vier Jahren und einem zweiten reit, für diese dritte Säule des Hochschulpakts in den
nach einem oder zwei weiteren Jahren. Hier in Deutsch- nächsten zehn Jahren 2 Milliarden Euro zusätzlich zur
land wurden bereits 79 Prozent aller Studiengänge auf Verfügung zu stellen. Ich finde, das ist ein gutes Signal
Bachelor und Master umgestellt. Zwischen den Staaten an die Hochschulen in Deutschland.
gibt es noch Unterschiede in der Umsetzung. Bisher hat (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
es noch kein Land geschafft, alle Vorgaben zu erfüllen.
Ich denke, eine so tiefgreifende Reform braucht auch ein Wir werden dies jetzt gemeinsam mit den Ländern be-
wenig Zeit. sprechen und dann Verhandlungen über eine Bund-Län-
(B) (D)
der-Vereinbarung aufnehmen.
Ich habe in den vielen Gesprächen in den letzten Mo-
naten vor allem zwei Dinge gelernt: Bei der Nationalen Bologna-Konferenz am 17. Mai
werden wir Bilanz über die Umsetzung und den Stand
Erstens. Ich habe mit vielen Studierenden gesprochen. der eingeleiteten Korrekturen ziehen. Wir werden ge-
Dabei hat sich mein Eindruck bestätigt, dass die ganz meinsam mit den Studierenden, den Hochschulen und
überwiegende Mehrheit die Ziele der Bologna-Reformen den Ländern den weiteren Fahrplan für den Bologna-
unterstützt. Das zeigen auch die aktuellen Umfragen: Prozess vereinbaren.
Drei Viertel der Studierenden unterstützen die Ziele der
Bologna-Reformen. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Der ist doch schon längst beschlossen!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir alle spüren doch: Die deutsche Hochschullandschaft
Zweitens. Die Umsetzung der Reformen kann und ist so in Bewegung wie seit Jahrzehnten nicht mehr.
muss verbessert werden. Als Allererstes nenne ich die Erstmalig haben wir eine Studienanfängerquote von
Frage der Studierbarkeit. Hier muss es Verbesserungen 43 Prozent. Das ist Rekord in der deutschen Geschichte.
geben. Außerdem müssen Mobilitätshindernisse, natio- Ich finde, das ist positiv.
nal wie international, ausgeräumt werden. Schließlich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
müssen wir für eine noch breitere Akzeptanz des Bache-
lors sorgen. Es geht also um konkrete Maßnahmen vor Der schon von der vorherigen Bundesregierung auf
Ort, an der einzelnen Hochschule, die den Studienalltag den Weg gebrachte, aber jetzt von den Koalitionsfraktio-
der Studierenden unmittelbar betreffen. nen und der Bundesregierung verstärkte Hochschulpakt
zeigt sehr viel schneller Wirkung, als wir erwartet haben.
Ich bin sehr froh, dass die Kultusministerkonferenz Bereits über 100 000 zusätzliche Studienplätze sind ge-
und die Hochschulrektorenkonferenz erste Schritte un- schaffen worden; das sind mehr, als für den jetzigen
ternommen haben, um die konkreten Studienbedingun- Zeitpunkt vorgesehen war.
gen vor Ort zu verbessern. Ich nenne die Neufassung der
(Ulla Burchardt [SPD]: Nur in Nordrhein-
„Ländergemeinsamen Strukturvorgaben für die Akkredi-
Westfalen nicht!)
tierung von Bachelor- und Masterstudiengängen“. Wir
als Bundesregierung unterstützen diesen Veränderungs- Das zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind und dass
prozess. In dieser Legislaturperiode wird der Bund wir die Chancen der auszubildenden jungen Menschen
12 Milliarden Euro zusätzlich für Bildung und For- ernst nehmen. Wir möchten, dass sie am Hochschul-
2404 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Parl. Staatssekretär Thomas Rachel


(A) standort Deutschland beste Ausgangsbedingungen be- Ich habe gerade Staatssekretär Rachel zugehört. Er (C)
kommen. Wir sehen auch mit Freude, dass unsere Hoch- hat eine ganze Menge salbungsvoller Worte gesagt; aber
schulstandorte für Studierende aus der ganzen Welt nichts steckt dahinter.
attraktiv sind. Die Bundesrepublik Deutschland steht
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
hinter den USA und Großbritannien an dritter Stelle hin-
sichtlich der Zahl ausländischer Studierender. Wenn man sich den Antrag „Bologna-Prozess vollen-
den“, den die Regierungskoalition vorgelegt hat, einmal
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
durchliest, kann man nachgerade depressiv werden.
Nur das, was sich verändert, kann langfristig Bestand (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
haben. Das sage ich auch denen an den Hochschulen, die
sich noch schwertun, weil sich manches eben gegenüber Es fängt damit an, dass Sie das Problem verharmlosen.
dem, wie es in den letzten 20 bis 30 Jahren war, ändert. Da wird gesagt:
Aber die deutschen Hochschulen haben auch eine In Deutschland ist die Umsetzung der Bologna-Re-
Chance, nämlich die Chance, sich als Teil des europäi- formen weit vorangeschritten. … Wesentliche Ziele
schen Hochschulraums zu verstehen. Das heißt, sie müs- der Reform sind bereits jetzt erreicht …
sen die internationalen Ansprüche und Erwartungen
(Beifall bei der CDU/CSU)
auch erfüllen. Die Partner in anderen am Bologna-Pro-
zess beteiligten Ländern achten darauf. Die Hochschulen Dann sprechen Sie davon, dass die Zahl der Studienab-
müssen sicherstellen, dass die Studierenden in unserem brecher an Universitäten „von 24 auf 20 Prozent zurück-
Lande auf der Basis einer guten Lehre und unter den gegangen“ sei. Das stimmt. Aber dass die Quote der Stu-
richtigen Studienbedingungen hervorragend ausgebildet dienabbrecher an den Fachhochschulen im gleichen
werden. Das muss das gemeinsame Anliegen von uns al- Zeitraum von 17 auf 22 Prozent gestiegen ist, das kommt
len sein. bei Ihnen nicht vor.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der SPD)
Meine Damen und Herren, uns verbindet in der christ- Dann kommen Sie doch zur Kritik und schreiben:
lich-liberalen Koalition, Die vergangenen Studentenproteste haben verdeut-
(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Na, na, na! – licht, dass die Bologna-Reform an einigen Hoch-
Ulla Burchardt [SPD]: Man hat nicht den Ein- schulen noch nicht die erhoffte Wirkung entfalten
druck, dass Sie etwas verbindet!) konnte.
(B) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (D)
dass wir gemeinsam dafür arbeiten möchten, dass noch
mehr junge Menschen auf dem beruflichen Sektor, aber Hui, ist das kritisch! Was für eine realistische Problem-
auch in der Hochschullandschaft insgesamt qualifiziert sicht!
ausgebildet werden. Deutschland braucht mehr gut aus-
gebildete Menschen. Gemeinsam mit den Bundeslän- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
dern, den Studierenden und den Hochschulen wollen wir BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von
diesen Hochschulstandort noch attraktiver und leistungs- der CDU/CSU: So sind wir halt!)
fähiger machen. Dann begrüßen Sie umfangreich unterschiedliche an-
Herzlichen Dank. gebliche Aktivitäten der Bundesregierung:
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Der Deutsche Bundestag begrüßt … das Bekenntnis
der Bundesregierung, … die Bereitschaft der
Bundesregierung, … die Absicht der Bundesregie-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
rung, …
Jetzt hat der Kollege Swen Schulz das Wort für die
Fraktion der SPD. – was haben wir hier noch? Noch einmal: –
(Beifall bei der SPD) die Absicht der Bundesregierung, … die Einladung
der Bundesbildungsministerin …
Swen Schulz (Spandau) (SPD): An einer Stelle werden Sie allerdings konkret und
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! forsch. Sie sprechen nämlich von dem Bologna-Ge-
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben im spräch am 12. April 2010. Es ist dumm gelaufen: Das
Hochschulbereich eine ganze Menge Probleme; das ha- Gespräch ist am 17. Mai. Sogar Sie sind also von der
ben die Studierendenproteste gezeigt. Aber auch unser Schlafmützigkeit Ihrer Ministerin überrascht worden.
Fachgespräch zur Umsetzung des Bologna-Prozesses,
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
das wir neulich im Ausschuss geführt haben, hat deutlich
DIE GRÜNEN – René Röspel [SPD]: Lieber
gemacht, dass wir einen erheblichen Handlungsbedarf
nicht vor der Wahl in Nordrhein-Westfalen!)
haben. Alle Experten haben das gesagt. Und so erwarten
die Bürgerinnen und Bürger, die Studierenden und die Wenn ich mir den Katalog dessen ansehe, was Sie an
Lehrenden eine kraftvolle Initiative der Regierungsko- der Bundesregierung begrüßen, dann stelle ich fest, dass
alition. noch fehlt, dass Sie die Ministerin dafür abfeiern, dass
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2405
Swen Schulz (Spandau)
(A) sie morgens ins Büro geht und dem Pförtner Guten Mor- Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP): (C)
gen wünscht. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Lieber Kollege Schulz, was Sie eben geboten
(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der haben, war sehr dünn; das muss ich an dieser Stelle sa-
SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- gen.
NEN)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Es schließen sich dann Aufforderungen vollkommen Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Fangen Sie
ohne Belang und – noch viel länger und ausführlicher – mal an, was auf die Beine zu stellen!)
Appelle an die Länder, die Hochschulen und die Wirt-
schaft, also an die Adresse von anderen, an. Meine sehr Lassen Sie mich aus eigener beruflicher Erfahrung da-
verehrten Damen und Herren von der Regierungskoali- rüber reden, an welchen Punkten Sie oberflächlich über
tion, das ist ideenlos, harmlos, folgenlos. Das bringt uns Dinge hinweggehen und Verunsicherung schüren, die im
nicht weiter. Volk vorhanden ist. Ich sage Ihnen: Wir sind auf dem
richtigen Weg. Sie waren bei der Anhörung des Aus-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schusses dabei. Dort hat Frau Professor Wintermantel,
DIE GRÜNEN) die Vorsitzende der Hochschulrektorenkonferenz vieles
gesagt, was Sie offensichtlich nicht hören wollten.
Dass Ihnen das selbst ein bisschen peinlich ist, merkt
man schon daran, dass Sie über diesen Antrag hier direkt Ich werde auf einige Dinge eingehen. Sie hat unter
abstimmen lassen wollen und ihn nicht erst, wie das nor- anderem gesagt, dass wir mit dem Bologna-Prozess eine
malerweise der Fall ist, in die Ausschussberatung über- der tiefgreifendsten Reformen im deutschen Hochschul-
weisen und dann noch einmal im Plenum über ihn disku- system seit 200 Jahren vorangebracht haben.
tieren lassen wollen. Das Ding soll vielmehr schnell weg (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Das bestrei-
in die Rundablage. Das ist keine ernsthafte parlamentari- ten wir nicht! Das haben wir gestartet!)
sche Arbeit, sondern ein Witz. Das geht so nicht.
Bologna ist gut für Studierende. Bologna ist gut für
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Deutschland und auch für Europa.
DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Es wäre aber alles nicht so schlimm, wenn Sie nicht Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Man muss es
noch die guten Anträge und die guten Initiativen von uns nur ordentlich machen!)
ablehnen würden. Das fing bei der CDU/CSU schon in
(B) der Großen Koalition an. Da haben Sie unseren Vor- – Wir werden es ordentlich machen. Sie haben elf Jahre (D)
schlag zur Einführung eines Studienpakts blockiert. lang Zeit gehabt, etwas zu tun. Sie haben nichts getan.
Unseren Antrag zur Förderung guter Lehre haben Sie Sie haben das Geld in Autos gesteckt und nicht in die
ebenfalls abgelehnt. Nach vielen Protesten und Diskus- Bildung.
sionen kommt Bildungsministerin Schavan um die Ecke (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
geschlichen und spricht von einem „Qualitätspakt Swen Schulz [Spandau] [SPD]: CDU/CSU ha-
Lehre“, für den 2 Milliarden Euro innerhalb von zehn ben es abgelehnt! – Gegenruf des Abg. Patrick
Jahren vorgesehen sind. Aber was passiert konkret? Meinhardt [FDP]: Recht hat er!)
Nichts. Im Haushaltsplan für 2010 sind im entsprechen-
den Titel 2 Millionen Euro vorgesehen. So viel zu den Meine Damen und Herren, wir reden über die Qualität
2 Milliarden Euro. Unseren Antrag im Ausschuss, die- der Vermittlung von Wissenschaft in Lehre und For-
sen Titel deutlich aufzustocken, haben Sie auch noch ab- schung. Wir sprechen auch über Qualitätsansprüche. Es
gelehnt. Das ist wirklich schwach von der Regierungs- gibt eine ganze Menge dazu zu sagen, wie man die Qua-
koalition. lität an bestimmten Stellen erhöhen kann. Mit Ihren
Worten verunsichern Sie wieder nur die Diskussion. Ei-
(Beifall bei der SPD) nes muss klar sein: Bologna ist und bleibt ein Prozess
zur Verbesserung von Organisation und Zusammenarbeit
Wir wollen erreichen, dass jährlich 1 Milliarde Euro in Forschung und Lehre in unterschiedlichen wissen-
mehr in gute Lehre und in die Hochschulen investiert schaftlichen Bereichen.
wird. Machen Sie das, stimmen Sie dem zu, anstatt hier
so eine Wischiwaschi-Nummer abzuziehen. Der Antrag von Union und FDP hat deshalb die Ziel-
stellung, den Bologna-Prozess zu qualifizieren und wei-
Herzlichen Dank. terzuentwickeln, und zwar gemeinsam mit den Ländern
und den Hochschulen. Sie erwecken den Eindruck, als
(Beifall bei der SPD) ob der Bund in die Autonomie der Hochschulen eingrei-
fen will. Das wollen wir nicht. Wir wollen die Gestal-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: tungskraft der Hochschulen fördern und begleiten.
Für die FDP-Fraktion spricht der Kollege Professor (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Dr. Martin Neumann.
Die Proteste der Studierenden Ende letzten Jahres haben
(Beifall bei der FDP) die Notwendigkeit deutlich gemacht.
2406 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Dr. Martin Neumann (Lausitz)


(A) Ihr Kollege Zöllmer war gestern bei einem Forum Die Koalition wird sich deshalb – das will ich an die- (C)
– ich war auch Gast, Sie waren nicht dort – und hat er- ser Stelle betonen – sehr intensiv mit folgenden Aspek-
zählt, dass er Studentenproteste beobachtet hat, bei de- ten beschäftigen und Lösungsansätze anbieten:
nen im Hörsaal sieben Studierende anwesend waren.
(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Hui!)
Man hat sie nicht weggetrieben, sondern man hat ver-
sucht, eine Diskussion zu führen. Reden Sie mit Ihren Notwendig ist eine verbesserte Studienfinanzierung.
Kollegen.
(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Kredite, oder
(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Ich war selber was meinen Sie?)
an den Hochschulen! Sie auch?)
– Darüber werden wir reden. Es gibt entsprechende An-
– Ich auch. Ich bin jede Woche an der Hochschule. Ja, so träge. Das wissen Sie.
ist das.
Wir brauchen auch eine verbesserte Studienberatung.
Wir müssen neben den kritischen Punkten, die ich Hier gilt es – das ist ganz wichtig –, Verunsicherung ab-
nicht unterschlagen möchte, das Positive hervorheben. zubauen.
Das mache ich an dieser Stelle und sage Ihnen – um die
(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Dann lassen
Verunsicherung abzubauen –: 80 Prozent der Studien-
Sie das mit den Stipendien doch sein! – Kai
gänge an deutschen Universitäten und Fachhochschulen
Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stu-
sind auf Master und Bachelor umgestellt.
diengebühren abschaffen!)
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
– Wir werden darüber reden. Lassen Sie uns das doch
Was ist denn mit Jura und Lehramt?)
ganz konkret besprechen.
Die Arbeitsmarktakzeptanz der ersten Bachelorabsol-
Die HIS-Studie befasst sich auch mit dem Thema Sti-
venten ist überwiegend gut, die Zahl der Studienabbrü-
pendien, über das Sie gerne diskutieren. Sie haben gese-
che geht seit den Bologna-Reformen signifikant zurück.
hen, dass an den Hochschulen mit Studiengebühren die
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zulassungszahlen und die Studienqualität steigen. Es ist
Stimmt nicht!) wichtig, das einmal hervorzuheben.
Die Verkürzung der Studienzeit auf durchschnittlich (Beifall bei der FDP – Swen Schulz [Spandau]
9,6 Fachsemester ist ein guter Anfang. [SPD]: Das stimmt überhaupt nicht! Sie hören
selektiv zu! Das Statistische Bundesamt hat et-
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
was völlig anderes gesagt!)
Bei den Naturwissenschaften steigt die Abbre-
(B) (D)
cherquote!) – Ich glaube nicht, dass wir das verwechseln.
Deutlich wird aber auch – das sage ich aus beruflicher Wir brauchen weniger verschulte Studienordnungen;
Erfahrung –: Wir leiden unter der jahrelangen Unter- das haben wir schon gesagt. Das ist aber eine Aufgabe
finanzierung des Hochschulsystems. Das ist kein Pro- der Hochschulen.
blem, das erst im Zuge des Bologna-Prozesses entstan-
Überlegenswert – das sage ich auch aus eigener Er-
den ist, sondern das war auch schon vorher da.
fahrung – ist ein bundesweites Tutorenprogramm zur
(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Deswegen besseren Betreuung der Studierenden. Warum? Weil Stu-
senken Sie jetzt die Steuern?) dierende eine Anlaufstelle in der Hochschule brauchen;
das muss nicht immer der Professor sein. Das kann man
Wir haben zu geringe Investitionen in Personal- und
sicherlich gut organisieren, und das kostet vielleicht gar
Sachausstattung. Die Reform wurde damals von Rot-
nicht so viel Geld.
Grün beschlossen, aber auch schon damals nicht mit aus-
reichend finanziellen Mitteln ausgestattet. Wir brauchen eine verbesserte Mobilität. Wir errei-
chen dies durch eine größere Vergleichbarkeit der Stu-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
diengänge. Deshalb beziehen wir die Hochschulen ein
der CDU/CSU – Ulla Burchardt [SPD]: Das
– das kann und muss man den Hochschulen zugestehen –
haben die Länder verhindert!)
und fordern von ihnen eine bessere Nutzung der vorhan-
Darin begründet sich eine Vielzahl von Kritikpunkten, denen Spielräume hinsichtlich der Dauer von Studien-
liebe Frau Burchardt, Sie wissen es besser. Ich habe Lis- gängen usw.
ten von Studierendenräten bekommen, die mir das bestä-
Wir brauchen regelmäßige Bewertungen der Qualität
tigt haben. Genau das sind die Punkte, über die wir hier
der Lehre und eine Veröffentlichung der Ergebnisse der
sprechen. Wir brauchen – das sage ich deutlich – eine
Qualitätseinschätzungen.
bessere Lehre und mehr Personal für die Betreuung der
Studierenden, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Swen Schulz [Spandau] [SPD]: „Wir brau-
(Beifall bei der FDP, der SPD und dem
chen, wir brauchen“! Was machen Sie denn?)
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Swen Schulz
[Spandau] [SPD]: Das sehen wir auch so!) – Wir werden das in dem Programm umsetzen; das habe
ich gerade gesagt.
zum Beispiel Professuren mit Schwerpunkt auf Lehre
usw. Weil meine Redezeit zu Ende geht, sage ich:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2407
Dr. Martin Neumann (Lausitz)
(A) (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: So ein Pech, also die Verwertbarkeit der künftigen Absolventinnen (C)
dass Sie zu dem Konkreten nicht mehr kom- und Absolventen. Der Bologna-Prozess ist untrennbar
men können!) verbunden mit der Lissabon-Strategie, in der die euro-
päischen Regierungen ihre Absicht dargelegt haben, bis
Im Bund und in den Ländern werden wir uns um den
2010 die USA und den asiatischen Raum wirtschaftlich
Aufbau und die Finanzierung zusätzlicher Studienplätze
zu übertrumpfen. Zur Lissabon-Strategie gehört auch,
kümmern. Wir werden uns um den Bologna-Qualitäts-
die Wettbewerbsfähigkeit durch niedrige Steuern zu er-
und Mobilitätspakt kümmern und die Qualität des Stu-
höhen. Die Hochschulreform sollte also noch dazu so
diums sowie die Mobilität der Studierenden verbessern.
gut wie nichts kosten. Diese drei Ziele zusammenge-
Das nationale Stipendienprogramm hat zum Ziel nommen – verbissene Elitebildung, maximale wirt-
– lassen Sie mich das an dieser Stelle noch einmal sagen –, schaftliche Verwertbarkeit der Absolventinnen und Ab-
10 Prozent der Studierenden ein Stipendium zu geben solventen sowie rigoroser Sparzwang – haben nicht nur
zu Murks geführt,
(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Was ist mit
den anderen 90 Prozent?) (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Aber auch nicht
zu Marx!)
und das BAföG zu novellieren, um letztendlich ein ge-
samtes Paket zur Studienfinanzierung zu haben. die Verwirklichung dieser Ziele musste für Studierende,
Forschende und Lehrende zum Albtraum werden.
Meine Damen und Herren, wir stecken nicht Geld in
alte Autos, sondern in mehr Bildung. (Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Sparzwang bedeutet mehr Geld für die einen und
der CDU/CSU – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/ zwangsläufig weniger Geld für die anderen. Die bevor-
DIE GRÜNEN]: Warum klatscht die CDU/ zugte Ausstattung weniger ausgewählter Hochschulen
CSU eigentlich?) im Zuge der Exzellenzinitiative ist mit der Deklassie-
rung der meisten anderen Hochschulen verbunden. Es
Wir machen unsere Hausaufgaben. Wir gehen fest davon
handelt sich um einen Selektionsprozess zwischen den
aus, dass die Länder wie die Hochschulen ihren Beitrag
Hochschulen. Um diesen in Gang zu bringen, wurden
leisten werden, damit der Bologna-Prozess ein Erfolg
die Forschenden entmachtet: in den Hochschulgremien
wird. Der Bologna-Prozess ist ein Baustein der Bil-
und über die Abhängigkeit von Drittmitteln. Der Wettbe-
dungspolitik. Die nächsten Schritte gehen wir gemein-
werb der Hochschulen untereinander in Form von Ran-
sam mit den Verantwortlichen am 17. Mai 2010 beim
kings, Ausschreibungen und Akkreditierungen absor-
Bologna-Gipfel.
biert inzwischen weitgehend deren Leistungsfähigkeit.
(B) (D)
Ich bedanke mich.
Es trifft genauso die Lehre. Bachelorstudiengänge
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) sollen große Mengen von Studierenden möglichst
schnell durch voll ausgelastete Hörsäle schleusen und
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: sind so konzipiert, dass den Studierenden genau so viel
Für die Fraktion Die Linke hat Nicole Gohlke das Wissen vermittelt werden soll, wie für ihre spätere Ver-
Wort. wertbarkeit benötigt wird. Anwesenheits- und Leis-
tungskontrollen sollen die Studierenden dabei auf Trab
(Beifall bei der LINKEN) bringen. Ganze Wissensgebiete wurden dafür in kleine,
gut abrufbare Bildungshäppchen zerlegt.
Nicole Gohlke (DIE LINKE):
(Manfred Grund [CDU/CSU]: Wollen Sie sich
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! über Studierende in der DDR unterhalten? –
Sehr geehrte Damen und Herren! Wir diskutieren im Zu- Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Wo haben Sie
sammenhang mit dem Bologna-Prozess in der Tat über studiert, Frau Kollegin?)
den radikalen Umbau der Hochschulen. Im Zuge dieser
Reform wurde natürlich auch über viele positive Ziele Genau deshalb bietet der Bachelor – entgegen Ihren Be-
diskutiert, unter anderem über das schon genannte Ziel hauptungen – keine guten Berufschancen. Er hat nicht
der internationalen Mobilität. Dass wir heute über Fra- nur ein Imageproblem, das man mit einer Marketing-
gen der sozialen Durchlässigkeit oder über Demokrati- kampagne beheben könnte, er ist de facto eine Bildungs-
sierung diskutieren können, haben wir vor allem den kürzung. Bachelorabsolventinnen und -absolventen
Protesten der Studierenden und der Gewerkschaften zu wünschen sich etwas anderes als billige und einseitige
verdanken. Qualifizierung.
(Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie (Beifall bei der LINKEN)
des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE
Solche Institutionen sind keine Hochschulen, sind
GRÜNEN])
keine Universitäten mehr. Für selbstbestimmtes Lernen
Wenn man sich die Umsetzung der Bologna-Reform und kritisches Reflektieren, für die Entfaltung der Per-
ansieht, muss man feststellen, dass es der Regierung, sönlichkeit und für die Einbeziehung in die Forschung
dass es Ihnen vor allem um zwei Ziele geht. Mit Ihren ist kein Platz mehr. Die Regierungen der letzten Jahre
Worten gesagt, sind das „internationale Wettbewerbsfä- haben letztendlich daran mitgewirkt, dass der Bildungs-
higkeit“ und die sogenannte „Beschäftigungsfähigkeit“, begriff auf wirtschaftliche Bedürfnisse verengt wurde
2408 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Nicole Gohlke
(A) und dass anstelle des Allgemeinwohls die Interessen von Ich hatte beim ersten Lesen des Antrags ein bisschen (C)
Unternehmen zum Maßstab für die Umgestaltung der das Gefühl: Bei CDU/CSU und FDP gibt es fast einen
Hochschule gemacht wurden. Das ist ein politischer Sinneswandel oder Lerneffekt. Sie schreiben:
Skandal.
Die vergangenen Studentenproteste haben verdeut-
(Beifall bei der LINKEN) licht, dass die Bologna-Reform an einigen Hoch-
schulen noch nicht die erhoffte Wirkung entfalten
Wir fordern das Recht auf eine gute wissenschaftliche konnte.
Bildung für alle Studierenden, und zwar an einer Hoch-
schule, in der sowohl die Lernenden als auch die Lehren- Da kann ich nur sagen: Aufgewacht und mitgemacht!
den zugleich Forschende sind und an der die Lehrenden Sie sind ja einen kleinen Schritt weiter. Glückwunsch,
gesicherte Arbeitsverträge haben. Sie aber wollen viele dass Sie die Studierendenproteste nicht mehr runterma-
Studierende zu einem Studienabbruch in Form eines Ba- chen
chelors zwingen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Paul
Lehrieder [CDU/CSU]: Zwingen will nie- nach dem Motto: „Das ist gestrig“ oder sie als eine Ge-
mand! SED ist vorbei!) fahr für die innere Sicherheit darstellen, wie Sie es im
Parlament getan haben. Dazu kann man nur sagen: Das
Durch amtliche Vorgaben, durch eine Quote soll vorab weckt ein bisschen Hoffnung, dass Sie nach einer mehr-
festgelegt werden, wie viel Prozent eines Jahrgangs als jährigen Phase des Schönredens vielleicht endlich in der
begabt genug gelten, um zum Masterstudiengang zuge- Bologna-Realität ankommen. Dazu wird es im zehnten
lassen zu werden. Einen absurderen Begabungsbegriff Bologna-Jahr höchste Zeit.
kann man sich nicht vorstellen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Du bist aber
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE nett! Das ist sehr optimistisch!)
GRÜNEN – Dr. Martin Neumann [Lausitz]
[FDP]: Bologna muss man verstehen!) Das war mein erstes Gefühl, als ich den Antrag gele-
sen habe. Dann habe ich weitergelesen
Die Linke unterstützt die Studierenden in ihrer Forde-
(Zurufe von der FDP: Oh!)
rung nach einem Recht – nicht der Pflicht – auf einen an-
schließenden Masterstudiengang für alle. Wir hoffen, und gemerkt: Das ist ein Dokument der Unverbindlich-
(B) dass wenigstens SPD und Grüne sich dieser Forderung keit und der Konzeptionslosigkeit. Sie drücken sich in (D)
anschließen können. Ihrem Antrag völlig um die Frage herum, wie die
Bologna-Reform künftig gegenfinanziert werden soll.
Vielen Dank.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Martin
(Beifall bei der LINKEN) Neumann [Lausitz] [FDP]: Nein!)
Uns allen ist klar, dass die Reform unterfinanziert ist.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Jetzt werden 12 Milliarden Euro für Bildung und Wis-
Kai Gehring hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen. senschaft in dieser Legislatur versprochen. Dann hätten
Sie mindestens 3 Milliarden Euro im Haushalt 2010 ein-
stellen müssen. Davon sind Sie sehr weit entfernt. Sie
Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
hangeln sich von einem Schwarzer-Peter-Spiel zum
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nächsten Sperrvermerk, dann gibt es wieder Vorbehalte
Der Hochschulbereich steckt definitiv voller Baustellen; hinsichtlich des Bologna-Gipfels und des Bildungsgip-
das ist in der bisherigen Debatte sehr deutlich geworden. fels. Man fragt sich: Was sagen eigentlich die Länder
Da helfen auch keine Schönwetterreden von Herrn dazu? Wollen die Länder zustimmen? Gehen sie mit
Rachel und auch keine Schmalspuranträge der Koalition, oder nicht?
wobei man ja schon fast anerkennen muss, dass Sie sich
überhaupt auf einen gemeinsamen Antrag haben verstän- Sie schreiben in Ihrem Antrag, bei Arbeitgebern herr-
digen können. sche Skepsis gegenüber den neuen Bachelor-Abschlüs-
sen. – Es ist schön, dass Sie das feststellen. Aber was ist
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ihre Lösung? Was wollen Sie dagegen tun? Wie ist Ihre
sowie bei Abgeordneten der SPD) Strategie, das zu ändern?
Die Zwischenbilanz der Bologna-Reform lässt sich (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Aufklä-
kurz zusammenfassen: Ziele weitgehend gut, Umset- rung! – Dr. Martin Neumann [Lausitz] [FDP]:
zung vielerorts schlecht. Das muss man so deutlich sa- Nicht weiter verunsichern!)
gen. Die Vision eines europäischen Hochschulraumes Dieser Fakt ist extrem wichtig.
muss man verwirklichen, statt sich davon zu verabschie-
den, wie es zum Beispiel die Linke offensichtlich tut. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Man muss jetzt die Probleme der Studierenden und der sowie des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann
Hochschulen konkret lösen; das ist das Entscheidende. [SPD])
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2409
Kai Gehring
(A) An einer anderen Stelle Ihres Antrags habe ich zuerst spannt, welche Vorschläge sie tatsächlich auf den Tisch (C)
ein bisschen geschmunzelt, aber dann habe ich mich er- legt. Allein, mir fehlt der Glaube. Ich rede mir hier seit
schrocken. Sie schreiben: Wir fordern die Bundesregie- Jahren den Mund fusselig und weise immer wieder da-
rung auf, die deutschen Erfahrungen mit der Umsetzung rauf hin, dass wir im Rahmen des Hochschulpakts end-
des Bologna-Prozesses auf europäischer Ebene einzu- lich eine Qualitätsoffensive brauchen. Wenn Sie dieses
bringen, um den Bologna-Prozess weiterzuentwickeln. Thema wirklich anpacken, kann ich nur sagen: Die Op-
position hat gewirkt.
(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Das ist Kaba-
rett!) (Dr. Martin Neumann [Lausitz] [FDP]: Meinen Sie
etwa Ihre Fundamentalopposition?)
Das ist Kabarett. Dazu kann ich nur sagen: Bloß nicht!
Was all die Baustellen, auf denen Sie nicht handeln,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
betrifft, werden wir nicht lockerlassen. Dazu gehört auch
und bei der SPD)
die soziale Dimension von Bologna. Die haben Sie in Ih-
Ihre Aufgabe wäre, die Best-Practice-Erfahrungen ande- rem Antrag nicht einmal erwähnt. Außerdem müssen Sie
rer Bologna-Länder zu studieren, anstatt sich mit dem, für eine größere Durchlässigkeit beim Übergang vom
was Sie in Deutschland tun, auf europäischer Ebene zu Bachelor zum Master sorgen.
blamieren.
In Deutschland ist die Anerkennungsquote katastro- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
phal. Nur 41 Prozent der im Ausland erworbenen Studi- Herr Kollege.
enleistungen werden hierzulande anerkannt. Das ist ein
ganz konkretes Problem der Studierenden. Die Koalition Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
sagt dazu kein Wort und hat auch keine Lösung. Wir ha- Sie dürfen diesen Übergang nicht durch Quote und
ben mehrfach gefordert: Prüfen Sie doch endlich, ob Note zum Nadelöhr machen, sondern müssen Studien-
man eine Mobilitäts- und Anerkennungsgarantie einfüh- plätze und damit mehr Bildungschancen für die junge
ren kann, Generation schaffen.
(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Ja! Wir wa- Vielen Dank.
ren doch gerade dabei!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
damit man die derzeitige Praxis umkehrt und sagt: Jeder, sowie des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann
der im Ausland etwas geleistet hat, kann danach in [SPD])
Deutschland weiterstudieren. – Damit würde man eine
(B) große Mobilitätshürde nehmen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (D)
(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Wir erfül- Für die Unionsfraktion spricht Tankred Schipanski.
len doch den Koalitionsvertrag!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Dazu, dass Universitäten mittlerweile untereinander Ver-
einbarungen treffen, mit dem Ziel, wechselseitig ihre Tankred Schipanski (CDU/CSU):
Abschlüsse anzuerkennen, kann ich nur sagen: Hier wird Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unser
die Bologna-Idee ad absurdum geführt. Für dieses Pro- Antrag mit dem Titel „Bologna-Prozess vollenden –
blem müssen Sie eine Lösung finden. Länder und Hochschulen weiter unterstützen“ ist ein be-
gleitender Antrag zur internationalen Bologna-Konfe-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
renz, die in Kürze in Wien und Budapest stattfindet, und
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
zum Bologna-Gespräch am 17. Mai dieses Jahres; das
KEN)
Datum wurde in unserem Antrag in der Tat noch nicht
Wir wollen mehr Freiräume für die Studierenden: ausgetauscht. Da es sich um einen begleitenden Antrag
mehr Freiräume für Auslandsaufenthalte, Praktika, stu- handelt, muss man ihn auch nicht extra im Ausschuss
dentische Nebenjobs und für Engagement. Dabei muss behandeln. Zudem ist er nicht schmal. Ich habe die
man ganz konkrete Zeit- und Mobilitätsfenster im Stu- Freude, Ihnen jetzt in sechs Minuten zu erklären, was in
dium einbauen und festschreiben. Außerdem muss man diesem Antrag steht, weil Sie das anscheinend noch im-
die vorhandene Überstrukturierung abbauen: durch Ent- mer nicht verstanden haben.
frachtung der Studienordnungen an den Universitäten,
Unser Antrag ist eine Zwischenbilanz der Bologna-
weniger Prüfungen und weniger Anwesenheitspflichten.
Reform, und zwar eine reale Zwischenbilanz, im Gegen-
Der Workload muss also runter, und die Studierbarkeit
satz zu dem, was die Kollegin von der Linkspartei aus-
muss rauf. Das muss die Maßgabe sein, auch bei KMK-
geführt hat. Ich weiß nicht, wo Sie studiert haben und
Verabredungen.
wo Sie leben. Die Bilder, die Sie gezeichnet haben, habe
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ich allerdings überhaupt nicht verstanden. Das war völ-
sowie des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann lig utopisch.
[SPD])
(Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Es ist schade,
Wir wollen, dass diese Studienstrukturreform endlich dass Sie das nicht verstanden haben! – Iris
in eine Qualitäts- und Lehrreform mündet. Die Ankündi- Gleicke [SPD]: Bei Ihnen wundert mich das
gungen von Frau Schavan klingen ganz gut. Ich bin ge- nicht, dass Sie das nicht verstanden haben!)
2410 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Tankred Schipanski
(A) Unsere Zwischenbilanz, die Sie in unserem Antrag lesen Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C)
können, wurde in der jüngsten EFI-Studie und in der Bo- Herr Schipanski, der Kollege Gehring würde Ihnen
logna-Studie der Universität Konstanz bestätigt. Der gern eine Zwischenfrage stellen.
Grundtenor ist: Wir sind mit Bologna auf dem richtigen
Weg in die Bildungsrepublik Deutschland. Tankred Schipanski (CDU/CSU):
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dann soll er das mal tun.
Es gilt aber, in der Feinsteuerung gewisse Herausforde-
Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
rungen zu bewältigen.
Ganz herzlichen Dank für die Möglichkeit, nachfra-
Für uns sind Bund, Länder und Kommunen Bildungs- gen zu dürfen. Ich traute meinen Ohren nicht, als Sie ge-
partner, genauso wie Studenten, Professoren und Hoch- rade wohl tatsächlich formulierten: Wir müssen die Se-
schulleitungen Bildungspartner sind. Für Bildungspart- lektionsprozesse früher ansetzen. Können Sie bitte
nerschaften braucht man ein konstruktives gemeinsames einmal erläutern, was Sie damit konkret meinen?
Wirken.
Bologna hat zu einem neuen Hochschulsystem ge- Tankred Schipanski (CDU/CSU):
führt, Bologna bedeutet strukturiertes Lernen in der Das ist ein Zitat aus der EFI-Studie. Es geht darum,
Hochschule. Wir wollen mit diesem Antrag den Geist dass man checken muss, ob jemand für einen Studien-
von Bologna in der Gesellschaft festigen, wir wollen gang geeignet oder nicht geeignet ist. Selbstverständlich
Verständnis wecken, an die Beteiligten appellieren, wir muss man sich bemühen, dies nicht erst im sechsten Se-
wollen die Botschaft von Bologna stärker vermitteln und mester festzustellen, sondern nach Möglichkeit im zwei-
in das Bewusstsein der Beteiligten bringen, und wir wol- ten Semester.
len in der Öffentlichkeit über unser neues Hochschulsys- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
tem richtig informieren. neten der FDP – Ulla Burchardt [SPD]: Viel-
Die Expertenkommission „Forschung und Innova- leicht schon in der Grundschule?)
tion“ bescheinigt uns in der jüngsten Studie: Wir sind auf Meine Damen und Herren, vielleicht darf ich fortfah-
einem guten Weg. Das betrifft die Geisteswissenschaf- ren: Wir erweitern unseren Hochschulpakt um eine dritte
ten, bei denen wir große Erfolge bezüglich der Struktu- Säule, nämlich das Qualitätspaket für gute Lehre – ge-
rierung und der geringen Abbrecherquote haben. nau, wie es im Koalitionsvertrag steht. Wir arbeiten da-
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: bei an zwei Handlungslinien, nämlich einem gemeinsa-
Aber in den Naturwissenschaften ist sie gestie- men Programm für eine bessere Betreuung für
(B)
gen! Warum?) Studierende. Stichworte hierfür sind Tutoren, Mentoren, (D)
Beratung und Anerkennung guter Lehrleistungen. Zu-
Das betrifft die Verkürzung der Studienzeit, das betrifft dem schaffen wir Didaktikzentren, so wie es der Wissen-
die Akzeptanz der Abschlüsse in der Wirtschaft, und das schaftsrat vorgeschlagen hat. Hierbei geht es um die Ent-
betrifft die hohe Studierendenzahl. wicklung von Lehrstandards und um Schulungen.
Aber wir haben auch Korrekturbedarf; dies bestreitet Entgegen den Behauptungen, die hier aufkamen, stellt
überhaupt niemand von uns. In den MINT-Fächern ha- der Bund ab 2010 bis 2020 dafür 2 Milliarden Euro zur
ben wir Nachholbedarf, und wir haben Nachholbedarf Verfügung. Selbstverständlich erwartet er auch eine an-
bei der Selektion. Man muss die Selektionsprozesse frü- gemessene Beteiligung der Länder. Gespräche hierüber
her ansetzen bzw. frühere Leistungskontrollen einführen. laufen bereits; Staatssekretär Rachel hat darauf hinge-
wiesen.
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Bitte? – Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Mehr (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Sie haben
selektieren?) doch die Erhöhungsanträge abgelehnt!)
Die EFI-Studie, aus der ich zitiere, nennt die Kernpro- Meine Damen und Herren, Ziel des Bologna-Prozes-
bleme beim Namen: „Die Lerninhalte sind im Zuge der ses ist ein gemeinsamer europäischer Hochschulrahmen;
Reform kaum verändert worden.“ Das ist ein Kritik- die Vergleichbarkeit der Bildungsabschlüsse wurde hier
punkt, der im Verantwortungsbereich jeder Hochschule angesprochen. Somit ist es also Ziel, Mobilität zu schaf-
liegt, und zwar dort im Verantwortungsbereich der Leh- fen und die Beschäftigungsfähigkeit der europäischen
renden. Bürgerinnen und Bürger zu verbessern. Insbesondere die
Studenten wollen Vergleichbarkeit der Abschlüsse, Mo-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) bilität und ein grenzüberschreitendes Ausbilden. So sagt
Bologna ist ein neues Hochschulsystem und umfasst es das Grünbuch der Europäischen Union. Daher hat die
neue Hochschulabschlüsse. Viele Hochschulen, speziell christlich-liberale Koalition im Koalitionsvertrag ein
die Lehrenden, haben die Lehrinhalte bzw. die Stoffmen- Mobilitätspaket angekündigt. Dazu zählen zwei Maß-
gen in zu geringem Maße geändert. Auf dieses Dilemma nahmen, an denen wir zurzeit arbeiten, zum einen daran,
haben uns die Studenten bei ihren Protesten zu Recht Studien- und Prüfungsleistungen konsequent anzuerken-
hingewiesen, nicht die zuständigen Akkreditierungs- nen, und zum anderen daran, die finanzielle Ausstattung
agenturen. der Studenten zu verbessern, und dies mit unserem Drei-
klang von BAföG-Erhöhung, nationalem Stipendiensys-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tem und Bildungssparen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2411
Tankred Schipanski
(A) Meine Damen und Herren, unser heutiger Bologna- ten. Hier ist substanzielles und aktives politisches Han- (C)
Antrag benennt drei Handlungsfelder – hätten Sie den deln gefragt.
Antrag richtig gelesen, dann hätten Sie das auch verstan-
(Beifall bei der SPD)
den –, drei Punkte, an denen wir Bologna erfolgreich
weiterentwickeln müssen. Das sind erstens die Lehrqua- Was tut die schwarz-gelbe Koalition in ihrem vorlie-
lität, zweitens die Mobilität und drittens die Akkreditie- genden Antrag? Sie lobt, sie bittet, und sie appelliert –
rungen, also das Qualitätsmanagement. butterweich, als sei alles in bester Ordnung. Nach der
Lektüre Ihres Antrages nehme ich Ihnen maximal ein
Gegenwärtig sind die Akkreditierungsagenturen so
klein wenig Problembewusstsein ab. Alles andere wäre
ausgestaltet, dass sie nur den Istzustand erfassen, aber
nach den Studierendenprotesten der letzten Monate, die
die Universitäten nicht begleiten, nicht verbessern, nicht
evaluieren. Eine ganz zentrale Forderung unsererseits in ja nicht zu übersehen waren, auch ein Wunder. Den Wil-
diesen Bologna-Gesprächen lautet: Wir brauchen ein- len, das Mögliche zu tun, wirkliche Tatkraft erkenne ich
heitliche, bundesweite Kriterien für die Akkreditierungs- in diesem Antrag nicht. Wo bleiben die konkreten Maß-
agenturen, eine kontinuierliche Begleitung und ein Qua- nahmen zu einer wirklich erfolgreichen Umsetzung des
litätsmanagement an unseren Hochschulen. Bologna-Prozesses? Dabei läge das Notwendige auf der
Hand – und wurde vom Wissenschaftsrat und vielen an-
Abschließend darf ich feststellen: Der Bologna-Pro- deren auch so formuliert –: Wer die Lehre im System
zess ist, wie das EFI-Gutachten sagt, auf einem guten Bachelor/Master qualitativ verbessern will, muss der
Weg. Wir setzen auf Weiterentwicklung, und zwar genau Unterfinanzierung entgegenwirken und Maßnahmen er-
auf diesen drei Handlungsfeldern Lehrqualität, Mobilität greifen, um die Betreuung, aber auch die Betreuungsre-
und Qualitätsmanagement. Mit diesem Dreiklang wird lation zu verbessern.
die christlich-liberale Koalition den Bologna-Prozess er-
folgreich weiterentwickeln. (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Vielen Dank. Wer will, dass mehr Menschen studieren, muss mehr
Studienplätze in bester Qualität bereitstellen. Ohne ein
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) breit angelegtes Programm wird das kaum zu bewältigen
sein. Werte Koalitionäre, wenn Sie wirklich an einer
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: signifikanten Verbesserung der Zustände interessiert
sind, dann unterstützen Sie den Vorschlag der SPD-Frak-
Das Wort hat Daniela Kolbe für die SPD-Fraktion.
tion, mit den Ländern einen Pakt für Studienqualität und
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) gute Lehre auf den Weg zu bringen. 2 Millionen Euro im
nächsten Haushalt sind wohl kaum ausreichend.
(B) (D)
Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD): (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Albert
Zunächst einmal: Ich freue mich, dass auch die Regie- Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: 2 Millionen
rungsfraktionen auf der Tagesordnung des Deutschen Euro wären in der Tat nicht ausreichend! Es
Bundestages mit eigenen Anträgen vertreten sind, zumal sind 2 Milliarden Euro in zehn Jahren!)
bei einem solch wichtigen Thema, wie es die Umsetzung
– Im Haushalt steht im Moment: 2 Millionen Euro.
des Bologna-Prozesses zweifellos ist.
(Swen Schulz [Spandau] [SPD], an die CDU/
Die SPD bekennt sich zu den Zielen der Bologna-Re- CSU gewandt: Im Haushalt steht: 2 Millionen
form. Vergleichbarkeit und Mobilität in einem europäi- Euro! Schaut einmal in euren eigenen Haus-
schen Hochschulraum sind und bleiben die richtigen
halt! So etwas Albernes! Ihr seid so schlecht!)
Vorhaben. Dahinter gibt es kein Zurück.
Schauen Sie Ihren eigenen Haushalt noch einmal an!
Gleichzeitig verändert diese Reform die Studienreali- Wir können uns gern im Ausschuss noch einmal darüber
tät der knapp 2 Millionen Studierenden in Deutschland unterhalten.
und der Lehrkräfte an den Hochschulen ganz erheblich.
Gerade weil diese Reform so tiefgreifend ist, lohnt es Wer will, dass Menschen ohne Ansehen ihres finan-
sich, genau hinzuschauen. Nicht zuletzt die Proteste Tau- ziellen Hintergrunds ein Studium aufnehmen, kommt zu-
sender Studierender haben deutlich gemacht, dass dies dem nicht umhin, sich um die allgemeine Studienfinan-
dringend nötig ist. zierung Gedanken zu machen. Die mehrfach zitierte
EFI-Kommission hat in ihrem aktuellen Bericht deutlich
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) gemacht, dass die Lieblingsinstrumente der schwarz-gel-
Die Probleme liegen auf der Hand: Neben der mangel- ben Koalition – Stipendiensysteme und Bildungssparen –
haften Vergleichbarkeit der Studiengänge – selbst zwi- vorrangig Gruppen erreichen, die bereits einen akademi-
schen einzelnen Bundesländern –, neben der zum Teil schen Hintergrund haben.
schlechten Umsetzung der Bologna-Reformen, neben Die SPD bleibt deshalb dabei: Wer beste Bildung für
der Überfrachtung von Studiengängen und neben Pro- alle erreichen will, muss das BAföG ausweiten.
blemen bei der Lehramtsausbildung tritt eines immer
wieder zutage: Die Hochschulen im ganzen Land sind (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Tankred
unterfinanziert und können erstklassige Lehre, wie sie Schipanski [CDU/CSU]: Das haben wir ge-
die Bachelor-/Master-Studiengänge benötigen, nicht leis- macht!)
2412 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Daniela Kolbe (Leipzig)


(A) Wir fordern eine umfassende Ausweitung der Freibe- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wahlergebnisse! (C)
träge. Wir wollen, dass mehr junge Menschen aus der Nicht Umfrage!)
Mittelschicht vom BAföG profitieren. Die 300 Millio-
nen Euro wären beim BAföG sicherlich besser angelegt Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Wer ar-
als bei Ihrem Stipendienprogramm. beitet, muss mehr haben als derjenige, der nicht arbei-
tet“. Mit dieser Binsenweisheit hat FDP-Vorsitzender
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Westerwelle versucht, die Ärmsten gegen die Armen
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) auszuspielen und auf billige Weisen Stimmen zu fangen.
Es bleibt viel zu tun in unserem Hochschulsystem. Aber noch während Herr Westerwelle versucht hat,
Das vernünftig anzugehen, sind wir den jungen Men- sich als Sozialterminator zu profilieren,
schen in unserem Land schuldig. Schöne Worte und Auf-
forderungen wie in Ihrem Antrag werden allerdings (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Frau Pothmer!)
nicht reichen. Das weiß nicht nur die Opposition, das er- haben die Leute schon einmal damit angefangen, zu fra-
kennen – darauf können Sie sich verlassen – auch die gen: Was haben der und die FDP außer Sprüchen eigent-
Studierenden. lich noch „auf der Tasche“?
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die Rede haben
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wir schon am 2. Dezember gehört!)
Dann wurde es plötzlich doch ziemlich einsilbig; denn
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
im Angebot war nichts anderes als ein gigantischer
Ich schließe die Aussprache. Niedriglohnsektor.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Der eigentliche Skandal ist, dass wir einen anderen
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf der Druck- Satz nicht gehört haben:
sache 17/905 mit dem Titel „Bologna-Prozess vollenden –
Länder und Hochschulen weiter unterstützen“. Wer (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist Rede-
stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Ent- Recycling!)
haltungen? – Damit ist der Antrag bei Zustimmung
durch die Koalition und Ablehnung durch die Opposi- Wer arbeitet, muss auch davon leben können. Diesen
tionsfraktionen angenommen. Satz haben wir von Herrn Westerwelle nicht gehört. Das
ist der eigentliche Skandal.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 8 auf:
(B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (D)
Beratung des Antrags der Abgeordneten Fritz sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
Kuhn, Brigitte Pothmer, Markus Kurth, weiterer KEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Um Pa-
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ pier zu sparen, halten Sie immer die gleiche
DIE GRÜNEN Rede! Das halte ich nicht für richtig!)
Mehr Netto für Geringverdienende Wir haben in Deutschland derzeitig den größten Nied-
riglohnsektor in ganz Europa.
– Drucksache 17/896 –
Überweisungsvorschlag: (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Und wer hat ihn
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) geschaffen? Ihr!)
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie 6,5 Millionen Menschen arbeiten im Niedriglohnsektor
Haushaltsausschuss und 2 Millionen davon zu Löhnen von unter 5 Euro die
Stunde. Allein in den ersten neun Monaten im Jahr 2009
Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattie-
hat der Bund 8 Milliarden Euro für Aufstocker ausgege-
ren. – Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das
ben.
so beschlossen.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wer hat die Möglich-
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
keit dafür geschaffen? Die Grünen!)
gin Brigitte Pothmer für Bündnis 90/Die Grünen.
Ich bin mir wirklich sicher, dass wir diese Steuermilliar-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich bin einmal
den für etwas anderes und für etwas Besseres als für die
gespannt, wie du den Antrag begründen
Subventionierung von Lohndumping ausgegeben hätten.
willst!)
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber ihr habt es
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): doch beschlossen!)
Wieso fragst du eigentlich nicht mehr, was die Wähle- Wir haben Ihnen mit diesem Antrag – vielleicht lesen
rinnen und Wähler dazu sagen? Sie ihn einfach einmal – einen sehr passgenauen Drei-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das habt ihr ja schritt vorgeschlagen, mit dem man Leuten im Niedrig-
am 27. September 2009 gesehen!) lohnbereich und mit kleinem Einkommen tatsächlich
helfen und zugleich die Anzahl der SGB-II-Bezieher
– Das sehen wir gerade an den Umfragewerten. deutlich absenken kann.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2413
Brigitte Pothmer
(A) Erstens gehört der Mindestlohn dazu. Wir werden (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die Sorge war (C)
morgen ausführlich dazu reden. Deswegen an dieser unberechtigt! – Paul Lehrieder [CDU/CSU]:
Stelle nur eines: Wenn Sie den Mindestlohn weiter blo- Das geht in zehn Minuten!)
ckieren und gleichzeitig an der Zuverdienstschraube dre-
hen, dann werden Sie die Zahl der SGB-II-Bezieher Als dann der Antrag gestern kam, hatte ich den Ein-
exorbitant erhöhen, und dann wird der Niedriglohnsek- druck: Diese Befürchtung war unbegründet.
tor immense Ausmaße annehmen. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der FDP)

Zweitens gehört dazu: Wenn Sie, wie wir es Ihnen in Verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,
unserem Antrag mit unserem Progressivmodell vor- ich bin sehr für Recycling; aber was Sie hier an munte-
schlagen, die Lohnnebenkosten im unteren Einkom- rem Allerlei recycelt haben und durch keinen stringenten
mensbereich radikal absenken und dann langsam, wie Gedanken zusammenhalten, ist schon verblüffend.
wir es von der Steuer her kennen und im Übrigen auch (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber es ist sehr
als gerecht empfinden, progressiv ansteigen lassen, dann papierschonend, Herr Zimmer!)
reduzieren Sie die Zahl der SGB-II-Bezieher und der
Aufstocker um ungefähr 500 000. Das liegt einfach da- Ich will Ihnen an einem kleinen Beispiel demonstrieren,
ran, dass diese Leute dann tatsächlich mehr Netto vom wie wenig Mühe Sie sich gegeben haben. Sie schreiben:
Brutto in der Tasche haben. In diesem Zusammenhang
können wir die Minijobs in diesem Progressivmodell Wer mehr soziale Gerechtigkeit will, muss auch be-
aufgehen lassen. Die Minijobs haben in der Vergangen- reit sein, mehr Mittel dafür zur Verfügung zu stel-
heit – das muss man an dieser Stelle deutlich sagen – zur len.
Erosion am Arbeitsmarkt beigetragen. Nach Ihrer Logik bedeutet das: Wer ganz viel Gerechtig-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Und wer hat sie keit will, muss ganz viel Mittel zur Verfügung stellen;
mitbeschlossen? Wieder die Grünen!) wer soziale Gerechtigkeit umfassend verwirklichen will,
muss umfassend Mittel zur Verfügung stellen. Das ist
Drittens. Meine Damen und Herren insbesondere von Ihre Logik,
der FDP, wer Menschen in Arbeit bringen will, der muss
sie fördern und unterstützen. Das gilt insbesondere für (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Langzeitarbeitslose und Geringqualifizierte. Wer diese Das sagen Sie jetzt! Das ist nicht unsere Lo-
Menschen in Arbeit bringen will, darf sie nicht bedrohen gik! Das ist Ihre falsche Interpretation!)
(B) und nicht gegen sie hetzen, sondern muss sie qualifizie- die vollkommen übersieht, dass Gerechtigkeit ein regu- (D)
ren und die Wünsche der Betroffenen respektieren. latives Prinzip ist, das zwischen Freiheit und Gleichheit
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) vermittelt; es ist aber kein Ziel, das es mit noch so vielen
Mitteln zu erreichen gilt.
Man muss an dieser Stelle sagen: Diese Leute sind in al-
ler Regel sowieso motiviert. Die größte Motivation ist (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Fritz
aber eine Arbeit, von der man leben kann. Solche Arbeit Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Den-
erreichen wir durch Mindestlöhne, unser Progressivmo- ken Sie doch nach, bevor Sie reden!)
dell und gut ausgebildete Arbeitsuchende. Ich fordere
Frau Pothmer, in Ihrem Antrag findet sich Weiteres
Sie auf: Unterstützen Sie uns in diesem Anliegen!
aus der Abteilung Wiederverwertung, zum Beispiel die
Ich danke Ihnen. FDP-Schelte. Man hat hier fast schon den Eindruck, Sie
seien vergnügungssüchtig: Anstatt eine vernünftige De-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) batte zu führen, schlagen Sie immer wieder auf die FDP
ein.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Für die Unionsfraktion spricht Dr. Matthias Zimmer. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Seien Sie doch mal ehrlich! Das hat die
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) FDP auch verdient! Das wissen Sie auch!)
Aus der Hartz-IV-Diskussion der letzten Woche ist
Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU):
die Forderung nach einem Regelsatz von 420 Euro übrig
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als wir geblieben; das steht nicht im Antrag, aber in dessen Be-
am Dienstag davon gehört haben, dass die Fraktion der gründung. Ich frage mich schon: Woher kommt dieser
Grünen einen Antrag mit dem Titel „Mehr Netto für Ge- Betrag von 420 Euro eigentlich? Das Verfassungsgericht
ringverdienende“ einbringen will – heute diskutieren wir hat uns doch aufgegeben, die Sache transparent und
darüber –, habe ich mich zunächst darüber gefreut; denn nachvollziehbar zu gestalten.
es ist ein wichtiges und richtiges Thema. Ich hatte ledig-
lich ein wenig Bedenken – der Antrag lag noch nicht (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
vor; er kam erst gestern –, dass ich nicht genügend Zeit NEN]: Aber Sie haben sich mit der Frage gar
finden könnte, die Tiefe der Gedanken und der differen- nicht beschäftigt! – Dr. Wolfgang Strengmann-
zierten Vorschläge, die zu erwarten waren, ausreichend Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie ha-
zu würdigen. ben nicht einmal angefangen zu rechnen!)
2414 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Dr. Matthias Zimmer


(A) Davon ist bei Ihnen nichts zu sehen. Es reicht Ihnen als Des Weiteren wollen Sie die Lohnnebenkosten für (C)
Begründung völlig aus, dass es die Sozialverbände ge- Geringverdienende senken. Das ist grundsätzlich eine
fordert haben. Das erinnert mich ein wenig an John gute Idee, Frau Pothmer. Aber ich vermisse in Ihrem An-
Lockes Mahnung, andere nicht zum Vormund eigener trag, wer das bezahlen soll. Keine Aussage. Welche
Einfalt zu machen. Es ist doch besser – wir haben das Konsequenzen hat das? Keine Aussage. Sie müssen den
vor –, die Regelsätze nachvollziehbar und transparent zu Leuten doch sagen, das geht entweder über Steuererhö-
berechnen, anstatt sich auf den Zuruf anderer zu verlas- hungen oder über Abgabenerhöhungen für andere. Da-
sen. mit belasten Sie die Leistungsträger, die wir entlasten
wollen.
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Jetzt sagen Sie doch einmal etwas zu Sie müssen auch sagen: Progressive Beitragssätze
unseren Vorschlägen!) führen zu einer geringeren Rente. Das ist keine Entlas-
tung, sondern ein Programm zur Steigerung von Alters-
Frau Pothmer, Sie schlagen außerdem ein Sanktions- armut.
moratorium im SGB-II-Bereich vor. Ich halte das für un-
sinnig. Die Linken wollen die Sanktionen ganz abschaf- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
fen.
Auf das doppelte Problem fehlender Beitragseinnah-
(Beifall des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE men für die Sozialversicherungssysteme und sinkender
LINKE]) Ansprüche für die Leistungsempfänger geben Sie keine
Antwort. Das ist im wörtlichen Sinn verantwortungslos.
Sie folgen der Spur der Linken und wollen die Sanktio- Da hätte ich von Ihnen mehr erwartet. Wir machen so ei-
nen ebenfalls aussetzen. Ich kann das ein wenig nach- nen Unfug nicht mit.
vollziehen: Sanktionen und Zwang sind auch bei den
Grünen unpopulär. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
(Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE Die Koalition hingegen hat gehandelt. Wir haben in der
GRÜNEN]: Haben Sie den Antrag überhaupt letzten Legislaturperiode den Beitrag zur Arbeitslosen-
gelesen?) versicherung deutlich reduziert. Das ist eine spürbare
Entlastung. Außerdem werden wir morgen das Sozialver-
Das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung
sicherungs-Stabilisierungsgesetz beraten, mit dem die kri-
hat sich der Frage angenommen, ob Sanktionen über-
senbedingten Mindereinnahmen durch den Gesundheits-
haupt wirken. Ich darf das Fazit zitieren:
fonds und die Bundesagentur für Arbeit aufgefangen
Eine Leistungskürzung erhöht die Wahrscheinlich- werden. Wir stabilisieren damit die Lohnnebenkosten, (D)
(B)
keit, innerhalb von acht Monaten nach der Sanktion und wir haben etwas für die Familien getan.
aus dem Leistungsbezug abzugehen, um etwa 70 Pro-
All das ist konkret und realitätsgerecht. Ihr Antrag ist
zentpunkte. Ebenso steigt die Wahrscheinlichkeit,
das nicht. Deshalb werden wir Ihren Antrag ablehnen.
eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung
zu finden, um mehr als 50 Prozentpunkte. Ein ver- Danke schön.
stärkter Einsatz von Sanktionen im Rahmen der ge-
setzlichen Vorgaben würde somit zu einer effektive- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ren Aktivierung der Hilfebedürftigen beitragen und
die Übergangsraten aus der Hilfebedürftigkeit hi- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
naus in Beschäftigung deutlich erhöhen. Für die SPD-Fraktion spricht Angelika Krüger-
Kommen wir zum Antrag selbst. Bei dem von Ihnen Leißner.
geforderten Mindestlohn von 7,50 Euro muss man schon
dankbar sein, dass Sie den Mindestlohnwettlauf von Angelika Krüger-Leißner (SPD):
7,50 Euro auf 8,20 Euro, 9,40 Euro und 10 Euro nicht Vielen Dank, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
mitmachen und an dieser Stelle etwas bescheidener sind. und Kollegen! Aufgeregt und scheinheilig – manche
Wir sagen allerdings: Flächendeckende gesetzliche Min- auch ziemlich kopflos – sprechen wir dieser Tage über
destlöhne waren falsch, sind falsch und bleiben falsch. Hartz IV. Das Bundesverfassungsgericht hat eine De-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- batte darüber ausgelöst, wie viel Geld ein Mensch
ruf von der LINKEN: So ein Unsinn!) braucht, um ein menschenwürdiges, existenzsicherndes
Leben zu führen.
Im Übrigen wundert es mich, Frau Pothmer, dass die
Grünen, die sonst einen etwas differenzierteren Gerech- Es ist eine Debatte um Gerechtigkeit: um Verteilungs-
tigkeitsbegriff haben, hier einfach mit flächendeckenden gerechtigkeit, Chancengerechtigkeit und soziale Gerech-
gesetzlichen Mindestlöhnen arbeiten. Da bleiben selbst tigkeit. Es geht dabei um Familien, Alleinerziehende und
Sie hinter Ihren Möglichkeiten zurück. ganz besonders um Kinder, die am Rande des Existenz-
minimums leben. Es geht um Menschen, die dauerhaft
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Noch dazu sind von der Grundsicherung leben, die jeden Euro zweimal
sie gar nicht auf der Höhe der Zeit! – Britta umdrehen müssen und deren Weg aus dieser Situation
Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: sehr steinig ist, sodass sie ihn allein, ohne Hilfe, viel-
Was wollen Sie denn eigentlich?) leicht niemals schaffen werden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2415
Angelika Krüger-Leißner
(A) Ich halte eine ehrliche und sachorientierte Debatte für schen, die sich anstrengen und hart arbeiten, von ihrem (C)
richtig und wichtig. Manches, was wir in den letzten Lohn auch leben können.
Wochen erlebt haben, ging allerdings daran vorbei. Wir
kommen in dieser Diskussion aber nicht drum herum, (Beifall bei der SPD)
auch über diejenigen zu sprechen, die zu der Gruppe der Darum kann die Antwort nur heißen: Der gesetzliche
Working Poor gehören, also diejenigen Geringverdiener, Mindestlohn ist das wirksamste Instrument, wenn es da-
die voll erwerbsfähig sind und deren Einkommen gerade rum geht, den Niedriglohnsektor zu bekämpfen. Nied-
so oder nur mithilfe von staatlichen Leistungen zum Le- rige Regelsätze und schärfere Sanktionen würden den
ben reicht. Wir reden von der Kellnerin, der Friseurin, Druck auf die Arbeitsuchenden noch erhöhen, schlecht
der Gärtnerin, der Verkäuferin, der Leiharbeiterin und bezahlte Jobs annehmen zu müssen. Tatsache ist aber:
der Pflegekraft. Einen gesetzlichen Mindestlohn lehnt diese schwarz-
(Gisela Piltz [FDP]: Gibt es auch männliche gelbe Regierung ab.
Menschen, die arbeiten?) (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Zu
– Heute ist ein besonderer Tag. Darum habe ich das so Recht!)
formuliert. Mit Blick auf den Koalitionsvertrag erfahren wir: Der
Der Niedriglohnsektor hat sich seit Mitte der 90er- Niedriglohnsektor soll weiter ausgebaut werden. Die
Jahre rasant ausgeweitet. Wachsende Lohnspreizung hat schwarz-gelbe Zauberformel heißt: Erleichterung befris-
zu erheblichen arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Pro- teter Beschäftigung und Ausweitung der Minijobs. Die
blemen geführt. Der Druck auf das Lohnniveau nahm Ausweitung des Niedriglohnsektors ist kein wirkungs-
immer mehr zu. Laut einer Studie der IAQ der Uni Essen volles Konzept zur Beschäftigungsförderung. Vor allen
arbeitet inzwischen jeder fünfte abhängig Beschäftigte Dingen ist es nicht wirkungsvoll gegen Lohndumping
für einen Niedriglohn. Das sind 6,5 Millionen Beschäf- und Armut in diesem Land. Um Brücken zu bauen, die
tigte. Viele davon beziehen zusätzlich Hartz-IV-Leistun- den Hilfebedürftigen Wege aus ihrer prekären Situation
gen. Es gibt 1,3 Millionen Aufstocker, also Geringver- weisen, brauchen wir eine umfassende Strategie. Der ge-
diener, die ihr Einkommen aus der Erwerbstätigkeit mit setzliche Mindestlohn ist dabei eine unabweisbare Maß-
Regelleistungen aufbessern müssen. Das kostet die BA nahme. In diesem Punkt sind wir uns mit den Grünen ei-
viel Geld; zuletzt waren es 9,3 Milliarden Euro. nig. Einig sind wir uns mit ihnen auch in puncto Bildung
und Qualifizierung. Da müssen wir weitere Maßnahmen
Darum ist die Forderung in Ihrem Antrag – mehr auf den Weg bringen.
Netto für Geringverdiener – vollkommen richtig. Die
Frage ist nur, wie wir das erreichen können. Wer muss (Beifall bei der SPD)
(B) was tun? Die Verantwortung allein den Tarifpartnern zu Eingangs erwähnte ich auch die Chancengleichheit. (D)
übertragen und auf die Tarifautonomie zu vertrauen, Darauf will ich nun zurückkommen. Oberstes Ziel muss
kann nicht die Lösung sein. Die Realität zeigt: Es sind es sein, allen Kindern die gleichen Chancen auf die beste
nicht die produzierenden oder exportierenden Gewerbe Bildung zu ermöglichen. Familienarmut darf sich nicht
im industriellen Bereich, in denen Niedriglöhne gezahlt vererben. Langzeitarbeitslose brauchen Perspektiven.
werden. Denn da sind noch kräftige Gewerkschaften, die Sie brauchen Qualifizierungs- und Weiterbildungsange-
ausreichend Organisationskraft haben. In meinem Wahl- bote, um am Arbeitsmarkt wieder Fuß zu fassen. Deswe-
kreis gibt es zum Beispiel ein Stahlwerk, die Hennigs- gen brauchen wir eine Arbeitsmarktpolitik, die unter an-
dorfer Elektrostahlwerke. Dank eines engagierten Be- derem die individuelle Förderung und die Integration in
triebsrats und einer guten Geschäftsführung findet man Arbeit verbessert. Mit einer restriktiven aktiven Arbeits-
dort keine Leiharbeit, und es werden ordentliche Löhne
marktpolitik würden wir die Betroffenen aufgeben und
gezahlt. Niedriglöhne findet man im Handwerk, vor al-
alleinlassen. Das ist ein fatales Zeichen. Heute ist wieder
lem im Dienstleistungsgewerbe und im Einzelhandel.
so ein fatales, scheinheiliges Zeichen gesetzt worden.
Betriebsräte sind dort eher die Ausnahme. Hier ist der
Ich weiß nicht, ob alle davon wissen. Im Haushaltsaus-
Gesetzgeber gefragt.
schuss, der gerade berät, hat die FDP-Fraktion einen
In den letzten Wochen haben wir über das Lohnab- Antrag auf Änderung des Bundeshaushalts gestellt. Es
standsgebot – von unserer Seite besser noch: das Lohn- sollen 900 Millionen Euro für die aktive Arbeitsmarkt-
anstandsgebot – diskutiert. Wir haben auch darüber dis- politik gesperrt werden. Was das vor Ort bedeutet, kann
kutiert, dass Leistung sich wieder lohnen muss. All das sich jeder ausdenken. Ab Herbst können keine weiteren
ist richtig, wenn man es richtig interpretiert, liebe Kolle- Maßnahmen geplant werden. Den Hilfebedürftigen, die
ginnen und Kollegen der FDP. Zu den Geboten unserer eine Antwort darauf haben wollen, wie wir ihnen helfen,
sozialen Marktwirtschaft zählt nach wie vor: Wer hart kann keine Antwort gegeben werden.
arbeitet, muss davon leben können. Wer Leistung bringt,
muss sein Leben verbessern können. Dazu gehört eben- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf
falls: Niemand darf am Wegesrand zurückbleiben. Ich des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP])
werde das Gefühl nicht los, dass einige in der Regie- – Herr Kolb, Sie können diese Scheinheiligkeit Ihres
rungskoalition dies aus den Augen verloren haben. Statt- Handelns in Ihrer Rede aufklären. – Ich denke, wir dür-
dessen gilt an dieser Stelle das Matthäus-Prinzip: Wer fen dieser Regierungskoalition so etwas nicht durchge-
hat, dem wird gegeben. Eine solche Politik darf in die- hen lassen.
sem Land nicht mehrheitsfähig bleiben. Wir müssen et-
was tun, damit Leistung sich lohnt und damit die Men- (Beifall bei der SPD und der LINKEN)
2416 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Angelika Krüger-Leißner
(A) Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grü- Die Kollegin Brigitte Pothmer hat ihn heute weiterentwi- (C)
nen-Fraktion, wir stimmen in vielen Punkten überein. ckelt zu der Formel: Was kümmert mich mein Gesetz
Wir sind uns einig beim Thema Mindestlohn, auch was von gestern.
die Höhe und die Festlegung durch eine Kommission be-
trifft. Wir sind uns einig, dass Bildung, Weiterbildung (Beifall bei der FDP)
und Qualifikation Maßnahmen sind, um Armut wir- Denn Sie, Frau Kollegin Pothmer, haben beklagt, es
kungsvoll zu bekämpfen, und wir sind uns in dem Punkt gebe in Deutschland einen Niedriglohnbereich, in dem
einig, dass auch die Senkung der Sozialversicherungs- 6,5 Millionen Beschäftigte seien. Wer hat das beschlos-
beiträge ein wichtiger Schritt ist. Allerdings gehen wir sen? Die Grünen. Sie waren es, die in der rot-grünen Ära
dabei unterschiedliche Wege. Der Weg, den Frau genau dieses als Rezept für die Lösung aller Probleme
Pothmer mit dem Progressivmodell beschrieben hat, ist erkannt haben. Sie haben bedauert und beklagt, es gebe
für mich die falsche Lösung. viele Menschen, die ihre niedrigen Löhne aufstocken
müssten. Wer hat denn die Aufstockungsmöglichkeit be-
(Beifall der Abg. Anette Kramme [SPD]) schlossen? Es waren die Grünen während der rot-grünen
Ich habe zu wenig Zeit, um das genau auszuführen. Sie, Regierungszeit. Sie haben gesagt, die Einführung der
Frau Pothmer, bleiben nämlich beim Kombilohnmodell. Minijobs sei fatal gewesen, weil das zu einer Aushöh-
lung der Vollzeitstellen geführt habe. Frau Kollegin
Pothmer, wer hat das denn beschlossen? Die Grünen
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: sind es in Ihrer Regierungszeit gewesen. Sie sollten in
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen. absehbarer Zeit nicht mehr regieren, sondern erst einmal
Ihre Hausaufgaben machen. Mit Antragsrecycling wer-
Angelika Krüger-Leißner (SPD): den Sie, Frau Kollegin Pothmer, nicht weiterkommen.
Ja. Ich sage noch einen Satz, wenn ich darf. – (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Schauen Sie sich unser Modell an, das auch in die Rich- der CDU/CSU)
tung geht, die Sozialversicherungsbeiträge gerade im
Dabei will ich hier anerkennend feststellen: Die Über-
Niedriglohnbereich zu senken. Wir wollen unser Modell
schrift und der erste Satz Ihres Antrags könnten auch
„Bonus für Arbeit“ – wir haben es schon einmal vorge-
von uns sein. Die Überschrift „Mehr Netto für Gering-
stellt – weiterentwickeln, und wir verbinden es mit dem
verdienende“ und den Satz „Arbeit und Leistung sollen
Mindestlohn, der ein notwendiger Bestandteil dieses
sich lohnen, … “ kann ich voll und ganz unterstützen. So
Modells ist.
weit sind wir immerhin einer Meinung. Der Antrag fängt
(B) (Beifall bei der SPD) gut an, lässt dann aber stark nach. Zum Ende hin findet (D)
sich in Ihrem Antrag relativ wenig. Spätestens die For-
derung nach einem generellen Mindestlohn macht es uns
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: unmöglich, Ihnen zuzustimmen. Darüber brauchen wir
Frau Kollegin. nicht zu reden. Ich bin eigentlich auch nicht davon über-
zeugt, wenn ich Ihre Beiträge im Ausschuss höre, dass
Angelika Krüger-Leißner (SPD): Sie, Frau Kollegin Pothmer, selbst daran glauben.
Es lohnt sich also, gemeinsam auf diesem Weg zu (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
streiten. NEN]: Da klatschen Sie doch immer, Herr
Kolb!)
(Gisela Piltz [FDP]: Wie viele Sätze sind es
denn?) Ihre Ausführungen und Ihre Überlegungen dort sind viel
zu differenziert, als dass Sie die absurde Idee von einem
Danke für die Aufmerksamkeit. generellen Mindestlohn ernsthaft verfolgen könnten. Sie
handeln nach dem Motto „doppelt gemoppelt“: Erst for-
(Beifall bei der SPD)
dern Sie einen gesetzlichen Mindestlohn von 7,50 Euro,
und dann fordern Sie darüber hinaus flächendeckend
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz Branchenmin-
Der Kollege Dr. Heinrich Kolb hat das Wort für die destlöhne. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie das
FDP-Fraktion. wirklich wollen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
der CDU/CSU)
Herr Kolb, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kolle-
gen Kuhn zu?
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Von Konrad Adenauer stammt der Satz: Was kümmert Aber gern.
mich mein Geschwätz von gestern.
(Zuruf von der LINKEN: „Mein dummes Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Geschwätz“!) Bitte schön.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2417

(A) Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): – Wenn Sie wieder aufstehen würden, kann ich Ihnen (C)
Herr Kolb, ich habe die Bitte, sich nicht an uns abzu- aber schon jetzt kurz etwas dazu sagen.
arbeiten nach dem Motto „Da haben Sie doch regiert!“. (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Das langweilt mich. 30 Minuten stelle ich mich nicht hier hin!)

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): – Wie wäre es mit einer Minute?


