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Plenarprotokoll 16/64

Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht

64. Sitzung

Berlin, Freitag, den 10. November 2006

Inhalt:

Begrüßung einer Delegation des Schweizer Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/


Nationalrates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6328 D DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6316 A
Eckart von Klaeden (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 6317 A
Tagesordnungspunkt 29: Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) . . . . . . . . 6318 D
a) Beschlussempfehlung und Bericht des Oskar Lafontaine (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 6319 C
Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag
der Bundesregierung: Fortsetzung des Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . 6320 C
Einsatzes bewaffneter deutscher Streit- Petra Heß (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6322 B
kräfte bei der Unterstützung der ge-
meinsamen Reaktion auf terroristische Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 6323 D
Angriffe gegen die USA auf Grundlage
des Artikels 51 der Satzung der Verein- Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 6324 D
ten Nationen und des Artikels 5 des Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/
Nordatlantikvertrags sowie der Resolu- DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6325 D
tionen 1368 (2001) und 1373 (2001) des
Sicherheitsrates der Vereinten Nationen Dr. Norman Paech (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 6326 C
(Drucksachen 16/3150, 16/3321, 16/3324) 6313 A
Detlef Dzembritzki (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 6327 C
b) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
wärtigen Ausschusses zu dem Entschlie- Holger Haibach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 6329 A
ßungsantrag der Abgeordneten Dr. Norman
Paech, Paul Schäfer (Köln), Monika Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . 6330 A
Knoche, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der LINKEN zu dem Antrag der
Bundesregierung: Fortsetzung des Ein- Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6331 D
satzes bewaffneter deutscher Streit-
kräfte bei der Unterstützung der ge-
meinsamen Reaktion auf terroristische Tagesordnungspunkt 30:
Angriffe gegen die USA auf Grundlage
des Artikels 51 der Satzung der Verein- Große Anfrage der Abgeordneten Jürgen
ten Nationen und des Artikels 5 des Koppelin, Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks,
Nordatlantikvertrags sowie der Resolu- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
tionen 1368 (2001) und 1373 (2001) des FDP: Prüfplanung der Bundesregierung
Sicherheitsrates der Vereinten Nationen aufgrund des Koalitionsvertrages in der
(Drucksachen 16/3150, 16/3151, 16/3322) 6313 B 16. Legislaturperiode
(Drucksachen 16/926, 16/2468) . . . . . . . . . . . 6330 B
Hans-Ulrich Klose (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 6313 D
Birgit Homburger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 6315 C in Verbindung mit
II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006

Zusatztagesordnungspunkt 8: Markus Meckel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6353 B


Antrag der Abgeordneten Dr. Karl Addicks, Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) . . . . . . . . 6354 D
Christian Ahrendt, Daniel Bahr (Münster),
Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6355 C
FDP: Mehr Freiheit wagen
(Drucksache 16/3288) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6330 C
Rainer Brüderle (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6330 C Tagesordnungspunkt 34:
Dr. Michael Meister (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 6334 A a) Erste Beratung des von den Fraktionen der
CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE) . . . . . . 6337 C Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
Olaf Scholz (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6338 B des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch
und des Finanzausgleichsgesetzes
Olaf Scholz (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6338 D (Drucksache 16/3269) . . . . . . . . . . . . . . . 6356 C
Ina Lenke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6340 C b) Antrag der Abgeordneten Heidrun Bluhm,
Matthias Berninger (BÜNDNIS 90/ Katrin Kunert, Dr. Gesine Lötzsch, weite-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6342 A rer Abgeordneter und der Fraktion der
LINKEN: Bundesweite Mindeststan-
Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU) . 6344 A dards für angemessenen Wohnraum
und Wohnkosten für Bezieherinnen und
Carl-Ludwig Thiele (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . 6345 D
Bezieher von Arbeitslosengeld II
Carsten Schneider (Erfurt) (SPD) . . . . . . . . . . 6346 D (Drucksache 16/3302) . . . . . . . . . . . . . . . 6356 D
Ulrich Maurer (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 6348 B Karl Schiewerling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 6357 A
Jürgen Koppelin (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 6349 A Jörg Rohde (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6358 D
Carsten Schneider (Erfurt) (SPD) . . . . . . . . . . 6349 C Gerd Andres, Parl. Staatssekretär BMAS . . . 6360 A
Katrin Kunert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 6361 C
Tagesordnungspunkt 31: Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6362 C
a) Antrag der Abgeordneten Eckart von
Klaeden, Dr. Andreas Schockenhoff, Katrin Kunert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 6362 D
Bernd Siebert, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU sowie der Ab-
geordneten Markus Meckel, Niels Annen, Tagesordnungspunkt 33:
Rainer Arnold, weiterer Abgeordneter und Zweite und dritte Beratung des von der Frak-
der Fraktion der SPD: Die NATO vor tion der LINKEN eingebrachten Entwurfs ei-
dem Gipfel in Riga vom 28. bis 29. No- nes Gesetzes zur Änderung des Schuld-
vember 2006 rechtsanpassungsgesetzes
(Drucksache 16/3296) . . . . . . . . . . . . . . . . 6350 A (Drucksachen 16/1736, 16/3207) . . . . . . . . . . 6363 D
b) Antrag der Abgeordneten Paul Schäfer Hans-Joachim Hacker (SPD) . . . . . . . . . . . . . 6364 A
(Köln), Monika Knoche, Hüseyin-Kenan
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP). . 6366 A
Aydin, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der LINKEN: NATO-Gipfel in Andrea Astrid Voßhoff (CDU/CSU) . . . . . . . 6366 D
Riga für Abrüstungsinitiativen nutzen Jörn Wunderlich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 6368 C
(Drucksache 16/3280) . . . . . . . . . . . . . . . . 6350 A
Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6369 D
in Verbindung mit

Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . 6370 C


Zusatztagesordnungspunkt 9:
Antrag der Abgeordneten Dr. Rainer Stinner, Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6378 C
Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP:
Neues strategisches Konzept für die NATO Tagesordnungspunkt 36:
(Drucksache 16/3287) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6350 A Erste Beratung des von den Fraktionen der
Eckart von Klaeden (CDU/CSU) . . . . . . . . . . CDU/CSU und der SPD eingebrachten Ent-
6350 B
wurfs eines Gesetzes über die Festsetzung
Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 6351 D der Beitragssätze in der gesetzlichen Ren-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006 III

tenversicherung und der Beiträge und Bei- Anlage 1


tragszuschüsse in der Alterssicherung der
Landwirte für das Jahr 2007 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 6387 A
(Drucksache 16/3268) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6370 C
Gerd Andres, Parl. Staatssekretär BMAS . . . . 6370 D Anlage 2
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 6371 D Erklärung nach § 32 GO der Abgeordneten
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . 6373 A Ulla Jelpke (DIE LINKE) zur Beratung der
Großen Anfrage: Entwicklung der extremen
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . 6373 D Rechten und die Maßnahmen der Bundesre-
gierung (63. Sitzung, Tagesordnungspunkt 12) 6387 D
Otto Fricke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6375 A
Volker Schneider (Saarbrücken)
(DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6376 A Anlage 3
Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/ Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6377 A Hans-Christian Ströbele, Winfried Hermann,
Monika Lazar, Peter Hettlich, Sylvia Kotting-
Uhl, Dr. Anton Hofreiter, Dr. Harald Terpe
Tagesordnungspunkt 35: und Irmingard Schewe-Gerigk (alle BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN) zu der namentlichen
Antrag der Abgeordneten Volker Beck Abstimmung über die Beschlussempfehlung
(Köln), Monika Lazar, Kai Gehring, weiterer zu dem Antrag der Bundesregierung: Fortset-
Abgeordneter und der Fraktion des BÜND- zung des Einsatzes bewaffneter deutscher
NISSES 90/DIE GRÜNEN: Zivilgesell- Streitkräfte bei der Unterstützung der gemein-
schaftliches Engagement gegen Rechts- samen Reaktion auf terroristische Angriffe
extremismus gesetzlich schützen – gegen die USA auf Grundlage des Artikels 51
Rechtsprechung zur Verwendung von der Satzung der Vereinten Nationen und des
Kennzeichen verfassungswidriger Organi- Artikels 5 des Nordatlantikvertrags sowie der
sationen auswerten Resolutionen 1368 (2001) und 1373 (2001)
(Drucksache 16/3202) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6380 B des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ (Tagesordnungspunkt 29 a) . . . . . . . . . . . . . . 6388 A
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6380 D
Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 6382 A Anlage 4
Jörg van Essen (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6383 C Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten
Dr. Peter Danckert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 6384 A Marieluise Beck (Bremen), Birgitt Bender,
Matthias Berninger, Dr. Thea Dückert,
Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . 6385 A Dr. Uschi Eid, Katrin Göring-Eckardt, Anja
Hajduk, Priska Hinz (Herborn), Anna
Lührmann, Omid Nouripour, Krista Sager,
Tagesordnungspunkt 37: Rainder Steenblock, Silke Stokar von Neuforn,
Wolfgang Wieland und Margareta Wolf
Antrag der Abgeordneten Patrick Meinhardt,
(Frankfurt) (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Cornelia Pieper, Uwe Barth, weiterer Abge-
NEN) zu der namentlichen Abstimmung über
ordneter und der Fraktion der FDP: Offensive
die Beschlussempfehlung zu dem Antrag der
Weiterbildung – Weiterbildung als 4. Säule
Bundesregierung: Fortsetzung des Einsatzes
des Bildungswesens ernst nehmen
bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der Un-
(Drucksache 16/2702) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6386 A terstützung der gemeinsamen Reaktion auf
terroristische Angriffe gegen die USA auf
Grundlage des Artikels 51 der Satzung der
Tagesordnungspunkt 38: Vereinten Nationen und des Artikels 5 des
Antrag der Abgeordneten Dr. Petra Sitte, Nordatlantikvertrags sowie der Resolutionen
Cornelia Hirsch, Volker Schneider (Saarbrü- 1368 (2001) und 1373 (2001) des Sicherheits-
cken) und der Fraktion der LINKEN: Die Zu- rates der Vereinten Nationen (Tagesordnungs-
kunft der Lehre und Forschung an Hoch- punkt 29 a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6389 B
schulen mit Hilfe der Juniorprofessur
stärken
(Drucksache 16/3192) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6386 B Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6386 D des Antrags: Offensive Weiterbildung – Wei-
IV Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006

terbildung als 4. Säule des Bildungswesens schung an Hochschulen mit Hilfe der Junior-
ernst nehmen (Tagesordnungspunkt 37) . . . . . 6390 C professur stärken (Tagesordnungspunkt 38) . 6395 D
Uwe Schummer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 6390 C Monika Grütters (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 6395 D
Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . . 6391 C Dr. Ernst Dieter Rossmann
Patrick Meinhardt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 6392 D (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6397 B
Volker Schneider (Saarbrücken) Uwe Barth (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6399 A
(DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6394 A
Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 6399 D
Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6395 A Kai Gehring (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6400 D

Anlage 6
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
des Antrags: Die Zukunft der Lehre und For- Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6401 C
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006 6313

(A) (C)

Redetext

64. Sitzung

Berlin, Freitag, den 10. November 2006

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. Norbert Lammert: Fraktion der LINKEN zu dem Antrag der Bun-
Die Sitzung ist eröffnet. Ich begrüße Sie alle herzlich desregierung
und wünsche Ihnen einen guten Morgen. Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deut-
Ohne weiteren Verzug rufe ich die Tagesordnungs- scher Streitkräfte bei der Unterstützung der
punkte 29 a und 29 b auf: gemeinsamen Reaktion auf terroristische An-
griffe gegen die USA auf Grundlage des
a) – Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Artikel 51 der Satzung der Vereinten Nationen
richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- und des Art. 5 des Nordatlantikvertrags sowie
schuss) zu dem Antrag der Bundesregierung der Resolutionen 1368 (2001) und 1373 (2001)
des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deut-
scher Streitkräfte bei der Unterstützung der – Drucksachen 16/3150, 16/3151, 16/3322 –
gemeinsamen Reaktion auf terroristische
(B) Berichterstattung: (D)
Angriffe gegen die USA auf Grundlage des
Abgeordnete Eckart von Klaeden
Artikel 51 der Satzung der Vereinten Natio-
Gert Weisskirchen (Wiesloch)
nen und des Art. 5 des Nordatlantikvertrags
Dr. Werner Hoyer
sowie der Resolutionen 1368 (2001) und 1373
Dr. Norman Paech
(2001) des Sicherheitsrates der Vereinten
Kerstin Müller (Köln)
Nationen
Außerdem liegt zu dem Regierungsantrag ein Ent-
– Drucksachen 16/3150, 16/3321 – schließungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/
Berichterstattung: Die Grünen vor.
Abgeordnete Eckart von Klaeden Über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag der
Gert Weisskirchen (Wiesloch) Bundesregierung werden wir später namentlich abstim-
Dr. Werner Hoyer men.
Dr. Norman Paech
Kerstin Müller (Köln) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 75 Minuten vorgesehen. – Dazu höre ich
– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
– Drucksache 16/3324 – nächst dem Kollegen Hans-Ulrich Klose, SPD-Fraktion.
Berichterstattung:
Abgeordnete Herbert Frankenhauser Hans-Ulrich Klose (SPD):
Lothar Mark Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
Jürgen Koppelin ren! Mit der heutigen Debatte knüpfen wir an jene De-
Dr. Gesine Lötzsch batte an, die wir vor wenigen Wochen in diesem Hause
Alexander Bonde geführt haben, als es um die Verlängerung des ISAF-
Mandates ging. Schon damals haben wir nicht nur über
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- dieses ISAF-Mandat gesprochen, sondern auch ganz all-
richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- gemein über die Lage in Afghanistan, die von der Bun-
schuss) zu dem Entschließungsantrag der Abge- desregierung in dem von ihr vorgelegten Konzept ange-
ordneten Dr. Norman Paech, Paul Schäfer (Köln), messen – will sagen: realistisch, aber nicht resignativ –
Monika Knoche, weiterer Abgeordneter und der beurteilt wird.
6314 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006

Hans-Ulrich Klose
(A) Dieses Urteil wird durch den Brief der beiden zustän- Die militärische Lage ist schwieriger geworden – (C)
digen Minister zur Beteiligung deutscher Streitkräfte im nicht nur, aber vor allem im Süden und Osten des Lan-
Kampf gegen den internationalen Terrorismus aus An- des. Um es zu wiederholen: Die Taliban sind wieder er-
lass der jetzt anstehenden Entscheidung über das Mandat starkt und besser bewaffnet als zuvor. Sie rekrutieren
„Enduring Freedom“ ergänzt. Auch dieser sehr knapp ihre Kämpfer im Grenzgebiet zwischen Pakistan und Af-
gehaltene – vielleicht zu knapp gehaltene – Brief vom ghanistan, das auf beiden Seiten der Grenze weitgehend
6. November macht deutlich, dass über Afghanistan unkontrolliertes Stammesgebiet ist. Sie dort zu besiegen,
nicht geurteilt werden kann, ohne zugleich über beide ist nahezu ausgeschlossen. Jedenfalls reichen dafür – so
Mandate zu sprechen. der ISAF-Kommandant David Richards – die bisher in
Afghanistan eingesetzten internationalen Truppen nicht
Das Mandat „Enduring Freedom“ ist ein Kampf-
aus. Sie genügen aber, so Richards weiter, um die Lage
mandat. Mit ihm wird auf die Anschläge vom 11. Sep-
in Afghanistan so zu verbessern, dass „die Leute hier mit
tember 2001 reagiert. Es wird durch die zweimalige
uns und mit ihrer Regierung zufrieden sind“.
Feststellung des UN-Sicherheitsrates legitimiert, dass
die Angriffe auf New York und Washington den Welt- Dass sie derzeit zufrieden seien, behauptet Richards
frieden gefährden und dem angegriffenen Land, den klugerweise nicht. Seine insoweit eher skeptische Lage-
USA, jedes Recht auf Selbstverteidigung zusteht. beurteilung deckt sich weitestgehend mit unserer und
mit der des UN-Beauftragten Tom Koenigs. Letzteren
Die Regierung der USA hat sich seinerzeit für ihren
zitiere ich aus einem Interview, das in der „Frankfurter
Verteidigungskrieg gegen al-Qaida und die Taliban in
Allgemeinen Sonntagszeitung“ vom 5. November 2006
Afghanistan nicht auf die NATO-Allianz gestützt, son-
abgedruckt wurde. Zitat eins:
dern auf eine Koalition der Willigen. Ich habe das für ei-
nen Fehler gehalten, weil für mich der Gedanke der Der Aufstand kommt aus den Dörfern, wo die Ent-
Bündnissolidarität immer besonderes Gewicht hatte und wicklungshilfe nur schleppend eintrifft. Auch Re-
hat. formen der Regierung haben nicht gegriffen. Zum
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Teil sind sie auch gar nicht erwünscht. Auf dem
FDP) Land redet man über Familie, Religion und Ernten,
und auf keinem dieser Gebiete konnte die jetzige
Die NATO, so glaube ich, wäre heute und morgen stär- Regierung bisher etwas bieten.
ker, wenn dies auch die Regierung der Vereinigten Staa-
ten seinerzeit so gesehen hätte. Zitat zwei:

(Beifall bei der FDP) Wahrscheinlich hätte man den lokalen und regiona-
(B) len Strukturen viel mehr Aufmerksamkeit schenken (D)
Das ISAF-Mandat ist später hinzugekommen. Es müssen. Entwicklungshilfe heißt auch: Ausstattung
soll die so genannten Bonner bzw. Petersberger Verein- mit Sicherheitskräften, von Gerichten und Verwal-
barungen, das heißt den politischen Prozess und den ma- tungsstrukturen. Daß dies vernachlässigt wurde,
teriellen Wiederaufbau des Landes, abstützen. ISAF ist sieht man jetzt.
kein Kampfmandat, sondern, wie der Name sagt, ein Si-
cherheitsunterstützungsmandat; denn es heißt „Security Zitat drei:
Assistance“. ISAF war zunächst auf den Großraum Ka- … die Korruption und manche Fehler der interna-
bul beschränkt, ist aber über die Jahre, vor allem nach tionalen Streitkräfte haben viele Bürger in die Op-
Einrichtung der so genannten Provincial Reconstruction position getrieben. Da greift man hier eben schnell
Teams, weit über den Raum Kabul hinaus auf ganz Af- zur Waffe.
ghanistan ausgedehnt worden.
Tom Koenigs, der kein Militär, sondern ein konflikt-
Die Besonderheit des Mandats, das heute von der erfahrener ziviler Administrator ist, urteilt am Ende des
NATO geführt wird, besteht aus unserer – aus deutscher – Interviews wie folgt:
Sicht in der chancenreichen Vernetzung von militärischen
Sicherheitsvorkehrungen mit konkreter Wiederaufbau- Meiner Meinung nach muß man auch in Deutsch-
und Entwicklungshilfe, also der Zusammenarbeit von land unbedingt bedenken, daß der Konflikt zwar
Soldaten und Zivilisten bzw. Nichtregierungsorganisatio- nicht allein militärisch zu gewinnen ist, daß die
nen. Die Bundesregierung betont wegen dieser besonde- Nato aber auch nicht verlieren darf. Es muß um-
ren militärisch-zivilen Vernetzung immer wieder die Un- fangreiche Entwicklungshilfe geben, und es braucht
terschiedlichkeit der beiden Mandate. Sie will eine auch politische und diplomatische Initiativen in
Belastung des ISAF-Mandats durch Kampfeinsätze ver- Richtung Pakistan. Und: Es muß eine gewaltige mi-
meiden, was nicht ganz einfach ist; denn zum einen haben litärische Anstrengung gemacht werden, um eine
die Antiterroreinsätze des Mandats „Enduring Freedom“ Niederlage zu verhindern.
Auswirkungen auf die allgemeine Sicherheitslage – zu- Ich teile diese Einschätzung und wiederhole deshalb
mindest können sie diese haben –, zum anderen werden hier, was ich in der Debatte am 28. September gesagt
die ISAF-Soldaten vor allem im Süden Afghanistans im- habe:
mer häufiger von den wieder erstarkten Taliban angegrif-
fen und in regelrechte Kampfhandlungen verwickelt, die Ich will, dass die NATO-Länder in Afghanistan er-
sie bisweilen nur mit Unterstützung durch Kräfte des folgreich sind, damit Afghanistan an Zukunft ge-
Kampfmandats überstehen können. winnt und die NATO ihre Glaubwürdigkeit behält.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006 6315
Hans-Ulrich Klose
(A) Die NATO darf nicht scheitern … Sie braucht aber der Erkenntnis folgen: Freiheit dauerhaft gestalten und (C)
dringlich eine abgestimmte und in den Prioritäten sichern – darauf kommt es an.
veränderte Strategie … Mit militärischen Mitteln
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der
allein ist der Kampf gegen den internationalen Ter-
FDP)
rorismus nicht zu gewinnen …
Ich wiederhole das: Mit militärischen Mitteln allein Präsident Dr. Norbert Lammert:
nicht! Das Wort hat nun die Kollegin Birgit Homburger,
Wer aber meint, er könne ganz und gar auf militäri- FDP-Fraktion.
sche Mittel verzichten, der redet sich die Lage schön.
Manch einer, der so redet, weiß das auch, was die Sache Birgit Homburger (FDP):
nicht besser macht. Zweifel sind erlaubt. Reden wider Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
besseres Wissen nicht. entscheiden heute über die Verlängerung des Mandats
für die Operation „Enduring Freedom“. Diese Entschei-
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der dung ist der FDP-Bundestagsfraktion nicht leicht gefal-
FDP) len.
Ich will es nicht verschweigen: Auch in der SPD gibt Wir haben in den letzten Wochen immer wieder
es natürlich Zweifel. Niemand ist frei von Zweifeln, schlechte Nachrichten aus Afghanistan erhalten. Es ent-
wenn es um die Entscheidung über militärische Einsätze steht der Eindruck, dass es in Afghanistan eher Rück-
geht. Auch ich bin es nicht. Ich glaube aber zu wissen, schritte als Fortschritte gibt. Das führt in allen Partner-
dass die Abkehr vom Mandat „Enduring Freedom“ zu ländern und zwischen den Partnern zu Diskussionen,
diesem Zeitpunkt ein ganz und gar falsches Signal wäre. auch über die Frage, wo Truppen stationiert werden sol-
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der len. Es wird immer wieder befürchtet – mein Vorredner
FDP) hat das schon angesprochen –, dass die internationalen
Partner in Afghanistan scheitern könnten. Das alarmiert
Das würde von den Taliban und dem vernetzt agierenden uns.
internationalen Terrorismus als Zeichen westlicher
Schwäche und als Beweis für die Wirksamkeit der eige- Deshalb haben wir schon bei der Verlängerung des
nen terroristischen Strategien gewertet werden. Das darf ISAF-Mandats gesagt, dass es eine Gesamtkonzeption
nicht sein. Das dürfen wir nicht zulassen. für Afghanistan geben muss. Ich sage ganz deutlich:
Dennoch stimmt die FDP dieses Mal dem Mandat zu.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Erstens, weil die Operation „Enduring Freedom“ mehr (D)
(B)
FDP) beinhaltet als nur den Einsatz in Afghanistan. Sie bein-
haltet auch den Einsatz gegen den Terrorismus am Horn
Wir Politiker haben es uns angewöhnt, englische For- von Afrika und die NATO-Seeüberwachung im Rahmen
meln und Kürzel einfach so zu übernehmen. von „Active Endeavour“ im Mittelmeer.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Unglaublich!) In Richtung der Grünen sage ich ganz klar: Der Vor-
Was heißt „Enduring Freedom“ eigentlich? Das Wort wurf, den Herr Kurnaz gegen die KSK erhebt, muss auf
„enduring“ kann adjektivisch, aber auch als gerundive jeden Fall aufgeklärt werden – deswegen haben wir ei-
Ableitung des Verbums „to endure“ verstanden werden. nen Untersuchungsausschuss eingerichtet –, er ist bisher
Im ersten Fall hieße die Übersetzung „andauernde, blei- aber in keiner Weise bestätigt. Ein solcher Vorwurf
bende Freiheit“, im zweiten Fall „Freiheit dauerhaft ge- rechtfertigt nicht den kompletten Rückzug aus der Ope-
stalten bzw. sichern“. Ich glaube, dass die zweite Über- ration „Enduring Freedom“.
setzung treffend ist. Sie entspricht der Logik des (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Geschehens. der CDU/CSU – Winfried Nachtwei [BÜND-
Um noch einmal auf Tom Koenigs zurückzukommen. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das habe ich auch
Auf die Frage, wie derzeit die Stimmung in Kabul ist, nicht behauptet!)
antwortet er: Darüber hinaus besteht ein Zusammenhang zwischen
Alle haben Angst davor, daß sich die Welle der dem Mandat für die Operation „Enduring Freedom“ und
Selbstmordattentate ausdehnen könnte. Und davor, dem ISAF-Mandat, das wir gerade erst hier, im Deut-
daß der internationalen Gemeinschaft der Atem schen Bundestag, verlängert haben. Für die FDP-Bun-
ausgeht. Man befürchtet, daß Afghanistan wieder destagsfraktion – das sage ich ganz deutlich – kommt es
ins Chaos des Bürgerkriegs zurückfällt. nicht infrage, unilateral aus einer solchen Mission auszu-
steigen. Gerade angesichts der Situation, die jetzt inner-
Ich sehe das genauso. Die Bedrohung unserer Freiheit halb des Bündnisses, aber auch innerhalb der NATO vor-
durch den internationalen Terrorismus ist eine Heraus- herrscht, wäre das ein verheerendes Signal.
forderung, die uns noch lange, wahrscheinlich noch
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der
Jahrzehnte, beschäftigen wird. Wir können sie nur beste-
SPD)
hen, wenn wir uns auf einen lang andauernden Konflikt
einstellen und den Menschen hier und in Afghanistan ge- Sehr wichtig für uns ist, dass ein Mandat realistisch
nau das sagen. Unsere Entscheidung hier und heute muss ist. Das von der Bundesregierung vorgesehene Mandat
6316 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006

Birgit Homburger
(A) sieht eine Reduzierung der Oberzahl der einzusetzenden wärtigen Amtes und des Verteidigungsministeriums ist (C)
Soldaten um 1 000 auf 1 800 vor. Damit ist eine wesent- deutlich gemacht worden, dass die politischen Maßnah-
liche Forderung der FDP erfüllt. Auch das ist ein Grund men von ganz besonderer Bedeutung sind. Das unter-
für uns, zuzustimmen. streichen wir ausdrücklich. Aber es reicht eben nicht,
dass wir auf UNO-Ebene Resolutionen gegen den Terro-
(Beifall bei der FDP)
rismus verabschieden. Vielmehr müssen vor allen Din-
gen in Afghanistan Fortschritte erzielt werden. In einem
Präsident Dr. Norbert Lammert: Jahr, wenn dieses Mandat ausläuft, wird man hier im
Frau Kollegin Homburger, gestatten Sie eine Zwi- Deutschen Bundestag erneut darüber sprechen müssen.
schenfrage? Bis dahin müssen deutliche Fortschritte in Afghanistan
erkennbar sein. Sonst ist der Öffentlichkeit nicht zu ver-
Birgit Homburger (FDP): mitteln, warum wir uns weiter beteiligen sollen.
Bitte. Deswegen steht für uns im Mittelpunkt: Es braucht
insgesamt Reformen, es braucht Gespräche.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Bitte, Herr Kollege Nachtwei. Erstens. Das Auftreten einiger Partner in Afghanistan
im Zusammenhang von ISAF und OEF führt zu Beein-
trächtigungen. Ich glaube, darüber müssen wir sprechen.
Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Man darf nicht als Besatzer auftreten, sondern man muss
Frau Kollegin Homburger, warum hielten Sie es für die Herzen der Menschen gewinnen. Wir brauchen eine
ein verheerendes Signal, wenn die deutsche Seite er- Art Verhaltenskodex.
klärte, dass sie nicht mehr an der „Koalition der Willi-
gen“ bei Enduring Freedom teilnimmt, haben aber kein (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
Problem damit, sich einer EU-Mission im Kongo oder SPD)
einer VN-Mission im Libanon zu verweigern? Zweitens. Die bessere Verzahnung der Maßnahmen,
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- die zivil-militärische Zusammenarbeit, ist für uns zen-
SES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Guido Westerwelle tral. Hier muss es Fortschritte geben. Wenn Minister
[FDP]: Weil es da um neue Mandate geht!) Jung das heute öffentlich einfordert, kann ich das nur un-
terstützen. Es ist dringend notwendig. Wir werden Sie in
einem Jahr daran messen, welche Fortschritte es bei der
Birgit Homburger (FDP):
Verzahnung ziviler und militärischer Vorhaben gegeben
Herr Kollege Nachtwei, bei den von Ihnen angespro- hat.
(B) chenen Fällen ging es um die Erteilung eines Mandats, (D)
nicht um seine Verlängerung. Wir haben an der Kongo- Drittens. Wir brauchen dringend Fortschritte beim
mission kritisiert, dass es keine Konzeption gibt für die Aufbau des Polizeiwesens. Hier hat die Bundesrepublik
Stabilisierung des Landes, wenn die Truppen abgezogen Deutschland eine Führungsrolle übernommen. Wir for-
sind, was demnächst der Fall sein wird. Was das dern die Bundesregierung auf, die Anstrengungen deut-
UNIFIL-Mandat angeht, haben wir in einer intensiven lich zu verstärken, aber auch mit den Afghanen zu spre-
Diskussion deutlich gemacht, dass wir der Meinung chen. Es kann nicht sein, dass Vetternwirtschaft und
sind, dass wir uns die Möglichkeiten erhalten sollten, Korruption an der Tagesordnung sind. Die Bundesregie-
diplomatisch zu vermitteln. Doch hier, an dieser Stelle, rung hat auf eine Kleine Anfrage der FDP-Bundestags-
geht es nicht um ein neues Mandat, es geht um die Fort- fraktion mitgeteilt, dass bei der Besetzung von Polizei-
setzung eines bestehenden Mandats, eines Mandats, dem stellen Kandidaten der Vorzug gegeben wurde, die von
auch Ihre Fraktion einmal zugestimmt hat. Was jetzt aus ihr nicht vorgeschlagen worden waren, und schließt da-
Ihrer Fraktion an Einwänden vorgebracht wird – von raus, dies beeinträchtige das Beratungsmandat. Das ist
Herrn Kuhn, aber auch von Ihrem Bundesvorsitzenden, deutliche Kritik. Deswegen ist es dringend erforderlich,
Herrn Bütikofer –, ist, mit Verlaub gesagt, scheinheilig. der afghanischen Seite deutlich zu machen, dass Hilfe
eigene Anstrengungen gegen Korruption voraussetzt.
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Sie müssen von Scheinheiligkeit (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
reden!) der CDU/CSU und der SPD)
All diese Einwände hätten Sie schon beim ISAF-Mandat
vortragen müssen. Doch diesem haben Sie zugestimmt. Präsident Dr. Norbert Lammert:
Deswegen ist das, was Sie jetzt machen, in keiner Weise Frau Kollegin Homburger, berücksichtigen Sie die
nachvollziehbar. Zeit?!
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Birgit Homburger (FDP):
der CDU/CSU – Winfried Nachtwei [BÜND-
Der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte. Es geht
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil man einmal zu-
uns auch um eine bessere Kontrolle solcher Mandate
gestimmt hat, muss man immer zustimmen?
durch das Parlament, insbesondere was den Einsatz des
Das ist eine Logik!)
KSK, den dieses Mandat beinhaltet, angeht. Wir haben
Wir müssen über ein politisches Gesamtkonzept klar gesagt, dass das Parlament das Recht braucht, von
sprechen. In einer gemeinsamen Unterrichtung des Aus- der Regierung informiert zu werden. Das ist wichtig,
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006 6317
Birgit Homburger
(A) weil ein Einsatz des KSK, das verdeckt operiert, zu einer Vorhaben der gesamten internationalen Gemeinschaft (C)
Mystifizierung führt, die, verbunden mit Gerüchten, ist, den Terrorismus umfassend zu bekämpfen und sich
Mutmaßungen und Verdächtigungen Vorschub leistet. seiner Ursachen anzunehmen. Die Operation „Enduring
Daran kann auch die Regierung kein Interesse haben. Freedom“ ist dafür kein hinreichender, aber ein wesentli-
Deswegen gehen wir davon aus, dass wir uns gemein- cher und wichtiger Beitrag, der in ein politisches Ge-
sam darauf verständigen, dass das Parlament über diese samtkonzept eingebunden ist und auch weiterhin einge-
Einsätze zukünftig besser informiert wird. bunden bleibt.
Vielen Dank. Dritter Punkt. Ich will im Zusammenhang mit dem
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Einsatz des KSK auch auf die Information des Parla-
der SPD) ments eingehen. In der Öffentlichkeit ist der Eindruck
entstanden, als gehe es bei diesem Mandat insbesondere
um die Verlängerung des KSK-Einsatzes in Afghanistan.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das ist in dieser Schlichtheit ebenfalls nicht richtig. Auf-
Ich erteile das Wort dem Kollegen Eckart von grund dieses Mandats werden zwar auch wieder
Klaeden, CDU/CSU-Fraktion. 100 Kräfte für den KSK-Einsatz in dem von mir be-
(Beifall bei der CDU/CSU) schriebenen geografischen Raum zur Verfügung gestellt,
aber es geht ausdrücklich nicht alleine um den Einsatz
Eckart von Klaeden (CDU/CSU): des KSK in Afghanistan.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! In diesem Zusammenhang will ich auch darauf hin-
Der bisherige Verlauf der Debatte veranlasst mich, ei- weisen, dass seit der Regierungsübernahme der großen
nige klarstellende Bemerkungen zum Mandat für die Koalition kein einziger KSK-Soldat im Rahmen der
Operation „Enduring Freedom“ zu machen. Operation „Enduring Freedom“ eingesetzt worden ist.
Erster Punkt. Auch wenn wir hier sicherlich eine De- Die Bundesregierung weist in ihrem Bericht darauf hin,
batte über die Erfolge in Afghanistan und darüber füh- dass der letzte Einsatz im Mai 2005 stattgefunden hat
ren, was in Afghanistan noch zu verbessern ist – ich und dass im Oktober 2005 – also vor der Regierungs-
werde dazu gleich noch etwas sagen –, so muss doch übernahme der großen Koalition – die letzten KSK-Sol-
deutlich werden, dass sich dieses Mandat nicht allein auf daten aus Afghanistan abgezogen worden sind. Deswe-
Afghanistan bezieht, sondern dass der gesamte Krisen- gen finde ich es, freundlich gesagt, problematisch, dass
bogen vom Maghreb über das Horn von Afrika, die ara- die Grünen einen Vorgang, für den sie selbst die Regie-
bische Halbinsel und Zentralasien bis hin zum Nordkau- rungsverantwortung getragen haben, jetzt zum Anlass
(B) kasus mit einbezogen wird. nehmen, diesem Einsatz nicht weiter zuzustimmen. (D)
(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Richtig! – (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der
Dr. Peter Struck [SPD]: Richtig!) FDP sowie der Abg. Monika Knoche [DIE
Ich werde im Laufe meiner Rede auch noch darauf ein- LINKE])
gehen, welche Entwicklungen es dort gibt – ein Stich- Auch die vorgelegte Argumentation ist nicht überzeu-
wort ist zum Beispiel Somalia –, die wir mit zu berück- gend. Sie könnten eigentlich nur sagen, dass Sie die
sichtigen haben. Operation „Enduring Freedom“ nicht weiter fortsetzen
Zweiter Punkt. Der Kollege Klose hat den Ausdruck wollen, es sei denn, dass Sie die Position vertreten, dage-
„Koalition der Willigen“ in diesem Zusammenhang zu- gen zu stimmen, weil die Mehrheit im Hause sowieso
treffend verwendet. In der Tat teile ich seine Kritik, dass gesichert ist. Das wäre aber nicht sonderlich verantwor-
es besser gewesen wäre, die Bündnissolidarität unmittel- tungsvoll und das will ich Ihnen auch nicht unterstellen.
bar nach dem 11. September 2001 zu betonen. Der Aus- Das heißt, Ihre Ablehnung könnte nur dann Sinn ma-
druck „Koalition der Willigen“ hat bei uns eine Konno- chen, wenn Sie wirklich der Überzeugung wären, dass
tation erhalten, als handele es sich dabei um Ad-hoc- wir uns aus dieser Operation zurückziehen sollten und
Bündnisse, die außerhalb völkerrechtlicher Vereinbarun- dass – das müsste ja die nächste politische Forderung
gen und Grundlagen bestehen. sein – diese Operation nicht weiter fortgesetzt werden
sollte. Das würde wiederum die politische Analyse vo-
(Beifall der Abg. Monika Knoche [DIE raussetzen, nach der sich die Situation in Afghanistan Ih-
LINKE]) rer Meinung nach so weit stabilisiert hat, dass man auf
– Frau Kollegin Knoche, das trifft für dieses Mandat die Operation „Enduring Freedom“ dort und auch in an-
ausdrücklich nicht zu; denn dieses Mandat fußt auf einer deren Regionen verzichten kann.
klaren völkerrechtlichen Grundlage in Form von meh-
Diese Analyse ist doch wirklich abenteuerlich. Ich
reren Resolutionen der Vereinten Nationen so wie Art. 5
wäre Ihnen dankbar, wenn Sie in Ihren Redebeiträgen in
des NATO-Vertrages.
dieser Debatte darauf eingehen würden, was Ihr eigener
Auch die Diskussion, die in den internationalen Gre- Parteifreund Tom Koenigs – Herr Klose hat in seiner
mien – in der Europäischen Union, in der NATO und vor Rede aus diesem beeindruckenden Interview mehrfach
allem auch in den Vereinten Nationen – seitdem geführt zitiert – zur Lage in Afghanistan gesagt hat, und wie Sie
worden ist und fortgesetzt wird, zeigt, dass es eben nicht sich vorstellen, wie der erforderliche militärische Bei-
nur um den Einsatz von Militär geht, sondern dass es ein trag ohne Enduring Freedom gewährleistet werden kann.
6318 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006