Mich nicht. (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Wenn Sie das können!)
Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): – Gut.
Ich will nur ein emotionales Feedback geben.
Wir sind der Meinung, dass wir nicht über Mindest-
Ich möchte Sie nach einem Punkt fragen, der mich in- löhne, sondern über ein Mindesteinkommen reden soll-
teressiert. Ich lese in der Zeitung, das liberale Bürger- ten. Das Bürgergeld stellt ein bedarfsgerechtes Min-
geld sei eine großartige Alternative zu den Sozialtrans- desteinkommen sicher. Für jede Bedarfsgemeinschaft
ferleistungen. Ich möchte gerne von Ihnen erklärt haben, wird ermittelt, welche Aufwendungen zu decken sind.
wie Sie sich das genau vorstellen. Da zum Beispiel Dies wird mit dem Nettoeinkommen dieses Haushalts
Wohngeld hinzugerechnet werden soll, würde mich inte- verglichen. Was nicht selbst erwirtschaftet werden kann,
ressieren, wie Sie zwischen Regionen wie beispielsweise wird im Wege einer negativen Einkommensteuer dem
München, Heidelberg und Sachsen-Anhalt differenzie- einzelnen Haushalt zur Verfügung gestellt. An der Stelle,
ren wollen und wie das bürokratiefrei gehen soll. Sagen wo der Bedarf gedeckt ist, fängt die Steuerzahlung des
Sie einfach einmal, was Sie wollen, anstatt immer die einzelnen Bürgers bzw. des Haushalts an. Damit wird si-
anderen anzukoffern. chergestellt, dass wir ein durchgängiges Erwerbsinte-
resse in allen Bedarfsgemeinschaften haben. Das ist, wie
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ich finde, ein sehr moderner und zukunftsträchtiger Vor-
schlag. Nähere Einzelheiten sage ich Ihnen, wenn Sie
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): wollen, persönlich.
Frau Präsidentin, wenn wir uns auf eine Verlängerung
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der Redezeit um 30 Minuten verständigen könnten, dann
der CDU/CSU)
könnte ich dem Kollegen Kuhn unser Modell erklären.
Ich bin der Meinung, dass wir mit dem Thema Min-
(Heiterkeit und Beifall bei der FDP – Gabriele destlohn und vor allen Dingen mit der Kombination von
(B) Hiller-Ohm [SPD]: Sie können doch sonst al- Mindestlohn und Branchenmindestlohn, die Sie, Frau (D)
les auf einem Bierdeckel unterbringen!) Kollegin Pothmer, vorschlagen, wirklich vorsichtig um-
Neulich hat Präsident Lammert allerdings bei einer ähn- gehen müssen. Wir werden am Ende nicht mehr Be-
lichen Gelegenheit darauf hingewiesen, dass die Zeit für schäftigung schaffen, wenn wir in Deutschland Mindest-
Frage und Antwort in einem angemessenen Verhältnis löhne einführen.
zur Redezeit stehen muss. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Aber wir reden doch morgen über Min-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: destlöhne! Reden Sie doch mal über das Pro-
Genau das ist die Herausforderung an Sie. gressivmodell!)
Wir fragen uns bei jeder Maßnahme, die wir im Be-
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): reich der Sozialversicherung verabschieden, wie sie sich
Es gibt Dinge, die man ausführlicher erläutern muss. auf die sogenannten Lohnnebenkosten auswirkt und ob
Sie lassen sich nicht auf die Schlagzeile einer großen dadurch die Arbeit verteuert wird. Dass ausgerechnet
deutschen Tageszeitung reduzieren. beim Lohn selbst, also beim größten Kostenblock, diese
Grundüberlegung nicht mehr gelten soll, vermag ich
(Iris Gleicke [SPD]: Das passt doch bei Ihnen wirklich nicht nachzuvollziehen. Wenn, wie manche
auch alles auf einen Bierdeckel! – Fritz Kuhn glauben, Mindestlöhne mehr Arbeit schaffen, dann frage
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es soll doch ich Sie, wie hoch der optimale Mindestlohn ist. Sie ha-
ein einfaches Konzept sein!) ben sich jetzt auf 7,50 Euro Mindestlohn festgelegt. Sie
Herr Kuhn, ich bin aber gern bereit, hinken damit der Karawane etwas hinterher.

(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Zuruf der Abg. Brigitte Pothmer [BÜND-
NEN]: Anscheinend nicht, Herr Kollege!) NIS 90/DIE GRÜNEN])

Ihnen das in einem Privatissimum zu erläutern. Der DGB wird demnächst 8,50 Euro fordern. Die Lin-
ken, Avantgarde wie immer – Kompliment, Frau Kolle-
(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: gin Krellmann, Herr Kollege Birkwald –, sind schon bei
Ah! – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE 10 Euro. Da sieht man genau die Gefahr einer politi-
GRÜNEN]: Anscheinend klappt das nicht in schen Lohnsetzung. In den letzten zwei Jahren sind Sie
drei Sätzen! – Abg. Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/ ziemlich flott von vormals ebenfalls 7,50 Euro auf
DIE GRÜNEN] nimmt wieder Platz) 10 Euro, die Sie heute fordern, durchgaloppiert.
2418 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Dr. Heinrich L. Kolb


(A) Frau Präsidentin, die Kollegin Pothmer möchte eine eigenen Beiträgen einen Rentenanspruch von 4 Euro im (C)
Zwischenfrage stellen. Jahr erwerben kann. Eine Politik gegen Altersarmut ist
das aber wirklich nicht.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Bitte schön, Frau Pothmer. der CDU/CSU – Brigitte Pothmer [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Also, Herr Rösler
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): steht damit genauso allein wie mit der Kopf-
Herr Kollege Kolb, da Sie sich an dem Mindestlohn pauschale!)
so festgebissen haben, befürchte ich, dass Sie Ihre ge- – Wir haben hier eine klare Regel: Sie fragen, ich ant-
samte Redezeit darauf verwenden, obwohl der entspre- worte. Sie finden manches nicht spannend, und ich finde
chende Tagesordnungspunkt morgen aufgerufen wird. manches spannend, was Sie langweilt. Damit müssen
Ich möchte daher von Ihnen zu gerne etwas zu dem Pro- wir leben.
gressivmodell hören. Ist Ihnen eigentlich bekannt, dass
der jetzige Bundesgesundheitsminister Rösler damals in Was kostet Ihr Progressivmodell denn jetzt wirklich?
Niedersachsen ein Mini-Progressivmodell nach dem 2006 haben Sie, glaube ich, einmal etwas von 13 Milliar-
Modell der Grünen vorgeschlagen hat, das beinhaltet, bis den Euro gesagt.
zu einem Verdienst von 1 000 Euro die Lohnnebenkos-
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
ten radikal abzusenken? Mich würde einmal interessie-
NEN]: 9 Milliarden!)
ren, ob Rösler da allein auf weiter Flur steht oder ob die
FDP hier im Bund ihm da folgt. Ich finde es schon erstaunlich, wenn Sie ein Projekt in
dieser Größenordnung in die Debatte werfen, obwohl
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Sie uns vor wenigen Wochen noch dafür beschimpft ha-
Gut, das gibt mir Gelegenheit, einige Anmerkungen ben, dass wir Entlastungen in Höhe von 4,6 Milliarden
zu dem Progressivmodell zu machen; das hatte ich so- Euro für Familien mit Kindern in das Wachstumsbe-
wieso vor. Sie haben das Modell jetzt wieder aus der schleunigungsgesetz hineingeschrieben haben, die am
Versenkung geholt. 2006 haben Sie es entwickelt, und 1. Januar 2010 wirksam geworden sind.
zwischendurch hat man nicht viel davon gehört, Frau (Beifall bei der FDP)
Kollegin Pothmer. Sie dürfen nicht davon ausgehen, dass
das Modell bei einer breiten Öffentlichkeit angekommen Das halte ich für progressiv. Das, was Sie hier vorschla-
ist. Immerhin ist es aber offensichtlich bei einer Fach- gen, ist alles andere als progressiv.
öffentlichkeit angekommen, wenn Philipp Rösler sich Sie schreiben in Ihrem Antrag außerdem, die Rechte (D)
(B)
schon damit befasst hat. von Hilfsbedürftigen und ihren Angehörigen im SGB II
Dieses Progressivmodell ist für mich so etwas wie die sollten gestärkt werden. Es herrscht Einigkeit hinsicht-
eierlegende Wollmilchsau der Sozialpolitik. Ich will lich der Wichtigkeit der Förderung und der Eröffnung
Ihnen das auch anhand der Begründung Ihres Antrags von Bildungsangeboten. Aber man hat schon ein biss-
belegen. Dort heißt es: Dieses Modell schafft eine Absi- chen den Eindruck, dass Ihren Referenten am Ende des
cherung bei Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Arbeitslo- Antrags die ohnehin schon recht dünne Tinte endgültig
sigkeit und im Alter. Es erhöht das Nettoeinkommen der ausgegangen ist. Sie arbeiten sich da nur noch bei ver-
Geringverdiener, entlastet die Betriebe, schafft neue Ar- drehter Wahrnehmung und Umdeutungen der Wirklich-
beitsplätze und macht die Schwarzarbeit unattraktiv. Au- keit an der FDP ab. Das ist wirklich unter Ihrem Niveau;
ßerdem ist es anscheinend kostenlos; darüber schweigen Sie können es besser.
Sie sich in Ihrem Antrag vornehm aus, Frau Kollegin (Unruhe beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Pothmer. Wenn es wirklich so einfach wäre! Aber es ist
nicht so einfach. Man sieht ja an Ihrem Geeiere, Ihrem – Hört mir eigentlich noch jemand zu bei den Grünen?
damaligen Regierungshandeln und Ihren heutigen Ein- Es wäre vielleicht ganz sinnvoll, wenn Sie sich einmal
lassungen, dass Sie überhaupt nicht so recht wissen, wo- mit konstruktiver Kritik an Ihrem Antrag auseinander-
hin Sie eigentlich wollen. setzen.
Wenn man einen 400-Euro-Job sozialversicherungs- (Zurufe der Abg. Brigitte Pothmer [BÜND-
pflichtig macht und mit Beiträgen in Höhe von 20 Prozent NIS 90/DIE GRÜNEN] sowie des Abg. Fritz
belastet, wovon die Hälfte auf die Rentenversicherung Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
entfällt, dann zahlt man einen Rentenversicherungsbei-
Dann versteigen Sie sich sogar noch dazu, unmittel-
trag von 40 Euro. Das ist ein sechstel Entgeltpunkt und
bar nach dem Karlsruher Urteil einen neuen und, wie Sie
entspricht mithin einer Rente von 4 Euro im Jahr. Das ist
sagen, richtigen Regelsatz von 420 Euro zu nennen; die
doch pervers. Das soll eine vernünftige Absicherung im
Linken waren sogar schon bei 500 Euro. Ich finde das
Alter sein, Frau Kollegin Pothmer? Das ist doch voll-
deswegen bemerkenswert, weil Karlsruhe Ihnen – Ihnen
kommen lebensfremd!
wurde mit dem Urteil das Gesetz um die Ohren geschla-
Möglicherweise findet jemand wie Sie, der den Lang- gen – gesagt hat, dass man Regelsätze nicht einfach ins
zeitarbeitslosen in seiner Regierungszeit einen Renten- Blaue hinein politisch definieren darf, sondern dass es
anspruch pro Jahr Langzeitarbeitslosigkeit von heute darauf ankommt, den Regelsatz Bedarf für Bedarf wer-
noch 2,09 Euro verordnet hat, es auch gut, wenn man mit tungsmäßig festzulegen. Sie drücken sich erneut darum
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2419
Dr. Heinrich L. Kolb
(A) herum. Das ist eine Missachtung des Karlsruher Gerich- destlohn von 7,50 Euro erhoben worden war. Nach (C)
tes. Das finde ich wirklich empörend. Wir sollten Karls- meiner Erinnerung hat man vor zwei Jahren über einen
ruhe ernst nehmen und das tun, was uns vorgegeben ist, Mindestlohn von 7,50 Euro gesprochen. Jetzt wird hier
nämlich nicht prozentual irgendetwas ableiten, sondern ein Antrag auf den Tisch gelegt, in dem ein Mindestlohn
in jedem Einzelfall sagen: Diesen Bedarf sehen wir als von 7,50 Euro gefordert wird. Davon redet doch kein
zur Abdeckung des physischen Existenzminimums und Mensch mehr. Dieser Betrag würde hinten und vorne
darüber hinaus als für die gesellschaftliche, politische nicht mehr genügen.
und kulturelle Teilhabe erforderlich an und jenen nicht.
(Beifall bei der LINKEN – Paul Lehrieder [CDU/
CSU]: Genauso wenig wie 10 Euro!)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Kollege Kolb! Trotzdem finde ich es löblich, dass sich die Grünen
um den Ausstieg aus den Niedriglohnsubventionen be-
mühen. Aber ich persönlich halte das Modell, das Sie
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
vorgelegt haben, für nicht besonders weitsichtig. Als be-
Dann bestimmt man einen Regelsatz; das werden wir sonders neu kann man es auch nicht bezeichnen.
in diesem Hause noch tun.
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Ich bedanke mich für die Zwischenfragen, Herr Kol-
NEN]: Der arme Rösler!)
lege Kuhn, Frau Kollegin Pothmer. Ich bin gerne bereit,
in nächster Zeit – vielleicht morgen früh – wieder Rede Wie bisher profitieren insbesondere Arbeitgeber von
und Antwort zu stehen. den niedrigen Löhnen. Die Betroffenen müssen auch
weiterhin von staatlichen Zuschüssen leben, die uns an
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
anderen Ecken fehlen werden. Was mit dem Niedriglohn
NEN]: Auf Wiedersehen!)
geschaffen wurde, sind neue Formen der Ausbeutung.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Ich persönlich halte es für eine riesige Katastrophe, dass
in einem der reichsten Länder auf dieser Erde, nämlich
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten in Deutschland, geschaut werden muss, ob man eine
der CDU/CSU) Möglichkeit findet, dass Menschen von ihrer Arbeit le-
ben können. Ich finde, es ist eine Katastrophe, dass man
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: darüber überhaupt nachdenken muss.
Jutta Krellmann hat jetzt das Wort für die Fraktion
Die Linke. (Beifall bei der LINKEN)
(B) (Beifall bei der LINKEN) Dabei sind die Vorschläge der Grünen eine bunte Ten- (D)
gelmann-Mischung. Das Problem ist: Dadurch werden
die Niedriglöhne nicht abgeschafft. Im Gegenteil: Sie
Jutta Krellmann (DIE LINKE): werden auch noch zementiert. Es ist also dasselbe in
Guten Tag, Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen Grün, nur irgendwie anders formuliert. Deshalb lehnt die
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin Linke diesen Antrag ab. Mit der Einführung eines Min-
immer ganz begeistert, wenn ich mitbekomme, dass Herr destlohns von 10 Euro, wie die Linke sie fordert – Herr
Kolb immer ganz genau weiß, was die Linke will. Er hat Kolb hat das vorhin schon einmal gesagt –, wäre Ihr gan-
das mit den 10 Euro Mindestlohn und mit der Millionärs- zes Modell überflüssig und hätten die Menschen Arbeit,
steuer verstanden. und zwar solche, von der sie leben könnten.
(Iris Gleicke [SPD]: Das nützt aber leider (Beifall bei der LINKEN)
nichts!)
Die Rechnung ist ganz einfach: Bisher müssen
Herr Kolb, es macht wirklich Spaß, mit Ihnen zusam- 1,4 Millionen Menschen ergänzend zu ihrer Arbeit
menzuarbeiten. Hartz IV beantragen, um über die Runden zu kommen;
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wenn Sie jetzt sie können von den gezahlten Hungerlöhnen ihrer Ar-
noch verstehen, was wir alles so wollen! Wer beitgeber nicht leben. Das ist ein absoluter Skandal.
weiß, was dabei herauskommt!) (Beifall bei der LINKEN)
– Wissen Sie, auch ich kann lesen. Ich bin jedes Mal hin
Es kostet die Steuerzahler – jetzt bitte ich Sie alle, ganz
und her gerissen, wenn ich bestimmte Sachen lese. Wir
genau hinzuhören – 9,3 Milliarden Euro. Noch einmal,
können gerne noch einmal darüber reden, aber nicht
anders ausgedrückt: 9,3 Milliarden Euro sind 9 300 Mil-
jetzt.
lionen Euro. So viel muss dafür verwandt werden.
Im Grunde muss ich leider Herrn Zimmer recht ge-
(Angelika Krüger-Leißner [SPD]: Das habe
ben.
ich auch schon gesagt!)
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Prima! Sie
Nach dem Modell der Grünen soll die staatliche Auf-
fangen gut an, Frau Krellmann!)
stockung abgeschafft werden. Die Grünen planen dafür
Mir ging es genauso wie Ihnen: Auch ich war völlig irri- die Entlastung durch niedrigere Sozialabgaben. Das so
tiert, als ich diesen Antrag gelesen habe, weil ich irgend- erzeugte Loch in den Sozialkassen soll dann der Steuer-
wie nicht wusste, wann die Forderung nach einem Min- zahler übernehmen. Der Niedriglohnsektor bliebe also
2420 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Jutta Krellmann
(A) erhalten, die Förderung von Dumpinglöhnen auch. nicht schlecht. Unser bayerischer Finanzminister hat vor (C)
„Geiz“ bliebe folglich für die Arbeitgeber „geil“, und die anderthalb Jahren gefordert: mehr Netto vom Brutto. Es
6,5 Millionen betroffenen Beschäftigten würden trotz hat uns auch keiner geglaubt, dass wir das ernsthaft an-
Arbeit arm bleiben. streben. Wir streben es heute noch an. Mehr Netto für
Geringverdienende klingt ja nun einmal nicht schlecht.
Niedriglöhne – egal wie sie bezuschusst werden –
Auch der Einleitungssatz „Arbeit und Leistung sollen
schaffen keine Arbeitsplätze, wohl aber verdrängen sie
sich lohnen“ ist konsensfähig. Ich will jetzt nicht alles
gute Löhne und reguläre Beschäftigung. Sie setzen eine
wiederholen, was der Kollege ausgeführt hat.
Lohnspirale nach unten in Gang. Das kann man auch be-
legen; das findet auch momentan statt. In einem anderen Punkt geht es mir allerdings ebenso
wie ihm. Ich habe mir die Augen ausgeschaut; ich habe
Dumpinglöhne werden mit geringeren Sozialabgaben
verschiedene Brillen aufgesetzt. Ich habe nirgends einen
noch belohnt. Arbeitgeber werden regelrecht dazu ver-
Finanzierungsvorschlag in diesem Antrag entdecken
leitet, die Löhne weiter zu reduzieren. Die Grünen be-
können. Vielleicht liefern Sie uns den nach, Frau Kolle-
haupten, die Höhe der Sozialabgaben verhindere die
gin Pothmer. Dann können wir uns Gedanken über die
Schaffung von Arbeitsplätzen. Diese Behauptung ist alt
Kosten dieses Vorschlags machen.
und der Ausgangspunkt der Niedriglohnpolitik. Arbeits-
plätze geschaffen hat das nicht. Die Senkung der Sozial- (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
abgaben für Geringverdiener entlastet die Unternehmer NEN]: Wenn wir die 9 Milliarden nehmen, die
weiter in erheblichem Maße. wir für Aufstocker brauchen, haben wir das
Mehr Netto ohne mehr Brutto geht zulasten von uns schon dreimal finanziert!)
allen. Ihr Progressivmodell klingt gut. Natürlich kann man
(Beifall bei der LINKEN) sagen, wir entlasten im unteren Einkommensbereich,
also die Geringverdiener – da haben wir im Übrigen
Das Solidarsystem ist nicht die Melkkuh der Nation, die mehr gemacht als die rot-grüne Koalition seinerzeit; aber
dazu dient, ständig sinkende Löhne auszugleichen. We- darauf komme ich nachher noch zu sprechen –, aber
niger Sozialabgaben führen zu drastisch geringeren Ein- dann müssen Sie auch sagen, wie Sie es finanzieren wol-
nahmen der Sozialkassen. Es besteht die Gefahr, dass len. Durch Bundeszuschüsse? – Das wäre systemwidrig.
das Loch in den Sozialversicherungen dann wieder als
Begründung für den Abbau von Sozialleistungen herhal- (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
ten muss. NEN]: Durch Einsparungen bei den Aufsto-
ckern!)
(B) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (D)
– Dazu, ob sich das durch Einsparungen bei den Aufsto-
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen. ckern finanzieren lässt, findet sich überhaupt nichts in
Ihrem Antrag. – Wollen Sie es etwa durch Erhöhung der
Jutta Krellmann (DIE LINKE): Lohnzusatzkosten im oberen Bereich finanzieren, das
Okay. – Die Linke fordert deshalb mehr Beschäfti- heißt also, dass wir qualifizierte Arbeit verteuern? – Das
gungsmöglichkeiten für die Menschen hier in Deutsch- hoffe ich nicht.
land. Wir fordern einen Mindestlohn. Wir werden uns (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
am Freitag noch einmal ganz explizit in Person meines NEN]: Nein!)
Kollegen Klaus Ernst mit der Frage beschäftigen.
– Darüber müssen wir aber reden, Frau Pothmer.
(Karl Schiewerling [CDU/CSU]: War das eine
Drohung? – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Der Ich finde ja die Idee grundsätzlich nicht a priori
hätte ja heute auch kommen können!) schlecht und möchte sie nicht sofort und ohne Hinterge-
danken zurückweisen.
Vielen Dank.
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Beifall bei der LINKEN)
NEN]: Machen Sie doch aus Ihrem Herzen
keine Mördergrube! Ich weiß doch, dass Sie
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: das gut finden!)
Paul Lehrieder spricht für die CDU/CSU-Fraktion.
– Stellen Sie mir doch eine Frage, Frau Pothmer, statt
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nur dazwischenzurufen. Dann hätte ich auch Zeit für
eine Antwort.
Paul Lehrieder (CDU/CSU):
Meine Damen und Herren, der Antrag klingt ja nicht
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
schlecht; aber er ist so, wie er vorliegt, absolut nicht be-
Liebe Kollegen! Mir geht es ähnlich wie dem Kollegen
handelbar und nicht zustimmungsfähig. Wir werden ihn
Kolb. In unserer christlich-liberalen Koalition passt ers-
auf jeden Fall ablehnen. Das Ganze könnte zwar zu ei-
tens zwischen die Partner kein Blatt Papier. Zweitens
nem interessanten Debattenbeitrag werden, aber nicht in
denken wir in vielen Bereichen ähnlich.
dieser unausgereiften Form. Künftig sollten Sie keinen
Ich habe mir den Antrag voller Vorfreude durchgele- Schnellschuss aus der Hüfte mehr machen, liebe Frau
sen. Der Titel „Mehr Netto für Geringverdienende“ ist ja Kollegin.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2421
Paul Lehrieder
(A) Wer hat denn nun die Sozialversicherungsbeiträge in Dann hecheln Sie wieder hinterher. Dazwischen liegt der (C)
den letzten Jahren gesenkt? Das war nicht Rot-Grün. Gewerkschaftsbund mit seiner Forderung. Es ist doch
Auch das muss für die Zuschauer auf der Tribüne und ein Witz. Wir verdummen doch die Leute, wenn wir sa-
die Fernsehzuschauer hier einmal ausdrücklich gesagt gen, mit einem Mindestlohn von 7,50 Euro könne man
werden. 1998 lag der Sozialversicherungsanteil immer- eine Familie mit zwei kleinen Kindern ernähren.
hin bei 42,1 Prozent, heute liegt er bei sage und schreibe
38,65 Prozent. Das heißt, Sie schmücken sich mit frem- (Karin Binder [DIE LINKE]: Genau!)
den Federn. Wir – ich räume ein, dass die Kolleginnen – Das kann man auch mit einem Mindestlohn von
und Kollegen von der SPD auch ein bisschen dazu bei- 10 Euro nicht. Sie brauchen sich nicht zu echauffieren.
getragen haben – haben die Sozialversicherungsbeiträge Die jetzigen Sozialleistungen einer Familie mit zwei
senken können. Und das ist gut so, meine Damen und Kindern sind mittlerweile bei einer Größenordnung, dass
Herren. der Mindestlohn für eine solche Familie bei 11,80 Euro
Wir haben den Eingangssteuersatz vor einem guten liegen müsste.
Jahr von 15 auf 14 Prozent gesenkt. Dazu kann man sa- (Karin Binder [DIE LINKE]: Ja dann! Gute
gen, dass man mehr erwartet hätte. Wir prüfen nach Vor- Erkenntnis! Lassen Sie uns doch mal anfan-
liegen der Steuerschätzung, ob hier noch mehr Steuer- gen!)
entlastung möglich ist. Zur Entlastung gehört aber auch
die Erhöhung des Kinderfreibetrages, den wir Anfang – Dann verlangen Sie doch einen Mindestlohn von
des Jahres immerhin von 6 000 auf 7 008 Euro erhöhen 12 Euro. Dann haben wir Sie noch mehr demaskiert.
konnten. Wir prüfen auch, ob darüber hinaus im Sozial-
versicherungsbereich Entlastungen möglich sind. Meine Damen und Herren, wir können keine Min-
destlöhne nach dem Familienstand einführen. Das ist
Meine Damen und Herren, der Antrag lässt nicht er- über unser Sozialsystem geregelt; dazu werden wir mor-
kennen, wie man dem Nettofinanzierungsbedarf von gen einiges ausführen. Deshalb sind alle drei Unter-
6,5 Milliarden Euro gerecht werden will. Das Bundes- punkte in Ihrem Antrag, zumindest jetzt, leider vollum-
verfassungsgericht hat uns bestätigt, dass der Gesetzge- fänglich abzuweisen. Es gebietet sich eigentlich, dass
ber bei Einführung der SGB-II-Regeln 2004 und 2005 man dazu nicht noch mehr ausführt. Über den Mindest-
zur Sicherung eines „menschenwürdigen Existenzmini- lohn wird morgen früh diskutiert.
mums“ feste Regelsätze schaffen durfte. Wenn Sie jetzt,
Frau Pothmer, lassen Sie uns über das Progressivmo-
Frau Pothmer, ähnlich wie die Linke pauschal, Pi mal
dell ohne Scheuklappen und über die Parteigrenzen hin-
Daumen, einen Regelsatz von 420 Euro verlangen, dann
weg nachdenken und sehen, ob es eine Lösung ist und
(B) verstoßen Sie doch, genauso wie die Linken, gegen das, was diese kostet. Dann können wir versuchen, Teile der (D)
was uns das Verfassungsgericht aufgegeben hat.
FDP, die vielleicht Sympathie dafür haben, zu beatmen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
der FDP – Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Das ist doch berechnet!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Schauen Sie sich doch einmal das Urteil an, Frau
Krellmann. Ich habe letzte Woche Ihrem Kollegen Ernst Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
gesagt, er solle das Urteil einmal lesen. Entweder hat er Ich schließe die Aussprache.
es nicht gelesen oder er hat es nicht verstanden. Bei Ih-
nen muss ich dasselbe vermuten. Schauen Sie sich das Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Urteil einmal an. Da steht, man muss ermitteln, weshalb Drucksache 17/896 an die Ausschüsse vorgeschlagen,
welche Bedarfe erforderlich sind. Lassen Sie uns in den die Sie in der Tagesordnung finden. Damit sind Sie ein-
nächsten Wochen und Monaten im Ausschuss konstruk- verstanden? – Dann ist das so beschlossen.
tiv darauf hinarbeiten, wie man das zusammen machen Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 11 auf:
kann, Frau Pothmer. Von daher ist eine Pauschale von
420 Euro leider ebenfalls nicht konsensual. Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingbert
Liebing, Marie-Luise Dött, Peter Altmaier, weite-
Zu den Mindestlöhnen. Wir reden morgen früh aus- rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
führlich darüber. Ich habe dankenswerterweise die Mög- sowie der Abgeordneten Angelika Brunkhorst,
lichkeit, morgen früh zwei, drei Sätze dazu zu sagen; da- Michael Kauch, Horst Meierhofer, weiterer Ab-
her kann ich es jetzt kurz machen. Gefordert wird ein geordneter und der Fraktion der FDP
genereller Mindestlohn von 7,50 Euro.
11. Trilaterale Wattenmeerkonferenz: UNESCO-
(Zuruf von der LINKEN) Weltnaturerbe würdigt Schutz des Watten-
meeres
– Klar, Sie fordern 10 Euro. In einem halben Jahr sind
Sie bei 12 oder 13 Euro. – Drucksache 17/903 –
(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Bei 15! – Zwischen den Fraktionen ist es verabredet, hierzu
Marco Bülow [SPD]: Wo sind Sie denn? Bei eine halbe Stunde zu debattieren. – Dazu höre ich keinen
2 Euro?) Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
2422 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) Als Erstes gebe ich das Wort der Parlamentarischen Ich habe mich heute gewundert. Es gab eine Presse- (C)
Staatssekretärin Ursula Heinen-Esser. erklärung des WWF, in der gefordert wird, wir in den
Ministerien müssten untereinander enger zusammenar-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- beiten. Ich kann Ihnen versichern: Der Kollege Staatsse-
neten der FDP) kretär aus dem Verkehrs- und Bauministerium, Enak
Ferlemann, und ich haben in den letzten Wochen zum
Ursula Heinen-Esser, Parl. Staatssekretärin beim Thema Wattenmeer und bezüglich möglicher Maßnah-
Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi- men seines Ministeriums sehr intensiv konferiert und ko-
cherheit: operiert. Wir haben ordentlich was geleistet. Deshalb
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- spreche ich dem Herrn Staatssekretär meinen herzlichen
legen! Es freut mich sehr, dass wir heute, nur einen Tag Dank für die gute Zusammenarbeit beim Thema Watten-
nach dem Internationalen Tag des Artenschutzes, einen meer aus.
Antrag debattieren, den mein Kollege Ingbert Liebing
initiiert hat. Es freut mich auch, dass wir, Frau Präsiden- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Paul
tin, zu einer solchen Zeit über ein wichtiges Natur- Lehrieder [CDU/CSU]: Guter Mann!)
schutzthema in diesem Haus diskutieren können und Wir haben ein großes Interesse an der Wattenmeer-
nicht wie sonst auf die späteren Uhrzeiten verwiesen konferenz. Sehr viele internationale Besucher, die daran
werden. Erst einmal herzlichen Dank an Ingbert Liebing teilnehmen werden, möchten sich darüber informieren,
und alle Kolleginnen und Kollegen, die diesen Antrag wie wir das Abkommen zum Schutz des Wattenmeeres
zur internationalen Wattenmeerkonferenz, die Mitte voranbringen wollen. Ich denke, dass wir einiges vorle-
März auf der Insel Sylt stattfinden wird, verfasst haben. gen werden.
Es waren ganz schön große Anstrengungen notwen- 2010 ist das Internationale Jahr der biologischen Viel-
dig, um dorthin zu kommen, wo wir heute beim Thema falt. Wir sind verpflichtet, uns mit aller Kraft dafür ein-
Wattenmeer stehen, nämlich dass es – das erfüllt uns mit zusetzen, die biologische Vielfalt in diesem Jahr noch
Stolz – geschafft wurde, UNESCO-Weltnaturerbe zu besser in der öffentlichen Aufmerksamkeit und in der
werden und dass damit das Ökosystem Wattenmeer in politischen Agenda zu verankern. Diese Debatte hilft
einer Reihe steht mit Weltnaturerben wie dem Grand uns dabei, ebenso wie die Sylter Wattenmeerkonferenz
Canyon, dem Amazonas-Gebiet in Brasilien oder Ähnli- einen Beitrag dazu leisten wird. Dabei sollen die interna-
chem. Das ist schon eine tolle Leistung, die vor allen tionalen Kontakte insbesondere zu Dänemark und den
Dingen die Bevölkerung vor Ort mit ihren Initiativen er- Niederlanden weiter gestärkt werden. Die Zusammenar-
bracht hat. beit mit dem Wattenmeerforum soll fortgeführt werden.
(B) (D)
Kollege Liebing, ich kann Ihnen und den Kollegen Wichtige Themen auf Grundlage des bisher Erreich-
vor Ort bestätigen: Wir, das Bundesumweltministerium, ten sind die Entwicklung von Strategien und Projekten
unterstützen Sie gerne dabei, weiter voranzukommen für die Anpassung an den Klimawandel, der Umgang
und noch mehr zu erreichen als das, was Sie schon er- mit nicht einheimischen Tier- und Pflanzenarten, die
reicht haben; denn die Liste ist noch lang, was wir im weitere Gestaltung der Nutzung des Wattenmeeres wie
Antrag nachlesen können. Fischerei, Schifffahrt, Energiegewinnung und Touris-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- mus, der bei aller Freude über viele Besucher, gerade als
neten der FDP) Folge des Welterbestatus, so naturverträglich wie mög-
lich gestaltet werden muss.
Um es ganz klar zu sagen: Die allergrößte Bedrohung
des Wattenmeeres geht vom Klimawandel aus. Die Al- Ich freue mich auf diese Konferenz. Ich danke mei-
pen und das Wattenmeer sind die Gebiete in Deutsch- nem Kollegen Ingbert Liebing für die Arbeit vor Ort,
land, die vom Klimawandel am meisten betroffen sein und den Kolleginnen und Kollegen hier danke ich für die
werden. In der Wattenmeerregion werden wir es gleich Aufmerksamkeit.
doppelt zu spüren bekommen. Zum einen ändert sich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
durch die höheren Luft- und Wassertemperaturen die Zu-
sammensetzung der Arten massiv. Das kann das Ökosys-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
tem in seiner Funktionsfähigkeit bedrohen. Zum anderen
bringt der rasche Anstieg des Meeresspiegels Bedrohun- Nächster Redner ist der Kollege Frank Schwabe für
gen für Mensch und Natur mit sich. Die Lösung wird die SPD-Fraktion.
sicherlich nicht darin liegen, Superdeiche zu bauen; die (Beifall bei der SPD – Torsten Staffeldt [FDP]:
trockenfallenden Wattflächen sind unverzichtbar. Der ist doch gar nicht vom Wattenmeer! Der
Grenzüberschreitende Aufgaben, wie sie beim Wat- kommt doch aus Castrop-Rauxel!)
tenmeer anfallen, können nur gemeinsam bewältigt wer-
den. Seit über 30 Jahren besteht die deutsch-dänisch-nie- Frank Schwabe (SPD):
derländische Wattenmeerkooperation, die uns die Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Nir-
nötigen Strukturen und Instrumente für künftige Heraus- gendwo auf der Welt gibt es ein Küstengebiet mit ver-
forderungen gibt. Das Wattenmeer ist fast flächende- gleichbarer ökologischer Bedeutung, Schönheit, Dyna-
ckend und umfassend in nationale, europäische und in- mik und Größe. Das Wattenmeer, dieser einzigartige
ternationale Schutzgebietsnetze eingebettet. Bereich des Lebens zwischen Land und Meer mit seinen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2423
Frank Schwabe
(A) Salzwiesen und Muschelbänken, ist ein weltweit einma- Weltnaturerbe. Das ist eine Entscheidung, die, wie ge- (C)
liger Lebensraum für viele bedrohte Tiere und Pflanzen sagt, lange bekämpft und jetzt zum Glück erkämpft
sowie die Drehscheibe für Millionen von Zugvögeln wie wurde.
Ringelgänsen, Eiderenten und Alpenstrandläufern. Hier
leben Tausende Seevögel, darunter auch europaweit be- (Beifall bei der SPD)
drohte Arten wie Brandseeschwalbe und Seeregenpfeifer Damit wurde und wird das Wattenmeer in seiner Be-
sowie Schweinswale, Seehunde und Kegelrobben. deutung gewürdigt. Es steht jetzt gleichrangig auf der
Gleichzeitig werden Küste und Meer fast nirgends auf UNESCO-Liste neben bedeutenden Naturschätzen wie
der Welt so intensiv vom Menschen geprägt wie in den dem Yellowstone-Nationalpark in den USA oder den
Niederlanden, Deutschland und Dänemark. Galapagosinseln im Pazifik. Die Auszeichnung bringt
einen enormen Imageschub für das Wattenmeer und
Doch das Wattenmeer ist nicht nur eine europäische wird hoffentlich auch den – ich unterstreiche das – nach-
Großlandschaft von höchster Bedeutung, sondern es ist haltigen Tourismus stärken. Hier zeigt sich, dass Natur-
zugleich hochgradig gefährdet. So werden über 75 Pro- schutz, Wirtschaft und Tourismus keine Gegensätze sein
zent der im Wattenmeer vorkommenden Biotoptypen müssen. Die Anerkennung des Nationalparks ist aber
und Biotopkomplexe zumindest als gefährdet eingestuft. auch eine Bestätigung für die Leitlinie, in weiten Berei-
Betroffen ist das Wattenmeer in dramatischer Form – das chen dieses einmaligen Naturerbes Natur Natur sein zu
ist gerade schon angesprochen worden – vom Klima- lassen und für umfangreiche Schutzzonen einzutreten.
wandel, insbesondere vom Anstieg des Meeresspiegels,
Herr Liebing – Sie sind hier schon mehrfach gewür-
der diesen Raum, der sich über einen Zeitraum von mehr
digt worden –, Sie haben einen interessanten Antrag vor-
als 7 000 Jahren dort gebildet hat, massiv gefährdet.
gelegt. Vieles von dem können wir unterschreiben. Die
Neben der Bekämpfung der Ursachen des Klimawan- Zusammenarbeit zwischen den Ministerien wurde ge-
dels ist die Anpassung der Wattenmeerregion an die rade gelobt. Inwieweit das Lob zutrifft, kann ich nicht
möglichen Auswirkungen nötig. Die Herausforderun- sagen. Hinter diese Aussage setze ich aber zumindest ein
gen sind groß. Nach Aussagen des Alfred-Wegener-In- Fragezeichen. Eine schlechte, jedenfalls keine sehr pro-
stituts stehen der Region durch den Anstieg des Meeres- duktive Zusammenarbeit ist die zwischen Ihnen hier im
spiegels – Zitat – „fast unglaubliche Veränderungen“ be- Bundestag und denen, die in den Ländern Verantwortung
vor. Bis Ende des Jahrhunderts könne der Meeresspiegel tragen. Ich finde es geradezu skandalös, dass Sie von
um bis zu 1 Meter ansteigen, erklären die Meeresfor- Schwarz-Gelb im Bundestag die Wichtigkeit des Wat-
scher. Mit dem Verlust des Wattenmeeres wäre die Küste tenmeerschutzes beschwören, während Ihre Kollegen
insgesamt bedroht. von Schwarz-Gelb in Schleswig-Holstein und Nieder-
(B) sachsen durch Beschlüsse genau das Gegenteil tun (D)
Vor dem Hintergrund all dieser Herausforderungen
und zunehmender Gefährdungspotenziale für die Natur, (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
zum Beispiel durch die Fischerei, den Tourismus, teil- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ingbert
weise aber auch durch den technischen Küstenschutz, Liebing [CDU/CSU]: Das ist doch Quatsch!)
haben die drei Wattenmeeranrainerstaaten Dänemark,
– das wird noch zu würdigen sein – und mit der Ketten-
die Niederlande und Deutschland koordinierte Schutz-
säge an die Finanzierung wichtiger Projekte gehen. So
und Managementmaßnahmen ergriffen. Mit beiden
möchte Schleswig-Holstein die Zuschüsse zum Freiwil-
Nachbarstaaten arbeitet Deutschland für den Schutz des
ligen Ökologischen Jahr kürzen, und zwar um eine halbe
Wattenmeeres seit vielen Jahren gut und eng zusammen.
Million Euro im Jahr.
Die trilaterale, sprich: Dreiländerzusammenarbeit zum
Schutz des Wattenmeeres ist eine Erfolgsgeschichte und (Zuruf von der FDP: Es geht also um Geld,
ein Musterbeispiel für den grenzüberschreitenden Schutz und nicht um das Wattenmeer!)
der biologischen Vielfalt.
Kirchen und Verbände in Schleswig-Holstein fürchten,
Im Wattenmeer funktioniert seit Jahrzehnten, worum dass von den 150 Plätzen, die für die Arbeit der Natur-
die Staatengemeinschaft in anderen Fragen derzeit ringt. schutzverbände existenziell wichtig sind, nur noch
Gemeinsam ist es möglich, den Verlust der Artenvielfalt 100 Plätze übrig bleiben. Das ist nicht hinnehmbar, und
aufzuhalten, das Gleichgewicht eines Ökosystems zu er- diese Kritik müssen wir dann hier auch formulieren.
halten und gleichzeitig eine nachhaltige Nutzung zuzu-
lassen und die Menschen vor Ort für den Schutz ihrer Was passiert in Niedersachsen? Das Land Nieder-
Heimat zu gewinnen, auch wenn das ein durchaus langer sachsen ist dabei, die Förderung der Nationalparkhäuser
Weg war und ist, wie diejenigen, die an der Küste leben trotz steigender Besucherzahlen zu kürzen, obwohl es so
oder dort gelegentlich Urlaub machen, wissen. gern den „Naturschutz mit den Menschen“ predigt, wie
nachzulesen ist. Das ist ein wirklicher Rückschlag für
Die Überarbeitung der grundlegenden Dokumente und das Weltnaturerbe. Das darf man international eigentlich
Strukturen der Zusammenarbeit ist notwendig geworden, niemandem erzählen. In den letzten Jahren wurden die
weil die bisherigen Vereinbarungen fast 30 Jahre alt sind. Mittel gekürzt, und mehr Geld für die Ausstattung der
Auf der Konferenz auf Sylt in wenigen Tagen wird es Nationalparkhäuser im Wattenmeer wird es – so ist zu
auch darum gehen, wie wir die Empfehlungen des Welt- hören – bis 2013 nicht geben. Offensichtlich müssen die
erbekomitees umsetzen. Zum Glück ist das Wattenmeer Nationalparkhäuser selber sehen, wie sie mit den gestie-
nach langem Kampf seit dem 26. Juni des letzten Jahres genen Anforderungen für die Informations- und Bil-
2424 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Frank Schwabe
(A) dungsarbeit zurechtkommen, die gerade jetzt mit der Es wurde auch schon gesagt, dass wir es hier mit einem (C)
Anerkennung als Weltnaturerbe auf sie zukommen. Ich einzigartigen, außergewöhnlichen Naturraum zu tun ha-
jedenfalls sehe die Entwicklung der 14 Nationalparkhäu- ben, in dem es eine hohe Artenvielfalt von Vögeln, Fi-
ser und -zentren in Niedersachsen mit Sorge. Seit dem schen, Krebstieren und natürlich auch Robben gibt. Auf
Antritt der schwarz-gelben Landesregierung ist die Fi- dieser Welt gibt es keine größere zusammenhängende Wat-
nanzierung zurückgefahren worden. Auch für das Jahr tenmeerregion: 13 000 Quadratkilometer, allein 10 000 da-
2010 gibt es keine Besserung. von in der Schutzkategorie Nationalpark. Als eines der
größten Feuchtgebiete der Erde, als Rastplatz für viele
Kommen wir zu den PSSAs; ich nenne jetzt nicht den Millionen Zugvögel, als Kinderstube für Meerestiere und
langen englischen Begriff. Das sind die Schutzzonen der mit seinem Reichtum an Lebensräumen für Tierarten und
Internationalen Schifffahrtsorganisation. Seit 2001 ist Pflanzenarten ist das Wattenmeer weltweit einzigartig.
das Wattenmeer eine solche Schutzzone. Das ist schön; Dieser außergewöhnliche Wert wurde nun von der
aber im Wattenmehr gibt es kaum Schiffe. Die Schiffe UNESCO gewürdigt. Das Wattenmeer hat ein tolles Prä-
kann man nur sehen, wenn man abends zum Beispiel in dikat erhalten.
Juist am Strand steht; man sieht sie im Dunkeln als helle
Punkte am Horizont. Sie befinden sich vor der Schutz- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
zone. In diesen Bereichen und in den Bereichen der ge- der CDU/CSU)
fährdeten Hafeneinfahrten gibt es Schiffe.
Ebenso wurde – Sie haben die Konkurrenz bei der
Sie haben recht mit Ihrem Hinweis auf mögliche Schifffahrt angesprochen – von der Internationalen
Wettbewerbsverzerrungen gegenüber niederländischen Schifffahrtsbehörde anerkannt, dass das Wattenmeer
Häfen, wenn man diesen Bereich ohne Weiteres in den durchaus ein bedeutsames und ökologisch empfindsa-
Schutz einbeziehen würde. Deshalb wäre es notwendig, mes Gebiet darstellt. Die trilaterale Wattenmeerzusam-
in einen konstruktiven Dialog darüber einzutreten, wie menarbeit basiert auf der gemeinsamen Erklärung der
die Seeschifffahrt – in Abstimmung der Umweltschutz- drei Wattenmeeranrainerstaaten Dänemark, Niederlande
behörden mit den Verkehrsbehörden – sicherer gemacht und Deutschland. Die Trilaterale Wattenmeerkonferenz
werden kann, ohne dass Wettbewerbsverzerrungen ein- findet vom 17. bis 19. März 2010 unter deutscher Präsi-
treten. Dies ist zum Beispiel der Wunsch bzw. die Bitte dentschaft, die Deutschland seit 2006 ausübt, auf Sylt
vieler Naturschutz- und Umweltschutzverbände, deren statt. Auf dieser Konferenz soll eine gemeinsame Minis-
Position wir nachhaltig unterstützen. Eine solche Per- tererklärung verabschiedet werden, in der die Schwer-
spektive zeigen Sie in Ihrem Antrag nicht auf. punkte für die nächste Präsidentschaft festgelegt werden,
und es sollen auch modernere Organisationsstrukturen
Der Antrag der Koalition macht deutlich, dass es in festgelegt werden.
(B) diesem Haus eine hohe Übereinkunft bei der Einschät- (D)
zung der Bedeutung des Wattenmeeres und der Zusam- Das Leitbild der drei Anrainerstaaten bei der Ent-
menarbeit der drei Länder gibt; das ist gut so. Ihr Antrag wicklung gemeinsamer Maßnahmen ist, so weit wie
allerdings hat wenig Substanz, bringt uns zu wenig nach möglich ein natürliches und sich selbst erhaltendes Öko-
vorn und schont die falsche Politik Ihrer Landesregie- system zu erreichen, in dem natürliche Prozesse unge-
rungen. Deshalb wird sich die SPD bei der Abstimmung stört ablaufen können. Um dies zu schaffen, wurde im
über den Antrag enthalten. Jahre 2001 das Wattenmeerforum eingerichtet. Es ist ein
Forum, welches soziale, aber auch wirtschaftlich und
Vielen Dank. ökologisch ausgerichtete Maßnahmen entwickeln soll,
die im Rahmen einer Gesamtvision wirken sollen. Hier
(Beifall bei der SPD – Gisela Piltz [FDP]: Jetzt
sind Vertreter aus dem staatlichen Bereich, Vertreter von
haben Sie es uns aber gegeben!)
Nichtregierungsorganisationen, aber auch die Bürger vor
Ort mit eingebunden; das ist selbstverständlich. Es ist
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: wichtig, dass das Wattenmeerforum seine Arbeit auch in
Für die FDP-Fraktion hat das Wort die Kollegin Zukunft fortsetzen kann. Viele Probleme lassen sich nur
Angelika Brunkhorst. in Kooperation mit anderen Staaten lösen; allein sind sie
nicht lösbar.
(Beifall bei der FDP)
Das Prädikat „UNESCO-Weltnaturerbe“ ist – ich
Angelika Brunkhorst (FDP): habe es schon gesagt – wertvoll. Es ist auch ein wirksa-
mes Marketinginstrument. Die Wattenmeerregion kann
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
sich eine gute Marktposition auf dem Gebiet des natur-
Wir haben gerade bei uns in der Fraktion einen neuen
nahen Tourismus verschaffen. Damit ist das für den Tou-
Slogan entworfen: Würmer, Watt und Weltnaturerbe.
rismus wertvolle Prädikat „Weltnaturerbe“ sicherlich ein
Das klingt doch gut. Diese Debatte hört sich auch eher
Standortvorteil für die deutsche Küstenregion. Wir be-
an wie eine große Schwärmerei für das, was hier gelun-
grüßen, dass auch der dänische Teil des Wattenmeeres
gen ist. Die Aufnahme der deutsch-niederländischen
jetzt als Nationalpark eingestuft werden soll, und hoffen,
Wattenmeerregion in die Liste der UNESCO-Weltnatur-
dass in der Folge auch dieser Teil als UNESCO-Weltna-
erbestätten stellt sie auf eine Ebene – das wurde schon
turerbe anerkannt wird.
gesagt – mit anderen großen Naturstätten wie dem Grand
Canyon in den USA und dem Great Barrier Reef vor der (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Küste Australiens. der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2425
Angelika Brunkhorst
(A) Zudem hat die Stadt Hamburg sozusagen auf der Ziel- Dabei wurde viel erreicht, von der Unterschutzstel- (C)
geraden gerade noch den Antrag gestellt, auch ihre Watten- lung bis zur gemeinsamen Nominierung des Wattenmee-
meerflächen als UNESCO-Weltnaturerbe anzuerkennen. res für die Welterbeliste und der Anerkennung als Welt-
Dem Vorhaben, die sogenannten PSSAs, die Particularly naturerbe. Die Arbeit soll weitergeführt, entwickelt und
Sensitive Sea Areas, auszuweiten – dass dies geschieht, natürlich auch finanziert werden.
war eine Sorge der maritimen Wirtschaft –, haben die zu-
ständigen Bundesressorts eine Absage erteilt. Man er- Alles, was Sie in Ihrem Antrag vorschlagen, können
achte die gültigen Schutz- und Sorgfaltspflichten als an- wir nur unterstützen – bis auf einen, aus unserer Sicht
gemessen. leider keinen kleinen Widerspruch; fast könnte man es
überlesen. Ich zitiere:
Unser Wattenmeer muss für die jetzige Generation
und für künftige Generationen erhalten bleiben. Die Ma- Deshalb unterstützt der Deutsche Bundestag die ab-
nagementmaßnahmen im Rahmen der Trilateralen Wat- lehnende Haltung der Bundesregierung gegen eine
tenmeerkonferenz sind insbesondere darauf ausgerichtet, Ausdehnung des PSSA-Gebietes … über das Wat-
den Anforderungen an die Erhaltung der Biodiversität in tenmeer-Kooperationsgebiet hinaus.
dem natürlichen und dynamischen Wattenmeerökosys- In der trilateralen Zusammenarbeit konnte man sich
tem gerecht zu werden. lange nicht zu einem Schutz des Wattenmeeres vor mög-
Die ersten Bemühungen zeigen bereits Erfolge. Bei- lichen Folgen der Schifffahrt einigen,
spielsweise waren die Kegelrobben stark dezimiert; sie (Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Quatsch!)
wären fast ausgestorben. Jetzt gibt es wieder große Po-
pulationen, die insbesondere in einer Kolonie auf der bis zur Havarie des Frachters „Pallas“ vor Amrum 1998.
Kachelotplate zu finden sind. Dort können sie sich völlig Nur rund 100 Tonnen Öl kosteten 16 000 Seevögel das
ungestört entwickeln und haben Ruhe und Wurfplätze. Leben. 2001 einigten sich die drei Staaten darauf, für das
Es ist gut, zu sehen, dass bestimmte Tierarten, wenn man Wattenmeer den Status als „Besonders Empfindliches
sie vor Verfolgung schützt und ihnen Ruhe gewährt und Meeresgebiet“ bei der IMO, der UN-Organisation für die
Rückzugszonen einräumt, sich wieder vermehren und weltweite Regelung der Schifffahrt, zu beantragen. Die-
sich dort heimisch fühlen. sen Status erhalten nur Gebiete mit einer besonders ho-
hen ökologischen Bedeutung, die von der Schifffahrt
Die FDP verfolgte schon immer eine Naturschutz- durch Verschmutzung gefährdet werden können. Die
politik – es sei mir zum Schluss gestattet, darauf hinzu- südliche Nordsee gehört dazu. Sie ist eines der weltweit
weisen –, die Naturschutz mit den Menschen prokla- am stärksten befahrenen Meeresgebiete.
(B) miert. Für bestimmte Maßnahmen brauchen wir die Der Gebietsschutz geht allerdings bisher nicht über (D)
Akzeptanz der Menschen vor Ort. Ich glaube, die Nomi-
nierung des Wattenmeeres als UNESCO-Weltnaturerbe die Weltnaturerbefläche hinaus, und man konnte sich
ist dafür ein Paradebeispiel. Denn die Menschen vor Ort auch noch nicht über zusätzliche Schutzmaßnahmen ver-
sind auf breiter Basis für die Anmeldung und Durchset- ständigen. Die bestehenden Maßnahmen wurden als aus-
zung dieser langjährigen Bemühungen eingetreten und reichend eingestuft.
haben sie mitgetragen. Dafür danke ich den Menschen
vor Ort. Was heißt das, Kolleginnen und Kollegen? Das heißt,
dass mit diesem Antrag, über den wir heute hier befin-
Ich danke auch für Ihre Aufmerksamkeit und bitte, den, das Signal für die künftige Arbeit der trilateralen
dem Antrag zuzustimmen. Wattenmeerkooperation doch recht dürftig ausfällt; denn
neben der Unterstützung all der durchaus wichtigen
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Maßnahmen wird der grundsätzliche Schutz des Watten-
meeres, die Einrichtung einer Pufferzone um das eigent-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: liche Weltnaturerbe, explizit ausgeschlossen. Wettbe-
werbsverzerrung zum Nachteil Deutschlands ist wie in
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine Stüber für vielen Fällen die eher fadenscheinige Begründung.
die Fraktion Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN)
Das Wattenmeer braucht mehr Schifffahrtsschutz als
Sabine Stüber (DIE LINKE): bisher. Der Schiffsverkehr auf dem Hauptstrom parallel
zum deutschen und niederländischen Wattenmeer wird
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- weiter zunehmen. Ich möchte mir den Wettbewerbsnach-
legen! Das Wattenmeer – im Gezeitenwechsel der Nord- teil für den deutschen Tourismus und die Fischerei an
see mal Land, mal Meer – ist mit 10 000 Quadratkilome- der Nordsee nach einer jederzeit möglichen Havarie gar
tern das größte Küstenfeuchtgebiet Europas. Sie, sehr nicht vorstellen.
geehrte Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
würdigen in Ihrem Antrag den einzigartigen Naturwert Umwelt- und Schifffahrtsverbände machen immer
mit seiner enormen Artenvielfalt. Zu Recht benennen wieder Vorschläge und fordern seit Jahren ein umfassen-
Sie Erfolge, auf die wir stolz sein können. Seit 1982 ar- des Schiffsverkehrsmanagement. Hinzu kommt die For-
beiten Dänemark, Deutschland und die Niederlande zu- derung nach einer Erweiterung der Schutzzone und
sammen, um diesen Naturraum zu schützen. deren Einstufung als „Besonders Empfindliches Meeres-
2426 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Sabine Stüber
(A) gebiet“. Dem schließen wir uns als Linke an. Den Antrag (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (C)
in der jetzigen Form lehnen wir ab.
Auch über die Deichsicherheit und den Klimawandel
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) verlieren Sie in Ihrer Vorlage kein Wort. Dabei hat uns
das Sturmtief „Xynthia“ erst letztes Wochenende ge-
Wir erwarten von der Bundesregierung, mit ihren Vor-
zeigt, womit wir in Zukunft zu rechnen haben. Weltweit
schlägen den gegenwärtigen Erfordernissen mit einem
werden die Meeresspiegel dramatisch ansteigen. Allein
Blick in die Zukunft gerecht zu werden.
seit 1900 ist der Pegel der Nordsee um 20 Zentimeter an-
Danke. gestiegen. Der Klimawandel wird diesen Effekt noch
verschärfen. Ich kann Ihnen nur empfehlen: Setzen Sie
(Beifall bei der LINKEN) diese Problematik auf die Tagesordnung der Regierungs-
konferenz auf Sylt. Gerade die Insel Sylt – Herr Liebing,
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: das wissen Sie als Sylter am besten – ist besonders be-
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Valerie Wilms troffen.
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Werte Kolleginnen und Kollegen, ich habe schon zu
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Beginn betont, dass wir Grünen es begrüßen, wenn sich
Meine Damen und Herren! Als Grüne müsste ich mich der Bundestag mit dem UNESCO-Weltnaturerbe Wat-
eigentlich wirklich freuen: Auf Antrag der Koalition tenmeer beschäftigt. Die Koalition hat eine Reihe von
– Herr Liebing, vielen Dank – reden wir heute über das Punkten durchaus zu Recht in ihren Antrag aufgenom-
UNESCO-Weltnaturerbe Wattenmeer, und dies gerade men. Dennoch bleibt vieles hinter dem Notwendigen zu-
im Internationalen Jahr der biologischen Vielfalt, wie die rück. Ihr Antrag ist eine Deklamation von Bekanntem
Parlamentarische Staatssekretärin sagte. Das ist wirklich und Wünschenswertem. Deswegen fordere ich Sie auf,
zu begrüßen. endlich etwas für den Schutz des gesamten Meeres zu
tun.
Aber was muss ich dann feststellen? Das von Ihnen
abgelieferte Papier bleibt äußerst dünn, und damit ent- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
spricht der Antrag leider auch dem Gesamtbild, das der Abg. Sabine Stüber [DIE LINKE])
diese Koalition seit ihrem Bestehen abgibt.
Wir werden das Wattenmeer in seiner Einzigartigkeit nur
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bewahren können, wenn wir für die gesamte Nordsee
(B) sowie des Abg. Frank Schwabe [SPD]) und den Atlantik etwas tun und zum Beispiel die zuneh- (D)
mende Vermüllung stoppen. Werden Sie dazu auf euro-
Was bitte wollen Sie mit diesem deklaratorischen Antrag
päischer und globaler Ebene aktiv! Dazu bietet sich
eigentlich erreichen? Wenn Sie wirklich etwas für das
diese Regierungskonferenz geradezu an, wenn Sie die
Wattenmeer tun wollen, müssen Sie an größeren Rädern
Leitlinien für die nächste Präsidentschaft bestimmen
drehen. Oder ist Ihnen das zu anstrengend?
wollen.
Da wäre zum Beispiel die zunehmende Vermüllung
der Meere. Inzwischen gehört die Deutsche Bucht zu Es ist schade, dass Sie über dieses wichtige Thema
den am meisten verschmutzten Gewässern. Das Watten- sofort abstimmen wollen. Wir hätten gerne im Aus-
meer und unsere Küsten leiden unter all den bekannten schuss Verbesserungen eingebracht, damit auch die Na-
negativen Auswirkungen, auch auf Natur und Touris- turschutzverbände voll hinter Ihnen stehen. Ein Stich-
mus. Hier erwarten wir von Ihnen Vorschläge. Davon ist wort wäre, dass Sie die Ausweitung des Schutzstatus
nichts zu sehen, Sie drücken sich. PSSA ablehnen. Schon vor diesem geringen Schutzsta-
tus schrecken Sie zurück, obwohl hiervon keinerlei ne-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gative Auswirkungen auf die Wirtschaft zu erwarten
sind. Das ist mehr als enttäuschend.
Das Wattenmeer gehört zwar inzwischen zum
UNESCO-Weltnaturerbe und ist damit geschützt; aber (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
was kann dagegen getan werden, dass Schiffe ihren Ab- sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
fall auf offener See einfach verklappen? Was irgendwo
da draußen in die Nordsee gekippt wird, landet früher Bei etwas so Wichtigem wie dem Wattenmeer hätte
oder später im Watt. Vögel und Meerestiere fressen man bei gutem Willen durchaus zu einem Antrag des
kleine Plastikteile und verenden daran. Schauen Sie sich ganzen Hauses finden können. Das war offensichtlich
einmal den Film Plastic Planet an! Er ist sehr interes- nicht Ihr Wunsch. Für eine Regierungskoalition, die
sant. Maßstäbe setzen will, hat Ihr Antrag leider zu wenig In-
halt. Sie werden unsere Stimmen nicht brauchen – und
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ auch nicht bekommen. Ich empfehle meiner Fraktion
DIE GRÜNEN) eine Enthaltung.
Der Rest steckt im Schlick oder wird an den Strand ge- Vielen Dank.
spült. Das ist die Realität, mit der das Wattenmeer heute
zu kämpfen hat. Auch davon findet sich in Ihrem Antrag (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
nichts. sowie bei Abgeordneten der SPD)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2427

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Sie alle haben gefragt: Welche Folgen hat die Aner- (C)
Frau Kollegin Dr. Wilms, das war Ihre erste Rede im kennung als Weltnaturerbe für uns? – Es ist inzwischen
Deutschen Bundestag. Ich gratuliere Ihnen dazu sehr klargestellt: Das Wattenmeer verfügte bereits vor der
herzlich und verbinde das mit den besten Wünschen für Anmeldung über ein so hohes Schutzniveau, dass es zu-
die weitere Arbeit. sätzlicher Restriktionen nicht bedarf. Niemand muss
deshalb Sorge haben, dass durch das Welterbe legitime
(Beifall) Interessen der Region beeinträchtigt werden. Deshalb
gab es im Juni vor allem Stolz und ein Aufatmen in der
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege Region.
Ingbert Liebing für die CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und neten der FDP)
der FDP)
Das ist aber auch das Ergebnis einer geänderten Vor-
gehensweise gewesen. Ich habe erlebt, wie umweltpoliti-
Ingbert Liebing (CDU/CSU): sche Ziele von Rot-Grün von oben und von außen vorge-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! geben worden sind. Dadurch wurde eher Widerstand
Die heutige Debatte über das Wattenmeer hat gezeigt, hervorgerufen. Es sind dann andere, Unionspolitiker,
dass wir alle miteinander in diesem Hause stolz darauf und andere Landesregierungen, christlich-liberale Lan-
sind, dass die UNESCO diesen einzigartigen Naturraum desregierungen, gewesen, die dann anders damit umge-
im vergangenen Jahr als Weltnaturerbe ausgezeichnet gangen sind, die die Menschen mitgenommen und Über-
hat. zeugungsarbeit geleistet haben.
Nach Ihrem Beitrag, Frau Dr. Wilms, sage ich bei al- (Ulrich Kelber [SPD]: Die Mittel gekürzt ha-
ler persönlichen Wertschätzung ganz offen: Ich hätte ben!)
mich gefreut, wenn Sie bei diesem Thema das, was uns Deswegen ist es gelungen, dass die Menschen in der Re-
verbindet, in den Vordergrund gestellt hätten. gion zu diesem Welterbe jetzt Ja sagen.
Ich habe ausdrücklich darauf verzichtet, nun alles (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Mögliche aus den Unterlagen der Konferenz abzuschrei- neten der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Sie ha-
ben – Ministererklärung, Wattenmeerplan und Ähnliches –, ben doch vorher zu denen gehört, die Nein ge-
in denen all die Dinge, die Sie hier einfordern, sehr wohl sagt haben!)
angesprochen werden: von der Sicherheit auf See über
(B) den Seeverkehr bis hin zum Klimawandel. Wenn Sie Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (D)
sich die Mühe gemacht hätten, einmal in diese Konfe-
Herr Kollege Liebing, ich darf Sie kurz unterbrechen.
renzunterlagen hineinzusehen, dann hätten Sie feststel-
Der Herr Kollege Schwabe möchte gerne eine Zwi-
len können, dass dies alles auf der Konferenz behandelt
schenfrage stellen.
wird. Wir brauchen das alles aber nicht noch einmal in
unserem Antrag abzuschreiben.
Ingbert Liebing (CDU/CSU):
Es ist gut, dass wir uns heute im Deutschen Bundes- Ja, gerne.
tag mit diesem Thema beschäftigen, weil das auch eine
Würdigung der Anerkennung des Wattenmeeres als
Frank Schwabe (SPD):
Weltnaturerbe darstellt. Dabei war das wahrlich keine
Herr Kollege Liebing, ich will Ihr Engagement durch-
Selbstverständlichkeit. 18 Jahre hat es gedauert, bis
aus würdigen, und Sie haben zu Recht angesprochen,
diese Auszeichnung erreicht werden konnte. Es war ein
wie schwierig die Situation vor Ort ist und wie schwierig
schwieriger Diskussionsprozess, den ich selber vor Ort
es ist, Akzeptanz bei den Menschen vor Ort zu erreichen.
erlebt habe.
Trotzdem will ich Sie an dieser Stelle doch noch ein-
Schließlich gibt es auch einen wesentlichen Unter- mal fragen: Wie kann es sein, dass gerade die Landesre-
schied zwischen dem Naturraum Wattenmeer und den gierungen in Niedersachsen und Schleswig-Holstein, die
vielfach zitierten Vergleichsregionen wie Grand Canyon Sie ja gerade, denke ich, ein Stück weit gelobt haben, die
und Great Barrier Reef. Das Wattenmeer ist schließlich Mittel für die Infrastruktur, für die Nationalparkhäuser
auch ein Raum, in dem Zehntausende Menschen auf den und für das Personal kürzen, obwohl sie ja gerade dafür
Inseln und Halligen mitten im Wattenmeer leben und ar- da sind, Akzeptanz zu schaffen, eine Nachhaltigkeit bei
beiten. Wenn wir die Küstenregionen dazunehmen, kom- der touristischen Nutzung zu erreichen und Überzeu-
men weitere Millionen Menschen hinzu. gungsarbeit zu leisten? Wie kann es also sein, dass diese
Es ist ein Raum, in dem jährlich Millionen von Men- Mittel gekürzt werden?
schen Urlaub machen. Die Menschen auf den Inseln und
Halligen sind von der Schifffahrt und vom Küstenschutz Ingbert Liebing (CDU/CSU):
abhängig, mit dem sie über Jahrhunderte hinweg ihren Ich sehe keineswegs, dass die niedersächsische Lan-
Lebensraum gesichert haben. Hafen- und Energiewirt- desregierung ihrer Verantwortung für das Wattenmeer
schaft hängen eng mit dem Wattenmeer zusammen. Das jetzt nicht nachkommt, sondern ganz im Gegenteil: Die
gilt genauso für die Fischerei und die Landwirtschaft. niedersächsische Landesregierung investiert im Rahmen
2428 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Ingbert Liebing
(A) eines Interreg-Programms gemeinsam mit den Nachbarn men kann, auch auf der Konferenz eine Rolle. Hier sitzt (C)
in den Niederlanden 300 000 Euro für zusätzliche Maß- niemand, der sagt: Wir müssen uns nicht mit dem Thema
nahmen im Wattenmeer. beschäftigen. Ich persönlich setze mich seit vielen Jah-
ren dafür ein, die Sicherheitsstruktur auf See zu verbes-
Zum FÖJ in Schleswig-Holstein. Es geht ausschließ- sern. Es wird ein Thema sein, die Bundeskompetenzen,
lich darum, dass die Finanzierung auf den Level der an- die gesplittet sind und sich auf verschiedene Behörden
deren Bundesländer abgesenkt wird, nachdem Ihre Kol- verteilen, zu bündeln. Es waren die Sozialdemokraten,
legen in Kiel in roter und rot-grüner Regierungszeit das die dies in der Vergangenheit immer verweigert haben.
Land über 18 Jahre hinweg ruiniert haben. Das Land ist Die christlich-liberale Koalition hat sich vorgenommen,
jetzt pleite, und jetzt kann man sich nicht mehr erlauben die Kompetenzen zu bündeln; wir werden das tun. Ich
als andere Länder. werde Sie daran messen, ob Sie mitziehen, wenn wir
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – dies einbringen.
Ulrich Kelber [SPD]: Wer hat die HSH-Gelder (Ulrich Kelber [SPD]: Wir fragen heute in ei-
zu verantworten? Welcher Ministerpräsident? nem Jahr nach!)
Welche Farbe?)
Beim Thema PSSA geht es um mehr: In erster Linie
– Herr Kelber, ich schlage vor, dass wir jetzt zum Thema geht es nicht um den Schutz des Wattenmeeres. Es
zurückkommen. Kommen wir zurück zum Wattenmeer. glaube doch bitte keiner, dass diejenigen in Holland, die
(Ulrich Kelber [SPD]: Ja, ja, das ist ein unan- die Ausdehnung der PSSA vorantreiben, dies ausdrück-
genehmes Thema für Sie!) lich mit Blick auf den Schutz des Wattenmeeres tun! Sie
tun es mit Blick darauf, dass die deutschen Seehäfen
– Das ist nicht unangenehm, aber beschäftigen wir uns nach einer Ausdehnung in das Schutzgebiet einbezogen
lieber mit unserem Thema. wären und damit die Zufahrt zu ihnen erschwert würde,
Wir sind stolz auf die Anerkennung als Weltnatur- während Rotterdam – auch Antwerpen – außen vor blei-
erbe, und es ist gut, dass jetzt auch der Hamburger Senat ben würde. Natürlich hat dies Folgen für die Wettbe-
das klare Bekenntnis dazu abgegeben hat, die dortigen werbsfähigkeit der Häfen, die wir nicht akzeptieren kön-
Flächen nachzumelden. Auch Dänemark wird diese Dis- nen. Beschäftigen wir uns lieber mit den konkreten
kussion jetzt aufnehmen können, nachdem die Anerken- Maßnahmen, die tatsächlich für mehr Sicherheit im See-
nung als Nationalpark auf den Weg gebracht wurde. Das verkehr sorgen, anstatt nur pauschal über das Thema der
alles sind gute Perspektiven für das Wattenmeer. PSSA zu sprechen!

Wir müssen aber auch die Chancen nutzen, vor allem Im Übrigen darf ich daran erinnern: Ehemalige Mi-
(B) auch für den Tourismus. Hier sehe ich eine nationale nister – sowohl Herr Tiefensee von der SPD als auch (D)
Verantwortung. Ich freue mich, dass das Bundesumwelt- Herr Trittin von den Grünen – haben die Ausdehnung
ministerium dieses Thema aufgegriffen hat, und möchte der PSSA über das eigentliche Schutzgebiet des Watten-
Staatssekretärin Heinen-Esser ausdrücklich ermuntern, meeres hinaus nicht betrieben. Da das Stichwort Pallas
diesen Weg weiterzugehen; die Unterstützung der Koali- gefallen ist, möchte ich hervorheben: Das Unglück der
tion ist hier sicher. Pallas wäre auch durch eine Ausdehnung der PSSA nicht
verhindert worden; denn ein PSSA-Gebiet schützt nicht
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) davor, dass ein Havarist von draußen in das Wattenmeer
hineintreibt. Es handelte sich um einen Holzfrachter, der
Seit über 30 Jahren arbeiten die Niederlande, Däne-
durch jedes PSSA-Gebiet hätte fahren dürfen.
mark und Deutschland in der Trilateralen Wattenmeer-
kooperation zusammen. Diese Kooperation bildet die Der zweite Punkt, den ich ansprechen will, ist das
Grundlage für das hochrangige Schutzniveau, das wie- Wattenmeerforum. Es ist ein sehr gutes Instrument, das
derum die Voraussetzung für die Anerkennung als Welt- die Interessenorganisationen in der Wattenmeerregion
naturerbe gewesen ist. Im Rahmen der Kooperation fin- bündelt und in die Wattenmeerkooperation mit einbringt.
den alle vier Jahre Regierungskonferenzen statt, so auch Dieses Wattenmeerforum bekommt mit dieser Regie-
in zwei Wochen auf Sylt. Die Konferenz auf Sylt bildet rungskonferenz einen neuen, gestärkten Status als Bera-
den Abschluss einer erfolgreichen deutschen Präsident- ter des neuen Wattenmeervorstandes. Wenn man dies tut,
schaft in der Trilateralen Wattenmeerkooperation. Wir dann muss man auch dafür sorgen, dass die Arbeit konti-
können diese Präsidentschaft wegen der erfolgreichen nuierlich fortgesetzt werden kann. Deswegen setzen wir
Anmeldung des Weltnaturerbes, wegen des überarbeite- uns mit unserem Antrag auch dafür ein, dass diese Ar-
ten Wattenmeerplans, wegen des erneuerten Gründungs- beit fortgesetzt werden kann, auch in finanzieller Hin-
dokuments der Kooperation, wegen der neu entwickel- sicht. Ich bin sicher: Dies stärkt das Vertrauen in der Re-
ten Organisationsstruktur und wegen des Entwurfs einer gion und dient dem gemeinsamen Interesse des
Ministererklärung ausdrücklich würdigen. Wattenmeerschutzes.
Ich will gerne zwei der Themen aufgreifen, die auf Die beiden Ereignisse – Listung des Wattenmeeres als
der Konferenz verhandelt werden sollen. Das Thema Weltnaturerbe sowie die Trilaterale Wattenmeerkonfe-
PSSA ist mehrfach kritisch angesprochen worden. Um renz auf Sylt zum Abschluss der deutschen Präsident-
es ausdrücklich zu sagen: Das Thema der Sicherheit auf schaft – sind es wert, vom Deutschen Bundestag gewür-
See ist für die Wattenmeerkonferenz von entscheidender digt zu werden. Dies tun wir, die Fraktionen der
Bedeutung. Es spielt, wie man den Unterlagen entneh- christlich-liberalen Koalition, mit unserem Antrag. Ich
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2429
Ingbert Liebing
(A) werbe für ein deutliches Signal des Deutschen Bundesta- Die Endlagersuche und die Risikotechnologie Atom- (C)
ges, den Wert dieses Naturraums zu würdigen, die Leis- energie sind solche zentralen Fragen. Wir haben Zweifel,
tung der deutschen Präsidentschaft in der Wattenmeer- ob die einseitige Festlegung auf den Erkundungsstandort
kooperation anzuerkennen und die Chancen, die dieser Gorleben tatsächlich auf richtigen Erwägungen beruht.
Raum bietet, beherzt zu nutzen. Darum bitte ich Sie Wir haben vielmehr den Eindruck, dass vieles verdeckt
heute um Unterstützung für unseren Antrag. werden soll und dass die schwarz-gelbe Bundesregie-
rung alle Zweifel vom Tisch wischen will. Das darf nicht
Herzlichen Dank. sein. Deswegen fordern wir in unserem Antrag, einen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Untersuchungsausschuss einzurichten.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
Ich schließe die Aussprache. GRÜNEN)

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Worum es im Einzelnen gehen wird, wird meine Kol-
Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache legin Ute Vogt, die für uns die Obfrau in diesem Aus-
17/903 mit dem Titel „11. Trilaterale Wattenmeerkon- schuss sein wird, näher erläutern. Ich will nur kurz den
ferenz – UNESCO-Weltnaturerbe würdigt Schutz des Kern skizzieren. Es geht darum, zu klären, ob es unter
Wattenmeeres“. Wer stimmt für den Antrag? – Wer ist der Regierung von Helmut Kohl, unter der schwarz-gel-
dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist damit ange- ben Bundesregierung im Jahr 1983 zur Festlegung auf
nommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen ge- den Untersuchungsstandort Gorleben gekommen ist, ob-
gen die Stimmen der Fraktion Die Linke und bei Enthal- wohl man es hätte besser wissen müssen.
tung der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Die Frage, die sich stellt, ist, ob Zweifel, die von
Grünen. Fachleuten angemeldet wurden, unberücksichtigt geblie-
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: ben sind. Die Frage ist, ob die Politik dergestalt Einfluss
genommen hat, dass Fachleute und Gutachten nicht
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingrid mehr die entscheidende Rolle gespielt haben. Die Frage
Arndt-Brauer, Rainer Arnold, Sabine Bätzing und ist, ob Zweifel, die frühzeitig geäußert wurden, unter-
weiterer Abgeordneter der Fraktion der SPD, drückt wurden.
sowie der Abgeordneten Jan van Aken, Agnes Wir haben Hinweise darauf, dass Gutachten manipu-
Alpers, Dr. Dietmar Bartsch und weiterer Abge- liert wurden und die Fakten bewusst nicht zur Kenntnis
(B) ordneter der Fraktion DIE LINKE genommen worden sind. Darum wird es in diesem Un- (D)
tersuchungsausschuss gehen.
sowie der Abgeordneten Kerstin Andreae,
Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln) Die Diskussion über das Endlager findet in einem
und weiterer Abgeordneter der Fraktion hochaktuellen Kontext statt. Sie streiten sich als
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schwarz-gelbe Koalition wie die Kesselflicker um die
Frage, wie Sie mit der Atomtechnologie weiter umge-
Einsetzung eines Untersuchungsausschusses
hen.
– Drucksache 17/888 (neu) –
(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Was hat das
Überweisungsvorschlag: denn mit dem Untersuchungsgegenstand zu
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und tun?)
Geschäftsordnung

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Parallel dazu kürzen Sie bei den erneuerbaren Energien.
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich Was wir heute aus den Haushaltsberatungen hören, ist
sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann können wir so mehr als alarmierend. Sie scheinen wirklich weit in die
verfahren. Vergangenheit zurückzufallen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Gleichzeitig formiert sich der Widerstand in der Öf-
Kollege Dr. Matthias Miersch von der SPD-Fraktion das fentlichkeit. Am 24. April 2010 werden viele Menschen
Wort. aus den unterschiedlichsten Gruppen ihre Interessen da-
durch vertreten, dass sie zwischen Brunsbüttel und
(Beifall bei der SPD) Krümmel eine Menschenkette bilden werden. Gleichzei-
tig will Bundesminister Röttgen jetzt plötzlich in Gor-
leben die Öffentlichkeit beteiligen.
Dr. Matthias Miersch (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn Herr Röttgen etwas sagt, dann muss man sehr
Das Recht, einen Untersuchungsausschuss zu verlangen, genau aufpassen, wie Worte und Taten zusammenzubrin-
ist ein Urrecht und ein wichtiges Recht, das meistens die gen sind. Auch hier zeigt sich, dass die Beteiligung der
Minderheit im Parlament wahrnimmt. Wir meinen, dies Öffentlichkeit vieles offenbar kaschieren soll und dass es
ist ein Mittel, das sehr sorgfältig eingesetzt werden eigentlich nur eine Pseudobeteiligung ist. Denn worum
muss; aber es muss eingesetzt werden, wenn es um zen- geht es? Sie haben vor, das Ganze weiterhin nach dem
trale Fragen geht. Bergrecht zu regeln, mit der Folge, dass es gerade keine
2430 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Dr. Matthias Miersch


(A) richtigen Möglichkeiten zu Einwendungen und Klagen Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): (C)
der Bevölkerung gibt. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Führen Sie die Leute nicht vor! Wir haben drei ele- Der Herr Kollege Miersch hat es bereits gesagt: Es ist
mentare Forderungen: Erstens. Beteiligen Sie die Öffent- das schärfste Schwert der Opposition, einen parlamenta-
lichkeit richtig, statt sie vorzuführen! rischen Untersuchungsausschuss zu beantragen, und zu-
gleich ist es ein Minderheitenrecht. Für uns als Unions-
Zweitens. Stellen Sie, solange dieser Untersuchungs- fraktion, als größte Fraktion im Bundestag, ist es
ausschuss tagt, alle Tätigkeiten der weiteren Erkundung selbstverständlich, dass wir den Untersuchungsauftrag
von Gorleben ein! Alles andere wäre unverantwortlich. mit großem Respekt vor den Maßgaben des Grundgeset-
zes unaufgeregt abarbeiten.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Untersuchungsgegenstand ist ein schwerwiegender
Vorwurf gegen die Regierung Kohl/Genscher aus dem
Drittens. Führen Sie keine einseitige Erkundung
Jahr 1983. Damals fiel die Entscheidung, ausschließlich
durch! Denn wir wissen schon heute, dass es eigentlich
den Salzstock Gorleben als mögliches Endlager für ra-
um viel mehr geht. Sie wissen, dass Sie in Gorleben
dioaktive Abfälle untertägig zu erkunden. Der Vorwurf,
enorme Probleme bekommen werden. Denn die Verträge
dass dort Manipulationen stattgefunden haben, wurde
mit den Grundstückseigentümern laufen 2015 aus. Wer
wie zufällig wenige Wochen vor der Bundestagswahl
seriös an die Sache herangeht, weiß, dass man für die Er-
2009 durch den damaligen Bundesumweltminister pu-
kundung viel länger braucht. Sie wissen eigentlich heute
blik gemacht. Das Bundeskanzleramt hat diese Vorwürfe
schon, dass Sie bei Gorleben gar nichts gewinnen kön-
überprüft und einen eindeutigen Bericht dazu abgege-
nen. Insofern ist der Schritt, den der Bundesminister jetzt
ben.
scheinbar vorhat, ein unverantwortlicher.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) NEN]: Was? Was für einen Bericht?)

Jeder, der sich mit der Frage beschäftigt, weiß, dass Das Bundesumweltministerium hat dasselbe gemacht.
neben Salz inzwischen ganz andere Gesteinsarten – bei- Beide Berichte sind nicht ganz gleichlautend.
spielsweise Ton und Granit – infrage kommen. Wer sich (Ulrich Kelber [SPD]: Nicht die Unwahrheit
heutzutage einseitig auf Gorleben festlegt, produziert ei- sagen!)
gentlich den nächsten Skandal. Denn wer in die Schweiz
oder in andere Länder schaut, weiß, dass man sich nicht Auch das wird sicherlich Gegenstand der Arbeit in
(B) einseitig festlegen darf. Das ist unverantwortlich. unserem Ausschuss sein. (D)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Die Nutzung von Kernenergie ist seit den 70er-Jahren
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der eine wichtige Ressource zur Produktion von Strom in
LINKEN) der Bundesrepublik Deutschland. Dabei fällt hochradio-
aktiver Abfall an. Es ist eine ethische Verpflichtung, eine
Sie werden genau überlegen müssen, wie Sie mit den
Frage der politischen Redlichkeit und der Übernahme
Menschen vor Ort umgehen. Wenn sich herausstellen
von Verantwortung für einmal getroffene Entscheidun-
sollte, dass hier manipuliert worden ist, oder sich heraus-
gen, dass der Deutsche Bundestag sich der Lösung der
stellen sollte, dass fachliche Stellungnahmen nur unzu-
Entsorgungsfrage tatsächlich annimmt.
reichend zur Kenntnis genommen worden sind, dann
können Sie doch nicht in einem so gefährlichen Gebiet (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
nach dem Motto handeln: Augen zu und durch. Wir wer-
den Ihnen das nicht durchgehen lassen. Sie werden hier Es ist eine Frage der nationalen Entsorgung, natürlich
mit dem geballten Widerstand der Opposition zu rech- nach unseren Sicherheitsstandards hier in Deutschland.
nen haben. Deswegen sage ich zum Abschluss noch ein- Es ist außerdem eine Frage der Generationengerechtig-
mal: Lassen Sie augenblicklich die Finger von Gorleben! keit, um den kommenden Generationen nicht den Müll
Nehmen Sie Ihre Kraft mit in den Untersuchungsaus- von heute vor die Füße zu werfen.
schuss! Klären Sie das gemeinsam mit uns auf, und un-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
terlassen Sie, solange der Untersuchungsausschuss tagt,
jegliche Vorhaben, diese Erkundung weiter durchzufüh- Kurz zur Geschichte Gorlebens: 1977 beschließt die
ren! Regierung Schmidt, nach Abstimmung mit dem Kabi-
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. nett Albrecht in Niedersachsen, Gorleben als Endlager-
standort zu erkunden. Vorausgegangen waren ein für die
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem damalige Zeit umfangreiches Auswahlverfahren vonsei-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ten der Bundesregierung, die 26 verschiedene Standorte
in Betracht zog, und eine Untersuchung von mehr als
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: 140 Salzstöcken in Niedersachsen durch die Landesre-
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Maria gierung. Es gab 1979 ein umfangreiches Gorleben-Hea-
Flachsbarth für die CDU/CSU-Fraktion. ring, eine einwöchige Expertenanhörung unter Hinzuzie-
hung des niedersächsischen Landtags. Ab 1979 wurde
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der Salzstock oberirdisch und ab 1986 auch unterirdisch
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2431
Dr. Maria Flachsbarth
(A) untersucht. Seit 2000 wird nichts mehr gemacht. Es gilt Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): (C)
ein Moratorium. Herr Kollege Kelber, ich darf Sie darüber informie-
ren, dass wir zunächst den Weg über das Bergrecht und
Ich bin froh, dass die jetzige Bundesregierung und dann den der Beteiligung, die eher mit dem Asse-Verfah-
Bundesumweltminister Röttgen keinen Zweifel daran ren vergleichbar ist, wählen werden. Möglicherweise ist
lassen, dass die Lösung der Endlagerfrage für hochradio- Ihnen das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts von
aktiven Abfall ganz oben auf der Agenda der neuen Bun- 1990
desregierung steht. Ganz anders war es bei den Vorgän-
gerregierungen und seinen Vorgängern im Amt, den (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Herren Trittin und Gabriel. Das Ganze soll in einem of- NEN]: Das ist schon lange her!)
fenen und transparenten Verfahren erfolgen, das der Ko-
und eine Bestätigung dieses Urteils von 1995 nicht mehr
alitionsvertrag vorsieht.
in Erinnerung. Darin wurde eben diese Frage höchstrich-
Bundesumweltminister Röttgen hat am vergangenen terlich dahin gehend entschieden, dass die Erkundung im
Dienstag am Rande der CeBIT in einer Sitzung des nie- Vorfeld des Planfeststellungsverfahrens sowohl ange-
dersächsischen Kabinetts gesagt, dass diese Untersu- messen als auch rechtens ist. Diese Frage ist höchstrich-
chung ergebnisoffen mit Beteiligung der Bevölkerung, terlich zweimal entschieden worden. Genau auf diesen
der Bürgerinitiativen und auch der Kommunalpolitiker Entscheid gründet sich unser weiteres Vorgehen.
vor Ort, ähnlich wie bei der Asse-Begleitgruppe, erfol- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
gen soll. neten der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Danke
(Ulrich Kelber [SPD]: Auf welcher Rechts- für die Bestätigung!)
grundlage?) Nach diesen Voruntersuchungen, die stattfinden müs-
sen, damit das Planfeststellungsverfahren überhaupt aufge-
Die Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger ist für uns nommen werden kann, wird natürlich ein atomrechtliches
entscheidend, so Röttgen. Darüber hinaus wird es eine Verfahren eingeleitet. Das heißt, das Planfeststellungs-
Peer Review geben, das heißt, wir wollen internationale verfahren läuft selbstverständlich nach Atomrecht ab, mit
Experten zurate ziehen, um alle Befunde, die es bislang den entsprechenden Beteiligungen aller interessierten
in Gorleben gegeben hat, untersuchen zu lassen und ih- Gruppen.
rem Rat bezüglich der Eignung dieses Salzstocks zur
Endlagerung in Anspruch zu nehmen. Dieses Verfahren (Ulrich Kelber [SPD]: Das dürfen Sie gar nicht
hatten wir übrigens in der letzten Legislaturperiode Ih- anders!)
nen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ange-
(B) boten, leider Gottes vergeblich. – Das geht gar nicht anders, Sie haben völlig recht. – Es (D)
ergibt Sinn, dass man weit im Vorfeld dessen intensiven
Kontakt zu den Bürgerinnen und Bürgern vor Ort sucht
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: und zudem die Suche nach internationalen Standards be-
Frau Kollegin, Entschuldigung, dass ich Sie unterbre- gleitet. Nach dem Planfeststellungsverfahren – auch das
che. Herr Kollege Kelber möchte gerne eine Zwischen- wissen Sie – ist es natürlich möglich, gegen den Plan-
frage stellen. feststellungsbeschluss, sollte er positiv ausgefallen sein,
zu klagen. Damit ist auch klar, dass ein Endlager vor
dem Jahr 2030 vermutlich nicht zur Verfügung stehen
Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): wird.
Gerne.
Die Bundesregierung strebt dieses Verfahren auf der
Grundlage der zwei Urteile des Bundesverwaltungsge-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: richts von 1990 und 1995 an. Darüber hinaus hat die rot-
Bitte. grüne Regierung, als sie 2000 den Ausstiegsvertrag mit
den EVUs gemeinsam vereinbart hat, in dem Ausstiegs-
beschluss festgeschrieben, dass nichts gegen die Eig-
Ulrich Kelber (SPD): nungshöffigkeit dieses Salzstocks spreche. Daher muss
Frau Kollegin, vielen Dank für die Möglichkeit, eine er weiter untersucht werden. Das Bundesamt für Strah-
Frage zu stellen. Sie hatten gerade nach den Erläuterun- lenschutz hat in seinem Synthesebericht von 2005, der
gen meines Kollegen Miersch das Thema der Beteili- die Zweifelsfragen abgearbeitet und die Ergebnisse zu-
gung der Bürgerinnen und Bürger angesprochen. Unter sammengefasst hat, gesagt, dass es ein Nachweiskonzept
Bürgerbeteiligung versteht man ein Verfahren, in dem für die Langzeitsicherheit von Endlagern gebe und dass
die Bürgerinnen und Bürger per Verordnung oder Gesetz die Sicherheit eines möglichen Standorts nur mit stand-
festgelegte Rechte der Beteiligung haben. Können Sie ort- und anlagenspezifischen Sicherheitsanalysen ermit-
mir bestätigen, dass das von Herrn Minister Röttgen ge- telt werden könne, sprich: Man muss tatsächlich vor Ort
wählte Verfahren keine Rechte für die Bürgerinnen und nachschauen, und das heißt weiter erkunden.
Bürger vorsieht, sondern ein reines Informationsverfah-
ren ist? Als Letztes möchte ich das Urteil zum Schacht Konrad
anführen. Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg führte
(Zuruf von der CDU/CSU: Das kommt doch im März 2006 aus, dass es eben keiner alternativen Stand-
im Planfeststellungsverfahren!) orterkundung bedürfe und dass ein Mangel im Verfahren
2432 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Dr. Maria Flachsbarth


(A) nicht darin bestehe, dass alternative Standorte nicht um- den 70er-Jahren bestehen, konnten in den letzten Jahren (C)
fassend und vergleichend untersucht worden seien. durch Untersuchungen nicht ausgeräumt werden. Pro-
bleme sind ein über weite Teile fehlendes Deckgebirge,
Diese Bundesregierung mit dem Bundesumweltminis-
die Inhomogenität des Salzstockes oder Frostrisse im
ter Röttgen stellt sich endlich nach so vielen Jahren des
Gestein.
Wegschauens, des Wegtauchens und des Verantwortung-
von-sich-Schiebens ihrer Verantwortung für die Entsor- Zweitens. Die gesetzlich vorgeschriebene Bürgerbe-
gung in einem ergebnisoffenen und transparenten Verfah- teiligung wurde ignoriert und soll offensichtlich – wir
ren mit internationalen Standards. Nun müssen wir tat- haben es eben gehört – weiter ignoriert und mit Füßen
sächlich ergebnisorientiert auch im Hinblick auf die getreten werden. Wie anders ist es zu verstehen, wenn
zahlreichen oberirdischen Zwischenlager überall in der niedersächsische Umweltminister Hans-Heinrich
Deutschland handeln. Sander, FDP, ankündigt, man wolle weiter nach Berg-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht nur Vergan- recht vorgehen?
genheit aufarbeiten, sondern Zukunft gestalten, das ist (Zuruf von der LINKEN: Pfui!)
der Auftrag, den dieses Haus hat. Ich hoffe, dass in die-
sem Sinne auch der Parlamentarische Untersuchungs- Drittens. Es gibt Dokumente, aus denen hervorgeht,
ausschuss arbeiten wird. dass die Entsorgungstochter der AKW-Betreiber, die
DWK, Geld fließen ließ, um Gorleben voranzutreiben.
Herzlichen Dank. Es flossen sowohl an das Land Niedersachsen als auch
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) an den Landkreis und an die Kommunen Gelder, um für
Gorleben als Standort zu werben. Mindestens 40 Prozent
dieser Gelder – so belegen es Dokumente, die uns vorlie-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
gen – kamen direkt von den AKW-Betreibern.
Für die Fraktion Die Linke hat nun das Wort die Kol-
legin Dorothée Menzner. Viertens. Aus unserer Sicht gilt es zu klären, mit wes-
sen Beteiligung und Wissen Gorleben unter Tage viel
(Beifall bei der LINKEN)
stärker ausgebaut wurde, als zur reinen Erkundung not-
wendig war. Auch diese Dokumente sind bekannt, und
Dorothée Menzner (DIE LINKE): darüber wurde in der Öffentlichkeit diskutiert. In Gorle-
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! ben ist unter Tage viel mehr passiert, als zur reinen Er-
Sehr verehrte Damen und Herren! Eben wurde schon ge- kundung notwendig gewesen wäre. Schwarzbauten sind
sagt, ein Untersuchungsausschuss sei eine der schärfsten errichtet worden, um vollendete Tatsachen zu schaffen
Waffen der Opposition und keine Fraktion werde sie und ein Endlager wahrscheinlicher zu machen. (D)
(B)
leichtfertig benutzen.
Fünftens. Als ob das alles nicht reicht, liegen jetzt Do-
(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Na ja!) kumente vor, aus denen sich ableiten lässt – ich sage das
In den letzten Wochen und Monaten sind uns aber in ganz bewusst so vorsichtig –, dass 1983 unter politischer
mindestens fünf Komplexen Zusammenhänge deutlich Einflussnahme der damaligen schwarz-gelben Koalition
geworden und bekannt geworden, die diesen Untersu- ein entscheidendes Gutachten verändert wurde, indem
chungsausschuss rechtfertigen. Passagen herausgenommen wurden, die ursprünglich be-
sagten, man solle parallel auch andere Standorte erkun-
(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: den.
Nämlich?)
Das riecht verdammt nach Manipulation, und ich
Ohne dass der Untersuchungsausschuss seine Arbeit glaube, es ist nicht nur unsere Pflicht als Opposition, da
überhaupt begonnen hätte, gibt es ernstzunehmende Hin- Licht ins Dunkel zu bringen, sondern Klarheit und
weise auf folgende Missstände: Transparenz bei diesen Vorgängen sind auch das gute
Erstens. Die Entscheidungen wurden seinerzeit nicht Recht der Bevölkerung und der Öffentlichkeit.
nach fachlichen Kriterien und nach Stand von Wissen- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-
schaft und Technik gefällt, sondern nach politischer Op- NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne-
portunität und Durchsetzbarkeit. Man beschränkte sich ten der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: Sie
in den 70er-Jahren lediglich auf Salz als mögliches Ein- nehmen doch heute schon die Ergebnisse vor-
lagerungsmedium und untersuchte über 100 Salzstöcke. weg! Sie brauchen doch gar keinen Untersu-
Dabei wurde nicht nur bewertet, ob sie geologisch geeig- chungsausschuss mehr! – Gegenruf des Abg.
net sind, sondern es wurde beispielsweise auch bewertet, Ulrich Kelber [SPD]: Da ist noch viel mehr!)
ob die örtliche Bevölkerung besonders aufmüpfig ist
oder ob man Entscheidungen dort leicht durchsetzen Die sture Fixierung auf Gorleben entgegen den War-
kann. nungen zahlreicher Wissenschaftler und gegen den Wi-
derstand der örtlichen Bevölkerung ist sehr bezeichnend.
(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Woher haben
Als ob das Desaster mit der Asse, bei dem wir im Mo-
Sie das denn?)
ment alle gemeinsam überlegen, wie wir es möglichst
Wissenschaftler sagen bis heute, es sei in weiten Tei- unschädlich machen können, noch nicht reicht, wollen
len eine politische und nicht eine sachlich-wissenschaft- Sie weiter vollendete Tatsachen schaffen. Das ist mit der
liche Entscheidung gewesen. Auch die Zweifel, die seit Linken nicht zu machen. Wir werden auf Transparenz
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2433
Dorothée Menzner
(A) achten und sehr genau hinschauen, vielleicht auch, weil das Ganze hinterher wirklich entkräftet werden kann. (C)
wir nicht genötigt sind, an irgendeiner Stelle eine inner- Allein im Rahmen des niedersächsischen Auswahlver-
parteiliche Schonhaltung einzunehmen. fahrens sind damals 140 Salzstöcke erkundet worden.
Auch in den 70er-Jahren gab es eine Beteiligung der Öf-
(Beifall bei der LINKEN)
fentlichkeit. Es gab einmal die Gorleben-Kommission,
Die kriminelle Müllkippe Asse und Gorleben reichten und es gab im Jahre 1979 das erwähnte Gorleben-Hea-
seinerzeit gerichtlich als Entsorgungsnachweis für die ring.
AKWs Brokdorf, Stade, Grohnde, Biblis A und Biblis B.
In dem Zusammenhang halte ich es für fahrlässig, über Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Laufzeitverlängerungen zu diskutieren. Ich komme zu Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
dem Schluss, dass nicht die Menschen vor Ort, die Angst Kollegin Menzner?
haben, und nicht die seit 30 Jahren aktive Bürgerbewe-
gung die Atomchaoten, als die sie so oft bezeichnet wur-
den, sind, Angelika Brunkhorst (FDP):
Ja, bitte.
(Zuruf von der CDU/CSU: Sondern sie sitzen
in Ihrer Fraktion!)
Dorothée Menzner (DIE LINKE):
sondern offensichtlich die Betreiber der AKWs und ei- Frau Brunkhorst, Sie sprachen eben richtig an, dass sei-
nige, die das in der Politik unterstützen. nerzeit 140 Salzstöcke erkundet und nach einer Punkte-
Ich danke. tabelle bewertet wurden. Aber Ihnen ist auch bekannt,
dass Gorleben, selbst wenn man diese etwas zweifel-
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- hafte Punktetabelle zugrunde legt, nicht unter den emp-
NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- fohlenen Salzstöcken war. Wie stehen Sie dazu?
ten der SPD)
Angelika Brunkhorst (FDP):
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Dazu will ich jetzt gar keine Bewertung abgeben,
Nächste Rednerin ist die Kollegin Angelika Frau Menzner. Wir werden das im Untersuchungsaus-
Brunkhorst für die FDP-Fraktion. schuss im Detail erörtern, und dann werde auch ich
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) meine Bewertung dazu abgeben. Im Jahre 1977 gab es
aber unter der SPD-Regierung Schmidt eine vorläufige
Zustimmung zu dem Standort Gorleben.
(B) Angelika Brunkhorst (FDP): (D)
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-
legen! Sie, meine Damen und Herren von der Opposi- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
tion, werden die Einsetzung des Gorleben-Ausschusses Frau Kollegin Brunkhorst, Herr Kollege Kelber
bekommen, und die FDP wird sehr sachgerecht, ambitio- möchte eine weitere Zwischenfrage stellen.
niert und konstruktiv darin mitarbeiten; das können wir
Ihnen zusagen. Angelika Brunkhorst (FDP):
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen von der Oppo- Ich hatte eigentlich gedacht, dass wir nicht schon jetzt
sition aber auch um Wahrhaftigkeit sowie darum, diesen in den Untersuchungsausschuss eintreten.
Untersuchungsausschuss nicht als politisches Instrument (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
zu verbiegen neten der FDP)
(Beifall bei der FDP – Zuruf von der CDU/ Sie können es wohl gar nicht abwarten. Lassen Sie uns
CSU: Das wird schwer!) doch erst einmal den Untersuchungsausschuss einsetzen.
und bei den Bürgern und Bürgerinnen keine Angst zu Dann gehen wir in die Details.
schüren. Denn Gorleben ist nicht festgelegt, sondern die (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Nach-
Erkundung ist weiterhin offen. her gehen ihnen die Fragen aus! – Gegenruf
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) der Abg. Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Keine Sorge!)
Der gesamte Prozess wird öffentlich und transparent
gestaltet. Bundesumweltminister Norbert Röttgen und – Ja, vielleicht auch das.
der niedersächsische Umweltminister Sander haben in
Sie haben in der Begründung des Antrags auf Einset-
dieser Woche bekundet, dass sie eine Einbindung der
zung dieses Untersuchungsausschusses zu Recht ge-
Bürgerinnen und Bürger – wenn auch nicht nach Ihrem
schrieben, dass wir eine „Lösung zur Endlagerung hoch-
Maßstab – in Form eines Begleitkreises wollen, wie er
radioaktiver Abfälle“ brauchen. Das stimmt. Ich muss an
sich bei der Asse durchaus bewährt hat.
dieser Stelle einfach einmal sagen, dass wir in dieser
In der Sache erheben sie den Vorwurf, es habe eine Frage seit zehn Jahren Stillstand zu verzeichnen haben,
rein politische Vorfestlegung auf den Standort Gorleben obwohl in dieser Zeit die SPD und eine Zeit lang auch
gegeben. Ich bin mir sicher, dass der Untersuchungsaus- die Grünen an der Regierung beteiligt waren. Weder un-
schuss zu anderen Ergebnissen kommen wird und dass ter Umweltminister Trittin noch unter Umweltminister
2434 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Angelika Brunkhorst
(A) Gabriel waren in dieser Frage irgendwelche Fortschritte Schmidt pro Atomenergie eingestellt war und dass (C)
zu verzeichnen. Da wundere ich mich dann schon. meine Partei diese Haltung erst in meinem Eintrittsjahr
vor 25 Jahren abgelegt hat.
Ich möchte auf Folgendes zurückkommen: Umwelt-
minister Trittin – ich konnte ihn im Umweltausschuss Ist Ihnen bekannt, erstens, dass die Festlegung auf
kennenlernen; er hat damals den AK End einberufen – Gorleben als einzigen Standort erst unter der Landes-
hat den Auftrag vergeben, ein Ein-Endlager-Konzept zu regierung Albrecht, also nach dem Jahr 1976, erfolgte
entwickeln. Die Empfehlungen lagen auf dem Tisch. Der und damit 1973 nicht stattgefunden haben kann – wir
AK-End-Bericht verstaubt irgendwo in den Regalen des stellen Ihnen diese Dokumente gerne zur Verfügung –,
BMU. So geht es nicht weiter. Wir müssen jetzt endlich und, zweitens, dass es zahlreiche Briefe, Vermerke und
einmal vorankommen, auch im Hinblick darauf, dass wir Weisungen der Regierung Schmidt von 1977 bis 1981
den kommenden Generationen solch eine Bürde einfach – wir haben damals gemeinsam mit Ihrer Partei regiert –
nicht aufhalsen können. an die Landesregierung gibt, sich nicht auf Gorleben als
In Anlage 4 des sogenannten Atomkonsenses steht Standort festzulegen, und dass diese Festlegung erst
– auch darauf möchte ich hier verweisen –, dass die bis- 1983 unter der Regierung Kohl passiert ist? Diese Doku-
her gewonnenen geologischen Befunde nicht gegen die mente stellen wir natürlich auch dem Untersuchungsaus-
Eignung des Salzstockes Gorleben sprechen. Das haben schuss zur Verfügung.
der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder und der (Beifall bei der SPD)
damalige Bundesumweltminister Trittin unterzeichnet.
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal sagen: Sie Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
grenzen Ihren Untersuchungsauftrag auf die Umstände Zur Erwiderung Frau Brunkhorst.
der Kabinettsentscheidung von 1983 ein. Ich möchte da-
rauf hinweisen – das müssen die Bürger ebenfalls wis-
Angelika Brunkhorst (FDP):
sen –, dass bereits in den 1970er-Jahren gewisse Pro-
zesse der Endlagersuche abgelaufen sind. Ich habe das Herr Kelber, das sind natürlich alles Dinge, die ich
schon gesagt: Es gab Hearings usw. Das ist ja nicht mit kenne.
der Kabinettsentscheidung 1983 losgegangen. (Ute Kumpf [SPD]: Warum behaupten Sie
Ich möchte hier noch eine Erklärung abgeben: Mir dann etwas Falsches?)
persönlich und der FDP liegt am Herzen, dass wir end- Sie selbst machen einen Schnitt und sagen: Der Un-
lich die Frage beantworten, wie es mit der Suche nach tersuchungsauftrag soll bei den Umständen der Kabinetts-
einem geeigneten Endlagerstandort weitergehen soll. entscheidung von 1983 ansetzen. Gleichzeitig wollen (D)
(B)
Dass sich diese Frage heute immer noch stellt, dass wir Sie Vorgänge vor dieser Zeit heranziehen. Wenn das,
von Ihnen die Frage „Wie soll ein Endlager aussehen, was vorher geschehen ist, so bedeutend ist, dann erwei-
das den internationalen Standards von Wissenschaft und tern Sie doch den Untersuchungsauftrag!
Technik entspricht?“ gestellt bekommen, dass es so ge-
kommen ist, dafür tragen Sie doch selbst seit langem die (Ulrich Kelber [SPD]: Da sind schon Fragen
Verantwortung. Wenn wir das Moratorium von zehn Jah- zur Zeit davor drin! Lesen Sie es mal!)
ren nicht gehabt hätten, dann wären wir mit der Beant-
wortung dieser Frage wahrscheinlich schon viel weiter. – Sie wissen doch sehr genau, Herr Kelber, dass in der
Selbst Experten, die eigentlich eher auf Ihrer Seite ste- Regierungszeit Schmidt in den 1970er-Jahren eine ganz
hen, sagen: Das Moratorium hat nichts gebracht außer andere Auffassung bestanden hat, dass Herr Schmidt an-
Zeitvergeudung. gesichts der Ölkrise eigentlich 50 Atomkraftwerke bauen
wollte.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) (Ulrich Kelber [SPD]: Es geht um Ihre Be-
hauptung, er hätte Gorleben festgelegt! Das ist
Damit muss jetzt Schluss sein. Deswegen sehen wir die- falsch! – Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/
sem Untersuchungsausschuss durchaus erwartungsvoll DIE GRÜNEN]: Richtig! Manche lernen aber
entgegen. dazu!)
Vielen Dank. – Nein, ich habe von einer vorläufigen Entscheidung ge-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) sprochen.
(Ulrich Kelber [SPD]: Nein, die hat es nach
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: 1976 eben nicht gegeben!)
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege
Kelber. – Nein, es war 1977.
(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU], an den
Ulrich Kelber (SPD): Abg. Ulrich Kelber [SPD] gewandt: Seien Sie
Frau Kollegin Brunkhorst, Sie haben die Aussage ge- einmal einen Moment ruhig, damit sie antwor-
macht, dass 1973 die Regierung unter dem Sozialdemo- ten kann! – Gegenruf des Abg. Ulrich Kelber
kraten Helmut Schmidt eine Festlegung auf Gorleben [SPD]: Ich habe nicht zu Ihnen eine Kurzinter-
getroffen habe. Mir ist übrigens bekannt, dass Helmut vention gemacht! Das mache ich gleich! – Ute
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2435
Angelika Brunkhorst
(A) Kumpf [SPD]: Sie hat eine falsche Behaup- Atomrecht sollten Sie anwenden und nicht seit (C)
tung aufgestellt!) 20 Jahren außer Kraft gesetztes Bergrecht. Frau
Flachsbarth sagt, Sie rechnen bereits mit einer Klage.
– Es ist so, dass die damalige Regierung die Vorauswahl
Warum handeln Sie dann so? Warum wenden Sie ein
für den Standort Gorleben akzeptiert hat, und zwar am
Verfahren an, bei dem Sie selbst schon jetzt damit rech-
5. Juli 1977. Darüber gibt es auch einen Vermerk. Den
nen, dass dagegen geklagt werden wird?
kann ich Ihnen auch gerne zur Verfügung stellen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Herr Kelber, bleiben Sie ganz ruhig, bleiben Sie ganz
bei der SPD und der LINKEN – Zurufe von
sinnig! Wir werden ja noch viel Freude miteinander ha-
der CDU/CSU)
ben. Dann werden wir das alles detailgenau aufarbeiten.
Wählen Sie doch ein Verfahren, bei dem die Öffentlich-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: keit eingebunden wird.
Wir fahren in der Debatte nun fort. Das Wort hat die Ich habe übrigens aufgrund meiner Erfahrung des
Kollegin Sylvia Kotting-Uhl für die Fraktion Vorgehens bei der Asse durchaus noch eine Frage in die-
Bündnis 90/Die Grünen. sem Zusammenhang zu stellen. Wenn die Öffentlich-
keitsbeteiligung tatsächlich in Form einer Begleitgruppe
Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): stattfinden soll, wird dann Herr Hennenhöfer wieder die
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verehrte Empfehlungen aussprechen, welche Informationen diese
Frau Brunkhorst, manche lernen Gott sei Dank im Laufe Begleitgruppe bekommt und welche nicht? Warum im-
der Jahrzehnte dazu. Kompliment! Andere tun das nicht. mer wieder diese Intransparenz? Warum immer wieder
Der von uns beantragte Untersuchungsauftrag geht vom diese Angst vor der Öffentlichkeit, wenn es um die Ge-
Jahr 1983 aus, als in der Tat eine fatale Lenkungsent- fahren der Atomkraft geht?
scheidung getroffen wurde. Das heißt aber nicht, dass (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
wir uns nur diese Entscheidung vom Juli 1983 an- bei der SPD und der LINKEN)
schauen. Wir schauen sehr wohl in die Zeit davor und
auch in die Zeit danach. Mit Fehlentscheidungen, liebe Kolleginnen und Kol-
legen, ist es so eine Sache. Manchmal kann man sie revi-
(Angelika Brunkhorst [FDP]: Das beruhigt dieren. Bei der Asse geht es nicht mehr. Da kann man in
mich ja wirklich! Das ist ein Wort!) einer katastrophalen Situation nur noch die beste unter
– Lesen Sie sich die im heute vorgelegten Antrag enthal- schlechten Möglichkeiten wählen und mit immensem
tenen Fragen einfach einmal durch! Dann werden Sie Aufwand und viel Steuergeld versuchen, so viel Sicher-
(B) feststellen, dass sie auch die Jahre 1997/1998 mit einbe- heit wie möglich für die Bevölkerung zu generieren. (D)
ziehen und durchaus auch die Zeit danach.
Wir wissen nicht, ob uns Gorleben in Jahrzehnten
Meine Damen und Herren, Gorleben ist nicht der Ort oder Jahrhunderten ein ähnliches Desaster bescheren
für gute Nachrichten. Ich will noch einmal auf die neueste könnte wie die Asse. Aber der Verdacht liegt nahe,
Nachricht eingehen – sie hat hier ja schon eine Rolle ge-
(Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Warum?)
spielt –: Gorleben braucht einen neuen Rahmenbetriebs-
plan, denn der alte von 1983 läuft im September aus. Es dass der Standort Gorleben ähnlich leichtfertig ausge-
gibt drei Möglichkeiten, wie man nun verfahren kann: wählt wurde wie das Endlager Asse.
Erstens. Man kann nach Atomrecht weiterverfahren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
Zweitens. Man kann einen Rahmenbetriebsplan nach
der SPD – Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]:
dem novellierten Bergrecht aufstellen. Seit 20 Jahren ist
Ist noch gar nicht ausgesucht!)
dabei nämlich eine Öffentlichkeitsbeteiligung möglich
bzw. bei einer UVP auch vorgesehen. Der Verdacht liegt nahe, dass Gorleben mehr aufgrund
politischer Eignung denn geologischer Eignung als ein-
Oder man kann drittens, wenn man es so möchte, die
ziger Standort den Sprung in das Erkundungsverfahren
Geltungsdauer des alten Rahmenbetriebsplans verlän-
schaffte. Die vielen geologischen Defizite, angefangen
gern. Genau das ist die Idee, die der neuen Bundesregie-
von der Gorlebener Rinne bis zum Kalisalz, lassen nun
rung eingefallen ist: Wir verlängern die Geltungsdauer
wirklich nicht plausibel erscheinen, dass ausgerechnet
des alten Rahmenbetriebsplans, und statt der eigentlich
dieser Standort der bestgeeignete für die Endlagerung
vorgesehenen Öffentlichkeitsbeteiligung wird eine Be-
hochradioaktiven Mülls in ganz Deutschland sein soll.
gleitgruppe eingesetzt – wie bei der Asse.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Was hat das
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
mit dem Untersuchungsausschuss zu tun?)
KEN)
– Was das mit dem Untersuchungsausschuss zu tun hat,
Der Verdacht der politischen Einflussnahme wiegt
kann ich Ihnen sagen: Das würde der schlechten Historie
schwer. Deshalb, verehrte Kolleginnen und Kollegen
von Gorleben noch eins obendrauf setzen.
von den Regierungsfraktionen, erwarte ich, dass Sie die-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, sen Untersuchungsausschuss begrüßen. Sie müssen doch
bei der SPD und der LINKEN) ein Interesse daran haben, die ungeheuerlichen Vorwürfe
2436 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Sylvia Kotting-Uhl
(A) der politischen Manipulation entscheidender Gutachten (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C)
aus der Welt zu räumen, wenn Sie Gorleben in Betrieb NEN]: Fragen Sie doch mal Ihre Freunde, Herr
nehmen wollen. Wenn sich der Verdacht erhärtet, dass Grindel!)
die Vorwürfe nicht aus der Welt zu räumen sind, und sie
in diesem Untersuchungsausschuss tatsächlich bestätigt Das zeigt doch Ihr mangelndes Zutrauen zu dem Erfolg
werden, dann können Sie doch nicht wirklich ernsthaft dieses Untersuchungsausschusses in der Sache selber.
erwägen, der Bevölkerung Gorleben als Endlager zuzu- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
muten. neten der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Das ist
Ihr einziges Problem bei dem Thema?)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Herr Kelber, ich frage mich natürlich: Wo ist eigent-
LINKEN) lich Herr Gabriel?
Ich muss Sie nicht daran erinnern, dass wir bei hoch- (Beifall der Abg. Angelika Brunkhorst [FDP] –
radioaktivem Müll von einer Langzeitsicherheit von Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Genau!
1 Million Jahre reden. Im Vergleich dazu ist ein Morato- Wo ist er überhaupt? Darf man den herbeizitie-
rium von zehn Jahren übrigens relativ klein. Wir leben ren?)
heute, im Jahr 2010, in einer Kultur, die wenig bis nichts Der hat uns das doch alles eingebrockt. Herr Gabriel hat
mit der Kultur des Jahres null unserer Zeitrechnung in wenige Tage vor der Bundestagswahl ein Gutachten der
unseren Breiten zu tun hat. Von damals bis heute sind Physikalisch-Technischen Bundesanstalt aufgefunden
gerade einmal 0,2 Prozent des Zeitraums vergangen, für und hat daraufhin eine Wahlkampfattacke geritten. Tat-
den wir den Atommüll sicher vor der Biosphäre ab- sächlich hatte die taz schon am 18. April 2009 über den
schließen müssen. Angesichts solcher Zahlen sollten wir gesamten Sachverhalt berichtet. Die Bundestagsfraktion
uns bei der Frage eines geeigneten Endlagerstandortes der Grünen hatte eine Kleine Anfrage zu diesem Sach-
keine Fehler und keine Leichtfertigkeit erlauben. verhalt eingebracht. Diese ist am 14. Juni 2009 vom
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bundesumweltministerium beantwortet worden. Spätes-
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der tens seit dem 14. Juni hatte Herr Gabriel volle Kenntnis.
LINKEN – Angelika Brunkhorst [FDP]: Dann (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Hört!
hätten wir mal eher weitermachen müssen!) Hört!)
Ich fordere Sie auf, mit uns gemeinsam Ja zur Aufklä- Er hat diese Angelegenheit mal eben für die heiße Wahl-
rung dubioser Vorgänge um die Auswahl des Endlager- kampfphase zurückgelegt. Nur um diese Blamage nicht
(B) standortes Gorleben zu sagen. Die Aufklärung bestätigt offenzulegen, fordern Sie diesen Untersuchungsaus- (D)
entweder Ihre Sicht der Dinge oder unsere. Aber die schuss.
Menschen müssen wissen, woran sie sind.
(Ute Kumpf [SPD]: Das ist billig! – Ulrich
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kelber [SPD]: Kleine Anfragen sind öffent-
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der lich, Herr Kollege!)
LINKEN) In Wahrheit ist hier nichts anderes passiert, als dass Sie
im Wahlkampf mit den Ängsten der Menschen gespielt
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: haben. Das versuchen Sie mit der Einsetzung dieses Un-
Nächster Redner ist der Kollege Reinhard Grindel für tersuchungsausschusses fortzusetzen.
die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Reinhard Grindel (CDU/CSU):
Kollegin Haßelmann?
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Manchmal sagt ein Bild mehr als tausend Worte. Wenn
Reinhard Grindel (CDU/CSU):
Sie wirklich an das glauben würden, was Sie als skanda-
löse Vorgänge gegeißelt haben, wenn Sie wirklich glau- Herzlich gerne.
ben würden, dass Sie das, was Sigmar Gabriel als einen
genauso großen Skandal wie die Parteispendenaffäre be- Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
zeichnet hat, im Untersuchungsausschuss beweisen Vielen Dank, Herr Kollege Grindel. – Sie haben ge-
könnten, dann würden Sie die Einsetzung des Untersu- rade als Argument angeführt, dass die späte Uhrzeit der
chungsausschusses doch ganz anders aufziehen. Dann Befassung mit diesem Thema hier im Plenum deutlich
würde ich das morgens um 9 Uhr machen, nach dem macht, dass die Grünen und auch die anderen Antrag-
Motto: „Kernkraft zur Kernzeit“, dann, wenn die Kame- steller kein Interesse daran haben, dieses Thema wirk-
ras an sind und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit lich zu verfolgen. Dem Kürschner – das ist das Parla-
da ist. Stattdessen reden wir jetzt in der Abendsonne da- mentshandbuch – habe ich entnommen, dass dies Ihre
rüber, dann, wenn schon alle Redaktionsstuben ge- dritte Legislaturperiode im Deutschen Bundestag ist.
schlossen sind. Deshalb frage ich mich, ob Sie immer noch nicht wissen,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2437
Britta Haßelmann
(A) wie eine Tagesordnung zustande kommt. Ich kann Ihnen Es geht nicht um die Aufarbeitung der jahrzehnte- (C)
sagen, dass wir versucht haben, diesen Tagesordnungs- langen Gorleben-Geschichte, sondern um einen
punkt auf einen früheren Zeitpunkt zu setzen. Wir hätten präzisen Vorgang aus dem Jahr 1983.
ihn gerne heute Morgen um neun diskutiert.
Ich frage mich: Warum machen Sie es mit Ihrem Einset-
Ich würde Sie gerne fragen, ob Ihnen nicht klar ist zungsantrag genau anders herum? Warum untersuchen
bzw. ob Sie in der Fraktion nicht darüber informiert wor- wir nicht frei nach Gabriel einen präzisen Vorgang aus
den sind, dass CDU/CSU und FDP darauf bestanden ha- dem Jahr 1983? Warum sollen wir die jahrzehntelange
ben, dass dieser so wichtige Tagesordnungspunkt zu Gorleben-Geschichte untersuchen? Ich sage es Ihnen:
Gorleben heute Abend diskutiert wird. Ihnen geht es nicht um Aufklärung. Ihnen geht es um die
Diskreditierung des Endlagers in Gorleben und damit
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN um die Delegitimierung der Kernkraft insgesamt. Das
und bei der SPD – Ulrich Kelber [SPD]: Da ist wollen Sie mit diesem Untersuchungsausschuss errei-
eine dicke Entschuldigung fällig! Oder sind chen. Damit werden Sie keinen Erfolg haben.
Sie dazu zu arrogant?)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Reinhard Grindel (CDU/CSU): Ulrich Kelber [SPD]: Ihre Kollegin hat eben
gesagt, wir fragen zu wenig! Für Sie ist es zu
Frau Kollegin Haßelmann, soweit ich weiß, wird in viel! Unterhalten Sie sich doch mal mit Ihren
den Geschäftsführerrunden festgelegt, ob und wann die Kollegen!)
Debatten stattfinden. Natürlich legt nicht nur eine Frak-
tion oder die Mehrheit fest, wann welcher Tagesord- – Herr Kelber, in Wahrheit ergibt sich aus den Quellen,
nungspunkt stattfindet; vielmehr hat jeder einen Zugriff. die uns schon jetzt zugänglich sind,
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Ulrich Kelber [SPD]: Ja?)
NEN]: Fragen Sie mal Ihre Freunde!)
dass es mit dem vermeintlichen Skandal nicht so weit
Wenn Ihnen das so wichtig ist, Frau Haßelmann, dann her sein kann; denn die frühere rot-grüne Bundesregie-
frage ich mich angesichts der Forderung nach einem rung hat in der Anlage 4 zum sogenannten Ausstiegsver-
Untersuchungsausschuss, die es unmittelbar nach der trag mit den Energieversorgungsunternehmen selbst er-
Attacke von Gabriel im Bundestagswahlkampf gegeben klärt – ich zitiere –:
hat – wo Vertreter Ihrer Fraktion, insbesondere Frau
Künast, feststellten: Das sind ungeheuerliche Vorgänge, Die bisherigen Erkenntnisse über ein dichtes Ge-
wir müssen sofort oder aber spätestens unmittelbar nach birge und damit die Barrierefunktion des Salzes …
(B) der Wahl mit einem Untersuchungsausschuss beginnen –: wurden positiv bestätigt. Somit stehen die bisher (D)
Warum kommen Sie nach sechs Monaten mit diesem gewonnenen geologischen Befunde einer Eig-
Untersuchungsausschuss? Wenn Ihnen das so wichtig ist nungshöffigkeit des Salzstockes Gorleben nicht
und wenn Sie tatsächlich daran glauben würden, dass entgegen.
wir es mit einem ernsthaften Skandal zu tun haben, dann Das war der Originalton Rot-Grün im Jahre 2000.
hätten Sie es doch viel schneller umgesetzt.
(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Hört!
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hört! – Ulrich Kelber [SPD]: Ja! Und was soll
Dorothea Steiner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- das heißen?)
NEN]: Kommen Sie doch mal zu Gorleben!)
Wie kann man da behaupten, die Kohl-Regierung
– Herzlich gerne. Den Zwischenruf hätten Sie besser habe 1983 Gutachter zu falschen Aussagen über die Ge-
nicht gemacht; denn das ist genau das, was Herr Gabriel eignetheit des Salzstockes Gorleben bewogen? Sie ha-
angesprochen hat. Herr Gabriel hat einen konkreten Vor- ben aus rein wahlkampftaktischen Gründen versucht,
gang, ein Gutachten der Physikalisch-Technischen Bun- das Thema Gorleben zu skandalisieren. Das soll nun mit
desanstalt, skandalisiert. anderen Mitteln im Untersuchungsausschuss fortgesetzt
werden.
(Ulrich Kelber [SPD]: Nicht das Gutachten! – Frank
Schäffler [FDP]: Er will keine Lösung!) (Ulrich Kelber [SPD]: Das war eine wissen-
schaftliche Aussage! Das verstehen Sie über-
Darauf hat die Kanzlerin im Wahlkampf angekündigt:
haupt nicht!)
Wir gründen unmittelbar eine Arbeitsgruppe, analysie-
ren die Aktenlage und versuchen herauszufinden, ob die Herr Kelber, das ist kein guter politischer Stil.
Vorwürfe berechtigt sind. – Das dauerte Herrn Gabriel
zu lange, weil er seinen Punkt noch vor der Wahl ma- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
chen wollte. Daraufhin hat er selber einen Bericht vorge- Ulrich Kelber [SPD]: Wir können das endgül-
legt und am 24. September 2009 eine schöne Pressemit- tig widerlegen!)
teilung herausgegeben. Sie verschweigen auch, dass die eigentlichen Zeugen
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der Anklage sich gerade nicht von Rot-Grün vereinnah-
NEN]: Sind das alle Argumente?) men lassen wollen. Der Abteilungsleiter der Physika-
lisch-Technischen Bundesanstalt, Helmut Röthemeyer,
In der hat er darauf hingewiesen – ich zitiere –: der für das angeblich verfälschte Gutachten verantwort-
2438 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Reinhard Grindel
(A) lich war, hat bereits am 17. September 2009 im Stern Es gibt keine einzige Quelle, mit der Sie nachweisen (C)
klipp und klar erklärt – Zitat –: können, dass irgendein Politiker der neuen Regierung
Kohl mit diesem Sachverhalt überhaupt befasst war, um
Wir hatten dem Endlager Gorleben grundsätzlich das einmal ganz klar festzuhalten.
Eignungshöffigkeit zugeschrieben, was bedeutet,
dass wir Gorleben als Endlager grundsätzlich für (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
geeignet hielten. Insofern kann ich überhaupt nicht Ulrich Kelber [SPD]: Die Briefe von Herrn
nachvollziehen, wieso ich heute als Gorleben-Geg- Riesenhuber sind keine Quelle? – Dorothea
ner gelten soll. Steiner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie
wissen ja auch schon vorher, was bei den Un-
(Ulrich Kelber [SPD]: Noch mehr Zitate aus tersuchungen herauskommt!)
dem Artikel! Er hat noch etwas anderes im Ar-
tikel gesagt! Selektive Zitate!) Die Frage, ob man Gorleben zuerst einmal zu Ende
erkundet, bevor man einen weiteren Standort untersucht,
Der Spiegel zitierte Herrn Röthemeyer schon am ist auch in den Reihen der Sozialdemokraten ja nicht un-
14. September mit den Worten: umstritten. Peter Struck hat im April 2001 den Vorschlag
Wenn Gorleben nicht Endlager wird, wäre das für gemacht, Standorte in Bayern und Baden-Württemberg
mich eine große Enttäuschung. zu erkunden.
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
Das sind die Worte des Mannes, dem Beamte der Kohl-
GRÜNEN]: Sehr gut!)
Regierung laut Gabriel angeblich ins Handwerk ge-
pfuscht haben. Ich kann Ihnen dazu vortragen, was Herr Hoderlein, der
damalige Vorsitzende der SPD in Bayern, dazu gesagt
(Ulrich Kelber [SPD]: Das ist unter Niveau, hat:
was Sie gerade machen!)
Zuerst muss festgestellt werden, ob Gorleben ge-
Der ehemalige Chef der Physikalisch-Technischen eignet ist oder nicht.
Bundesanstalt, Herr Kind, hat vor dem Asse-Untersu-
chungsausschuss des niedersächsischen Landtages in- Wesentlich schärfer reagierte Strucks Kollege Franz
zwischen ausgesagt, das 1983 erstellte Gutachten sei in Maget in der Welt am Sonntag:
seiner wissenschaftlichen Aussage nicht verändert und Das ist leichtfertiges, einfältiges Gerede, das man
keineswegs in Richtung Gorleben umgeschrieben wor- besser unterlassen sollte, sonst braucht Struck noch
den. Klar ist: Herr Gabriel hat seine Autorität als Um- selbst ein Endlager.
(B) weltminister missbraucht, um seine Autorität als SPD- (D)
Wahlkämpfer ein bisschen aufzupolieren. Das ist der (Heiterkeit des Abg. Ingbert Liebing
Sachverhalt, und das werden wir Ihnen im Untersu- [CDU/CSU])
chungsausschuss nachweisen. Weiter sagte Franz Maget:
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Noch sei nicht geklärt, ob der Salzstock in Gorle-
Dorothea Steiner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ben für ein Endlager überhaupt geeignet sei.
NEN]: Nur zu!)
Dann sagte er:
Herr Kelber, es ist auch so, dass Vertreter der Physi-
kalisch-Technischen Bundesanstalt am 20. Juni 1984 im Solange man das nicht weiß, sollte man auch keine
Innenausschuss des Bundestages erklärt haben, dass sie anderen Bundesländer ins Spiel bringen. Wenn
überhaupt nicht aufgefordert waren, bezüglich der Frage Struck Baden-Württemberg und Bayern nennt, hat
eines zweiten Standortes eine Stellungnahme abzugeben, das gleich einen parteipolitischen Touch.
weil dies eine Frage der Politik und der Finanzen sei, Wo Herr Maget recht hat, hat er recht.
dass es vielmehr ausschließlich um die Eignungshöffig-
keit des Standortes Gorleben und um die Frage ging, ob (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
man dort in die untertägige Erkundung einsteigen solle. Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Dazu hat man sich klar geäußert. Es ist mehrfach zu- NEN]: Das hat sehr wohl einen parteipoliti-
rückgewiesen worden, dass hier eine Beeinflussung schen Touch!)
stattgefunden hat. Sie wissen ganz genau, dass die politische Entschei-
Sie können zwar zu Recht – das nur am Rande – über dung, die untertägige Erkundung in Gorleben fortzuset-
die Regierung Kohl reden, aber ich will darauf hinwei- zen und nicht eine weitere an einem zweiten Standort zu
sen: Die Vorgänge ereigneten sich im Mai 1983. Wir hat- beginnen, politisch motiviert war, Frau Kotting-Uhl.
ten einen Regierungswechsel im Oktober 1982 und eine Man wollte in der Bevölkerung nicht den Eindruck er-
Bundestagswahl im März 1983. Die Beamten, die bei wecken, dass man als Bundesregierung davon ausgeht,
der Besprechung in Hannover, um die es ging, dabei wa- dass Gorleben nicht geeignet ist, und man hat vor dem
ren, waren alle schon unter der Regierung Schmidt be- Hintergrund der vielen Auseinandersetzungen im Wend-
schäftigt. land auch keinen Sinn darin gesehen, bevor die Erkun-
dung in Gorleben abgeschlossen ist, an einem zweiten
(Dr. Matthias Miersch [SPD]: Was wollen Sie Standort ähnliche Auseinandersetzungen heraufzube-
damit sagen?) schwören. Ich habe dafür volles Verständnis.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2439
Reinhard Grindel
(A) Ich freue mich auf die Arbeit im Untersuchungsaus- Wir werden die Akten studieren und die Sachverhalte (C)
schuss. Ich sage noch einmal: Aus den bisher öffentlich aufklären. Dann haben die Bürgerinnen und Bürger die
zugänglichen Quellen – einige von Ihnen wissen, dass Möglichkeit, im Detail zu erfahren, wie die damalige
ich mich im Visa-Untersuchungsausschuss mit der Quel- Lenkungsentscheidung zustande gekommen ist.
lenlage und der Recherche von Quellen sehr intensiv be-
schäftigt habe – (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Wohlan!)

(Ute Vogt [SPD]: Ja!) Ich möchte eines aufgreifen, das ich bemerkenswert
fand. Sie beginnen schon jetzt, uns mitzuteilen, dass Sie
geht ein irgendwie geartetes Fehlverhalten nicht hervor. damals offenbar selbst gar nicht richtig regiert haben,
Ich weiß, dass dieser Untersuchungsausschuss auch in obwohl Sie gewählt waren. Sie sagen, die Beamten und
den Reihen der SPD sehr umstritten ist. Es gab viele, die die Beamtinnen seien es gewesen, die damals die Ent-
abgeraten haben, das zu machen. scheidungen getroffen haben.
(Ulrich Kelber [SPD]: So ein Schmarren! Da (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Nein! Nein!)
wird sich keiner finden!)
Das würde ich als erstes Rückzugsgefecht werten. Es ist
Am Ende hat Herr Gabriel sich durchgesetzt, weil er vor in diesem Zusammenhang beschämend, wenn man die
der Wahl diesen Untersuchungsausschuss gefordert hat. Beamten vorschickt, statt selbst politische Verantwor-
Er wurde nicht hängen gelassen. Es wäre ja eine ziemli- tung zu übernehmen.
che Blamage, wenn es ihn nach der Wahl nicht geben
würde. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Reinhard
(Ulrich Kelber [SPD]: Sie sollten sich schämen für Grindel [CDU/CSU]: Es geht um die Beein-
das, was Sie an Unwahrheit sagen!) flussung des Gutachtens!)
Ich sage Ihnen: Ich habe große Zweifel, dass wir, Schauen wir einmal einige Jahrzehnte zurück. Im Jahr
wenn wir spätabends im Untersuchungsausschuss sitzen, 1969
die Besuchertribüne schon lange leer sein wird und die
Pförtner und vielleicht auch wir gegen die Müdigkeit an- (Zuruf von der CDU/CSU: Oha! – Ingbert
kämpfen, Neues oder gar Skandalöses über Gorleben he- Liebing [CDU/CSU]: Da waren Sie fünf Jahre
rausfinden werden. Aber dass Herr Gabriel im Wahl- alt!)
kampf ein unglaublicher Dampfplauderer war, werden hieß es zum Thema Atommüll – ich darf mit Erlaubnis
wir dann in den Akten haben. Insofern ist die Sache et- der Präsidentin zitieren –:
(B) was wert. (D)
Wenn man das gut versiegelt und verschließt und in
Herzlichen Dank. ein Bergwerk steckt, dann wird man hoffen können,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dass man damit dieses Problem gelöst hat.
So dachte damals Carl Friedrich von Weizsäcker, und
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: mit ihm – das muss man zugeben – dachten 1969 durch-
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ute Vogt für die aus viele so. Aber wir haben heute das Jahr 2010. Im
SPD-Fraktion. Jahr 1983 waren wir hinsichtlich der wissenschaftlichen
Erkenntnisse auch schon wesentlich weiter. Ich wundere
(Beifall bei der SPD) mich, dass diese Koalition offenbar immer noch genauso
blauäugig wie 1969 mit dem Thema Atommüll und sei-
Ute Vogt (SPD): ner sicheren Endlagerung umgeht.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
und Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Kollege DIE GRÜNEN)
Grindel, es ist ja bekannt, dass Sie einen Hang zur Pole-
mik haben. Wir kennen auch Ihre Neigung, Sachverhalte Anders kann man nicht erklären, dass Sie nach wie
zu vereinfachen. Nicht anders ist es zu erklären, dass Sie vor keine neue atomrechtliche Genehmigung anstreben,
hier Zitate aus Zusammenhängen reißen. sondern auch in Gorleben die Rahmenbetriebsplanung
einfach wie bisher fortführen wollen, ungeachtet der
(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Fakten und auch, Frau Kollegin Flachsbarth, ungeachtet
Welche denn?) der ethischen Verpflichtung, von der Sie gesprochen ha-
Darin – das muss ich sagen – liegt der Vorteil dieses Un- ben. Es wundert mich, dass Sie selbst sich bei dem
tersuchungsausschusses. Sie werden in einem Untersu- Thema der genaueren Untersuchungen und der Frage,
chungsausschuss nicht damit durchkommen, polemische wie Entscheidungen für ein Endlager zustande kommen,
Plattheiten von sich zu geben, sondern Sie werden die so zurückhalten wollen. Denn einerseits betonen Sie, die
Akten studieren müssen. ethische Verpflichtung für die sichere Endlagerung hät-
ten Sie sich vorgenommen und sogar in Ihrem Koali-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tionsvertrag werde das festgehalten. Andererseits sorgen
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Sie dafür, dass jedes Jahr, mit jeder Laufzeitverlänge-
LINKEN) rung, die Sie beschließen, 450 Tonnen mehr an strahlen-
2440 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Ute Vogt
(A) dem Atommüll in eine Endlagerung kommen, die wir bis Ute Vogt (SPD): (C)
heute nicht gelöst haben. Ich würde mich freuen, Herr Kollege Grindel, wenn
Sie den Untersuchungsauftrag ernst nähmen, wenn wir
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten in einer sachlichen Atmosphäre diskutierten und wenn
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Sie aufhörten, polemisch zu denunzieren.
GRÜNEN – Dr. Maria Flachsbarth [CDU/
CSU]: Noch haben wir gar nichts beschlos- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
sen!) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
LINKEN)
Bei diesen Punkten muss ich sagen, dass ich nicht
verstehe, dass Sie selbst kein Interesse daran haben, dass
das Thema Endlager Gorleben so untersucht wird, dass Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
nicht einmal ein Hauch eines Verdachts hängen bleibt, Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
dass diese Entscheidung nicht sachgerecht und wissen- Michael Kauch für die FDP-Fraktion.
schaftlich fundiert, sondern möglicherweise politisch er-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
folgt ist. der CDU/CSU)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Michael Kauch (FDP):
Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Was hat Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich war
das eine mit dem anderen zu tun?) damals zwar erst in der zehnten Klasse, aber ich erinnere
mich noch sehr gut, wie zwischen dem Jahr 1977, als
Herr Kollege Grindel, wir können gerne tagsüber ta-
von der damaligen Bundesregierung die Vorauswahl be-
gen; wenn es lange dauert, auch gerne noch abends. Ich
stätigt wurde,
wünsche mir aber, dass wir uns diesem Thema mit der
notwendigen Ernsthaftigkeit zuwenden (Ulrich Kelber [SPD]: Welche Vorauswahl
denn?)
(Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Das ma-
chen wir! Ganz sicher! – Weiterer Zuruf von und dem Jahr 1982 der deutsche Bundeskanzler hieß. Er
der CDU/CSU: Sagen Sie das Ihrem Vorsit- hieß Helmut Schmidt und war von der SPD. Auch der
zenden!) Forschungsminister, der in diesen fünf Jahren im Amt
war, gehörte der SPD an.
und uns die Sachverhalte anschauen. Schon heute ist im
Internet einiges zu diesem Thema zu finden, auch von- (Dorothée Menzner [DIE LINKE]: Und wer
(B) war der Koalitionspartner?) (D)
seiten der Regierung. Es gibt einen Bericht, in dem man
Erstaunliches nachlesen kann. Offenbar bestand im Mai Die SPD sollte sich fragen, ob sie sich durch die Art und
1983 Konsens darüber, einen Zwischenbericht zu Gorle- Weise, wie sie hier argumentiert, nicht von ihrer histori-
ben vorzulegen. Außerdem bestand Konsens darüber, schen Verantwortung verabschiedet. Wir stehen zu unse-
dass es notwendig und sinnvoll ist, zusätzliche Lager- rer historischen Verantwortung, die aus der Beteiligung
standorte zu suchen und zu erkunden. Interessanterweise an der sozialliberalen Koalition resultiert. Die SPD tut es
befasste sich das Bundeskabinett schon einen Monat leider nicht.
später mit einer Vorlage, in der darauf hingewiesen
wurde, dass es im Hinblick auf die Außenwirkung pro- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
blematisch sei und Zweifel am Standort Gorleben schü- der CDU/CSU – Marco Bülow [SPD]: Sie wa-
ren könnte, wenn man zusätzliche Standorte untersucht. ren ja immer an der Regierung! Wir nicht!)
(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das habe ich Verantwortung war für SPD und Grüne auch in den
doch gesagt!) letzten zehn Jahren ein Fremdwort. Ihre Umweltpolitik
war, was die Endlagerfrage betrifft, organisierte Verant-
Welche Anhaltspunkte braucht man noch, wenn schon wortungslosigkeit. Das muss man deutlich aussprechen.
das Kabinett sagt: „Wir interessieren uns gar nicht dafür,
wie die Fakten sind, und untersuchen erst gar keine an- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
deren Standorte, weil wir Angst haben, dass die intern Sie haben zehn Jahre lang die Hände in den Schoß ge-
getroffene Entscheidung angezweifelt werden könnte“? legt. Sie haben zehn Jahre lang nichts getan. Warum? Sie
Das kann nicht Sinn von Regierungspolitik und vernünf- haben nichts getan, weil Sie sich erstens nicht mit Ihrer
tiger Lagerstandortsuche sein, die den ethischen Grund- Klientel anlegen wollten und weil es Ihnen zweitens in
sätzen entspricht, die man bei einem solch gefährlichen den Kram passt, wenn die Endlagerfrage nicht gelöst
Stoff einhalten muss. wird. Dann würde Ihnen nämlich ein Argument gegen
die Kernenergie abhanden kommen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE (Marco Bülow [SPD]: Ach! Wir haben so
GRÜNEN) viele!)
Außerdem würde Ihnen ein Argument abhandenkom-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: men, warum man die Politik denunzieren kann. Es ist Ihr
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss. politisches Interesse, dafür zu sorgen, dass die Endlager-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2441
Michael Kauch
(A) frage nicht gelöst wird. Das werden wir Ihnen allerdings Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (C)
nicht durchgehen lassen. Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Auch damit
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – sind Sie einverstanden, wie ich sehe. Dann können wir
Dorothea Steiner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- so verfahren.
NEN]: Ach was! Das ist üble Legendenbil- Ich eröffne die Aussprache und bitte diejenigen, die
dung!) noch Gespräche führen wollen, dies vor dem Saal zu tun,
Herr Miersch sagte ganz klar, auch wir sollten wäh- damit wir uns voll auf die Rede des Parlamentarischen
rend des Untersuchungsausschusses die Hände in den Staatssekretärs Steffen Kampeter konzentrieren können.
Schoß legen. Das entlarvt Ihre Strategie. Ihnen geht es
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
darum, Sand ins Getriebe zu streuen. Wir werden diesen
Staatssekretär für Haushaltswahrheit!)
Sand aber nicht ins Getriebe kommen lassen, sondern
unsere Verantwortung wahrnehmen. Dazu gehört bei-
spielsweise, mit dem Peer-Review zu beginnen, um Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär beim Bun-
nicht noch mehr Jahre verstreichen zu lassen. Es ist desminister der Finanzen:
keine verantwortungsvolle Politik, den strahlenden Müll Hochgeschätzte Frau Präsidentin! Meine sehr verehr-
über Jahrzehnte in oberirdischen Zwischenlagern an den ten Damen und Herren!
Kernkraftwerken stehen zu lassen, wie Sie es in den letz-
ten zehn Jahren gemacht haben. (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Es ist bitter, wenn man so eine Rede
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) halten muss!)
Man muss sich auch fragen, ob man nicht einmal ei-
nen Untersuchungsgegenstand Gabriel in diesem Haus Anlässlich der Einbringung des Haushaltsplanentwurfes
einführen sollte. 2010 hat der Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble
hier im Deutschen Bundestag von diesem Pult aus darge-
(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sehr legt,
gute Idee!)
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Was hat eigentlich Herr Gabriel gewusst? Er war vier Wo ist er eigentlich?)
Jahre lang im Amt und hat drei Jahre lang gesagt, wir
müssten mit einer alternativen Standortsuche beginnen. dass die Konjunkturlage noch unübersichtlich sei, dass
Im Hinblick auf diese Standortsuche glaube ich Herrn der wirtschaftliche Erholungsprozess anfällig für Rück-
Gabriel nicht, dass er drei Jahre lang nicht in die Akten schläge sei, dass uns deswegen gar nichts anderes übrig
(B) geschaut hat, aber drei Wochen vor der Bundestagswahl bleibe, als bis auf Weiteres auf Sicht zu fahren, und dass (D)
plötzlich interessante Dinge hervorkommen. wir diesen Haushalt brauchen und diese hohe Neuver-
(Ulrich Kelber [SPD]: Also ist es interessant!) schuldung in Kauf nehmen müssen, um die konjunktu-
relle Erholung abzusichern.
Entweder hat Herr Gabriel drei Jahre lang geschlafen,
oder Herr Gabriel hat das Wissen, das er hatte, unter- (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
drückt und so seine Amtspflichten verletzt. Auch dies NEN]: „Auf Sicht fahren“ heißt, Augen auf!)
sollte der Deutsche Bundestag einmal diskutieren und
Heute, zwei Monate später, erweist sich die damalige
untersuchen.
Einschätzung aus dem Bundesfinanzministerium weiter-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – hin als richtig; denn die deutsche Wirtschaft hat im vier-
Ulrich Kelber [SPD]: Ich dachte, es ist gar ten Quartal 2009 im Vergleich zum Vorquartal eine
nicht interessant, was er gefunden hat! Was Wachstumspause eingelegt. Die Deutsche Bundesbank
denn jetzt? Ist es interessant oder nicht, Herr sieht – dies ist bei aller Vorsicht eine gute Nachricht –
Kauch, was er gefunden hat?) die Hauptursache für das Stocken der konjunkturellen
Erholung vor allem in temporären, also vorübergehen-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: den Faktoren begründet. Dazu zählen in erster Linie das
Ich schließe die Aussprache. Auslaufen steuerlicher Fördermaßnahmen, aber auch die
gegen Ende vergangenen Jahres einsetzenden ungünsti-
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
gen Witterungsbedingungen,
Drucksache 17/888 (neu) an den Ausschuss für Wahl-
prüfung, Immunität und Geschäftsordnung vorgeschla- (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
gen. – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann ist NEN]: Beim Fußball heißt so etwas „auf Zeit
die Überweisung so beschlossen. spielen“, Herr Staatssekretär!)
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 3 auf: die sich negativ auf die gesamtwirtschaftliche Entwick-
Unterrichtung durch die Bundesregierung lung auswirken. Während der private Konsum im
Schlussquartal des vergangenen Jahres einen deutlichen
Finanzplan des Bundes 2009 bis 2013 Dämpfer erhalten hat, konnten die deutschen Unterneh-
– Drucksache 16/13601 – men ihr Auslandsgeschäft gerade mit den südostasiati-
Überweisungsvorschlag: schen Schwellenländern, aber auch mit den OPEC-Län-
Haushaltsausschuss dern deutlich ausbauen. Der deutsche Außenhandel hat
2442 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Parl. Staatssekretär Steffen Kampeter


(A) im vierten Quartal um rund 3 Prozent zugelegt. Das ist als auch im Bereich der sozialen Sicherungssysteme en- (C)
eine gute Nachricht. gagiert, sachlich und vernünftig fortzuführen. Das ist
eine enorme Gestaltungsaufgabe. Wir werden uns dabei
(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- an die goldenen Regeln unseres Koalitionsvertrages hal-
NEN]: Was hat das nun mit dem Finanzplan ten,
aus dem letzten Jahr zu tun, den Sie vergessen
haben einzubringen?) (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
Diese Beschreibung der Konjunktur belegt im Übrigen, in dem eine Staatsreform mit strikter Ausgabendisziplin
warum das, was die Vertreter der Opposition gleich for- und einer Überprüfung aller staatlichen Leistungen bei
dern werden, nämlich die Vorlage einer aus dem letzten Qualität in der Aufgabenerfüllung vorgesehen ist. – Kol-
Jahr stammenden Finanzplanung, weder rechtlich gebo- lege Solms hat an der Formulierung dieser goldenen Re-
ten noch sachlich richtig ist. geln mitgewirkt.
Wir haben unser deutliches Bekenntnis sowohl zum (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
europäischen Stabilitätspakt als auch zu den Stabilisie- NEN]: Die FDP interessieren eher goldene
rungsmaßnahmen im G-20-Verbund im Januar hier er- Löffel als goldene Regeln!)
läutert. Wir laufen in diesen Stunden in die Zielgerade
Wenn sich, was nationaler wie internationaler An-
der Beratung des Haushaltes 2010 ein. Schon jetzt ist er-
nahme entspricht, die Erholungstendenzen verstärken
kennbar, dass die Nettokreditaufnahme im laufenden
und die Krise in diesem Jahr zu Ende geht, dann werden
Jahr deutlich niedriger sein wird, als im Regierungsent-
wir die Neuverschuldung ab 2011 im Rahmen der Schul-
wurf steht, aber auch deutlich niedriger als im letzten
denbremse des Grundgesetzes ohne Zweifel erfolgreich
Regierungsentwurf der Großen Koalition.
zurückführen können. Das wird ein schwieriger Balan-
(Ulrich Kelber [SPD]: Reine Konjunkturwir- ceakt und eine Bewährungsprobe, nicht nur für die Fi-
kung!) nanzpolitik, sondern für alle Politikbereiche.
Außerdem ist deutlich erkennbar, dass die strukturelle (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Verbesserung bei der Nettokreditaufnahme nicht auf der NEN]: Wo ist jetzt der Finanzplan? – Fritz
Einnahmeseite, sondern durch die Absenkung von Aus- Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist
gaben in allen Einzeletats wird erreicht werden können. der Finanzplan?)
Die Beratungen des Haushaltsplans 2010 machen Konsolidierung lässt sich nämlich nicht auf den Haus-
auch deutlich, dass wir diese staatliche Gestaltungsauf- haltsausschuss beschränken. Konsolidierung fängt beim
(B) gabe mit einem sinkenden Personalbestand bei den Bun- Einzelplan 01 an und hört beim Einzelplan 60 auf und (D)
desministerien erfüllen wollen. betrifft alle Damen und Herren, die Mitglieder dieses
Hohen Hauses sind.
(Ulrich Kelber [SPD]: Mit einem Pförtner oder
Fahrer weniger vielleicht! – Alexander Bonde (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo kommen der FDP)
dann die ganzen B-Stellen her, die ihr nachher
Dieser Konsolidierungsaufgabe stellen wir uns. Mit
beschließen werdet?)
Geschäftsordnungsmätzchen, wie sie Bündnis 90/Die
Wir tragen damit der Notwendigkeit Rechnung, dass, Grünen heute vorgeführt haben, zeigt die Opposition,
wer will, dass gespart wird, zuvörderst bei sich selbst dass sie zu Recht in der Opposition ist, während diejeni-
sparen muss. gen, die bereit sind, Verantwortung zu tragen, nicht ins
Zisterzienserkloster flüchten,
Der Etat 2010 wird ein guter Einstieg in das Regime
der Schuldenbremse, (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)
(Otto Fricke [FDP]: Ein sehr guter!) sondern im Haushaltsausschuss an den notwendigen
Aufgaben arbeiten. Die Bundesregierung wird Sie dabei –
das uns ab dem Jahre 2011 begleiten wird. Eines ist doch
klar: Die Konsolidierungsanstrengungen müssen ab dem
nächsten Etat erheblich gesteigert werden. Die neue Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Schuldenregel verlangt von uns, dass wir das strukturelle Herr Staatssekretär, – –
Defizit im Bundeshaushalt in den nächsten Jahren in
gleichmäßigen Schritten abbauen. Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär beim Bun-
desminister der Finanzen:
(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Ziemlich fies, wenn man nicht zur Sa- – unterstützen.
che reden darf!) Herzlichen Dank.
Das ist eine Konsolidierungsaufgabe, die bedeutet, dass (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
man jedes Jahr gegenüber dem Vorjahr 10 Milliarden
Euro einsparen muss.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Zugleich gilt es, die weiteren politischen Reform- Herr Staatssekretär, der Kollege Kuhn hätte noch eine
pläne sowohl im Bereich der Steuer- und Abgabenpolitik Frage gehabt. Aber Ihre Redezeit ist auch abgelaufen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2443
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
(A) Nächster Redner ist der Kollege Johannes Kahrs für die FDP mit ihrer angekündigten Steuersenkung sozusa- (C)
die SPD-Fraktion. gen durchs Land zu jagen, lächerlich zu machen und
bloßzustellen. Ich muss sagen: Das ist eine Leistung, die
(Beifall bei der SPD) zwar nicht zu einer Koalition gehört, aber überall ange-
kommen ist.
Johannes Kahrs (SPD):
Ich glaube, dass sich die CDU/CSU damit keinen Ge-
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werter Kollege fallen getan hat. Die FDP hat sich zwei Monate lang
Kampeter, Steffen, wenn du in der Opposition gewesen angeschaut, wie sie der Lächerlichkeit preisgegeben
wärst und ein Staatssekretär eine solche Rede gehalten worden ist, und dann hat sie zurückgeschlagen. Der Vi-
hätte, du hättest gebrüllt vor Lachen. zekanzler hat sich wieder in einen Parteivorsitzenden
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ verwandelt und eine sogenannte Sozialstaatsdebatte vom
DIE GRÜNEN) Zaun gebrochen, und zwar nicht, weil ihn der Sozialstaat
ernsthaft interessieren würde.
Immerhin hast du selber leicht geschmunzelt. Du weißt
natürlich, dass das alles nicht ganz so ist, wie du es dar- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Was hat das
gestellt hast. denn mit dem Finanzplan zu tun?)