Eckart von Klaeden


(A) Eines ist völlig klar: Wenn wir Ihrem Vorschlag fol- die religiöse Toleranz nicht kennt und der jedes Mittel (C)
gen würden, dann wäre die Anforderung an uns, im Rah- recht ist, die eigenen Interessen und die eigene Ideologie
men des ISAF-Mandates mehr Truppen in den Süden zu durchzusetzen.
schicken, daraus die logische Konsequenz. Sie würden
Diese Spielart des islamistischen Extremismus gibt es
kein vernünftiges Argument finden, diese Anforderung
spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Sie hat mit
zurückzuweisen. Bündnissolidarität innerhalb der NATO
der Gründung der Muslimbrüderschaft Anfang des
kann nicht so funktionieren, dass die einen allein die
20. Jahrhunderts in Ägypten erstmals organisatorisch
Verantwortung für Stabilisierungsaufgaben und die an-
Gestalt angenommen und damit in den politischen
deren allein die für Kampfeinsätze übernehmen. Das
Kampf Eingang gefunden. Sie ist vor allem eine Bewe-
kann nicht funktionieren.
gung, die innerhalb des Islam kämpft. Deswegen ist die
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Analyse, die wir immer wieder hören, wonach bei allen
neten der SPD) auftretenden Schwierigkeiten im Rahmen der Bekämp-
fung des Terrorismus der Kernkonflikt die Auseinander-
Wer Bündnissolidarität und Konsultationen im Bündnis setzung zwischen den Israelis und den Palästinensern
möchte, der muss zu einer Arbeitsteilung, einem Burden sei, falsch. Richtig ist – das sehen wir bei der Auseinan-
Sharing bereit sein, sodass die gefährlichen Einsätze dersetzung innerhalb der palästinensischen Gebiete –,
eben nicht nur auf den Schultern der einen und die Stabi- dass die Auseinandersetzung im Islam stattfindet,
lisierungsaufgaben, so schwierig sie auch sein mögen,
auf den Schultern der anderen abgeladen werden. (Manfred Grund [CDU/CSU]: Ja!)
(Widerspruch des Abg. Winfried Nachtwei und zwar zwischen der radikalen Bewegung auf der ei-
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) nen Seite und den moderaten Kräften auf der anderen
Seite.
Die Bundesregierung selbst spricht davon, dass wir es
in Afghanistan mit einem zweigeteilten Land zu tun ha-
ben. Es ist offensichtlich, dass die Schwierigkeiten, die Präsident Dr. Norbert Lammert:
mit Enduring Freedom bekämpft werden sollen und auch Herr Kollege von Klaeden, gestatten Sie eine Zwi-
bekämpft werden, insbesondere im Süden und Südosten schenfrage des Kollegen Dehm?
des Landes auftreten. Daraus aber die Konsequenz zu
ziehen, sich aus der Operation „Enduring Freedom“ zu- Eckart von Klaeden (CDU/CSU):
rückzuziehen, ist nun wirklich unverantwortlich und mit Ja, bitte.
der Analyse und der wichtigen Arbeit, die Tom Koenigs
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
für die Vereinten Nationen in Afghanistan leistet, nicht
(B) Sie sind aber nicht begeistert!) (D)
vereinbar. Das ist in Ihrer eigenen Argumentation ein
unüberwindbarer Widerspruch.
Dr. Diether Dehm (DIE LINKE):
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Herr Kollege, habe ich Sie richtig verstanden, dass
neten der SPD und der FDP) Sie soeben Ihre Definition von „Terrorismus“ ganz auf
Ich will kurz einen Punkt aufgreifen, den auch der den Islam fokussiert haben?
Kollege Klose angesprochen hat: Ich bin mir nicht si- (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Nein, wir mei-
cher, dass sich die Bundesregierung mit dem hier festge- nen auch die Autonomen!)
legten Truppenansatz für das gesamte Jahr der Mandats-
dauer die erforderliche Flexibilität erhält, die nötig ist, Habe ich Sie auch richtig verstanden, dass Sie dabei den
wenn wir den Terrorismus in Afghanistan, aber auch in Terrorismus des christlichen Fundamentalisten George
anderen Ländern engagiert bekämpfen wollen. Ich gehe Bush völlig ausklammern?
davon aus, dass dieser Entscheidung eine sorgfältige
Analyse zugrunde gelegen hat, auf deren Basis uns die Eckart von Klaeden (CDU/CSU):
erforderlichen Reserven bei der Bekämpfung des inter- Der zweite Teil Ihrer Frage, Herr Kollege, ist selbst
nationalen Terrorismus zur Verfügung stehen. Es ist eine unter Ihrem Niveau.
militärische Binsenweisheit, dass man ohne die erforder-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
lichen Reserven nicht in eine solche Auseinandersetzung
neten der SPD und der FDP)
ziehen darf.
Zum ersten Teil will ich nur sagen: Ich bin dabei, eine
Ich will etwas zu der Frage der politischen Beglei-
extremistische Tendenz innerhalb des Islam zu beschrei-
tung, der Plafondierung des Kampfes gegen den Terro-
ben. Das heißt überhaupt nicht, dass wir nicht auch an-
rismus sagen. Dabei will ich gleichzeitig deutlich ma-
dere Formen des Terrorismus kennen. Gerade die Ge-
chen, dass ich den Begriff „Kampf gegen den
schichte Ihrer Partei zeigt, dass es in der Geschichte
Terrorismus“ im Grunde für falsch halte. Beim Terroris-
unseres eigenen Landes auch andere Formen des Terro-
mus geht es an sich nicht um eine Ideologie, sondern es
rismus gegeben hat. Wenn Sie Interesse daran haben,
geht beim Terrorismus um eine Methode, mit der eine
können wir uns darüber gerne einmal etwas länger unter-
Ideologie durchgesetzt werden soll. Bei dieser Ideologie
halten.
handelt es sich um eine extremistische Spielart, eine
Denkschule innerhalb des Islam, die totalitär ist, die kei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
nen Unterschied zwischen Politik und Religion macht, neten der SPD und der FDP – Oskar
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006 6319
Eckart von Klaeden
(A) Lafontaine [DIE LINKE]: Sie meinen die Na- litischen Prozess der Terrorismusbekämpfung, der Fun- (C)
zis in Ihrem Verein oder wen meinen Sie?) damentalismusbekämpfung entschlossen und erfolgreich
fortsetzen können.
– Nein, Herr Kollege Lafontaine, ich spreche – aber
diese Form der Geschichtsverdrängung ist bei Ihnen Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
auch nichts Neues – zum Beispiel von den Terroristen
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
der RAF, die unter anderem in der DDR Unterschlupf
gefunden haben und deren Ausbildung in der arabischen
Welt auch von Ihrer Partei mit koordiniert worden ist. Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun der Kollege Oskar Lafontaine,
(Lachen bei der Linken) Fraktion Die Linke.
Die Rechtsnachfolge haben Sie aus politischen Gründen (Beifall bei der LINKEN)
bewusst nicht gebrochen.
(Beifall bei der CDU/CSU) Oskar Lafontaine (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
Es ist Ihre Sache, wenn Sie Interesse daran haben, diese
ren! Meine Fraktion lehnt den Antrag, den Kampfeinsatz
Diskussion zu führen. Ich finde, sie gehört jetzt nicht
der deutschen Bundeswehr im Rahmen dieses Mandats
hierher. Terrorismus im umfassenden Sinne und seine
zu verlängern, ab. Wir begründen dies damit, dass schon
Erscheinungsformen bilden jedoch ein Kapitel, über das
die Überschrift dieses Mandats falsch ist. Das Mandat ist
in diesem Zusammenhang zu reden ist.
überschrieben mit „Enduring Freedom“ – andauernde
Zurück zur Frage des islamistischen Fundamentalis- Freiheit. Nach unserer Auffassung wäre es besser, „an-
mus. Die Folge daraus und die Konsequenz für unser ei- dauernder Krieg“ zu sagen. Dieser Kampfeinsatz dauert
genes Handeln ist, dass wir darauf achten, die moderaten nun schon mehrere Jahre und verfehlt auch seine Ziele.
Kräfte innerhalb des Islam zu unterstützen. Das ist ein
(Beifall bei der LINKEN)
wesentlicher Punkt dieses politischen Konzepts. Dabei
müssen wir insbesondere auch auf die Transformation Man sollte aber nicht nur „andauernder Krieg“ sagen.
achten, die dafür erforderlich ist. Das Ansehen der Fa- Unserer Überzeugung nach wäre es noch besser, von
tah-Bewegung in den palästinensischen Gebieten hat „Enduring Terrorism“, also von „andauerndem Terroris-
deswegen so sehr gelitten, weil sie als korruptionsanfäl- mus“, zu sprechen.
lig gilt. Deswegen ist es unsere Aufgabe, einerseits die
(Beifall bei der LINKEN)
moderaten Kräfte zu stärken, andererseits aber auch auf
eine Transformation in der islamischen Welt hinzuwir- Ich will begründen, warum wir im Gegensatz zur (D)
(B)
ken, die Korruption bekämpft und dafür sorgt, dass erste Mehrheit dieses Hauses zu diesem Ergebnis kommen.
Standards insbesondere in der Rechtsstaatlichkeit einge- Wir haben Sie immer wieder darauf hingewiesen, dass es
führt werden, damit die Menschen in der Region erken- nicht möglich ist, den Terrorismus zu bekämpfen, ohne
nen, dass das Unternehmen, das wir gemeinsam gegen zu wissen, was Terrorismus eigentlich ist. Einer der zu-
den islamistischen Fundamentalismus, gegen den Terro- ständigen Beamten hat, als der Entwurf eines Gesetzes
rismus führen, auch in ihrem Interesse ist. zur Erstellung der Antiterrordatei vorgelegt wurde, dan-
kenswerterweise zum ersten Mal eine Definition des Be-
Zum Schluss möchte ich noch etwas zur Entwicklung
griffes Terrorismus vorgenommen. Ich empfehle Ihnen,
in Somalia sagen. Wir müssen leider feststellen, dass
diese Definition zu lesen. In diesem Satz steht, dass sol-
sich die Sicherheitslage am Horn von Afrika durch die
che Personen zu terroristischen Kreisen gehören, die
politischen Unruhen erheblich verschlechtert hat. Die
rechtswidrig Gewalt als Mittel zur Durchsetzung inter-
Bundesregierung geht in ihrem Bericht darauf ein. Wir
national ausgerichteter politischer Belange anwenden
stellen fest, dass auch dort zur Stabilisierung der Han-
oder eine solche Gewaltanwendung unterstützen, vorbe-
delswege, zum Schutz eines friedlichen Austausches der
reiten, befürworten oder durch ihre Tätigkeit vorsätzlich
Einsatz der Bundeswehr weiterhin erforderlich ist. Ins-
hervorrufen.
besondere die Gefahren, die mit dem Umsturz und den
politischen Unruhen, die wiederum beispielsweise zu ei- Das deckt sich mit der Definition, die ich hier immer
nem Anstieg der Piraterie in dieser Region geführt ha- wieder vorgetragen habe. Sofern die deutsche Sprache
ben, verbunden sind, müssen von „Enduring Freedom“ überhaupt noch einen Sinn hat, fällt diese Mission, die
entschlossen angegangen werden. Sie unterstützen, in genau diese Kategorie. Das ist der
Widerspruch, in dem Sie sich befinden und den Sie nicht
Es gibt immer mehr Schwierigkeiten aufgrund der
auflösen können. Jawohl, der vorhin bereits angespro-
Verknüpfung der Gefahren in der internationalen
chene Präsident der Vereinigten Staaten hat rechtswidrig
Politik. Wir können zum Beispiel die Frage der Verbrei-
Gewalt angewendet. Nach dieser Definition ist er je-
tung von Massenvernichtungswaffen nicht mehr so vom
mand, der – sofern die deutsche Sprache überhaupt noch
islamistischem Extremismus, von Failing States trennen,
einen Sinn hat – terroristisch vorgeht.
wie das vielleicht noch unmittelbar nach 9/11 der Fall
gewesen ist. Deswegen kommen neue und wichtige Auf- (Beifall bei der LINKEN)
gaben auf uns zu.
Wir werden mit großem Interesse verfolgen, wie Sie
Die Fortsetzung dieses Mandats ist erforderlich, da- mit der Antiterrordatei umgehen bzw. welche Klimm-
mit wir die kommenden Gefahren abwehren und den po- züge Sie veranstalten, um deutlich zu machen, dass diese
6320 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006

Oskar Lafontaine
(A) Datei so auszulegen ist, dass Angehörige des muslimi- digt wird, werden sie eines Tages sagen, dass sie ihre (C)
schen Glaubens, die rechtswidrig Gewalt anwenden, Ehre und ihre Familien in den NATO-Staaten verteidi-
Terroristen sind, dass aber jemand aus der westlichen gen. Das ist dieselbe Logik. Das müssen auch Sie eines
Welt, der rechtswidrig Gewalt anwendet, kein Terrorist Tages nachvollziehen.
ist. Aus diesem Widerspruch werden Sie nicht heraus-
Ich fasse zusammen: Dieser Einsatz wird scheitern.
kommen.
Sie und die anderen Fraktionen werden eines Tages hier
Ich möchte jetzt auf den geschätzten Kollegen Klose stehen – das prophezeie ich Ihnen – und eine Verlänge-
eingehen, der in sehr sachlicher Form vorgetragen hat, rung dieses Mandats ablehnen. Wir appellieren an Sie:
wie er seine Befürwortung des Antrags auf Verlängerung Kehren Sie rechtzeitig um! Dieser Einsatz ist nicht zu
des Mandats begründet. Der Kern seiner Aussage war, gewinnen. Er fördert den Terror, statt ihn zu minimieren.
dass man diesen Kampf mit militärischen Mitteln allein
(Beifall bei der LINKEN)
nicht gewinnen könne. Er hat dies wie folgt präzisiert:
Wer aber meint, er könne ganz und gar auf militäri- Präsident Dr. Norbert Lammert:
sche Mittel verzichten, der redet sich die Lage Fritz Kuhn ist der nächste Redner für die Fraktion des
schön. Manch einer, der so redet, weiß das auch, Bündnisses 90/Die Grünen.
was die Sache nicht besser macht. Zweifel sind er-
laubt. Reden wider besseres Wissen nicht. Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Das waren sehr nachdenkliche Ausführungen zum Ein- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
satz militärischer Mittel. möchte mit einer Bitte bzw. einer Aufforderung an die
Frau Bundeskanzlerin und den Herrn Außenminister be-
Ich möchte dazu Folgendes sagen: Natürlich kann ginnen. Frau Merkel, wir haben vor wenigen Wochen
man militärische Mittel, wenn man den Frieden bewah- den Beschluss gefasst, deutsche Soldaten zur Unterstüt-
ren bzw. „enduring freedom“ herstellen will, nie völlig zung des UNIFIL-Mandats auf See vor dem Libanon
ausschließen. Die Fragen sind aber: Wie werden sie an- einzusetzen.
gewandt? Auf welcher Grundlage werden sie ange-
wandt? Und vor allen Dingen: Werden sie im Rahmen Ich möchte Sie bitten, alles zu unternehmen, was der
des Völkerrechts angewandt? Bundesregierung möglich ist, um zu erreichen, dass die
Israelis aufhören, permanent gegen die Resolution der
(Beifall bei der LINKEN) Vereinten Nationen zu verstoßen. Der jüngste Zwischen-
Wer das Völkerrecht nicht zur Grundlage seines Vorge- fall im Zusammenhang mit den französischen Soldaten
gefährdet meines Erachtens das ganze UNIFIL-Mandat. (D)
(B) hens macht, wird den Terrorismus nicht bekämpfen, son-
dern ihn immer wieder befördern. Es ist notwendig, liebe Frau Merkel, dass Sie sich nicht
nur in Bezug auf die deutschen Schiffe auf See, sondern
Ich möchte dem Kollegen Klose unsere Position ent- auch in Bezug auf die Landflüge über dem Libanon en-
gegenhalten: Das Völkerrecht ist nicht nur die Gewähr- gagieren und dafür eintreten, dass solche Zwischenfälle
leistung dafür, dass UNO-Beschlüsse, auf die er auch in Zukunft unterbleiben.
Bezug genommen hat, eingehalten werden. Das Völker-
recht wird verletzt, und zwar grob verletzt, wenn in im- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
mer größerer Zahl unschuldige Zivilisten ums Leben sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
kommen, was die Genfer Konvention strikt verbietet. KEN)
Dieser Kampfeinsatz verstößt permanent gegen die Gen- Ich fordere Sie zu diesem Schritt auf, weil sonst das ge-
fer Konvention. samte Mandat gefährdet wird.
(Beifall bei der LINKEN) Nachdem wir dem Mandat für die Operation Endu-
ring Freedom in Afghanistan fünfmal zugestimmt haben
Dies ist der Grund, warum der Einsatz militärischer
– viermal in der Regierung und einmal in der Opposition –,
Mittel in diesem Fall nicht vom Völkerrecht gedeckt ist.
werden wir heute seiner Verlängerung nicht zustimmen.
Dies ist der Grund, warum wir sagen: Wer so vorgeht,
Die große Mehrheit der Fraktion wird mit Nein stimmen;
der schützt unser Land nicht, sondern erhöht die Terror-
ein bedeutender Teil wird sich enthalten. Ich will das be-
anschlagsgefahr in unserem Land; darauf haben die Ge-
gründen.
heimdienste immer wieder hingewiesen. Weil die beiden
Missionen Enduring Freedom und ISAF eng miteinander Wir haben unsere Position, dass man in Afghanistan
verwoben sind – darauf hat Herr Klose hingewiesen –, etwas unternehmen muss und dass auch der militärische
ist das eine logische Konsequenz. Man muss allerdings Kampf gegen den Terrorismus notwendig ist, nicht auf-
bereit sein, diese Konsequenz zur Kenntnis zu nehmen. gegeben. Unsere heutige Entscheidung ist auch nicht als
Exitstrategie der Grünen in Bezug auf Afghanistan zu
Seitdem die NATO in immer größerem Umfang im
verstehen. Wir haben vor wenigen Wochen mit großer
Süden Afghanistans bombt, ist dieser Einsatz absurd ge-
Mehrheit der Verlängerung des ISAF-Mandats zuge-
worden. Es ist doch kein Wunder, wenn die Nachfahren
stimmt.
der Opfer dieser Bombenkämpfe eines Tages Terrorat-
tentate bei uns in Deutschland und in anderen NATO- Uns geht es um Folgendes: Im letzten Jahr eskalierten
Staaten verüben. Genauso wie heute gesagt wird, dass die Berichte der Militärs und – auch deutscher – Diplo-
unsere Freiheit bzw. unser Land am Hindukusch vertei- maten, die unisono unmissverständlich klar machen
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006 6321
Fritz Kuhn
(A) – auch die Parlamentarierinnen und Parlamentarier aus hin so getrennt werden kann wie bislang. Aber die Rede (C)
Afghanistan, die vor wenigen Wochen bei uns zu Besuch war mit Sicherheit keine Begründung für die Zustim-
waren, haben das bestätigt –, dass die Art und Weise, mung zur Verlängerung des OEF-Mandats. Davon hat
wie die OEF in Afghanistan durchgeführt wird, nicht ge- auch Tom Koenigs nicht geredet.
eignet ist, die Bevölkerung gegen die Taliban und für
den neuen Staat, die Interessen der Völkergemein- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
schaft und das Nation Building einzunehmen; vielmehr Ich will versuchen, die Differenz zwischen Enduring
wird der notwendige Kampf gegen den Terrorismus sys- Freedom und dem ISAF-Mandat darzulegen. Das
tematisch in seiner Legitimation untergraben. Das ist der ISAF-Mandat ist eindeutig ein NATO-Mandat. Es gibt
Hauptgrund, warum wir diesmal nicht zustimmen kön- eine politische Plattform, auf der die Aufgaben und die
nen, Frau Merkel. Ziele bestimmt werden. Es gibt Rules of Engagement,
Wenn wir als Parlamentarier entscheiden, deutsche die festlegen, wie das Mandat auszuführen ist. Das heißt,
Soldaten möglicherweise in Kampfeinsätze zu schicken, wir haben zusammen mit der Bundesregierung bei die-
dann müssen wir uns vor unserem Gewissen mehrere sem Mandat direkt mitzureden. Auf der NATO-Konfe-
Fragen stellen. Dabei geht es zum einen um die Risiken renz in Riga am Ende dieses Monats wird es eine inten-
– solche Einsätze sind riskant – und zum anderen um die sive Diskussion darüber geben, ob es mit militärischen
Frage, ob das definierte Ziel, einen relevanten Beitrag Mitteln allein noch zu schaffen ist. Es gibt Aussagen des
gegen den Terrorismus leisten zu können, mit der Art NATO-Generalsekretärs, die auf eine Neubestimmung
des Mandates erreicht werden kann. hindeuten.