Was haben wir vorliegen? Uns liegt der Finanzplan – Ganz ruhig bleiben. Nur getroffene Hunde bellen. In
der Großen Koalition vor; also muss das schon einmal der Ruhe liegt die Kraft, Kollegen. Zuhören, lernen und
viel mit Qualität zu tun haben. Allerdings muss man sich verstehen! Danach können Sie antworten. Sie haben
fragen: Warum liegt kein neuer Finanzplan vor? Was ist nämlich noch eigene Redezeit.
ein Finanzplan? Ein Finanzplan ist ein in Zahlen gegos- (Michael Kauch [FDP]: Ich bin total ruhig!)
senes Regierungsprogramm für eine Wahlperiode und
beinhaltet – der Kollege Kampeter hat das eben ange- Die FDP, die sich von ihrem Koalitionspartner CDU/
deutet – all die schönen Dinge, die Sie machen wollen. CSU gebeutelt, geschlagen und getriezt fühlte, hat also
Wenn der Finanzplan ein in Zahlen gegossenes Regie- eine Sozialstaatsdebatte angestoßen. Ich glaube nicht,
dass es Ihnen ernsthaft um die Beantwortung der Fragen
rungsprogramm ist, dann fragt man sich, warum es Ihnen
geht; denn es gibt nur relativ wenige Antworten. Die So-
nicht gelingen will, aus dem eben so gelobten Koali-
zialstaatsdebatte wurde geführt, um die CDU/CSU vor-
tionsvertrag einen Finanzplan zu machen. Die Frage ist
zuführen; denn inhaltlich ist da mit der CDU/CSU nur
ein bisschen theoretisch, weil jeder Bürger in diesem
relativ wenig zu machen.
Land die Antwort kennt.
Welche Möglichkeiten im Rahmen einer Sozialstaats-
(B) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Jetzt sagen debatte gäbe es? Auf der einen Seite könnte man (D)
Sie doch mal was zur Sache und nicht so einen Hartz IV senken. Das macht aber keiner mit. Auf der an-
theoretischen Kram, Herr Kollege!) deren Seite gäbe es Mindestlöhne und höhere Tariflöhne.
– Steffen, willkommen unter den Abgeordneten. – Auch das ist schwierig. Daneben gibt es kaum noch Va-
rianten. Also führt man die Sozialstaatsdebatte weiter.
(Ulrich Kelber [SPD]: Die Regierung flüchtet Man kommt nicht zur Einigung. Die FDP schafft es aber,
aus der Verantwortung! Kein Staatssekretär diese Regierung und diese Kanzlerin vorzuführen und
auf der Regierungsbank!) am Ende dafür zu sorgen, dass sich Frau Merkel distan-
ziert – im Duktus, aber nicht inhaltlich. Wir haben also
Wenn man sich das genau anschaut, dann sieht man:
das Problem, dass wir eine Regierung haben, die eine
Hier liegt kein in Zahlen gegossenes Regierungspro-
Sachstandsbeschreibung, aber keine Lösung abgeliefert
gramm vor, sondern nur ein Koalitionsvertrag.
hat.
Die Frage, die sich uns stellt, lautet: Warum ist das Wenn Mängel beklagt werden, erwartet man, dass
so? Die Antwort kennt jeder Bürger in Deutschland. hier ein Gesetzentwurf vorgelegt wird, über den man
Diese Koalition ist sich in fast gar nichts einig. Darin diskutieren kann. Aber dazu gehört, dass man sich auf
sind sie sich aber einig. etwas einigt. Diese Einigung findet in der Koalition
(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Wenn es um die nicht statt, und deswegen werden wir schlecht regiert.
Opposition geht, sind wir uns immer einig!) Wir warten alle die Wahl in Nordrhein-Westfalen ab.
Wenn man das weiß, dann wird die Sache relativ ein- (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Ach ja!)
fach. Das heißt, wir haben hier keinen Finanzplan vorlie- Große Entscheidungen, seien sie richtig oder falsch,
gen, weil die CDU nach der Wahl aus dem Finanzminis- werden verschoben. In diesem Land herrscht Stillstand.
terium heraus den Versuch unternommen hat,
Bundesbankpräsident Weber hat gesagt: Tiefe Ein-
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sagen Sie schnitte bei den Staatsfinanzen sind unausweichlich. Der
doch mal was zur Haushaltspolitik und ma- Präsident des Bundesrechnungshofes, Herr Engels, hat
chen Sie hier keine formalen Sperenzchen, Ähnliches gesagt. Zurzeit finden Haushaltsausschusssit-
Herr Kollege!) zungen und die Bereinigungssitzung statt. Die Koalition
streicht im Bereich der Verteidigung Pi mal Daumen
die Maßnahmen, die im Koalitionsvertrag gemeinsam
250 Millionen Euro.
beschlossen wurden, zu boykottieren und schlechtzuma-
chen. Die CDU/CSU hat es in zwei Monaten geschafft, (Beifall des Abg. Otto Fricke [FDP])
2444 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Johannes Kahrs
(A) Alle Abgeordneten der Opposition sind überrascht, weil die FDP hat sie aufgenommen. Die CDU ist jetzt gegen (C)
es überhaupt kein Berichterstattergespräch, keine vorhe- ihre eigene Meinung.
rige Information und keine inhaltliche Diskussion gege-
(Otto Fricke [FDP]: Das stimmt nicht! Das ist
ben hat,
unfair gegenüber der CDU!)
(Michael Kauch [FDP]: Schlecht für die Die Sachlage ist also folgende: Die Diskussion in diesem
Werte! – Otto Fricke [FDP]: Deshalb haben Land zeigt, dass man am Ende staatliche Zuschüsse
doch alle mitgemacht!) braucht, um die Kopfpauschale umzusetzen. Jetzt wird
was natürlich dazu führt, dass sich der Minister nicht in gefragt, wie viel das kosten soll. Der Bundesgesund-
der Lage sah, diese Kürzung mit einer Einschätzung zu heitsminister sagt: 10 Milliarden Euro per annum. Das
versehen. ist ungefähr die Summe, die Sie sowieso streichen müs-
sen. Sie müssen also 10 Milliarden Euro draufpacken,
(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Das ist doch zusätzlich zu den Kosten für die Steuerreform und zu
Quatsch, Herr Kahrs! – Otto Fricke [FDP]: den 10 Milliarden Euro, die Sie darüber hinaus einsparen
Das stimmt doch gar nicht!) müssen. Dann sind wir schon bei 40 Milliarden Euro, die
Er war ratlos. Sie jährlich einsparen müssen. Das wird eine fröhliche
Veranstaltung. Jetzt kommt aber die Antwort des Bun-
Man kann das natürlich tun. Das Problem aber ist, desfinanzministeriums,
dass man dem Sparbemühen der Haushälter jede Wir-
kung nimmt, wenn man fachlich Unsinn macht. (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Kollege Kahrs
kann gut reden, aber sagen tut er nichts!)
(Otto Fricke [FDP]: Die Grünen haben also
Unsinn gemacht! Die haben nämlich mitge- die Einführung der Kopfpauschale koste nicht 10, nicht 20,
macht!) sondern 40 Milliarden Euro jährlich. Diese 40 Milliar-
den Euro müssen eingespart werden.
Zum Beispiel werden im Einzelplan 12 im Bereich des
kombinierten Verkehrs über 60 Millionen Euro gestri- Unter dem Strich heißt das: Diese Koalition ist sich in
chen. Ein gutes und richtiges Vorgehen findet nicht statt. wesentlichen Punkten nicht einig. Sie hat zwar einen
Koalitionsvertrag, schafft es aber nicht, diesen Koali-
(Otto Fricke [FDP]: Sie haben also Unsinn ge- tionsvertrag in ein in Zahlen gegossenes Regierungspro-
macht! Sie haben doch mitgemacht!) gramm, in einen Finanzplan, zu überführen. Das ist nicht
nur schändlich, sondern behindert die Entwicklung unse-
Wir haben also das Problem, – res Landes,
(B) (Otto Fricke [FDP]: Ihr habt nicht nur ein Pro- (D)
(Beifall bei der SPD)
blem! Ihr habt ganz viele Probleme!)
weil die Wirtschaft und die Menschen nicht wissen, wo-
– Herr Fricke, Sie sind doch gleich dran. Ganz ruhig ran sie sind, weil man nicht weiß, wie es in diesem Land
bleiben! – dass Sie kein in Zahlen gegossenes Regie- weitergehen soll.
rungsprogramm vorlegen. Sie haben das Problem, dass
Sie sich in den großen Fragen nicht einigen können. Sie Jetzt haben Sie die Mehrheit. Nutzen Sie sie! Wir
haben in Ihrem Koalitionsvertrag wilde Versprechungen werden in der Sache hart kritisieren; aber dazu müssen
gemacht. Sie sich erst einmal einigen. Darauf warten wir. Glück
auf!
(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Ach! Hör
auf!) (Beifall bei der SPD)

Was soll eine Steuersenkung kosten? Die einen sagen: Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
20 Milliarden Euro. Andere sagen, es werde ein bisschen
Das Wort hat der Kollege Otto Fricke für die FDP-
mehr oder ein bisschen weniger sein. Nur wird es nicht
Fraktion.
zu dieser Steuersenkung kommen. Herr Kampeter, Sie
sagen, dass man hier in den einzelnen Etats insgesamt (Beifall bei der FDP)
10 Milliarden Euro pro Jahr sparen muss.
(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Was sagt ihr Otto Fricke (FDP):
denn?) Geschätzte Frau Vizepräsidentin! Meine lieben Kolle-
ginnen und Kollegen! Kollege Kahrs, es wäre schön ge-
Dann muss man natürlich auch sagen, wo man die wesen, wenn Sie auch zur Sache geredet hätten und ge-
20 Milliarden Euro für die Steuersenkung einsparen will. sagt hätten, worum es Ihnen eigentlich geht. Es geht um
(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Warte mal den Finanzplan und um die Frage, ob man einen neuen
ab, was morgen früh hier los ist!) Finanzplan vorlegen muss, wenn es schon einen alten
gibt. Im ersten Augenblick könnte man sagen: Formal
Des Weiteren gibt es das Problem, dass Sie sich hier- spricht vieles dafür.
hin stellen und eine Kopfpauschale fordern. Darüber
(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
wird gerade in diesem Land diskutiert. Wir Sozialdemo-
NEN]: Den alten gibt es ja nicht mehr!)
kraten haben 2005 schon mit der CDU darüber disku-
tiert. Inzwischen hat die CDU eine geänderte Meinung; – Kollege Bonde, ich würde jetzt vorsichtig sein.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2445
Otto Fricke
(A) (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- oft im Finanzplan von globalen Minderausgaben die (C)
NEN]: Es gibt keinen alten mehr!) Rede ist und welche Höhe sie einnehmen?
Kollege Kahrs, Sie sagen, dass diese Regierung, dass (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
jede Regierung einen solchen Finanzplan haben müsse. NEN]: Im Gegenteil! Deshalb bringen Sie ihn
(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- auch heute ein! Sie bringen doch heute
NEN]: Ja!) Steinbrück ein! Das ist der Punkt! Wir halten
die Verfassung ein!)
Sie meinen, ein neuer Plan müsse her, weil Neuwahlen
stattgefunden haben. Würden Sie das, wenn Sie an der Er ist nicht präzise und kann dies auch nicht sein, weil
Regierung wären, so machen? wir bei der Gestaltung des Finanzplans immer versu-
chen, uns ein Bild von der Zukunft zu machen. Unser
(Ulrich Kelber [SPD]: Der rhetorische Trick Bild von der Zukunft bedeutet – darin sind wir uns doch
ist zu offensichtlich! – Weitere Zurufe von der alle einig –: Wir halten die Verfassung ein. Das heißt,
SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wir halten den Stabilitätspakt ein. Es heißt auch, dass wir
– Sie würden es so machen; das möchte ich für das Pro- sparen müssen.
tokoll festhalten. – Liebe Kolleginnen und Kollegen von Der Kollege Kahrs hat kurz aus dem Haushaltsaus-
der Koalition, jetzt darf ich Ihnen sagen: Diese beiden schuss berichtet. Sie haben festgestellt, wie schlimm es
Parteien, einstmals an der Regierung, damals hier in weit ist, dass wir sparen. Für Sie ist es schlimm. 200 Millio-
größerer Zahl vertreten – vor allem die SPD –, haben im nen Euro im Verteidigungsbereich einzusparen ist etwas,
Jahre 2003, als sie nach der gerade noch gewonnenen dem Sie nicht zustimmen können. Aber dumm oder un-
Wahl 2002 wieder an der Regierung waren, die Möglich- verantwortlich kann das nicht sein;
keit gehabt, einen neuen Finanzplan vorzulegen.
(Johannes Kahrs [SPD]: Herr Fricke, das war (Johannes Kahrs [SPD]: Es ist unvorbereitet!
die alte Koalition! Da war nichts Neues! Gute Ihre eigene Regierung wusste nicht, worum es
Qualität wurde bestätigt! – Alexander Bonde ging! Ihr eigener Minister hatte keine Ahnung!
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da haben Herr Guttenberg wusste doch gar nicht, worum
sich die Rahmenbedingungen nicht verändert, es ging!)
anders als bei euch!) denn selbst Grüne und Linke haben dem zugestimmt.
– Die Rahmendaten hatten sich damals in vielen Berei- (Manfred Zöllmer [SPD]: Wo sparen Sie
chen geändert. Ich darf an Schröder und die Agenda denn?)
(B) 2010 erinnern. Haben Sie damals einen neuen Finanz- (D)
plan vorgelegt? Nein. Deswegen sage ich in Richtung SPD: Sie sind überrascht
(Ulrich Kelber [SPD]: Das war doch die davon, dass die Koalition – ich bin froh, wie das mit dem
gleiche Koalition!) Kollegen Barthle und den Haushältern funktioniert – das
Sparen gemeinsam angeht. Sie sind völlig platt. Sie sind
– Sie meinen, wenn es die gleiche Koalition ist, muss überrascht. Sie lehnen jeden Sparvorschlag ab. Die Grü-
man das nicht machen? Müssen wir dann einen halben nen verhalten sich zwar kritisch, aber konstruktiv. Die
Finanzplan vorlegen, weil einer der Koalitionspartner an Linken fahren ihre Linie. Aber Sie sagen einfach nur:
der Regierung geblieben ist? nicht sparen! Das zeigt doch, worum es Ihnen eigentlich
(Ulrich Kelber [SPD]: Wir stellen fest: Ihr geht. Es geht Ihnen allein um eine Politik nach dem
wollt an der bisherigen Politik nichts ändern! Motto „Die anderen sparen nicht, und wir wollen das be-
Ich dachte, Sie wollten die Wende im Land!) weisen“. Es ist genau umgekehrt: Sie wollen nicht spa-
ren, und wir werden es beweisen.
Entschuldigung, auf der einen Seite ist es zwar formal
in Ordnung, wie Sie mit dem Recht umgehen; aber auf (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
der anderen Seite sollte jemand, der sich so verhalten Wäre denn ein Finanzplan, den wir heute aufstellen
hat, vorsichtig sein, wenn er etwas fordert, das er selbst würden, über das Jahr 2010 hinaus präzise zu machen,
nicht für richtig gehalten hat. wenn Sie alleine in der Regierung wären? So, wie die
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gegenwärtige wirtschaftliche Situation aussieht, befin-
den wir uns zurzeit am entscheidenden Dreh- und Angel-
Ich kann dem Kollegen Kampeter nur zustimmen: Sie punkt, ob wir aus der Krise herauskommen. Es geht
sollten einmal ins Zisterzienserkloster gehen, lesen, ler- nicht mehr um die Frage, ob es weiter hinuntergeht. Wir
nen und, wie ich finde, vielleicht auch ein bisschen be- sind jetzt an der Stelle angelangt, an der sich in unserem
ten, dass all das Unheil, das Sie hier provozieren, irgend- Finanzsystem, Steuersystem, Haushaltssystem und So-
wie an Ihnen vorbeigeht. zialsystem in einer alternden Gesellschaft die Frage
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) stellt, wie wir wieder hochkommen. Wir wissen genau,
dass das, was wir heute noch für richtig halten, mögli-
Nun zur Sache selbst: Wir wollen einen möglichst cherweise in einem Vierteljahr schon anders ist.
präzisen Finanzplan. Gibt es einen präzisen Finanzplan?
Jetzt sagen Sie, der Finanzplan von Herrn Steinbrück sei (Johannes Kahrs [SPD]: So schnell ändern Sie
präzise gewesen. Haben Sie sich einmal angeschaut, wie Ihre Meinung!)
2446 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Otto Fricke
(A) Ich wünsche mir in der Frage nach dem weiteren Vor- meinen, Sie hätten gespart, oder ähnliche Tricks, dann (C)
gehen im Laufe des Halbjahrs einen neuen Finanzplan werden wir Ihnen das nicht durchgehen lassen.
und eine neue Steuerschätzung. Das erwarte ich vom
(Johannes Kahrs [SPD]: Warten wir es doch
Finanzministerium. Alles geht den Weg, den es immer
mal ab!)
gegangen ist, wie es zu Zeiten von Rot-Grün der Fall
war, wie wir für das Jahr 2003 gehört haben, und wie es – Ja, warten wir es ab. Ich habe – damit komme ich zum
bei der Steuerschätzung war. Zuverlässigkeit, Klarheit Schluss – heute schon den ganzen Tag mit den Kollegen
und vor allen Dingen Berechenbarkeit – das zeichnet uns im Haushaltsausschuss erlebt, wie sich die SPD bisher
aus. dem Sparen verweigert, während die Koalition den Kurs
des Sparens verfolgt und nicht nur einen Finanzplan,
(Johannes Kahrs [SPD]: Wo denn? Sie sind
sondern auch einen politischen Plan dafür hat. Den wer-
sich doch nicht mal einig!)
den Sie vier Jahre vor Augen haben.
Das mag Ihnen nicht passen. Es mag Sie überraschen.
(Ulrich Kelber [SPD]: Sie schaffen nicht vier
Sie können versuchen, irgendwelche Streitinterpretatio-
Jahre Opposition in der Regierung!)
nen aus der Sesamstraße zu bringen. Es wird Ihnen nicht
gelingen. Ich freue mich weiterhin darauf.
Ich will kurz sagen, wo wir als FDP und unser Koali- Herzlichen Dank.
tionspartner in Zukunft noch Imponderabilien sehen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
(Manfred Zöllmer [SPD]: Sie glauben doch Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
selber nicht an das, was Sie erzählen! – NEN]: Das war keine Begründung für das Ein-
Johannes Kahrs [SPD]: Ihre eigenen Vorhaben bringen eines Finanzplans, der aus dem Jahr
sind doch die größten Krisentreiber!) 2009 stammt!)
Sie wissen genauso wenig wie wir, wie sich die Spekula-
tionsversuche, die sich gegenwärtig am Finanzmarkt Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
darstellen, auswirken werden. Wir alle hoffen, dass die Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin
Griechen es schaffen, sich selbst aus dem Sumpf heraus- Dr. Gesine Lötzsch das Wort.
zuziehen, in den sie sich begeben haben. Wir alle hoffen, (Beifall bei der LINKEN)
dass wir keine weiteren größeren Schlaglöcher finden,
aber wir wissen es derzeit noch nicht.
Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE):
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und (D)
(B)
Sagen Sie was zur Insellösung!) Herren! Ich frage mich seit Beginn dieser Debatte, ob
unsere Zuschauer auf den Zuschauerrängen überhaupt
Ich sage Ihnen klar und deutlich: Wir werden genau
verstehen, worüber hier diskutiert wird.
beobachten, was kommt. Wir werden weiterhin den Weg
beschreiten, der im Koalitionsvertrag vereinbart worden (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
ist.
Daher noch einmal: Das Thema ist die Finanzplanung
(Manfred Zöllmer [SPD]: Um Gottes willen!) des Bundes 2009 bis 2013. Der Kollege Staatssekretär
Kampeter hat alles Mögliche getan, um das, worüber wir
Sie mögen zwar sagen, dass das nicht geht. Sie haben
eigentlich reden sollten, herumzureden.
aber auch bestritten, dass wir es schaffen, die Steuern zu
senken. Wir haben damit angefangen. Sie haben bestrit- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Doch!)
ten, dass wir es schaffen, die Ausgaben und die Neuver-
Er hat zwar über den Haushalt, aber nicht über die Fi-
schuldung zu reduzieren. Wir sind dabei. Wir werden
nanzplanung gesprochen.
auch beim Finanzplan ordentlich und zuverlässig vorge-
hen. Nun ist es so, dass dies wirklich eine ziemlich absurde
Debatte ist; denn im Herbst haben, wie wir alle wissen,
(Johannes Kahrs [SPD]: Sie produzieren doch
Wahlen stattgefunden. Seit den Wahlen gibt es eine neue
laufend Mehrkosten!)
Koalition. Diese neue Koalition hat erklärt, dass sie alles
Zum Schluss noch eine Bemerkung zur Schulden- anders machen wolle. Sie hat aber versäumt, einen neuen
bremse: Wir als FDP werden uns – das sage ich beson- Finanzplan vorzulegen. Nun haben wir sowohl vom Kol-
ders an die SPD gewandt – genau ansehen, wie die legen Kampeter als auch vom Kollegen Fricke von der
Schuldenbremse bei Ihnen ausgefallen wäre und wie FDP noch einmal die Ausreden und fadenscheinigen Ar-
Ihre Anträge, Ihre Nichtbereitschaft zum Sparen und der gumente gehört. Sie erklären, dass sie erst einmal die
fehlende Wille, bestimmte Dinge anzugehen, zustande Steuerschätzungen abwarten wollen. Ich halte das für
gekommen sind. Arbeitsverweigerung und für unehrliche Politik.
(Johannes Kahrs [SPD]: Warten Sie mal ab, (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
was am Ende herauskommt, ob Sie mehr spa- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
ren oder wir!)
Wir alle wissen doch, dass Sie gebannt auf einen Ter-
Wenn fiktive Vorschläge kommen, wie sie schon zu hö- min starren, nämlich auf einen Termin im Mai. Dann fin-
ren waren, alte Ausgabenreste zu streichen, und Sie dann det die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen statt.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2447
Dr. Gesine Lötzsch
(A) (Otto Fricke [FDP]: Wann kommt die Steuerschät- (Otto Fricke [FDP]: Danke! Also vor der (C)
zung: vor der Wahl oder nach der Wahl?) Wahl!)
Nordrhein-Westfalen ist das bevölkerungsreichste Bun- Sie haben über die Schuldenbremse gesprochen.
desland. Nicht zu Unrecht können, glaube ich, alle da-
von ausgehen, dass die schwarz-gelbe Koalition dort ab- (Abg. Otto Fricke [FDP] nimmt wieder Platz)
gewählt wird, da sie mit Sponsoringaffären das – Bleiben Sie ruhig stehen, Herr Fricke. Dann kann ich
Vertrauen in die Politik in hohem Maße beschädigt hat. Ihnen das erklären.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- (Lachen bei der FDP – Johannes Kahrs [SPD]:
neten der SPD) Hoch!)
Ich finde, Sie sollten wenigstens so ehrlich sein und zu- Da Sie sitzen bleiben, kann ich nur sagen: Das ist feige.
geben, dass Sie sich nicht trauen, der Bevölkerung in Aber das sind wir von der FDP gewohnt. Ich habe aber
diesem Land vor dem Wahltermin die Wahrheit über die noch Redezeit und kann Ihnen das erklären.
Richtung Ihrer Politik zu sagen.
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten NIS 90/DIE GRÜNEN)
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Sie sagen, Sie könnten keine Finanzplanung machen,
Die Wählerinnen und Wähler in Nordrhein-Westfalen weil Sie die Ergebnisse der Steuerschätzung noch nicht
haben es in der Hand, zu entscheiden, ob die schwarz- hätten. Aber im gleichen Atemzug sagen Sie, dass die
gelbe Koalition abgemahnt wird. Ich finde, eine Abmah- Vorgaben der Schuldenbremse gelten müssen. Diese
nung ist überfällig. sieht vor, dass pro Jahr 10 Milliarden Euro im Haushalt
(Beifall bei der LINKEN – Fritz Kuhn nicht gespart, wie es immer irreführend heißt, sondern
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eine Abmah- gestrichen werden sollen. Sie können 10 Milliarden Euro
nung reicht da nicht!) aber nicht streichen, indem Sie auf Bleistiftanspitzer
oder Ärmelschoner in den Bundesministerien verzich-
– Darin stimme ich Ihnen zu, Kollege Kuhn. Eine Ab- ten.
mahnung reicht nicht. Die Abmahnung muss die Abwahl
sein. Ich komme zum Schluss. Herr Kollege Kampeter, es
ist keine vernünftige Politik, in allen Ressorts zu sparen,
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ohne eine Schwerpunktsetzung zu formulieren. Wir wol-
Richtig!) len, dass im Verteidigungsbereich gespart wird, und
(B) Darin sollten wir uns einig sein. zwar deutlich. Wir wollen keine unsinnigen Rüstungs- (D)
projekte. Wir werden uns mit aller Kraft dagegen wen-
Wenn diese Koalition in Nordrhein-Westfalen nicht den, dass Sie Ihren Plan, auf dem Rücken der Ärmsten in
abgewählt wird, macht die Bundesregierung weiter wie diesem Land zu sparen, umsetzen können. Wir brauchen
bisher: Klientelpolitik, Steuersenkungen für Großunter- endlich eine vernünftige Politik, eine andere Wirt-
nehmen, Großspender und Sponsoren bedienen sowie schafts- und Steuerpolitik. Wir müssen die Verursacher
reihenweise Parteifreunde in den Ministerien unterbrin- der Finanzkrise zur Verantwortung ziehen
gen. So erleben wir es seit langer Zeit. Wir haben festge-
stellt, dass insbesondere die FDP dabei besonders aktiv (Beifall bei der LINKEN)
ist. Wir brauchen uns nur anschauen, wen alles der Kol- und endlich Schluss mit dem Niedriglohnsektor, Hartz IV
lege Niebel in seinem Ministerium, das die FDP eigent- und lächerlich niedrigen Steuersätzen für Konzerne ma-
lich abwickeln wollte, untergebracht hat. chen. Außerdem müssen wir, um dieses Land voranzu-
bringen, endlich die Agenda 2010 abwickeln. Dann ist
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: wieder eine solide Finanzpolitik möglich.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Vielen Dank.
Kollegen Fricke?
(Beifall bei der LINKEN)
Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE):
Ja, sehr gerne. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Alexander Bonde für die Fraktion
Otto Fricke (FDP): Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Kollegin Lötzsch, würden Sie mir bestätigen,
dass die Steuerschätzung im Mai vor der Landtagswahl Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
kommt? Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
jetzige Tagesordnungspunkt ist ein Novum in der deut-
Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE): schen Haushaltsgeschichte; denn zeitgleich zur Bereini-
Lieber Kollege Fricke, erstens weiß ich, wann die gungssitzung des Haushaltsausschusses, also in dem
Steuerschätzung kommt. Zweitens können wir gerne Moment, in dem der Haushalt endgültig aufgestellt wird,
wetten, dass Sie den Finanzplan vor der Wahl nicht vor- bringt die Regierung – last minute – einen Finanzplan in
legen werden und sich weiter verstecken. die Haushaltsberatungen ein. Jetzt hat die Koalition hier
2448 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Alexander Bonde
(A) erstaunlich viel darum herumgeredet. Immer wenn sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (C)
darum herumredet, lohnt es sich, genau hinzuschauen. bei der SPD und der LINKEN)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Was hat das mit Wahrheit und Klarheit, was hat das mit
einer ehrlichen Haushaltspolitik zu tun?
Sie sind nach § 9 des Stabilitätsgesetzes verpflichtet,
der Haushaltswirtschaft eine fünfjährige Finanzplanung Wenn man sich den Haushaltsplan anschaut, den Sie
zugrunde zu legen, in der – Zitat –: verabschieden, dann sieht man, dass es reihenweise Pro-
grammtitel gibt. Da ist das, was Sie an Geld in der Ver-
Umfang und Zusammensetzung der voraussichtli-
pflichtungsermächtigung für 2011 zuweisen, höher als
chen Ausgaben und die Deckungsmöglichkeiten in
der Baransatz Ihres Finanzplans für das Jahr 2011. Der
ihren Wechselbeziehungen zu der mutmaßlichen
Finanzplan, den Sie heute einbringen, hat so viel mit der
Entwicklung des gesamtwirtschaftlichen Leistungs-
Realität zu tun wie Hertha BSC mit der Spitze der Fuß-
vermögens darzustellen …
ball-Bundesliga. Es ist Pfusch, was Sie hier vorgelegt
sind. Nach § 50 des Haushaltsgrundsätzegesetzes sind haben, und Sie wissen, dass es Pfusch ist.
Sie verpflichtet, den Finanzplan spätestens im Zusam-
menhang mit dem Entwurf des Haushaltsgesetzes vorzu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
legen. Das, was heute passiert, ist schlicht rechtswidrige
Haushaltspolitik dieser Koalition. Eines setzt dem Ganzen die Krone auf: Sie haben nicht
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, einmal daran gedacht, dass Sie einen Finanzplan brau-
bei der SPD und der LINKEN) chen. Sie haben bis Ende letzter Woche nicht einmal ge-
merkt, dass Sie keinen im Haushaltsverfahren haben.
Sie entziehen sich der Aufgabe, mit einem Finanzplan Deshalb müssen Sie jetzt eine solche peinliche Veranstal-
klar darzustellen, was Sie in den nächsten Jahren vorha- tung aufführen und Reden wie aus einem Zisterzienser-
ben, mit welchen volkswirtschaftlichen Eckdaten Sie als kloster halten. Was Sie machen, ist nichts anderes als
schwarz-gelbe Koalition rechnen und wie Sie dem be- Pfusch. Sie beherrschen Ihr Handwerkszeug nicht. Eine
rechtigten Interesse der Bevölkerung nach einer Voraus- Räuberbande geht verantwortungsvoller mit dem Geld
schau in der Situation der Rekordverschuldung entspre- der Bürgerinnen und Bürger um.
chen wollen. Dazu sind Sie aber von Gesetz wegen
verpflichtet. Dieses Gesetz ignorieren Sie, seit Sie zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Beginn Ihrer Amtszeit einen Haushaltsentwurf vorgelegt bei der SPD und der LINKEN – Widerspruch
haben, dem keine Finanzplanung zugrunde lag. bei der CDU/CSU und der FDP)
(B) (D)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Deshalb sage ich Ihnen: Stampfen Sie diesen Unfug ein!
und bei der SPD sowie der Abg. Dr. Gesine Das haben die Menschen nicht verdient.
Lötzsch [DIE LINKE]) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Sie haben in dieser rechtlichen Auseinandersetzung bei der SPD und der LINKEN – Georg
immer behauptet, Sie könnten den alten Finanzplan von Schirmbeck [CDU/CSU]: Ich dachte, wir hät-
Herrn Steinbrück aus dem Sommer 2009 weiter verwen- ten Karneval schon gehabt!)
den. Ich sage Ihnen einmal, was in diesem alten Finanz-
plan steht. Darin steht eine Wachstumserwartung von Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
0,5 Prozent für das Jahr 2010. Sie passen gerade die Das Wort hat nun Norbert Barthle für die CDU/CSU-
Wachstumserwartung auf 1,4 Prozent an. Hat das etwas Fraktion.
miteinander zu tun? Nein, das hat es nicht.
(Otto Fricke [FDP]: Jetzt wird es wieder ver-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – nünftig!)
Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Das ist doch
positiv!)
Norbert Barthle (CDU/CSU):
Im Finanzplan 2009, den Sie nun einbringen, rechnen Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Sie überhaupt nicht mit einem Zuschuss in Höhe von Damen und Herren! Nach diesem Auftritt des Kollegen
über 10 Milliarden Euro für die Bundesagentur für Ar- Bonde, dessen Kompetenz als Haushaltspolitiker ich
beit. Dieser Betrag lässt sich dort nicht finden. Was hat sehr schätze,
das mit Wahrheit und Klarheit sowie einer ehrlichen An-
sage zu tun, die die Bürgerinnen und Bürger brauchen? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kann ich nur sagen: Diese Debatte ist wirklich kabarett-
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der reif; denn was hier versucht wird, ist nichts anderes, als
LINKEN) dem Finanzminister Wolfgang Schäuble ein Versäumnis
unterzujubeln und damit Kritik an ihm zu üben. Über
Kommen wir zur Steuerseite. Ihr alter Finanzplan kennt dieses formale Versäumnis kann man sehr wohl streitig
Ihr „Wachstumstrullalagesetz“, Ihre Geschenke an Ho- diskutieren. Das werde ich gleich noch tun.
telbesitzer und die 10 Milliarden Euro, die Sie als Koali-
tion bereits verbraten haben, nicht. (Zurufe von der SPD: Oh!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2449
Norbert Barthle
(A) Ich kann nur sagen: Die Tatsache, dass den Grünen dern mit korrekten, verlässlichen und eindeutigen Zah- (C)
nichts Besseres einfällt, um am Finanzminister Kritik zu len aufwarten. Das ist unser Bestreben.
üben, zeigt, wie die Grünen aufgestellt sind. So etwas
tropft am Finanzminister relativ unbeschadet ab. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
(Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Kollege Barthle, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
NEN) Kollegen Kuhn?

Worum geht es denn? Es war wunderschön, vorhin zu Norbert Barthle (CDU/CSU):


erleben, dass die Kolleginnen und Kollegen von der SPD Immer gerne, Herr Kollege Kuhn.
begeistert mitgeklatscht haben, als der Kollege Bonde
von den Grünen im Zusammenhang mit dem Finanzplan
2009 bis 2013 von Pfusch geredet hat. Liebe Kollegin- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
nen und Kollegen, das ist der Finanzplan des Finanzmi- Herr Kollege Kuhn, bitte.
nisters Peer Steinbrück, SPD.
Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
(Bettina Hagedorn [SPD]: Sie haben ja die Herr Kollege, ich habe eine Verständnisfrage. In der
Eckwerte verändert!) Woche, als der Haushalt eingebracht wurde, haben wir
Das zeigt die Qualität dieser Debatte, die uns die Grünen uns mit diesem Thema auseinandergesetzt. Auch ich
aufgedrängt haben. hatte das Vergnügen, in dieser Debatte zu reden. Das Ar-
gument des Finanzministers war, er wolle jetzt keinen
(Zurufe von der SPD: Oh!) neuen Finanzplan einbringen, weil aufgrund der fehlen-
den Steuerschätzung die Faktenlage noch nicht eindeutig
Tatsächlich gibt es – nun sind wir bei dem von dem zu beurteilen sei. Wir haben dagegen argumentiert; das
Kollegen Bonde angesprochenen Gesetz – ein Gesetz alles ist bekannt.
zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der
Wirtschaft vom 8. Juni 1967. Unter der Voraussetzung, dass das stimmt, was er da-
mals gesagt hat, möchte ich gerne wissen, warum er
(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- heute einen alten Finanzplan einbringt, der in wichtigen
NEN]: Alt, aber gültig!) Positionen, zum Beispiel beim Zuschuss für die BA, um
Dieses Gesetz sieht Folgendes vor: 10 Milliarden Euro von dem abweicht, was Herr
Steinbrück im letzten Jahr vorgelegt hat. Herr Bonde hat
Der Finanzplan ist vom Bundesministerium der Fi- in diesem Zusammenhang noch weitere Punkte genannt.
(B) nanzen aufzustellen und zu begründen. Er wird von (D)
Zuerst sagt man, man könne jetzt keine Finanzpla-
der Bundesregierung beschlossen und Bundestag nung machen. Dann passiert erst einmal gar nichts; wo-
und Bundesrat vorgelegt. chenlang hört man nichts über dieses Thema. Aber am
Weiter heißt es: Tage der Bereinigungssitzung des Haushaltsausschusses,
der finalen Sitzung im Zuge der Haushaltsberatungen,
Der Finanzplan ist jährlich der Entwicklung anzu- wird plötzlich eine alte, schon nicht mehr gültige Fi-
passen und fortzuführen. nanzplanung vorgelegt.
Peer Steinbrück hatte einen Finanzplan 2009 bis 2013 Ich will die Frage noch ergänzen; Herr Fricke von der
aufgestellt, der im Kabinett verabschiedet und dem Par- FDP hat diesen Punkt vorhin angesprochen. Im Jahr
lament übergeben wurde. Dieser Finanzplan ist tatsäch- 2003 war die Lage anders. Damals hat man keinen neuen
lich überholt. Der Finanzminister Wolfgang Schäuble Finanzplan eingebracht,
hat in der Woche, als der Haushalt eingebracht wurde, an
(Otto Fricke [FDP]: Ihr habt die Agenda 2010
dieser Stelle klipp und klar gesagt, er sehe es als seine
gemacht!)
Verantwortung an, im Jahre 2010 einen neuen Finanz-
plan gemeinsam mit dem Bundeshaushalt 2011 vorzule- weil die wesentlichen Eckdaten sowohl bei den Einnah-
gen. Denn der Finanzplan ist, wie gesagt, nur jährlich men als auch bei den Ausgaben der alten Finanzplanung
fortzuschreiben. Wie Sie alle wissen, werden wir im Jahr entsprochen haben. Das ist der Unterschied zu damals.
2010 zwei Haushalte beraten, nämlich nicht nur den für
2010, sondern auch den für 2011. Deshalb können Sie (Otto Fricke [FDP]: Ihr habt doch die Agenda
beruhigt darauf warten, bis der Finanzminister zu gege- 2010 gemacht!)
bener Zeit den Finanzplan anpassen wird, und zwar auf Wie erklären Sie also das, was Herr Schäuble vor we-
der Grundlage korrekter Daten und Fakten, die aus der nigen Wochen gesagt hat und was jetzt hektisch von der
Steuerschätzung resultieren, deren Ergebnisse wir noch Regierung und von Herrn Kampeter vertreten wird? Je-
vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen bekom- der, der Herrn Kampeter persönlich kennt, weiß, dass er
men werden. mit heißen Füßen in den Socken dastand, als er hier et-
was ganz anderes erzählt hat.
Das ist aus meiner Sicht die richtige und verantwor-
tungsbewusste Vorgehensweise des Finanzministers. Er (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
wird die deutsche Öffentlichkeit nicht mit einem schnell Otto Fricke [FDP]: Er hat übrigens Knie-
zusammengeschusterten Zahlenwerk überraschen, son- strümpfe an!)
2450 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

(A) Norbert Barthle (CDU/CSU): haltsentwurf wesentlich ändern, müssen sie doch dem (C)
Herr Kollege Kuhn, wir wollen zuerst eines festhal- Gesetz zufolge in der Lage sein, einen neuen Finanzplan
ten: Im Gesetz steht, dass ein jährlich anzupassender Fi- einzubringen. Wenn sich nichts ändert, dann gilt die Ein-
nanzplan vorzulegen ist. Es steht aber nicht im Gesetz, jahresregel, von der Sie gesprochen haben. Wenn sich
dass er vorzulegen ist, wenn sich die Rahmenbedingun- aber im ersten Jahr der Finanzplanung Wesentliches än-
gen geändert haben. Darüber steht überhaupt nichts im dert, dann ist die Fortschreibung für die folgenden vier
Gesetz. Vielmehr haben Sie, die Grünen, diese Debatte Jahre obsolet, weil sich alles anders darstellt und ver-
mit dem Argument angestoßen, es gebe einen formalen zerrt. Deswegen hätten Sie den alten Finanzplan nicht
Verstoß. Dieser formale Verstoß kann sich nie und nim- einbringen dürfen. Das ist doch ganz logisch.
mer auf eine Änderung der Rahmendaten beziehen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Tatsächlich haben sich die Rahmendaten geändert. und bei der SPD – Otto Fricke [FDP]: Da muss
Wir haben dank der erfolgreichen Politik dieser neuen man ja jede Woche einen neuen Plan aufstel-
Koalition erreicht, len!)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP – Lachen bei der SPD – Norbert Barthle (CDU/CSU):
Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sie haben richtig aus dem Gesetz zitiert. Da steht zur
NEN]: Jetzt wird es wirklich Kabarett!) fünfjährigen Finanzplanung:
dass die Arbeitslosigkeit deutlich weniger angewachsen In ihr sind Umfang und Zusammensetzung der vor-
ist, als Herr Steinbrück es noch angenommen hat. Wir aussichtlichen Ausgaben und die Deckungsmög-
haben dank der erfolgreichen Politik dieser neuen Koali- lichkeiten in ihren Wechselbeziehungen zu der mut-
tion erreicht, maßlichen Entwicklung des gesamtwirtschaftlichen
Leistungsvermögens darzustellen …
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP) Das gesamtwirtschaftliche Leistungsvermögen kann der
dass die Steuereinnahmen weniger eingebrochen sind, Finanzminister dann abschätzen, wenn er wieder fun-
als Herr Steinbrück es noch angenommen hat. Wir haben dierte Informationen über die Entwicklung der Steuer-
erreicht, dass es wieder ein ordentliches Wirtschafts- einnahmen hat. Diese Datenlage steht uns in wenigen
wachstum gibt. Deshalb sind die Rahmendaten besser. Wochen zur Verfügung. Dann werden sich die Beamten
Aber von den Rahmendaten steht in dem Gesetz über- des Finanzministeriums daranmachen, den Finanzplan
haupt nichts. fortzuschreiben, und zwar auf gesicherter Datenbasis.
(B) Alles andere wäre ein Beschäftigungsprogramm ohne (D)
Wenn Sie sich auf die Änderungen der Rahmendaten Hand und Fuß für zahllose Beamte. So etwas lehnen wir
als Begründung dafür berufen, dass ein Finanzplan ein- ab.
gebracht werden muss, dann täuschen Sie sich über die
Gesetzeslage; da müssen Sie noch einmal nachschauen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deshalb kann ich Ihnen nur sagen, dass Ihre formale Be- Es muss noch gesagt werden, dass das Parlament den
gründung an den Haaren herbeigezogen ist. Der Finanz- jetzigen Finanzplan gar nicht beraten muss. Es muss ihn
minister hat klipp und klar gesagt, dass er seiner Pflicht nur zur Kenntnis nehmen.
nachkommt.
(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Abg. Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Den müssen Sie uns aber vorlegen!)
NEN] nimmt Platz)
– Natürlich muss er vorgelegt werden. Aber er muss
– Ich antworte Ihnen noch. – Danke. – Er wird den Fi- nicht beraten, sondern nur zur Kenntnisnahme vorgelegt
nanzplan dann vorlegen, wenn er gesicherte Daten als werden. Das ist alles, was das Gesetz vorschreibt.
Grundlage hat; das geschieht jährlich. Dieser Pflicht
wird er nachkommen; da können Sie ganz beruhigt sein. Ich halte daher diese Debatte für an den Haaren her-
beigezogen. Sie dient nur dem Zweck, den Finanzminis-
Herzlichen Dank für die Zwischenfrage. ter an einer Stelle zu kritisieren, an der man ihn über-
haupt nicht kritisieren kann, und – das kam in der Rede
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: der Kollegin Lötzsch ganz klar zum Ausdruck – einen
Der Kollege Kuhn will Ihnen noch einmal die Chance Zusammenhang mit der Landtagswahl in Nordrhein-
auf weitere Ausführungen geben. Westfalen zu konstruieren, der überhaupt nicht besteht;
denn wir stellen Finanzpläne nicht in Abhängigkeit von
Norbert Barthle (CDU/CSU): anstehenden Terminen für Landtagswahlen auf. Das ist
Wunderbar! Ich genieße meine Redezeit. eine Vermutung, die weit hergeholt ist; ich weise sie klar
zurück. Wir stellen Finanzpläne nach richtiger Datenlage
und sorgfältiger Prüfung so auf, dass sie der tatsächlich
Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
eingetretenen Entwicklung entsprechen und eine kor-
Ich will das wirklich sachlich klären. Im Gesetz steht, rekte Perspektive für die Zukunft darstellen.
welchen Sinn eine Finanzplanung hat. Sie soll Auf-
schluss über die wesentlichen Elemente von Einnahmen Eines muss doch klar sein: Der Finanzplan, den die
und Ausgaben geben. Wenn diese sich durch Ihren Haus- Bundesregierung aufstellt und den der Finanzminister
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2451
Norbert Barthle
(A) hier vorlegt, dient nicht nur der Unterrichtung des Parla- des Licht auf Herrn Minister Westerwelle und seine FDP. (C)
ments, sondern auch der Öffentlichkeit. Er hat eine Wir- Beide vertreten definitiv nicht die Interessen der lang-
kung auf zahlreiche Bereiche in unserer Wirtschaft. Des- zeitarbeitslosen Menschen.
halb muss dieser Finanzplan ordentlich fortgeschrieben
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Und das können
werden, und zwar jährlich.
Sie entscheiden?)
(Otto Fricke [FDP]: Sehr wahr!)
Genauso sieht es mit der CDU/CSU in der Regierungs-
Das tun wir. Warten Sie ab! Gedulden Sie sich! Es wird verantwortung aus. Wo sind ihre Lösungsvorschläge?
Ihnen nicht gelingen, uns dazu zu bewegen, diesen Fi- Auch hier gilt: Außer Thesen nichts gewesen. Aber
nanzplan hopplahopp und holterdiepolter vorzulegen; keine Sorge: Wir werden Sie nicht im Regen stehen las-
vielmehr werden wir ihn sorgfältig aufstellen. So ma- sen und geben Ihnen deshalb mit unserem Antrag Orien-
chen wir das. tierung.
Herzlichen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Bereits unter Schwarz-Rot in der letzten Legislaturpe-
neten der FDP) riode hat die SPD richtige Schritte im Sinne des Bundes-
verfassungsgerichtsurteils bei den Regelsätzen erwirkt:
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Wir haben durch eine Sonderauswertung der Einkom-
Ich schließe die Aussprache. mens- und Verbrauchsstichprobe die Bedarfe von Kin-
dern genauer erfasst. Mit dem Schulbedarfspaket von
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf 100 Euro pro Kind und Schuljahr haben wir die Teilhabe
Drucksache 16/13601 an den Haushaltsausschuss vorge- an Bildung für Kinder im Sozialgeldbezug verbessert.
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Das haben die obersten Richter auch anerkannt.
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das hat Karls-
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 12 auf: ruhe außerordentlich kritisiert!)
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele – Das haben sie anerkannt. – Sie verlangen aber bis Ende
Hiller-Ohm, Anette Kramme, Iris Gleicke, weite- des Jahres eine ganz neue verfassungsfeste Auswer-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD tungsmethodik, die auch die Bedarfe von Kindern eigen-
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zur ständig erfasst – keine leichte Aufgabe. Das Ministerium
Bemessung der Regelsätze umsetzen – Die Ur- allein wird mit dieser Aufgabe überfordert sein. Deshalb,
sachen von Armut bekämpfen meine Damen und Herren der Regierungsfraktionen, (D)
(B)
nehmen Sie sich den Sachverstand von Wissenschaftlern
– Drucksache 17/880 – und Sozialverbänden bei der Entwicklung dieser neuen
Überweisungsvorschlag: Auswertungsmethode für die Regelsätze zur Hilfe. Wir
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) fordern die Einsetzung einer Kommission, die Grünen
Rechtsausschuss
Finanzausschuss übrigens auch.
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (Gabriele Lösekrug-Möller [SPD]: Das ist
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss auch gut so!)
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Um die Regelsätze besser an Preissteigerungsraten
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre anzupassen, schlagen wir eine Verkürzung der Zeit-
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. räume zwischen den Einkommens- und Verbrauchsstich-
proben vor. Fünf Jahre sind entschieden zu lang. Es
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin sollte außerdem die jährlich durchgeführte Laufende
Hiller-Ohm von der SPD-Fraktion das Wort. Wirtschaftsrechnung des Statistischen Bundesamtes als
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) ergänzende Datengrundlage einbezogen werden. Damit
die Regelsätze nicht unter das Existenzminimum rut-
schen, ist es notwendig, eine Einkommensuntergrenze
Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
bei der Erhebung der Daten für die Einkommens- und
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
Verbrauchsstichprobe festzulegen.
freue mich, dass wir auch in dieser Woche Gelegenheit
haben, über das so wichtige Thema der Grundsicherung Die Regelsätze sind das eine. Die obersten Richter
zu debattieren. Schade, dass heute wieder nicht allzu fordern außerdem eine Berücksichtigung individueller
viele anwesend sind. Sonderbedarfe, und dies ab sofort. Ich habe es in der
letzten Debatte schon gesagt, und ich wiederhole an die-
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]:
ser Stelle noch einmal: Ihre Vier-Punkte-Liste, die Sie
Aber wir sind noch da!)
über die Agenturen an die Argen verschickt haben, ist in
Leider hat Herr Minister Westerwelle seine Haltung keiner Weise ausreichend. Fummeln Sie nicht alleine an
gegenüber den Arbeitslosengeld-II-Beziehern nicht revi- einer Regelung für Härtefälle herum! Beziehen Sie uns
diert; auch hat er sich bei den Langzeitarbeitslosen für Fachpolitikerinnen und Fachpolitiker und die Experten
die Unterstellung spätrömischer Dekadenz nicht ent- aus Vereinen und Verbänden ein! Auch hier brauchen
schuldigt. Das ist bedauerlich, wirft aber ein bezeichnen- wir eine Expertenkommission.
2452 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Gabriele Hiller-Ohm
(A) Wenn man über Grundsicherung spricht, darf man das Damit Länder und Kommunen die Infrastruktur hier- (C)
Thema Armut nicht ausklammern. Wir fordern deshalb für schaffen können, benötigen sie natürlich Finanzmit-
eine umfassende Strategie zur Armutsbekämpfung. Ar- tel. Was aber machen Sie? Sie stärken die Kommunen
beitslosigkeit und schlecht bezahlte Jobs sind das größte nicht. Nein, im Gegenteil: Sie schmälern durch Ihr
Armutsrisiko. Wir fordern deshalb eine Abkehr von Wachstumsbeschleunigungsgesetz deren Finanzkraft. Es
Niedriglohnbeschäftigung. ist die Schuld von Schwarz-Gelb, dass die Kommunen
jetzt am Hungertuch nagen.
(Beifall bei der SPD)
(Lachen bei der FDP)
Sie ist ökonomisch kontraproduktiv und haushaltspoli-
tisch fatal. Geringfügige Beschäftigungsverhältnisse Sie verhindern dadurch nicht nur Wachstum. Sie ver-
sind eben keine Brücke in reguläre Beschäftigung. Das schlechtern darüber hinaus massiv die Bildungs- und
hat die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt gezeigt. Entwicklungschancen unserer Kinder.

Schlimm ist auch die Geschlechterdiskriminierung, (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
die gerade im Niedriglohnsektor passiert. Rund zwei BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Drittel der Betroffenen sind Frauen, die hier zu miesen In meinem wunderschönen, aber leider auch sehr armen
Löhnen und unter schlechten Bedingungen arbeiten. Das Schleswig-Holstein zwingen Sie sogar Ihre schwarz-gelben
müssen wir ändern. Parteifreunde durch Ihre kurzsichtige und klientelbehaf-
tete Politik dazu, das gerade erst durchgesetzte beitrags-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
freie Kita-Jahr wieder infrage zu stellen. Rückwärtsge-
LINKEN)
wandter kann Politik gar nicht sein.
Frau Ministerin von der Leyen hat erklärt, dass sie sich (Beifall bei der SPD)
für Frauen und insbesondere für Alleinerziehende stark-
machen will. Tun Sie das endlich! Rund 650 000 Allein- Helfen Sie den Familien und helfen Sie den Kommu-
erziehende erhalten Arbeitslosengeld II oder aufsto- nen! Wir fordern zur Tätigung der so notwendigen In-
ckende Leistungen, weil sie langzeitarbeitslos sind oder vestitionen für Familien und Kinder einen Rettungs-
zu wenig verdienen, um davon leben zu können. schirm für die Kommunen in Höhe von 4 Milliarden
Euro für die nächsten zwei Jahre.
Auch hier weisen wir Ihnen, liebe Kolleginnen und
Kollegen der CDU/CSU und FDP, mit unserem Antrag Verzichten Sie auf die gesetzliche Umsetzung des Be-
den Weg. treuungsgeldes, und stecken Sie diese Mittel konsequent
in Investitionen zur Förderung der frühkindlichen Bil-
(B) (Beifall bei der SPD) dung. Damit und nicht mit Ihrem Betreuungsgeld helfen (D)
Sie den Kindern und Familien. Herdprämien vergrößern
Bauen Sie die Betreuungsangebote weiter aus! Wir ha- Bildungsungerechtigkeiten. Kostenfreie Kitas und Ganz-
ben in unserer Regierungszeit gute Vorarbeit geleistet. tagsbetreuung an Schulen sind hingegen der richtige
Führen Sie endlich einen flächendeckenden Mindestlohn Weg.
ein! Das hilft auch den Frauen. Setzen Sie eine unabhän-
gige Kommission ein, die Kriterien für die richtige Höhe Liebe Kolleginnen und Kollegen, die SPD-Fraktion
des Mindestlohns entwickelt! hat ein weitreichendes Konzept vorgelegt. Folgen Sie
unseren Vorschlägen, Regelsätze rechtssicher zu bemes-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) sen und für gute Arbeit und gegen Armut zu kämpfen.
Das Bundesverfassungsgericht fordert in seinem Ur- (Beifall bei der SPD)
teil eine gerechtere Verteilung von Bildungschancen.
Wenn man an der Regierung ist, reicht es nicht, nur über Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Bildungsgerechtigkeit zu reden. Liebe Kolleginnen und
Das Wort hat nun Carsten Linnemann für die CDU/
Kollegen von den Regierungsfraktionen, das haben Sie
CSU-Fraktion.
alle lauthals getan. Jetzt wollen wir endlich Taten sehen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Sebastian Blumenthal [FDP]: Wie bei Ihnen
in elf Jahren!)
Dr. Carsten Linnemann (CDU/CSU):
Noch haben Sie die politischen Mehrheiten, um durch- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
zusetzen, dass es in Deutschland endlich vernünftige Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Wir spre-
Strukturen für frühe Förderung, Bildung und Ausbildung chen heute Abend über das wichtige Urteil aus Karls-
gibt. Auch hier haben wir während der Zeit unserer Re- ruhe. Als ich mir den Antrag der SPD-Fraktion gestern
gierungsverantwortung zum Beispiel mit dem Ausbau – ich glaube, gestern ist er erst eingetroffen – durchgele-
von Ganztagsschulen, Krippen und Kitas die richtigen sen habe, Frau Hiller-Ohm, musste ich zunächst einmal
Pflöcke eingeschlagen. Wir fordern eine nationale Bil- feststellen, dass wir in der Analyse des Urteils, also in
dungsinitiative, um endlich zu verbindlichen Vereinba- dem, was Sie auf den ersten beiden Seiten schreiben, ei-
rungen zwischen Bund, Ländern und Kommunen zu gentlich im Grundsatz keine unterschiedliche Meinung
kommen, die dafür sorgen, dass allen Kindern gute und haben. Das sollte man in diesem Hause einfach einmal
faire Bildungs- und Entwicklungschancen geboten wer- ansprechen. Bei den Konsequenzen gibt es allerdings
den. Unterschiede; darüber werden wir im Ausschuss reden
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2453
Dr. Carsten Linnemann
(A) müssen. Aber, wie gesagt, in der Analyse gibt es keine Zahl ist Gott sei Dank noch einigermaßen stabil. Wir alle (C)
unterschiedliche Meinung. müssen hoffen, dass dies auch so bleibt.
Dazu zählen zwei Kernpunkte: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Erstens. Das Verfahren der Einkommens- und Ver- Mit diesem Datenmaterial im Rücken sollte es für uns
brauchsstichprobe, der EVS, ist nicht als verfassungs- Verpflichtung sein – vielleicht auch Ansporn –, uns jetzt
widrig eingestuft worden. auf den Weg zu machen, um dieses Urteil umzusetzen.
Wir sollten dies zügig tun,
Zweitens. Es wurde – Frau Hiller-Ohm, das haben Sie
richtig gesagt – (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]:
Jawohl!)
(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Danke!)
weil das Ganze noch in diesem Jahr über die Bühne ge-
die fehlende Ermittlung der Bedarfe von Kindern kriti- hen muss, aber auch mit der nötigen Sorgfalt.
siert. Hier kann es nicht einfach eine pauschale Ablei-
Vielen Dank.
tung geben. Dafür brauchen wir ein transparentes Sys-
tem, ein System, das nachvollziehbar und sachgerecht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ist. Dabei müssen wir das Thema Bildung mit einfließen
lassen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das ist der Sachstand. Jetzt müssen wir schauen, dass Das Wort hat nun Diana Golze für die Fraktion Die
wir uns die Schablone vornehmen und an dieser Schab- Linke.
lone arbeiten. Im Herbst liegen die Zahlen des Statisti- (Beifall bei der LINKEN)
schen Bundesamtes vor. Die Schablone müssen wir im
Sinne des Urteils aus Karlsruhe neu justieren und dann
Diana Golze (DIE LINKE):
mit den Zahlen füllen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Kollegen! In den vergangenen Wochen sind unerträglich
Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Machen Sie es diffamierende Debatten auf dem Rücken von Millionen
doch endlich!) Menschen in diesem Land geführt worden. Menschen,
die Ausgrenzung von der Gesellschaft durch Erwerbslo-
Was man schon heute sagen muss und sagen kann, ist, sigkeit am eigenen Leib erleben, wurden an den Pranger
dass für unsere Fraktion die Frage im Mittelpunkt steht: gestellt, und das nur, um davon abzulenken, dass Millio-
Wie gehen wir mit den bedürftigen Kindern um? Die be- nen anderer Menschen von Löhnen leben müssen, für (D)
(B) dürftigen Kinder stehen ganz klar im Vordergrund. Mitt-
die die Erfinder dieser Hetzkampagne nicht einmal den
lerweile sind es, schlimm genug, knapp 2 Millionen Kin- Laptop aufklappen würden. Hier werden die Ärmsten
der, die von den Regelsätzen des SGB II leben. Das ist der Gesellschaft gegeneinander ausgespielt: diejenigen,
die Frage, die im Vordergrund steht: Wir müssen die die von Sozialleistungen leben müssen, und diejenigen,
Kinder aus dem SGB-II-Bezug herausholen. Es gibt im- die so geringe Löhne haben, dass diese nur knapp über
mer noch Familien, die von Generation zu Generation den Sozialleistungen liegen.
von der Sozialhilfe leben. Auch diese Kinder müssen wir
herausholen. Sie brauchen eine Perspektive. Ich bin froh, Nun kommt mit dem Antrag der SPD endlich erneut
dass das Bundesverfassungsgericht gesagt hat – der Prä- ein Vorschlag von der Opposition, in dem versucht wird,
sident hat dies übrigens am Wochenende noch einmal den Stammtischparolen der Regierung etwas Sachlich-
eindrucksvoll in der Welt am Sonntag dargestellt –, keit entgegenzusetzen. Der Antrag leistet in weiten Tei-
len das, was ich mir von einer Arbeitsministerin oder
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Ja!) von der Bundeskanzlerin selbst wünschen würde. Doch
dass es nicht nur um Geldleistungen geht, sondern auch diese setzen entweder auf ihre bewährte Ankündigungs-
um Sachleistungen und/oder Dienstleistungen. methodik, oder sie hüllen sich lieber ganz in Schweigen.
Viele der im SPD-Antrag vorgeschlagenen Maßnah-
Die jungen Menschen brauchen eine Perspektive, um
men unterstütze ich. Besonders begrüßenswert finde ich
Eigenverantwortung zu übernehmen. Diese Eigenverant-
die Darstellung, dass sich das Lohnabstandsgebot nicht
wortung ist nichts anderes als das Prinzip der Subsidiari-
an der Höhe der Sozialleistungen, sondern an der Höhe
tät, eingebettet in die soziale Marktwirtschaft. Die
der Löhne bemessen soll.
Marktwirtschaft, gepaart mit dem Sozialstaat, ist trotz al-
ler Krise noch intakt. Das sehen wir beispielsweise bezo- (Beifall bei der LINKEN)
gen auf die Arbeitslosenquote. Schauen wir uns diese
Einen gesetzlichen Mindestlohn fordert die Linke be-
einmal im Vergleich zum Ausland an: Spanien hat im
kanntermaßen schon seit langem.
Moment eine Arbeitslosenquote von 20 Prozent; bei den
jungen Menschen liegt sie bei 40 Prozent. Zum Glück Anderes in dem Antrag bleibt etwas verschwommen
liegt die Arbeitslosenquote bei uns weit unter der 10-Pro- und unzureichend formuliert. Ich frage mich beispiels-
zent-Marke. Für den Fall, dass Sie sagen, die Arbeits- weise, was die SPD mit der vorgeschlagenen Wahlfrei-
losenquote könne man manipulieren, nehmen Sie die heit zwischen Kinderzuschlag und ALG-II-Bezug für
Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Familien mit geringem Einkommen meint; denn nur,
Diese Zahl kann man nicht manipulieren. Auch diese wenn der Kinderzuschlag und das Wohngeld als vor-
2454 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Diana Golze
(A) rangige Leistungen so ausgestaltet werden, dass die Fa- Vielen Dank. (C)
milien dadurch mehr haben, liegt wirklich Wahlfreiheit
vor. Wenn es aber wie jetzt in vielen Fällen dazu führt, (Beifall bei der LINKEN)
dass der Kinderzuschlag sogar noch geringer ausfällt als
der ALG-II-Bezug, dann ist das nicht Wahlfreiheit, son- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
dern Erpressung mit einem menschenentwürdigenden Das Wort hat nun Pascal Kober für die FDP-Fraktion.
Grundsicherungsmodell.
(Beifall bei der FDP)
(Beifall bei der LINKEN – Gabriele Hiller-
Ohm [SPD]: Es geht doch darum, das zu ver-
hindern!) Pascal Kober (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Linke hat schon diverse Male Anträge für eine so- Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, der Titel Ihres
zialere Ausgestaltung des Kinderzuschlages vorgelegt. Antrages hat es in sich.
Dass die SPD die Berechnung der Regelsätze und (Angelika Krüger-Leißner (SPD): Der ist nicht
auch die sogenannte Härtefallregelung nicht allein in die schlecht, ne?
Hände der Bundesregierung legen will, kann ich nach-
vollziehen. Der Vorstoß, dies durch eine Expertenkom- Er lautet: „Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes
mission zu unterstützen, kommt einer Forderung der zur Bemessung der Regelsätze umsetzen – Die Ursachen
Linken nahe. Fraglich bleibt für mich allerdings, warum von Armut bekämpfen“. Entschuldigung, beim Lesen
Sie eine Gruppe von Experten, die dort mitwirken sollen, habe ich mir die Frage gestellt, welche Aussage sich ei-
außen vor lassen: die Vertreter der Menschen, die am gentlich hinter dem Gedankenstrich verbirgt.
stärksten davon betroffen sind und um deren Bedarfe es
geht, nämlich die Vertreter von Erwerbsloseninitiativen. (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Das gehört zu-
sammen!)
(Beifall bei der LINKEN – Gabriele Hiller-
Ohm [SPD]: Sie sind doch in den Sozialver- Welchen Zusammenhang lassen Sie durch die Verwen-
bänden drin!) dung eines Gedankenstrichs unausgesprochen? Welchen
Zusammenhang zwischen Hartz-IV-Regelsätzen, Urteil
Vielleicht liegt es daran, dass diese Sie daran erinnern des Bundesverfassungsgerichts und Armut möchten Sie
könnten, dass die verkorkste Arbeitsmarktreform von durch die Verwendung eines Gedankenstrichs vielleicht
Rot-Grün erfunden und von Schwarz-Gelb im Bundesrat kaschieren?
noch verschärft wurde.
(B) (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der (D)
(Beifall bei der LINKEN) CDU/CSU – Anette Kramme [SPD]: Das ist ja
Alles, was das Bundesverfassungsgericht der Regie- fast philosophisch! – Ute Kumpf [SPD]: Das
rung am 9. Februar ins Hausaufgabenheft geschrieben ist ja eine Predigt! – Gabriele Hiller-Ohm
hat, ist ihnen prophezeit worden, nicht nur von uns, son- [SPD]: Es steht doch im Antrag, wie es ge-
dern von vielen Sachverständigen und Initiativen. Einen meint ist!)
Punkt möchte ich besonders hervorheben: Es geht um
Vielleicht meinen Sie es ja so: Indem Sie das Urteil
die Debatte über die Frage von Gutscheinen bzw. Sach-
des Bundesverfassungsgerichts umsetzen, bekämpfen
leistungen, die durch die Bundesarbeitsministerin ange-
Sie Armut. Das würde aber bedeuten, dass Sie meinen,
stoßen wurde. Um diese Frage ging es auch in einer An-
dass durch die Umsetzung des Urteils des Bundesverfas-
hörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales. Hier
sungsgerichts in unserem Land Armut bekämpft wird.
war aber die Rede von gebührenfreiem Schulessen,
Lernmittelfreiheit und beitragsfreien Ganztagsbildungs- (Anette Kramme [SPD]: Wenn Sie lesen wür-
angeboten und nicht davon, die Kinder von ALG-II-Be- den, würde Ihnen die Analyse einfacher fal-
ziehern durch Gutscheine zu Kunden zu machen, um da- len!)
durch die Privatisierung dieser Angebote noch weiter
voranzutreiben. Ich bitte Sie, Lösungen zu finden, die Da das Bundesverfassungsgericht Ihre Politik, Ihre
die Teilhabe aller Kinder an Bildung in ihrer ganzen Hartz-IV-Gesetze kritisiert hat, frage ich Sie: Soll ich Ih-
Breite sichern, und nicht eine Verstärkung für den privat- ren Antrag so verstehen, dass man Armut in diesem
gewerblichen Markt zu organisieren. Land dadurch bekämpft, dass man Ihre Hartz-IV-Politik
aus dem Jahr 2005 verändert?
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb
[FDP]: Gute Schlussfolgerung!)
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, das Exis-
tenzminimum von Menschen ist keine Verhandlungs- Ich möchte Sie nur darauf hinweisen, dass Sie sich
masse. Das Gericht hat genau festgelegt, was ein damit nicht nur von Ihren eigenen Überzeugungen lösen,
Mensch braucht, um Mensch zu sein. Er braucht eben sondern sich zugleich in die Nähe Ihrer heftigsten Kriti-
mehr als die Sicherung seiner physischen Existenz. Er ker begeben, in die Nähe der Kolleginnen und Kollegen
hat ein Recht auf Teilhabe. Lassen Sie uns also in diesem der Linken, die immer betonen, dass Hartz IV Armut per
Haus nach politischen Lösungen für die Teilhabe aller Gesetz sei. Ich glaube, liebe Kolleginnen und Kollegen
Menschen am gesellschaftlichen Leben suchen. der SPD, Sie sollten sich entscheiden:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2455
Pascal Kober
(A) (Anette Kramme [SPD]: Vielleicht reden Sie Es gibt eine ganze Reihe anderer Gründe, Ihren An- (C)
einfach mal zur Sache und sagen, was Sie sel- trag abzulehnen. In Ihrem Antrag fordern Sie zum Bei-
ber wollen!) spiel einen gesetzlichen Mindestlohn.
Ist Hartz IV mit allem, was damit zusammenhängt, ein (Ute Kumpf [SPD]: Eine richtige Forderung!)
Gesetz gewesen, das Armut verhindern sollte und soll, Über die Höhe schweigen Sie sich in diesem Antrag
oder ist das Hartz-IV-Gesetz ein Gesetz, das Armut be- zwar aus, aber wir wissen ja, was Ihnen vorschwebt:
wirkt? 7,50 Euro in der Stunde. Das macht in einer 38-Stunden-
Wir von der FDP sind mit Ihnen einig, dass von Ihnen Woche summa summarum 1 140 Euro im Monat. Da
im Jahr 2005 manches in Gesetzesform gegossen wurde, höre ich schon die Kolleginnen und Kollegen der Links-
das im Sinne der betroffenen Menschen dringend refor- partei rufen: Das ist Armut per Gesetz; das müssen min-
miert gehörte, das gerechter und fairer ausgestaltet wer- destens 10 Euro die Stunde sein.
den sollte. (Patrick Döring [FDP]: Wer bietet mehr?)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD,
der CDU/CSU) werden schnell in Versuchung geraten, den Sirenenklän-
gen der Linken zu erliegen, und nach einer gewissen
Wenn ich Ihren Antrag aber lese, stelle ich fest – das
Schamfrist ihren eigenen Mindestlohn als zu niedrig de-
muss ich Ihnen sagen –, dass Sie an der ganz falschen
klarieren. Davor möchten wir von der FDP Sie bewah-
Stelle ansetzen, nämlich an vielen Punkten, die das Bun-
ren.
desverfassungsgericht überhaupt nicht beanstandet hat.
Jetzt wollen Sie unter anderem dort Veränderungen vor- (Beifall bei der FDP – Gabriele Hiller-Ohm
nehmen, wo Ihnen das Bundesverfassungsgericht im [SPD]: Sie haben den ja gar nicht gelesen! Das
Grunde attestiert hat: Gut gemacht. gibt es ja wohl nicht!)
Zum Beispiel kritisieren Sie das bestehende System Wir werden Ihren Antrag ablehnen und eine seriöse,
der Regelsatzbemessung anhand der Einkommens- und transparente Politik im Sinne und zum Wohl der Betrof-
Verbrauchsstichprobe. Statt nur alle fünf Jahre soll die fenen machen, und zwar ganz im Sinne des Urteils des
Stichprobe nun alle drei Jahre erfolgen. Dass Sie das im Bundesverfassungsgerichtes.
Jahr 2005 noch nicht so gesehen haben, will ich gar nicht (Beifall bei der FDP)
kritisieren.
Darauf können Sie sich verlassen. Sie werden gut re-
(Anette Kramme [SPD]: Dass wir Gutachten giert. Wir machen das schon.
(B) in Auftrag geben, ist Ihnen vielleicht auch be- (D)
kannt!) Vielen Dank.