Wir meinen, dass bei dem OEF-Mandat wenig prakti- Enduring Freedom hat einen anderen Charakter. Wir
sche Mitgestaltung möglich ist. Aus diesem Grund kön- haben dort offensichtlich nichts zu melden. Ohne aus ge-
nen wir nicht verantworten, der Verlängerung des Man- heimen Sitzungen zu berichten, kann ich aufgrund der
dats zuzustimmen, wie Sie es begehren. Unterrichtungen, die es gegeben hat, sagen: Nie war das
Schweigen der Bundesregierung lauter, wenn wir gefragt
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) haben, was im Rahmen der Operation Enduring Free-
dom konkret geschieht und welchen Einfluss die Bun-
Das ist auch eine Antwort auf die Frage von Frau
desregierung hat.
Homburger und Herrn von Klaeden. Ich will an dieser
Stelle die Frage an Sie zurückgeben. Sie haben gefragt: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Was wollt ihr eigentlich? Im letzten Jahr keinen KSK-
Einsatz auf Land im Rahmen von OEF. – Ich verstehe Sie haben immer über ISAF geredet, wenn wir nach
Enduring Freedom gefragt haben. Das gibt Aufschluss
(B) nicht, Herr von Klaeden, wie man vor diesem Hinter- über das Problem. Haben Sie nach den Berichten etwa (D)
grund jetzt vor dem Hohen Hause die deutsche Zustim-
mung als unverzichtbar darstellen kann. des deutschen Botschafters in Kabul, der meine Analyse
voll teilt, versucht, die Regeln, nach denen die OEF
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) funktioniert, zu ändern, Frau Merkel? Haben Sie mit
Bush geredet? Herr Außenminister, haben Sie mit der
Ich habe den Verdacht – das sollten wir klären –, dass
Außenministerin der Vereinigten Staaten darüber gere-
einige die Vorstellung haben, dass wir im Falle unserer
det, wie man den Kampf im Rahmen der OEF so gestal-
Zustimmung zur OEF – in der Hoffnung, dass wie im
ten kann, dass er nicht den Kampf gegen den Terroris-
letzten Jahr keine Anforderung erfolgt – leichter um die
mus insgesamt delegitimiert? Ich glaube, Sie haben es
unangenehme Diskussion in der NATO herumkommen,
nicht getan. Jedenfalls haben Sie uns keinen entspre-
wie es mit dem ISAF-Mandat weitergehen soll. Aber mit
chenden Hinweis gegeben. Das wäre angesichts der kri-
dieser billigen Mogelpackung kommen wir aus der inter-
senhaften Zuspitzung des OEF-Mandats in Afghanistan
nationalen Verantwortung nicht heraus, ganz zu schwei-
im letzten Jahr aber notwendig gewesen. Deswegen wer-
gen von der NATO-Konferenz in Riga am Ende dieses
den wir der Verlängerung des OEF-Mandats nicht zu-
Monats. Ihre Argumentation stimmt meines Erachtens
stimmen können.
nicht. Das kann nicht funktionieren.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Interessant war die Argumentation von Herrn Klose. Sie haben nach den Alternativen gefragt. Es hat Ver-
Er hat immer von der Stärkung der NATO gesprochen. änderungen gegeben. Die Truppenstärke im Rahmen von
Tom Koenigs hat in seinem Interview nur davon gespro- ISAF ist verdreifacht worden. Vieles, was zuvor im Rah-
chen, die NATO dürfe nicht verlieren. Aber heute geht es men von Enduring Freedom gemacht wurde, wird nun
nicht um das NATO-Mandat ISAF, sondern um Endu- im Rahmen von ISAF durchgeführt, zum Beispiel Luft-
ring Freedom, was, wie wir alle wissen, kein NATO- transporte. Die Fragestellung, was sich vor Ort verändert
Mandat ist. hat und ob es jetzt noch verantwortbar ist, einer Verlän-
gerung des OEF-Mandats zuzustimmen, ist nicht obso-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) let; denn vieles ist in Afghanistan bereits Realität gewor-
den.
Die Rede von Herrn Klose war eine Rede für eine Ver-
stärkung der NATO-Arbeit im Rahmen von ISAF sowie Herr Verteidigungsminister, Sie müssen ehrlicher wer-
vielleicht sogar für eine Neukonzeption von ISAF und den. Gestern gab es eine interessante dpa-Meldung über
für Überlegungen, ob zwischen ISAF und OEF weiter- Ihren Besuch in Kiel. Dort haben Sie – in Vorbereitung
6322 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006

Fritz Kuhn
(A) auf Riga – gesagt: Wir werden keine deutschen Soldaten Es ist wohl die schwierigste Entscheidung, die das (C)
in den Süden Afghanistans schicken. Des Weiteren haben Parlament in der zurückliegenden Zeit bezüglich eines
Sie ausgeführt, dass die Arbeitsteilung zwischen dem, Einsatzes der Bundeswehr treffen musste. Ich gebe aber
was wir im Norden machten, und dem, was andere zu bedenken, dass sich der Einsatz, über den wir heute
NATO-Mitglieder im Süden machten, gut und sehr effek- abstimmen, in den deutschen außen- und sicherheitspoli-
tiv sei. Dann sagten Sie, Herr Jung, wörtlich: tischen Gesamtansatz einfügt und ein wichtiges Element
desselben darstellt. Deutschland verfolgt mit seiner Au-
Die Menschen sollen deutlich spüren, dass wir
ßen- und Sicherheitspolitik einen umfassenden, einen
nicht Besatzer sind, sondern dass wir dazu da sind,
präventiven und einen multinationalen Ansatz. Das um-
diesem Land zu helfen.
fassende Element resultiert aus der Erkenntnis, dass er-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) folgreiche Krisen- und Konfliktbewältigung nur durch
die Kombination von zivilen und militärischen Mit-
Ein bemerkenswerter Satz. Das können wir unterschrei- teln erfolgen kann. Ich wünschte mir in diesem Zusam-
ben. Aber in Bezug auf wen haben Sie diesen Satz ei- menhang übrigens wesentlich mehr Informationen und
gentlich gesagt? Haben Sie das in Bezug auf OEF ge- Berichte auch in den Medien von zahlreichen positiven
sagt? Dann wäre der Antrag der Bundesregierung heute Beispielen ebendieser zivil-militärischen Zusammenar-
eine Unverschämtheit. beit.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Propa-
ganda!) Es gibt nämlich in Afghanistan inzwischen eine Re-
gierung und vor allen Dingen ein gewähltes Parlament,
Haben Sie das in Bezug auf ISAF gesagt, dann, so
das sich zu über 27 Prozent aus Frauen zusammensetzt.
finde ich, ist die Arbeitsteilung interessant. Die anderen
Mädchen können wieder in die Schule gehen. Kinder
NATO-Länder agieren also als Besatzer, während wir
dürfen wieder auf der Straße spielen, ohne mit der To-
dies nicht tun. Ich finde, Sie müssen sich präziser aus-
desstrafe rechnen zu müssen. 70 Prozent der Bevölke-
drücken, wenn Sie darüber sprechen. Ich würde Ihnen
rung können eine medizinische Versorgung in Anspruch
raten, mit einem solchen Satz nicht nach Riga zu fahren.
nehmen. Zu Zeiten der Talibanherrschaft waren das ge-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) rade einmal 9 Prozent. Es wurden Brunnen gebohrt und
Straßen gebaut. Es sind bestimmt nur viele kleine
Präsident Dr. Norbert Lammert: Schritte, aber es sind auch für die Afghanen sichtbare
Herr Kollege, denken Sie an die Zeit. Schritte in die richtige Richtung und das ist ein Ergebnis
(B) dieses eben erwähnten umfassenden Ansatzes. Deshalb (D)
werden unsere Soldaten dort nicht als Besatzer wahrge-
Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nommen, sondern als Begleiter auf dem Weg hin zu
Ich komme zum Schluss. – Wir stimmen heute nicht Frieden und Entwicklung.
zu, weil wir die Art und Weise, wie im Rahmen der OEF
gekämpft wird, für delegitimierend in Bezug auf Nation (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das glau-
Building und den notwendigen Kampf gegen den Terro- ben Sie doch nicht im Ernst!)
rismus halten. Wir werden weiterhin und würden auch
Ein umfassender Ansatz bringt nämlich politische, zi-
heute dem ISAF-Mandat zustimmen, weil das ein ver-
vile, ökonomische und militärische Mittel verzahnt zum
nünftiges Mandat ist, zu dem wir stehen. Ich glaube, da-
Einsatz, damit sie sich in ihrer Wirkung gegenseitig ver-
mit ist die Position meiner Fraktion erklärt.
stärken. Die Operation Enduring Freedom ist dabei eine
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. spezielle militärische Komponente dieses Gesamtansat-
zes.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Erklärt, aber Trotz der immer prekärer werdenden Sicherheitslage
nicht verstanden!) ist es unbedingt erforderlich, dass ISAF die Wiederauf-
bauarbeit kontinuierlich fortsetzen kann. Auch dazu
Präsident Dr. Norbert Lammert: brauchen wir, mein sehr geschätzter Herr Kollege Kuhn,
Ich erteile der Kollegin Petra Heß, SPD-Fraktion, das unterstützend OEF. Damit diese Kontinuität erreicht
Wort. werden kann, wird im Rahmen der Operation Enduring
Freedom dafür Sorge getragen, dass die terroristischen
Nachschubwege unterbrochen werden und ein Wieder-
Petra Heß (SPD):
erstarken der Taliban verhindert wird. Nur so kann Af-
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin- ghanistan die Stabilität gegeben werden, die das Land
nen und Kollegen! Als Erstes möchte ich meinen für eine friedliche Entwicklung so dringend benötigt.
Respekt auch für diejenigen im Parlament zum Aus-
druck bringen, die sich mit der Entscheidung zum Ein- Auch wir haben ein ureigenes Interesse an einer Be-
satz von OEF schwer tun; denn das zeigt, dass die De- friedung Afghanistans; denn Terrorismus macht eben
batte von der überwiegenden Mehrheit des Hauses mit nicht vor unserer Haustüre halt, sondern findet auch in
sehr großer Nachdenklichkeit, mit einem hohen Maß an Europa statt. Deshalb zielt der präventive Ansatz der
Verantwortung und vor allen Dingen nicht leichtfertig Außen- und Sicherheitspolitik darauf ab, Krisen, Kon-
geführt wird. flikte und Instabilitäten möglichst erst gar nicht entste-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006 6323
Petra Heß
(A) hen zu lassen. Während ISAF in diesem Zusammenhang (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/ (C)
ermöglicht, die friedliche und demokratische Entwick- DIE GRÜNEN]: Reden Sie einmal mit den
lung in Afghanistan zu fördern und zu festigen, um der Leuten!)
jetzigen Generation und vor allem der zukünftigen Ge-
neration eine Perspektive jenseits von Armut und Gewalt Genau an dieser Stelle muss folgende kritische Be-
zu bieten, tragen wir gemeinsam mit circa 20 Nationen merkung erlaubt sein: Vor diesem Hintergrund zeugt es
im Rahmen von OEF dazu bei, den Schutz vor einem nicht gerade von Glaubwürdigkeit, wenn einige Kolle-
Wiedererstarken der Taliban durch die dauerhafte Unter- ginnen und Kollegen eben noch für ISAF ihre wohl
bindung der Kommunikations- und Transportwege und überlegte und begründete Zustimmung gegeben haben,
den aktiven Kampf gegen noch bestehende terroristische aber einer Verlängerung des OEF-Einsatzes nunmehr ab-
Verbände zu gewährleisten. So unterbindet beispiels- lehnend gegenüberstehen, zumal das neue Mandat an die
weise die Marine im Rahmen von OEF am Horn von tatsächlichen Gegebenheiten angepasst wird. In welcher
Afrika allein durch ihre Präsenz, aber auch durch ge- Form das geschieht, haben wir eben schon gehört.
zielte Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen traditio- Lassen Sie uns die Augen nicht davor verschließen:
nelle Transportwege terroristischer Kräfte und schränkt Die Lage in Afghanistan ist sehr ernst. In den nächsten
damit den Zugang zu potenziellen Rückzugsgebieten Monaten wird die Entscheidung fallen, ob es gelingt,
ein. Afghanistan zu stabilisieren. Es sind noch mehr Anstren-
gungen der beteiligten Nationen gefordert. OEF als eine
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der der Voraussetzungen für das erfolgreiche Gelingen von
CDU/CSU) ISAF muss vor diesem Hintergrund verlängert werden,
Auch damit wird eine wesentliche Voraussetzung für die auch um die militärisch-zivile Zusammenarbeit nicht zu
Wiederaufbauarbeit in Afghanistan gewährleistet. gefährden.
Nur wenn alle Nationen – Nationen, die sich Werten
Vergessen Sie bitte in diesem Zusammenhang nicht,
wie Freiheit, Demokratie und Bürgerrechten verpflichtet
dass ein Rückzug von den Unterstützungsleistungen der
fühlen – an einem Strang ziehen, haben wir eine Chance,
Stabilisierungs- und Wiederaufbauarbeit in Afghanistan
den Kampf gegen den internationalen Terrorismus er-
einer Entsolidarisierung mit den Vereinten Nationen
folgreich zu führen und vor allen Dingen zu gewinnen.
gleichkommen und zudem die engagierte Arbeit von tau-
senden von Menschen – auch vieler Deutscher, die in Ich danke Ihnen.
Hilfsprojekten seit Jahren tätig sind – infrage stellen
würde. Ein Ablassen von der Wiederaufbauarbeit in Af- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
ghanistan käme einer Aufkündigung unseres multinatio- (D)
(B) Präsident Dr. Norbert Lammert:
nalen Engagements und damit auch einer Schwächung
der Vereinten Nationen gleich. Der nächste Redner ist Herr Kollege Dr. Rainer
Stinner von der FDP-Fraktion.
(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Richtig, aber wer fordert das?)
Dr. Rainer Stinner (FDP):
Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat nämlich Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
erst unlängst die Staaten erneut dringend zur Zusammen- sind uns in diesem Hause über eine Tatsache weitestge-
arbeit aufgefordert, um terroristische Handlungen zu hend einig: Der Kampf gegen den Terrorismus ist not-
verhüten und zu bekämpfen. wendig. Aber der Kampf gegen den Terrorismus ist mit
militärischen Mitteln allein nicht zu gewinnen. Darüber
Wenn also die Bundeswehr im Rahmen von ISAF zu- herrscht, glaube ich, breiter Konsens in diesem Hause.
sammen mit unseren Verbündeten in Afghanistan vor
Ort Wiederaufbauarbeit leistet, schaffen unsere Soldatin- (Beifall bei der FDP)
nen und Soldaten zusammen im Rahmen von OEF und Gleichwohl bedarf es auch heute noch der militärischen
Hand in Hand mit unseren Verbündeten im Wesentlichen Komponente. Auch das sollte unstrittig sein. Diese
die Voraussetzung dafür, dass ISAF in der bisherigen Komponente brauchen wir, weil das Militär ein Teil
Form weitergeführt werden kann. Hierfür möchte ich – aber auch nur ein Teil – dieses Kampfes ist. Dazu wol-
den Soldatinnen und Soldaten, aber auch den zahlrei- len wir einen Beitrag leisten.
chen zivilen Helferinnen und Helfern sowie ihren Fami-
lien, die – in welchem Bereich auch immer – diesen Ein- Wir stimmen heute zu. Unsere Zustimmung ist aber
satz mittragen und unterstützen, in der ihnen verbunden mit der Erwartung an die Bundesregierung,
gebührenden Form danken. diese militärischen Einsätze stärker als bisher in ein
gesamtpolitisches Konzept einzubinden, um deutlich
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zu machen, welches politische Ziel mit diesen Einsätzen
der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ verbunden ist.
DIE GRÜNEN)
Es stellt sich die Frage nach der Strategie bei OEF.
Glauben Sie denn wirklich, dass Menschen in Zukunft Über das Ziel sind wir uns einig: Wir wollen den Terro-
bereit sein werden, die in Afghanistan so dringend benö- rismus bekämpfen und möglichst besiegen. Aber ich be-
tigte humanitäre Hilfe zu leisten, wenn der Schutz durch zweifele, dass wir eine gemeinsame Gesamtstrategie ha-
militärische Präsenz vor Ort gänzlich fehlt? ben – Strategie heißt: Weg zum Ziel –, dass im Bündnis
6324 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006