Dass Sie, namentlich der SPD-Bundesarbeits- und So- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Gabriele
zialminister Olaf Scholz, es aber auch in den letzten vier Hiller-Ohm [SPD]: Aber falsch!)
Jahren nicht so gesehen haben, macht Ihre Forderung
zum jetzigen Zeitpunkt nicht sehr glaubwürdig. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Markus Kurth für die Fraktion
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Bündnis 90/Die Grünen.
Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Wir haben das
immer wieder gefordert und diskutiert in der
letzten Legislaturperiode!) Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrte
– Es wurde von Ihrem Bundesarbeitsminister blockiert. Kolleginnen und Kollegen von der FDP, es ist interes-
Das habe ich mir von den Kollegen schon erläutern las- sant, wie Sie in letzter Zeit versuchen, ehemalige Regie-
sen. rungsparteien zu Geiseln der Vergangenheit zu machen.
Das mit dem Urteilsspruch des Bundesverfassungsge- (Sebastian Blumenthal [FDP]: Zu Recht!)
richts vom 9. Februar dieses Jahres in Beziehung zu set- Aber wir werden uns nicht davon abbringen lassen, da-
zen, ist nicht sehr glaubwürdig; denn gerade diesen zuzulernen – ganz im Gegensatz zu Ihnen –, Folgen un-
Punkt hat das Bundesverfassungsgericht überhaupt nicht seres Handelns zu beobachten und die notwendigen
kritisiert. Seien Sie doch froh, dass Sie offensichtlich Schlussfolgerungen zu ziehen.
auch etwas richtig gemacht haben.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Heiterkeit und Beifall bei der FDP) und bei der LINKEN – Patrick Döring [FDP]:
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, daher Sehr gut! – Stefan Müller [Erlangen] [CDU/
stellen wir uns schützend vor Sie, Ihre Geschichte und CSU]: Wann tun Sie das?)
Ihre kleinen Erfolge und werden Ihrem Antrag nicht zu- – Auch ich bedauere es, dass die Fraktion der SPD es
stimmen. noch nicht in der letzten Legislatur getan hat. Wenn sie,
dies nun tut,
(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Das ist aber
schade!) (Lachen bei Abgeordneten der FDP)
2456 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Markus Kurth
(A) dann erkennen wir das durchaus an. Der vorgelegte An- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: „Im Prinzip“! (C)
trag der SPD ist in weiten Teilen übereinstimmend mit „Wollen“! – Abg. Dr. Martin Lindner [Berlin]
dem, was die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bereits [FDP] nimmt Platz)
heute vor einer Woche vorgelegt und seit mehreren Jah-
ren sehr sorgfältig entwickelt hat. – Bleiben Sie bitte stehen; ich bin mit meiner Antwort
noch nicht fertig. – Es ist so, dass der Bundesrat mit den
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Stimmen von CDU/CSU und FDP unsere damaligen
SES 90/DIE GRÜNEN – Patrick Döring [FDP]: Einsichten wieder gekippt und beispielsweise diesen
Wer schreibt hier von wem ab?) Satz gestrichen hat.
Die Frage ist, ob im Verlauf der letzten Woche, seit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
der Regelsatzdebatte, gewisse Lerneffekte zu beobach- sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
ten sind. Bei Ihnen von den Regierungsparteien ist dies KEN)
ganz offensichtlich leider nicht der Fall. Wenn ich zum
Natürlich greifen wir dann in der Opposition wieder auf,
Beispiel vom Kollegen Linnemann höre, dass Sie jetzt
was Sie damals zerstört haben.
erst einmal wieder die Zahlen abwarten wollen und dann
erst die Methodik, die Schablone, wie Sie das nennen, (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Die haben ein
entwickeln wollen, dann habe ich die Befürchtung, dass kurzes Gedächtnis! – Diana Golze [DIE
Sie den Fehler wiederholen werden, der zum Urteil des LINKE]: Und die FDP hat kein Stehvermö-
Bundesverfassungsgerichtes geführt hat. Auch da hat gen! Die können nicht stehen bleiben!)
man erst die Zahlen genommen, dann einen fiskalischen
Zielwert angegeben und daraufhin die Regelsätze be- Es ist so, dass wir – ich fahre mit meiner Rede fort –
rechnet. Entwickeln Sie doch zuerst die Methodik, wie neue Erkenntnisse zum Lohnabstandsgebot haben. Der
Sie eine Einkommens- und Verbrauchsstichprobe aus- Paritätische Wohlfahrtsverband hat dank Fleißarbeit eine
werten wollen, und warten wir die Zahlen ab; denn dann ganze Reihe von Berechnungen, Lohnabstandsbeispiele,
kann das Ergebnis auch nicht manipuliert werden. vorgelegt, wo sehr deutlich wird, dass diejenigen, die ar-
beiten, letztlich mehr im Portemonnaie haben. Das
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – wurde jetzt sogar durch das Bundesministerium für Ar-
Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie können das beit und Soziales bestätigt, das auf eine Kleine Anfrage
uns überlassen, Herr Kollege! Wir machen das der Linken geantwortet hat: Wer arbeitet, werde immer
schon richtig!) mehr Mittel zur Verfügung haben als ein Nichterwerbs-
tätiger. Das sollten wir in unsere Debatte einbeziehen.
Ich sage Ihnen: Im Verlauf der letzten Woche sind
(B) noch einige interessante Erkenntnisse zu den von Ihnen Den Punkt Arbeitsanreize sollte man sich einmal (D)
gern diskutierten Fragen des Lohnabstandsgebots und sorgfältiger anschauen. Als zum Beispiel vor etwa zwei
der Arbeitsanreize hinzugekommen. Wochen die Berliner Stadtreinigung gegen Ende des
Winters endlich erkannt hatte, das eisverkrustete Berlin
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: müsse jetzt vom Eis befreit werden, wurden 650 Arbeits-
lose angefordert – es haben sich Tausende gemeldet.
Herr Kollege Kurth, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Lindner von der FDP-Fraktion? (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: 27 000!)
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Innerhalb einer halben Stunde war die Hotline der Agen-
Ja, gerne. tur für Arbeit überlastet, weil sie den Ansturm der Ar-
beitsuchenden nicht bewältigen konnte. Das heißt, dass
Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP): die Realität bei den Arbeitsanreizen ganz anderes aus-
Herr Kollege, Sie sprachen gerade von den Lerneffek- sieht, als insbesondere Sie von der FDP ständig behaup-
ten, die bei Ihnen eingetreten sind. Stimmen Sie mir zu, ten.
dass diese Lerneffekte sowohl bei Ihnen als auch bei der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
SPD immer nur dann eingetreten sind, wenn Sie aus der bei der SPD und der LINKEN)
Regierung ausgeschieden sind?
Angesichts dessen frage ich mich, wie man immer wie-
der von einer konsequenten Anwendung von Sanktionen
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): als vordringlichem Mittel reden kann.
Keineswegs. Ich will ein Beispiel nennen. Als wir das
Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeits- (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das liegt am
markt hier im Bundestag im Sommer 2003 verabschiedet falschen Menschenbild der FDP!)
haben, stand darin der Satz, dass zumutbare Arbeit sich Geht es nicht vielmehr darum, diesen Tausenden, die
an den Tariflöhnen oder, wenn es keine Tarife gibt, an selbst bei bescheidenen Hinzuverdienstmöglichkeiten
den ortsüblichen Löhnen orientieren soll, weil wir das einfach mal wieder gebraucht werden wollen, vernünf-
Entstehen eines Niedriglohnsektors verhindern wollten. tige Angebote zu bieten?
Das heißt, vieles, was wir jetzt in den Anträgen zum
Mindestlohn fordern, haben wir im Prinzip bereits da- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
mals in diesem Gesetz verankern wollen. und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2457
Markus Kurth
(A) der SPD – Pascal Kober [FDP]: Darum wollen Als große Volkspartei tragen wir Sorge dafür, dass (C)
wir sie nicht draußen lassen!) alle Menschen, egal welcher Schicht, einen Platz in die-
ser Gesellschaft haben. Niemand soll an den Rand ge-
Erst heute hat das Institut für Arbeitsmarkt- und Be- drückt, niemand übervorteilt werden. Es ist auch keine
rufsforschung der BA ebenfalls in einer Studie bestätigt, Zeit für Neiddiskussionen.
dass sich Hartz-IV-Beziehende um Arbeit bemühen und
es vielmehr an maßgeschneiderten Fortbildungsange- (Ute Kumpf [SPD]: Sagen Sie das mal dem
boten und an fallbezogener Ausrichtung der Hilfegewäh- Kollegen Westerwelle!)
rung mangelt.
Die Zeiten sind schwierig genug.
(Pascal Kober [FDP]: Das wissen wir!)
(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Ja, al-
Das heißt, es mangelt an einer vernünftigen materiellen lerdings! Reden Sie mal mit ALG-II-Bezie-
und inhaltlichen Hinterlegung der Förderpolitik. hern!)
(Pascal Kober [FDP]: Durch Ihre Zuverdienstgren- CDU und CSU tragen das „C“ in ihren Namen. Auch
zen haben Sie sie draußen gelassen!) ich bin, wie manch anderer in diesem Hause, Christ. Wir
wissen: Unsere christliche Überzeugung ist uns Ver-
Ich sage Ihnen: Auch das Problem des sogenannten pflichtung und Antrieb.
Lohnabstands bekommen wir selbst bei erhöhten Regel-
sätzen sehr gut in den Griff, wenn wir eine Progression (Anette Kramme [SPD]: Was für eine Grund-
bei den Sozialabgaben und einen Mindestlohn einführen, satzrede!)
wie Bündnis 90/Die Grünen es vorschlägt. Dadurch
CDU und CSU werden deshalb mit Tatkraft, Leiden-
schaffen wir Anreize und mobilisieren Wachstumspoten-
schaft und Klugheit für eine Gesellschaftsordnung
ziale und menschliche Potenziale, die Sie zu ersticken
kämpfen, in der Leistung gefördert wird, in der Schwa-
drohen. che beschützt werden und in der Verantwortungslosig-
Danke schön. keit geahndet wird.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.
bei der SPD und der LINKEN – Gabriele Pascal Kober [FDP])
Hiller-Ohm [SPD]: Das haben Sie aber gut ge-
Leistungsgerechtigkeit und soziale Verantwortung ge-
sagt, Herr Kollege!)
hören für uns von der Union untrennbar zusammen. Ein
populistischer Wettbewerb nach dem Motto: „Wer ist nä-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: her dran an den Hartz-IV-Empfängern?“ oder: „Wer ver-
(B) Das Wort hat nun Mechthild Heil für die CDU/CSU- spricht die größeren Geschenke?“ ist mit uns nicht zu (D)
Fraktion. machen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Das nach all den
Mechthild Heil (CDU/CSU): Steuergeschenken, die Sie verteilt haben, noch
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und zu sagen! – Ute Kumpf [SPD]: Den einen
Kollegen! Ich begrüße, dass eine breite öffentliche Dis- schenken Sie, den anderen nehmen Sie! So
kussion darüber geführt wird, welche sozialen Leistun- sind die Christlich-Sozialen!)
gen, aber auch welche steuerlichen Leistungen wir alle Wir stellen uns den Aufgaben, die vor uns liegen: Wie
zu erbringen bereit sind. Vor allem begrüße ich, dass sich bekommt man die Menschen, Eltern und Kinder, aus der
diese Diskussion – wenn auch sehr langsam – erkennbar Abhängigkeit vom Staat? Was müssen wir tun, um die
versachlicht, zumindest in der Öffentlichkeit. Wirtschaft so zu stärken, dass neue, gute Arbeitsplätze
In der Vergangenheit sind Emotionen hochgekocht, geschaffen werden? An dieser Stelle seien nur die Stich-
Randerscheinungen bestimmten die Diskussion, Fakten worte Wachstum und Haushaltskonsolidierung genannt.
spielten so gut wie keine Rolle mehr. Ich finde es unver- Was müssen wir für die Kinder aus Hartz-IV-Familien
antwortlich, dass einige, insbesondere von der Linken, tun, damit sie nicht in die Spirale der Abhängigkeit vom
auch heute in diesem Hause den Versuch unternehmen, Staat geraten? Hier sei nur das Stichwort Bildungschan-
Misstrauen zu säen und gesellschaftliche Gruppen ge- cen genannt.
geneinander aufzuhetzen. In der Analyse sind wir uns mit der SPD größtenteils
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – einig. Verglichen mit den Anträgen von den Grünen und
Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Was? den Linken, die uns in der letzten Sitzungswoche vorge-
Wer spielt denn hier die Menschen gegenein- legen haben, ist der jetzt von der SPD eingebrachte An-
ander aus? – Peter Weiß [Emmendingen] trag wirklich eine Wohltat. Die Analyse ist okay. Was die
[CDU/CSU]: So ist es! Wir wollen nämlich Konsequenzen, die wir ziehen, betrifft, unterscheiden
wir uns allerdings erheblich von Ihnen. Deshalb stim-
eine Sachlösung!)
men wir dem Antrag der SPD heute nicht zu.
Das ist mit der Union nicht zu machen.
Sie fordern zum Beispiel, die Mehrbedarfe nach dem
(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: SGB XII entsprechend dem Urteil des Bundesverfas-
Na ja, na ja!) sungsgerichts zu ändern, und zwar ähnlich wie im
2458 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Mechthild Heil
(A) SGB II. In § 28 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch den Niedriglohnsektor gar nicht! – Diana (C)
sind abweichende Mehrbedarfe allerdings bereits gere- Golze [DIE LINKE]: Arbeitslosigkeit haben
gelt. Ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten: wir auch keine!)
Die Bedarfe werden abweichend festgelegt, wenn Ein Weiteres kommt hinzu, was heute allerdings
im Einzelfall ein Bedarf ganz oder teilweise ander- leicht in Vergessenheit geraten ist: Wie Auswertungen
weitig gedeckt ist oder des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln auf Basis der
sozioökonomischen Erhebungen zeigen, ist die Zufrie-
– jetzt kommt die entscheidende Aussage – denheit von Menschen mit Niedriglohnarbeit größer als
unabweisbar seiner Höhe nach erheblich von einem die Zufriedenheit von Menschen in Arbeitslosigkeit – im
durchschnittlichen Bedarf abweicht. Grunde eine Binsenweisheit.
Die Aussage des Bundesverfassungsgerichts ist in die- (Anette Kramme [SPD]: Das ist die wahre Strate-
sem Gesetz also schon längst verankert. gie! Das ist doch ein Witz!)
(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/ Arbeit an sich ist eben auch ein Wert.
DIE GRÜNEN]: Das ist doch etwas ganz an- Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolle-
deres!) ginnen und Kollegen, sorgen Sie mit uns dafür, dass
Eine Gesetzesänderung brauchen wir an dieser Stelle Leistungsstarke sagen können: „Ich helfe denen, die zu
nicht. Die Forderung der SPD geht ins Leere. schwach sind, sich selber zu helfen“, und dass Leis-
tungsempfänger sagen können: „Ich tue, was mir mög-
Zu Ihrem Maßnahmenkatalog gegen die Niedriglohn- lich ist, um auf eigenen Beinen stehen zu können.“ Ein
beschäftigung haben wir heute von dieser Stelle aus solches Klima wünsche ich mir für Deutschland, weil
schon einiges gehört. Die von Ihnen immer wieder ge- wir nur im Miteinander aller gesellschaftlichen Gruppen
forderten gesetzlichen Mindestlöhne sind keine Lösung. die Chance haben, die Probleme zu bewältigen. Es liegt
Wir sind uns einig, dass Arbeitnehmer einen auskömmli- an uns.
chen Lohn für ihre Arbeit erhalten sollen. Aber ich sage:
Dieser Lohn sollte nicht vom Staat diktiert werden. Wir Vielen Dank.
werden jedenfalls die Tarifautonomie in unserem Land (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
nicht kippen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Sie fordern des Weiteren, die Koalition solle sich erst Ich schließe die Aussprache.
gar nicht damit auseinandersetzen, sozialversicherungs- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
(B) freie geringfügige Beschäftigungsverhältnisse zu erhö- Drucksache 17/880 an die in der Tagesordnung aufge- (D)
hen oder zu dynamisieren, führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
weil Sie davon ausgehen, dass Vollzeitjobs in mehrere
Minijobs aufgesplittet wurden. Ich weiß wirklich nicht, Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 13 auf:
woher Sie diese Erkenntnis haben. Meine Informationen Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren
sind völlig andere: Lay, Dr. Axel Troost, Karin Binder, weiterer Ab-
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- geordneter und der Fraktion DIE LINKE
NEN]: Müssen Sie mal Ihre Informationsbasis Finanziellen Verbraucherschutz stärken – Fi-
überprüfen! nanzmärkte verbrauchergerecht regulieren
Die Bundesagentur für Arbeit hat dieses angeblich weit – Drucksache 17/887 –
verbreitete Phänomen untersucht und festgestellt, dass es Überweisungsvorschlag:
dieses Phänomen nicht gibt. Die Betriebe, die Vollzeitar- Finanzausschuss (f)
beitsplätze gestrichen haben, haben auch Minijobs abge- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
baut. Verbraucherschutz (f)
Rechtsausschuss
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aha!) Federführung strittig
Die Betriebe, die mehr Minijobber eingestellt haben, ha- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
ben gleichzeitig mehr Vollzeitarbeitsplätze geschaffen. Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist ja inte- keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
ressant, Frau Kumpf!) Ich eröffne die Aussprache und erteile Caren Lay für
Es gibt also keinen eindeutigen Beleg für Ihre Behaup- die Fraktion Die Linke das Wort.
tung, dass allein die Zulassung von Minijobs die Um- (Beifall bei der LINKEN)
wandlung von Vollzeitstellen in Minijobs gefördert hat.
Deshalb sollten Sie Ihren Widerstand gegen die Mini- Caren Lay (DIE LINKE):
jobs aufgeben.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Herren! Die meisten Menschen, die ihr mühsam erspar-
Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Vielleicht gibt es tes Geld zur Bank bringen, wollen ihr Geld sicher anle-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2459
Caren Lay
(A) gen. Mit den Lehman-Zertifikaten, um nur ein Beispiel sollen beispielsweise ein Recht auf Sammelklage erhal- (C)
zu nennen, wurden Risiken jedoch verschwiegen, und ten und einen Verbraucherbeirat einrichten können.
das Geld von Kleinanlegern wurde in windigen Geschäf-
ten verwettet. Die Pleite der Lehman-Bank ist nun an- Ein aus unserer Sicht wichtiger Punkt, den ich noch
derthalb Jahre her. Seitdem hat die Bundesregierung ansprechen möchte, ist, dass die Verbraucherinnen und
keine wesentlichen Schritte unternommen, um Verbrau- Verbraucher unabhängige Beratung brauchen. Solange
cherinnen und Verbraucher auf den Finanzmärkten bes- Finanzberater für den Verkauf von Wertpapieren Provi-
ser zu schützen. sionen erhalten, kann von unabhängiger Beratung keine
Rede sein.
Zwar gibt es zum Beispiel die Protokolle von Bera-
(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Ulrike
tungsgesprächen. Sie dienen aber – dies hat eine Studie
der Verbraucherzentrale NRW erst in der vergangenen Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Woche bewiesen – eher dem Schutz der Unternehmen Das BMELV beziffert den Schaden, der Verbraucherin-
als dem Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher. nen und Verbrauchern durch schlechte Anlageberatung
Ministerin Aigner setzt hier auf Produktinformations- entsteht, auf 20 bis 30 Milliarden Euro pro Jahr. Deswe-
blätter. Wir als Linke sagen ganz eindeutig: Mit diesem gen wollen wir die Provisionsberatung überwinden und
Beipackzettel alleine ist es nicht getan, stattdessen eine Honorarberatung einführen, und wir
wollen unabhängige Beratung durch die Verbraucher-
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ zentralen stärken.
DIE GRÜNEN)
Die Linke hat die Debatte zur Verbesserung des Anle-
schon gar nicht, wenn dieser Beipackzettel nicht einheit- gerschutzes heute eröffnet. Wir haben die Initiative er-
lich, wohl aber unverbindlich ist. griffen, um die Ersparnisse der Menschen vor wilden
Spekulationen zu schützen.
Untaugliche Finanzprodukte gehören überhaupt nicht
auf den Markt. Ich habe die Pläne von Verbraucherschutzministerin
Aigner als viel zu zaghaft kritisiert; aber sie sind immer-
(Beifall bei der LINKEN) hin ein Versuch.
Deshalb fordern wir als Linke einen europäischen Fi- Womit sich allerdings Herr Schäuble die Federfüh-
nanz-TÜV. Er ist längst überfällig, damit hochriskante rung bei diesem Thema verdient hat, bleibt mir schleier-
Produkte erst gar nicht zugelassen werden. haft; denn bislang hat er sich bei der Verbesserung des
(Beifall bei der LINKEN) finanziellen Verbraucherschutzes durch keinerlei Aktivi-
täten hervorgetan. Kaum lag unser Antrag vorgestern auf
(B) Für die Produkte, die dann auf dem Markt sind, wollen dem Tisch, hat auch er einen Gesetzentwurf zur Verbes- (D)
wir wir eine klare Kennzeichnung haben. serung des Anlegerschutzes angekündigt. Sie sehen also:
Verbraucherschutz greift aber zu kurz, wenn er die Die Linke wirkt.
Verantwortung allein bei den Verbraucherinnen und Ver- (Beifall bei der LINKEN)
brauchern ablädt. Die Realität ist doch: Die Finanz-
märkte sind schnelllebig, und die Verbraucherinnen und Kolleginnen und Kollegen, es wird Zeit, dass wir den
Verbraucher sind häufig überfordert und einem undurch- Verbraucherschutz endlich ernst nehmen. Wir bitten da-
sichtigen Dschungel von Produkten ausgeliefert. Deswe- her um Überweisung an den Verbraucherschutzaus-
gen sagen wir als Linke ganz klar: Die Finanzmärkte schuss.
müssen reguliert werden, nicht zuletzt im Interesse der Vielen Dank.
Verbraucherinnen und Verbraucher.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN)
Wir wollen den Verbraucherschutz institutionell und Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
organisatorisch stärken. Auch Deutschland braucht end- Frau Kollegin Lay, dies war Ihre erste Rede im Deut-
lich eine Verbraucherbehörde. schen Bundestag. Herzliche Gratulation und alle guten
(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Mit Wünsche!
Staatswirtschaft kennt ihr euch aus!) (Beifall – Caren Lay [DIE LINKE]: Das ist die
Es kann doch nicht sein, dass wir in Deutschland eine Fi- zweite!)
nanzaufsicht haben, diese beim Ausüben ihrer Aufsicht – Stimmt nicht? Das ist mir extra aufgeschrieben wor-
aber nicht auf die Interessen der Verbraucherinnen und den. Dann haben Sie die Freude, eine zweite Gratulation
Verbraucher achten muss. Auch der Verbraucherschutz erlebt zu haben.
– Sie wissen, dass das seit langem gefordert wird – muss
eine Aufgabe der Finanzaufsicht werden. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Caren
(Beifall bei der LINKEN) Lay [DIE LINKE]: Umso besser!)
Die Linke fordert mit diesem Antrag einiges mehr: Das Wort hat nun Klaus-Peter Flosbach, CDU/CSU-
Wir wollen die demokratische Vertretung der Verbrau- Fraktion.
cherinteressen stärken. Wir wollen die Verbraucherzen-
tralen in ihrer Marktwächterfunktion unterstützen. Sie (Beifall bei der CDU/CSU)
2460 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

(A) Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU): Das Zweite, was der Verbraucher wissen muss, ist, (C)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In was ihm angeboten wird und was das eigentlich für ein
dem Antrag der Linken sind durchaus einige Sätze, die Produkt ist. Deswegen unterstützen wir Ministerin
ich unterschreiben würde. Diesen Antrag durchzieht Aigner auch darin, grundsätzlich für jedes Produkt ein
aber der Gedanke: Wir brauchen in Deutschland eine Produktinformationsblatt aufzulegen. Es gehört zur Ver-
neue Behörde, eine neue Verbraucherschutzbehörde, und antwortung gegenüber dem einzelnen Verbraucher, dass
wenn wir diese Behörde haben, geht es allen besser. diese Dinge bei allen wesentlichen Schritten haftungssi-
cher angeboten werden.
Wir brauchen keine neue Behörde. Wenn wir den
Verbraucherschutz verbessern wollen, brauchen wir Ich halte es auch für richtig, dass nicht nur im Versi-
Transparenz in den Märkten, brauchen wir Wettbewerb, cherungsbereich, sondern grundsätzlich auf dem gesam-
brauchen wir Haftung und brauchen wir mehr Verant- ten Finanzmarkt eine Dokumentationspflicht besteht,
wortlichkeit in den Finanzmärkten. das heißt, jedes Gespräch muss entsprechend dokumen-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tiert werden.

Minister Schäuble hat gestern deutlich gemacht, dass Sie haben das Thema Finanz-TÜV angesprochen. Im
er bis zum Sommer ein Gesetz zum Schutz der Privatan- vergangenen Jahr gab es ja eine größere Anhörung zu
leger vorlegen wird. Damit erfüllen wir ein Stück unse- dem Thema insgesamt. Die BaFin als Aufsichtsbehörde
res Koalitionsvertrages. Wir haben deutlich gemacht, – wir brauchen eine Aufsichtsbehörde in diesem Be-
dass es in Deutschland keinen Finanzmarkt, kein Finanz- reich – hat deutlich gemacht, dass sie sich nicht imstande
produkt und keinen Finanzakteur mehr geben soll, der sieht, einzelne Produkte zu bewerten. Wir haben einen
nicht reguliert und kontrolliert wird. Wir erfüllen unse- Finanzmarkt mit Hunderttausenden von Anbietern bzw.
ren Koalitionsvertrag. Vermittlern. Deswegen werden wir die Aufgabe, jedes
einzelne Produkt im Markt zu kontrollieren, niemals auf
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und eine Verbraucherschutzbehörde auslagern können.
der FDP)
Es ist kein Geheimnis, dass es einen Unterschied im Sie sagen: Wir verstehen das alles nicht und machen
Wissen um Finanzprodukte zwischen Anbietern und das ganz einfach. Wir bieten drei Produkte an, wie früher
Nachfragern, den Verbrauchern, gibt. Das hat sich ge- in der DDR: zum Beispiel eine Lebensversicherung, die
rade in der Finanzkrise gezeigt. man mit 18 Jahren abschließt, sodass man nach 14 Jah-
ren so viel auf dem Sparbuch hat, dass man sich einen
Es gibt zahlreiche Kleinanleger, es gibt zahlreiche Trabi kaufen kann. Das wollen wir in der Bundesrepu-
Anleger, die sicherheitsorientiert sind. Viele wollen für blik Deutschland so nicht haben.
(B) (D)
ihre Altersvorsorge sparen. Sie haben ein Anrecht auf
Schutz und darauf, dass sie nur Produkte bekommen, die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
auch ihren Wünschen entsprechen. Hans-Michael Goldmann [FDP]: Nein, vor al-
len Dingen keinen Trabi!)
(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Die
Krise ist ein Jahr alt!) Aber in diesen Produktinformationsblättern muss
auch deutlich beschrieben werden, welches Produkt das
Deshalb sollten wir uns, wenn wir an die Lösung den- ist und ob dieses Produkt beispielsweise der Einlagensi-
ken, nur drei Jahre zurückversetzen, in die Zeit, als die cherung unterliegt. Auch das war bei den Lehman-Pro-
EU-Versicherungsvermittler-Richtlinie umgesetzt wur- dukten ein Problem. Es hat auch Anlagen bei Kaupthing
de. gegeben. Wichtig ist, dass die Deutschen, die sicher-
Für die Verbraucher ist es wichtig, zu wissen, wer ih- heitsorientiert anlegen, wissen, dass es der deutschen
nen im Gespräch gegenübersteht. Ist der Verkäufer der Einlagensicherung unterliegt.
Angestellte einer Versicherungsgesellschaft oder einer
Bank, ist es ein Mehrfachagent, ist es ein Makler, oder Ich halte es auch für ganz natürlich, dass bei den Fi-
ist es ein Berater, der auf Honorarbasis berät? Das ist mit nanzprodukten festgehalten wird, wie hoch der Kosten-
das Wichtigste, was der Verbraucher zuerst einmal wis- anteil bei dem Produkt ist, beispielsweise der Vertriebs-
sen muss. anteil und die Verwaltungskostenquote. Der Einzelne
muss wissen, was von seiner Anlage in die Investition
Er muss auch wissen, welche Qualifikation der auf fließt.
der anderen Seite hat, und er muss wissen, ob er regis-
triert ist und ob er eine Haftpflichtversicherung besitzt, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
ob ihm eine Versicherungsgesellschaft also eine Haft- der FDP)
pflichtversicherung angeboten hat, damit er überhaupt
Risiken eingehen kann. Wir sollten aber auch keine falsche Sicherheit darstel-
len. Wir alle kennen das – gerade die Leute aus dem Fi-
(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Dann nanzbereich –: Es gibt die Entschädigungseinrichtung
tun Sie es halt!) für Wertpapierhandelsunternehmen. Nach wie vor sind
hier Produkte mit einer Garantie für eine Einlage von bis
Das alles sind die ersten und wichtigsten Informatio-
zu 20 000 Euro verkauft worden. Es ist ein Schaden von
nen für den Verbraucher.
200 Millionen Euro entstanden. Bis heute gibt es hier
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) keine Regelung, weil die Entschädigungseinrichtung
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2461
Klaus-Peter Flosbach
(A) überhaupt nicht in der Lage ist, den Schaden zu beglei- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C)
chen. Herr Kollege!
Sie haben davon gesprochen, dass Provisionen grund-
Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU):
sätzlich abgeschafft werden müssen. Betrachten Sie ein-
mal den Markt der betrieblichen Altersversorgung. Hier Herr Präsident, ich komme zum Schluss.
laufen alle Systeme parallel. Wenn Sie zu einem mittle- Im Grunde gilt vor allem eines: Wir brauchen Trans-
ren Betrieb gehen, dann sehen Sie zum Beispiel: Er hat parenz an den Märkten; der Einzelne muss wissen, wer
Berater, die auf Honorarbasis arbeiten. Es gibt auch ihm was anbietet und warum. Wir müssen im Sinne des
Makler, die auf Courtagebasis arbeiten, für die also lau- Verbrauchers das unseriöse Geschäft vom sauberen Ge-
fend Provisionen pro Vermittlung gezahlt werden, und es schäft des ordentlichen Kaufmanns unterscheiden.
gibt Abschlussprovisionen bei Versicherungsgesell-
schaften. Hier gibt es einen fairen Wettbewerb, der völ- Vielen Dank.
lig unabhängig von der Vergütung ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Sie werden in gewissen Marktsegmenten auch über-
haupt nicht auf die Provisionsvermittlung verzichten Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
können. Versuchen Sie einmal, einen geschlossenen Das Wort hat nun Carsten Sieling für die SPD-Frak-
Fonds von 100 Millionen Euro in einem halben Jahr auf tion.
Honorarbasis zu platzieren.
Dr. Carsten Sieling (SPD):
Es gibt im Versicherungssektor in Deutschland 170 Be-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
rater, aber mehrere Hunderttausend Vermittler. Glauben
Wir diskutieren hier heute über die Auswirkungen der
Sie doch nicht, dass Sie über diesen Weg den gesamten
Finanzmarktkrise, und zwar unter dem besonderen Ge-
Finanzmarkt entsprechend gestalten können.
sichtspunkt des Anlegerschutzes. In diesem Zusammen-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und hang berücksichtigen wir insbesondere die Verbraucher-
der FDP) interessen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Verbraucherzentralen sind wichtige Informationszen-
tren, aber wir erwarten, dass die gleichen Qualitätsanfor- Das ist der Zusammenhang, über den wir heute reden.
derungen auch an die Verbraucherzentralen gestellt wer- Wir diskutieren aber nicht zum ersten Mal über die
den. Auch sie müssen sich einer Prüfung unterwerfen, Frage der Auswirkungen der Finanzmarktkrise. Es ist
(B) wenn sie im Markt beraten. das vierte, fünfte oder sechste Mal, dass wir in unter- (D)
schiedlichen Variationen an dieses Thema herangehen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Das ist richtig und gut.
der FDP)
Heute stehe ich hier und muss sagen: Ich habe den
Wir sollten natürlich auch den grauen Kapitalmarkt Eindruck, dass die Vielzahl der Diskussionen und die
einbeziehen; das ist zwingend notwendig. Die Anhörung Positionierungen, die wir hier vorgenommen haben, erst-
im letzten Jahr hat aber gezeigt, dass wir am grauen Ka- mals so etwas wie einen Erfolg zeigen;
pitalmarkt Ungleiches nicht gleich behandeln sollten. In
Deutschland gibt es am grauen Kapitalmarkt Hedge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
fonds, aber auch geschlossene Fonds – ein deutsches scheinbar hat es Früchte getragen. Ich beziehe mich da-
Spezifikum –, beispielsweise im Bereich der Immobilien rauf, dass in den letzten Tagen, gestern und vorgestern,
oder der Windkraftanlagen. Es ist wichtig, dass diese ge- Finanzminister Schäuble in der Tat – es ist schon ange-
schlossenen Fonds nicht kaputtgemacht werden. sprochen worden – einen Vorschlag vorgelegt hat. Zum
ersten Mal hat die Bundesregierung einen Vorschlag, ein
Derzeit liegt uns der Entwurf der europäischen paar Ideen auf den Tisch gelegt.
AIFM-Richtlinie vor. Hier wird alles in einen Topf ge-
worfen. Bei der Sachverständigenanhörung wurde ge- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Quatsch!)
sagt: Macht nicht die geschlossenen Fonds in Deutsch- Das ist schon einmal ein Schritt nach vorne. Man kann
land kaputt! Die haben mit der AIFM-Richtlinie nichts hier, glaube ich, für alle Oppositionsfraktionen sagen:
zu tun. Das ist ein Erfolg der Oppositionsarbeit. Wir von der
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) SPD waren hier vorne dran.
(Beifall bei der SPD – Leo Dautzenberg
Im Grunde ist es für die Anleger wichtig, dass sie bei der [CDU/CSU]: Das ist selektive Wahrnehmung,
Anlage Sicherheit haben. Die BaFin hat deutlich ge- Herr Kollege!)
macht, dass sie nicht in der Lage ist, die Kontrolle
durchzuführen. Seriöse Anbieter sind aber heute in der Jetzt liest man gute Sachen über den Vorschlag von
Lage, durch ein Wirtschaftsprüfergutachten die Plausibi- Herrn Minister Schäuble: Verbot von Leerverkäufen und
lität der Anlage darzustellen. Deswegen fordern wir bei- Ähnliches. Das freut mich besonders. Wenn ich nämlich
spielsweise ein IDW-Gutachten für entsprechende Anla- die Koalitionsfraktionen und den Staatssekretär im Fi-
gen. nanzministerium anschaue, muss ich an die Sitzung des
2462 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Dr. Carsten Sieling


(A) Finanzausschusses gestern Morgen denken, in der man inhaltliche Dissonanzen und Differenzen gibt. Herr (C)
noch beim Thema des Verbots von Leerverkäufen gezö- Schäuble – ich habe es schon gesagt – schlägt ein Verbot
gert und sich seitens der Koalitionsfraktionen sehr kri- von Leerverkäufen vor.
tisch geäußert hat. Da ist offensichtlich einiges passiert.
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Von
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. ungedeckten Leerverkäufen!)
Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Was macht Bundeswirtschaftsminister Brüderle? Er re-
NEN])
det auch über die Frage der Leerverkäufe,
Der Minister scheint ein Machtwort gesprochen zu ha-
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Von
ben; da kann man sich freuen.
ungedeckten!)
(Zuruf des Abg. Joachim Poß [SPD])
thematisiert mangelnde Transparenz, ruft nach der EU
– Kollege Poß ruft es richtigerweise herein: Man darf und fordert eine Ausweitung der EU-Meldepflicht.
sich fragen, ob sich Herr Schäuble am Ende durchsetzen
Wir wissen um die Situation bei den Leerverkäufen.
wird oder ob es wie beim Ankauf der CDs mit den Daten
zu Steuerbetrügern sein wird, dass hinterher Herr Kauder (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Herr Kollege,
und die Fraktion kommen und so etwas unterbinden wol- von ungedeckten!)
len.
Darüber muss man nicht reden; man muss das Verbot an-
(Beifall bei der SPD – Christian Lange [Backnang] gehen.
[SPD]: Das war auch ein Possenstück!)
(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie
Ich bin gespannt, wie weit der Minister wirklich kommt. bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Ich darf an dieser Stelle auch sagen – wir müssen das
so diskutieren –, dass bei diesen Vorschlägen nicht nur Ich habe die Sorge, mit diesem Wirtschaftsminister und
die Fraktionen von CDU/CSU und FDP ein Problem der FDP bleibt das Zockerkasino geöffnet. In dieser
sein werden, sondern parallel – – Bundesregierung geht es weiter jeder gegen jeden.
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Wo ist ei- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Aber es geht
gentlich Siegfried Kauder? – Joachim Poß um ungedeckte Leerverkäufe!)
[SPD]: Wo ist eigentlich Volker Kauder? Ist
der Volker Kauder überhaupt da?) – Es geht um ungedeckte Leerverkäufe. Ich konnte nicht
entnehmen, dass Minister Brüderle nicht auch diese un-
(B) – Das fragt man sich. Er hört gar nicht zu, damit er sich gedeckten Leerverkäufe mit seinen Vorschlägen meint. (D)
hinterher nicht auf irgendetwas beziehen muss. – Dieses Vielleicht wird uns gleich der Kollege von der FDP auf-
Mal hat die FDP wieder parallel einen Vorschlag ge- klären können, wenn er schon darüber informiert ist. Ich
macht, dieses Mal in Form von Herrn Brüderle: Parallel bin gespannt, was sich dort entwickelt.
zu den Vorschlägen von Herrn Schäuble hat er eigene
Vorstellungen vorgelegt. (Beifall bei der SPD)

(Beifall bei der SPD) Es geht hier um ein Thema, bei dem wir in der Tat
keine Zeit haben. Damit kommen wir zum nächsten
Handelsblatt Online hat das sofort richtig eingeordnet: Punkt. Bundesfinanzminister Schäuble kündigt Vor-
schläge an, die er im Sommer in einer Kabinettsvorlage
Brüderle will in Schäubles Ressort wildern.
vorlegen will. Ich finde, das ist zu spät. Es dauert zu
Das ist die Wahrheit. lange, bis das kommt. Es ist zwar typisch, dass Sie die
Wahl in Nordrhein-Westfalen abwarten, aber das muss
(Beifall bei der SPD – Ingrid Arndt-Brauer
nicht sein.
[SPD]: Der kommt doch mit seinem schon
nicht klar!) (Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Ihr hattet
elf Jahre Zeit dafür!)
Jetzt müssten Sie kommen und entsprechend der Sprach-
regelung des Finanzministeriums sagen: Nein, nein, das Meines Erachtens muss man Druck machen. Es sind
ist nur ein Stück Ideenwettbewerb. aber nicht nur der Bundeswirtschaftsminister und der
Bundesfinanzminister, die sich hierzu äußern, sondern
(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)
auch – das haben meine Vorrednerinnen und Vorredner
Das ist kein Ideenwettbewerb; das ist das Tollhaus Bun- schon gesagt – Ministerin Aigner. Sie ist die Dritte im
desregierung, das wir immer wieder erleben. Die eine Bunde dieser Chaosregierung, wo jeder das sagt, was
Hand weiß nicht, was die andere Hand will. ihm gerade einfällt.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
DIE GRÜNEN – Dr. h. c. Hans Michelbach des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf
[CDU/CSU]: Ihr müsst euch wirklich Mut ma- von der LINKEN: Es sind auch drei Koali-
chen!) tionsfraktionen!)
– Da muss man sich keinen Mut machen, Kollege – Das ist nicht falsch. Frau Aigner tut mir allerdings in
Michelbach. Die Angelegenheit ist traurig, weil es auch der Tat leid; denn sie arbeitet seit fast einem Jahr an die-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2463
Dr. Carsten Sieling
(A) sem Thema und versucht, Vorschläge zu machen. Sie Wir haben also eine Reihe von klaren Regulierungs- (C)
macht eine Verbraucherkonferenz nach der anderen, aber punkten.
es kommt nichts dabei heraus. Es kommt nichts Vernünf-
tiges auf den Tisch, sondern es werden nur Vorschläge Zweitens muss es dazu kommen, dass die Anlagepro-
zu Produktinformationsblättern und Ähnlichem ge- dukte, die auf den Markt kommen, zertifiziert werden
macht, die mit fachlichen Fehlern versehen sind – man müssen, damit Produkte gegebenenfalls verboten wer-
denke nur an die Berichterstattung der letzten Tage – und den können.
von den Banken nicht übernommen werden. Nur zwei Drittens muss die Honorarberatung gestärkt werden.
Institute, die Deutsche Bank und ING-DiBa, haben das
aufgegriffen. Das ist nichts als heiße Luft. (Beifall bei der SPD)

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wir müssen davon wegkommen, dass nur auf Provisio-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nen geschielt wird und die wirkliche Information des
Verbrauchers nicht wirklich im Vordergrund steht.
Frau Staatssekretärin, legen Sie einen Gesetzentwurf
Viertens müssen die Verbraucherzentralen in ihrer
vor, statt nur Tagungen zu machen und Konzepte zu er-
Marktwächterfunktion gestärkt werden.
stellen. Wir brauchen eine Reihe von Maßnahmen, die
wir wirksam umsetzen können. (Beifall bei der SPD)
Zum Antrag der Linken hat Kollege Flosbach gesagt, In diesem Punkt erwarten wir von der Bundesregierung
er könne mehreres darin unterschreiben. Dem kann ich einiges, damit wir eine vernünftige Vertretung im Anle-
mich anschließen. Der Antrag enthält viele Punkte, die, gerschutz bekommen.
glaube ich, in der jetzigen Debatte allgemeingültig sind.
Ich glaube, wenn die Regierung in diese Richtung
In dem Antrag ist ein Katalog von Maßnahmen, wie sie
handelt, kann daraus etwas werden. Machen Sie das, und
die Verbraucherverbände richtigerweise fordern, zusam-
machen Sie es zügig.
mengeschrieben worden. Darin finden sich viele richtige
Punkte. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Ich glaube aber, es wird jetzt darauf ankommen, dass (Beifall bei der SPD)
wir uns auf die wirklich wichtigen und zentralen Dinge
konzentrieren. Das sind aus meiner Sicht vier Punkte, Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
die man beachten muss. Ich erteile das Wort dem Kollegen Erik Schweickert
Wir brauchen erstens eine klare Regulierung in den für die FDP-Fraktion.
(B) (D)
entsprechenden Bereichen. Dazu liegen, wie gesagt, ent- (Beifall bei der FDP)
sprechende Vorschläge vor. Der graue Kapitalmarkt
muss eingeschränkt werden. Wir brauchen klare Bera-
tungsprotokolle. Die Finanzaufsicht muss verbessert Dr. Erik Schweickert (FDP):
werden. Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Sieling, Sie ha-
(Christian Lindner [FDP]: Sie haben die Finanz- ben um Aufklärung gebeten. Ich wusste gar nicht, dass
aufsicht doch kaputtgemacht! Eichel!) es so einfach ist, die SPD aufzuklären. In dem Antrag
geht es um Verbraucherschutz. Wer erst in der Nach-
Dazu muss ich übrigens sagen, Kollege Flosbach: spielzeit dazu kommt, der hat ihn nicht richtig gelesen.
Schauen Sie sich an, was Minister Schäuble vorgelegt
hat! Sie haben gesagt, die BaFin komme dafür nicht in- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
frage. Der Minister hat ausweislich der Berichterstattung der CDU/CSU)
über den Vorschlag durchaus verschiedene Verstärkun-
Gehen wir einmal darauf ein. Kollegin Lay, Sie haben
gen durch die Finanzaufsicht bzw. die BaFin formuliert.
vorhin behauptet, in Bezug auf die Regulierung der
Das geht ziemlich ins Detail.
Finanzmärkte seien von der Bundesregierung keine
(Joachim Poß [SPD]: Das Haus sieht das durchgreifenden Schritte unternommen worden. Ich
anders als die Fraktion!) muss darauf hinweisen: Das entspricht nicht der Realität.
Bitte nehmen Sie zur Kenntnis, dass der Verbraucher-
Es sollen sogar die Anlageberater durch die BaFin kon- schutz in der christlich-liberalen Koalition sehr wohl
trolliert werden. eine Vorreiterrolle spielt, und zwar die Vorreiterrolle, die
(Beifall bei der SPD) der Verbraucherschutz in den letzten elf Jahren nicht in-
nehatte.
Machen Sie sich erst einmal klug, was im Ministe-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
rium angedacht wird, und bringen Sie es mit dem zusam-
der CDU/CSU)
men, was Sie hier sagen. Das ist an dieser Stelle notwen-
dig. Wir waren es, die bereits Anfang 2007 gefordert ha-
ben, die Zersplitterung der europäischen Bankenaufsicht
(Beifall bei der SPD – Zuruf von der CDU/ zu beenden.
CSU: Herr Präsident, die Zeit läuft! – Norbert
Schindler [CDU/CSU]: Aufhören!) (Beifall bei der FDP – Lachen bei der SPD)
2464 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Dr. Erik Schweickert


(A) – Ja, so ist es. – Die Wahrheit tut manchmal weh, auch (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Das Tor ist weit (C)
der SPD. Wir haben durchgesetzt, dass wir die einheitli- offen!)
che Finanzaufsicht jetzt in Deutschland umsetzen wer-
– Hören Sie bitte zu, Herr Sieling. Ich sage auch – das
den. Die Zersplitterung, die zu dem Chaos geführt hat,
meine ich vollkommen ernst –: Ich glaube, die Banken
wird also jetzt von uns beseitigt, nicht von Ihnen, die Sie
haben immer noch nicht verstanden, was sie vielen Ver-
immer so tun, als ob Sie in den letzten Jahren nicht an
brauchern und dem Steuerzahler angetan haben.
der Regierung gewesen seien.
(Beifall des Abg. Dr. Carsten Sieling [SPD])
(Beifall bei der FDP)
Bei vielen ist diese Erkenntnis noch nicht reif. Das heißt,
Im Antrag steht außerdem, dass wir einheitliche Risi- wir Politiker müssen dafür sorgen, dass die Banken den
koklassen wollen. Ich muss sagen: In diesem Punkt ist Verbraucher nicht zum Spielball machen und dass sich
der Antrag gut. Das gilt für alle Punkte, die Sie von der so ein Desaster wie mit den Lehman-Zertifikaten nicht
FDP abgeschrieben haben. Wir fordern das nämlich wiederholt.
schon länger.
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Die ver-
(Beifall bei der FDP – Lachen bei der SPD und lassen sich darauf, dass Sie nichts machen, die
der LINKEN) Banker!)
Von daher muss ich sagen: Schauen wir uns doch einmal Wir brauchen gute Regelungen. Zu guten Regelungen
an, was Sie tun. Was Sie vergessen, ist: Für uns ist Ver- gehört aber auch, dass wir schlechte Beratung nicht zu-
braucherschutz ein Bürgerrecht. Die FDP ist die Bürger- lassen dürfen. Es kann doch nicht sein, dass ich zum Ba-
rechtspartei in Deutschland, und deswegen setzen wir cken von Brötchen einen Meisterbrief brauche, für den
uns dafür ein. Vertrieb von Finanzprodukten ist das aber vollkommen
egal. Aus diesem Grund sagen wir: Qualifikation, Regis-
(Beifall bei der FDP – Lachen bei der SPD und trierung und Berufshaftpflicht für die Branche sind ein
der LINKEN – Jörn Wunderlich [DIE Baustein, den wir für mehr Verbraucherschutz einbrin-
LINKE]: Seit wann? – Dr. Kirsten Tackmann gen wollen.
[DIE LINKE]: Das merken wir jeden Tag!)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
– Jeden Tag? Ich merke es jede Stunde, Frau Tackmann. der CDU/CSU)
Ich gestehe, dass auch in dieser Bundesregierung Wir werden die Ausweitung des Verbraucherinforma-
noch nicht alles paletti ist. tionsgesetzes auf den Bereich der Finanzaufsicht unter-
(B) stützen. (D)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Zum Antrag der Linken sage ich Ihnen aber: Sie be-
der CDU/CSU – Lachen bei der SPD und der
gehen einen Denkfehler, und zwar einen gravierenden.
LINKEN)
Deswegen können wir Ihrem Antrag nicht zustimmen.
Ich weiß, dass wir noch etwas tun müssen. Aber wir ha- Wenn Sie nämlich eine Verlängerung der Verjährungs-
ben in vier Monaten mehr getan, als Sie in elf Jahren je- fristen für Falschberatung auf 30 Jahre fordern, dann
mals hinbekommen haben. frage ich mich, welche Maßstäbe Sie für Falschberatung
ansetzen. Wer kann denn die Dividende einer Aktie oder
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten den Kurs einer Anleihe in 30 Jahren voraussagen? Das
der CDU/CSU – Joachim Poß [SPD]: Das ist geht nicht.
im Protokoll!)
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das sind
Es geht um einen effizienten Verbraucherschutz. Das sechs Fünfjahrespläne!)
heißt, wir wollen nicht mehr Auflagen und nur Beweis- Das können Sie vielleicht für Altersvorsorgemodelle
pflichten einführen, die den Verbrauchern nichts brin- machen. Es wäre kontraproduktiv, dem Verbraucher vor-
gen. Ich möchte keine 20-seitigen Protokolle haben, in zugaukeln, dass er 30 Jahre Sicherheit hat.
denen sich die Banken dann absichern.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP)
(Joachim Poß [SPD]: Aber das Plenarprotokoll
ist auch sehr interessant!) Besonders problematisch ist, dass Sie das Ganze mit der
Beweislastumkehr koppeln. Was würde denn dann pas-
Ich habe lieber ein Blatt, eine Seite im Sinne des Ver- sieren? Die Banken würden alle ihre Finanzprodukte in
brauchers. Das ist besser als viel Bürokratie, die von der die höchste Risikoklasse einordnen. Das müssen sie,
einen Seite gefordert wird. wenn sie ordentlich wirtschaften wollen, weil sie keine
30 Jahre vorausschauen können. Aus diesem Grund ist
(Beifall bei der FDP) die Kombination dieser beiden Maßnahmen absolut un-
Beipackzettel sind effizient, wenn wir branchenweit realistisch. Damit tun Sie dem Verbraucherschutz nichts
einheitliche Risikoklassen haben. Dann haben wir Ver- Gutes.
gleichbarkeit und Transparenz. Das macht dann auch Unsere Vorschläge gehen weiter. Wir wollen transpa-
eine gesetzliche Regelung überflüssig. Lassen Sie uns rente und verständliche Produktinformationen, einheitli-
nun einen Schritt nach vorne machen, um in diesem Be- che Beipackzettel und Informationen für den Verbrau-
reich etwas zu erreichen. cher über Provisionen. Gleichzeitig wollen wir mehr
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2465
Dr. Erik Schweickert
(A) Wettbewerb zwischen den Ratingagenturen. Ein doppel- auch Frau Aigner angekündigt haben. Ich glaube aller- (C)
tes Rating sollte dazu führen, dass man unabhängig von dings, dass Ideenwettbewerb eher ein Euphemismus für
nur einer Ratingagentur wird. Das sind unsere Punkte, schwarz-gelben Dauerstreit und Reformverweigerung
um im Verbraucherschutz voranzukommen. Nach unse- ist.
rem Modell soll der Verbraucher frei entscheiden, wie er
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
sein Geld anlegt. Nicht der Staat sollte vorgeben, wel-
bei der SPD und der LINKEN)
ches Produkt gut oder schlecht ist. Wir wollen diese An-
gebotsvielfalt, und dafür werden wir uns auch einsetzen. Sie sprechen von Ideen. Normalerweise sind Ideen et-
was Neues. Aber die Ideen, die uns Herr Schäuble in der
(Beifall bei Abgeordneten der FDP)
Presse mitgeteilt hat, sind eigentlich schon lange auf
Wir wollen keine Bevormundung, wie Sie es wollen, dem Ideenmarkt. 2008 hat die grüne Fraktion auf Initia-
sondern wir wollen Transparenz. Wir wollen keine tive meines Kollegen Gerhard Schick eine strengere Re-
Schaufensterpolitik, wie sie in Ihrem Antrag zum Aus- gulierung des grauen Kapitalmarkts gefordert. Abge-
druck kommt, sondern effizienten Verbraucherschutz, lehnt von FDP, CDU/CSU und SPD.
der die Verbraucher in die Lage versetzt, ihre Anlageent- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Nein! Wir ha-
scheidung auf der Basis umfassender Informationen zu ben angeboten, dazu eine Anhörung zu ma-
treffen. chen!)
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Schon 2007 haben wir in den Debatten zur MiFID eine
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten stärkere Regulierung der geschlossenen Fonds gefordert.
der CDU/CSU) Abgelehnt von eben diesen drei Fraktionen. Das finden
wir sehr schade. Ich glaube, wenn man vom Ideenwett-
bewerb spricht, dann sollte man sich auch ehrlich ma-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
chen und sagen, welche Initiativen in dieser Richtung
Das Wort hat nun Kollegin Nicole Maisch für die man in der Vergangenheit abgelehnt hat. Ich finde, die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Bundesregierung muss jetzt zeigen, ob sie mehr als gute
Pressearbeit kann. Sie müssen zeigen, ob Sie die Kon-
Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): flikte mit der Branche beim Thema Provisionen, beim
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich Thema Beweislastumkehr und beim Thema Kostentrans-
glaube, es gibt keinen Zweifel in diesem Haus, dass parenz aushalten. Die Frage ist doch: Was geben Insti-
beim Thema Anlegerschutz Handlungsbedarf besteht. tute wie die Commerzbank, die wir mit Steuermilliarden
Da genügt ein Blick in die Presse der letzten Wochen: und mit Kapitalhilfegarantien gestützt haben, eigentlich
(B) Bankentest der Stiftung Warentest, Verbraucherzentrale der Gesellschaft zurück? Ich bin sehr gespannt, wie Sie (D)
NRW stellt den Banken ein mieses Zeugnis beim Bera- im Ideenwettbewerb zwischen Union und FDP über das
tungsprotokoll aus. Die aktuelle Wirtschaftswoche titelt: Thema Abgabe diskutieren werden.
„Legt die Banken an die Kette!“ Wir alle kennen die
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
volkswirtschaftlichen Schäden, die Falschberatung und
Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das werden
spektakuläre Pleiten wie die von Lehman, Göttinger
konkrete Maßnahmen und kein Wettbewerb,
Gruppe oder Phönix ausgelöst haben. Diese Debatte ist
Frau Kollegin!)
also überfällig, und bei allen Zweifeln, die man an ein-
zelnen Forderungen im Antrag der Linken haben kann Wenn Frau Aigner große Ankündigungen zum Thema
– ich nenne den Produkt-TÜV oder die Verbraucher- finanzieller Verbraucherschutz macht, dann frage ich
schutzbehörde –, benennen sie doch die richtigen Pro- mich, warum man im Haushaltsentwurf diese großen Ini-
bleme: unregulierter grauer Kapitalmarkt, Provisions- tiativen mit der Lupe suchen muss.
system, Verkaufsdruck, mangelnde Regulierung bei
bestimmten Produkten. Das heißt, die Themen sind be- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
nannt, aber wie so oft von der Opposition und nicht von Wenn man so viel Verbraucherschutz machen will, dann
den Fraktionen, die hier im Haus die Mehrheit haben, müsste sich das im Haushalt wiederfinden.
oder gar von der Regierung.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
bei der SPD und der LINKEN)
Beim Thema Regulierung ist eine nüchterne Debatte
Die Regierung zieht es vor, mit dem Gesetzgeber über angebracht. Im Antrag der Linken wird sehr sachlich
Pressemitteilungen zu kommunizieren. Das kann ich gut analysiert. Die Union ist leider nicht so sachlich. Herr
verstehen; denn Pressemitteilungen müssen nicht durch Altmaier von der CDU/CSU spricht davon, dass wir den
das Kabinett und nicht durch den Koalitionsausschuss. kollektiven Rinderwahnsinn im Bankensektor beenden
wollen. Wenn Sie glauben, dass man Rinderwahnsinn
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit Pressemitteilungen beenden kann, dann ist die Re-
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- gierungsbank für Schwarz-Gelb der falsche Sitzplatz.
KEN)
Ich bedanke mich.
Sie wollen uns mit Überschriften abspeisen, wohingegen
die Bürger und auch die betroffene Branche Konzepte (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
erwarten. Ich bin sehr gespannt auf den Ideenwettbe- bei der SPD und der LINKEN – Zurufe von
werb, den Herr Brüderle, Herr Schäuble und vielleicht der CDU/CSU: Oh!)
2466 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

(A) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Die Dokumentations- und Informationspflichten wur- (C)
Das Wort hat nun Lucia Puttrich für die CDU/CSU- den verbessert
Fraktion.
(Caren Lay [DIE LINKE]: Sie wirken aber
(Beifall bei der CDU/CSU) nicht!)
und die Verjährungsfristen verlängert.
Lucia Puttrich (CDU/CSU):
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Las- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Richtig!)
sen Sie mich zunächst eines feststellen: Es gibt einen
Gerade das Beratungsprotokoll, das seit Anfang dieses
wesentlichen Unterschied zwischen der Opposition und
Jahres Pflicht ist, stärkt den Verbraucher, da sich damit
der Regierung. Die Opposition redet, die Regierung han-
Fehler in der Beratung konkret nachweisen lassen. Wenn
delt.
Kunden erklären, risikoarm anlegen zu wollen, kann am
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ende der Beratung nicht der Abschluss einer hochriskan-
Caren Lay [DIE LINKE]: Oh! – Lachen bei ten Anlageform stehen. Einige Banken haben dieses Be-
der SPD – Christian Lange [Backnang] [SPD]: ratungsprotokoll als Chance und als Wettbewerbsvorteil
Wo leben Sie eigentlich? Das glauben Ihnen begriffen.
die eigenen Leute nicht!)
Leider gibt es – darauf sind Sie eingegangen – auch
Der heutige Antrag der Linken ist betitelt mit „Finan- Missbräuche. Bei der telefonischen Anlageberatung
ziellen Verbraucherschutz stärken – Finanzmärkte ver- wurden die gesetzlichen Vorgaben umgangen, indem Be-
brauchergerecht regulieren“. Das klingt erst einmal sehr rater zwei Anrufe tätigten. Beim ersten Telefonat gab der
vielversprechend, enttäuscht ist man dann aber umso Berater Empfehlungen, beim zweiten Telefonat kam es
mehr. Einzelne Forderungen Ihres Antrags, werte Kolle- dann zur Order. In anderen Fällen ließen sich die Berater
ginnen und Kollegen, sind durchaus diskussionswürdig. durch Unterschrift des Kunden von der Haftung freistel-
Aber in der Gesamtheit regulieren Sie nicht, sondern Sie len. Diese Entwicklung, die auch Gegenstand der Unter-
strangulieren. suchung der Verbraucherschutzzentrale Nordrhein-West-
falen war, werden wir im Auge behalten. Wir werden
(Beifall bei der CDU/CSU) Missbräuche nicht tolerieren und gegebenenfalls darauf
Deutlich wird jedenfalls, dass sich unser Bild des Ver- reagieren.
brauchers von Ihrem erheblich unterscheidet.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Dorothea Steiner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(B) NEN]: Das stimmt!) Eine weitere Verbesserung ist das Produktinforma- (D)
tionsblatt, das den Verbraucher über die entscheidenden
Wir setzen auf die Stärkung des Verbrauchers. Dabei Merkmale eines Finanzproduktes informiert: Kosten, Ri-
steht der gut informierte und zu selbstbestimmtem Han- siken, Laufzeit, Funktionsweise und Renditen. Der Bun-
deln befähigte und mündige Verbraucher im Zentrum desverband deutscher Banken hat mit der Vorstellung ei-
unserer Politik. Sie hingegen neigen dazu, eine Vollkas- nes einheitlichen Informationsblattes einen wichtigen
komentalität aufzubauen. Schritt getan.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Zuruf von der SPD: Aber nur der!)
Eine Anlage mit hoher Rendite birgt häufig ein hohes Der Bundesverband der Deutschen Volksbanken und
Risiko. Die Entscheidung, ob ein Verbraucher dieses Ri- Raiffeisenbanken zog am vergangenen Freitag mit der
siko eingehen will, trifft letztendlich er selbst. Ankündigung nach, im Frühjahr ebenfalls ein standardi-
(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Ach so! Nicht siertes Produktinformationsblatt anzubieten.
Lehman ist schuld, sondern sie sind selber (Joachim Poß [SPD]: Das ist wie bei dieser
schuld!) Regierung: Es ist alles Ankündigung! Die Ko-
Deshalb gilt: Der beste Schutz vor Fehlanlagen ist Infor- alition besteht aus Ankündigungen! Eine An-
mation. Was man nicht versteht, das sollte man auch kündigungskoalition ist das!)
nicht kaufen. – Regen Sie sich doch nicht auf, sondern hören Sie ein-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- fach einmal bis zum Ende zu! – Zu Recht mahnt Bun-
neten der FDP – Manfred Zöllmer [SPD]: Ah desministerin Aigner jedoch ein bundesweit einheitli-
ja!) ches Produktinformationsblatt an. Ein Flickenteppich
nutzt niemandem, weder dem Kunden noch dem Berater.
Vollkommen unhaltbar ist Ihre Behauptung, dass die
Bundesregierung bis heute keine durchgreifenden Schritte (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
zur Ordnung der Finanzmärkte unternommen habe. Ich der FDP)
darf Sie hier allein an die Finanzmarktstabilisierungsge- Deshalb werden wir auch genau beobachten, was sich
setze erinnern. Genauso wenig ist es zutreffend, dass da tut. Wenn die Banken nicht mitziehen, müssen wir
keine bessere Regulierung für Verbraucherinnen und Ver- notfalls gesetzlich regeln.
braucher stattgefunden habe. Ich kann nur sagen: Sie ha-
ben hier offensichtlich eine sehr selektive Wahrnehmung. (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Wann?)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2467
Lucia Puttrich
(A) Wir sind uns doch alle einig, dass wir die Finanzaufsicht Ich komme zum Ende. Der Antrag der Linken ist (C)
verbessern müssen. Dafür haben wir konkrete Vor- nichts Neues. Er wirkt wie ein Sammelsurium oder ein
schläge. Versandhauskatalog mit allen Forderungen, die bisher
zum finanziellen Verbraucherschutz gestellt wurden.
(Joachim Poß [SPD]: Da warten wir mal ab!
Da sind wir gespannt!) (Caren Lay [DIE LINKE]: Die von Ihnen nicht
umgesetzt sind!)
Der Verbraucherschutz muss als Aufsichtsziel gesetzlich
verankert werden. So viele Regeln wie möglich und so wenig Eigenverant-
wortung wie nötig – das scheint dabei die Devise zu
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) sein. Damit helfen Sie den Verbrauchern nicht, sondern
Verbraucherverbände und das Bundesverbraucher- damit entmündigen Sie sie.
schutzministerium sollen in die Gremien bei der Finanz- (Caren Lay [DIE LINKE]: So ein Unsinn! –
aufsicht einbezogen werden. Verbraucherverbände sollen Weitere Zurufe von der LINKEN: Oh!)
die Möglichkeit eines Beschwerdeverfahrens bekommen,
mit dem die Finanzaufsicht in konkreten Fällen zum Deshalb lehnen wir den Antrag ab.
schnellen Einschreiten aufgefordert werden kann. Das
hilft Verbrauchern sofort und effektiv. Sammelklagen (Beifall bei der CDU/CSU)
hingegen lehnen wir ab. Diese eröffnen in erster Linie ei-
nen lukrativen Markt für Anwaltskanzleien. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ich schließe die Aussprache.
neten der FDP – Caren Lay [DIE LINKE]: Un- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
sinn!) Drucksache 17/887 an die in der Tagesordnung aufge-
Die Finanzaufsicht muss die Möglichkeit haben, vor führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
unseriösen Produkten und Anbietern zu warnen. Im Le- jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP
bensmittelsektor ist dies gängige Praxis. Dies muss auch wünschen Federführung beim Finanzausschuss, die
für den Finanzsektor gelten und im Wertpapierhandels- Fraktion Die Linke wünscht Federführung beim Aus-
gesetz entsprechend geregelt werden. Ein EU-Finanz- schuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucher-
TÜV für alle Finanzprodukte, wie die Linken ihn for- schutz.
dern, ist vollkommen unrealistisch. Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
(B) (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Stellen Sie Fraktion Die Linke abstimmen, also Federführung beim (D)
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
einen Änderungsantrag!)
cherschutz. Wer stimmt für diesen Überweisungsvor-
Eine seriöse Bewertung von circa 800 000 Finanzpro- schlag der Linken? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
dukten – davon sind circa 350 000 Zertifikate – allein gen? – Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen
auf dem deutschen Markt ist überhaupt nicht zu leisten. von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen von
Hinzu kommt, dass Bewertungen von heute aufgrund Linken und Grünen abgelehnt.
sich verändernder wirtschaftlicher und politischer Rah-
Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvor-
menbedingungen schon morgen falsch sein können.
schlag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP, also
Stichproben hingegen sind selbstverständlich sinnvoll.
Federführung beim Finanzausschuss. Wer stimmt für
Wichtig ist für uns außerdem, dass freie Finanzver- diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? –
mittler ihre Qualifikation künftig nachweisen, sich regis- Enthaltung? – Der Überweisungsvorschlag ist mit den
trieren lassen und eine Haftpflichtversicherung abschlie- gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenom-
ßen müssen. men.
(Beifall bei der CDU/CSU) Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Lassen Sie mich noch einige wenige Worte zum Beratung des Antrags der Abgeordneten
grauen Kapitalmarkt sagen. Der graue Kapitalmarkt darf Dr. Konstantin von Notz, Beate Müller-Gemmeke,
keine Grauzone sein. Deshalb begrüßen wir, dass Fi- Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der
nanzminister Schäuble im April einen Gesetzentwurf Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
vorlegen wird, der sich konkret mit der Verschärfung der
ELENA aussetzen und Datenübermittlung
Anforderungen an die Beratung und Vermittlung beim
strikt begrenzen
Vertrieb von Produkten des grauen Kapitalmarkts be-
fasst. – Drucksache 17/658 –
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Beratungsprotokolle werden dann auch dort Pflicht. Die Innenausschuss (f)
Rechtsausschuss
Regelung für Wertpapiere war ein guter Anfang, reicht Ausschuss für Arbeit und Soziales
aber nicht aus. Wir begrüßen, dass in dem Gesetzentwurf Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
auch mehr Transparenz bei Provisionen vorgesehen ist. Federführung strittig
2468 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C)
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Nach den vielen Skandalen mit Beschäftigtendaten in
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen der jüngsten Vergangenheit steht es uns wirklich gut an,
Konstantin von Notz, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, bei dieser zentralen Datensammlung kritisch innezuhal-
das Wort. ten, das Gesetz zurückzunehmen, ELENA zurückzuho-
len und das große Missbrauchspotenzial, das bei dieser
zentralen Datenspeicherung gegeben ist, zu beseitigen.
Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Wir fordern deswegen eine Stärkung des informationel-
NEN):
len Selbstbestimmungsrechts. Es ist erforderlich, dass
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und sich die Betroffenen jederzeit über die Daten über sie,
Kollegen! Seit dem 1. Januar 2010 werden mit dem so- die weitergegeben werden, informieren können. Gegen
genannten elektronischen Entgeltnachweis, kurz: ELENA, falsche oder negative Informationen, die weitergegeben
die Daten von über 30 Millionen Arbeitnehmerinnen werden, müssen sich die Betroffenen rechtlich effektiv
und Arbeitnehmern zentral gespeichert und verwaltet. zur Wehr setzen können. Außerdem brauchen wir eine
Wir sprechen hier heute Abend über den Antrag meiner konkrete Einschätzung der Kosten, die durch ELENA
Fraktion, ELENA umgehend auszusetzen und ganz entstehen. Auch dort bestehen große Verunsicherungen.
grundlegend zu überarbeiten. Das ist auch zwingend not- ELENA erfüllt all diese Anforderungen heute nicht, und
wendig; deswegen brauchen wir die umgehende Aussetzung.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
denn in der vorliegenden Form ist ELENA zu bürokra-
tisch und intransparent und erhebt zu viele Daten ohne Ganz zum Schluss möchte ich Ihnen folgenden Gedan-
ausreichende Sicherheitsvorkehrungen. Das Fazit: ken mitgeben – das jüngste Bundesverfassungsgerichts-
ELENA ist – auch in der Fastenzeit – zu datenhungrig und urteil hat sich zur anlasslosen Datenspeicherung geäu-
muss ordentlich abspecken. ßert; ich darf Ihnen diese zwei Sätze noch vorlesen –:
Es stimmt: ELENA selbst gingen rot-grüne Überle- Die verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit einer
gungen zur sogenannten Jobkarte voraus. Ziel war es, vorsorglich anlasslosen Speicherung der Telekom-
Bürokratieabbau und Verwaltungsvereinfachung zu er- munikationsverkehrsdaten setzt voraus, dass diese
langen. Aber man kann eben auch gute Ideen schlecht eine Ausnahme bleibt. … Durch eine vorsorgliche
(B) umsetzen. Genau so ist es mit diesem Gesetz: ELENA Speicherung der Telekommunikationsverkehrsda- (D)
ist gut gemeint, aber schlecht gemacht. ten wird der Spielraum für weitere anlasslose Da-
tensammlungen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
– wie ELENA –
Dass das so ist, werden Sie alle, die hier zu dieser späten
Abendstunde sitzen, selbst erfahren; denn es kommen auch über den Weg der Europäischen Union erheb-
viele kritische Briefe und Beschwerden von Bürgerinnen lich geringer.
und Bürgern, von kleinen und mittleren Betrieben. Es
besteht eine große Unsicherheit bei Arbeitnehmern, aber Sie hören also, meine Damen und Herren: Für anlass-
auch bei Arbeitgebern. lose Datenerhebungen sind die Spielräume sehr eng, zu
eng für ein so unausgegorenes Gesetz.
Zugleich hat die sogenannte ELENA-Petition, die die
sofortige Aufhebung fordert, 27 500 Zeichnerinnen und Herzlichen Dank.
Zeichner gefunden. Diese teilen ihre Sorge bezüglich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
dieses Datenmonsters mit Datenschützern, Gewerk-
schaften und Arbeitgeberverbänden, die alle sofortige
Nachbesserungen fordern. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Kai Wegner für die CDU/CSU-
Die Grundprobleme sind trotz einiger kleiner kosme- Fraktion.
tischer Überarbeitungen im Dezember, also kurz vor In-
krafttreten von ELENA, nicht gelöst: (Beifall bei der CDU/CSU)