Dr. Rainer Stinner


(A) wirklich Konsens darüber besteht, mit welchen Mitteln nachzudenken, mit welchen Vokabeln Sie uns bedacht (C)
wir dieses Ziel gemeinsam erreichen wollen. haben,
Nach unserem Dafürhalten ist es dringend notwendig, (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
dass wir uns über die Strategie, wie wir dieses Ziel er-
als wir vor einigen Wochen und Monaten uns anders ent-
reichen wollen, stärker austauschen und Pflöcke einschla-
schieden haben. Das war eine schwierige Entscheidung.
gen. Dazu beizutragen, ist Aufgabe der Bundesregierung.
Wie Sie wissen, haben wir nicht alle dieselbe Entschei-
Wir werden in der Parlamentarischen Versammlung der
dung getroffen. Hier einige Vokabeln, mit denen Sie un-
NATO nächste Woche in Quebec darüber sprechen. Pri-
ser Verhalten beschrieben haben: innenpolitisch moti-
mär ist es natürlich Aufgabe der Exekutive, mit den
viert, populistisch, nicht sachorientiert usw. Ich bitte Sie
Bündnispartnern darüber zu reden.
herzlich: Rüsten Sie diesbezüglich ab!
In den letzten Monaten hat ISAF von OEF den Süden (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
und mittlerweile auch den Osten Afghanistans übernom- SPD)
men. Wenn man aber sieht, was jetzt im Süden stattfin-
det und wie dort gearbeitet und gekämpft wird, dann Wenn Sie für sich in Anspruch nehmen, dass Ihre Ar-
könnte man der Meinung sein: Eigentlich hat OEF dieses gumentationslinie jedenfalls respektiert wird, dann tun
Gebiet von ISAF übernommen und nicht umgekehrt. Sie dies bitte auch in Bezug auf unseren Standpunkt.
Wir müssen über die Relation dieser beiden Mandate Herr Kuhn, Frau Künast und andere, das ist ein kleiner
dringend deutlicher sprechen. Wink für die Zukunft. Herr Nachtwei, ich weiß, Sie ha-
ben in Ihrer Fraktion eine Sonderrolle eingenommen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Das begrüße ich natürlich sehr. Aber die anderen ma-
der SPD und des BÜNDNISSES 90/ chen es eben anders. Ich hoffe, ich habe Ihrer Karriere,
DIE GRÜNEN) Herr Nachtwei, jetzt nicht zu sehr geschadet. Das wäre
Eines ist völlig klar: Für den Erfolg in Afghanistan sehr bedauerlich.
geht es nicht nur darum, was wir tun, sondern insbeson- (Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP)
dere darum, wie wir es tun.
Völlig klar ist: Diese militärischen Einsätze müssen
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und des in ein politisches Gesamtkonzept eingebettet sein. Ab-
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) schließend möchte ich kritisch bemerken: Leider gibt
das Weißbuch zu wenig her, um über die gesamte politi-
Daher müssen wir neben unsere Rules of Engagement
sche Konzeption von militärischen Einsätzen Kenntnis
– wir müssen über sie reden; manchmal streiten wir auch
(B) über sie – etwas anderes stellen: Rules of Behaviour, zu erlangen. Die Diskussion muss angestoßen werden. (D)
Sehr geehrte Damen und Herren Minister, Frau Bundes-
also Regeln, wie wir eigentlich vorgehen sollen. Denn
kanzlerin, die Art, wie Sie die Diskussion über das
nur durch Rules of Behaviour, durch Verhaltensregeln,
Weißbuch angestoßen haben, und die Tatsache, dass Sie
können wir dafür sorgen, dass wir gemeinsam Erfolg ha-
zu manchen Inhalten wenig konkret Stellung genommen
ben. Darüber muss geredet werden.
haben, lassen leider befürchten, dass diese Diskussion in
Wir erwarten von der Bundesregierung aber auch, diesem Land nicht so umfassend geführt wird, wie es
dass sie uns über die Dauer des Gesamtmandats aufklärt. dringend geschehen müsste.
Ein wesentlicher Bestandteil des Gesamtmandats ist, Vielen Dank.
Herr Minister, der Einsatz am Horn von Afrika. Im Au-
genblick befindet sich sogar die überwiegende Zahl un- (Beifall bei der FDP – Winfried Nachtwei
serer Soldaten im Auslandseinsatz dort. Wir müssen uns [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Stinner,
auch die Frage stellen, wie lange die Schiffe dort einge- das war eine Rede für eine Enthaltung! Haben
setzt werden sollen: So lange, bis der letzte Terrorist be- Sie das gemerkt?)
siegt ist? Das kann ja wohl nicht sein.
Oder müssen wir nicht doch ehrlicher mit uns selber Präsident Dr. Norbert Lammert:
umgehen? Vielleicht sollten wir feststellen: Der Sinn des Nächster Redner ist der Kollege Kurt Rossmanith für
Mandats für den Einsatz am Horn von Afrika ist nicht die CDU/CSU-Fraktion.
nur die Bekämpfung des Terrorismus, sondern auch die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Wahrnehmung anderer – vitaler – Interessen unseres
Landes, zum Beispiel das Interesse an sicheren See- und
Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU):
Handelswegen. Jeder, der da war, weiß, dass es ganz
wichtig ist, Informationen zu bekommen und diese Re- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
gion entsprechend abzusichern. Herren Kollegen! Mit Ausnahme der Fraktion der Lin-
ken und insbesondere Herrn Lafontaines herrscht,
Lassen Sie mich ein Wort zu den Kolleginnen und glaube ich, Einigkeit darüber – das war den Reden in der
Kollegen von den Grünen sagen. Sie lehnen diesen An- Debatte heute Morgen zu entnehmen –, dass der Terror
trag heute ab. Sie haben eine Abwägung vorgenommen gegen Staaten des transatlantischen Bündnisses nach wie
und begründen Ihr Verhalten. Ich respektiere Ihre Be- vor ein besonders Besorgnis erregendes Phänomen dar-
gründung, auch wenn ich sie in diesem Zusammenhang stellt. Dies ist der Grund unserer Beteiligung an der Ope-
für falsch halte. Ich bitte Sie wirklich, einmal darüber ration „Enduring Freedom“. Das Mandat hat seine
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006 6325
Kurt J. Rossmanith
(A) Grundlage auch in den Vereinten Nationen und dem darauf hingewiesen hat, dass wir in diesem Kampf nicht (C)
Nordatlantischen Vertrag. Deshalb sind wir seit 2001 an nachlassen dürfen.
diesem Einsatz beteiligt. Nicht nur wir sind an diesem
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Einsatz beteiligt, sondern über 20 Nationen.
neten der SPD – Zuruf des Abg. Winfried
Der Antrag der Bundesregierung, über den wir heute Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
debattieren und entscheiden werden, lautet, dieses Man- Natürlich ist uns allen bewusst, lieber Kollege Nachtwei
dat über den 15. November 2006 hinaus erneut für zwölf – Sie werden hier im Haus niemanden finden, der eine
Monate zu verlängern. andere Meinung hat –, dass die militärische Komponente
In der heutigen Debatte ist meiner Meinung nach der nur eine Komponente bei der Bekämpfung des interna-
Fokus zum Teil etwas zu stark auf Afghanistan gerichtet tionalen Terrorismus ist. Wir debattieren aber heute nicht
worden. Natürlich sind ISAF und Operation „Enduring nur über diese Komponente der Bekämpfung des inter-
Freedom“ miteinander zu sehen. Wir müssen allerdings nationalen Terrorismus, sondern wir müssen auch ent-
auch beachten, dass der deutsche Beitrag in Afghanistan scheiden, ob wir unsere Beteiligung an der Operation
nur einen relativ geringen Anteil darstellt; das galt ganz „Enduring Freedom“ um weitere zwölf Monate verlän-
besonders in den letzten zwölf Monaten. Kollege von gern. Angesichts dessen ist es mir schlicht und einfach
Klaeden hat schon darauf hingewiesen: Das beginnt ja unverständlich, dass Sie von den Grünen sich jetzt aus
am Horn von Afrika und geht über den Kaukasus bis hin diesem Einsatz zurückziehen wollen.
zum Hindukusch. (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Nach 2 800 Kräften maximal, die wir für diese Opera- Dann haben Sie nicht genug zugehört! – Abg.
tion ja nie im Einsatz hatten, wird die Höchstgrenze jetzt Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
auf 1 800 festgelegt. Ich will auch einmal darstellen, wie NEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage)
sich das auf die verschiedenen Kräfte verteilt, weil das Leistungsfähige Kontingente der deutschen Streit-
offenbar nicht alle gelesen haben: 1 100 Seestreitkräfte, kräfte sind im Einsatz und sind in die Gesamtheit der
100 Spezialkräfte, 200 Lufttransportkräfte, 200 Unter- Antiterroroperationen eingebracht worden. Sie haben
stützungskräfte und 200 Sanitätskräfte. Deshalb ist unser sich bei den Partnernationen hohes Ansehen erworben,
Beitrag am Horn von Afrika der wesentliche Teil. zum einen aufgrund ihrer Leistungsfähigkeit, zum ande-
ren aber auch durch die Art, wie sie sich für die Men-
Die deutschen Marinekräfte sind in der Tat der wich-
schen vor Ort einsetzen. Ich möchte von dieser Stelle un-
tigste Teil bei unserer Teilnahme am internationalen
seren Soldatinnen und Soldaten Dank aussprechen, dass
Kampf gegen den Terrorismus. Unsere Marinekräfte
sie diesen Einsatz für unser Land und die Menschen in
(B) haben in den vergangenen zwölf Monaten über diesen Gebieten leisten. (D)
2 380 Schiffe abgefragt. Sie haben 180 Schiffe einer ge-
nauen Prüfung unterzogen. Sie haben 14 Schiffe mit so (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
genannten Boarding-Teams eingehend untersucht. Es ist, neten der SPD und der FDP)
glaube ich, wichtig, auch einmal darauf hinzuweisen,
was da getan wird und dass da nicht Kräfte im Einsatz Präsident Dr. Norbert Lammert:
sind, die sich mehr oder weniger nur die Zeit vertreiben. Eine Zwischenfrage kann ich nur bei großzügiger In-
Der Grund für diesen Einsatz ist, dass der Zugang zu terpretation der Redezeit zulassen, weil Sie, Herr Kol-
den Rückzugsgebieten der Terroristen verwehrt werden lege Rossmanith, gewiss registriert haben, dass Ihre Re-
soll und dass die Transportwege, auf denen Waffen und dezeit soeben abgelaufen ist.
Munition bewegt werden, auf denen sich aber auch die
Terroristen selbst bewegen, unterbrochen werden sollen. Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU):
Als ich bemerkt habe, dass der Kollege Nachtwei sich
(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. gemeldet hatte, hatte ich noch drei Sekunden.
Petra Heß [SPD])
(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Es bleibt absolut notwendig, den Strukturen des
internationalen Terrors Aufmerksamkeit zu widmen Präsident Dr. Norbert Lammert:
und alles daranzusetzen, diese Strukturen zu zerschla-
Bei solchen Bestellungen muss man aufpassen, damit
gen.
man sie noch rechtzeitig innerhalb der Redezeit unter-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. bringt.
Walter Kolbow [SPD]) Wir sind jetzt aber großzügig. Herr Kollege
Es ist für mich deshalb wirklich völlig unverständlich, Nachtwei, Sie haben das Wort.
dass Sie von der Fraktion der Grünen – Herr Kuhn, was
Sie getan haben, war nichts anderes, als Salz süß zu re- Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
den – hier aussteigen wollen; denn es war ja Ihr Partei- Kollege Kurt Rossmanith, Sie sind Sicherheitspoliti-
kollege Joschka Fischer als Außenminister, der damals ker, Sie sind auch Reserveoffizier. Aus beiden Erfah-
nach dem 11. September 2001 vehement speziell für die- rungsbereichen wissen Sie, dass wir den Soldaten, die
ses Mandat geworben hat. Der Kollege Klose hat Tom wir in einen Einsatz schicken, konkret und überzeugend
Koenigs – auch ein Parteikollege von Ihnen – zitiert, der vermitteln müssen, dass dieser Einsatz nicht nur
6326 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006

Winfried Nachtwei
(A) grundsätzlich notwendig ist, sondern konkret auch führen wird. Das ist für mich das entscheidende Mo- (C)
zweckmäßig und verantwortbar ist. Ich habe in den letz- ment.
ten Tagen festgestellt, dass dieser Einsatz – ich habe im-
Drittens weiß ich – ich bin nämlich häufig draußen
merhin zwölf Jahre Erfahrung in diesem Bereich – von
bei den Soldaten, da ich noch aktiver Reservist bin –,
der Bundesregierung so schlecht wie noch kein Einsatz
dass die Soldaten aus Einheiten, die häufig in Einsätzen
zuvor begründet wurde. Ergreifen Sie jetzt die Chance, sind, nicht nur im Rahmen der „Enduring-Freedom“-
die Bundesregierung aus der Bredouille herauszubrin- Operation, sondern auch in anderen Operationen, sehr
gen, und sagen Sie konkret, warum die deutsche Beteili- wohl wissen, welchen Auftrag sie wahrzunehmen haben,
gung an der Operation „Enduring Freedom“ zweckmä- und dass sie sich dabei vom Parlament getragen wissen.
ßig und verantwortbar ist und weshalb die Hinweise,
dass der Einsatz in Afghanistan immer kontraprodukti- Gerade deshalb bitte ich Sie ganz herzlich, hier keine
ver geworden ist und inzwischen zur Gewalt- und Hass- Spaltung vorzunehmen, sondern in einer breiten Mehr-
spirale beiträgt, nicht stimmt! heit in diesem Parlament den Soldaten, denen wir diesen
schwierigen und sehr gefährlichen Auftrag geben, zu
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- zeigen, dass sie vom Parlament in toto – wenn ich die
SES 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/ Linken einmal ausnehme – getragen werden.
CSU]: Das war ein Debattenbeitrag!)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.
Walter Kolbow [SPD])
Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU):
Lieber Kollege Nachtwei, das würde ich gerne tun.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich glaube aber, dann wäre der Präsident nicht sehr
glücklich mit mir. Das Wort hat nun der Kollege Norman Paech, Frak-
tion Die Linke.
(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU (Beifall bei der LINKEN)
und der SPD)
Lassen Sie mich kurz drei Punkte nennen. Dr. Norman Paech (DIE LINKE):
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Bundesregierung möchte nun auch im sechsten Jahr
Aber knapp, da Sie mich ja glücklich machen wollen. die Bundeswehr am so genannten Antiterrorkrieg der
USA beteiligen.
Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Der Verein-
(B) ten Nationen!) (D)
– Drei Sätze. – Erstens bin ich der Meinung, dass die
Begründung, die die Bundesregierung für ihren Antrag Unsere Fraktion hat das im vorigen Jahr abgelehnt und
gegeben hat, überzeugend ist. – ich wiederhole es; Oskar Lafontaine hat es bereits ge-
sagt – wir lehnen es auch heute wieder ab,
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der SPD) (Beifall bei der LINKEN)
Zweitens habe ich mit den Soldaten gesprochen und und zwar nicht, weil uns plötzlich die Hässlichkeit des
habe Ihnen, Herr Kollege Nachtwei, ja bezüglich unserer Krieges durch geschmacklose Bilder von deutschen Sol-
Seestreitkräfte aufgezeigt – ich könnte das für die ande- daten präsentiert wird – so abscheulich das ist. Aber es
ren Streitkräfte auch noch machen, aber den wesentli- muss vollkommen klar sein: Diese Bilder sind harmlos
chen Teil stellen ja unsere Seestreitkräfte dar – – im Verhältnis zu dem, was täglich dort und in anderen
Kriegen passiert.
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Das ist nicht gelungen!) (Beifall bei der LINKEN)