Daten von Millionen von Menschen werden anlasslos


Kai Wegner (CDU/CSU):
erhoben. Ob und wie all die erhobenen Daten jemals
Verwendung finden, ist im Einzelfall völlig offen. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr
ELENA ist intransparent. Im Gesetz selbst ist nicht Dr. Notz, wir beraten heute in der Tat einen Antrag Ihrer
eindeutig festgelegt, was nach den Grundsätzen der Fraktion zum sogenannten ELENA-Verfahren. Ich bin
Zweckbindung, der Erforderlichkeit und der Datenspar- sehr froh, dass Sie diesen Antrag gestellt haben, weil ich
samkeit gespeichert werden darf. Das allein ist ein Ver- die nächsten Minuten nutzen möchte, Fakten darzulegen
stoß gegen den Bestimmtheitsgrundsatz und ist deswe- und auch auf einige Kritikpunkte, die Sie in Ihrem An-
gen inakzeptabel. trag formuliert haben, einzugehen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2469
Kai Wegner
(A) Bürokratie kostet Zeit, und Bürokratie kostet Geld. Es Papierbescheinigungen überproportional belastet. Es ist (C)
kostet Zeit und Geld für die Bürgerinnen und Bürger, mit einem hohen Arbeits- und Zeitaufwand verbunden,
aber es kostet auch Zeit für die Unternehmerinnen und und oftmals muss darüber hinaus die Unterstützung von
Unternehmer und natürlich auch für die öffentliche Ver- Steuerbüros in Anspruch genommen werden.
waltung selbst. Wir wissen alle: Unnötige Formalien
Insgesamt hat sich bei der Bürokratiekostenmessung
bremsen jegliche wirtschaftliche Betätigung.
gezeigt, dass der Abruf von vorhandenen Daten in der
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) Praxis wenig Aufwand verursacht. Wenn aber Daten in
den Betrieben nicht vorliegen und extra gesammelt, auf-
Deshalb wird die christlich-liberale Bundesregierung bereitet oder umformatiert werden müssen, dann entsteht
Bürokratie abbauen und die Bürokratiekosten deutlich in den Betrieben unter Umständen ein sehr großer Auf-
senken. Ein wichtiger Schritt auf diesem Weg bleibt wand.
auch weiterhin die Einführung des elektronischen Ent-
geltnachweises, kurz: ELENA. Das Gesetz über das Ver- Herr Dr. Notz, angesichts genau dieser Beschwerden
fahren des elektronischen Entgeltnachweises ist und von kleinen und mittelständischen Unternehmen werden
bleibt ein wichtiger Meilenstein zum Abbau bestehender wir seitens der Koalition und seitens der Regierung bzw.
Bürokratie und ist gleichzeitig ein deutliches Signal für des Bundeswirtschaftsministeriums in Zusammenarbeit
ein Mehr an Innovationen. mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales
Überlegungen anstellen, ob Maßnahmen ergriffen wer-
Ich bin nach wie vor der Meinung, dass die Bürgerin- den sollen, die auf die besonderen Belange von kleinen
nen und Bürger sowie die Unternehmen in unserem und mittelständischen Unternehmen eingehen. Das be-
Land Anspruch darauf haben, dass staatliche Aufgaben grüße ich ausdrücklich; denn gerade kleine und mittel-
in hoher Qualität, serviceorientiert und effizient erfüllt ständische Unternehmen müssen entlastet werden.
werden. Daher müssen wir sukzessive bestehende Inno-
vationspotenziale für eine bessere Verwaltung nutzen. Aber, wohlgemerkt, mithilfe von ELENA kann ein
Genau das, meine Damen und Herren, ist das Anliegen kostenintensiver Medienbruch überwunden werden.
von ELENA. Denn für die fünf Bescheinigungsarten, die in das
ELENA-Verfahren einbezogen werden, ergibt sich nach
Rund 3 Millionen Arbeitgeber stellen Jahr für Jahr Schätzungen des Normenkontrollrates eine Entlastung
etwa 60 Millionen Bescheinigungen in Papierform aus. für die Unternehmen von rund 85 Millionen Euro. Diese
Diese Nachweise benötigen die Beschäftigten, um ge- Zahl ist eigentlich klar vom Normenkontrollrat ermittelt.
genüber öffentlichen Stellen die Voraussetzungen für Ich weiß nicht, warum sie infrage gestellt wird.
den Bezug einer bestimmten Leistung nachweisen zu
(B) können. Zwischen der elektronischen Personalverwal- Neben dem Wegfall von Archivierungspflichten für (D)
tung des Arbeitgebers und der elektronischen Sachbear- Arbeitgeber profitieren auch Behörden sowie Bürgerin-
beitung in den Behörden klafft eine Riesenlücke, die nen und Bürger von dem ELENA-Gesetz. Die Bürger
weiterhin durch den traditionellen Informationsträger profitieren durch eine schnellere und diskretere Ab-
Papier überbrückt wird. Dieser Medienbruch wird durch wicklung von Sozialleistungsverfahren ohne unnötige
das ELENA-Verfahren beseitigt. Mit dem ELENA- Wartezeiten. Die Behörden können Anträge durchgängig
Verfahren werden die heute schon in Papierform not- elektronisch effizient bearbeiten und dadurch Übertra-
wendigen Bescheinigungen der Arbeitgeber für die Be- gungsfehler vermeiden. Ein gut gemachter elektroni-
antragung von Sozialleistungen durch elektronische scher Entgeltnachweis kann also einen Beitrag zur Ent-
Meldungen an die Deutsche Rentenversicherung Bund bürokratisierung leisten, Bürokratiekosten senken,
ersetzt. Verwaltungsverfahren vereinfachen und so allen Betei-
ligten nutzen. Darüber sind wir uns mit dem Antragstel-
Mit der erstmaligen Meldung der Beschäftigtendaten ler einig; denn genau das schreiben Sie in Ihrem Antrag.
durch die Arbeitgeber, die mit dem 1. Januar dieses Jah-
res begann, werden zunächst nur Daten elektronisch er- Mir ist durchaus bewusst, dass es infolge zahlreicher
hoben und eingepflegt. Ab 2012 sollen dann insgesamt Fälle von Datenmissbrauch zu einer tiefen Verunsiche-
fünf Bescheinigungen, die für die Beantragung von drei rung in der Bevölkerung in Bezug auf das Speichern von
Sozialleistungen, nämlich Elterngeld, Wohngeld und Daten gekommen ist. Deshalb möchte ich heute aus-
Arbeitslosengeld I, erforderlich sind, elektronisch ersetzt drücklich betonen, dass das ELENA-Verfahren die
werden. Das hat zur Folge, dass Anträge auf Sozialleis- höchsten Datensicherheitsstandards erfüllt. Das gilt so-
tungen zukünftig wesentlich einfacher und schneller be- wohl für die Verschlüsselung der Daten als auch für die
arbeitet werden können, und das, meine sehr verehrten Möglichkeit des Abrufs; denn für das ELENA-Verfahren
Damen und Herren, ist unser Ziel. gelten die Bestimmungen zum Sozialdatenschutz des
SGB X und weitere im Gesetz festgelegte Schutzrechte.
Die Ermittlungen des Normenkontrollrats haben erge- Die Daten in der zentralen Speicherstelle werden nach
ben, dass alleine durch das papiergebundene Verfahren der Übermittlung durch den Arbeitgeber sofort über-
für die Beantragung und Berechnung der circa 6,5 Mil- prüft, zweifach verschlüsselt und erst danach gespei-
lionen Arbeitsbescheinigungen, die allein für das chert. Eine Entschlüsselung ist nur im Rahmen eines
Arbeitslosengeld I erforderlich sind, der Wirtschaft jähr- konkreten, durch den Bürger legitimierten Abrufs mög-
lich Bürokratiekosten in Höhe von rund 100 Millionen lich. Ein direkter Zugriff auf die Datenbank ist weder für
Euro entstehen. Insbesondere die kleinen und mittelstän- interne Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter noch für Au-
dischen Unternehmen sind durch das Ausstellen dieser ßenstehende möglich, da die Speicherung der Daten und
2470 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Kai Wegner
(A) deren Verschlüsselung in unterschiedlichen Verantwort- optimal umsetzen. Denn es bleibt dabei: Das ELENA- (C)
lichkeiten liegen. Verfahren revolutioniert die Art und Weise, wie wir in
unserem Land Verwaltung organisieren. Deshalb freue
Ab 2012 können die Arbeitnehmerinnen und Arbeit- ich mich auf den Diskussionsprozess und die Weiterent-
nehmer selbst mit einer Signaturkarte die Erlaubnis er- wicklung des Verfahrens. Ich wünsche mir eine kon-
teilen, ob ihre Daten abgerufen werden können oder struktive Diskussion.
nicht. Ohne diese Zustimmung können die Daten nicht
übertragen und auch nicht eingesehen werden. Auch (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
eine Verwendung der Daten zu anderen Zwecken ist ge- GRÜNEN]: Die werden wir nicht verwei-
setzlich geregelt und damit komplett ausgeschlossen. gern!)
Gerade vor diesem datenschutzrechtlichen Hinter- Herzlichen Dank.
grund halte ich ELENA für absolut gerechtfertigt. Aber
nichtsdestotrotz nehme ich die Kritik an der Datenerfas- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
sung sehr ernst. Ja, es hat Kritik gegeben; auch ich habe
Briefe bekommen. Das ist letztlich auch der Anlass für Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ihren Antrag. Es hat Kritik bei der Frage gegeben, ob
spezifische Daten erhoben werden sollen oder nicht, bei- Das Wort hat nun Doris Barnett für die SPD-Fraktion.
spielsweise hinsichtlich einer Streikteilnahme. Dass wir
diese Anmerkungen seitens verschiedenster Akteure Doris Barnett (SPD):
sehr ernst nehmen, sehen Sie daran, dass das Verfahren Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
in drei Punkten sehr konkret geändert wird: ist schon erstaunlich: Vor knapp acht Jahren – es wurde
Erstens. Am 15. Dezember letzten Jahres wurde auf schon darauf hingewiesen – haben wir während der rot-
der Sitzung des Beirates für ELENA beschlossen, dass grünen Regierungszeit den Grundstein für ELENA ge-
die Datengrundsätze überprüft werden. Die Bundesre- legt; damals hieß sie allerdings noch Jobcard. Wir woll-
gierung hat dem Wunsch des Beirats entsprochen, dass ten Arbeitsabläufe vereinfachen und haben uns, wie ich
die allgemeine Erhebung von Daten über eine Streikteil- finde, behutsam auf den Weg gemacht. In Projektphasen
nahme nicht mehr stattfindet. Es werden nur die Fehlzei- haben wir einzelne Schritte der Datenerfassung und -ver-
ten abgefragt und unter dem pauschalen Begriff „allge- arbeitung für Verdienst- und Arbeitsbescheinigungen ge-
meine Fehlzeit“ zusammengefasst. Ein weiterer Vorteil testet, Fehler eliminiert und das Verfahren optimiert, bis
des ELENA-Verfahrens ist darin zu sehen, dass der Ar- wir uns sicher waren, wie wir das Verfahren endgültig
beitgeber zukünftig keine Kenntnis darüber erlangt, ob gestalten wollen. Ziel war und ist nach wie vor, Büro-
(B) sein Arbeitnehmer einen Antrag auf Sozialleistungen kratie abzubauen und Kosten einzusparen, aber auch, (D)
stellt oder nicht. dass der Arbeitnehmer schneller zu seinen Leistungen
kommt.
Zweitens. Gerade der Aspekt der Datenerhebung ist
ein sehr sensibles Gebiet. Obwohl es ausschließlich Da- Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass man ein gu-
ten sind, die schon heute in Papierform erfasst werden, tes Gesetz immer noch besser machen kann. Aber wir
soll der ELENA-Beirat noch einmal alle zu erhebenden alle wissen: Warten wir darauf, bis ein Gesetz absolut
Daten auf ihre zwingende Notwendigkeit hin überprü- perfekt ist, dann warten wir auf den Sankt Nimmerleins-
fen. Ich bin der Meinung, dass nur das absolute Mini- tag. Aber nach acht Jahren war letztes Jahr der Zeitpunkt
mum, nur die wirklich unerlässlichen Daten, erhoben gekommen, um das Gesetz in Kraft treten zu lassen. Ih-
werden sollten. ren Optimierungsbemühungen blicken wir nun gespannt
entgegen.
Drittens. Bei der Entwicklung der Datengrundsätze
wurde die Arbeitnehmervertretung nicht von Anfang an Dennoch verlangen jetzt die Grünen, das ELENA-
mit einbezogen und angehört. Ich halte es aber für wich- Verfahren 40 Tage nach dem Start auszusetzen. Vor dem
tig, dass den Arbeitnehmervertretern ein Anhörungs- Start von ELENA war bekannt geworden, dass in dem
recht eingeräumt wird. Deshalb werden wir im SGB IV vom Arbeitgeber auszufüllenden Erfassungsbogen ne-
der Arbeitnehmervertretung ein gesetzlich verbrieftes ben bisher üblichen Angaben auch Zeiten angegeben
Anhörungsrecht einräumen, wenn über den Inhalt der zu werden sollten, in denen gestreikt oder ausgesperrt
erhebenden Daten entschieden wird. Das schafft Trans- wurde. Das war neu und so nicht vorgesehen. Wir Abge-
parenz und Vertrauen, welches wir für diesen dringend ordnete hatten das seinerzeit weder bei der Jobcard noch
notwendigen Schritt hin zu einer entbürokratisierten und bei ELENA auch nur angedacht. Deshalb wurden diese
damit modernen, zukunftsfähigen und serviceorientier- Datensätze bereits am 15. Dezember letzten Jahres vom
ten Verwaltung brauchen. Arbeitskreis „ELENA“ zu Recht aus dem Verfahren ent-
fernt. Ich halte deshalb fest: Die Angabe von Streik- und
Ich würde mir wünschen, dass sich auch die Opposi- Aussperrungstagen ist nicht mehr vorgesehen und wird
tion in diesem Haus konstruktiv an der weiteren Ent- auch ab dem Start von ELENA nicht mehr erhoben.
wicklung beteiligt. Sie haben es ja schon angemahnt. Es
ist durchaus eine Idee der rot-grünen Bundesregierung Ich möchte darauf hinweisen, dass es das Verfahren,
gewesen. Sie haben es aber in sieben Jahren nicht hinbe- anlasslose Daten für längere Zeit zu speichern, auch bei
kommen, das umzusetzen. Die Große Koalition hat es anderen Verfahren in der Sozialversicherung gibt. In die-
angepackt. Die christlich-liberale Koalition wird es jetzt ser Hinsicht ist ELENA nicht einzigartig.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2471
Doris Barnett
(A) (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Sperrzeiten verzichten. Als so weitgehend habe ich den (C)
GRÜNEN]: Das macht es nicht besser!) Antrag der Grünen dann aber doch nicht verstanden.
Die Grünen haben zwar in ihrer Begründung nochmals Nun fordern Sie allerdings noch, „nach Ablauf eines
ausdrücklich auf die Speicherung der Streikdaten hinge- Jahres die tatsächlich angefallenen Kosten von ELENA
wiesen; aber das ist aufgrund der Tatsache, dass der An- zu evaluieren“, und zwar mit dem Ziel, „kleine und mit-
trag erst am 9. Februar gestellt wurde, populistisch und telständische Betriebe vor einer unverhältnismäßigen
baut einen Popanz auf. Belastung zu bewahren“. Abgesehen davon, dass die
Evaluierung nach zwei Jahren sowieso vorgesehen ist
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE und sich die Einsparwirkung für die Unternehmen erst
GRÜNEN]: Oha!) ab 2012 zeigt, wenn die Datenbank aufgebaut und ein-
So wird verlangt, dass der Beschäftigte auf Wunsch mit- satzbereit ist
geteilt bekommt, welche Informationen der Betrieb an (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
die zentrale Speicherstelle übermittelt. GRÜNEN]: Das hoffen Sie!)
(Petra Pau [DIE LINKE]: Das ist doch das und deshalb keine Papierbescheinigungen mehr ausge-
Mindeste!) stellt werden können, könnte man im ersten Augenblick
Andersherum gesagt: Die Grünen unterstellen, dass die meinen, dass diese Forderung nützlich ist. Aber der Au-
Beschäftigten im Dunkeln gelassen werden. Ein Blick genblick verfliegt, und man weiß, dass seit 2006, also
ins Gesetz hätte aber genügt, um festzustellen, dass ein jetzt im fünften Jahr, alle Betriebe verpflichtet sind, den
solcher Anspruch längst besteht und garantiert ist, näm- Sozialversicherungen die Daten ihrer Beschäftigten
lich in § 103 SGB IV. Jeder Teilnehmer des ELENA- elektronisch zu melden.
Verfahrens hat selbstverständlich Anspruch, Auskunft Bis zum Beginn dieses Jahres haben die Krankenkas-
über die über ihn gespeicherten Daten zu erhalten. Viel- sen bei schätzungsweise 1 500 kleinen Betrieben von
leicht würde auch ein Blick auf die vom Arbeitgeber re- den über 3 Millionen in unserem Land, die die Daten
gelmäßig ausgestellte Gehaltsbescheinigung reichen; zum Teil über ihre Steuerberater oder ihre Lohnsteuerbü-
denn dort wird darauf hingewiesen, dass die in der Ge- ros weitergeleitet haben, die Weiterleitung in Papierform
haltsabrechnung angegebenen Daten an die zentrale contra legem zugelassen. Mit dieser Ausnahme ist jetzt
Speicherstelle weitergegeben werden. allerdings Schluss. Mit dem Beginn von ELENA, die
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Teil der sv.net-Datenmaske ist, müssen jetzt alle Be-
GRÜNEN]: Manche schauen nur auf die End- triebe elektronisch weiterleiten. Wer glaubt, sich unter
(B) summe der Gehaltsbescheinigung! Das ist Hinweis auf Kosten und Arbeitsbelastung im Zusam- (D)
auch nicht sehr effektiv!) menhang mit der Erfassung der ELENA-Daten weiterhin
auch der elektronischen Erfassung der Daten für Kran-
Es trifft zu, dass der Arbeitgeber nach dem bisherigen kenkassen und Rentenversicherungen entziehen zu kön-
Papierverfahren erst zu dem Zeitpunkt eine Arbeitsbe- nen, wird recht schnell merken, dass es dafür kein
scheinigung ausstellt, die für einen Wohnberechtigungs- Verständnis mehr gibt. Ausnahmen ziehen weitere Aus-
schein, für Wohngeld, Arbeitslosengeld usw. benötigt nahmen und immer auch Kosten nach sich. Deshalb Vor-
wird, wenn der Arbeitnehmer zu ihm kommt und einen sicht bei Ausnahmen!
solchen Entgeltnachweis verlangt. Für ELENA sind mo-
natlich vom Arbeitgeber weiterzuleitende Daten vorge- Ich frage an dieser Stelle die Grünen, ob sie allen
sehen, die zum großen Teil identisch sind mit denen, die Ernstes Klientelpolitik für 1 500 Betriebe betreiben wol-
auch an die Sozialversicherungsträger gehen. Das regelt len, da das doch eigentlich eine FDP-Spielwiese ist.
unter anderem der § 97 SGB IV. Aufgrund der gespei- (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
cherten Daten benötigt der Arbeitnehmer zukünftig nicht NEN – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/
mehr den Gang zum Arbeitgeber, wenn er eine Arbeits- DIE GRÜNEN]: Das hat geschmerzt!)
bescheinigung braucht. Er muss also keine Gründe mehr
angeben, wofür er die Bescheinigung braucht, weil er di- Die Betriebe bzw. deren Steuerberater und Lohnsteu-
rekt zur entsprechenden Stelle gehen kann und dort nach erbüros bekommen das Meldeprogramm für die Daten
dem Vieraugenprinzip die Bescheinigung erstellt wird. kostenlos vom sv.net zur Verfügung gestellt. In diesem
Im Sinne der Wahrung des Rechts auf informationelle kostenlosen Meldeprogramm für die Sozialversicherun-
Selbstbestimmung ist das ein großer Fortschritt. gen ist auch der Datensatz für ELENA enthalten. Hier
hat die Ersterfassung der Daten zu erfolgen. Das ist zwar
Auch nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses immer mühsam, aber wir erfinden das Rad doch nicht
braucht der Arbeitnehmer bzw. die Arbeitnehmerin nicht ständig neu.
mehr als Bittsteller aufzutreten und für eine Entgeltbe-
scheinigung anzustehen. Das heißt aber nicht, dass keine Lassen Sie mich im Zusammenhang mit dem Urteil
Angaben mehr zum Kündigungsgrund zu machen sind. des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeiche-
Eine Kündigung aus in der Person liegenden Gründen ist rung zum Schluss noch einen wichtigen Hinweis geben.
regelmäßig wertend. Sie war und bleibt Grundlage für Dort wurde festgestellt, welche Instrumente zur Gewähr-
mögliche Sperrzeiten, die von der Arbeitsagentur ver- leistung der Datensicherheit gegeben sein sollten. Das
hängt werden. Insoweit kann auf diese Daten gar nicht sind: getrennte Speicherung, asymmetrische Verschlüs-
verzichtet werden, außer man will zukünftig ganz auf selung, Vieraugenprinzip verbunden mit einem fort-
2472 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Doris Barnett
(A) schrittlichen Verfahren zur Authentifizierung für den Deutliche Kritik in der Öffentlichkeit wurde im Hin- (C)
Zugang zu den Schlüsseln und revisionssichere Proto- blick auf den Umfang des Datensatzes und die Belastung
kollierung von Zugriff und Löschung. Alle diese Vorga- für kleine und mittelständische Unternehmen geäußert.
ben beachtet ELENA. Sie ist also auf der Höhe der Zeit
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
und deshalb ein Vorbild für andere Verfahren. Aus die-
der CDU/CSU)
sem Gunde darf ELENA nicht ausgebremst werden. Das
Verfahren ist anzuwenden, nicht zuletzt im Interesse der Hier möchte ich ansetzen. Die Kritik an ELENA, die in
Beschäftigten. Deshalb lehnen wir den Antrag der Grü- dem vorliegenden Antrag der Kollegen von Bündnis 90/
nen ab. Die Grünen vorgebracht wird, geht im Wesentlichen in
die gleiche Richtung: Datenschutz und Belastung der
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
kleinen und mittelständischen Unternehmen. Der Daten-
der CDU/CSU)
schutz ist ein hochsensibles Thema. Gerade meine Partei
hat immer ein besonderes Augenmerk darauf.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Das Wort hat nun die Kollegin Claudia Bögel für die (Beifall bei der FDP – Dr. Konstantin von Notz
FDP-Fraktion. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann mal
los! – Klaus Barthel [SPD]: Lang, lang ist’s
(Beifall bei der FDP – Dr. Wolfgang Strengmann- her!)
Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt
Daher möchte ich in diesem Zusammenhang darauf hin-
klatschen sie noch! Gleich schlafen sie wie-
weisen, dass auf das Drängen der FDP die zuständige
der!)
Bundesministerin den Umfang der zu erhebenden Daten
zwischenzeitlich korrigiert hat.
Claudia Bögel (FDP):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und (Beifall bei der FDP)
Kollegen! Im Griechischen bedeutet Helena: die Strah- Meine Fraktion hat sich gegenüber der Bundesregierung
lende, die Leuchtende. Man könnte meinen, der Name auch dafür stark gemacht, die Erforderlichkeit der erho-
ELENA sei davon abgeleitet; doch weit gefehlt. ELENA benen Daten weiterhin strengstens zu prüfen.
bedeutet elektronischer Entgeltnachweis, was die Sache
entmystifiziert. Dennoch, Helena war eine maßgebliche Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang deutlich
und nicht unbedingt positiv besetzte Figur in der Ge- darauf hinweisen, dass wir mit der Entscheidung des
schichte des Trojanischen Krieges. Was könnte das für Bundesverfassungsgerichtes zur Vorratsdatenspeiche-
ELENA bedeuten? Licht und Schatten zugleich? Eines rung sehr zufrieden sind.
(B) ist klar: ELENA, die erst vor knapp zwei Monaten auf (D)
(Beifall bei der FDP)
den Laufsteg geschickt wurde, kann noch nicht jeden
Schritt richtig machen und alle Zuschauer und Beteilig- Ich möchte sagen: Ein sozialistischer Unrechtsstaat wie
ten im Lande restlos entzücken. die DDR mit einer Partei wie der SED hätte über die
Möglichkeiten, wie sie heute gegeben sind, sicherlich
(Beifall bei der FDP) frohlockt. Speicherungen von intimsten Daten, ja sogar
Die Bundesregierung verfolgt mit dem Verfahren das Geruchsproben waren, wie wir wissen, an der Tagesord-
Ziel, die Kosten der Unternehmen für Bürokratie deut- nung. Sozialismus macht eben nicht nur arm, sondern
lich zu senken. Bis Ende 2011 sollen sie eine Entlastung auch unfrei. Dieses Kapitel haben wir, Gott sei Dank, für
um 25 Prozent erfahren. unser Land abgeschlossen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) der CDU/CSU und des Abg. Josef Philip
Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Das ist ein hehres Ziel, und ELENA, um im Bild zu blei-
Wir leben in einer freiheitlichen Demokratie. Seien
ben, soll eine Lichtgestalt dieses Vorhabens werden.
Sie sicher: Meine Fraktion wird sich vehement gegen
Seit dem 1. Januar 2010, seit Inkrafttreten der ersten jedwede Freiheitsbeschränkung auflehnen.
Stufe des Gesetzes, sind die Arbeitgeber verpflichtet, die
(Beifall bei der FDP – Alexander Ulrich [DIE
Entgeltdaten ihrer Beschäftigten monatlich in Form ei-
LINKE]: Aha!)
nes elektronischen Datensatzes zu übermitteln. Ziel ist
es, die Arbeitgeber nachhaltig von der Ausstellung der Genau daher sehe ich es als eine Selbstverständlichkeit
unterschiedlichen Bescheinigungen in Papierform zu an, dass der Arbeitnehmer ein vollständiges Recht auf
entlasten. Im ersten Schritt gilt das für die Leistungsab- Selbstauskunft hat. Technische Schwierigkeiten, die dies
rechnungen bei Arbeitslosen-, Wohn- und Elterngeld. zurzeit noch verhindern, gilt es sofort zu überwinden.
Ab 2015 ist eine vollständige Abdeckung aller Arbeitge-
(Beifall bei der FDP)
berbescheinigungen geplant. ELENA soll die Beantra-
gung und Bewilligung von Sozialleistungen und das Be- Als Beauftragte für den Mittelstand im Wirtschafts-
scheinigungswesen vereinfachen und beschleunigen. ausschuss möchte ich den Fokus neben dem Thema Da-
Seit zwei Monaten sind 600 000 Arbeitgebersendungen tenschutz vor allem auf die Reaktionen der kleinen und
gezählt worden, von denen bereits 85 Prozent verarbeitet mittelständischen Unternehmen lenken. Erst gestern
wurden. So viel zur Lichtgestalt ELENA. habe ich mit einem münsterländischen Unternehmer te-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2473
Claudia Bögel
(A) lefoniert und ihn nach seinen Erfahrungen mit ELENA Vater von ELENA gilt ein gewisser Peter Hartz; Sie wis- (C)
gefragt. Seine Erfahrungen mit ELENA waren eher düs- sen, das nahm kein rühmliches Ende. Dann wurde
ter als lichterfüllt. ELENA ein Ziehkind von Kanzler Gerhard Schröder;
auch das war für dieses Vorhaben kein gutes Omen. Spä-
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
ter erhielt Interimsminister Michel Glos, CSU, eine
GRÜNEN]: Ja, so ist es! Düster!)
zweifelhafte Auszeichnung für ELENA, nämlich den
Die mittelständischen Unternehmen bilden das Rück- Big-Brother-Award. Kurzum, mit ELENA ist kein Staat
grat der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit unseres zu machen. Wir sollten die Chance nutzen und ELENA
Landes. Wir dürfen sie nicht durch ELENA belasten. Im endlich in den Ruhestand schicken.
Gegenteil, in meinen Augen muss alles darangesetzt
werden, kleine und mittelständische Betriebe von Büro- (Beifall bei der LINKEN – Ernst Hinsken
kratie zu entlasten. [CDU/CSU]: Die ist noch zu jung!)

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ELENA ist ein elektronisches System, mit dem per-
der CDU/CSU – Dr. Konstantin von Notz sönliche Daten unbekannter Menge von zig Millionen
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stimmen Sie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zentral und auf
unserem Antrag zu!) Vorrat erfasst werden sollen. Ähnlichkeiten mit der Vor-
ratsdatenspeicherung sind nicht zufällig. Das Bundes-
Die bürokratischen Hürden für die mittelständischen Un- verfassungsgericht hat am 2. März 2010 geurteilt: Unbe-
ternehmen haben in den vergangenen elf Jahren mons- stimmte Vorratsspeicherungen sind verfassungswidrig.
tröse Formen angenommen. Unser Staat ächzt unter un- Die Linke hält die ausufernde Speicherung von Arbeit-
nötiger Bürokratie, die dazu geführt hat, dass der Mittel- nehmerdaten für verfassungswidrig. Ich muss ehrlich ge-
stand immer weiter schrumpft. Das muss sich ändern. stehen: Ich wünsche ELENA lieber einen schnellen Ab-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gesang im Bundestag als einen üblen Nachruf in
der CDU/CSU) Karlsruhe. Viel zu oft musste dort in letzter Zeit repariert
werden.
Ein Schüler hat bereits vor einigen Jahren in einem
Schulaufsatz mit unfreiwilligem Humor geschrieben: (Beifall bei der LINKEN)
Zuerst hatten wir das Matriarchat, dann hatten wir das Es stimmt – man sieht es an der langen Geschichte –:
Patriarchat, und heute haben wir das Sekretariat. ELENA führte lange ein Schattendasein, bis offenbar
(Vereinzelt Heiterkeit) wurde, dass nicht nur Gehalts- und Steuerdaten zentral
gespeichert werden sollen, sondern auch Daten über
(B) Leider hat er recht behalten. Krankheiten, Streikteilnahmen, Kündigungen und ande- (D)
Deshalb werden wir Maßnahmen ergreifen, ELENA res mehr. Das war vor drei Monaten. Die Empörung
hübsch schlank werden zu lassen, damit sie auch für ei- schwoll an, und flugs schwor die Regierung Besserung.
nen kleinen und mittleren Betrieb die richtige Figur ab- Ich habe nachgefragt. Ich wollte wissen: Welche Da-
gibt. Mit dem ELENA-Verfahrensgesetz sind wir auf ten werden denn nun wirklich erhoben und zentral ge-
dem richtigen Weg. Wir haben erste Reparaturen vorge- speichert? Vor 14 Tagen erhielt ich eine schriftliche Ant-
nommen und werden damit zu einer echten Entbürokra- wort aus dem Bundesministerium für Arbeit und
tisierung beitragen. Soziales. Der Verfasser dieser Antwort ist jetzt leider
Lassen Sie uns ELENA weiter aufhübschen, damit sie hier nicht anwesend. Die Antwort ist nichtssagend und
zur begehrten Lichtgestalt Helena wird. So können alle eine Missachtung des Bundestages. Außerdem ist sie
Beteiligten zum Schluss rufen: Heureka! eine Irreführung der Bevölkerung. Wie die Bundesregie-
rung mit ELENA und dem Nachbesserungsbedarf um-
Danke. geht, den sie angeblich selbst erkannt hat, spricht Bände.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Nun hat heute die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
beantragt, das Vorhaben ELENA auszusetzen und die
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: vorgesehene Datenübermittlung strikt zu begrenzen.
Frau Kollegin Bögel, das war Ihre erste Rede im Dem wird die Fraktion Die Linke zustimmen. Aber un-
Deutschen Bundestag. Ich gratuliere Ihnen dazu sehr sere Forderung geht weiter. Wir wollen ein Moratorium
herzlich und wünsche Ihnen für Ihre weitere Arbeit viel für alle elektronischen Großprojekte, die datenschutzre-
Erfolg. levant sind.
(Beifall) (Beifall bei der LINKEN)
Nun hat die Kollegin Petra Pau für die Fraktion Die Wir wollen, dass die Bundesregierung auf den Boden
Linke das Wort. des Grundgesetzes zurückkehrt. Ein solches Moratorium
(Beifall bei der LINKEN) müsste ELENA betreffen, ebenso das SWIFT-Abkom-
men zur Weitergabe von Bankdaten, auch die elektroni-
sche Gesundheitskarte und die Passagierdaten, die auf
Petra Pau (DIE LINKE): Nimmerwiedersehen in die USA verschwinden.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich beginne mit einem historischen Exkurs. Als geistiger (Beifall bei der LINKEN)
2474 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Petra Pau
(A) Zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kollegen, noch Hunko, weiterer Abgeordneter und der Fraktion (C)
eine Rechnung: ELENA soll einen finanziellen Nutzen DIE LINKE
von netto 85 Millionen Euro erbringen. Dafür sollen Da-
ten von 40 Millionen Bürgerinnen und Bürgern erfasst Gegen Armut und soziale Ausgrenzung – So-
und auf Vorrat gespeichert werden: Daten, die sich ziale Fortschrittsklausel in das EU-Vertrags-
fortan jedweder Kontrolle der Beschäftigten entziehen, werk aufnehmen
Daten, die, einmal angehäuft, große Begehrlichkeiten – Drucksache 17/902 –
wecken werden, Daten, die laut Grundgesetz einen be-
Überweisungsvorschlag:
sonderen Schutz genießen. Für lumpige 2 Euro Gewinn Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)
je Datensatz sollen also verbriefte Bürgerrechte von Mil- Ausschuss für Arbeit und Soziales
lionen Bürgerinnen und Bürgern aufs Spiel gesetzt wer-
den. Wir sehen: ELENA ist ein Stiefkind des Schicksals. c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Manuel
Lassen wir es doch endlich ruhen. Sarrazin, Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck
(Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
(Beifall bei der LINKEN) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
EU 2020 – Für ein ökologisches und soziales
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Europa
Ich schließe die Aussprache. – Drucksache 17/898 –
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Überweisungsvorschlag:
Drucksache 17/658 an die in der Tagesordnung aufge- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)
Auswärtiger Ausschuss
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
allerdings strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der Ausschuss für Arbeit und Soziales
FDP wünschen die Federführung beim Ausschuss für Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Wirtschaft und Technologie, die Fraktion Bündnis 90/ Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Die Grünen beim Innenausschuss. Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Zunächst stimmen wir deshalb über den Überwei-
sungsvorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ab, Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Federführung beim Innenausschuss. Wer ist für diesen Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe,
Überweisungsvorschlag? – Wer ist dagegen? – Enthal- Sie sind damit einverstanden. Dann werden wir so ver-
(B) tungen? – Dieser Überweisungsvorschlag ist damit abge- fahren. (D)
lehnt.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin erteile
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der ich das Wort der Kollegin Dr. Eva Högl für die SPD-
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP abstimmen, Fe- Fraktion.
derführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Techno- (Beifall bei der SPD)
logie. Wer ist für diesen Vorschlag? – Wer ist dagegen? –
Enthaltungen? – Damit ist dieser Überweisungsvor-
schlag mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und Dr. Eva Högl (SPD):
der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!
Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke an- Zu sehr später Stunde diskutieren wir heute Abend über
genommen. die Zukunft Europas.

Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 15 a (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
bis 15 c: NEN]: Es ist nie zu spät!)

a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD – Es ist nie zu spät, aber es wäre auch schön, wenn man
dieses Thema zu einer früheren Stunde behandeln
Europa 2020 – Strategie für ein nachhaltiges könnte; es wäre es jedenfalls wert.
Europa Nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon geht
Gleichklang von sozialer, ökologischer und es jetzt um die zentralen Inhalte, um die zentrale Strate-
wirtschaftlicher Entwicklung gie, die Europa in den nächsten zehn Jahren verfolgen
– Drucksache 17/882 – wird. Vor zehn Jahren haben wir uns mit der Lissabon-
Strategie vorgenommen, Europa zum „wettbewerbsfä-
Überweisungsvorschlag: higsten, dynamischsten wissensbasierten Wirtschafts-
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
raum der Welt“ zu machen. Heute steckt Europa in einer
Ausschuss für Arbeit und Soziales Wirtschafts- und Finanzkrise, und wir müssen leider fest-
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und stellen, dass wir die Ziele der Lissabon-Strategie nicht in
Entwicklung vollem Umfang erreicht haben.
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dies hat viele verschiedene Ursachen. Ich nenne drei,
Dr. Diether Dehm, Alexander Ulrich, Andrej die ich für wesentlich halte:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2475
Dr. Eva Högl
(A) Erstens. Die Lissabon-Strategie war viel zu unver- Wachstum, Beschäftigungspolitik, sozialem Fortschritt (C)
bindlich. Die Mitgliedstaaten haben sich zwar auf Ziele und verantwortungsvoller Umweltpolitik.
verständigt; sie haben aber diese Ziele nicht konsequent
verfolgt. Die jeweilige Politik, die sie betrieben haben Deshalb sagen wir: Eine einseitige Wachstumsstrate-
– die einen haben Steuern gesenkt, die anderen haben gie mit einem überkommenen Wachstumsbegriff wird
Steuern erhöht –, haben sie am Ende mit der Lissabon- der Zukunft Europas nicht gerecht. Das ist im Übrigen
Strategie gerechtfertigt, ohne ein einheitliches Konzept ein Punkt, den ich an dem Papier, das die Kommission
zu haben. vorgelegt hat, kritisiere: dass jetzt nur noch von Wachs-
tum die Rede ist.
Zweitens müssen wir feststellen, dass die Lissabon-
Strategie viel zu schwer verständlich und zu umständlich Wir wollen eine einheitliche Strategie, das heißt, wir
war und auch aus den Berichtspflichten nicht wirklich wollen alle politischen Prozesse verbinden. Wir fordern
etwas folgte. auch eine stärkere Koordinierung der Wirtschaftspolitik
mit der Beschäftigungs- und Sozialpolitik sowie der
Das Dritte, was ich für wesentlich halte – deswegen Umweltpolitik.
hoffe ich, dass möglichst viele diese Debatte verfolgen –,
ist: Auch die Einbeziehung der Öffentlichkeit ist uns (Beifall bei der SPD)
nicht gelungen. Weder waren die Parlamente einbezogen
Wenn wir hören, dass schon der Vorschlag der Kommis-
noch die interessierte Öffentlichkeit noch Wirtschafts-
sion, die Berichte parallel vorzulegen, von der Bundesre-
verbände, Sozialpartner oder Zivilgesellschaft.
gierung abgelehnt wird, können wir nur sagen: Das ist
Wir müssen aus diesen Fehlern lernen, liebe Kolle- sehr bedauerlich.
ginnen und Kollegen. Deswegen fordern wir als SPD
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Stärkung des So-
eine neue, eine intelligente Strategie für ein nachhaltiges
zialen. Wir fordern, dass der Wirtschaftsunion endlich
und soziales Europa.
eine Sozialunion, die diesen Namen verdient, an die
(Beifall bei der SPD) Seite gestellt wird. Bei einer Sozialunion geht es nicht
nur darum, dass Menschen in Beschäftigung kommen.
Diese Strategie muss zweierlei leisten: Sie muss helfen, Wir müssen auch darüber diskutieren, in was für eine
die aktuelle Wirtschafts- und Finanzkrise zu überwin- Beschäftigung sie kommen. Es geht um die Qualität der
den, vor allem aber muss sie Perspektiven für Europa Arbeitsplätze. Auch das fehlt in dem Papier der Kom-
2020 aufzeigen, und sie muss Antworten geben auf die mission.
Herausforderungen, vor denen wir stehen. Die SPD hat
(B) mit ihrem umfassenden Antrag ein gutes Konzept vorge- Die größte Sorge der Menschen in ganz Europa ist, (D)
legt. Es ist der SPD zu verdanken, dass wir heute Abend dass sie von ihrer Arbeit zunehmend nicht leben können.
hier – hoffentlich engagiert – über Europas Zukunft dis- Deswegen brauchen wir klare Ziele für Mindestlöhne,
kutieren. für Entgeltgleichheit von Männern und Frauen, und wir
brauchen klare Ziele bei der Armutsbekämpfung.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD)
Was macht die schwarz-gelbe Bundesregierung? Die
schwarz-gelbe Bundesregierung kümmert sich nicht um 2010 ist das Europäische Jahr zur Bekämpfung von Ar-
das Thema Europa. Sie war von Anfang an nicht enga- mut und sozialer Ausgrenzung. Deswegen begrüße ich
giert und hat keine eigenen Vorstellungen in die Debatte es, dass die Kommission vorschlägt, 20 Millionen Men-
eingebracht. Sie reagiert nur. Wenn andere Vorschläge schen aus der Armutsgefährdung herauszuholen, und die
machen – etwa die Kommission gestern oder vorher die Mitgliedstaaten auffordert, sich gemeinsam dieses Ziel
spanische Ratspräsidentschaft –, werden diese Vor- zu setzen. Es reicht aber nicht, nur diese Erklärung abzu-
schläge – das können wir beobachten – von der Bundes- geben. Wir brauchen zur Bekämpfung der Armut kon-
regierung ablehnt. Es wird immer nur reagiert. Ich krete Politik, klare Vorgaben und Maßnahmen.
komme zum Ergebnis: Die Bundesregierung hat weder
eine Vision noch eine Strategie. Sie zeigt kein Engage- Ich will an dieser Stelle auch sagen: Es ist unerträg-
ment und keine Verantwortung für Europa. lich, wenn Hilfebedürftige beschimpft werden und über
die Dekadenz des antiken Roms schwadroniert wird.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Was wir brauchen, sind mehr Taten in Brüssel, vor allen
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Axel Dingen aber mehr Taten in Berlin und eine konsequente
Schäfer [Bochum] [SPD]: Leider wahr!) Politik zur Bekämpfung der Armut.
Die Bundesregierung verspielt damit – das müssen wir (Beifall bei der SPD)
an dieser Stelle deutlich kritisieren – die einmalige
Chance, dass Deutschland als größter Mitgliedstaat der Eine Bemerkung zur Außendimension. Wenn wir
Europäischen Union die Entwicklung mitbestimmt. über die Lissabon-Strategie und über die Nachfolgestra-
tegie EU 2020 diskutieren, diskutieren wir auch darüber,
Wir dagegen legen einen umfassenden Vorschlag mit wie sich Europa in seinen Außenbeziehungen darstellt,
einer ganzheitlichen Strategie vor. Ich will ein paar wie wir in der Welt agieren. Das halte ich für einen ent-
Punkte herauspicken: Wir wollen zurückkehren zu ei- scheidenden Punkt. Wir wollen Vorbild sein; aber wir
nem Gleichklang aus wirtschaftlicher Entwicklung, müssen diesem Anspruch auch gerecht werden.
2476 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Dr. Eva Högl


(A) Deshalb ist es sehr wichtig – wir haben das in unseren fraktionen sehr herzlich dafür zu danken, dass wir, einen (C)
Antrag auch hineingeschrieben –, dass wir uns dem fai- Tag nachdem sich die Kommission geäußert hat, Gele-
ren Welthandel verpflichten und vor allen Dingen die so- genheit haben, über die Strategie EU 2020 hier im Ple-
ziale Dimension der Globalisierung nicht aus den Augen num des Deutschen Bundestages miteinander zu disku-
verlieren. tieren.
Ich will noch ein paar abschließende Bemerkungen Nach den vorliegenden Anträgen und auch nach Ihren
zur sogenannten Governance machen. Ich habe am An- Einlassungen, Frau Kollegin Högl, gibt es jedoch keinen
fang gesagt: Die Lissabon-Strategie war auch deshalb Anlass, über das, was die Opposition vorschlägt, hier po-
nicht erfolgreich, weil die darin enthaltenen Verfahren sitiv zu diskutieren.
nicht gut waren. – Aus diesen Fehlern müssen wir jetzt
lernen. Ich stelle erstens fest, dass es durchaus bisher schon
die Gelegenheit gegeben hat, mit der Bundesregierung
Wir brauchen wenige Ziele und kein Wolkenku- über ihre Meinung zu EU 2020 zu sprechen.
ckucksheim, also keine Ziele, die nicht erreichbar sind,
sondern realistische Ziele, aber wir brauchen vor allen (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Dingen auch – ich habe das eben schon angesprochen – NEN]: Ich werde gleich einmal erzählen, was
mehr Verbindlichkeit in den Zielen. Ich habe es sehr be- die Bundesregierung letzte Woche dazu gesagt
grüßt, dass die spanische Präsidentschaft gleich zu Be- hat!)
ginn des Jahres gesagt hat, dass es ein ganz entscheiden-
der Punkt sein wird, wie verbindlich sich die Der Herr Staatssekretär Hintze ist im Ausschuss für die
Mitgliedstaaten auf Ziele verständigen. Angelegenheiten der Europäischen Union gewesen. Be-
merkenswert ist Ihre Schweigsamkeit dort gewesen. Sie
Wir diskutieren hier im Deutschen Bundestag. Des- haben nur wenige Fragen gestellt.
wegen sage ich an dieser Stelle auch: Wir müssen die
Parlamente ernst nehmen. Ich finde es nicht gut, dass (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
wir, bevor die Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat NEN]: Noch so ein Schnack und ich stelle eine
reist und dort die deutsche Position vertritt, keine Gele- Zwischenfrage!)
genheit haben, hier im Deutschen Bundestag über die
Position zu diskutieren, die dort vertreten wird. Dadurch Sie haben sich an der Diskussion im Ausschuss nicht be-
wird das Parlament missachtet. teiligt. Sich trotzdem hier im Plenum hinzustellen und zu
sagen, es gebe keine Gelegenheit, mit der Bundesregie-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ rung zu reden, ist schlichtweg unlauter; das muss ich zu-
DIE GRÜNEN – Dr. Johann Wadephul [CDU/ rückweisen.
(B) (D)
CSU]: Das tun wir doch!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deswegen sollten wir uns darauf verständigen, die Parla-
mente ernst zu nehmen und auch zu stärken. Zweitens. Dass Sie sich hier hinstellen und nun der
Wir haben gute Chancen, eine neue Strategie auf den christlich-liberalen Bundesregierung vorwerfen, dass sie
Weg zu bringen. Wir haben eine engagierte spanische auf europäischer Ebene zu wenige Impulse gegeben hat,
Ratspräsidentschaft, und wir haben sogar gute Grundla- finde ich in der Tat bemerkenswert.
gen durch die Kommission, auch wenn ich den Vor-
Die Europäische Union hat nun wirklich gerade unter
schlag im Detail kritisiere.
der Achsenpolitik Gerhard Schröders zu leiden gehabt.
Die SPD zeigt mit ihrem Antrag den Weg auf, wie es Die Europäische Union wäre nicht da, wo sie jetzt ist,
gehen kann, und macht gute Vorschläge. Die Bundesre- wenn Helmut Kohl die Europäische Union und den euro-
gierung behindert und beteiligt uns nicht. Deswegen päischen Gedanken in den 80er-Jahren, in einer Phase
sage ich: Nehmen Sie den Antrag der SPD an, nehmen der Lethargie, nicht wieder nach vorne gebracht hätte,
Sie das zur Richtschnur für unsere Politik in Europa! wenn er nicht den Euro gemeinsam mit Theo Waigel ge-
Frau Merkel, nehmen Sie den Deutschen Bundestag gen viele Widerstände von links durchgesetzt hätte und
ernster und nehmen Sie Europa ernst! wenn Angela Merkel nicht diejenige gewesen wäre, die
durch viele Gespräche auf europäischer Ebene dafür ge-
Herzlichen Dank. sorgt hat, dass der Lissabon-Vertrag letzten Endes Wirk-
(Beifall bei der SPD) lichkeit geworden ist.
(Zuruf von der LINKEN: Leider!)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Der Motor Europas sitzt also hier in der Koalition,
Dr. Johann Wadephul das Wort. und die christlich-liberale Regierung setzt ihre Europa-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- politik jetzt ganz im Sinne von Helmut Kohl fort. Dessen
neten der FDP) sollten Sie sich besinnen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Christian Lange [Backnang] [SPD]: Er stottert
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und aber! – Weiterer Zuruf von der SPD: Sie haben
Herren! Es besteht in der Tat Anlass, den Oppositions- aber keinen Sprit mehr!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2477

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: vorzunehmen; da sind wir uns einig. Dennoch bin ich (C)
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des der Meinung, dass wir nicht über der Strategie und all
Kollegen Schäfer? dem, was gemacht wurde, den Stab brechen sollten.
Natürlich sind viele Ziele, die man sich gesetzt hat,
Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): nicht erreicht worden, etwa in Bezug auf die Beschäfti-
Ja, gerne. gungsquote, die Steigerung der Investitionen und das
Wirtschaftswachstum. Daraus sollten wir aber die richti-
Axel Schäfer (Bochum) (SPD): gen Lehren ziehen. Wenn wir auf der Welt Einfluss ha-
Herr Kollege Dr. Wadephul, sind Sie mit mir bei all ben und unsere Bürgerinnen und Bürger weiterhin für
dem, was uns als Demokraten verbindet, der Meinung die europäische Idee begeistern wollen, sollten wir
durchaus daran festhalten, Europa zu einer Region des
(Peter Hintze, Parl. Staatssekretär: Nein!) Wohlstandes, der maximalen Beschäftigung und der Ver-
– hören Sie erst einmal zu –, dass die einzige Achse in meidung von Armut zu machen, in der es optimale Bil-
der Politik des 20. Jahrhunderts die Achse Rom-Berlin- dung für alle unabhängig von der Herkunft gibt. Das
Tokio war, – sind im Kern richtige Ziele, die nicht ganz erreicht wur-
den. Wir sollten diesen Weg weitergehen.
Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU – Alexander Ulrich
Na ja. [DIE LINKE]: Das Gegenteil ist erreicht wor-
den!)
Axel Schäfer (Bochum) (SPD): Ich möchte zu dem, was Sie jetzt hier vorschlagen,
– dass es die zentrale Absicht der Achse gewesen ist, konkret sagen: Wenn wir feststellen, dass wir zu eupho-
Krieg zu führen, und dass insbesondere die Zusammen- risch waren, muss man die Anstrengungen in der Tat ma-
arbeit von Gerhard Schröder mit dem französischen Prä- ximieren und sehen, was man mehr tun kann. Frau Kol-
sidenten dazu geführt hat, dass sich die Europäische legin Högl, es hilft nur nichts, sich jetzt – wenn ich Sie
Union weitestgehend nicht an diesem illegalen Irakkrieg richtig verstanden habe – noch höhere Ziele zu setzen
beteiligt hat? (Dr. Eva Högl [SPD]: Doch!)
(Kai Wegner [CDU/CSU]: Was heißt denn und noch detaillierter aufzuschreiben, was man machen
„weitestgehend“?) will. So steht beispielsweise im Barroso-Papier, dass
man die Beschäftigungsquote der 20- bis 64-Jährigen
Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): von 69 auf 75 Prozent steigern will usw. Ich glaube, man
(B) (D)
Herr Kollege Schäfer, der zweite Teil Ihrer Frage sollte sich hier nicht zu sehr auf Zahlen fixieren und
zeigt mir, dass Sie es richtig verstanden haben: Es gehört nicht meinen, dass man hier mit arithmetischer Exaktheit
zu den Grundprinzipien deutscher Politik nach dem vorgehen kann. Vielmehr müssen wir lernen, dass zu eu-
Zweiten Weltkrieg, ein ausgezeichnetes Verhältnis zu phorische und detaillierte Ziele nicht geholfen haben; am
Frankreich zu haben. Das ist auch Politik der jetzigen Ende bringen sie mehr Frust als Belebung in die Debatte.
Regierung. Es war allerdings ein zentraler europapoliti- (Beifall bei der CDU/CSU)
scher Fehler der Regierung Schröder, die europäische
Politik unter Vernachlässigung kleiner Partner nur auf Auch aus Sicht meiner Fraktion bleibt richtig, dass
diesen einen großen Partner zu verengen. wir im Bildungsbereich vorangehen. Hier geht die Bun-
desregierung voran: Bundeskanzlerin Angela Merkel hat
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – die Bildungsrepublik Deutschland ausgerufen und zum
Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Glück alle Länder dazu überreden können, mitzuwirken.
NEN]: Das ist doch falsch!)
(Lachen des Abg. Manuel Sarrazin [BÜND-
Ich halte an dieser Kritik fest. NIS 90/DIE GRÜNEN])
Es war Balsam für die Seelen vieler kleinerer Mit- Es ist eine zentrale Frage für den Wohlstand in Europa,
gliedstaaten der Europäischen Union, dass Außenminis- dass wir im Bildungsbereich alle Schätze heben, die un-
ter Guido Westerwelle gleich zu Beginn nicht nur Polen, ser Land bietet. Deswegen müssen wir hier eindeutig vo-
sondern auch die Niederlande besucht hat und somit ein rangehen.
Zeichen für die kleinen Länder gesetzt hat. Deutschland
ist gut beraten, kleinere Staaten mit einzubeziehen und Ein zweiter, etwas neuerer Schwerpunkt: Energie und
nicht auf jene Art Politik zu machen, wie es Gerhard Klimawandel. Ich glaube, nach der Kopenhagener Kon-
Schröder fälschlicherweise getan hat. ferenz hat jeder gemerkt, dass hier auch innerhalb Euro-
pas einige Anstrengungen nötig sind. Bundesumweltmi-
(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Es tut mir nister Norbert Röttgen ist hier gemeinsam mit der
leid, aber Sie haben aus den Erfahrungen des gesamten Bundesregierung Schrittmacher; Europa ist
Irakkriegs nichts gelernt!) hier Schrittmacher in der Welt. Wir müssen beim Thema
Klimaschutz vorangehen; das muss auch unsere Energie-
Herr Kollege Schäfer, ich würde gerne auf das Thema
politik in Deutschland bestimmen. Der Weg ist richtig;
unserer Diskussion zurückkommen. In der Tat ist es
wir sollten ihn weitergehen.
vollkommen richtig, dass wir anfangen müssen, eine kri-
tische Analyse und Auswertung der Lissabon-Strategie (Beifall bei der CDU/CSU)
2478 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Dr. Johann Wadephul


(A) In anderen Bereichen müssen wir lernen und nicht Die Beschäftigungsquote ist zwar um 4 Prozent- (C)
glauben, dass allein wir in Deutschland immer die richti- punkte gestiegen, die Arbeitslosigkeit liegt aber bei
gen Rezepte haben. 9,5 Prozent, und – das ist das Traurige daran – die Quali-
tät der Arbeitsplätze lässt sich an der stetigen Zunahme
Wenn Sie etwas verengend meinen, die gesamte deut- der Zahl der Armutslöhner ablesen. Bereits vor der Krise
sche Sozial- und Arbeitsmarktpolitik müsse in ganz Eu- waren es 8 Prozent der Erwerbstätigen in Europa.
ropa übernommen werden, dann ist das, glaube ich, der
falsche Ansatz. Nicht alles, was wir machen, ist das Op- Ein größerer sozialer Zusammenhalt – das hat sogar
timum; auch andere haben Modelle, die richtig sind. Das der Kollege von der Union gesagt – ist, glaube ich, nicht
Flexicurity-Konzept, das aus dem skandinavischen vorhanden. Wenn Sie Europa als Vorreiter bezeichnen,
Raum kommt und von der Europäischen Union über- dann sollten Sie zur Kenntnis nehmen, dass 80 Millionen
nommen wurde und sowohl Sicherheit als auch Flexibi- Menschen in Europa und damit fast 20 Prozent von Ar-
lität am Arbeitsmarkt bedeutet, ist ein Modell, das Zu- mut bedroht sind. Das muss bekämpft werden, aber
kunft hat. Dieses Konzept sollten wir auch in nicht, indem man darauf verweist, dass es in anderen
Deutschland offener miteinander diskutieren. Dafür soll- Kontinenten der Welt noch schlimmer ist.
ten Sie vielleicht einigen ideologischen Ballast abwer- Die soziale Schere zwischen Arm und Reich geht im-
fen. Hier ist mehr Flexibilität im Denken verankert als in mer weiter auseinander. Bei den Themen Bildung, For-
dem, was seit 20 oder 30 Jahren in Ihrem Parteipro- schung und Entwicklung müssen wir feststellen, dass die
gramm steht. Es bringt optimale Beschäftigungschancen Investitionen in dem Bereich weit hinter Japan und den
für die Menschen. Ich glaube, das ist der entscheidende USA liegen. Auch hier sind die Ziele deutlich verfehlt
Punkt. worden.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ursache für diese völlige Verfehlung der Ziele ist aber
nicht die Wirtschafts- und Finanzkrise, wie es manche
Wenn wir über die Anträge diskutieren, muss man
darstellen wollen. Schon zuvor hatte die EU miserable
auch in aller Kürze auf das eingehen, was die Linkspar-
Beschäftigungszahlen und hohe Armutsrisiken.
tei vorgelegt hat. Den Eindruck zu erwecken, als wäre
gerade Europa im Vergleich zu Asien, zu den Zuständen Ursache für diese völlige Verfehlung der Ziele ist
auf dem indischen Subkontinent oder in China, oder auch nicht, dass die Lissabon-Strategie nicht umgesetzt
auch zu den USA sozusagen ein Kontinent der sozialen oder ambitioniert genug erarbeitet wurde, wie die Kom-
Ausgrenzung, ist geradezu ungeheuerlich. Mehr soziale mission und auch Sie nicht müde werden, zu behaupten.
Rechte als in Europa gibt es eigentlich nirgendwo. Ursache für die völlige Verfehlung der Ziele ist, dass die
Strategie umgesetzt wurde.
(B) Wenn Sie mit Ihrem Antrag beabsichtigen, dass man (D)
nur noch dann weiterverhandeln kann, wenn man Ihre Die Arbeitsmärkte wurden flexibilisiert und die So-
Fortschrittsklausel in das EU-Vertragswerk aufnimmt, zialsysteme, wie man so schön sagt, modernisiert, in
dann zeigt das, dass Sie Europa letztlich lähmen wollen. Deutschland unter dem schönen Namen Agenda 2010
und Hartz IV. Das war die nationale Umsetzung der Lis-
Sie sind immer noch nicht in Europa angekommen. sabon-Strategie.
Das ist eine traurige Bilanz, die wir heute ziehen. Ich
hoffe, dass das Haus insgesamt das anders sieht, und Insofern ist das, was Sie in Ihrem Antrag schreiben,
freue mich noch auf zahlreiche Diskussionen zum Kon- liebe Frau Högl, vielleicht auch ein bisschen Vergangen-
zept Europa 2020. heitsbewältigung. Denn dass wir in Europa diese Ziele
verfehlt haben, war auch dem geschuldet, dass man in
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Deutschland Vorreiter für Sozialabbau, Dumpinglöhne
und Steuerdumping auf breiter Flur war. Sie haben damit
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) in Europa ein schlechtes Zeichen gesetzt. Denn das, was
Sie heute selbst darlegen, ist Ergebnis Ihrer eigenen
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Politik unter Rot-Grün oder danach unter Schwarz-Rot.
Nächster Redner ist der Kollege Alexander Ulrich für (Beifall bei der LINKEN)
die Fraktion Die Linke.
Gemeinsam mit einem weiteren Kernstück der Strate-
(Beifall bei der LINKEN) gie, der Liberalisierung der Finanzmärkte, hat dies we-
sentlich dazu beigetragen, den Boden für die schwerste
Alexander Ulrich (DIE LINKE): Finanz- und Wirtschaftskrise seit den 30er-Jahren zu be-
reiten. Hier muss man noch einmal deutlich sagen: Eu-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
ropa und Deutschland sind nicht Opfer der Finanzkrise,
Ich glaube, wir können feststellen – das haben auch die
sondern aufgrund ihrer Politik Mitverursacher der Fi-
Vorredner mehr oder weniger bestätigt –, dass die Lissa-
nanzkrise.
bon-Strategie gescheitert ist. Vom wettbewerbsfähigsten
Wirtschaftsraum können wir, glaube ich, nicht reden. Eine Strategie, mit der man genau das Gegenteil des-
Das Ziel von 3 Prozent Wachstum, das ursprünglich ver- sen erreicht hat, was man sich davon versprochen hat,
folgt wurde, wurde nur in zwei von den zehn Jahren muss grundlegend überarbeitet werden. Eigentlich brau-
knapp erreicht. 2009 schrumpfte die Wirtschaft um chen wir jetzt keine Neuauflage „Europa 2020“, sondern
4 Prozent, wie wir wissen. mehr Zeit, um zu analysieren. Auch die Vorredner haben
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2479
Alexander Ulrich
(A) deutlich gemacht, dass man diesen Weg nicht weiterge- Staaten zu verhalten, und beginnen, für seine Ziele zu (C)
hen kann. Denn steigende Wettbewerbsfähigkeit führt kämpfen. – Mit diesem Satz beginnt ein Artikel der
nicht automatisch zu Nachhaltigkeit, sozialem Fort- Märzausgabe des Time Magazine. Ich fand diesen Satz
schritt und guter Arbeit. sehr interessant, weil er die bei uns geführte Europade-
batte aus einem völlig anderen Blickwinkel betrachtet.
Im Gegenteil, oftmals werden genau diese auf dem
Altar der Wettbewerbsfähigkeit geopfert. Das Gleiche Im März 2000 steckten sich die Staats- und Regie-
gilt für das Wachstumsziel. Wachstum, das auf Lohn- rungschefs beim Europäischen Rat in Lissabon das Ziel,
dumping und Sozialabbau beruht, verschlechtert die Le- die Europäische Union bis zum Jahr 2010 durch umfang-
bensqualität der Mehrheit der Menschen und verringert reiche Reformen zum wettbewerbsfähigsten, dyna-
den sozialen Zusammenhalt in der Europäischen Union. mischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu
Diese Dimensionen sind nicht gleichrangig. Dies ist machen. Die Lissabon-Strategie bildet seither den Rah-
schon in der Konstruktion der EU, in deren Zentrum der men für die Wirtschafts-, Arbeits-, Sozial- und Umwelt-
Binnenmarkt steht, so angelegt. politik der Europäischen Union. Die ursprüngliche Stra-
tegie nahm jedoch im Laufe der Zeit eine so komplexe
Jetzt zu dem Thema, das Sie bereits angesprochen ha-
Struktur an, dass sie nur in einigen Bereichen zum Er-
ben: zur sozialen Fortschrittsklausel. Der Europäische
folg führte. Auch die Wirtschaftskrise hat die Lissabon-
Gerichtshof hat deutlich gemacht, dass Binnenmarktfrei-
Strategie beeinflusst. Es fehlten die notwendigen Instru-
heiten höher zu bewerten sind als soziale Grundrechte.
mente, um die Krise von Anfang an bekämpfen zu kön-
Für einen Ausgleich kann man nur sorgen, wenn man bei
nen. Besonders krisenverschärfend wirkte sich die man-
den Vertragsveränderungen auch über den sozialen Fort-
gelnde Aufsicht der Finanzmärkte auf EU-Ebene aus. In
schritt diskutiert. Genau darauf zielt unser Antrag. Wenn
diesem Bereich wurden die Hausaufgaben bis heute
es um den EU-Beitritt von Island geht, muss dieser As-
nicht gemacht.
pekt in den Verhandlungen thematisiert werden. Ansons-
ten wird dieses Ziel nie erreichbar sein. (Beifall bei der FDP)
(Beifall bei der LINKEN) Die Gründe für dieses enttäuschende Ergebnis sind
Zum Schluss. Ich denke, ein soziales Europa ist nicht offensichtlich. Es gab auf EU-Ebene zu viele Einzel-
mit den Zielen vereinbar, für die alle anderen vier Frak- ziele, und die unterschiedlichen Ausgangspositionen der
tionen in diesem Hause im letzten Jahrzehnt leider stan- Mitgliedstaaten wurden nicht ausreichend berücksich-
den. Sie sind Mitverursacher des Europas, das wir heute tigt. Mit den heute von den Oppositionsfraktionen vor-
haben, das immer mehr auseinanderfällt und das große gelegten Anträgen zur neuen Wachstumsstrategie „Eu-
Probleme hat. Deshalb kann ich den anderen vier Frak- ropa 2020“ laufen wir Gefahr, genau denselben Fehler
(B)
tionen in den weiteren Debatten nur zurufen: Europa ist zu wiederholen. Die hier aufgestellten Forderungen sind (D)
kein Selbstbedienungsladen für die Wirtschaft. Ein Eu- zu umfangreich, zu wenig zielgenau. Es ist falsch, die
ropa für die Menschen gelingt nur gemeinsam. neue Agenda mit Regelungs- und Reformansprüchen für
jeden denkbaren Bereich zu überfrachten. Auch der Ruf
Vielen Dank. nach Füllhörnern mit sozialen Wohltaten und Forderun-
(Beifall bei der LINKEN) gen nach einer sozialen Fortschrittsklausel würden die
Zukunftsschancen der Europäischen Union schmälern.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Beifall bei der FDP – Manuel Sarrazin [BÜND-
Für die FDP-Fraktion spricht nun die Kollegin NIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum?)
Gabriele Molitor. Der Grundsatz der Balance zwischen Erwirtschaften und
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Verteilen gilt nicht nur im Inland, sondern auch auf euro-
der CDU/CSU) päischer Ebene.
Vielmehr müssen wir der neuen Strategie die richti-
Gabriele Molitor (FDP): gen Prioritäten geben. Als Lehre aus der Wirtschafts-
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist krise müssen die EU-Mitglieder noch intensiver zusam-
spät, aber nicht zu spät, als dass man nicht noch wach menarbeiten und Mechanismen entwickeln, die zeigen,
genug sein könnte, um Sie, Frau Dr. Högl, zu fragen, wo dass jeder Krise auch Chancen zur Veränderung inne-
Sie von der SPD mit Ihrem Außenminister eigentlich die wohnen. Wir müssen uns darauf konzentrieren, neue
letzten elf Jahre gewesen sind. Sie hätten alle Möglich- Wachstumsquellen zu erschließen, um krisenbedingte
keiten gehabt, die Europapolitik auf die Erfolgsspur zu Arbeitsplatzverluste wettzumachen. Wissensbasiertes
führen. Wachstum, die aktive Teilhabe an integrativen Gesell-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten schaften und Rahmenbedingungen für eine wettbewerbs-
der CDU/CSU) fähige und vernetzte Wirtschaft müssen im Vordergrund
stehen. Hinzu kommt die Förderung internationaler Ko-
Ich möchte einen Aspekt in die Diskussion einbrin- operationen mit fairen und geregelten internationalen
gen, der mir bei der Zeitungslektüre aufgefallen ist: Handels- und Finanzsystemen. All diese neuen Maßnah-
Wenn Europa gegenüber den Vereinigten Staaten und men müssen sowohl zur Bekämpfung der Arbeitslosig-
China eine globale Kraft werden will, dann muss es auf- keit beitragen als auch leistungsfähige Arbeitsmärkte ge-
hören, sich wie eine Sammlung von reichen einzelnen währleisten. Wir müssen uns die Globalisierung und die
2480 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Gabriele Molitor
(A) wechselseitige Abhängigkeit zunutze machen. Kein Mit- einen grundlegenden Unterschied zwischen den Fraktio- (C)
gliedstaat allein kann hier erfolgreich sein. nen der FDP und der CDU/CSU und zwischen uns. Sie
wollen gar kein soziales Europa.
Die EU-Kommission hat gestern ihr Konzept für eine
Nachfolgestrategie der Lissabon-Strategie vorgestellt. Das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Arbeitspapier enthält ehrgeizige Formulierungen zur und bei der SPD)
Ausgestaltung einer nachhaltigen europäischen Markt-
Es steht im Koalitionsvertrag ausdrücklich, dass Sie kein
wirtschaft. Wir Liberale begrüßen diese Überlegungen.
soziales Europa wollen. Da helfen auch Schönwetterre-
Allerdings fehlt auch diesem Papier die notwendige Fo-
den nicht. Sie, Frau Molitor, sprechen davon, dass wir
kussierung auf wichtige Kernbereiche. Damit läuft das
eine engere Zusammenarbeit brauchen. Das finde ich
Konzept Gefahr, ähnlich wie die Lissabon-Strategie zu-
gut.
vor, zu viel auf einmal zu wollen und am Ende mit leeren
Händen dazustehen. Wir hatten in der letzten Woche eine tolle Ausschuss-
sitzung. In dieser Sitzung habe ich das Auswärtige Amt
Im Einklang mit der Arbeits- und Sozialministerkon-
gefragt, ob die Handschrift der Bundesregierung in der
ferenz warne ich die Kommission davor, erneut Versu-
Mitteilung der Kommission zu erkennen ist. Der kompe-
che zu unternehmen, die arbeitsrechtlichen Vorschriften
tente Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes hat daraufhin
der einzelnen EU-Mitgliedstaaten zu harmonisieren. Un-
gesagt, er könne beim besten Willen nicht wissen, was in
ter Berücksichtigung der unterschiedlichen nationalen
der Kommissionsmitteilung enthalten sei. Zwei Tage
Gegebenheiten und im Hinblick auf die Wahrung der
später und noch vor der Veröffentlichung erfahren wir
Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit darf es hier keine
von einem Brief, den die Bundeskanzlerin Merkel an
Vereinheitlichung geben.
Barroso geschrieben hat, in dem sie davon spricht, die
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten engere Koordinierung, die vorhin Frau Molitor ange-
der CDU/CSU) sprochen hat, gehe nicht und sei mit ihr nicht abgespro-
chen gewesen. Da frage ich mich wirklich, ob Sie das,
Stattdessen sollte sich die Kommission auf die Förde-
was Sie uns hier erzählen, selber glauben.
rung von nachhaltigem Wachstum und Beschäftigung
konzentrieren. So haben wir es in der Koalitionsverein- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
barung festgehalten. Das hat die Arbeits- und Sozial- und bei der SPD)
ministerkonferenz bekräftigt. So wird es auch von vielen
anderen Mitgliedstaaten gesehen. Wir können die in dem Mit Blick auf die Strategie „EU 2020“ – ich verweise
Entwurf formulierten Ziele nur dann unterstützen, wenn da auf unseren Antrag – müssen wir das Versprechen für
sie die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen ein sozialeres Europa tatsächlich ernst nehmen und dür-
(B)
gewährleisten; denn nur mit wettbewerbsfähigen und er- fen nicht mit leeren Worthülsen reagieren. Die Grund- (D)
folgreichen Unternehmen können wir das Niveau unse- rechte dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden,
rer Beschäftigungs- und Sozialmodelle aufrechterhal- indem beispielsweise das Grundrecht auf Freizügigkeit
ten. Die globalisierte Wirtschaft verdeutlicht uns jeden für einen einfachen Arbeitnehmer plötzlich durch ir-
Tag aufs Neue, dass wir nur durch ständige Weiterent- gendeine Sozialklausel beschränkt werden soll. Es darf
wicklung Wachstum und Wohlstand erreichen können. auch keine Einschränkungen bei den anderen Grund-
rechten aus der Grundrechtscharta geben. Wir brauchen
Ein Arbeitsplatz ist nun einmal der beste Schutz ge- tatsächlich konkrete Aussagen und konkrete Handlun-
gen Armut und Ausgrenzung. Zusätzlich brauchen wir gen, die wir und auch die SPD beschrieben haben.
moderne und finanzierbare Sozialsysteme, die krisenfest
sind und der Alterung der europäischen Bevölkerung (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Sie reden
Rechnung tragen. Dabei muss klar sein, dass ein Sozial- nur über Umweltfragen!)
staat, der Armut bekämpfen will, auch das Prinzip des Wenn wir wissen wollen, was die Handschrift der
Forderns und Förderns berücksichtigen muss. Es muss Bundesregierung ist, dann schauen wir doch einmal in
uns um die Qualität und nicht um die Benennung mög- die Zeitung, wie Frau Molitor es getan hat. Es wird von
lichst vieler Themengebiete gehen. Nur auf diese Weise „Madame No“ gesprochen. Die Financial Times
wird Europa eine wichtige Rolle in der globalisierten Deutschland schreibt, es bestehe die Gefahr, dass
Welt des 21. Jahrhunderts spielen. Deutschland die Debatte erstickt. Das ist der Eindruck,
Vielen Dank. der von der Bundesregierung nach Europa transportiert
wird. Sie haben nur eine Handschrift: Sie dementieren,
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Sie diskutieren nicht, sondern Sie ducken sich weg. Am
Ende versuchen Sie nur noch, zu verhindern, und sagen:
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ich finde das doof. – Das ist kein europäischer Stil, wie
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen erteile ich er sich gehört. Sie bringen sich nicht proaktiv ein.
das Wort dem Kollegen Manuel Sarrazin. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Das ist un-
ter Ihrem Niveau!)
Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir führen seit einigen Monaten die Debatte über die-
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich ses Vorhaben der EU. Es gab dazu auch eine Stellung-
muss in meiner kurzen Redezeit eines klarstellen: Es gibt nahme des Wirtschaftsministeriums. Ich muss sagen,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2481
Manuel Sarrazin
(A) eine solche dünne Stellungnahme habe ich selten gele- (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Ich bin (C)
sen. Die Stellungnahme des Bundesrates hatte deutlich auch Bürger!)
mehr Inhalt.
Mit diesen Augen habe ich gestern die von der Kom-
Die Konsultationsfrist wurde von Ihnen verschnarcht. mission beschlossene Mitteilung zur neuen Wachstums-
Auf unsere Bitte, diese Frist etwas großzügiger zu ge- strategie „Europa 2020“ gelesen. Diese neue Strategie
stalten und sich dafür bei Herrn Barroso einzusetzen, da- soll die gescheiterte Lissabon-Strategie aus dem Jahre
mit die Parlamente beteiligt werden können, hat Frau 2002 ablösen. Sie war damals von Rot-Grün verhandelt
Merkel antworten lassen, das verstehe sie schon, aber es worden, als Rot-Grün noch Regierungsverantwortung in
gehe leider nicht. Jetzt heißt es plötzlich, was die Kom- Deutschland trug. Herr Sarrazin, ich glaube, ein Grüner
mission vorschlägt, gehe nicht, weil man die nationalen war damals Außenminister.
Parlamente einbinden müsse. Entscheiden Sie sich ein- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
mal! Sie wollen doch nur verhindern, dass endlich nach neten der FDP)
vorne gegangen wird.
Damals hieß es: Wir wollen innerhalb der nächsten
Wir sagen nicht, dass uns das, was die Kommission zehn Jahre zum wettbewerbsfähigsten und dynamischs-
aufschreibt, genug ist. Natürlich muss man Nachhaltig- ten wissensgestützten Wirtschaftsraum der Welt werden.
keit viel genauer definieren. Natürlich muss Artenviel- Das war ein hochgestecktes und ehrgeiziges Ziel, bei
falt viel ausführlicher besprochen werden. Natürlich dem sich viele Menschen gefragt haben, ob und wie das
muss das soziale Europa konkreter ausgestaltet werden. zu erreichen ist.
Natürlich müssen Sie energischer an Themen wie Kli-
maschutz und erneuerbare Energien herangehen. Aber Was ist eigentlich die Kernaufgabe der Europäischen
eines kann ich Ihnen sagen: Wer sich in Europa nicht Union, und was soll die Europäische Union leisten? –
proaktiv mit Gestaltungswillen einbringt, sondern nur Wir alle, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kolle-
mit bösen Briefen, der agiert nicht im Sinne einer stärke- gen, sollten verhindern, dass wir uns in Europa noch ein-
ren Integration und im Sinne einer Lösung der Probleme, mal solche realitätsfernen Ziele setzen. Europa muss
die wir jetzt haben. Er agiert letztendlich nicht euro- bürgernäher werden; das ist das Hauptziel in den nächs-
päisch. ten Jahren.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
und bei der SPD) Das erreichen wir jedoch nicht mit Zielen, die fernab
Ich kann ja verstehen, dass sich die Bundesregierung jeder Realität sind. Damit machen wir uns unglaubwür-
dig und erweisen dem europäischen Gedanken einen Bä-
(B) im Rat manchmal wie auf einer Insel fühlt. Aber wer bei (D)
der derzeitigen Debatte gleichzeitig sagt, man solle die rendienst. Lassen Sie mich kurz in drei Punkten erläu-
Berichte zur EU 2020 und zum Stabilitätspakt nicht ge- tern, was ich von der Europäischen Union erwarte.
meinsam – im Sinne von zeitgleich – evaluieren, der hat Erstens. Konzentration auf Kernziele. Die Europäi-
nicht die grundlegenden Lehren aus der Krise von Grie- sche Union soll sich auf ihre Kernziele konzentrieren.
chenland gezogen. Sie soll das machen, was wir nicht mindestens genauso
Die EU-2020-Strategie wird wesentliche Weichen- gut oder gar besser in den Mitgliedstaaten erreichen kön-
stellungen vornehmen. Sie ist dabei noch nicht so kon- nen. Hierzu gehört, vernünftige Rahmenbedingungen für
kret, dass man sie nicht weiter gestalten könnte. Ich habe wirtschaftliches Wachstum in der gesamten Europäi-
leider nicht die Hoffnung, dass Sie sie positiv gestalten schen Union zu schaffen und internationale Wettbe-
werden. Ihnen bleibt nur ein Ausweg: Nehmen Sie den werbsfähigkeit herzustellen.
Antrag der Grünen und meinetwegen auch den Antrag (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
der SPD an.
Das heißt aber auch, dass wir keine Sozialpolitik aus
Herzlichen Dank. Brüssel wollen und brauchen, wie die Damen und Her-
ren von der Opposition sie gerne sehen würden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Widerspruch bei der SPD und dem BÜND-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: NIS 90/DIE GRÜNEN – Alexander Ulrich
[DIE LINKE]: Sie wollen kein soziales Eu-
Nun hat das Wort der Kollege Karl Holmeier für die
ropa!)
CDU/CSU-Fraktion.
Zweitens. Bürgernähe und Glaubwürdigkeit. Bei der
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Erreichung dieser Ziele müssen wir darauf achten, dass
wir nicht an den Bürgerinnen und Bürgern vorbei ent-
Karl Holmeier (CDU/CSU): scheiden. Unsere Ziele müssen nachvollziehbar und
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten realistisch sein, und die Mehrheit der Menschen muss
Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen sich damit identifizieren können. Häufig können sie das
und Herren! Als neu gewählter Abgeordneter sehe ich nicht. Ich kann daher auch den Europaverdruss gut ver-
viele politische Entscheidungen noch stark mit den Au- stehen. Die Menschen haben es satt, sich von der Euro-
gen der Bürgerinnen und Bürger. Und das ist gut so. päischen Union ihre Lebensführung vorschreiben zu las-
2482 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Karl Holmeier
(A) sen. Das fängt beim Glühbirnenverbot an und hört bei Zweitens: 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für (C)
der Festlegung des Salzgehaltes auf der Brezen oder im Forschung und Entwicklung. Die Regierungen sollen
Brot auf. 2020 3 Prozent des BIP in Forschung und Entwicklung
investieren. Dieses Ziel ist ebenfalls nicht neu. Auch hier
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- hat der Staat nur begrenzten Einfluss. Zudem möchte ich
neten der FDP) darauf hinweisen, dass seit der gleichlautenden Vorgabe
Wir können Europa nur weiterentwickeln, wenn wir die der Lissabon-Strategie vor zehn Jahren die Investitionen
Menschen mitnehmen. in Forschung und Entwicklung der 27 Mitgliedstaaten
nicht einmal gestiegen, sondern sogar leicht zurückge-
Drittens. Bessere Abstimmung mit den Mitgliedstaa- gangen sind. Zum Vergleich: 1,86 Prozent waren es im
ten und mehr Geschlossenheit. Wir brauchen in Europa Jahr 2001, 1,85 Prozent im Jahr 2007. Vor diesem Hin-
eine bessere Abstimmung der Institutionen mit den Mit- tergrund frage ich mich ernsthaft, wie realistisch es ist,
gliedstaaten. Die Europäische Kommission kocht noch in weiteren zehn Jahren eine Steigerung auf 3 Prozent zu
viel zu häufig ihr eigenes Süppchen, ohne Rücksicht auf schaffen.
die Interessen der Mitgliedstaaten zu nehmen. Ich erin- Drittens: Umsetzung der 20-20-20-Umweltziele. Im
nere in diesem Zusammenhang daran, dass die Europäi- Interesse des Klimaschutzes und der Schonung der na-
sche Kommission kein gewähltes Gremium, sondern ein türlichen Ressourcen sollen die Klima- und Energieziele
Beamtenapparat ist. bis 2020 erreicht werden, das heißt 20 Prozent CO2-Re-
(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- duzierung, ausgehend vom Niveau 1990; Steigerung des
NEN]: Was? Bitte?) Anteils erneuerbarer Energien auf 20 Prozent; Steige-
rung der Energieeffizienz um 20 Prozent. Diese Ziele
Wir wollen eine leistungsfähige und selbstbewusste sind nicht neu. Damit übernimmt die EU weltweit eine
Europäische Union, die mit einer Stimme spricht und Vorreiterrolle, und deshalb sollten wir als Deutsche auch
entschlossen für die Sicherung von Frieden, Freiheit und hinter diesen Zielen stehen. Dies gilt erst recht vor dem
Wohlstand eintritt. Nur durch ein einiges Europa können Hintergrund, dass unsere eigenen Ziele sogar höher an-
wir unsere Werte und Interessen erfolgreich in der Welt gesetzt sind und wir diese Ziele auch erreichen wollen
vertreten. und auch erreichen werden.
Werden mit dem Kommissionsvorschlag zur Strategie Viertens: Bildung, konkret: Erhöhung der Hochschul-
2020 die Erwartungen erfüllt? – Wenn ich mir das Papier absolventenquote. Im Bereich der Bildung ist vorgese-
der EU-Kommission von gestern ansehe, kommen mir hen, die Schulabbrecherquote von derzeit 15 Prozent auf
10 Prozent zu reduzieren. Außerdem sollen 40 Prozent
(B) erhebliche Zweifel, ob meine und unsere Erwartungen der 30- bis 34-Jährigen im Jahr 2020 ein abgeschlosse-
(D)
erfüllt werden und ob die Kommission ihre Lehren aus
der gescheiterten Lissabon-Strategie gezogen hat. Zwar nes Hochschulstudium haben. Hierzu kann ich nur sa-
sehe ich auch gute Ansätze. Das gilt vor allem für die gen: Wer so etwas beschließt, hat keine Ahnung vom
Akzente, die die Kommission mit der Strategie 2020 set- deutschen Bildungssystem.
zen möchte. Eine wissens- und innovationsbasierte, eine (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Genau!)
nachhaltige und wettbewerbsfähige Wirtschaft, die die
natürlichen Ressourcen schont, sowie eine hohe Be- Zum einen ist Bildung in Deutschland Ländersache. Das
schäftigungsquote und sozialer Zusammenhalt: Dies al- heißt, Brüssel kann und darf nicht über die Köpfe der
les sind Punkte, die ich selbstverständlich teile und mit Länder hinweg entscheiden.
mir sicherlich auch viele andere Menschen in unserem (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Das macht
Land. Bayern allein!)
Problematisch wird es allerdings bei den konkret be- – Jawohl.
schriebenen Zielen. Die Kommission nennt sechs Kern-
ziele, die bis 2020 erreicht sein sollen, und sie verbindet (Lachen bei Abgeordneten der SPD, der LIN-
diese Kernziele mit konkreten Zahlen. KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
NEN)
Erstens. Die Erhöhung der Beschäftigungsquote auf
75 Prozent. Die Beschäftigungsquote für die 20- bis 64-Jäh- Zum anderen – dies ist noch viel wichtiger –: Diese
rigen soll bis 2020 auf 75 Prozent steigen. Dieses Ziel ist Zielvorgabe lässt eine große Errungenschaft Deutsch-
– wenn auch mit anderen Zahlen – bereits aus der Lissa- lands vollkommen außer Betracht – unser duales Bil-
bon-Strategie bekannt. dungssystem. Wir brauchen in Deutschland nicht nur
Hochschulabsolventen, sondern vor allem qualifizierte
Angesichts der aktuellen Beschäftigungsquote von Facharbeiter. Es kann nicht sein, dass wir mehr Archi-
69 Prozent kann man mit diesen Zielen durchaus leben. tekturstudenten als Maurerlehrlinge haben. Eine solche
Ich will dennoch betonen, dass der Einfluss der Politik Zielvorgabe wird unsere Zustimmung sicherlich nicht
auf die Erreichung dieses Ziels begrenzt ist. Nicht die erhalten.
Politik schafft Arbeitsplätze, sondern die Wirtschaft. Fünftens: Armutsreduzierung. Letztes Kernziel der
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Kommission ist, dass 20 Millionen Menschen, die zur-
zeit unterhalb der Armutsgrenze leben, aus der Armut
Wir können lediglich die Rahmenbedingungen setzen. befreit werden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2483
Karl Holmeier
(A) (Axel Schäfer [Bochum] [SPD], an die CDU/ Den Anträgen der Fraktionen der SPD, der Grünen (C)
CSU gewandt: Das Mehr an Redezeit wird und der Linken kann ich nicht zustimmen. Sich so zu
euch bei der nächsten Europa-Debatte abgezo- verhalten, empfehle ich auch den Mitgliedern unserer
gen werden! Vorab abgezogen!) Koalitionsfraktionen, vor allem vor dem Hintergrund,
dass ich nicht will, dass in Brüssel Sozialpolitik gemacht
Ich frage mich, wer die Erreichung dieses sozialistischen wird.
Zieles steuern will. Die Armutsgrenze orientiert sich am
Durchschnittseinkommen der Europäischen Union, und (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Aber in
die verschiebt sich bekanntlich hin und wieder. Kaufen Bayern!)
zum Beispiel europäische Fußballklubs wieder ein paar
Das wollen wir alle nicht und brauchen wir vor allem
teure brasilianische Spieler, so steigt das Durchschnitts-
nicht. Der Regierung kann ich für die Verhandlungen in
einkommen in der Europäischen Union, und schon fallen
Brüssel nur auf den Weg geben: keine überstürzten Be-
wieder ein paar Menschen unter die Armutsgrenze, ob-
schlüsse, keine unrealistischen Ziele und keine Aufwei-
wohl sich ihr Einkommen nicht verändert. Umgekehrt
chung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes.
kann das Ziel schon dadurch erreicht werden, dass die
Einkommen oberhalb des EU-Durchschnittswertes sin- Ich habe jetzt ein bisschen überzogen, aber es ist ja
ken. Damit sinkt auch der Gesamtdurchschnitt. Die Si- die letzte Rede.
tuation der in der Armut lebenden Menschen hat sich da-
mit nicht verbessert. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das kann
man wohl sagen! – Alexander Ulrich [DIE
Sechstens. Europa braucht – das ist das wichtigste LINKE]: Frau Präsidentin, wie lange war denn
Ziel – einen Bürokratieabbau. Das ist vor allem für un- das?)
sere Wirtschaft wichtig.
Ich sage einen herzlichen Dank und wünsche einen
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und angenehmen Abend.
der FDP) (Heiterkeit – Anhaltender Beifall bei der
Lassen Sie mich abschließend noch auf den einen CDU/CSU und der FDP – Beifall bei Abge-
oder anderen Aspekt der Mitteilung der EU-Kommission ordneten der SPD)
eingehen, der mir persönlich sehr am Herzen liegt. Die
Europäische Kommission ist in dieser Mitteilung der Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Versuchung erlegen, den Stabilitäts- und Wachstumspakt Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie wissen, dass ich
aufzuweichen. Dieser Pakt ist eine Errungenschaft nicht immer so großzügig bei der Bemessung der Rede-
(B) Deutschlands für die gesamte Europäische Union. Die zeit bin. (D)
unbedingte Einhaltung der Stabilitätskriterien verdanken
wir unserem ehemaligen Finanzminister Dr. Theo (Karl Holmeier [CDU/CSU]: Aber es war
Waigel, Mitglied der Regierung von Helmut Kohl. Er meine erste Rede!)
hat damit ein maßgebendes Instrument für eine starke Kollege Holmeier hat seine erste Rede hier gehalten, und
D-Mark auf den Euro übertragen. Damit sind wir gut ge- es ist gleichzeitig die letzte Rede in der heutigen De-
fahren, und das werden wir in Europa trotz aller Krisen batte.
auch weiter tun. Die EU-Kommission will nun ihre wirt-
schaftspolitischen Ziele mit den Vorgaben des Stabili- (Heiterkeit und Beifall im ganzen Hause)
täts- und Wachstumspaktes verknüpfen, wie dies von Deshalb bitte ich, die Großzügigkeit einfach so zu ak-
verschiedenen Akteuren der Europäischen Union schon zeptieren und nicht davon auszugehen, dass sich dieses
seit langem mehr oder weniger offen gefordert wird. häufig wiederholt.
Hiergegen lege ich ein klares Veto ein.
Ihnen, lieber Kollege Holmeier, darf ich also herzlich
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Auch das zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag gratulie-
noch!) ren, verbunden mit den besten Wünschen für die weitere
Ich habe mich daher gefreut, dass unsere Bundeskanzle- Arbeit.
rin gegenüber dem Kommissionspräsidenten bereits klar (Beifall – Christian Lange [Backnang] [SPD]:
zum Ausdruck gebracht hat, dass sie hierzu keine Zu- Das Zeitmanagement ist verbesserungsbedürf-
stimmung geben wird. tig!)
Nun schließe ich die Aussprache.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege, ich muss jetzt wirklich auf die Redezeit Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
achten. den Drucksachen 17/882, 17/902 und 17/898 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann sind
Karl Holmeier (CDU/CSU): die Überweisungen so beschlossen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie sehen,
es besteht erheblicher Nachbesserungsbedarf. Wir kommen jetzt noch zu einigen Abstimmungen,
die wir, denke ich, zügig über die Bühne bringen kön-
(Heiterkeit) nen.
2484 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) Zunächst rufe ich die Tagesordnungspunkte 16 a und Die Grünen und der Fraktion Die Linke und bei Enthal- (C)
16 b auf: tung der SPD-Fraktion angenommen.
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Wolfgang Gunkel, Lothar Binding (Heidelberg),
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Dr. h. c. Gernot Erler, weiterer Abgeordneter und
Kipping, Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald,
der Fraktion der SPD
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
Menschenrechtsschutz im Handelsabkommen LINKE
der Europäischen Union mit Kolumbien und
Europäisches Jahr gegen Armut und soziale
Peru verankern
Ausgrenzung ernst nehmen
– Drucksache 17/883 –
– Drucksache 17/889 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ausschuss für Gesundheit
Entwicklung Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
richts des Ausschusses für Menschenrechte und Es ist in der Tagesordnung schon ausgewiesen, dass
Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag die Reden zu Protokoll gegeben werden, und zwar die
der Abgeordneten Tom Koenigs, Volker Beck Reden der Kolleginnen und Kollegen Mechthild Heil,
(Köln), Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneter und Dr. Johann Wadephul, Gabriele Hiller-Ohm, Pascal
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kober, Heidrun Dittrich und Markus Kurth.
Gemeinsame menschenrechtliche Positionie-
rung der EU gegenüber den Ländern Latein- Mechthild Heil (CDU/CSU):
amerikas und der Karibik einfordern Der vorliegende Antrag der Fraktion Die Linke eig-
net sich in keinster Weise, dem wichtigen Thema „Ar-
– Drucksachen 17/157, 17/925, 17/936 –
mutsbekämpfung in Deutschland“ sinnvolle Impulse zu
Berichterstattung: geben!
Abgeordnete Michael Frieser
(B) Es kann keine Rede davon sein, dass die Bundesregie- (D)
Christoph Strässer
rung und die sie tragenden Fraktionen die Herausforde-
Pascal Kober
rung der Armutsbekämpfung in Deutschland ignorieren.
Annette Groth
Tom Koenigs Im Gegenteil: Im Mittelpunkt der Politik der christ-
lich-liberalen Bundesregierung stehen zwei wesentli-
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
chen Chancen, das Armutsrisiko in Deutschland zu sen-
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –
ken. Wir wollen Arbeitsplätze für möglichst viele
Sie sind damit einverstanden, wie ich sehe. Es handelt
Menschen schaffen, dafür brauchen wir Wachstum, und
sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen:
wir wollen Kinder aus Hartz-IV-Familien in eine Zu-
Michael Frieser, Frank Heinrich, Wolfgang Gunkel,
kunft mit eigenem Einkommen führen, dazu brauchen
Pascal Kober, Heike Hänsel und Tom Koenigs.1)
wir Bildung und gute Kinderbetreuung.
Wir kommen nun zu den Überweisungen:
Der erneut von der Linken geforderte gesetzliche
Tagesordnungspunkt 16 a. Interfraktionell wird Über- Mindestlohn eignet sich hingegen nicht, Armut in
weisung der Vorlage auf Drucksache 17/883 an die in Deutschland zu bekämpfen!
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
Es ist nicht staatliche Aufgabe, in einem Markt die
gen. – Damit sind Sie einverstanden, wie ich sehe. Dann
Preise zu diktieren, auch nicht den Preis für Arbeit. Wir
ist die Überweisung so beschlossen.
wollen die Tarifautonomie stärken. Arbeitgeber und Ar-
Tagesordnungspunkt 16 b. Hier geht es um die Be- beitnehmer können sich auf einen tariflichen Mindest-
schlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte lohn für ihre Branche einigen, wenn sie dies für geboten
und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktion halten.
Bündnis 90/Die Grünen. Der Ausschuss empfiehlt in sei-
Ich unterstreiche nochmals, was schon im Koalitions-
ner Beschlussempfehlung – das sind die Drucksachen
vertrag steht: „Einen einheitlichen gesetzlichen Min-
17/925 und 17/936 –, den Antrag auf Drucksache 17/157
destlohn lehnen wir ab. Die Rechtsprechung zum Verbot
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
sittenwidriger Löhne soll gesetzlich festgeschrieben
lung? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Dann ist die
werden, um Lohndumping zu verhindern. Damit werden
Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitions-
wir auch wirksam gegen soziale Verwerfungen in einzel-
fraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/
nen Branchen vorgehen.“ Ein gesetzlicher Mindestlohn
kann dazu führen, dass Arbeitsplätze für weniger quali-
1) Anlage 2 fizierte Menschen wegfallen und dass die für viele Men-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2485
Mechthild Heil
(A) schen wichtigen Zuverdienstmöglichkeiten, etwa im Be- – Wo ist der Einstieg? – Mit Arbeit Hilfsbedürftigkeit (C)
reich der geringfügigen Beschäftigungen, ebenfalls überwinden.
zurückgehen. Die Folge wären mehr Menschen im Be-
zug von ALG II, die aufgrund geringerer Qualifikatio- – Integration statt Ausgrenzung – Selbstbestimmte Teil-
nen wenig Chancen hätten, in den Arbeitsmarkt zurück- habe für alle Menschen.
zugelangen. Wir, die CDU/CSU, sprechen uns für ein Das ist Ergebnis eines langfristig angelegten Dialog-
Mindesteinkommen mit einer Kombination aus fairen und Abstimmungsprozesses mit allen Akteuren, die sich
Löhnen und ergänzenden staatlichen Leistungen aus. in Deutschland sozial engagieren, darunter Kirchen, So-
Dazu gehört auch eine moderne und leistungsfördernde zialverbände und Selbsthilfeorganisationen. Im Beirat
Steuerpolitik. Diese Richtung werden wir konsequent zur Umsetzung des Aktionsjahres sind rund 20 Verbände
weiterverfolgen. und Institutionen vertreten. Deutschlandweit erhalten
Über die von Ihnen auch jetzt wieder geforderte gene- 40 sogenannte Leuchtturmprojekte Förderungen der EU
relle Anhebung der Regelsätze im Bereich des ALG II im Rahmen des Europäischen Jahres. Es sind angesichts
haben wir zuletzt ausgiebig diskutiert. Wir werden die der mehr als 842 Projektanträge leider viel zu wenige,
Auflagen des Bundesverfassungsgerichts sehr sorgfältig die wir damit fördern können. Es gibt über 800 Anträge
umsetzen und damit die Schwächen in diesem Teil der von verschiedensten Trägern wie Wohlfahrtsverbänden,
rot-grünen „Agenda 2010“ beseitigen. Ein Abstandsge- Kirchen und Stiftungen, mit einem breiten Spektrum von
bot zwischen Lohneinkommen und sozialen Transferleis- Ansätzen und Zielgruppen: Alleinerziehende, Langzeit-
tungen ist unabdingbar, um Menschen den Anreiz zu ge- arbeitslose, Menschen mit Migrationshintergrund oder
ben, eine Arbeit aufzunehmen. Ein Aufgeben dieser Behinderungen und andere mehr. Diese hohe Zahl der
Grundrichtung durch die von Ihnen geforderte nachhal- Anträge zeigt, dass das gesellschaftliche Bewusstsein,
tige Erhöhung der Regelsätze würde aber zwangsläufig etwas gegen Armut und für Chancengerechtigkeit zu tun,
dazu führen, dass wir die Anreize zur Aufnahme von in unserem Land stark verankert ist.
Arbeit kappen. Die Frage, wie ein solches System zu
In meinem Heimatbundesland Rheinland-Pfalz wird
finanzieren wäre, bleibt Ihrerseits wie immer unbeant-
zwar nur ein Projekt gefördert, ich halte es aber für
wortet.
beispielhaft für die guten und sinnvollen Initiativen. Der
Wir tragen auch Sorge für die Menschen in Deutsch- Caritasverband für die Region Rhein-Hunsrück-
land, die Tag für Tag arbeiten gehen, Steuern zahlen und Nahe e.V. betreibt die Tafel Rhein-Hunsrück und machte
sich damit bereit erklären, dass große Teile dessen, was immer wieder die Erfahrung, dass sie den von Armut
sie an den Staat abführen, dazu verwendet werden, um in und Ausgrenzung betroffenen Tafel-Kunden und -Kun-
unserem Land eine soziale Balance zu erhalten und den dinnen bei ihren Problemen nicht angemessen helfen
(B)
Schwächeren zu helfen. Die Akzeptanz unserer sozial- konnten. Das bezuschusste Projekt der Caritas in Ko- (D)
staatlichen Ordnung hängt maßgeblich davon ab, dass operation mit der Tafel will nun Abhilfe schaffen. Vor
die allermeisten das Gefühl haben, es geht gerecht zu Ort bei den Essensausgaben sollen für die Kunden und
und eigene Anstrengung lohnt sich. Reich wird keiner Kundinnen offene Sprechstunden zur Problemklärung
durch Hartz IV. Ja. Hartz IV darf in Deutschland aber abgehalten werden. Zugleich werden die Mitarbeiter
auch nicht zum Stigma werden, egal welche Art von und Mitarbeiterinnen der Tafel in Beratung geschult,
Leistung fließt. damit sie die Betroffenen in wirtschaftlichen, gesund-
heitlichen oder sozialen Fragen und bei Zugängen zum
Es ist wenig hilfreich, wenn in diesem Zusammen- Hilfesystem besser unterstützen können. Zusätzlich zur
hang der Antrag der Fraktion Die Linke von „Armutsre- Beratung werden den Tafel-Kunden und -Kundinnen
gelsätzen“ spricht. Damit stigmatisieren Sie diejenigen, kleinere Qualifizierungsmaßnahmen in Finanzen, Er-
die im ALG-II-Bezug sind. Sie suggerieren, der Staat nährung usw. angeboten, damit sie sich im Alltag besser
würde Menschen durch die Transferleistung in Armut zurechtfinden.
halten. Das Gegenteil ist der Fall. Ohne diese Leistun-
gen würde sich der Sozialstaat ein Armutszeugnis aus- Armut und soziale Ausgrenzung gehen uns alle an.
stellen. Denn richtig ist, dass der weitaus größte Teil des Lassen Sie mich an zwei Punkten nochmals konkretisie-
Bundeshaushalts dazu genutzt wird, die sozialen Siche- ren, was wir tun können. Es ist erwiesen, die Erwerbsar-
rungssysteme zu stabilisieren und deren Funktionsfähig- beit der Eltern verringert das Armutsrisiko der Kinder
keit zu erhalten. Die immensen Summen, zum Beispiel nachhaltig. In Haushalten ohne erwerbstätigen Eltern-
für das ALG II, das Kindergeld und die Zuschüsse zur teil liegt die Armutsrisikoquote von Kindern bei 48 Pro-
Rentenversicherung zeigen, dass wir das Steuergeld der zent; sie sinkt bei einem in Vollzeit erwerbstätigen El-
Bürger sozial verteilen, um den Schwächeren in der Ge- ternteil auf 8, bei zwei in Vollzeit erwerbstätigen
sellschaft zu helfen. Elternteilen auf 4 Prozent. Unsere Bemühungen müssen
also vor allem darauf gerichtet sein, Eltern in Arbeit zu
Die Bundesregierung geht das „Europäische Jahr ge-
bringen und sie für die Aufgaben der heutigen Berufs-
gen Armut und Ausgrenzung 2010“ sehr zielgerichtet
welt fit zu machen. Besonders armutsgefährdet in
an. Das mit der Umsetzung des Europäischen Jahres be-
Deutschland sind Alleinerziehende, die zu 36 Prozent
auftragte Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat
armutsgefährdet sind. Daher ist auch vor diesem Hinter-
drei Themenschwerpunkte entwickelt:
grund der weitere Ausbau der Kinderbetreuung – übri-
– Jedes Kind ist wichtig – Entwicklungschancen verbes- gens auch für Schulkinder – von immenser Bedeutung,
sern. damit alleinerziehende Eltern ihre Kinder verlässlich

Zu Protokoll gegebene Reden


2486 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Mechthild Heil
(A) betreut wissen und beruhigt einer Erwerbsarbeit nach- Drittens: Wenn Sie davon reden, dass Armut und so- (C)
gehen können. Wir werden unseren Weg konsequent wei- ziale Ausgrenzung Resultate der Agenda 2010 und der
tergehen! Lissabon-Strategie sind, sollten Sie nicht öffentlich er-
klären, dass Bolivien, ein Land mit extremer Armut und
großen sozialen Problemen, für eine „Alternative zum
Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU):
neoliberalen Kapitalismus“ stehe, ein Land, bei dem
Ich kann mich den Ausführungen meiner Kollegin etwa 10 Prozent der Bevölkerung über 40 Prozent des
Heil zum vorliegenden Antrag der Fraktion Die Linke Gesamteinkommens verfügen.
voll und ganz anschließen: Ihr Antrag leistet überhaupt
keinen Beitrag zu einer ernsthaften Diskussion über die Viertens: Chancengleichheit bedeutet nicht Umver-
wirklichen Probleme von Menschen, die tagtäglich spü- teilung, wie man das bei der Linken immer wieder hört.
ren, dass sie an Grenzen stoßen, sei es die Alleinerzie- Es ist schwierig, etwas aufzubauen, ein Haus, ein Ver-
hende, die nur deswegen von staatlicher Hilfe leben mögen, ein funktionierendes Bildungssystem. Aber es ist
muss, weil es an ihrem Ort keine Kitaplätze gibt, oder verhältnismäßig einfach, anderen etwas wegzunehmen
der Junge aus einer Migrantenfamilie, der aufgrund und nichts Neues aufzubauen, zumindest solange noch
mangelnder Beherrschung der deutschen Sprache in der etwas da ist. Zum Glück ist der Sozialismus, den Sie wei-
Schule nicht mitkommt. Mit ideologischen Leerfloskeln ter fortführen wollen, passé.
und Polemik wie „Armutsregelsätze“ sowie „Umvertei-
lung des gesellschaftlichen Reichtums von oben nach Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
unten“ tragen Sie selbst dazu bei, Menschen in unserer Das Europäische Jahr 2010 steht unter dem Motto
Gesellschaft zu stigmatisieren und ihnen einen Stempel „Mit neuem Mut“. In Deutschland hat hierfür das Bun-
aufzudrücken, den sie nicht verdient haben. Sie helfen ih- desministerium für Arbeit und Soziales die Gesamtkoor-
nen damit nicht, sondern verstärken ihre ohnehin schon dination. Für dieses Jahr wurden bereits unter unserem
schwierige Lage. Vieles aus Ihrem Antrag ist nicht neu, SPD-Arbeitsminister Olaf Scholz insgesamt 40 Projekte
sondern findet sich in Ihrem Bundestagswahlprogramm in Deutschland, die mit rund 1,4 Millionen Euro geför-
wieder. Als Antwort auf die großen Herausforderungen dert werden, auf den Weg gebracht. Thematische
bei der Armutsbekämpfung findet man dort lediglich: Schwerpunkte liegen dabei in folgenden Bereichen: „Je-
Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Min- des Kind ist wichtig – Entwicklungschancen verbes-
destlohnes von 10 Euro, Kündigungsschutz ausweiten sern“, „Wo ist der Einstieg? – Mit Arbeit Hilfebedürftig-
und Hartz IV abschaffen, privaten Bankensektor ver- keit überwinden“, „Integration statt Ausgrenzung –
staatlichen, Aufbau eines öffentlichen Beschäftigungs- Selbstbestimmte Teilhabe für alle Menschen“.
sektors.
(B) Zur Armutsbekämpfung müssen alle Politikfelder eng (D)
Hierzu möchte ich folgende Bemerkungen machen: zusammenarbeiten. Leider fehlt diese Vernetzung oft.
Die jetzt geförderten Projekte bieten gute Möglichkei-
Erstens: Ein flächendeckender gesetzlicher Mindest- ten, gemeinsam noch effektiver gegen Armut zu arbeiten.
lohn, der über dem markträumenden Gleichgewichts- Armutsbekämpfung ist wichtig. Leider verhält sich die
lohn liegt, nimmt gerade niedrig qualifizierten inländi- schwarz-gelbe Bundesregierung dabei viel zu passiv.
schen Arbeitskräften jegliche Beschäftigungschancen, Wenn sie hier die gleiche Leidenschaft an den Tag legen
weil er zu höheren Lohnkosten und damit letztlich zu würde wie bei der Entlastung von Besserverdienenden,
Verlust von Arbeitsplätzen in Deutschland führt. Das hat hätten deutlich mehr Menschen die Chance auf einen
bereits der Wissenschaftliche Dienst im September 2005 annehmbaren Lebensstandard! Stattdessen geht die
deutlich gemacht. Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland weiter
Zweitens: Alle Fraktionen im Deutschen Bundestag, auseinander. Schwarz-Gelb hat mit der verfehlten und
mit Ausnahme Ihrer Fraktion, halten die Grundsätze von unsozialen Klientelpolitik bereits nach nicht einmal
Hartz IV, nämlich die Zusammenführung der bisherigen 150 Tagen Regierungszeit erheblich dazu beigetragen.
Arbeitslosen- und der Sozialhilfe für Erwerbsfähige zu Diese kurze Zeit hat auch ausgereicht, um das soziale
einer einheitlichen Grundsicherung für Arbeitssuchende Klima in Deutschland zu vergiften. Verantwortlich dafür
für richtig. Insbesondere die Langzeitarbeitslosen haben ist die FDP, maßgeblich durch die Äußerungen des
dadurch Zugang zu einer Reihe von wirkungsvollen Ar- Bundesaußenministers und des Berliner Abgeordneten
beitsmarktinstrumenten und Hilfen erhalten. Auch der Martin Lindner.
Grundsatz von „Fordern und Fördern“ ist richtig und
wird weder vom Bündnis 90/Die Grünen noch von den Jeder siebte Deutsche lebte 2008 unterhalb der Ar-
Sozialdemokraten bestritten. mutsschwelle – das bedeutet, dass man weniger als
60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung
Im Hinblick auf das Urteil des Bundesverfassungsge- hat. Im Vergleich zu 1998 hat sich die Zahl um rund ein
richts zu den Hartz-IV-Regelsätzen möchte ich Ihnen sa- Drittel erhöht. Überdurchschnittlich sind Alleinerzie-
gen, dass das Bundesverfassungsgericht nicht die Be- hende betroffen. Hier waren es rund 40 Prozent. Aber
rechnungsmethode selbst und ebenso wenig die Höhe auch viele Menschen, die von der Grundsicherung le-
der Leistungen gerügt hat, sondern das Berechnungs- ben, sind von Armut bedroht. Deshalb müssen wir über
verfahren. Vor diesem Hintergrund eine Erhöhung des die Bemessungsgrundlage von Regelsätzen sprechen.
Regelsatzes für Erwachsene auf 500 Euro zu fordern, ist Und natürlich müssen wir auch endlich eigenständige
eine unehrliche und gefährliche Debatte. bedarfsgerechte und rechtssichere Regelsätze für Er-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2487
Gabriele Hiller-Ohm
(A) wachsene und besonders für Kinder auf den Weg brin- Die Linke die europäische Ebene als wichtiges Hand- (C)
gen. Das Bundesverfassungsgericht hat das zu Recht an- lungsfeld erkannt hat – immerhin hatte die Linkspartei
gemahnt. Die Oppositionsfraktionen haben sich mit noch vor dem Bundesverfassungsgericht gegen den Ver-
Anträgen dazu positioniert. Von der Regierung gibt es trag von Lissabon geklagt. Und mit der Verankerung so-
aber nur peinliche Stille! Der Sozialstaat muss gestärkt zialer Komponenten und des sozialen Fortschritts in
und nicht abgebaut werden. Deswegen ist es wichtig, so- Europa rennen Sie bei uns offene Türen ein. Die SPD hat
ziale Leistungen weiterzuentwickeln und zu verbessern. dazu Anfang Mai 2009 zusammen mit dem DGB ein ge-
Wer keine oder schlechte Arbeit hat, ist arm dran! meinsames Positionspapier für sozialen Fortschritt in
Europa verabschiedet, das deutliche Maßstäbe setzt und
Wir brauchen deshalb gute Jobs und faire Arbeitsbe- sozialen Grundrechten einen absoluten Vorrang ein-
dingungen in Deutschland. CDU, CSU und FDP sub- räumt. Daran müssen wir weiter arbeiten – wir laden
ventionieren lieber Lohndumping mit aufstockendem Ar- alle Fraktionen dazu ein, den Weg mit uns gemeinsam zu
beitslosengeld II als „Quasi-Kombilohn“ auf Kosten der gehen, auch nach dem Ablauf des Europäischen Jahres
Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Nur mit einem ge- 2010 gegen Armut und soziale Ausgrenzung.
setzlichen und flächendeckenden Mindestlohn kann es
gelingen, dass Menschen, die eine Vollzeitstelle haben,
auch ein existenzsicherndes Arbeitsentgelt erhalten. Wer Pascal Kober (FDP):
arbeitet, muss davon leben können! Die Ergebnisse in Die christlich-liberale Koalition bekennt sich in ih-
Deutschland sind leider ernüchternd. 5,1 Millionen rem Koalitionsvertrag klar zum verstärkten Einsatz ge-
Menschen arbeiten für einen Stundenlohn von unter gen Armut in Deutschland. Nichts anderes beinhalten
8 Euro. 20 von 27 EU-Mitgliedstaaten haben Lohnun- die Maßnahmen, die wir dort gemeinsam beschlossen
tergrenzen, die in westeuropäischen Staaten wie Frank- haben. Nichts anderes ist es, wenn wir die Instrumente
reich, Irland, den Niederlanden oder Belgien bei über zur Vermittlung in den Arbeitsmarkt verbessern wollen.
8,40 Euro pro Stunde liegen. Nichts anderes ist es, wenn wir die Hinzuverdienstgren-
zen verbessern wollen. Nichts anderes ist es, wenn wir
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist ebenfalls das Schonvermögen im Sozialgesetzbuch II morgen von
ein wichtiger Aspekt, gerade für die rund 650 000 Al- 250 auf 750 Euro verdreifachen werden. Vor allem aber
leinerziehenden, die arbeitslos sind oder in ihrem Job zu setzen wir auf Bildung als langfristige Investition zur
wenig verdienen und deshalb auf Arbeitslosengeld II an- Vermeidung von Armut.
gewiesen sind. Eine für Eltern gebührenfreie bedarfs-
deckende Kinderbetreuung ist dabei die wichtigste Deshalb trifft der Vorwurf, dass diese Regierungs-
Maßnahme, nicht nur, weil jedes Kind wichtig ist und koalition sich des Problems der Armut in Deutschland
nicht annehmen würde, schlichtweg nicht zu. Wir sind
(B) Entwicklungschancen so verbessert werden, sondern es, die jetzt Regelungen, die die rot-grüne Bundesregie- (D)
weil es Alleinerziehenden erst ermöglicht, mit Arbeit aus
der Armutsgefährdung herauszukommen. Die SPD hat rung bewusst getroffen hat, zum Beispiel die Regelungen
sich erfolgreich dafür eingesetzt, dass ab dem Jahr 2013 im SGB II, im Sinne der Betroffenen verbessern und ge-
jedes Kind ab einem Jahr einen Rechtsanspruch auf ei- rechter ausgestalten.
nen Kitaplatz bekommt. Wir nehmen uns der Menschen, die in Armut leben,
an. Auch und gerade in der Wirtschafts- und Finanzpoli-
Armut, mangelnde Teilhabe und ein versperrter Zu-
tik und der Bildungspolitik haben wir konkrete Punkte
gang zu Bildung hängen eng miteinander zusammen.
vereinbart. Durch Steuerentlastungen haben wir wirt-
Besonders Kinder aus armen Familien müssen gut, dis-
schaftliches Wachstum gefördert und werden das auch
kriminierungsfrei und nicht stigmatisierend unterstützt
so fortsetzen. Dies führt auch dazu, dass mehr Menschen
werden. Deswegen fordern wir Gebührenfreiheit von der
in Arbeit bleiben können und darüber hinaus in Arbeit
Kita bis zur Uni. Deswegen haben wir das Schulbedarfs-
kommen und nicht mehr von Sozialleistungen des Staa-
paket auf den Weg gebracht. Und deshalb fordern wir,
tes abhängig sind.
die Bedarfe für Bildung und gesellschaftliche Teilhabe
bei den Regelsätzen gerecht abzubilden. Noch immer gilt, dass gute Bildungspolitik die beste
Sozialpolitik ist. Gute Bildungspolitik schafft die Vo-
Gute Bildung und Berufsausbildung bringen die besten raussetzungen dafür, dass Menschen in Freiheit selbst-
Voraussetzungen, um Armut bei der heranwachsenden Ge- bestimmt leben können. Daher haben wir uns als christ-
neration zu vermeiden. Wenn es um Armutsbekämpfung lich-liberale Koalition klar und deutlich zur verstärkten
geht, sind diese Punkte für die SPD wesentlich. In unseren Förderung in der Bildungspolitik ausgesprochen. So
Anträgen zur Gleichstellung und zu den Konsequenzen werden wir neben der Einführung von leistungsabhängi-
aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zu den gen Stipendien auch die Kinderbetreuung weiter aus-
Regelsätzen haben wir uns heute im Bundestag positio- bauen. Das sind Maßnahmen, die die Armut von morgen
niert. Der jetzt vorliegende Antrag der Fraktion Die verhindern. Auch das gehört für uns Liberale zum Euro-
Linke zum Europäischen Jahr macht in vielen Punkten päischen Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung.
perspektivisch einen richtigen – wenn auch sehr ab-
strakten – Aufschlag. Leider fehlen in dem Forderungs- Was die Linke in ihrem Antrag aber unter anderem als
katalog der Linken viele Punkte, die für eine wirksame Maßnahmen gegen Armut vorschlägt, ist vollkommen
Armutsbekämpfungsstrategie notwendig wären. Der An- kontraproduktiv. Zudem verdrehen Sie, wie so oft, Tatsa-
trag der Linken greift deswegen aus Sicht der SPD- chen. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts
Fraktion zu kurz. Aber ich freue mich, dass die Fraktion vom 9. Februar zu den Regelsätzen im SGB II werden

Zu Protokoll gegebene Reden


2488 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Pascal Kober
(A) wir nun zügig, aber auch gründlich die vorgeschriebene Auch in Deutschland ist seit dem Jahr 2000 die Zahl (C)
Überarbeitung vornehmen. Wir werden uns dabei an der Menschen, die in Armut leben müssen, von 8 auf
den Maßgaben des Urteils orientieren und den Regelsatz 12 Millionen dramatisch angestiegen. Menschen, die
sachgerecht, transparent und somit nachvollziehbar er- unterhalb der Armutsgrenze leben, werden sechzehnmal
mitteln. Da uns zum jetzigen Zeitpunkt die Einkommens- häufiger krank, ihre Lebenserwartung liegt vier Jahre
und Verbrauchsstichprobe noch nicht vorliegt und daher unterhalb des Durchschnitts. Wer arm ist, findet schwie-
noch keine Bewertung vorgenommen werden kann, sind riger eine Arbeit oder eine Wohnung und hat weniger
Aussagen über die künftige Höhe der Regelsätze ver- Zugang zu Bildungsmöglichkeiten.
früht und populistisch.
Rund 30 Prozent der Armen in Deutschland sind
In einer Sache haben Sie in Ihrem Antrag recht, wenn Alleinerziehende, circa 80 Prozent von ihnen sind allein-
Sie feststellen, dass sich die Bundesregierung gegen ei- erziehende Mütter. Frauen sind von der Armut beson-
nen gesetzlichen Mindestlohn ausspricht, und dies aus ders bedroht, sie verdienen durchschnittlich 30 Prozent
guten Gründen. Zum einen führt ein gesetzlicher Min- weniger und besitzen nur 82 Prozent des ausgabefähi-
destlohn zum Verlust von Arbeitsplätzen. Besonders im gen Einkommens gegenüber dem der Männer. Das Ri-
Bereich der Jugendarbeitslosigkeit lässt sich dies an siko, in Armut zu geraten, ist vor allem für ältere Frauen
Beispielen aus dem europäischen Ausland deutlich bele- besonders hoch, da die Sozialschutzsysteme in der EU
gen. Wir setzen daher auf ein Mindesteinkommen, das häufig auf dem Grundsatz einer ununterbrochenen be-
den Menschen ein menschenwürdiges Auskommen er- zahlten Erwerbstätigkeit beruhen, welche Frauen häufig
möglicht. Zum anderen sorgen auch die in der politi- nicht haben.
schen Diskussion genannten Höhen von Mindestlöhnen
Auch Kinder sind zunehmend von Armut betroffen. In
nicht für ein Auskommen ohne staatliche Unterstützung.
den EU-Mitgliedstaaten leben 20 Prozent der Minder-
Damit ist ein Mindestlohn kein Instrument, um Men-
jährigen unterhalb der Armutsgrenze. Während die
schen aus der staatlichen Unterstützung herauszuhelfen.
wachsende Kinderarmut auf die schlechte Einkommens-
Der Antrag der Linken liefert keinerlei tragfähige situation der Haushalte zurückzuführen ist, zeigt die
Konzepte. Wenn Sie unter anderem fordern, dass „eine ebenfalls steigende Altersarmut, dass die europäischen
soziale Fortschrittsklausel in das EU-Vertragswerk“ Rentensicherungssysteme nicht mehr armutsfest sind.
eingesetzt werden soll, kann ich Ihnen sagen, dass diese 19 Prozent der über 65-Jährigen sind von Armut akut
Diskussion im Rahmen der Erarbeitung und der Be- gefährdet.
schlussverfassung ausgiebigst diskutiert wurde – und zu
Selbst wer Arbeit hat, ist vor Armut nicht mehr si-
Recht keine Mehrheit fand.
cher! Ein Großteil der Menschen, die unterhalb der
(B) Abschließend kann ich Ihnen noch aufzeigen, wie sich Armutsgrenze leben müssen, sind Beschäftigte im Nied- (D)
diese Regierung schon jetzt konkret am Europäischen riglohnbereich. Rund 25 Prozent aller abhängig Be-
Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung beteiligt. schäftigten arbeiten in Deutschland mittlerweile im
Am 25. Februar hat Bundesministerin von der Leyen im Niedriglohnsektor – Tendenz steigend. Nirgendwo in
Rahmen einer Festveranstaltung das Europäische Jahr Europa liegt die Quote höher. In Großbritannien beträgt
gegen Armut und soziale Ausgrenzung eröffnet. Die EU der Anteil der Geringverdiener an allen Beschäftigten
und das Ministerium fördern dabei gezielt 40 Sozialpro- 21,7 Prozent, in den Niederlanden 17,6 Prozent, in Frank-
jekte mit insgesamt 1,5 Millionen Euro. Auch vor diesem reich 11,1 Prozent und in Dänemark sogar nur 8,5 Pro-
Hintergrund lässt sich die Behauptung der Linken, dass zent.
sich die Bundesregierung des Themas nicht annimmt, Besonders erschreckend: die hohe Zahl derjenigen,
nicht aufrechterhalten. die sich mit absoluten Billigjobs zu Stundenlöhnen von
Wir haben uns des Problems der Armut angenommen unter fünf Euro begnügen müssen. Das sind in Deutsch-
und beteiligen uns angemessen am Europäischen Jahr land inzwischen fast zwei Millionen Arbeitnehmer,
gegen Armut und soziale Ausgrenzung. knapp ein Drittel der 6,5 Millionen Beschäftigten im
Niedriglohnsektor. In den meisten anderen Ländern, so
Heidrun Dittrich (DIE LINKE):
auch im liberalen Großbritannien, sind solche Löhne
gesetzlich verboten. Selbst die USA haben wir im Be-
Das Sozialprodukt der Europäischen Union umfasst reich des Niedriglohnsektors überholt. Wir können da-
12,4 Billionen Euro und ein Pro-Kopf-Einkommen von von ausgehen, dass die Zahl der Armen als Folge der
23 600 Euro. Damit ist die EU der größte Wirtschafts- Wirtschafts- und Finanzkrise weiter zunimmt.
raum der Welt. Angesichts dieser Zahlen sollte Armut ei-
gentlich der Vergangenheit angehören. Aber statt zu ver- Das Europäische Jahr gegen Armut und soziale Aus-
schwinden, wächst die Armut in der EU stetig an – der grenzung ernst nehmen! Die Europäische Kommission
Graben zwischen Arm und Reich wird immer tiefer. hat das Jahr 2010 zum „Europäischen Jahr gegen Ar-
Nach offiziellen Angaben müssen 80 Millionen Euro- mut und soziale Ausgrenzung“ ausgerufen. In den vom
päer mit weniger als 60 Prozent des Durchschnittsloh- Europäischen Parlament und vom Rat beschlossenen
nes ihres Heimatlandes auskommen. 17 Prozent der Zielen des Europäischen Jahres gegen Armut wird eine
Europäerinnen und Europäer sind damit von Armut di- Gesellschaft eingefordert, in der es keine Armut mehr
rekt betroffen. Jeder zehnte EU-Bürger hat nicht das gibt, in der eine gerechte Verteilung ermöglicht wird und
Geld, um wenigstens jeden zweiten Tag Fleisch, Fisch in der niemand ausgegrenzt wird. Eine Gesellschaft
oder eine gute vegetarische Mahlzeit zu essen. ohne Armut ist keineswegs unrealistisch und utopisch,

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2489
Heidrun Dittrich
(A) denn die Armut existiert neben einem immer größer wer- Arbeit wieder lohnen solle, spielt er die Erwerbslosen (C)
denden gesellschaftlichen Reichtum, der schon lange ein und die Erwerbstätigen gegeneinander aus. Damit lenkt
Ausmaß angenommen hat, dass er die Armut für immer er von den eigentlichen Verantwortlichen für die soziale
verbannen könnte. Schieflage ab. Der Hintergrund ist, dass Teile der
aktuellen Bundesregierung offen darüber nachdenken,
Ein wirkliches Handlungsprogramm der Bundes- die Regelleistungen noch weiter zu kürzen. Ich meine:
regierung gegen Armut und soziale Ausgrenzung ist je- Nicht die Hartz-IV-Regelsätze sind zu hoch, sondern die
doch nicht erkennbar. Ganz im Gegenteil: In jüngster Löhne sind zu niedrig! Der von Westerwelle bemühte
Zeit überbieten sich die Regierungsparteien mit politi- Vergleich mit der „spätrömischen Dekadenz“ ist nicht
schen Vorstößen, die das Sozialmodell der Republik nur historisch vollkommen verfehlt, sondern verdeut-
grundlegend in Frage stellen. Die Formulierung im Na- licht auf eine menschenverachtende Weise den Realitäts-
tionalen Strategiepapier des Bundesarbeits- und Sozial- verlust des Vizekanzlers und Außenministers.
ministeriums zur Umsetzung des Jahres gegen Armut,
dass „trotz der vielfältigen politischen Maßnahmen“ die Ein monatlicher Regelsatz von 359 Euro für Erwach-
Armut gewachsen sei, ist an Zynismus kaum noch zu sene ist menschenunwürdig! Er ermöglicht weder eine
überbieten. Realität ist doch, dass wegen und nicht Beteiligung am gesellschaftlichen und kulturellen Leben
„trotz“ der Umsetzung der neoliberalen Lissabon-Stra- noch eine ausgewogene und gesunde Ernährung. Wie
tegie und der Agenda 2010 die Armut rasant gestiegen soll zum Beispiel ein Erwerbsloser mit 11,27 Euro im
ist. Die Lissabon-Strategie und deren Entsprechung in Monat für den öffentlichen Nahverkehr tatsächlich mo-
der Bundesrepublik, die Agenda 2010, haben mit der bil sein und am gesellschaftlichen Leben teilnehmen? In
Schaffung und Förderung des Niedriglohnsektors und Berlin oder Hannover kann man mit diesem Betrag circa
von ungesicherten Arbeitsverhältnissen maßgeblich zum fünf Mal die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen. Auch
Anstieg von Armut beigetragen. die Medien, angefangen bei der „Zeit“ bis zur „Bild“,
Hartnäckig hält sich daher der Eindruck auch bei reihen sich ein in die von Westerwelle initiierte Miss-
zahlreichen sozialen Initiativen und Verbänden, dass das brauchsdebatte und mischen ordentlich mit bei der
Europäische Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung Konstruktion von Sozialneid und Sündenböcken. Gegen
von der Bundesregierung dazu benutzt werden soll, die alle Fakten konnten wir in „Bild“ und auch in der
noch verbliebenen, tatsächlich unzureichenden sozialen „Zeit“ lesen, dass Menschen mit Migrationshintergrund
Sicherungssysteme als ausreichend zu loben. Pressemit- dem Steuerzahler auf der Tasche liegen und damit mit-
teilungen des Ministeriums und auch das Nationale verantwortlich für die leeren öffentlichen Kassen seien.
Strategiepapier bestärken die Vermutung noch, dass es Tatsächlich sind die Staatskassen leer, weil sich Unter-
nehmen und Vermögende immer weiter aus der Finan-
(B) sich bei dem Europäischen Jahr 2010 lediglich um eine zierung der öffentlichen Ausgaben zurückziehen konn- (D)
werbewirksame PR-Aktion für die Politik der Bundesre-
gierung handelt. ten. „Zeit“-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo bemüht
sogar das alte rassistische Bild von der Einwanderung
Zahllos sind die im Europäischen Jahr 2010 geplan- in die Sozialsysteme. Dabei war die Einwanderungs-
ten Projekte, die lediglich auf die Bewusstseinsmachung bilanz in der Bundesrepublik nie schlechter als heute.
für Armutsrisiken abzielen. Zu diesem Zweck sollen laut Inzwischen verlassen fast ebenso viele Menschen das
Nationalem Strategiepapier beauftragte PR-Agenturen Land, wie neue einwandern. Solche hetzerischen Äuße-
sicherstellen, „dass regelmäßig über gute Beispiele der rungen kennen wir sonst nur von Rechtsextremen. Damit
Umsetzung sozialer Integration und Armutsprävention wird das gesellschaftliche Klima ins Unerträgliche ver-
berichtet wird“. Werbe- und PR-Agenturen dürften so schlechtert.
die Hauptnutznießer des Europäischen Jahres 2010
sein, denn diese Arbeit will ja entlohnt sein. Wir haben Dieser Spaltung der Bevölkerung tritt die Linke ent-
jedoch kein Erkenntnisdefizit, sondern ein politisches schlossen entgegen. Wenn wir die Ziele des Europäi-
Handlungsdefizit. Angesichts der sozialen Probleme in schen Jahres gegen Armut und soziale Ausgrenzung
unserem Land sollte die Bundesregierung nicht Werbe- ernst nehmen, dann brauchen wir einen radikalen Poli-
agenturen, sondern Taten sprechen lassen. tikwechsel für mehr Arbeit und soziale Gerechtigkeit. Es
geht darum, gesellschaftliche Umstände zu schaffen, in
Der DGB hat nun die Zusammenarbeit mit dem Bun- denen Armut ausgeschlossen bleibt.
desarbeits- und Sozialministerium (BMAS) zum Euro-
päischen Jahr 2010 aufgekündigt. Die stellvertretende Um Armut nachhaltig zu bekämpfen und um ein men-
DGB-Bundesvorsitzende Annelie Buntenbach kritisiert schenwürdiges Leben zu gewährleisten, benötigen wir
in scharfen Tönen das Verfahren bei der Auswahl der zu jetzt einen gesetzlichen Mindestlohn von 10 Euro und
fördernden Projekte. Gesetzliche Aufgaben wie Sprach- die Fortentwicklung der Sozialversicherungen zu Bür-
förderung von Kindern, werden nicht finanziell abgesi- gerversicherungen, in denen das Solidarprinzip gestärkt
chert, sondern als befristete finanziell ungesicherte Pro- wird und zu deren Finanzierung hohe und höchste Ein-
jekte gewährt. Auch die Debatte im Anschluss an das kommen angemessen herangezogen werden. Wir fordern
Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 9. Februar 2010 die Abschaffung von 1-Euro-Jobs sowie die Einschrän-
zur Verfassungswidrigkeit der Hartz-IV-Regelleistungen kung von Leih- und Zeitarbeit. Hartz IV soll durch eine
lässt an einem angemessenen Problembewusstsein der bedarfsorientierte soziale Mindestsicherung ersetzt wer-
Bundesregierung ernsthaft zweifeln. Mit den Äußerun- den, die gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht und sank-
gen des Bundesaußenministers Westerwelle, dass sich tionsfrei ist.

Zu Protokoll gegebene Reden


2490 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Heidrun Dittrich
(A) Darüber hinaus brauchen die sozial benachteiligten Die Linke will das Europäische Jahr gegen Armut (C)
und bedürftigen Familien allerdings auch mehr finan- und soziale Ausgrenzung gemeinsam mit Gewerkschaf-
zielle Mittel zu ihrer freien Verfügung, denn das meiste, ten, Erwerbsloseninitiativen und mit sozialen Bewegun-
was man bei uns zum Leben braucht, bekommt man nur gen dazu nutzen, über gesellschaftliche Ursachen von
gegen Bares. So zu tun, als lägen die sozialen Defizite Armut und alternative Lösungsansätze zu diskutieren.
bloß auf dem Gebiet der Beteiligungs-, nicht aber der Neue Ansätze der sozialen und demokratischen Teilhabe
Verteilungsgerechtigkeit, ist verkürzt. Gesellschaftliche müssen entwickelt werden. Die Linke ruft auf, den glo-
Teilhabe in Armut reicht nicht aus. Denn heute ist das balen Aktionstag gegen Armut am 17. Oktober 2010 mit
Geld in fast allen Lebensbereichen so wichtig wie noch den vielfältig geplanten Protesten wie den Europäischen
nie, und es ist auch so ungleich verteilt wie noch nie. Märschen gegen Arbeitslosigkeit und Armut und der
Wer die Armut bekämpfen will, kommt an einer Umver- Weltfrauenkonferenz zu verbinden.
teilung von Vermögen und Arbeit nicht vorbei. Ein
wirksames Mittel, der wachsenden Arbeitslosigkeit ent- Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
gegenzusteuern, ist die Verkürzung der wöchentlichen
Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich und die Senkung Dass die Linke hier und heute einen Antrag zum
des Renteneintrittsalters. „Europäischen Jahr gegen Armut und soziale Ausgren-
zung“ stellt, das kann ich schon verstehen. Denn wenn
Wir kommen nicht darum herum, das Tabu zu bre- ich mir anschaue, was diese Bundesregierung im Be-
chen: Der Staat braucht neue, wesentliche Einnahmen: reich Armutsbekämpfung abliefert, dann ist das schon
Kapitalgewinne, Kapitaltransaktionen, große Vermögen ein Trauerspiel. Sie nimmt ja noch nicht einmal zur
und Einkommen, von denen es noch nie so viel gab wie Kenntnis, welche Ausmaße Armut und soziale Ausgren-
heute, müssen höher oder überhaupt erst besteuert wer- zung haben. Sie hat ja einen Außenminister in ihren Rei-
den. Die schwarz-gelbe Regierungskoalition ist dazu hen, der die Armut gar nicht sieht, einen Außenminister,
aber offenbar, genau wie ihre Vorgänger, nicht bereit. der meint, Hartz-IV-Empfänger lebten in spätrömischer
Deswegen fordert die Linke eine stärkere Beteiligung Dekadenz. Wenn das so wäre, dann fehlten mir die
der wirtschaftlich Leistungsfähigen an den Kosten des Worte für das, was uns unser Vortragsreisender
Gemeinwesens. Wir fordern die Anhebung des Spitzen- Guido Westerwelle da bietet. 7 000 Euro für ein paar
satzes in der Einkommensteuer auf 53 Prozent, eine hö- warme Worte, das wäre eine Steigerung von Dekadenz,
here Erbschaftsteuer und die Wiedereinführung der Ver- für die es gar keine Worte mehr gibt. Mir wird angst und
mögensteuer als Millionärssteuer. Jahrelang wurde mit bange, wenn ich daran denke, dass Deutschlands wohl
staatlicher Unterstützung von unten nach oben umver- teuerste Plaudertasche uns in der Welt als ranghöchster
teilt. Dieser Trend muss nun umgekehrt werden! Diplomat repräsentieren soll.
(B) (D)
Wir fordern die Bundesregierung auf, ein ernst ge- Andere Mitglieder der Bundesregierung sind offen-
meintes Strategiepapier gegen Armut und soziale Aus- bar nur noch damit beschäftigt, die Scherben zusam-
grenzung vorzulegen, das den Kampf gegen Armut und menzukehren, die der oberste Repräsentant des Lobbyis-
soziale Ausgrenzung als politische Priorität versteht. Es tenvereins der Besserverdienenden, der eigentlich LdB
müssen verbindliche Ziele zur Reduktion von Armut und statt FDP heißen müsste, zusammenzukehren.
sozialer Ausgrenzung mit einem konkreten Zeithorizont
festgelegt werden. Die Erreichung der jeweiligen Ziele Anders ist das, was uns Frau von der Leyen als in
muss durch ein konkretes Handlungsprogramm abgesi- Deutschland für die Durchführung des Europäischen
chert werden, das mit ausreichenden finanziellen Mit- Jahres zuständige Ministerin nun vorsetzt, nicht zu er-
teln ausgestattet wird! klären.
Auf EU-Ebene ist das Thema Vermeidung und Be- Nach der nationalen Strategie für das Europäische
kämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung eben- Jahr sollen lediglich 1,24 Millionen von 2,25 Millionen
falls zu einem Schwerpunkt zu machen. Wir fordern die Euro tatsächlich in die Förderung konkreter Projekte
Bundesregierung auf, sich dafür einzusetzen, dass eine gehen, die etwas mit Armut und sozialer Ausgrenzung zu
soziale Fortschrittsklausel in das EU-Vertragswerk auf- tun haben. Der Rest fließt in die Öffentlichkeitsarbeit.
genommen wird. Dies bedeutet, dass soziale Grund- Im besten Falle erfahren wir also das, was wir sowieso
rechte im Konfliktfall Vorrang haben müssen gegenüber wissen, wenn wir mit offenen Augen durch die Straßen
der sogenannten „Niederlassungsfreiheit des Kapitals“, gehen, nämlich dass es überall in Deutschland Armut
der „Dienstleistungsfreiheit“ und der „Freiheit des Ka- und soziale Ausgrenzung gibt. Auf jeden Fall profitieren
pitalverkehrs“ – denn es ist diese neoliberale Politik der aber die Werbeagenturen. Ob das im Sinne von Armut
Profitmaximierung, die uns in die wirtschaftliche Krise betroffener Menschen ist, kann man getrost bezweifeln.
geführt hat. Insbesondere fordert die Linke, die Koali- Interessant ist aber schon, zu erfahren, an welche Wer-
tionsfreiheit, die Tarifautonomie, das Streikrecht der Ge- beagenturen welche Summen fließen. Genau das habe
werkschaften und das Recht der Mitgliedstaaten zum ich die Bundesregierung in der Kleinen Anfrage auf
Erlass von Tariftreuegesetzen anzuerkennen und in der Drucksache 17/833 gefragt. Ich bin gespannt. Mich inte-
Praxis abzusichern. Wir fordern zudem die Staats- und ressiert ehrlich gesagt auch sehr, warum die Bundesre-
Regierungschefs der EU sowie die Europäische Kom- gierung nur 40 Projekte fördert, wenn sich doch 842 be-
mission in Brüssel eindringlich auf, sofort Regelungen worben haben und ursprünglich 50 bis 70 Projekte
zu erlassen, mit denen alle Mitgliedstaaten wirksam ge- gefördert werden sollten. Ich hoffe, es lag nicht daran,
gen Lohndumping vorgehen können. dass diese Projekte auch die Ursachen von Armut und

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2491
Markus Kurth
(A) sozialer Ausgrenzung thematisiert hätten, Sachverhalte, Lärm aus einer Industrieanlage. Niemand kann ernst- (C)
die bei der Auswahl von Projekten „Wie knapp bei Kasse – haft gegen dieses Ziel sein, und auch wir sind es nicht.
Wir kommen klar“ und „Arm ist nicht, wer wenig hat“ Das haben die Fraktionen des letzten Bundestages im
sowie „Arbeitsgelegenheit im Fokus“ keine Rolle spie- Übrigen auch schon übereinstimmend bekräftigt.
len, deren Erörterung aber gewinnbringend wäre. Aber
Falsch ist es aber, dort schwarz-weiß zu malen, wo
möglicherweise kann die Bundesregierung mir diese
eine bunte Palette an unterschiedlichen Interessen be-
Frage ja ebenfalls beantworten, denn auch sie ist Teil
steht. Und an dieser Stelle zeigt der Antrag der SPD-
meiner Kleinen Anfrage zur Sache. Gleiches gilt für die
Fraktion zum Kinderlärm Schwächen. Die Kolleginnen
Frage, warum den Mitgliedern des Programmbeirats
und Kollegen von der SPD haben es sich ja auch einfach
von den 842 Projektanträgen, die eingereicht wurden,
gemacht und den Bundesratsantrag von Rheinland-
nur 70 präsentiert wurden.
Pfalz abgeschrieben. Nur der letzte Punkt ist hinzuge-
Wenn ich mir diesen Antrag der Fraktion Die Linke fügt.
so anschaue, dann muss ich sagen, mir ist das viel zu un-
Selbstverständlich hat die Entfaltung der Kinder als
konkret. Ich weiß bei vielem einfach gar nicht genau,
was sich dahinter verbirgt, eine soziale Fortschritts- wesentlicher Faktor für die Zukunft unseres Landes ei-
nen besonders zu berücksichtigenden Stellenwert. Aber
klausel zum Beispiel oder die Definition verbindlicher
das ändert nichts daran, dass der von Kindern erzeugte
Ziele im Kampf gegen Armut und soziale Ausgrenzung
mit Zeithorizont und deren Unterfütterung mit einem Lärm – und in diesem Punkt ist offensichtlich auch die
SPD-Fraktion keiner anderen Meinung – auch als Lärm
Handlungsprogramm. Dieses Hohe Haus hat doch die
bezeichnet werden muss. Und ebenso selbstverständlich
Aufgabe, Ziele festzulegen, die die Bundesregierung
dann auf nationaler Ebene erfüllen muss. Gegebenen- ist, dass auch Kinderlärm in der Umgebung seiner Ent-
stehung als Lärm wahrgenommen wird.
falls muss das Ganze in einen europäischen Prozess ein-
fließen. Das, was Sie uns hier präsentieren, halte ich da- Daher ist es schon denklogisch der falsche Weg – wie
für ehrlich gesagt für zu dünn. Ich will aber anerkennen, durch den SPD-Antrag geschehen – Kinderlärm gene-
dass mir die guten Absichten dahinter nicht verborgen rell nicht mehr als Lärm bezeichnen zu wollen. Den zu
geblieben sind. Deshalb empfehle ich eine Enthaltung. berücksichtigenden Interessen, also der besonderen
Stellung der Kinder einerseits und dem Ruhebedürfnis
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: der in der Umgebung lebenden Menschen andererseits,
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf kann doch nicht durch eine solch starre Regelung begeg-
Drucksache 17/889 an die in der Tagesordnung aufge- net werden. Das würde, basierend auf den Bevölke-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie ein- rungszahlen des Jahres 2008, bedeuten, dass die Inte-
(B) verstanden, wie ich sehe. Dann ist die Überweisung so ressen von 11,13 Millionen Kindern im Alter zwischen (D)
beschlossen. 0 und 15 Jahren ohne jede Ausnahme über die Interes-
sen der übrigen 70,8 Millionen Bürger in Deutschland
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 18: gestellt würden. Das kann schon deshalb nicht richtig
Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans- sein, weil auch die Kranken und die Menschen, die auf
Joachim Hacker, Uwe Beckmeyer, Sören Bartol, Lärm empfindlich reagieren, schützenswert sind. Daher
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD kann hier nur ein Ansatz gewählt werden, der zwar die
besondere Bedeutung der Entwicklung von Kindern und
Kinderlärm – Kein Grund zur Klage Jugendlichen für die Zukunft unseres Landes angemes-
– Drucksache 17/881 – sen berücksichtigt, nicht aber die Rechte der übrigen
Bevölkerung ausschließt.
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Ein solcher Ansatz muss auch berücksichtigen, dass
Rechtsausschuss sich, gerade im Fall von Lärmemissionen, eine pau-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung schale Beurteilung der Umgebungsbeeinträchtigung
verbietet. Die Störungsintensität hängt vielmehr
Auch hier ist in der Tagesordnung ausgewiesen, dass entscheidend von der Lautstärke, der Bebauung, der
die Reden der Kolleginnen und Kollegen Dr. Michael Frequenz und dem Wiederholungstakt ab. Es ist daher
Paul, Dorothee Bär, Hans-Joachim Hacker, Judith zwingend notwendig, dass auch in Zukunft Einzelfall-
Skudelny, Heidrun Bluhm und Bettina Herlitzius1) zu überprüfungen möglich sind. Das ist im Übrigen auch
Protokoll gegeben werden. ein Gebot der Rechtsstaatlichkeit, einen Rechtsweg vor-
zuhalten. Natürlich muss bei dieser Abwägung den be-
Dr. Michael Paul (CDU/CSU): sonderen Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen da-
Kindern gute Entwicklungschancen geben – das ist durch Rechnung getragen werden, dass für den von
sicherlich eine der bedeutendsten Aufgaben einer Ge- ihnen erzeugten Lärm ein höherer Toleranzmaßstab ent-
sellschaft. Dazu gehört, dass Kinder spielen dürfen. Da- wickelt wird. Die große Zahl von Gerichtsurteilen, in de-
her ist es auch sinnvoll, an den Lärm von spielenden nen den Interessen der Kinder der Vorrang gegeben
Kindern einen anderen Maßstab anzulegen als an den wird, zeigt, dass dies auch bisher die gängige Praxis ist.
Bei den weiteren Beratungen müssen wir daher eine
1) Der Redebeitrag lag bei Redaktionsschluss nicht vor und wird zu Lösung finden, die nicht nur rechtsstaatskonform ist,
einem späteren Zeitpunkt abgedruckt. sondern auch Einzelfallentscheidungen zulässt, klare
2492 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Dr. Michael Paul


(A) Vorgaben für die Verwaltung enthält, um einen Vollzug Toben und laute Lachen der Kinder. Die kommunale (C)
der rechtlichen Regelungen zu ermöglichen, und den In- Ebene ist für das Bauplanungsrecht zuständig. So wich-
teressen der spielenden Kinder Rechnung trägt. Ich tig und richtig das Anliegen auch ist: Es darf keinen gut
freue mich deshalb auf die weiteren Beratungen. gemeinten Schnellschuss geben, sondern nur eine gut
durchdachte Lösung.
Dorothee Bär (CDU/CSU): Dabei sind wir uns sicherlich einig, dass wir mit
Alleine der Begriff, über den wir heute hier diskutie- rechtlichen Regelungen allein das Grundproblem nicht
ren, ist ein Widerspruch in sich: Kinder-Lärm! Das un- lösen können. Wir müssen neue Wege suchen, wie unsere
terstellt, dass „Lärm“ entsteht, wenn Kinder spielen, Gesellschaft kinderfreundlicher werden kann. Doch
toben, lachen, schreien, weinen, Bälle kicken. Wenn Kin- durch eine Gesetzesänderung können wir als Gesetzge-
der spielen, tun sie das mit lautstarker Begleitung, teilen ber ein Signal senden: Eine kinderfreundliche Gesell-
sich einander mit – das ist der Sinn der Sache; wenn sie schaft sind wir nur dann, wenn Kinder überall willkom-
weinen, hört man das gut, wenn sie sich freuen, lachen men sind, wenn sie sich frei entfalten können und ihr
sie fröhlich. Dass diese vitalen Lebensäußerungen von Rufen und Lachen nicht als „Lärm“, sondern als „Zu-
Kindern, ihr unüberhörbares Sich-in-der-Gemeinschaft- kunftsmusik“ gesehen wird.
einander-Mitteilen und Aneinander-Messen als „Lärm“
empfunden werden und an den zulässigen Werten für Eine Gesetzesänderung in diesem Sinne bedeutet na-
Gewerbelärm gemessen werden kann, sagt viel über un- türlich keinen Anspruch auf Rücksichtslosigkeit – weder
sere Gesellschaft aus: Wir sind kinderentwöhnt! Die Ge- für die Planer von Kinderspielplätzen und von Bolzplät-
burtenzahl geht zurück, die Menschen werden immer äl- zen noch für die Eltern und Erzieherinnen und Erzieher
ter und leben oft ohne eigene Kinder und Enkel. Viele in der Kita. Es muss gelingen, die berechtigten Wünsche
kennen es nicht mehr, Kinder um sich zu haben, mit Kin- und Bedürfnisse auch der Anlieger und Mitbewohner
dern zusammen in einem Haus zu wohnen oder einen mit denen der Kinder in Einklang zu bringen. Gegensei-
Kinderspielplatz oder eine Kita in unmittelbarer Nach- tige Rücksichtnahme ist das Gebot allen gemeinschaftli-
barschaft zu haben. Viele Menschen wohnen am liebsten chen Miteinanders, denn Rücksichtnahme ist keine Ein-
in einer kinderlosen Umgebung, viele Vermieter privile- bahnstraße. Wir brauchen ein Klima der Toleranz, in
gieren Mieter ohne Kinder. So kommt es, dass viele von dem Jung und Alt, Kinderlose und Familien mit Kindern
uns sich an eine Welt ohne Kinder gewöhnt haben, ohne gemeinsam zusammenleben können. So wie Anwohner
zu merken, wie arm wir dadurch werden. und Mitbewohner offenbar wieder neu lernen müssen,
Kinder als selbstverständlichen Bestandteil der Lebens-
Kinder sind leider keine Selbstverständlichkeit mehr. wirklichkeit und zugleich die Lebenswirklichkeit von
(B) Sie werden nicht mehr als Bereicherung empfunden, Kindern selbst zu akzeptieren ebenso wie den unverän- (D)
sondern als Störenfriede. Daher kommt es immer wieder derlichen Umstand, dass Kinder nun einmal laut sein
zu Klagen von Anwohnern gegen Kindertageseinrich- können, so sollten Eltern und Erzieher das Ruhebedürf-
tungen oder auch gegen erteilte Baugenehmigungen, in nis anderer im Blick behalten und dafür Sorge tragen,
Einzelfällen sogar zur Schließung dieser Einrichtungen, dass die Freude über die Nachbarschaft der Kinder er-
besonders dann, wenn diese in Wohngebieten liegen. Die halten bleibt.
Gerichtsentscheidungen geben weniger Anlass zur Rich-
terschelte, sondern werden durch die Bestimmungen im
Hans-Joachim Hacker (SPD):
Wohnungseigentums- und Mietrecht, im öffentlichen
Baurecht und im Immissionsschutzrecht selbst veran- Deutschland soll und will ein familienfreundliches
lasst. Land sein. Wer ein Herz für Kinder hat, der soll sich an
ihnen erfreuen können. Aber leider – nicht jeder denkt
Das wollen wir ändern! Denn Kinder sind ein Segen so. Wenn Kinder toben, wenn Kinder laut rufen, dann
für ihre Eltern und auch für die Gesellschaft, in der sie sorgt das gelegentlich auch für Ärger. Nachbarn fühlen
leben. Ohne Kinder hat unser Land keine Zukunft! sich gestört und erheben Klagen, zum Beispiel gegen
Union und FDP haben daher im Koalitionsvertrag ver- Kindertageseinrichtungen. Wenn wir in einem familien-
einbart, dass Spielen, Toben, Lachen und Weinen von freundlichen Land leben wollen, dann müssen wir auch
Kindern kein Anlass für gerichtliche Auseinanderset- in diesem Punkt Toleranz üben. Auch wenn mein kleiner
zungen mehr sein dürfen. Wir haben versprochen, die Sohn Alexander zu mir ins Büro kommt, tollt er herum.
Gesetzeslage entsprechend zu ändern. Das ist ganz natürlich, das gehört zum Leben – deshalb
würde ich ihn nicht aus dem Büro schicken. Das muss
Dennoch werden wir dem vorliegenden Antrag nicht auch für Kindertageseinrichtungen in Wohngebieten
zustimmen, weil es sich um eine hochkomplexe Materie gelten. Kinder gehören in unser Leben, Kindereinrich-
handelt, die nicht einfach zu lösen ist: Beteiligt sind tungen in unser Wohnumfeld.
mehrere Bundesministerien und auch Länder und Kom-
munen: Das Bundesministerium für Verkehr, Bau, und Wiederholt gab es in der Vergangenheit Klagen gegen
Stadtentwicklung ist zuständig für das Baugesetzbuch, den Betrieb von Kindereinrichtungen oder gegen erteilte
das Bundesumweltministerium für das Immissions- Baugenehmigungen. In einigen Fällen führte dies sogar
schutzrecht und das Bundesjustizministerium für die Re- zu Schließungen von Einrichtungen. Wo sollen unsere
gelungen des zivilen Nachbarschutzrechts. In der Ge- Kinder künftig spielen – in Stadtrandgebieten, in beson-
setzgebungskompetenz der Länder liegt der Schutz von ders ausgewiesenen Zonen? Die Kinder gehören zu uns,
„verhaltensbezogenem Lärm“. Dazu gehört das Rufen, und sie gehören damit auch in Wohngebiete. Dass dies

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2493
Hans-Joachim Hacker
(A) auch rechtlich abgesichert ist, wollen wir als SPD-Bun- ren. Ich bitte Sie im Sinne unserer Kinder und im Inte- (C)
destagsfraktion mit unserem Antrag erreichen. In der resse einer modernen Familienpolitik um Unterstützung
vergangenen Legislaturperiode hatte der Bundestag be- und Zustimmung. Es gibt keinen Grund, die Frage wei-
reits einen entsprechenden Antrag der Großen Koalition ter aufzuschieben. Lassen Sie uns deshalb gemeinsam zu
beschlossen. Wir haben bewusst noch vor der Sommer- einer Lösung kommen und beweisen, dass wir ein Herz
pause 2009 in diesem Hohen Hause einen entsprechen- für Kinder haben.
den Beschluss gefasst. Dem müssen jetzt konkrete Taten
folgen. Kinderlärm darf rechtlich nicht mehr mit hupen- Judith Skudelny (FDP):
den Autos oder dröhnenden Maschinen in Fabriken Ich nehme erfreut zur Kenntnis, dass die SPD nicht
gleichgesetzt werden. nur dem FDP-Parteiprogramm folgen kann, sondern
Noch im November letzten Jahres behaupteten hoch- auch Forderungen stellt, die im Koalitionsvertrag be-
rangige Koalitionspolitiker unter Bezugnahme auf den reits vereinbart wurden. Ein wenig traurig stimmt mich
Koalitionsvertrag, schon in wenigen Wochen würden ge- dagegen, dass die SPD sich dabei nicht mehr Mühe
setzliche Regeln auf den Weg gebracht, die es ermögli- macht, als den Bundesratsantrag des Landes Rheinland-
chen, die bauplanungsrechtlichen Voraussetzungen für Pfalz vom 16. November 2009 zu übernehmen. Morgen,
Kindereinrichtungen zu verbessern. Darauf warten wir am 5. März, wird der rheinland-pfälzische Antrag im
bis heute – aus Wochen wurden nun schon Monate, bei Plenum des Bundesrates abgestimmt. Die zuständigen
dem Tempo der Bundesregierung können Jahre ver- Ausschüsse haben zum Teil Änderungen empfohlen.
gehen, bis ein Gesetzentwurf vorgelegt wird. Im Januar Nun zum SPD-Antrag:
2010 fragte ich die Bundesregierung, wann die Koali-
tion beabsichtigt, entsprechende Maßnahmen zu ergrei- Erstens. Der Antrag fordert in einer Ergänzung des
fen. Auch hier Fehlanzeige. Statt eines Gesetzentwurfes § 3 Abs. 1 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes die
in wenigen Wochen wird eine Änderung irgendwann in Klarstellung, dass Kinderlärm in der Regel keine schäd-
dieser Legislaturperiode in Aussicht gestellt. Ich frage liche Umwelteinwirkung im Sinne dieses Gesetzes dar-
mich, warum seit dem letzten Beschluss des Bundestages stellt.
zu diesem Thema inzwischen ein Dreivierteljahr nichts Für mich stellt sich jedoch die Frage, ob Kinderge-
getan wurde und wir immer noch auf dem Stand vom räusche nie und in keinem denkbaren aktuellen und
Sommer 2009 sind. künftigen Fall als Lärm einer Anlage – denn nur für
Wir zeigen der Bundesregierung deshalb mit unserem diese gilt das Bundes-Immissionsschutzgesetz – gewer-
Antrag einen konkreten Weg auf. Erstens soll das Bun- tet werden können. Bei genereller und pauschaler He-
rausnahme wäre eine Abwägung mit anderen Belangen
(B) des-Immissionsschutzgesetz ergänzt werden, um klarzu- nicht mehr möglich, da die soziale Adäquanz der kindli-
(D)
stellen, dass Kinderlärm in der Regel keine schädliche
Umwelteinwirkung ist. Kinderlärm muss in Wohngebie- chen Geräusche die Annahme von Lärm ausschließen
ten toleriert werden. Zweitens wollen wir eine Klarstel- würde – eine aus meiner Sicht zu weitreichende Ände-
lung im Bürgerlichen Gesetzbuch. Auch dort soll festge- rung.
legt werden, dass Kinderlärm keine schädliche Zweitens. Der Antrag fordert weiter eine Klarstellung
Umwelteinwirkung darstellt. Und drittens verlangen im Bürgerlichen Gesetzbuch in dem Sinne, dass Kinder-
wir, die Baunutzungsverordnung so zu ändern, dass Kin- lärm keine wesentliche Beeinträchtigung des Eigentums
dertageseinrichtungen in Wohngebieten generell für zu- oder der Mietsache mehr ist.
lässig erklärt werden. In einem weiteren Punkt regen wir
an, zu prüfen, wie durch präventiv wirkende Maßnah- Das ist eine sehr umfassende Klarstellung. Die Frage
men im Bereich der Städteplanung Klagen gegen Kin- ist: Wollen wir, dass jeglicher Kinderlärm im häuslichen
derlärm vermieden werden können. Bereich von Dritten hinzunehmen ist? Damit würde das
nächtliche Schreien eines Säuglings dem nächtlichen
Wir wollen Kinder und Kindereinrichtungen nicht Lärm eines randalierenden Fünfjährigen gleichgestellt.
hinter meterhohen Lärmschutzwänden verstecken oder Auf das Verhalten des Säuglings haben Eltern keinen
in Randlagen drängen. Der Gesetzgeber ist gefordert, Einfluss – dieser ist damit automatisch sozial adäquat.
endlich Klarheit zu schaffen, damit die Vorstellungen Im Falle des Fünfjährigen können die Eltern durch Er-
von frühzeitiger Förderung der Kinder umgesetzt wer- ziehung darauf hinwirken, dass nächtlicher Lärm ver-
den und die natürlichen Lebensäußerungen der Kinder mieden wird. Daher sehe ich Kinderlärm durchaus diffe-
Rechtsschutz bekommen. renziert. Was wäre denn die Folge einer solch
weitreichenden Regelung? Wenn wir Kinderlärm recht-
Dass es gangbare Wege gibt, zeigt das Land Berlin. lich unantastbar machen, könnten Nachbarn und andere
Hier wurde vor kurzem das Landes-Immissionsschutzge- Anwohner nicht mehr rechtlich gegen diesen vorgehen.
setz geändert und Kindern ausdrücklich Schutz einge- Infolgedessen würden Vermieter aus Gründen der Vor-
räumt. Jedoch reichen landesspezifische Regelungen in sicht nicht mehr oder weniger an Familien vermieten.
Teilbereichen nicht. Wir brauchen bundeseinheitliche Der Schutz, den wir eigentlich Familien mit Kindern ge-
Normen, damit Rechtsklarheit und Rechtssicherheit ge- währen wollen, würde sich durch eine solche Regelung
schaffen werden. Der Antrag der SPD-Bundestagsfrak- ins Gegenteil verkehren.
tion unterbreitet dazu konkrete Vorschläge. Wir werden
den Antrag im Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtent- Drittens. Es wird die Änderung der Baunutzungsver-
wicklung und den mitberatenden Ausschüssen debattie- ordnung – BauNVO – gefordert.

Zu Protokoll gegebene Reden


2494 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Judith Skudelny
(A) Dass Kindergärten in Wohngebiete gehören, ist und über unsere Kinder und Enkel im Zusammenhang mit (C)
war nie strittig. Kommunalpolitiker aller Parteien wis- Bauordnungs- und Immissionsschutzrecht, in Kriterien
sen das seit Jahren. Die FDP hatte diese Forderung in wie „anlagebezogenem“ oder „verhaltensbezogenem“
die Koalitionsvereinbarung eingebracht und wird da- Lärm, in technischen Normen und juristischen Katego-
rauf achten, dass das federführende Bundesministerium rien! Da kann ich nur hoffen, dass die das nicht mit-
für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung diesen Punkt bei bekommen und eines nicht allzu fernen Tages – hier auf
der Änderung der BauNVO zügig umsetzt. Der Antrag unseren Plätzen sitzend – in gleicher Weise, wie wir das
enthält hier also keine neuen Erkenntnisse oder gar jetzt tun, über alte, gebrechliche oder Menschen mit Be-
originelle Forderungen. hinderungen debattieren, feilschen und über sie hinweg
entscheiden. Schon aus Selbstschutzgründen bin ich da-
Natürlich ist es auch unser Anliegen, dass unsere
für, Kinderrechte lieber jetzt als später in die Verfassung
Kinder genügenden Freiraum haben, sich geistig und
– pardon – ins Grundgesetz zu schreiben.
körperlich optimal zu entwickeln. Man muss einen Aus-
gleich finden, der allen Interessen im privaten Bereich Immerhin ist es ja löblich und durchaus anerkennens-
gerecht wird. Das grundsätzliche Problem in unserer wert, dass die Antragsteller nun dem Beispiel der rot-
heutigen Gesellschaft ist doch, dass es an ausreichender roten brandenburgischen Koalition folgen und auch auf
Akzeptanz und Toleranz für Kinder fehlt. Kinderfreund- Bundesebene längst überfällige Regelungen auf den
lichkeit wird zwar gepredigt. Dennoch häufen sich Be- Weg bringen wollen, die wenigstens die rechtlichen
schwerden über Kinderlärm. Die heutige Toleranz für Grundlagen dafür schaffen, dass man Kinder nicht ein-
Kinder reicht leider nur so weit, wie der Lärm spielen-
fach wegklagen kann. Wir unterstützen das ausdrück-
der Kinder einen selbst nicht stört.
lich, wollen aber – das werden Sie nicht anders von uns
Kinderlärm soll möglich sein, solange er sozial- erwarten – an der einen Stelle weniger, dafür an anderer
adäquat ist. Die Grenze der sozialen Adäquanz wird Stelle deutlich mehr. Was wir nicht wollen, ist eine ge-
aber von Person zu Person anders wahrgenommen. Was setzliche Regelung, die lediglich als Reaktion auf an-
der eine erst gar nicht als Störung wahrnimmt, über- hängige Gerichtsverfahren zeitweilig eine Lücke
steigt beim anderen die Schmerzgrenze. Dies gilt umso schließt und andere, ebenfalls reformbedürftige Geset-
mehr, als wir in einer immer älter werdenden Gesell- zesteile unberücksichtigt lässt, bis neue Klagen wie-
schaft leben. Ältere Menschen haben mehr Bedürfnis derum dazu zwingen, neue Anpassungen auf den Weg zu
nach Ruhe und Rückzug. Dieser demografische Wandel bringen. Was wir deutlich mehr und sehr viel gründli-
stellt uns vor neue Herausforderungen. Wir müssen ne- cher wollen, ist eine Novellierung des Bauordnungs-
ben den Bedürfnissen der Kinder auch auf die Bedürf- und auch des Immissionsschutzrechtes, das den gegen-
(B) nisse der älter werdenden Gesellschaft eingehen. Wir wärtigen und den künftigen Herausforderungen einer (D)
müssen also im Sinne der Generationengerechtigkeit menschenfreundlichen Stadtentwicklung nicht hinter-
eine Lösung finden. Wir wollen, dass unsere Kinder in herläuft oder sie gar ignoriert und konterkariert, son-
einer kinderfreundlichen Gesellschaft aufwachsen. Da- dern sie aktiv und vorausschauend mitgestaltet. Dazu
bei müssen wir verhindern, dass wir die Ablehnung ge- gehört zum Beispiel, Bauordnungsrecht nicht reaktiv
genüber Kindern bestärken. Stattdessen müssen wir viel- und selektiv – wie im vorliegenden Fall – anzupassen,
mehr versuchen, die Gesellschaft zu harmonisieren und sondern aus der Prognose der Bedürfnisse künftiger Ge-
damit den Freiraum schaffen, den Kinder für eine ge- nerationen demokratisch neuzugestalten; absehbare,
sunde Entwicklung benötigen. wissenschaftlich gestützte ökonomische, ökologische
und demografische Entwicklungen und Tendenzen zur
Viertens. In diesem Sinne begrüßen wir einen Prüf-
Grundlage von Gesetzgebungsprozessen zu machen und
auftrag, der zum Ziel hat, städtebaulich Konfliktzonen
aufzuzeigen. Im Wege sinnvoller Maßnahmen sollten offensichtliche städtebauliche Missstände und Fehlent-
diese Konfliktzonen entschärft werden, damit künftig wicklungen auch mit Mitteln des Bau- und des Immis-
keine Klagen wegen kindlichen Lärms mehr eingereicht sionsschutzrechtes beheben zu helfen.
werden. Das alles und sicher noch einiges mehr wird notwen-
Fakt ist: Wir müssen Kinder schützen. Wir dürfen sie dig sein, um der voranschreitenden und sich verstetigen-
aber nicht über alle anderen Generationen hinweg privi- den Tendenz der Segregation in unseren Städten entge-
legieren. Denn dadurch würden wir vielmehr eine stei- genzuwirken, um Integration und Solidarisierung von
gende Ablehnung gegenüber Kindern hervorrufen. Und Kindern und Erwachsenen unterschiedlicher sozialer,
das will keiner. Deutschland muss insgesamt familien- ethnischer und religiöser Herkunft und Prägung zu för-
freundlicher werden. Deswegen ist es uns wichtig, eine dern, um den Forderungen und materiellen Vorausset-
bundeseinheitliche Regelung zu treffen. zungen zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen
im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention gerecht
zu werden.
Heidrun Bluhm (DIE LINKE):
Ich muss gestehen, es fällt mir schwer, über das La- Wir werden, das sei Ihnen, meine Damen und Herren,
chen und Lärmen spielender Kinder hier so zu befinden versprochen, in diesem Sinne initiativ werden. Fürs
wie über das krank machende Getöse einer Stadtauto- Erste allerdings wollen wir uns mit dem, was hier vor-
bahn oder den penetranten Gestank einer undichten liegt, bescheiden und das als einen Schritt in die richtige
Kläranlage. Wir reden hier im Deutschen Bundestag Richtung – nicht mehr und nicht weniger – unterstützen.

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2495

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: tur. In der Großen Koalition haben wir bereits erste (C)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Maßnahmen ergriffen, um das Wachstum zu stärken und
Drucksache 17/881 an die in der Tagesordnung aufge- insbesondere den Kommunen unter die Arme zu greifen.
führten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federfüh- Schon im Rahmen der Unternehmensteuerreform haben
rung beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und wir die Gewerbesteuereinnahmen auf gesündere Beine
Reaktorsicherheit liegen soll. Sind Sie damit einverstan- gestellt, indem wir die Hinzurechnung von Miet- und
den? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überwei- Pachtzinsen beschlossen und damit eine gleichmäßigere
sung so beschlossen. Einnahmensituation hergestellt haben.
Dann kommen wir zum Tagesordnungspunkt 19: Mit dem Konjunkturpaket I haben wir strukturschwa-
che Kommunen über KfW-Zinszuschüsse von 300 Millio-
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin
nen Euro unterstützt. Kommunen in besonders schwieri-
Kunert, Dr. Axel Troost, Dr. Barbara Höll, weite- ger Haushaltslage wird über den Investitionspakt Bund-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Länder-Gemeinden eine klimagerechte Modernisierung
Für eine Verstetigung der Kommunalfinan- von Gebäuden der sozialen Infrastruktur wie Schulen,
zen – Die Gewerbesteuer zur Gemeindewirt- Kindergärten und Turnhallen ermöglicht. Hier wurde
schaftsteuer weiterentwickeln der Bundesanteil für die Jahre 2009 bis 2011 um jeweils
300 Millionen Euro erhöht.
– Drucksache 17/783 –
Überweisungsvorschlag: Im Konjunkturpaket II haben wir für zusätzliche In-
Finanzausschuss (f) vestitionen von Ländern und Gemeinden Bundesmittel in
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Höhe von 10 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt.
Haushaltsausschuss 65 Prozent davon sind für Investitionen in die Bildungs-
Auch hier wurde schon in der Tagesordnung ausge- infrastruktur reserviert. Hierzu gehören zum Beispiel
wiesen, dass die Reden von den Kolleginnen und Kolle- Investitionen zur energetischen Sanierung von Schulen,
gen Antje Tillmann, Bernd Scheelen, Dr. Birgit Hochschulen sowie kommunalen oder gemeinnützigen
Reinemund, Katrin Kunert und Britta Haßelmann zu Einrichtungen der Weiterbildung, Investitionen in Ein-
Protokoll gegeben werden. richtungen der frühkindlichen Infrastruktur wie Kinder-
tagesstätten oder in die Forschung. Dies verbessert die
Bildungsinfrastruktur vor Ort erheblich und legt den
Antje Tillmann (CDU/CSU):
Grundstein für die Wachstumspotenziale von morgen.
Politik beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit, Diese Aufträge tragen nicht nur zum Erhalt lokaler Ar-
und dazu gehört zu Beginn eine Darstellung der finan- beitsplätze und zum Gewerbesteueraufkommen bei, son- (D)
(B) ziellen Situation von Bund, Ländern und Kommunen. Zu
dern führen darüber hinaus in den kommenden Jahren
dem vorliegenden Antrag der Fraktion Die Linke aufgrund niedrigerer Betriebskosten zu Einsparungen in
möchte ich daher eingangs gerne noch einmal vor den kommunalen Haushalten. Ebenso werden weitere
Augen führen, wie sich die finanzielle Situation von Investitionen in Krankenhäuser ermöglicht wie auch in
Bund, Ländern und Kommunen im Augenblick darstellt. moderne Breitbandnetze, um auch ländliche Kommunen
Der öffentliche Schuldenstand beläuft sich aktuell auf an die Kommunikation der Zukunft anzubinden.
insgesamt 1,68 Billionen Euro. Hiervon entfallen
Der Bund investiert zusätzlich weitere 4 Milliarden
62 Prozent auf den Bund. Er ist also bereits mit über
Euro in die Infrastruktur wie Bundesverkehrswege und
1 000 Milliarden verschuldet. Auf die Länder entfallen
Bauten. Auch hiervon profitieren die Kommunen über
32 Prozent der Schulden und auf die Kommunen 6 Pro-
eine verbesserte Infrastruktur nachhaltig. Mit den Län-
zent. Der Bund muss alleine in diesem Jahr neue Schul-
dern und Kommunen hat der Bund darüber hinaus ein
den in Höhe von 85,8 Milliarden Euro aufnehmen. Ich
Gesamtpaket zum bedarfsgerechten Ausbau der Betreu-
möchte Sie einfach der Fairness halber darauf hinwei-
ungsinfrastruktur für Kinder unter drei Jahren beschlos-
sen: Dem Bund geht es finanziell sehr viel schlechter als
sen. Ab 2014 sollen bundesweit 750 000 Plätze in der
Ländern und Kommunen!
Kindertagesbetreuung zur Verfügung stehen. Dafür
In den Jahren 2006 bis 2008 übrigens wuchsen die stellt der Bund 4 Milliarden Euro bereit. Ab 2014 betei-
Einnahmen der Gemeinden aus der Gewerbesteuer steil ligt sich der Bund auch weiterhin mit 770 Millionen
an, und zwar bis auf 34,3 Milliarden Euro. Für die Kom- Euro jährlich an diesen Kosten, die ganz vorrangig kom-
munen war es das beste Jahr seit Bestehen der Bundes- munale Aufgaben und Kosten wären. Abgesehen von den
republik. In diesen „guten Jahren“ haben viele Städte Bundesverkehrswegen sind dies alles Aufgaben, für die
und Gemeinden die Gelegenheit genutzt, Schulden abzu- der Bund nach unserem Grundgesetz finanziell nicht zu-
bauen und Rücklagen zu bilden. Unter der rot-grünen ständig ist, die er aber trotzdem finanziert, weil er die
Vorgängerregierung war daran nicht zu denken. Kommunen um diese Kosten entlasten will.
Die derzeitige prekäre Situation der Haushaltslage Schon die Eingangsbehauptung zu Ihrem Antrag
des Bundes, der Länder wie auch der Gemeindefinanzen stimmt einfach nicht: Mit dem Bürgerentlastungsgesetz
ist unmittelbar eine Folge der weltweiten Wirtschafts- sowie dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz haben wir
und Finanzkrise. Der Bund aber trägt die Hauptlasten Familien massiv entlastet und dafür gesorgt, dass Ar-
für alle seit Ausbruch der Krise in Angriff genommenen beitnehmer am Ende des Monats über mehr Netto vom
Programme zur Stützung und Förderung der Konjunk- Brutto verfügen können. Vor allem den Mittelstand ha-
2496 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Antje Tillmann
(A) ben wir dadurch entlastet, dass wir die 2008 eingeführ- zen, nicht von der Abschaffung einer solchen Umlage (C)
ten Hinzurechnungen bei Mieten und Pachten von profitieren. Denjenigen Kommunen und Städten, die re-
65 Prozent auf 50 Prozent abgesenkt haben. Diese Sen- lativ hohe Gewerbesteuereinnahmen erzielen und ent-
kung führt bei der Gewerbesteuer zu geringfügigen Min- sprechend auch eine höhere Umlage leisten, würden wir
dereinnahmen von 0,3 Prozent. Am Ende dieses Prozes- bei Abschaffung der Umlage diesen hohen Anteil wieder
ses profitieren die Kommunen über einen vermehrten zurückgeben. Diejenigen, die nur geringe Einnahmen
privaten Konsum und unzählige gesicherte Arbeitsplätze aus der Gewerbesteuer haben, hätten bei Umsetzung Ih-
und damit ein erhöhtes Gewerbesteueraufkommen be- res Antrags aber überhaupt keinen Vorteil. Mit anderen
trächtlich. Worten: Diejenigen Kommunen, die es am wenigsten nö-
tig haben, würden, wenn es nach der Fraktion Die Linke
Aber nun im Einzelnen zu Ihrem Antrag: ginge, am meisten profitieren. Klamme Gemeinden da-
In allen Debatten geißeln Sie uns mit der Behaup- gegen hätten nichts von dem Vorschlag.
tung, wir wollten die Gewerbesteuer abschaffen. Das Es kommt aber noch Folgendes hinzu: Wenn Sie die
wollen wir aber nur dann, wenn wir gemeinsam mit den Gewerbesteuerumlage an den Bund sofort und an die
Kommunen eine bessere Einnahmequelle, die nicht so Länder schrittweise abschaffen wollen, müssen Sie auch
konjunkturabhängig wie die Gewerbesteuer ist, finden. erklären, wie Sie dieses Vorhaben gegenfinanzieren wol-
Die Linke fordert, die Gewerbesteuer in eine allgemeine len. In der heutigen Bereinigungssitzung zum Haushalt
Gemeindewirtschaftsteuer umzuwandeln. Nach ihren 2010 haben Sie ja Gelegenheit, diesen Antrag nachzu-
Plänen sollen der Bemessungsgrundlage alle Schuldzin- reichen.
sen hinzugerechnet werden. Außerdem sollen die Finan-
zierungsanteile von Mieten, Pachten, Leasingraten und Da ist dann erstmals Licht am Ende des Tunnels Ihres
Lizenzgebühren in voller Höhe bei der Ermittlung der Antrags: bei einer Gemeindewirtschaftsteuer. Unserer
Steuerbasis berücksichtigt werden. Ich kann Ihnen ganz Verantwortung für unsere Städte und Kommunen sind
genau sagen, wohin Ihre Pläne führen würden, werte wir uns absolut bewusst. Genau zu diesem Zweck ist die
Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion. Sie heute erstmals zusammengetretene Regierungskommis-
würden den Mittelstand, der die tragende Säule unserer sion zur Neuordnung der Gemeindefinanzierung unter
sozialen Marktwirtschaft darstellt und ein Garant für der Leitung von Bundesfinanzminister Dr. Schäuble ins
stabile Arbeitsplätze ist, mit einer solchen maßlosen Leben gerufen worden. Wir versuchen stets, einen ange-
Ausweitung der Substanzbesteuerung völlig ausbluten messenen Ausgleich zwischen den Interessen des Bundes
lassen. Ihr Antrag ist ein Schuss vor den Bug des kleinen wie auch der Kommunen zu finden. Deshalb liegt auch
Einzelhändlers an der Ecke. Die Folge ist eine Verringe- seit Jahren ein Vier-Säulen-Modell zur Neuordnung des
Gemeindesteuersystems auf dem Tisch, das bereits 2006
(B) rung des Gewerbesteueraufkommens aufgrund vermehr- (D)
ter Pleiten – keine Erhöhung! aufkommensneutral hätte eingeführt werden können. Im
Rahmen der Debatte sollte zum Beispiel auch die Re-
Der Antrag sieht außerdem vor, die Gewerbesteuer- form der Grundsteuer auf die Frage hin überprüft wer-
umlage an den Bund sofort und an die Länder schritt- den, ob sie als eine Säule des Ersatzes der Gewerbe-
weise bis 2015 abzuschaffen. Lassen Sie mich vorweg steuer in Betracht kommt. All dies werden wir mit den
vielleicht noch einmal in Erinnerung rufen, wie es zu ei- kommunalen Vertretern sehr intensiv besprechen.
ner Gewerbesteuerumlage überhaupt kommen konnte.
Die Umlage war Teil der 1970 durchgeführten Gemein- Es kann aber nicht nur darum gehen, zusätzliche
definanzreform. Zentral war hier die Einrichtung eines Steuereinnahmen zu generieren und damit Bürgerinnen
Steueraustausches zwischen Bund, Ländern und Kom- und Bürger zusätzlich zu belasten, sondern wir werden
munen. Die Gemeinden wurden an dem Aufkommen der auch sehr intensiv auf der Ausgabenseite nachprüfen
Einkommensteuer beteiligt, Bund und Länder erhielten müssen, ob wir alle bisherigen Aufgaben tatsächlich
einen Anteil am Gewerbesteueraufkommen. Dies ge- noch brauchen, ob wir über eine Veränderung von Stan-
schah nicht zuletzt auf Wunsch der Kommunen, weil die dards ein hohes Niveau halten können und ob es durch
Gewerbesteuer Konjunkturschwankungen eher unter- Effizienzsteigerungen nicht zu verminderten Ausgaben
liegt als die Einkommensteuer. kommen kann.
Darüber hinaus werden wir uns selbstverständlich im
Ich frage ganz direkt: Warum beantragt die Fraktion
Vermittlungsausschuss noch einmal sehr intensiv mit
Die Linke nicht gleich die Abschaffung dieser Vereinba-
den Kosten der Unterkunft befassen. Dabei dürfen die
rung? Aus folgendem Grund: Die Abschaffung der Ge-
Kommunen allerdings nicht vergessen, dass sie sich im
werbesteuerumlage würde zu einer weiteren Verschär-
Jahre 2006 an der Schaffung einer Berechnungsgrund-
fung der bereits bestehenden Ungleichgewichte
lage, die sich an der Anzahl der Bedarfsgemeinschaften
zwischen den einzelnen kommunalen Verbänden führen.
orientiert, beteiligt haben.
Die Städte Coburg und Frankfurt am Main beispiels-
weise hatten im Jahr 2008 ein Gewerbesteueraufkom- Keine Lösung ist jedenfalls Ihr Antrag, verehrte Kol-
men pro Einwohner von 2 668 Euro bzw. 2 473 Euro. leginnen und Kollegen von der Linksfraktion, in dem Sie
Weimar und Delmenhorst hatten mit 191 Euro und fordern, zur Hilfe einer staatlichen Ebene, die finan-
192 Euro nicht einmal ein Zehntel dessen zur Verfügung. zielle Sorgen hat, eine andere staatliche Ebene in eine
Eine Abschaffung der Gewerbesteuerumlage würde weitere Schuldenaufnahme zu zwingen oder Bürgerin-
aber dazu führen, dass Kommunen, die eine geringe nen und Bürger zusätzlich zu belasten. Es ist nicht zu-
Wirtschaftskraft, wie die beiden letztgenannten, besit- letzt eine Frage der Generationengerechtigkeit, dass wir

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2497
Antje Tillmann
(A) die gegen Ihre Stimmen beschlossene Schuldenregelung kann niemand ernsthaft wollen, der es gut mit Städten (C)
jetzt auch einhalten. Die Menschen in unserem Land ha- und Gemeinden meint.
ben ein Recht darauf, dass die heute beginnende Kom-
mission gute Lösungen sowohl für die Kommunen als Umso merkwürdiger mutet an, dass auch die Linke in
auch für den Bund findet. Wir sind bereit, diesen Weg ihrem Antrag vom „Ersatz der Gewerbesteuer“ spricht.
mitzugehen. Ersatz ist der falsche Weg. Weiterentwicklung und Stabi-
lisierung der Gewerbesteuer sind der richtige Weg, hin
zu dem, was wir im Jahr 2003 als Ergebnis der Gemein-
Bernd Scheelen (SPD): definanzreformkommission unter Hans Eichel das
Den Kommunen geht es schlecht. Überall wird vor „Kommunalmodell“ genannt haben. Dazu gehört die
Ort angesichts der desolaten Finanzsituation über die Einbeziehung aller Finanzierungsformen in die Bemes-
Schließung von Theatern, Bädern und Stadtteilbibliothe- sungsgrundlage der Gewerbesteuer und die Einbezie-
ken gesprochen. Aus einem positiven Finanzierungs- hung der Freiberufler in die Gewerbesteuerpflicht. Die
saldo von 7,6 Milliarden Euro im Jahr 2008 ist ein Mi- Umsetzung des Kommunalmodells ist bedauerlicher-
nus von 4,5 Milliarden Euro im Jahr 2009 geworden. Im weise damals am schwarz-gelb dominierten Bundesrat
Jahr 2010 rechnen die kommunalen Spitzenverbände gescheitert.
mit einer Unterdeckung von 12 Milliarden Euro. Die Lö-
cher in den kommunalen Haushalten vergrößern sich Mit der Unternehmensteuerreform 2008 waren wir
durch Gesetze von Schwarz-Gelb um weitere 2 bis 3 Mil- auf einem guten Weg. Schwarz-Gelb verlässt jetzt diesen
liarden Euro. Pfad der Tugend wieder und kehrt zur Einrichtung neuer
Steuerschlupflöcher zurück, mit katastrophalen Folgen
Das sogenannte Wachstumsbeschleunigungsgesetz, für die Kommunalhaushalte.
das eher ein Schuldenbeschleunigungsgesetz ist, hat un-
mittelbare Ausfälle von 1,6 Milliarden Euro zur Folge. Der Antrag der Fraktion Die Linke ist aber auch in
Man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass anderen Punkten unklar. Bedeutet die geforderte Ab-
die Länder einen Teil ihrer eigenen Steuerausfälle an die schaffung der Gewerbesteuerumlage, dass auch auf die
Kommunen weiterreichen werden. Seriöse Schätzungen Anteile an der Einkommensteuer seitens der Kommunen
gehen dabei von mindestens einer halben Milliarde Euro verzichtet werden soll? Immerhin gewährleistet die Um-
aus. lage seit 1969, als die Kommunen in Höhe von 15 Pro-
zent am Aufkommen der Einkommensteuer beteiligt wur-
Morgen möchte die schwarz-gelbe Koalition ein den, einen gewissen Ausgleich für die Verluste von Bund
weiteres „Kommunalbelastungsgesetz“ verabschieden. und Ländern. Hätten Bund und Länder bei Wegfall der
Es kommt unter dem eher harmlos klingenden Namen Umlage überhaupt noch ein Interesse an der Gewerbe-
(B) „Gesetz zur Umsetzung steuerlicher EU-Vorgaben so- steuer? Die kommunalen Spitzenverbände haben jeden- (D)
wie zur Änderung steuerlicher Vorschriften“ daher. falls im Gegensatz zur Linken die Gefahr erkannt und
Doch es enthält von der Koalition nachgeschobene Re- plädieren deshalb für eine Absenkung und nicht für die
gelungen zur Funktionsverlagerung und zu Leasing und Abschaffung.
Factoring, die sich zur Zeitbombe für die Kommunen
Der Antrag der Fraktion Die Linke wirft mehr Fra-
entwickeln werden. Ausfälle für die Kommunalfinanzen
gen auf, als er beantwortet. Er ist unpräzise formuliert
von 650 Millionen Euro müssen bei Regelungen zur
und in sich nicht konsistent. Deshalb findet er nicht die
Funktionsverlagerung und ein knapp dreistelliger Mil-
Zustimmung der SPD-Fraktion.
lionenbetrag bei Leasing und Factoring erwartet wer-
den. Das ist unvertretbar in der aktuellen Situation, in
der sich krisen- und konjunkturell bedingt viele Kommu- Dr. Birgit Reinemund (FDP):
nen in finanzieller Schieflage befinden. Die angemes- Einer Feststellung im Antrag der Fraktion Die Linke
sene Reaktion wäre, auf die angesprochenen Gesetze zu kann ich vorbehaltlos zustimmen: Viele Städte, Gemein-
verzichten, die Einnahmesituation der Kommunen zu den und Landkreise befinden sich in einer dramatischen
verbessern und über Wege der Entlastung bei den So- Haushaltslage. Da haben Sie völlig recht. Nur: Sie zie-
zialausgaben, die sich der 40-Milliarden-Euro-Marke hen die falschen Schlüsse daraus! In typischer Manier
annähern, nachzudenken. linker Ideologie sehen Sie die einzige Lösung in zusätz-
lichem Abkassieren von Steuerzahlern – hier Unterneh-
Dass die heute vom BMF erstmalig eingeladene Ge- mern und Freiberuflern, indem Sie „einfach“ die Be-
meindefinanzkommission richtige Antworten liefern messungsgrundlage für die Gewerbesteuer verbreitern
wird, darf mit gutem Grund bezweifelt werden. Ziel soll und weitere Berufsgruppen gewerbesteuerpflichtig stel-
ja offenbar sein, die Gewerbesteuer abzuschaffen und len. Das bedeutet für viele Unternehmen schlicht eine
durch untaugliche Instrumente der Gegenfinanzierung Steuererhöhung – und dies mitten in der schwersten
zu ersetzen. Die Folgen der angedachten Änderung: weg Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit. Damit werfen Sie
von der Gewerbesteuer, hin zu Zuschlagsrechten bei lediglich frisches Geld in ein unzuverlässiges System
Einkommen- und Körperschaftsteuer bedeuten: erlah- und entziehen so den Betrieben Kapital, welches diese
mendes Interesse der Kommunen an der Ansiedlung von dringend für Investitionen benötigen, die letztlich auch
Unternehmen. Wollen wir das? Verlagerung der Steuer- den Kommunen zugute kämen.
belastung von der Wirtschaft hin zu Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern. Wollen wir das? Verschärfung der Die im Grundgesetz Art. 18 Abs. 2 gesicherte kommu-
Stadt-Umland-Problematik. Wollen wir das? Nein, das nale Selbstverwaltung müssen wir auf eine stabile, ver-

Zu Protokoll gegebene Reden


2498 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Dr. Birgit Reinemund


(A) lässliche finanzielle Grundlage stellen. In der Krise hat Nicht zu vergessen: Grundlage jeder Steuereinnahme (C)
sich erneut gezeigt, dass die extrem konjunkturab- ist wirtschaftlicher Erfolg, sind Arbeitsplätze und
hängige Gewerbesteuer dazu nicht geeignet ist. Zur Wachstum. Wir haben mit dem Wachstumsbeschleuni-
Verdeutlichung: in Deutschland schwankte das Gewer- gungsgesetz einen ersten Schritt unternommen, um die
besteueraufkommen im Zeitraum von 1999 bis 2008 zwi- Konjunktur zu stärken. Jede verhinderte Insolvenz, jeder
schen 27,06 Milliarden Euro und 41,037 Milliarden erhaltene Arbeitsplatz kommt direkt auch den Kommu-
Euro mit einem Einbruch auf 23,49 Milliarden Euro im nen zugute und spült Steuern in die leeren Kassen. Das
Jahr 2002. 2009 erlebten wir einen Konjunktureinbruch vergessen unsere Kritiker oft. In diese Richtung muss es
von 5 Prozent. Der Deutsche Städtetag schätzt gleichzei- weiter gehen. Erwirtschaften statt abkassieren und um-
tig einen Rückgang bei der Gewerbesteuer 2009 von verteilen ist die Devise!
durchschnittlich 18,3 Prozent brutto, 17,4 Prozent netto,
wobei die einzelnen Kommunen sehr unterschiedlich be- Katrin Kunert (DIE LINKE):
troffen sind – mit teilweise über 40 Prozent Gewerbe-
steuermindereinnahmen zum Beispiel in der VW-Stadt Heute konstituiert sich die Regierungskommission
Wolfsburg. Diese Zahlen sind eineindeutig, die Schwan- zur Zukunft der Kommunalfinanzen. Damit wird die
längst überfällige Diskussion zu den Kommunalfinanzen
kungsbreite ist enorm und unkalkulierbar für die Kom-
eröffnet. Die Linke erwartet, dass die Kommission nicht
munen.
hinter verschlossenen Türen tagt, sondern dass eine
Neben den konjunkturbedingten Steuermindereinnah- breite öffentliche Debatte über die Zukunft der Kommu-
men ist eine der Hauptursachen für die Finanznot der nalfinanzen zugelassen wird. Alle relevanten Akteure
Kommunen auf der Ausgabenseite zu suchen. In den letz- müssen die Möglichkeit haben, ihre Interessen zu artiku-
ten Jahren wurden ihnen – vor allem unter Rot-Grün – lieren und sich in den Diskussionsprozess einbringen zu
zunehmend Aufgaben vom Bund übertragen, ohne aus- können. Alle Ideen, Vorschläge aus möglichst vielen
reichende Kostenübernahme zu gewährleisten. Kosten Kommunen, Verbänden und Gewerkschaften müssen
für die Unterkunft von Hartz-IV-Empfängern, Eingliede- Eingang finden. Denn diese Frage ist für Städte, Ge-
rungshilfe, Grundsicherung im Alter und das Tagesbe- meinden und Landkreise existenziell. Schließlich steht
treuungsausbaugesetz verursachen enorme Kosten für die Zukunft der Kommunen auf dem Spiel. Existenziell
die Kommunen. Wir brauchen eine stärkere Berücksich- für die Kommunen ist in diesem Zusammenhang auch
tigung des Konnexitätsprinzips auf der Ausgabenseite, die Frage der Verstetigung und Verbreiterung der
damit wieder gilt: Wer bestellt, bezahlt. Gewerbesteuer, mithin ihre Entwicklung hin zu einer
Gemeindewirtschaftsteuer. Insofern hat die Linke heute
Angesichts dieser Tatsache sollten wir uns über eine ganz bewusst ihren Antrag eingebracht.
(B) grundsätzliche Strukturreform der kommunalen Steuer- (D)
einnahmen Gedanken machen, anstatt ein marodes, la- Die Haushaltssituation vieler Gemeinden hat sich ge-
biles System weiter aufzublähen. Das Herumdoktern an rade in jüngster Zeit dermaßen verschlechtert, dass
einem kranken System bringt den Kommunen keine Lin- diese vielerorts kaum noch handlungsfähig sind. Für das
derung. Ich begrüße daher, dass die Gemeindefinanz- laufende Jahr rechnet der Deutsche Städtetag mit einem
reform jetzt auf die Tagesordnung gesetzt wird. Das Rekorddefizit in Höhe von insgesamt 12 Milliarden
erste Treffen der Kommission aus Bund, Ländern und Euro, das nach Schätzungen von Bund, Ländern und Ge-
meinden bis zum Jahr 2013 auf deutlich über 40 Milliar-
kommunalen Spitzenverbänden am heutigen 4. März
den Euro ansteigen wird.
2010 ist ein erster wichtiger Schritt. Dabei erwarte ich,
dass alle Beteiligten vorurteilsfrei, ergebnisoffen und Unstreitig dürfte sein, dass die Kommunen in der Re-
zielorientiert in die Diskussion eintreten. gel unverschuldet in diese prekäre Lage geraten sind.
Die Kommunen vollziehen schon seit Jahren gezwunge-
Ich erinnere daran, dass die FDP seit Jahren fordert, nermaßen Entscheidungen des Landes-, des Bundes-
die Gewerbesteuer durch einen höheren Anteil an der und des europäischen Gesetzgebers, die einerseits zu
Umsatzsteuer und einen kommunalen Zuschlag auf die höheren Ausgaben und andererseits zu sinkenden Ein-
Einkommen- und Körperschaftsteuer zu ersetzen, mit ei- nahmen führen. Fehlentscheidungen der Bundesregie-
genem Hebesatzrecht für die Kommunen. Dieses rung unter Rot-Schwarz und Schwarz-Gelb haben dazu
Hebesatzrecht schafft echten Wettbewerb zwischen den geführt, dass die Sozialausgaben explodieren. Die Kos-
Gemeinden und Transparenz und Entscheidungsfreiheit ten hierfür tragen zu einem großen Teil die Kommunen.
für Bürgerinnen und Bürger. Es sorgt so für Kostenbe- Gleichzeitig zieht sich der Bund immer mehr aus der Fi-
wusstsein und eine effiziente Mittelverwendung. Mittels nanzierung der Sozialleistungen zurück. So hat bei-
eines Zuschlags auf die Einkommen- und Körperschaft- spielsweise der Bundestagsbeschluss zur Bundesbeteili-
steuer werden alle Bürger und Unternehmen entspre- gung zu einem Anstieg der bundesweiten kommunalen
chend ihrer Leistungsfähigkeit an der Finanzierung Belastungen mit Unterkunftskosten in Höhe von
ihrer Gemeinde beteiligt. Einkommensteuer, Körper- 11 Milliarden Euro geführt, was einer Steigerung von
schaftsteuer und Umsatzsteuer sind weniger konjunktur- 27 Prozent seit Einführung von Hartz IV entspricht. So
abhängig und schwankungsanfällig. So ist die Umsatz- weit zur Ausgabenseite.
steuer im Gegensatz zu allen anderen Steuerarten selbst
im Krisenjahr 2009 sogar leicht gestiegen. Hätten Sie Zur Einnahmenseite: Sowohl unter Rot-Schwarz als
früher auf die FDP gehört, sähe es heute bei den Ge- auch unter Schwarz-Gelb hat die Bundesregierung Ge-
meindefinanzen anders aus. setzesvorhaben zur Steuerentlastung auf den Weg ge-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2499
Katrin Kunert
(A) bracht, die gerade die kommunalen Steuereinnahmen schlagene Gemeindewirtschaftsteuer die Bemessungs- (C)
empfindlich treffen. Allein im Zeitraum von November grundlage im Vergleich zur aktuellen Gesetzeslage ver-
2008 bis zum Sommer 2009 wurden im Bundestag mit breitert werden, indem alle Schuldzinsen hinzugerechnet
den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP Gesetze an- und die Finanzierungsanteile von Mieten, Pachten,
genommen, die bis zum Jahr 2013 für die Kommunen zu Leasingraten und die Lizenzgebühren in voller Höhe bei
einer Belastung in Höhe von 19 Milliarden Euro führen. der Ermittlung der Steuerbasis Berücksichtigung finden.
Einnahmeausfälle und Ausgabensteigerungen, dieser Wir möchten mit dieser Maßnahme jedoch nicht dahin-
Spagat ist auf Dauer nicht zu verkraften und es droht be- gehend missverstanden werden, dass in Zukunft nicht
reits jetzt vielen Gemeinden der finanzielle Kollaps. Die- mehr die Möglichkeit bestehen soll, tatsächliche Ver-
ser Entwicklung kann und darf der Gesetzgeber nicht luste steuerlich geltend zu machen. Wir möchten durch
weiter tatenlos zusehen. Die grundgesetzlich garantierte eine Pflicht zur zeitnahen Geltendmachung von Gewin-
kommunale Selbstverwaltung, die durch verschiedene nen und Verlusten in der jeweiligen Entstehungsphase
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes in ih- sicherstellen, dass vorhandene Gewinne nicht im Nach-
rem Gehalt immer wieder bekräftigt und erweitert hinein „kleingerechnet“ werden, und so dieses mögliche
wurde, darf nicht weiter ausgehöhlt werden. Steuerschlupfloch schließen. Im Ergebnis würde auch
hierdurch ein Plus an Steuergerechtigkeit geschaffen
Zu den strukturellen Finanzproblemen kommen jetzt werden.
als Folge der Wirtschafts- und Finanzkrise noch enorme
Einbrüche bei den Einnahmen aus der Gewerbesteuer Gerade in der Krise müssen wir sicherstellen, dass
hinzu. Im Durchschnitt sind diese Einnahmen im Jahr die Gemeinden über die finanziellen Mittel verfügen, die
2009 um 17,4 Prozent zurückgegangen, wobei in vielen Aufgaben der Daseinsvorsorge für die Bürgerinnen und
Städten deutlich dramatischere Verluste in Höhe von Bürger in guter Qualität zu erfüllen.
zum Teil mehr als 40 Prozent zu verzeichnen waren. Ins-
gesamt mussten die Kommunen im Jahr 2009 Steuermin-
Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
dereinnahmen in Höhe von 7,1 Milliarden Euro verkraf-
ten. Die Linke schlägt in ihrem Antrag eine Umwandlung
der Gewerbesteuer in eine Gemeindewirtschaftsteuer
Der Rückgang der Gewerbesteuer ist aber für die vor. Dabei sollen auch freie Berufe mit in die Gewerbe-
Linke im Unterschied zur FDP keinesfalls ein Grund, steuerpflicht einbezogen werden und die gewinnunab-
die Abschaffung der Gewerbesteuer zu fordern. Im Ge- hängigen Elemente voll hinzugezogen werden. Dazu
genteil, unserer Auffassung nach sind die massiven kann ich nur sagen: Bravo! Für eine solche Lösung wer-
Gewerbesteuereinbrüche darauf zurückzuführen, dass ben wir Grüne schon seit 2003.
(B) diese Steuer in der Vergangenheit nur unzureichend sta- (D)
bilisiert wurde. Wir möchten in diesem Zusammenhang Wenn heute nur rund ein Drittel aller umsatzsteuer-
auch an das von der Bundeskanzlerin im Mai 2009 auf pflichtigen Unternehmen Gewerbesteuer zahlen, dann
dem Städtetag in Bochum abgegebene Versprechen erin- ist das nicht gerecht. Leider lassen Sie, sehr verehrte
nern, wonach an der Gewerbesteuer nicht gerüttelt wer- Kolleginnen und Kollegen von den Linken, zentrale Er-
den soll. kenntnisse der schon im Jahre 2002 eingesetzten Ge-
meindefinanzkommission unter den Tisch fallen. Wir
Wir als Fraktion Die Linke schlagen zur Herbeifüh- Grüne wollen in unserem Konzept der „kommunalen
rung der notwendigen Verstetigung der Kommunalfi- Wirtschaftssteuer“ – wie Sie – die gewinnunabhängigen
nanzen vor, die bestehende Gewerbesteuer zu einer Ge- Elemente stärken und die freien Berufe einbeziehen. Wir
meindewirtschaftsteuer weiterzuentwickeln. So sollen folgen jedoch dem Vorschlag der Kommission und wol-
zukünftig alle unternehmerisch Tätigen in die Steuer len nicht nur die Steuerlast auf mehrere Schultern vertei-
einbezogen werden. Die Last der bisherigen Gewerbe- len, sondern auch zugleich die Steuern senken.
steuer soll auf mehr „Schultern“ verteilt werden. Zudem
soll eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage, die Wir Grüne wollen es auch vermeiden, Unternehmen
auch vom Städtetag sowie vom Städte- und Gemeinde- durch die Einbeziehung gewinnunabhängiger Elemente
bund gefordert wird, dazu beitragen, die derzeitige Ein- in der Substanz zu besteuern. Ich bin mir nicht sicher, ob
nahmesituation der Gemeinden zu verstetigen, das heißt Ihre Fraktion dies im Blick hat. So fehlt in Ihrem Antrag
sie konjunkturunabhängig zu gestalten. ein zentraler Punkt: Sie müssen Unternehmen die Ver-
rechnung von Verlusten ermöglichen und so die Steuer
Selbstverständlich ist uns klar, dass eine derartige für wirtschaftlich schwierige Zeiten flexibler gestalten.
Erweiterung des Kreises der Steuerpflichtigen an dieser
Stelle für kleinere Unternehmen und Existenzgründer Außerdem müssen Sie deutlich machen, in welchem
eine unangemessene wirtschaftliche Belastung darstel- Ausmaß Sie Freiberufler und Personenunternehmen mit
len kann. Unser Antrag sieht daher entsprechende Frei- der Gewerbesteuer belasten wollen. Wir Grüne wollen
beträge vor, die im Vergleich zur derzeitigen Rechtslage die volle Anrechnung auf die Einkommensteuer, sodass
sogar zu einer Steuererleichterung führen und damit ent- die freien Berufe unter dem Strich nicht mehr belastet
sprechend mehr Kaufkraft generieren. werden, wohl aber ihren Beitrag für die kommunale
Infrastruktur leisten müssen, da die Gewerbesteuer in
Zur Schließung von bisher bestehenden Steuer- erster Linie den Kommunen zufließt. Leider ist Ihr im
schlupflöchern und zur damit verbundenen Herstellung Grundsatz richtiger Antrag an den entscheidenden Stel-
von mehr Steuergerechtigkeit soll für die von uns vorge- len zu unausgewogen.

Zu Protokoll gegebene Reden


2500 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

Britta Haßelmann
(A) Während die Linke zu kurz springt, sind die Forde- Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, (C)
rungen von Union und FDP, die Sie in der heute konsti- seien Sie ehrlich: Verraten Sie den Bürgerinnen und
tuierten Gemeindefinanzkommission prüfen lassen Bürgern, wer künftig die 35 Milliarden Euro für die Ge-
wollen, geradezu abenteuerlich. Ihr Ansatz, die Gewer- werbesteuer aufbringen muss. Treffen wird es vor allem
besteuer abzuschaffen und durch Umsatzsteueranteile die Bürgerinnen und Bürger in den Städten über erhöhte
und Hebesätze auf die Einkommensteuer und die Kör- Einkommensteuersätze oder sogar die Verbraucherin-
perschaftsteuer zu ersetzen, ist schon 2003 in der Ge- nen und Verbraucher über höhere Umsatzsteuerpunkte.
meindefinanzkommission aus guten Gründen verworfen Seien Sie ehrlich und legen Sie offen, was es bedeutet,
worden. Die Kommunen brauchen jetzt Entscheidungen, die Gewerbesteuer abzuschaffen! Nur für die Unterneh-
die ihre strukturelle Unterfinanzierung durch Bund und men gehen Sie mit den Steuern runter. Für die Bürgerin-
Länder substanziell verbessern. Statt Entscheidungen zu nen und Bürger gehen die Steuern rauf. Das ist Ihre
treffen, vertagen Sie die Problemlösung in eine Kommis- Botschaft nach fünf Monaten schwarz-gelbem Regie-
sion, die schon heute zum Scheitern verurteilt ist. Sie rungschaos.
schicken die Kommunen auf die Reservebank, um in al-
ler Seelenruhe weiter Steuersenkungen zu beschließen, Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
die den Kommunen weitere Milliarden an Einnahmen
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
entziehen. Wohin bei Ihnen die Reise geht, haben Sie be-
Drucksache 17/783 an die in der Tagesordnung aufge-
reits im Dezember – kurz nach Regierungsantritt – deut-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Auch damit sind Sie
lich gemacht: Durch die Kürzung des Bundesanteils an
einverstanden, wie ich sehe. – Dann ist die Überweisung
den Kosten der Unterkunft für ALG-II-Beziehende und
so beschlossen.
das Wachstumsbeschleunigungsgesetz haben Sie den
Kommunen mal eben 3,5 Milliarden Euro entzogen. Es Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tages-
macht mich sprachlos, wenn Sie, sehr verehrte Kollegin- ordnung.
nen und Kollegen von der Union und der FDP, bereits in
der morgigen Sitzung des Bundestages einen Beschluss Ich danke Ihnen, dass Sie so lange ausgehalten haben,
zur Unternehmensbesteuerung auf den Weg bringen und berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
wollen, der den Kommunen weitere 650 Millionen Euro tages auf morgen, Freitag, den 5. März 2010, 9 Uhr, ein.
jährlich entzieht. Das ist schon verwegen, einen Tag Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend und
nach der konstituierenden Sitzung der Gemeindefinanz- schließe die Sitzung.
kommission, unverdrossen weiter den Kommunen das
Wasser abzugraben. (Schluss: 22.11 Uhr)
(B) (D)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2501

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 EU gegenüber den Ländern Lateinamerikas


und der Karibik einfordern
Liste der entschuldigten Abgeordneten
(Tagesordnungspunkt 16 a und b)

entschuldigt bis
Abgeordnete(r) einschließlich Michael Frieser (CDU/CSU): Der Antrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen „Gemeinsame menschen-
rechtliche Positionierung der EU gegenüber den Ländern
von Cramon-Taubadel, BÜNDNIS 90/ 04.03.2010 Lateinamerikas und der Karibik einfordern“ gehört wie-
Viola DIE GRÜNEN der einmal zur Kategorie „gut gemeint“. Dass „gut
gemeint“ jedoch nicht zwangsläufig „gut gemacht“ be-
Dağdelen, Sevim DIE LINKE 04.03.2010 deutet, wird uns mit dem Antrag wieder einmal ein-
drucksvoll von der Opposition vor Augen geführt.
Ehrmann, Siegmund SPD 04.03.2010
Grundsätzlich ist zu sagen, dass man zunächst die
Friedhoff, Paul K. FDP 04.03.2010 dem Antrag der Bündnisgrünen innewohnende Feststel-
lung teilen kann: Die Situation der Menschenrechte in
vielen Staaten in Lateinamerika und der Karibik ist
Dr. Gysi, Gregor DIE LINKE 04.03.2010
schwierig und löst bei einem Verfechter des freiheitlich-
demokratischen Rechtsstaates größte Bedenken aus. Zu
Dr. Jochimsen, Lukrezia DIE LINKE 04.03.2010 diesen Staaten mit einer schwierigen Menschenrechts-
lage gehören insbesondere Kolumbien, Peru, Chile,
Koch, Harald DIE LINKE 04.03.2010 Honduras, Kuba und Venezuela. Persönlich begrüße ich,
dass die Bündnisgrünen in ihre Betrachtungen auch Ve-
Dr. Koschorrek, Rolf CDU/CSU 04.03.2010 nezuela und Kuba miteinbeziehen, denn oftmals sieht
die Opposition bei diesen Staaten – ihren Alliierten im
Krumwiede, Agnes BÜNDNIS 90/ 04.03.2010 Geiste – über Kritik hinweg.
DIE GRÜNEN
Auch gegen die Forderung, dass sich die Bundes-
regierung gegenüber der spanischen Ratspräsidentschaft (D)
(B) Möller, Kornelia DIE LINKE 04.03.2010
für eine gemeinsame und kohärente Menschenrechts-
politik der Europäischen Union gegenüber den Staaten
Dr. Ott, Hermann BÜNDNIS 90/ 04.03.2010
Lateinamerikas und der Karibik einsetzt, ist grundsätz-
DIE GRÜNEN
lich nichts einzuwenden. Eine abgestimmte Position der
EU-Mitgliedstaaten ist immer erfolgversprechender als
Pflug, Johannes SPD 04.03.2010 eine Forderung eines einzelnen europäischen Staates.
Doch ich frage mich, ob diese Forderung gestellt werden
Dr. Schäuble, Wolfgang CDU/CSU 04.03.2010 muss, denn die spanische Regierung hat sich unlängst
daran gemacht, im Rahmen ihrer Ratspräsidentschaft
Scharfenberg, Elisabeth BÜNDNIS 90/ 04.03.2010 eine Position gegenüber einigen lateinamerikanischen
DIE GRÜNEN Staaten zu formulieren. Hier müsste die Frage vielmehr
lauten, ob wir die von Spanien angestrebten Positionen
Dr. Schwanholz, Martin SPD 04.03.2010 überhaupt unterstützen wollen. Dies gilt insbesondere
für die Positionen gegenüber Honduras und Kuba.
Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ 04.03.2010
DIE GRÜNEN Der Antrag der Bündnisgrünen geht besonders auf die
politische Situation in Honduras ein. Die Wahlen vom
Werner, Katrin DIE LINKE 04.03.2010 November 2009 seien nicht die Lösung der politischen
Krise. Die Antragsteller fordern, die aufgrund des Put-
sches ausgesetzten Verhandlungen zwischen der EU und
den Staaten Zentralamerikas bis zur Rückkehr zur ver-
Anlage 2 fassungsmäßigen Ordnung in Honduras nicht wieder
Zu Protokoll gegebene Reden aufzunehmen. Doch wir müssen auch feststellen, dass
die Wahlen in Honduras in Anbetracht eines befürchte-
zur Beratung: ten Bürgerkrieges ruhig und unter einer hohen Wahlbe-
teiligung verlaufen sind. Ein klares Wahlergebnis ist zu
– Antrag: Menschenrechtsschutz im Handels-
verzeichnen. Eine Lösung der Krise in Honduras ist
abkommen der Europäischen Union mit
demnach infolge der Wahlen möglich. Der Rat der Euro-
Kolumbien und Peru verankern
päischen Union betrachtet die Wahlen laut einer Erklä-
– Beschlussempfehlung und Bericht: Gemein- rung vom 3. Dezember 2009, trotz der außergewöhnli-
same menschenrechtliche Positionierung der chen Umstände ihrer Durchführung, als einen wichtigen
2502 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

(A) Schritt zur Lösung der Krise in Honduras. Es liegt nun- Einig sind wir uns drittens darin, dass die Menschen- (C)
mehr an den honduranischen Verfassungsorganen, einen rechtslage – unter den Augen der Regierungen – weder
Beitrag zur Überwindung der innenpolitischen Krise zu in Peru noch in Kolumbien den Standards entspricht, die
leisten. Die Antragsteller müssen das bei der Forderung wir uns wünschen. Folter und Misshandlungen in Peru
einer gemeinsamen menschenrechtlichen Positionierung oder paramilitärische Übergriffe und Vertreibungen der
der EU zur Kenntnis nehmen. Landbevölkerung in Kolumbien sind bis heute an der Ta-
gesordnung.
Die grundsätzlich richtigen Feststellungen der schwie-
rigen Menschenrechtssituation in Lateinamerika und der Zugleich müssen wir betonen: Menschenrechtsverlet-
Karibik können jedoch nicht über den Kardinalfehler des zungen werden in beiden Ländern von vielen Seiten be-
Antrags hinwegtäuschen: Dieser liegt bei der denklogi- gangen. Terroristische Übergriffe und – mit Blick auf
schen Verknüpfung von Handelspolitik und Menschen- Kolumbien gesagt – Bandenkriege um Drogenpfründe
rechtspolitik. Wir mussten in den 1990er-Jahren schmerz- werden auf Kosten und zulasten der Bevölkerung ausge-
lich erfahren, dass diese Verkettung nicht die erwünschte tragen. Im Kampf gegen diese Gruppen brauchen die
politische Wirkung entfaltet. Dies zeigte ganz besonders Regierungen in Peru und in Kolumbien unsere Unter-
eindrucksvoll die Praxis der gemeinsamen Politik der stützung.
EU-Staaten gegenüber Staaten wie China, Russland, Iran
und Irak. Bekenntnisse zur Demokratie und zur Einhal- Wir lassen nicht zu, dieses Thema politisch zu instru-
tung politischer und bürgerlicher Rechte wurden Lippen- mentalisieren. Die einseitige und offensichtlich ideolo-
bekenntnisse. Die rot-grüne Bundesregierung unter gisch gefärbte Kampagne der Linken zugunsten eines
Gerhard Schröder und Joschka Fischer hat in Bezug auf neuen Sozialismus lateinamerikanischer Prägung führt
China und Russland immer von einer Verknüpfung von hier in eine Sackgasse. Stattdessen unterstreiche ich: Wir
Handelspolitik und Menschenrechtspolitik abgesehen. nehmen Fortschritte und positive Entwicklungen sowohl
Auch die Vereinigten Staaten haben diese Tatsache nach in Peru als auch in Kolumbien wahr. Ein Beispiel für
dem Ende des Ost-West-Konfliktes erst lernen müssen. funktionierende Rechtsstaatlichkeit ist das Urteil des
Eine Aussetzung oder ein Zur-Disposition-Stellen von Obersten Gerichtshofes in Kolumbien, das das verfas-
Handelsabkommen bewirkt in der Praxis das Gegenteil sungswidrige Referendum für eine dritte Amtszeit Präsi-
des Intendierten. Der Einfluss auf die innenpolitische Si- dent Uribes abgelehnt hat.
tuation in den Staaten nimmt ab. Deshalb ist auch der Dennoch gilt: Der Einsatz für Menschenrechte ist und
zweite Beschlusspunkt abzulehnen. bleibt ein weiter Weg, da lässt sich nichts beschönigen.
Und eben deshalb hat sich die Bundesregierung bei der
Aufgrund dieser weitreichenden Mängel kann ich nur EU dafür eingesetzt, dass das Abkommen sanktionier-
(B) zu dem einzigen Schluss kommen: Der Antrag ist abzu- bare Menschenrechtsverpflichtungen enthält. Das hat (D)
lehnen. Staatsministerin Pieper am 21. Dezember 2009 in ihrer
Antwort auf die Anfrage des Abgeordneten Gunkel klar
Frank Heinrich (CDU/CSU): Zunächst möchte ich zum Ausdruck gebracht. Ihr Antrag, liebe Kolleginnen
eins ganz klar sagen: Wir alle in diesem Hohen Haus und Kollegen von der SPD, lässt das völlig außer Acht.
sind uns in einigen Punkten einig, und ich bin dankbar,
dass wir uns diese Anliegen im Rahmen einer Debatte Kritisieren muss ich auch den gedanklichen Ansatz
ins Gedächtnis rufen und ihre Dringlichkeit betonen Ihres Antrags. Sie fordern die EU auf, mit der Unter-
können. zeichnung des Abkommens zu warten. Aber Handelsab-
kommen sind doch nicht das Sahnehäubchen auf guten
Einigkeit besteht zuallererst darin, unser Mitgefühl Beziehungen zwischen Staaten, in denen schon alles
und unsere ausdrückliche Solidarität mit verfolgten, dis- zum Besten steht. Im Gegenteil: Gelingende Handelsbe-
kriminierten und unterdrückten Menschen in Lateiname- ziehungen können das Vehikel sein, und sie waren es in
rika auszudrücken. In besonderer Weise gilt dies heute der Vergangenheit oft genug, die Einhaltung von Men-
den Menschen in Kolumbien und Peru. schenrechten zu ermöglichen – und dann auch einzufor-
dern. Um es mit einer Sentenz zu sagen, die der SPD
Wir sind uns zweitens einig darin, dass es eine Quer- nicht völlig fremd sein dürfte: „Fordern und Fördern“
schnittsaufgabe unserer Politik sein muss und wir quer sind der Schlüssel zum Erfolg. Wir müssen helfen, die
durch die Fraktionen aktiv darin tätig sind, Menschen- Bedingungen, die zum Nährboden für ein Gedeihen von
rechte zu schützen und Menschenrechtsverletzungen auf Demokratie und zur Durchsetzung von Menschenrech-
das Schärfste zurückzuweisen. Wir danken ausdrücklich ten werden können, aktiv herzustellen. Darum halte ich
den Menschenrechtsverteidigern vor Ort, die unter ho- Verträge über wirtschaftliche Zusammenarbeit und In-
hen persönlichen Risiken tätig sind, und den NGOs, die vestitionen in Bildung für grundlegende Parameter, um
sich zu ihren Anwälten machen, indem sie Menschen- die Verwirklichung von Menschenrechten zu ermögli-
rechtsverletzungen dokumentieren und dem Deutschen chen und durchzusetzen. Dies hat Bundeskanzlerin
Bundestag vorlegen. Ich verweise dabei stellvertretend Angela Merkel in ihrem Gespräch mit dem kolumbiani-
auf den Bericht von Human Rights First vom Februar schen Präsidenten Uribe am 31. Januar 2010 deutlich zur
2010, in welchem die Unterdrückung von Menschen- Sprache gebracht. Im Zuge der Verhandlungen Perus
rechtsverteidigern in Kolumbien dokumentiert wird. Es und Kolumbiens mit der EU-Kommission über das Frei-
sind solche Berichte, die einer theoretischen Debatte das handelsabkommen hat sich Kolumbien verpflichtet,
konkrete Gesicht geben. Menschen-, Arbeitnehmer- und Umweltrechte zu för-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2503

(A) dern und zu schützen. Das Abkommen soll im Mai para- schen der Andengemeinschaft und der EU geschlosse- (C)
phiert werden. Diesen Prozess zu stoppen, halten wir in nen „Abkommens über politischen Dialog und
der aktuellen Situation für kontraproduktiv. Das sichert Zusammenarbeit“ genügen soll. Ein Verweis genügt mir
die Menschenrechte nicht, sondern gefährdet sie. Insbe- nicht. Auch die bisherigen Abkommen der EU mit la-
sondere die Menschen in Kolumbien brauchen in der teinamerikanischen Staaten, zum Beispiel das erweiterte
Umbruchzeit zum Ende der Amtszeit Uribes, die einiges Allgemeine Zollpräferenzsystem (ASP+), haben stets
an zusätzlicher politischer Instabilität erwarten lässt, die Einhaltung der Menschenrechte angemahnt. Papier
verlässliche Partner, die sie unterstützen, statt partner- ist geduldig. Mit dem multilateralen Handelsabkommen
schaftliche Prozesse zu blockieren. sollten wir uns die Möglichkeit einer sofortigen Suspen-
dierung bei Verstößen gegen Klauseln einräumen.
Ein letzter Gedanke: Sie fordern in Ihrem Antrag,
bilaterale oder multilaterale Abkommen zugunsten re- Kolumbianische und peruanische Menschenrechtsor-
gionaler Abkommen zurückzustellen. Wenn aber die Re- ganisationen und Gewerkschaftsmitglieder haben davor
gionen nicht bereit oder in der Lage sind, gemeinsam zu gewarnt, die Verhandlungen abzuschließen. Sie fordern
verhandeln, dann kann und darf die EU nicht koopera- erkennbare Fortschritte beim Menschenrechtsschutz. Es
tionswilligen Partnern die Tür vor der Nase zuschlagen. mag sein, dass, wie es von der kolumbianischen Regie-
Einzelabkommen können eine Sogwirkung für eine rung betont wird, die Zahl der außergerichtlichen Hin-
ganze Region entwickeln. Geben wir den Menschen in richtungen zurückgegangen ist. Aber offiziell vorgelegte
Kolumbien und Peru diese Chance, und zwar so bald wie Zahlen darf man auch bezweifeln. Durch meine Aufent-
möglich. Daher lehnen wir den Antrag der SPD-Fraktion halte in Kolumbien und Gespräche mit Betroffenen weiß
ab. ich, dass es zunehmend zu Angriffen und außergerichtli-
chen Hinrichtungen durch regierungsnahe, bewaffnete
Gruppen und das kolumbianische Militär kommt. Die
Wolfgang Gunkel (SPD): Es reicht nicht, Men- Sicherheitslage hat sich nur in bestimmten Regionen und
schenrechtsverletzungen zu beklagen und gleichzeitig nur für einige soziale Gruppen verbessert. Man muss
darauf hinzuweisen, dass wir auf die Menschenrechts- sich also schon fragen, ob man aufgrund der vermeintli-
politik von Drittländern leider keinen Einfluss haben. chen Fortschritte von den Leitlinien der EU abweicht.
Wir müssen Menschenrechtsverletzungen ernst nehmen, Schließlich beruht die Zusammenarbeit der EU mit den
sie konsequent anmahnen. Wir müssen Fortschritte beim Ländern der Andengemeinschaft auf der Grundlage von
Menschenrechtsschutz einfordern und regelmäßig über- Menschenrechten und Demokratie, so weit die Außen-
prüfen. darstellung.
Sowohl in Kolumbien als auch in Peru versagt der na- Die EU erhebt den Anspruch, dass ihre Zusammenar- (D)
(B) tionale Menschenrechtsschutz. Entsprechend verurteilt
beit auf dem sogenannten europäischen Wertefundament
die Europäische Union (EU) in ihrem Jahresbericht zur beruht: Wahrung der Menschenrechte, Freiheit, Demo-
Menschenrechtslage (2008) die neue Welle von Mord- kratie und Rechtsstaatlichkeit. Besorgt bin ich über das,
drohungen gegen Menschenrechtsverteidigerinnen und was dann tatsächlich und hinter verschlossenen Türen
Menschenrechtsverteidiger, Gewerkschafterinnen und geschieht. Eine Debatte über das Mehrparteien-Handels-
Gewerkschafter in Kolumbien. In Peru wird die politi- abkommen unter Einbeziehung der Zivilgesellschaft fin-
sche Opposition unterdrückt, kritische Journalistinnen det nicht statt. Das wurde im Übrigen auch von Großbri-
und Journalisten sehen sich Drohungen und Angriffen tannien angemahnt. Dabei wurde diesem Parlament
ausgesetzt. Einen Ausschnitt der Menschenrechtssitua- durch den Vertrag von Lissabon mehr Mitspracherecht
tion in Kolumbien und Peru können Sie in vorliegendem eingeräumt. Wir brauchen einen offenen Meinungsaus-
Antrag nachlesen. tausch. Mit den beteiligten Menschen in Kolumbien und
Peru müssen wir diskutieren. Denn vonseiten der kolum-
Trotzdem haben die EU, Kolumbien und Peru am bianischen und peruanischen nichtstaatlichen Akteure
Montag (1. März 2010) die Verhandlungen über ein gibt es ernst zu nehmende Bedenken gegen ein Freihan-
Mehrparteien-Handelsabkommen abgeschlossen. Und es delsabkommen, Bedenken, die den US-Kongress dazu
sieht so aus, als wären Menschenrechte bei diesen Ver- bewogen haben, die Ratifizierung eines 2006 abge-
handlungen wegverhandelt worden. Es liegt mir fern, schlossenen Handelsabkommens der USA mit Kolum-
Handelsabkommen zu verteufeln. Nur müssen wir uns bien vorerst nicht zustande kommen zu lassen. Nun will
fragen, wie kohärent eine EU-Außenpolitik ist, die auf auch eine kanadische Beobachtermission, die Men-
der einen Seite die Bedrohung derjenigen rügt, die sich schenrechtsverletzungen in Kolumbien prüft, die Ratifi-
tagtäglich für Menschenrechte, Bürgerrechte, ILO-Kern- zierung eines Handelsabkommens Kanadas mit Kolum-
arbeitsnormen und Umweltstandards einsetzen, aber auf bien verhindern. Und auch Norwegen besteht auf einer
der anderen Seite diese Tatsache in den Verhandlungen Untersuchung der Menschenrechtsverletzungen, bevor
mit Kolumbien und Peru wegen der politischen Sensibi- das Handelsabkommen der vier EFTA-Mitgliedstaaten
lität des Themas ausblendet. Das Handelsabkommen Island, Liechtenstein, Schweiz und Norwegen mit Ko-
muss eine Suspendierungsklausel enthalten, die es er- lumbien ratifiziert wird.
laubt, das Abkommen außer Kraft zu setzen, wenn Men-
schenrechte und Demokratie verletzt werden. Auf An- Das sind Bedenken, die von denjenigen in Europa
frage teilte mir das Bundesministerium für Wirtschaft überhört werden, die Wirtschaftsinteressen über Men-
und Technologie mit, dass einer solchen Menschen- schenrechte stellen. Bundeswirtschaftsminister Brüderle
rechtsklausel der Verweis auf den Inhalt des 2003 zwi- wird vornehmlich vom Interesse geleitet, die Export-
2504 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

(A) möglichkeiten in die „sehr attraktiven Märkte“ Kolum- Ein essenzieller Punkt des EU-Mandats bei der Ver- (C)
biens und Perus (PM vom 2. März 2010) uneinge- handlungsführung mit Peru ist auch die Berücksichti-
schränkt zu nutzen. Und auch das Bundesministerium gung und Beachtung der Grundfreiheiten sowie des
für wirtschaftliche Zusammenarbeit unter Minister Schutzes indigener Völker auf der Basis internationaler
Niebel analysiert neuerdings lieber Investitionshemm- Abkommen. Viele Projekte in der Entwicklungszusam-
nisse (PM vom 25. Februar 2010). Die Doppelmoral der menarbeit mit Lateinamerika nehmen direkt oder indi-
Regierungskoalition wird deutlich, wenn wir uns anse- rekt Menschenrechtsthemen auf. Ein sehr gutes Beispiel
hen, was in einem aktuellen Antrag von CDU/CSU und ist ein regionales Projekt der direkten Zusammenarbeit
FDP festgestellt wird: „Mittel- bis langfristig werden mit indigenen Organisationen, das die politische Beteili-
sich konkrete Außenwirtschaftsinteressen besser ver- gung indigener Völker auf nationaler und internationaler
wirklichen lassen, wenn Rechtsstaatlichkeit und Men- Ebene zum Ziel hat. Die Organisation der amerikani-
schenrechte beachtet werden“ (Bundestagsdrucksache schen Staaten (OAS) wird im Rahmen deutscher Ent-
17/257). wicklungshilfearbeit dabei unterstützt, die Partizipation
indigener Völker am interamerikanischen System zu er-
In unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung höhen. Auch bei vielen bilateralen Projekten wird die
auf, sich gegenüber der EU-Kommission und der spani- Umsetzung indigener Rechte aufgenommen. Die gewalt-
schen EU-Ratspräsidentschaft dafür einzusetzen, dass samen Konflikte in Peru im Juni 2009 zeigen ganz ein-
das multilaterale Freihandelsabkommen der EU mit deutig, dass das Thema indigene Rechte und Konflikt-
Kolumbien und Peru auf dem Gipfeltreffen der Länder prävention eine wichtige Rolle spielt.
Lateinamerikas und der Karibik (LAK) und der EU im
kommenden Mai nicht unterzeichnet wird. Eile ist nicht Die Verpflichtung zur Achtung der Menschenrechte
angebracht, wenn es darum geht, die Situation vor Ort zu ist generell ein Grundstein bei Assoziierungsabkommen
verstehen. Stattdessen sollten wir den Menschenrechts- der EU. Die Einhaltung der Menschenrechte ist auf EU-
dialog auf der Ebene der staatlichen und nichtstaatlichen Ebene nicht nur Gegenstand des politischen Dialogs,
Akteure fortführen und intensivieren. Wir wollen umset- sondern auch ein Ziel bei Kooperations- und Handelsbe-
zungsorientierte, greifbare Ergebnisse sehen. Lippenbe- ziehungen. Auf dieser Grundlage und durch Bestimmun-
kenntnisse reichen beim Menschenrechtsschutz nicht gen bei den Assoziierungsverhandlungen und in den
aus. Das Mehrparteien-Handelsabkommen braucht nun Freihandelsabkommen wird die Einhaltung international
noch die Zustimmung des Europäischen Parlaments. Ich anerkannter Umwelt- und Sozialstandards sichergestellt.
werde mich dafür einsetzen, dass auch die Kolleginnen Ein Politikbereich ist dabei sehr wichtig und stellt
und Kollegen im Europaparlament bei ihrer Entschei- ebenfalls in Entwicklungshilfeprojekten einen wichtigen
dung Menschenrechte nicht hinter handelspolitische In- Grundpfeiler dar: die „Good Governance“. Hier geht es (D)
(B)
teressen stellen. um die schrittweise Durchsetzung von Rechtsstaatlich-
keit oder wie in Peru um die Stärkung der Ombudsper-
Pascal Kober (FDP): Wir Liberale glauben, dass son, die unter anderem Verfahren für Aufsicht und Mo-
Handelsbeziehungen wichtig für die Durchsetzung von nitoring von Staatsreformen und zur Prävention von
Menschenrechten sind. Deshalb sollten wir die Länder in Sozialkonflikten entwickelt hat.
Lateinamerika in ihren Reformbemühungen durch Han- Peru ist bei der bilateralen Zusammenarbeit in absolu-
delsabkommen unterstützen, damit sie an wirtschaftli- ten Zahlen der größte Empfänger deutscher Hilfsmittel
chen Entwicklungen partizipieren können. Aber natür- in Lateinamerika. Der Fokus liegt auf Staatsmodernisie-
lich müssen wir im Rahmen unserer außenpolitischen rung, Wasserversorgung und ländlicher Entwicklung un-
Möglichkeiten auch die Regierungen in die Pflicht neh- ter Beachtung des Umwelt- und Ressourcenschutzes.
men, falls sie ihren Verpflichtungen zum Einhalten der Nach Angaben der Vereinten Nationen wurde die Armut
Menschenrechte nicht nachkommen. in den letzten Jahren reduziert und ihre Bekämpfung
bleibt weiterhin ein Schwerpunkt der peruanischen Re-
Bereits in den Verhandlungen für das Abkommen
gierungsarbeit. Wir werden die Entwicklungen genau
zwischen der EU und Kolumbien hat sich die Bundes-
beobachten.
regierung sehr dafür eingesetzt, dass es Menschenrechts-
verpflichtungen enthält. In diesem Abkommen wurde Allerdings sollte man abwarten, inwieweit die An-
sehr viel Wert auf das Einhalten der allgemeinen Men- strengungen der Regierung von den Auswirkungen der
schenrechtserklärung und die allgemeinen Rechtsstaats- internationalen Wirtschaftskrise, die Peru als Wachs-
prinzipien gelegt. Denn die Förderung von Menschen- tumsführer in Lateinamerika vergleichsweise gut bewäl-
rechten ist ein hervorstechendes Ziel der deutschen tigt, beeinträchtigt werden. Bisher hatte die peruanische
Entwicklungspolitik. Bei politischen Dialogen mit la- Regierung nur wenige Erfolge bei der Umsetzung ihrer
teinamerikanischen Regierungen sind Menschenrechte ehrgeizigen Pläne, wie zum Beispiel bei der Erhöhung
zunehmend der Gesprächsgegenstand. Die Regierungen der Investitionen in die Infrastruktur oder die Verbesse-
der Partnerländer werden auf bilateraler Ebene darin rung des Bildungswesens. Verantwortlich sind haupt-
unterstützt, ihre Menschenrechtsverpflichtungen konse- sächlich die zu schwachen staatlichen Institutionen. Ge-
quent umzusetzen. Erfolge bei der Wahrung von bürger- rade vor dem Hintergrund dieser Probleme muss ich
lichen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen betonen, dass es in Peru Menschenrechtsverletzungen
Rechten werden thematisiert. Auch dies ist ein wesentli- vor allem nicht von staatlichen Stellen gibt. Menschen-
ches Anliegen der deutschen Entwicklungspolitik. rechtsverteidiger können sich frei betätigen und die ein-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010 2505

(A) zelnen Fälle, in denen individuelle Bedrohungen oder Putsch hervorgegangenen Regierung Honduras ihre An- (C)
Einschüchterungen existieren, gehen nicht von öffentli- erkennung zu verweigern, sehen wir als Augenwische-
chen Stellen aus. Die unabhängige Ombudsstelle ist reien.
finanziell ausreichend ausgestattet, die Todesstrafe gibt
es in Peru nicht und Meinungs-, Presse- und Religions- Stattdessen wäre es sinnvoll, die Bundesregierung zu
freiheit sind gewährleistet. fragen, ob sie mit der niederländischen Regierung in
Kontakt getreten ist, um sie darauf hinzuweisen, dass
Also, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD ihre Bereitstellung von militärischer Infrastruktur auf
und den Grünen: Beide Anträge haben für uns einen zu den Inseln Aruba und Curacao für US-amerikanische
einseitigen Blick vor allem auf die Beziehungen zu Streitkräfte zu einer Eskalation des Konfliktes an der ko-
Kolumbien und Peru. Sie erkennen die positiven Ent- lumbianisch-venezuelanischen Grenze beiträgt und da-
wicklungen dort nicht an und werden daher von uns ab- mit die ohnehin katastrophale Menschenrechtslage wei-
gelehnt. ter verschlechtert.
Die EU untergräbt gezielt durch ihre Freihandelspoli-
Heike Hänsel (DIE LINKE): Die Fraktion Die Linke tik die Anstrengungen lateinamerikanischer Regierun-
solidarisiert sich mit den Gewerkschafterinnen und Ge- gen wie Ecuador, Venezuela oder Bolivien, alternative
werkschaftern, sozialen Bewegungen und Menschen- solidarische Wirtschaftsbeziehungen in Lateinamerika
rechtsgruppen in Peru und Kolumbien, die gegen die aufzubauen. Gerade das Zustandekommen der Abkom-
Freihandelsabkommen protestieren, die die Europäische men mit Peru und Kolumbien ist ein gutes Beispiel da-
Union mit ihren Ländern abschließen will. Diese Men- für. Statt, wie ursprünglich vorgesehen, ein Abkommen
schen protestieren, weil die Freihandelsabkommen ihre mit der gesamten Andengemeinschaft auszuhandeln,
sozialen, kulturellen, ökologischen und demokratischen wurde diese kurzerhand auseinandergesprengt, als Boli-
Rechte massiv bedrohen. Die für das VI. EU-Lateiname- vien und Ecuador alternative Vorstellungen von einem
rika-Gipfeltreffen am 18. Mai 2010 in Madrid vorgese- Abkommen mit der EU formulierten.
hene Unterzeichnung von Freihandelsabkommen der EU
mit Peru und Kolumbien muss deshalb ausgesetzt wer- Aber die Zeit der neoliberalen Hegemonie in Latein-
den! amerika ist vorbei! Neoliberale Wirtschafts- und Han-
delspolitik hat die lateinamerikanischen Gesellschaften
Der Freihandel bedroht die Lebensgrundlagen und zerrüttet und Millionen Menschen in Armut gestürzt.
elementare Menschenrechte großer Teile der Bevölke- Der soziale Aufbruch in Lateinamerika, der als Abwehr-
rung; das wurde letztes Jahr gerade in Peru deutlich, als kampf gegen die Auswirkungen dieser katastrophalen al-
im Zuge der Umsetzung des Freihandelsabkommens mit ten Politik begonnen hatte, hat neue Kräftekonstellatio-
(B) den USA der Konflikt um die Förderung von Boden- nen hervorgebracht und politische Alternativen möglich (D)
schätzen im peruanischen Regenwald eskalierte und gemacht.
durch das brutale Vorgehen peruanischer Sicherheits-
kräfte gegen die demonstrierende indigene Bevölkerung
und Kleinbauern bei Bagua zahlreiche Menschen ums Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der
Leben kamen. Bürgerrechtler Orlando Zapata Tamayo ging in den Hun-
gerstreik, um auf die miserablen Haftbedingungen der
Diese Handelsabkommen dienen in erster Linie den vielen gewaltlosen politischen Gefangenen in Kuba auf-
Interessen kleiner Eliten in Lateinamerika und Europa merksam zu machen. Er starb in der vergangenen Woche
und multinationaler Konzerne. Gleichzeitig ignorieren nach mehr als 80 Tagen im Alter von 42 Jahren. Laura
sie die massiven Menschenrechtsverletzungen in Ko- Pollan, Mitglied der Bewegung „Damas de Blanco“, äu-
lumbien und Peru. Gerade die Menschenrechtslage in ßerte sich in einem BBC-Interview vom 24. Februar
Kolumbien ist hier bereits mehrmals diskutiert worden. 2010 zur Person Tamayo: „Er war kein Mörder. Er war
Die kolumbianische Armee und Polizei sind dabei Teil kein Dieb. Er war kein Vergewaltiger. Er war einfach ein
des Problems und für systematische Menschenrechtsver- junger Mann, der sich eine bessere Zukunft für Kuba
letzungen, wie extralegale Hinrichtungen von Zivilisten, wünschte“. Die kubanische Regierung bedauert den To-
verantwortlich. Die kolumbianische Regierung bietet desfall, weist aber gleichzeitig jede Verantwortung von
keine wirksamen Ansätze zur Lösung des bewaffneten sich. Derzeit sitzen noch immer rund 200 politische
inneren Konfliktes an. Sie setzt weiter auf Gewalt und Häftlinge in kubanischen Gefängnissen. Einige von ih-
diskreditiert regelmäßig Bemühungen zivilgesellschaft- nen sind aus Protest gegen die Regierung ebenfalls in
licher Organisationen wie zum Beispiel der „Kolumbia- den Hungerstreik getreten und befinden sich in einem
nerinnen und Kolumbianer für den Frieden“, die den kritischen Zustand. Der Hungertod Orlando Zapata
Konflikt auf dem Verhandlungswege zu überwinden ver- Tamayos mahnt uns, unserer Verantwortung gerecht zu
suchen. werden und dort, wo wir Einfluss nehmen können, eine
konsequente Menschenrechtspolitik zu betreiben und die
Die Gleichsetzung der Menschenrechtssituation in Achtung von Menschenrechten auch von unseren Part-
Kolumbien, Peru, Venezuela und Kuba, wie es im An- nern einzufordern.
trag der Grünen formuliert ist, halten wir für inakzepta-
bel und gefährlich. Und über eine „gemeinsame und ko- Das haben wir in unserem Antrag gefordert. Die ak-
härente Menschenrechtspolitik“ der EU zu diskutieren, tuellen Entwicklungen auf EU-Ebene zeigen dessen Bri-
während sich die Europäische Union noch nicht einmal sanz: Vor drei Tagen schloss die Europäische Kommis-
gemeinsam dazu durchringen kann, der aus einem sion die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen
2506 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2010

(A) der EU mit Peru und Kolumbien ab. Der Vertragstext ist gerinnen und Gewerkschaftsmitglieder werden häufiger, (C)
bislang nicht bekannt. Selbst das Europäische Parlament um deren Eintreten für international anerkannte Arbeit-
wurde nur durch eine kurze Pressemitteilung über den nehmerrechte und Arbeitsstandards zu verhindern. Dem
Abschluss der Verhandlungen informiert. Es ist zu be- Jahresbericht 2009 des Internationalen Gewerkschafts-
fürchten, dass keine verbindlichen Menschenrechtsstan- bundes zufolge wurden in Kolumbien 49 Gewerkschaf-
dards und entsprechenden Überprüfungs- und Sanktions- ter allein in 2008 ermordet. Über 95 Prozent der Morde
mechanismen in dem Freihandelsabkommen verankert werden nicht aufgeklärt. Vor dem Hintergrund der
wurden. schlechten Menschenrechtslage haben der US-Kongress
und das kanadische Parlament die Ratifizierung ähnli-
Wir haben in unserem Antrag gefordert, dass auf- cher Freihandelsabkommen mit den Ländern gestoppt.
grund der notorisch schlechten Menschenrechtslage in
Kolumbien und Peru kein Handelsabkommen abge- Ein Freihandelsabkommen mit Peru und Kolumbien
schlossen werden darf, das nicht ein klares Bekenntnis ohne verbindliche Menschenrechtsverpflichtungen würde
zu Menschenrechten und Demokratie beinhaltet. Ich ein falsches Signal an die Regierungen unserer Partner-
freue mich, dass die Kolleginnen und Kollegen von der länder aussenden. Die Bundesregierung steht in der
SPD unsere Forderung aufgegriffen haben und unsere Pflicht, auf das Europäische Parlament und die Europäi-
Auffassung teilen. sche Kommission einzuwirken, dass das Abkommen auf
dem anstehenden 6. Gipfeltreffen der EU und der LAK-
Die Europäische Kommission argumentiert für das Staaten am 18. Mai 2010 ohne konkrete Verpflichtungen
Abkommen, da sich die Menschenrechtssituation in den zu Menschenrechten und Sanktionsmechanismen nicht
beiden Ländern gebessert habe. Das ist nicht der Fall. Ver- unterzeichnet wird. Die Europäische Union verspielt
schiedene Nichtregierungsorganisationen weisen weiter- ihre Glaubwürdigkeit, wenn sie ihre eigenen Maßstäbe
hin auf die zahlreichen Fälle des „Verschwindenlassens“ nicht ernst nimmt. Die europäische Lateinamerikapolitik
von Zivilisten sowie auf die außergerichtlichen Hinrich- muss auf die Einhaltung der Menschenrechte ausgerich-
tungen durch das Militär und durch regierungsnahe Mili- tet sein, auch die Handelspolitik. Darum geht es in unse-
zen hin. Morddrohungen gegen Menschenrechtsverteidi- rem Antrag.

(B) (D)

Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
ISSN 0722-7980

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