– Nach der Rede, die Sie, Herr Kuhn, gehalten haben, Wir sind von Anfang an gegen die Operation „Endu-
würde ich an Ihrer Stelle gerade noch etwas dazu sagen, ring Freedom“ gewesen, und zwar weil wir befürchtet
was anderen gelungen ist; da wäre ich sehr zurückhal- haben, dass sie letztlich nur das produziert, was sie be-
tend und würde kein Wort dazu mehr sagen. kämpfen will, nämlich Krieg und immer weiteren Terror.
Wir werden durch die Entwicklung des letzten Jahres lei-
der bestätigt. Der Terrorismus ist nicht der klassische
Präsident Dr. Norbert Lammert: Feind und Gegner, den man mit den klassischen Mitteln
Die Kommentierung von schon gehaltenen Reden ist des Krieges bekämpfen kann. Er hat faktisch in allen
außerhalb der eigentlichen Redezeit nun sicherlich nicht Ländern seinen Nachwuchs, seine Versorgungsdepots
mehr möglich. und seine Schlafstätten. Sie müssten eigentlich die ganze
Welt unter Terrorverdacht stellen und einen permanenten
Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Ausnahmezustand verkünden.
Lieber Kollege Nachtwei, im letzten Absatz der Be- Die Geheimhaltung rund um das KSK ist – das haben
gründung dieses Antrags hat die Bundesregierung noch jetzt alle begriffen – nicht akzeptabel. Was allerdings nie
einmal dargelegt, dass sie die Information des Parla- geheim war, ist der Auftrag der Bundeswehr unter dem
ments und der Fraktionsvorsitzenden entsprechend fort- OEF-Mandat. Ich bitte Sie, bevor Sie hier zur Entschei-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006 6327
Dr. Norman Paech
(A) dung schreiten, sich dieses Mandat noch einmal anzuse- Präsident Dr. Norbert Lammert: (C)
hen. Seit November 2001 befinden wir uns in einem Ver- Der Kollege Dzembritzki hat nun das Wort für die
teidigungskrieg und es gehört zu den Aufgaben der SPD-Fraktion.
Bundeswehr – ich zitiere –,
Terroristen zu bekämpfen, gefangen zu nehmen und Detlef Dzembritzki (SPD):
vor Gericht zu stellen sowie Dritte dauerhaft von
der Unterstützung terroristischer Aktivitäten abzu- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
halten. ist richtig, dass wir hier mit großer Ernsthaftigkeit die
Debatte führen. Mich bewegen natürlich insbesondere
(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Sehr ver- die Argumente der Grünen, weil wir bis letztes Jahr ge-
nünftig!) meinsam eine Politik betrieben haben, die auch die Ein-
Aber gleichzeitig berichtet uns die Bundesregierung sätze, die heute besprochen werden, einschloss. Dan-
auf unsere Kleine Anfrage hin, dass die Bundeswehr ge- kenswerterweise hat mir der Kollege Nachtwei seine
nau das nicht tut. Die Bundeswehr nehme nämlich gar Positionsbeschreibung zur Verfügung gestellt. Denn
keine Personen fest und sie wisse auch nicht, ob Perso- noch vor wenigen Tagen haben wir sehr intensiv in
nen, die von Streitkräften anderer Länder festgenommen Hammelburg über die Fragen globaler Verantwortung
werden, vor Gericht gestellt würden. diskutiert.
Die Bundesregierung konnte uns auch nicht erklären, Interessant ist – ich denke, man kann es so sagen –,
was eigentlich der Einsatz der Bundeswehr am Horn dass die Grünen bestätigen, dass die Bedrohung der in-
von Afrika mit Terrorismusbekämpfung zu tun hat. Da- ternationalen Sicherheit durch Netzwerke und Akteure
für bestätigt sie allerdings indirekt unsere Vermutung, des internationalen Terrorismus weiter anhält, dass die
dass der Begleitschutz durch die Bundesmarine vor Bekämpfung des internationalen Terrorismus eine zen-
Dschibuti viel mit dem Irakkrieg zu tun hat. Auf der trale Herausforderung für die internationale Gemein-
Liste der Bundesregierung stehen fast ausschließlich schaft bleibt und dass die Bundesrepublik Deutschland
Kriegsschiffe der USA und Großbritanniens. Auffällig im Rahmen der Vereinten Nationen, der Europäischen
hoch war die Zahl der eskortierten Kriegsschiffe kurz Union, der NATO und der OSZE ihren Beitrag zu leisten
vor dem Angriff auf den Irak im Februar und im März hat. Diese Aufgabe ist nicht kurzfristig, sondern nur mit
2003. langem Atem, Augenmaß und Konsequenz zu bewälti-
(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Aha!) gen. Ich denke, dem kann man voll und ganz zustimmen.

Sie rechtfertigen den Einsatz nun schon lange mit der (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des
(B) Behauptung, es finde immer noch ein bewaffneter An- Abg. Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/ (D)
griff auf die USA statt. Mir ist vor allem eines bekannt, DIE GRÜNEN])
dass es nämlich die USA sind, die in diesen fünf Jahren
einen bewaffneten Angriff unternommen haben, und Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Sie
zwar auf den Irak. Es ist abenteuerlich, wie die Bundes- sagen sogar, dass die Einsätze von KSK-Soldaten im
regierung hier das Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 Rahmen von OEF klar von Einsätzen im Rahmen von
der UNO-Charta biegt und verdreht. ISAF in Afghanistan zu unterscheiden seien. Letztere
seien notwendig und zum Schutz eigener ISAF-Kräfte
(Beifall bei der LINKEN) ausgesprochen hilfreich. Wenn dem so ist, dann verstehe
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor Sie nun ent- ich nicht, dass dieser Teil der Argumentation nicht die
scheiden, lesen Sie doch bitte noch einmal im Antrag notwendige Berücksichtigung findet.
nach, was der Auftrag der Bundeswehr im Rahmen der
Dass wir einen Teil der internationalen Verantwor-
Operation „Enduring Freedom“ tatsächlich ist. Von
Bündnissolidarität steht dort nirgends etwas. Wenn Sie tung zu tragen haben, ist ein entscheidendes Argument.
schon uns nicht folgen wollen, dann folgen Sie diesmal Sie sprechen davon, dass die transatlantische Kompo-
den Grünen: Lehnen Sie den Antrag ab und verabschie- nente beeinträchtigt sein könnte. Mich ärgert bei dieser
den Sie sich heute von einer Mission, die wirklich kei- Diskussion, dass die transatlantische Zusammenarbeit
nen wirksamen Beitrag zur Terrorismusbekämpfung ausschließlich auf die USA und uns projiziert wird. Ich
leistet und auch nicht mit dem Völkerrecht vereinbar ist! will aber betonen, lieber Herr Kollege Nachtwei, dass
auch Kanada dazugehört. Schauen wir uns einmal den
Eine letzte Bemerkung in Richtung Bundesregierung. Beitrag der kanadischen Soldatinnen und Soldaten und
Blicken Sie einmal auf die USA, die offensichtlich jetzt der zivilen Einsatzkräfte an. Unsere große Sorge ist, dass
beginnen, ihre Irakstrategie zu überdenken und zu ver- wir unsere Argumentation nicht in die internationale Ge-
ändern. Es wäre Bündnissolidarität, wenn auch Sie jetzt meinschaft transportieren können, wenn wir uns aus die-
daran gingen, Ihre Strategie zu überdenken. In den USA ser Gesamtverantwortung zurückziehen. Dadurch könnte
wurde der ehemalige Verteidigungsminister schon Opfer der Eindruck entstehen – ich will das jetzt nicht überspit-
entsprechender Überlegungen. Ich finde aber, kein Opfer zen, aber ich will es zumindest andeuten –, wir würden
ist zu groß, um die zurzeit gültige Strategie endlich zu uns generell aus dieser Verantwortung zurückziehen. Ich
ändern. denke, das steht uns nicht an.
Danke sehr.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
(Beifall bei der LINKEN) CDU/CSU)
6328 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006

Detlef Dzembritzki
(A) Es ist sehr interessant – ich will in meiner restlichen Wir alle wissen aber, dass das quantitativ überhaupt (C)
Redezeit auf Afghanistan zu sprechen kommen –, dass nicht ausreicht. Nun wende ich mich einmal an das Par-
wir über diesen Punkt des Antrages am intensivsten dis- lament, an uns als Kolleginnen und Kollegen: Wir wer-
kutieren. Daran kann man sehen, dass wir größte Sorgen den dazu bald eine Debatte führen; denn in der nächsten
haben, dass das Projekt nicht erfolgreich sein könnte. Sitzungswoche ist der Haushalt zu beraten. Wenn wir
Deswegen sage ich immer wieder: Es kommt nicht da- meinen, dass die jetzt vorgesehenen Mittel nicht ausrei-
rauf an, Exit-Strategien zu entwickeln – wir sollten auch chen – ich meine das; wir müssen die Mittel verstärken;
nicht auf ein Scheitern hoffen, um aus der Mission aus- wir müssen zu einer höheren Quantität und zu einer bes-
steigen zu können –, sondern wir müssen Erfolgsstrate- seren Verzahnung in den dezentralen Bereichen kom-
gien entwickeln, die in Verbindung mit einer Exit-Strate- men –, dann müssen wir auch überlegen, wie wir in die-
gie gesehen werden müssen. Alles andere ist abzulehnen. sem Bereich etwas zulegen können. Mit den Millionen,
die wir dafür vorgesehen haben, kommen wir nicht aus.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Ich will jetzt nicht weiter auf die Trennung von OEF der CDU/CSU und der FDP)
und ISAF eingehen, weil meine Redezeit nur knapp be- Das ist doch objektiv nicht zu leugnen. Wir dürfen nicht
messen ist. Ich will aber etwas zu den Spezialkräften im Parlament große Debatten führen und mit dem Finger
sagen: Das Parlament wurde auf dem dafür vorgesehe- auf die Regierung zeigen, wenn wir selbst nicht in der
nen Weg über die Obleute des Verteidigungsausschusses Lage sind, den parlamentarischen Stempel aufzudrü-
und des Auswärtigen Ausschusses informiert. Offenbar cken. Das fordere ich von uns ein.
reicht diese Information aber nicht aus. Deswegen war
es richtig, dass die Bundesregierung am 25. Oktober er- Ich fordere aber auch die Regierung auf, zu schauen,
klärt hat, eine intensivere Informationspolitik in diesem was wir auf europäischer Ebene tun können. Es gibt zum
sensiblen Bereich betreiben zu wollen. Darauf werden Beispiel den Europäischen Entwicklungsfonds. Wir
wir achten. haben in diesem Zusammenhang einmal spontan 250 Mil-
lionen Euro für afrikanische Friedensfazilitäten zur
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Verfügung gestellt. Warum kann so etwas in dieser drin-
Generell sollte die Berichtstattung seitens der Bun- genden, schwierigen und brenzligen Situation in Afgha-
desregierung zu Afghanistan in Umfang, Qualität sowie nistan nicht auch getan werden? Warum schafft man es
in der Vernetzung und Verzahnung militärischer und zi- nicht, europäische Kapazitäten zu bündeln und temporär
viler Leistungen, die wir für notwendig halten, besser einzubringen?
werden. Man muss die Kohärenz deutlich erkennen
(B)
können. Wir in unserer Fraktion werden das jedenfalls Ich denke, dass es wirklich lohnenswert wäre, noch (D)
intensiv verfolgen und darauf achten. Ich ermutige also einmal darüber nachzudenken. Denn wir allein werden
die Bundesregierung, die eigene Kohärenz zu stärken; die Probleme in Afghanistan nicht bewältigen. Dies ist
der Verteidigungsminister hat das gestern erfreulicher- eine internationale Herausforderung, eine internationale
weise in Agenturmeldungen erklärt. Aufgabe. Wir müssen sie erfolgreich zum Abschluss
bringen.
Aber das Bemühen, Kohärenz herzustellen, muss na-
türlich – Herr Kuhn, einen Teil Ihrer Argumentation will Vielen Dank.
ich durchaus aufgreifen – auf die internationale Zu-
sammenarbeit übertragen werden. Das heißt, dass man (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
sich mit seinen Partnern auseinander setzen muss. Ange-
sichts der Diskussion im Zusammenhang mit den Verei- Präsident Dr. Norbert Lammert:
nigten Staaten sind auch wir Parlamentarier gefordert. Bevor ich dem letzten Redner dieser Debatte das Wort
Wir sind in der Parlamentarischen Versammlung der erteile, begrüße ich auf der Besuchertribüne eine Dele-
NATO und in der Versammlung der Westeuropäischen gation des Schweizer Nationalrates.
Union vertreten. Wir haben uns dort mit einzubringen
und den Veränderungsprozess, der in den USA zurzeit (Beifall)
stattfindet und sich in der Entlassung des Verteidigungs-
ministers und der Stärkung derjenigen Kräfte ausdrückt, Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir freuen uns über Ih-
die einen anderen Dialog führen wollen, ein Stückchen ren Besuch in Deutschland. Wir würdigen gemeinsam,
zu berücksichtigen und diese Kräfte nicht vor den Kopf wie wir das gestern getan haben, die außerordentlich gu-
zu stoßen. ten und freundschaftlichen Beziehungen zwischen unse-
ren Ländern. Auch die meisten von Ihnen würden es
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) ganz gewiss begrüßen, wenn Ihr Besuch im größten Mit-
Ein konkretes Problem will ich aufgreifen: den Poli- gliedsland der Europäischen Gemeinschaft Ihr Interesse
zeiaufbau in Afghanistan. Dies ist ein Zweig, der die an der EU befördern würde.
zivile Sicherheit verstärken soll. Wir sind dort verant- (Beifall)
wortlich; Herr Dr. Stinner, Sie haben das zu Recht ange-
sprochen. Von der Qualität her machen wir eine ordentli- Nun erteile ich als letztem Redner dieser Debatte dem
che Arbeit; darüber haben wir schon im Parlament Kollegen Holger Haibach für die CDU/CSU-Fraktion
gesprochen. das Wort.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006 6329

(A) Holger Haibach (CDU/CSU): schied zu den Formulierungen im Antrag der Links- (C)
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- partei – ausdrücklich für die Präsenz dieser Truppen
ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auslandseinsätze ausgesprochen.
der Bundeswehr zu beschließen, ist immer ein schwieri-
ges Geschäft. Das erfordert viel Nachdenken und es ist Wenn es richtig ist, dass OEF sozusagen der Rück-
immer eine Gewissensentscheidung. Deswegen habe ich halt, der Backbone des Einsatzes für ISAF ist – diese
großen Respekt vor jedem, der sich heute anders ent- Operation ist natürlich wesentlich mehr; das wissen wir
scheidet. Wir sollten die Debatte aber ehrlich und gut alle und das ist auch in der heutigen Debatte schon deut-
fundiert führen. lich angeklungen –, dann sollten wir auch die Konse-
quenz ziehen und klar sagen: Jawohl, wir unterstützen
Herr Kollege Paech, deshalb sage ich in Ihre Rich- auch weiterhin dieses für die Stabilisierung in Afghanis-
tung: Hören Sie endlich auf, die Dinge miteinander zu tan wichtige und unabdingbare Mandat.
vermischen! Wir reden heute nicht über den Krieg im
Irak, sondern wir reden über die Verlängerung der Ope- Das heißt nicht, dass wir uns nicht auch darüber Ge-
ration „Enduring Freedom“. Das ist etwas, was auf einer danken machen müssen, wie die Zukunft der beiden
ganz klaren völkerrechtlichen Grundlage basiert, was Mandate aussehen muss und wie wir den Stabilisie-
auf einer ganz klaren völkerrechtlichen Grundlage statt- rungsprozess in Afghanistan weiter vorantreiben müs-
findet. Das sollten Sie bitte zur Kenntnis nehmen. sen. Das ist vollkommen richtig. Es bedeutet auch nicht,
dass wir einfach weitermachen können. Wir müssen nur
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- zur Kenntnis nehmen: Momentan ist die Kombination
neten der SPD) aus Operation „Enduring Freedom“, „Active Endea-
vour“ und ISAF nicht ersetzbar. Ich glaube, das ist die
Wenn Sie mir nicht glauben, dann schauen Sie einmal
Grundlage, auf der wir heute diskutieren müssen. Das
in den Antrag der Bundesregierung. Da heißt es in Nr. 2:
müssen wir gemeinsam zur Kenntnis nehmen. Deshalb
Die Fortsetzung erfolgt auf Grundlage des Arti- wird meine Fraktion mit ganz großer Mehrheit ganz
kels 51 der Satzung der Vereinten Nationen, des deutlich sagen: Jawohl, wir unterstützten auch weiterhin
Artikels 5 des Nordatlantikvertrags sowie der Reso- den Kurs, den die Bundesregierung an dieser Stelle ein-
lutionen 1368 (2001) und 1373 (2001) des Sicher- geschlagen hat.
heitsrats der Vereinten Nationen …
(Beifall bei der CDU/CSU)
Man kann hier also wirklich nicht von einem völker-
rechtswidrigen Vorgehen sprechen. Ich finde, Sie sollten Natürlich wurde heute auch viel über Interessen ge-
endlich damit aufhören! sprochen. Es ist über unser Interesse gesprochen worden,
(B) an dieser Stelle zu sagen: Jawohl, die Bekämpfung des (D)
(Beifall bei der CDU/CSU) Terrorismus und die Stabilität in dieser Region sind für
uns wichtige Dinge, die wir leisten wollen und müssen.
Mein zweiter Punkt richtet sich an den Kollegen
Als jemand, der sich inzwischen mehr als vier Jahre lang
Lafontaine: Zu Ihrer Totalverweigerung hat der Kollege
im Bereich der Menschenrechte betätigt, sage ich auch:
Nachtwei interessanterweise während der Debatte, die
Die Stabilisierung kann nur dann funktionieren, wenn
wir vor einem Jahr über diesen Einsatz geführt haben, ei-
wir es schaffen, neben den militärischen Aspekten dieser
nen sehr interessanten Satz gesagt, den ich mit Genehmi-
ganzen Angelegenheit auch alle anderen Maßnahmen,
gung des Präsidenten zitiere:
die zum Beispiel unter die Begriffe Nation Building, De-
Die Konsequenzen Ihrer Forderung, bezogen auf mokratisierungsprozess, Ausbildung, Austausch fallen,
Afghanistan, sind ganz eindeutig und klar: volle anzugehen und konsequent zu verfolgen. Auch das ist in
Bewegungs- und Anschlagsfreiheit für die Taliban- der heutigen Debatte schon sehr häufig angeklungen.
und andere Terrorgruppen und Zerstörung des UN-
Das Folgende, glaube ich, muss an dieser Stelle auch
mandatierten Stabilisierungsprozesses, der schon
erwähnt werden. Wir haben oft erlebt, dass die interna-
schwierig genug ist.
tionale Staatengemeinschaft nach schlimmen Ereignis-
Das war damals wahr, das ist auch heute richtig. Des- sen – denken Sie an Srebrenica, an Ruanda und an viele
halb kann ich die heutige Entscheidung der Grünen ein- andere Katastrophen – gesagt hat: Das wollen wir nicht
fach nicht verstehen und nicht nachvollziehen. noch einmal erleben, das werden wir nicht noch einmal
zulassen. Meine Damen und Herren, es gibt schon genü-
(Beifall bei der CDU/CSU – Winfried Nachtwei gend Gedenktage für schlimme Ereignisse. Lassen Sie
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie et- uns mit der heutigen Entscheidung dafür sorgen, dass in
was von der veränderten Rolle von ISAF mit- Zukunft nicht noch ein weiterer Gedenktag hinzu-
gekriegt? Nein!) kommt!
– Ich weiß, dass Sie sehr gern über die veränderte Rolle
Herzlichen Dank.
von ISAF sprechen, Herr Kollege Nachtwei. Ich würde
Sie gern beim Wort nehmen. Im letzten Jahr haben Sie (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
dazu Folgendes gesagt: neten der SPD)
Umgekehrt: Ohne Enduring Freedom keine ISAF,
keine Stabilisierungschance für Afghanistan. Des- Präsident Dr. Norbert Lammert:
halb hat sich Präsident Karzai – übrigens im Unter- Ich schließe die Aussprache.
6330 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006

Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) Wir kommen nun zur Abstimmung über die Be- ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl (C)
schlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Addicks, Christian Ahrendt, Daniel Bahr (Müns-
Drucksache 16/3321 zum Antrag der Bundesregierung ter), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
zur Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deutscher FDP
Streitkräfte bei der Unterstützung der gemeinsamen Reak-
Mehr Freiheit wagen
tion auf terroristische Angriffe gegen die USA. Der Aus-
schuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 16/3150 an- – Drucksache 16/3288 –
zunehmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
Mir liegen hierzu eine Reihe von persönlichen Erklä- diese Aussprache wiederum eineinviertel Stunden vor-
rungen nach § 31 unserer Geschäftsordnung aus der gesehen. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen vor, die wir zu das so beschlossen.
Protokoll nehmen.1) Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
Für diese Abstimmung ist namentliche Abstimmung der Kollege Rainer Brüderle für die FDP-Fraktion.
verlangt worden. Ich bitte die Schriftführerinnen und (Beifall bei der FDP)
Schriftführer, die Plätze einzunehmen. – Ich eröffne die
Abstimmung.
Rainer Brüderle (FDP):
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die so ge-
Stimme nicht abgeben konnte? – Das scheint nicht der nannte große Koalition ist seit ziemlich genau einem
Fall zu sein. Dann schließe ich die Abstimmung und Jahr im Amt. Die Bundeskanzlerin sprach in ihrer Regie-
bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der rungserklärung am 30. November letzten Jahres von ei-
Auszählung zu beginnen. Wie immer geben wir Ihnen ner „Koalition der neuen Möglichkeiten“. Aus dieser
das Ergebnis der Abstimmung später, vermutlich wäh- „Koalition der neuen Möglichkeiten“ ist längst eine Ko-
rend des nächsten Tagesordnungspunktes, bekannt.2) alition geworden, der fast nichts möglich ist. Sie sind
nicht in der Lage, am Arbeitsmarkt die notwendigen Re-
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ent- formen durchzuführen. Sie sind nicht in der Lage, in der
schließungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/ Gesundheitspolitik mehr Wahlfreiheit zuzulassen. Selbst
Die Grünen auf Drucksache 16/3366. Wer stimmt für in diesem Jahr, wo die Steuerquellen sprudeln wie seit
diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – vielen Jahren nicht mehr, schaffen Sie es nicht, einen
Wer möchte sich der Stimme enthalten? – Dann ist der verfassungskonformen Haushalt vorzulegen. Das belegt,
(B) Entschließungsantrag abgelehnt. dass Sie das, was Sie sich vorgenommen haben, nicht (D)
hinbekommen.
Tagesordnungspunkt 29 b, Abstimmung über die Be-
Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der ge-
schlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf
samtwirtschaftlichen Entwicklung hat vorgestern der
Drucksache 16/3322 zu dem von der Fraktion Die Linke
Bundesregierung deutlich ins Stammbuch geschrieben,
eingebrachten Entschließungsantrag zu dem Antrag der dass sie das Jahr nicht genutzt hat. Vor einem Jahr trug
Bundesregierung zur Fortsetzung des Einsatzes bewaff- das Gutachten den Titel „Die Chance nutzen – Reformen
neter deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung der ge- mutig voranbringen“.
meinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe gegen
die USA. Der Ausschuss empfiehlt, den Entschließungs- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Richtig!)
antrag auf Drucksache 16/3151 abzulehnen. Wer stimmt
Dieses Jahr lautete er „Widerstreitende Interessen – Un-
für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – genutzte Chancen“. Sie haben die Chancen nicht ge-
Wer enthält sich der Stimme? – Die Beschlussempfeh- nutzt. Es ist schwarz auf weiß belegt, dass Sie nichts da-
lung ist mit Mehrheit angenommen. raus gemacht haben.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 30 und (Beifall bei der FDP)
zum Zusatzpunkt 8:
Es kommt einem fast so vor, als ob Sie auf der Roll-
30 Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten treppe rückwärts gehen und uns erläutern wollen, es geht
Jürgen Koppelin, Jens Ackermann, Dr. Karl bei Ihnen zügig bergauf.
Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP Ich darf zitieren, was der saarländische Ministerpräsi-
dent Peter Müller – CDU, falls es niemand weiß – ges-
Prüfplanung der Bundesregierung aufgrund tern gesagt hat. Er sprach von den „quälenden Mei-
des Koalitionsvertrages in der 16. Legislatur- nungsbildungsprozessen in der Koalition“ und sagte
periode wörtlich:

– Drucksachen 16/926, 16/2468 – Viele hatten die falsche Vorstellung, dass große Ko-
alition gleichbedeutend ist mit großer Veränderung.
1) Anlagen 3 und 4 Der Mann hat Recht. Sie schaffen keine wesentlichen
2) Ergebnis Seite 6331 D Veränderungen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006 6331
Rainer Brüderle
(A) Wann gab es denn je eine bessere Zeit als jetzt, da die gelegt – der Fall ist. Sie haben es Ihnen deutlich gesagt: (C)
Konjunktur Gott sei Dank angesprungen ist und sich be- Es ist ein Armutszeugnis, wenn man antritt, die Lohnne-
schleunigt? Das ist am wenigsten das Verdienst dieser benkosten durch eine Gesundheitsreform zu reduzieren,
Regierung. Durch die Restrukturierungsmaßnahmen der und mit einer erheblichen Beitragssteigerung einsteigt.
deutschen Wirtschaft, die boomende Weltwirtschaft und Auch hier tun Sie das Gegenteil von dem, was Sie ange-
die moderaten und vernünftigen Lohnabschlüsse wurde kündigt haben.
die Basis für diese Belebung gelegt, aufgrund deren auch
sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze entstehen und (Beifall bei der FDP)
sich das Wachstum beschleunigt. Sie müssen eine konsistente, anspruchsvolle und ehr-
Sie sind den Ratschlägen der Sachverständigen, den geizige Politik machen und nicht im Konjunktiv – wenn,
beginnenden Aufschwung nicht gleich wieder mit der vielleicht und sonst was – verharren und in die Außenpo-
Mehrwertsteuerkeule abzuwürgen, aber nicht gefolgt. litik flüchten. Ich ahne schon, was im nächsten halben
Sie tun das Gegenteil von der Beschleunigung des Jahr passiert, wenn wir sowohl in der EU als auch in der
Wachstums und der Schaffung von mehr Arbeitsplätzen. G 8 die Präsidentschaft innehaben: Außenpolitische Auf-
Sie würgen die Entwicklung durch die Erhöhung der tritte werden zelebriert und zu Hause wird das Notwen-
Mehrwertsteuer ein Stück weit ab. dige nicht getan. Nein, die Politik muss mit der Erledi-
gung der Hausaufgaben anfangen und das Elementare in
Ich finde es zutiefst unredlich – der Begriff ist Ordnung bringen.
schlecht, aber Sie benutzen ihn –, von der Unterschicht
zu reden und denen, die im Schatten der Gesellschaft Sie müssen jetzt die Chance nutzen, bei einer sich be-
stehen, mit der Erhöhung der Mehrwertsteuer das Leben schleunigenden Wirtschaft Reformen durchzuführen, da-
zusätzlich zu erschweren, mit wir auf Dauer auf einen höheren Wachstumspfad
kommen und den fast 6 Millionen Menschen, die immer
(Beifall bei der FDP) noch keine Arbeit haben – 4 Millionen Menschen sind es
wodurch Sie den Konsum, den Sie anregen müssten, ab- laut Statistik, die anderen befinden sich in ABM und an-
bremsen. Es ist doch keine aufrichtige Diskussion, von deren Maßnahmen –, eine echte Chance geben. Nutzen
den Betroffenen zu reden, die Probleme zu beschreiben Sie die Chancen und verschlafen Sie die Chancen nicht!
und ihnen gleichzeitig eines drüberzugeben. Das ist
(Beifall bei der FDP)
wahrlich keine in sich schlüssige Politik.
Meine Damen und Herren, Sie müssen sich in der Präsident Dr. Norbert Lammert:
großen Koalition entscheiden, was Sie wollen. Wollen
(B) Sie verwalten oder wollen Sie gestalten? Die Roten be- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich kann Ihnen nun (D)
das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermit-
wachen die Schwarzen und die Schwarzen bewachen die
telte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die
Roten. Die Selbstblockade ist vollkommen. Im Schlaf-
Beschlussempfehlung zu dem Antrag der Bundesregie-
wagen werden Sie die Zukunft aber nicht gewinnen. Sie
rung auf Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deutscher
müssen schon den Mut zur Veränderung haben und an
Streitkräfte mitteilen. Es geht um die vorhin mehrfach zi-
die Lösung der Probleme herangehen.
tierten Drucksachen 16/3150 und 16/3321. Abgegebene
Die Raison d’Être dieser großen Koalition muss sein, Stimmen 563. Mit Ja haben gestimmt 436, mit Nein ha-
schwierige Reformprozesse anzukurbeln, und nicht, die ben gestimmt 101, enthalten haben sich 26 Mitglieder des
Situation noch zu verschlechtern, wie das bei der Ge- Hauses. Damit ist die Beschlussempfehlung angenom-
sundheitsreform – das haben die Sachverständigen dar- men.

Endgültiges Ergebnis Norbert Barthle Dr. Ralf Brauksiepe Dr. Maria Flachsbarth
Abgegebene Stimmen: 563; Günter Baumann Monika Brüning Klaus-Peter Flosbach
davon Ernst-Reinhard Beck Georg Brunnhuber Herbert Frankenhauser
(Reutlingen) Gitta Connemann Dr. Hans-Peter Friedrich
ja: 436
Veronika Bellmann Alexander Dobrindt (Hof)
nein: 101 Dr. Christoph Bergner Thomas Dörflinger Erich G. Fritz
enthalten: 26 Otto Bernhardt Marie-Luise Dött Jochen-Konrad Fromme
Clemens Binninger Maria Eichhorn Dr. Michael Fuchs
Carl-Eduard von Bismarck Georg Fahrenschon Hans-Joachim Fuchtel
Ja
Peter Bleser Ilse Falk Dr. Jürgen Gehb
CDU/CSU Antje Blumenthal Dr. Hans Georg Faust Norbert Geis
Dr. Maria Böhmer Enak Ferlemann Michael Glos
Ulrich Adam Jochen Borchert Ingrid Fischbach Ralf Göbel
Ilse Aigner Wolfgang Bosbach Hartwig Fischer (Göttingen) Dr. Reinhard Göhner
Peter Altmaier Klaus Brähmig Dirk Fischer (Hamburg) Josef Göppel
Dorothee Bär Michael Brand Axel E. Fischer (Karlsruhe- Peter Götz
Thomas Bareiß Helmut Brandt Land) Dr. Wolfgang Götzer
6332 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006

Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) Reinhard Grindel Hans Michelbach Antje Tillmann Sigmar Gabriel (C)
Hermann Gröhe Philipp Mißfelder Dr. Hans-Peter Uhl Martin Gerster
Markus Grübel Dr. Eva Möllring Volkmar Uwe Vogel Iris Gleicke
Manfred Grund Marlene Mortler Andrea Astrid Voßhoff Günter Gloser
Monika Grütters Carsten Müller Gerhard Wächter Angelika Graf (Rosenheim)
Karl-Theodor Freiherr zu (Braunschweig) Marco Wanderwitz Dieter Grasedieck
Guttenberg Stefan Müller (Erlangen) Kai Wegner Monika Griefahn
Olav Gutting Bernward Müller (Gera) Peter Weiß (Emmendingen) Kerstin Griese
Holger Haibach Dr. Gerd Müller Gerald Weiß (Groß-Gerau) Gabriele Groneberg
Gerda Hasselfeldt Dr. Georg Nüßlein Ingo Wellenreuther Achim Großmann
Ursula Heinen Franz Obermeier Karl-Georg Wellmann Wolfgang Grotthaus
Uda Carmen Freia Heller Eduard Oswald Anette Widmann-Mauz Wolfgang Gunkel
Michael Hennrich Henning Otte Klaus-Peter Willsch Hans-Joachim Hacker
Jürgen Herrmann Rita Pawelski Elisabeth Winkelmeier- Bettina Hagedorn
Bernd Heynemann Dr. Peter Paziorek Becker Klaus Hagemann
Ernst Hinsken Ulrich Petzold Matthias Wissmann Alfred Hartenbach
Peter Hintze Dr. Joachim Pfeiffer Dagmar Wöhrl Michael Hartmann
Robert Hochbaum Sibylle Pfeiffer Wolfgang Zöller (Wackernheim)
Klaus Hofbauer Dr. Friedbert Pflüger Willi Zylajew Nina Hauer
Franz-Josef Holzenkamp Beatrix Philipp Hubertus Heil
Joachim Hörster Ronald Pofalla SPD Rolf Hempelmann
Anette Hübinger Ruprecht Polenz Dr. Barbara Hendricks
Hubert Hüppe Daniela Raab Dr. Lale Akgün Gustav Herzog
Susanne Jaffke Thomas Rachel Gerd Andres Petra Heß
Dr. Peter Jahr Dr. Peter Ramsauer Rainer Arnold Gabriele Hiller-Ohm
Dr. Hans-Heinrich Jordan Peter Rauen Ernst Bahr (Neuruppin) Stephan Hilsberg
Andreas Jung (Konstanz) Eckhardt Rehberg Doris Barnett Gerd Höfer
Dr. Franz Josef Jung Katherina Reiche (Potsdam) Sören Bartol Iris Hoffmann (Wismar)
Bartholomäus Kalb Klaus Riegert Sabine Bätzing Frank Hofmann (Volkach)
Hans-Werner Kammer Dr. Heinz Riesenhuber Dirk Becker Eike Hovermann
Steffen Kampeter Franz Romer Uwe Beckmeyer Klaas Hübner
Alois Karl Johannes Röring Klaus Uwe Benneter Christel Humme
Bernhard Kaster Kurt J. Rossmanith Dr. Axel Berg Lothar Ibrügger
Siegfried Kauder (Villingen- Dr. Norbert Röttgen Ute Berg Brunhilde Irber
Schwenningen) Dr. Christian Ruck Petra Bierwirth Johannes Jung (Karlsruhe)
(B) Lothar Binding (Heidelberg) (D)
Volker Kauder Albert Rupprecht (Weiden) Josip Juratovic
Eckart von Klaeden Peter Rzepka Kurt Bodewig Johannes Kahrs
Jürgen Klimke Anita Schäfer (Saalstadt) Clemens Bollen Ulrich Kasparick
Julia Klöckner Hermann-Josef Scharf Gerd Bollmann Dr. h. c. Susanne Kastner
Jens Koeppen Dr. Wolfgang Schäuble Dr. Gerhard Botz Ulrich Kelber
Kristina Köhler (Wiesbaden) Hartmut Schauerte Klaus Brandner Christian Kleiminger
Manfred Kolbe Dr. Annette Schavan Willi Brase Hans-Ulrich Klose
Dr. Rolf Koschorrek Dr. Andreas Scheuer Bernhard Brinkmann Astrid Klug
Hartmut Koschyk Karl Schiewerling (Hildesheim) Walter Kolbow
Thomas Kossendey Georg Schirmbeck Edelgard Bulmahn Fritz Rudolf Körper
Michael Kretschmer Bernd Schmidbauer Ulla Burchardt Karin Kortmann
Gunther Krichbaum Christian Schmidt (Fürth) Martin Burkert Rolf Kramer
Dr. Günter Krings Andreas Schmidt (Mülheim) Dr. Michael Bürsch Anette Kramme
Dr. Martina Krogmann Ingo Schmitt (Berlin) Christian Carstensen Nicolette Kressl
Johann-Henrich Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Herta Däubler-Gmelin Angelika Krüger-Leißner
Krummacher Dr. Ole Schröder Karl Diller Dr. Hans-Ulrich Krüger
Dr. Hermann Kues Bernhard Schulte-Drüggelte Martin Dörmann Jürgen Kucharczyk
Dr. Karl Lamers (Heidelberg) Uwe Schummer Dr. Carl-Christian Dressel Helga Kühn-Mengel
Andreas G. Lämmel Wilhelm Josef Sebastian Elvira Drobinski-Weiß Ute Kumpf
Dr. Norbert Lammert Horst Seehofer Garrelt Duin Dr. Uwe Küster
Katharina Landgraf Kurt Segner Detlef Dzembritzki Christine Lambrecht
Dr. Max Lehmer Bernd Siebert Sebastian Edathy Christian Lange (Backnang)
Paul Lehrieder Thomas Silberhorn Siegmund Ehrmann Dr. Karl Lauterbach
Ingbert Liebing Johannes Singhammer Hans Eichel Waltraud Lehn
Eduard Lintner Jens Spahn Gernot Erler Helga Lopez
Dr. Klaus W. Lippold Erika Steinbach Petra Ernstberger Gabriele Lösekrug-Möller
Dr. Michael Luther Christian Freiherr von Stetten Karin Evers-Meyer Caren Marks
Stephan Mayer (Altötting) Gero Storjohann Annette Faße Katja Mast
Wolfgang Meckelburg Andreas Storm Elke Ferner Markus Meckel
Dr. Michael Meister Max Straubinger Gabriele Fograscher Petra Merkel (Berlin)
Dr. Angela Merkel Thomas Strobl (Heilbronn) Rainer Fornahl Dr. Matthias Miersch
Friedrich Merz Lena Strothmann Gabriele Frechen Ursula Mogg
Maria Michalk Michael Stübgen Peter Friedrich Marko Mühlstein
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006 6333
Präsident Dr. Norbert Lammert
(A) Detlef Müller (Chemnitz) Gert Weisskirchen Wolfgang Börnsen Petra Pau (C)
Michael Müller (Düsseldorf) (Wiesloch) (Bönstrup) Elke Reinke
Gesine Multhaupt Dr. Rainer Wend Hubert Deittert Paul Schäfer (Köln)
Dr. Rolf Mützenich Lydia Westrich Norbert Königshofen Dr. Ilja Seifert
Andrea Nahles Dr. Margrit Wetzel Henry Nitzsche Dr. Petra Sitte
Thomas Oppermann Andrea Wicklein Michaela Noll Frank Spieth
Holger Ortel Heidemarie Wieczorek-Zeul Norbert Schindler Dr. Kirsten Tackmann
Johannes Pflug Dr. Dieter Wiefelspütz Willy Wimmer (Neuss) Dr. Axel Troost
Joachim Poß Engelbert Wistuba Alexander Ulrich
Christoph Pries Heidi Wright SPD Jörn Wunderlich
Florian Pronold Manfred Zöllmer Sabine Zimmermann
Gregor Amann
Dr. Sascha Raabe
Ingrid Arndt-Brauer
Mechthild Rawert FDP BÜNDNIS 90/
Steffen Reiche (Cottbus) Klaus Barthel
Marco Bülow DIE GRÜNEN
Maik Reichel Jens Ackermann
Gerold Reichenbach Dr. Karl Addicks Dr. Peter Danckert Volker Beck (Köln)
Dr. Carola Reimann Christian Ahrendt Renate Gradistanac Cornelia Behm
Christel Riemann- Daniel Bahr (Münster) Reinhold Hemker Alexander Bonde
Hanewinckel Rainer Brüderle Ernst Kranz Ekin Deligöz
Walter Riester Angelika Brunkhorst Dirk Manzewski Kai Gehring
Sönke Rix Patrick Döring Lothar Mark Britta Haßelmann
Dr. Ernst Dieter Rossmann Mechthild Dyckmans Hilde Mattheis Winfried Hermann
Karin Roth (Esslingen) Jörg van Essen Christoph Strässer Peter Hettlich
Michael Roth (Heringen) Ulrike Flach Dr. Wolfgang Wodarg Ulrike Höfken
Ortwin Runde Otto Fricke Dr. Anton Hofreiter
Marlene Rupprecht Horst Friedrich (Bayreuth) FDP Bärbel Höhn
(Tuchenbach) Dr. Christel Happach-Kasan Uwe Barth Ute Koczy
Anton Schaaf Elke Hoff Joachim Günther (Plauen) Sylvia Kotting-Uhl
Axel Schäfer (Bochum) Birgit Homburger Jürgen Koppelin Fritz Kuhn
Bernd Scheelen Dr. Werner Hoyer Sabine Leutheusser- Renate Künast
Dr. Hermann Scheer Michael Kauch Schnarrenberger Undine Kurth (Quedlinburg)
Marianne Schieder Hellmut Königshaus Markus Kurth
Otto Schily Gudrun Kopp DIE LINKE Monika Lazar
Ulla Schmidt (Aachen) Heinz Lanfermann Dr. Reinhard Loske
Silvia Schmidt (Eisleben) Hüseyin-Kenan Aydin
(B) Sibylle Laurischk Jerzy Montag (D)
Heinz Schmitt (Landau) Karin Binder
Harald Leibrecht Winfried Nachtwei
Carsten Schneider (Erfurt) Dr. Lothar Bisky
Ina Lenke Brigitte Pothmer
Olaf Scholz Heidrun Bluhm
Horst Meierhofer Claudia Roth (Augsburg)
Ottmar Schreiner Eva Bulling-Schröter
Patrick Meinhardt Elisabeth Scharfenberg
Reinhard Schultz Dr. Martina Bunge
Jan Mücke Christine Scheel
(Everswinkel) Roland Claus
Burkhardt Müller-Sönksen Irmingard Schewe-Gerigk
Ewald Schurer Dr. Diether Dehm
Dirk Niebel Dr. Gerhard Schick
Dr. Angelica Schwall-Düren Werner Dreibus
Hans-Joachim Otto Dr. Dagmar Enkelmann Hans-Christian Ströbele
Dr. Martin Schwanholz Dr. Harald Terpe
Rolf Schwanitz (Frankfurt) Klaus Ernst
Detlef Parr Wolfgang Gehrcke Jürgen Trittin
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Margrit Spielmann Cornelia Pieper Diana Golze
Gisela Piltz Dr. Gregor Gysi fraktionslos
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt Jörg Rohde Heike Hänsel Gert Winkelmeier
Andreas Steppuhn Frank Schäffler Lutz Heilmann
Ludwig Stiegler Dr. Konrad Schily Cornelia Hirsch
Marina Schuster Inge Höger-Neuling
Enthalten
Rolf Stöckel
Dr. Peter Struck Dr. Hermann Otto Solms Dr. Barbara Höll
CDU/CSU
Joachim Stünker Dr. Rainer Stinner Ulla Jelpke
Dr. Rainer Tabillion Carl-Ludwig Thiele Dr. Lukrezia Jochimsen Peter Albach
Jörg Tauss Florian Toncar Dr. Hakki Keskin Renate Blank
Jella Teuchner Christoph Waitz Katja Kipping
Dr. h. c. Wolfgang Thierse Dr. Guido Westerwelle Monika Knoche SPD
Jörn Thießen Dr. Claudia Winterstein Jan Korte
Dr. Bärbel Kofler
Franz Thönnes Dr. Volker Wissing Katrin Kunert
Dr. Wilhelm Priesmeier
Hans-Jürgen Uhl Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Oskar Lafontaine
Frank Schwabe
Rüdiger Veit Martin Zeil Dr. Gesine Lötzsch
Simone Violka Ulrich Maurer
FDP
Jörg Vogelsänger Dorothee Menzner
Dr. Marlies Volkmer
Nein Kornelia Möller Dr. Edmund Peter Geisen
Hedi Wegener Kersten Naumann Miriam Gruß
CDU/CSU
Andreas Weigel Wolfgang Nešković Dr. Heinrich L. Kolb
Petra Weis Dr. Wolf Bauer Dr. Norman Paech Dr. Max Stadler
6334 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006

Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) BÜNDNIS 90/ Matthias Berninger Katrin Göring-Eckardt Krista Sager (C)
DIE GRÜNEN Grietje Bettin Priska Hinz (Herborn) Rainder Steenblock
Dr. Thea Dückert Anna Lührmann Silke Stokar von Neuforn
Marieluise Beck (Bremen) Dr. Uschi Eid Kerstin Müller (Köln) Wolfgang Wieland
Birgitt Bender Hans Josef Fell Omid Nouripour Margareta Wolf (Frankfurt)

Wir setzen die Aussprache zu Tagesordnungspunkt 30 Sanieren, investieren und reformieren, so lautet das
und Zusatzpunkt 8 fort. Nächster Redner ist der Kollege Motto der großen Koalition. Die ersten gesetzgeberi-
Dr. Michael Meister für die CDU/CSU-Fraktion. schen Maßnahmen zur Haushaltskonsolidierung und zur
Förderung von Wachstum und Beschäftigung hat die
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
große Koalition auf den Weg gebracht.
neten der SPD)
Herr Brüderle, Sie haben eben gesagt, es sei nicht das
Dr. Michael Meister (CDU/CSU): Verdienst der Politik, dass es in Deutschland aufwärts
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und geht. Dazu sage ich Ihnen: Das ist vielleicht nicht das al-
Herren! Lieber Kollege Brüderle, wenn Sie vor einem leinige Verdienst der Politik. Aber mit denen im Hause,
halben Jahr, im März, gewusst hätten, wie die Bilanz der die diese Maßnahmen zur Haushaltskonsolidierung und
großen Koalition nach einem Jahr aussehen würde, dann zur Förderung von Wachstum und Beschäftigung abge-
hätten Sie wahrscheinlich darauf verzichtet, Ihre Große lehnt haben, wäre es bestimmt nicht aufwärts gegangen.
Anfrage, die heute zur Debatte steht, einzubringen. Deshalb haben Sie an diesem Aufschwung auf keinen
Fall ein Verdienst. Wenn daran jemand ein Verdienst hat,
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dann sind es diejenigen, die im ersten Jahr mutig zuge-
neten der SPD) packt haben.
Auch wenn Sie gerade am Telefon die neuesten Infor- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
mationen einholen: Mit Ihren Erwartungen, die Sie in neten der SPD)
der Großen Anfrage formuliert haben, liegen Sie voll da-
neben. Die große Koalition kann nämlich nach zwölf Die erste Herausforderung ist das Thema Wachstum.
Monaten eine gute Zwischenbilanz vorweisen. Deshalb In den Konjunkturprognosen des Sachverständigenrates
möchte ich mich für diese Debatte ganz herzlich bei Ih- – Sie haben ihn eben zitiert, Herr Brüderle – wird für
nen bedanken; denn sie gibt uns Gelegenheit, heute über dieses Jahr von einem Wachstum von 2,4 und für nächs-
(B) tes Jahr von 1,8 Prozent ausgegangen. (D)
die tolle Bilanz der großen Koalition nach einem Jahr zu
diskutieren. (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Ist das jetzt ein
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Schröder- oder ein Merkel-Aufschwung?)
neten der SPD – Jörg van Essen [FDP]: In was Auch im nächsten Jahr bleiben die Wachstumskräfte
für einer Traumwelt leben Sie?) trotz der Erhöhung der Mehrwertsteuer bestehen. Das ist
Sehr geehrter Herr Westerwelle, liebe Kollegen von nach mehreren Jahren der Stagnation – so der Sachver-
der FDP, ich darf zunächst einmal aus Ihrer Großen An- ständigenrat – eine bemerkenswert positive Entwick-
frage zitieren, damit wir wissen, worüber wir reden. lung. Das heißt, selbst der Sachverständigenrat attestiert
uns in seinem Gutachten, dass es in die richtige Richtung
(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Ich habe doch geht.
gar nichts gesagt!)
(Jörg van Essen [FDP]: Verpasste Chancen!)
Deutschland steht vor großen Herausforderungen.
Knapp fünf Millionen Menschen sind offiziell ar- Dennoch werden wir als große Koalition die Herausfor-
beitslos … Deutschland befindet sich in einer struk- derung, das potenzielle Wachstum in Deutschland zu
turellen Wachstums- und Beschäftigungskrise. Die stärken, weiter entschlossen angehen.
öffentlichen Kassen sind in eine nie gekannte Schief- Die zweite Herausforderung ist der Arbeitsmarkt.
lage geraten.
Der konjunkturelle Aufschwung hat dazu geführt, dass
So viel aus Ihrer Großen Anfrage. die Binnenwirtschaft und der Arbeitsmarkt positiv belebt
worden sind. Eine halbe Million Arbeitslose weniger als
Ich darf zunächst einmal festhalten: Ja, wir stehen in vor einem Jahr! Wenn wir das vor einem Jahr angekün-
Deutschland vor großen Herausforderungen. Womit Sie digt hätten, dann hätte das kein Mensch in der Republik
als Antragsteller allerdings nicht gerechnet haben, ist, geglaubt. Aber die große Koalition hat dieses Ziel er-
dass diese große Koalition die Herausforderungen an- reicht. Darüber sollte man sich doch freuen.
nimmt und meistern wird.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
neten der SPD – Steffen Kampeter [CDU/
CSU]: Meistern ist richtig! – Dr. Guido Wir haben noch etwas erreicht. Wir schaffen jeden
Westerwelle [FDP]: Das hat ja etwas von einer Tag in Deutschland etwa tausend neue sozialversiche-
Realsatire!) rungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006 6335
Dr. Michael Meister
(A) (Otto Fricke [FDP]: Sie? – Carl-Ludwig Thiele Wir sind hier in Berlin und nicht in Mainz auf dem Fa- (C)
[FDP]: Die Wirtschaft macht das!) sching; wir sind bei der Lösung von ernsthaften politi-
schen Problemen unseres Landes.
– Ja, natürlich schaffen wir das. Das ist, wie ich gesagt
habe, auch ein Verdienst der großen Koalition. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sie haben zu Recht gesagt, dass der Aufwärtstrend
teilweise konjunkturell bedingt sei. Wir wissen das und
Auf die Maßnahmen werde ich gleich noch zu sprechen wollen dann, wenn auf der Seite der Konjunktur die
kommen. Diejenigen, die nur populistisch daherreden Sonne scheint, die Strukturen in unserem Land verän-
und keine Alternative aufzeigen, haben daran bestimmt dern und damit nicht warten, bis es wieder stürmt und
kein Verdienst. schneit. Deshalb packen wir die Strukturveränderungen
an.
Ich habe eben gesagt, dass wir als Politik an diesem
Aufschwung nicht das alleinige Verdienst haben. Ich Wir haben einiges erledigt: Die Föderalismusreform I
möchte an dieser Stelle ausdrücklich unterstreichen: Ein ist von dieser Koalition abgeschlossen worden. Das
Teil dieses Verdienstes ist auch dem Mitwirken der Ta- sollte man anerkennen. Wir haben eine Hightechstrate-
rifpartner geschuldet. Für die verantwortliche Haltung gie auf den Weg gebracht, um unser Land im Bereich In-
der Tarifpartner für mehr Arbeitsplätze in Deutschland novationen nach vorn zu bringen. Der Bürokratieabbau
möchte ich ausdrücklich danke sagen. Damit haben sie ist auf den Weg gebracht. Auch das ist nicht nur ein Ne-
der Politik und allen Menschen in unserem Lande sehr benfeld, auf dem nichts geschieht. Auch wenn tolle po-
geholfen. Ich hoffe, dass wir diese gemeinsamen An- pulistische Reden dagegen gehalten werden: Es wird an-
strengungen fortsetzen. gepackt, es wird vorangebracht und es geschieht etwas.

(Beifall bei der CDU/CSU) Im Zusammenhang mit Populismus und Strukturrefor-


men möchte ich noch das Thema Rente mit 67 nennen.
Wir nehmen die Herausforderung von 4 Millionen Wir alle müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Lebens-
Arbeitslosen an. Wir sind mit dem Rückgang der Ar- erwartung der Menschen in unserem Land erfreulicher-
beitslosigkeit um eine halbe Million nicht zufrieden. weise wächst. Will man verantwortlich mit dem Thema
Vielmehr müssen wir die Zahl von 4 Millionen Arbeits- Alterssicherung umgehen, muss man sich die Frage stel-
losen weiter reduzieren. Daran werden wir in der Zu- len: Müssen wir nicht die Lebensarbeitszeit dieser wach-
kunft arbeiten. senden Lebenserwartung anpassen?
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Völlig rich-
(B) tig!) (D)
Die dritte Herausforderung ist der Bundeshaushalt.
Wir alle haben die positiven Zahlen der Steuerschätzung Das ist kein populäres Thema. Dennoch stellt sich diese
gehört. Für uns hat die Rückführung der Nettokredit- Koalition dieser Aufgabe in großer Verantwortung vor
aufnahme erste Priorität. Als wir die Koalitionsver- der Zukunft der Menschen in unserem Land, auch wenn
handlungen begonnen haben, Herr Kollege Scholz, sind sie dafür nicht mit Beifall bedacht wird.
wir bei der Nettokreditaufnahme von einem Niveau von (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
etwa 40 Milliarden Euro pro Jahr ausgegangen. In dem neten der SPD – Dr. Guido Westerwelle
Bundeshaushalt für 2007, über den wir in der nächsten [FDP]: Richtigerweise!)
Sitzungswoche diskutieren werden, wird eine Nettokre-
ditaufnahme von 19,6 Milliarden Euro stehen. Das ist Jetzt komme ich zum Thema höhere Belastungen.
eine Halbierung binnen eines Jahres. Vor diesem Hinter- Herr Brüderle, Sie haben es vorhin angesprochen. Sie
grund kann man sich doch nicht hinstellen und erklären, sind jedoch auf einem Auge blind. Wir sorgen nämlich
dass nichts geschieht. Das ist eine gewaltige Leistung zum 1. Januar 2007 für die größte Entlastung in diesem
dieser Koalition und ein Sprung nach vorne. Mir ist aber Land,
auch eine Nettokreditaufnahme von etwa 20 Milliar- (Otto Fricke [FDP]: Aha!)
den Euro zu viel. Deswegen werden wir den Weg der
Konsolidierung weiter beschreiten, Herr Brüderle. und zwar in einem Bereich, der für die Zukunft der Men-
schen wichtig ist: bei den Arbeitskosten, bei den Lohn-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nebenkosten.
Ich habe Ihnen aufgezeigt, wie die drei großen He- (Matthias Berninger [BÜNDNIS 90/
rausforderungen – Arbeitsmarkt, Wachstum und Staats- DIE GRÜNEN]: Bitte?)
haushalt – angegangen worden sind. Wir werden in 2007
die niedrigste Nettokreditaufnahme seit der Wiederver- Die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung sinken um
einigung haben. Hier muss man doch anerkennen, dass 2,3 Prozent. Auch das sollte man gelegentlich einmal er-
es nach vorn geht, und kann nicht einfach wie während wähnen.
der fünften Jahreszeit in Mainz erklären: Das wollen wir (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
alles nicht hören.
Auch wenn der eine oder andere diese Entscheidung
(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Nichts gegen nicht mitträgt, bin ich persönlich der Meinung, dass die
Mainz!) Strategie, den Haushalt zu sanieren, zu konsolidieren
6336 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006

Dr. Michael Meister


(A) und gleichzeitig auf günstigere Arbeitsmarktkonditionen brauchen. Ich bin der Meinung, das ist für dieses Land (C)
zu setzen, die richtige Strategie ist. Dies hat eine nach- strukturell ein klarer Schritt nach vorne.
haltige Wirkung auf die Konsolidierung und führt
gleichzeitig zu mehr Beschäftigung und damit zu mehr (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Wohlstand für die Menschen. Deshalb werden wir diesen neten der SPD)
Weg entschlossen weitergehen. Ich möchte dem Bundeskabinett dafür danken, dass es
zur Erleichterung der Unternehmensnachfolge den
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Entwurf eines Gesetzes zur Erbschaftsteuerreform be-
neten der SPD)
schlossen und auf den parlamentarischen Weg gebracht
Die Sachverständigen haben zur Einigung bei der hat.
Unternehmensteuerreform nicht Stellung genommen. (Vorsitz: Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt)
Auch hierzu haben wir gemeinsam klare Eckpunkte vor-
gelegt. Wir verbessern damit die Investitionsbedingun- Damit wird endlich dafür gesorgt, dass angesichts von
gen am Standort Deutschland, schaffen mehr Investitio- knapp 50 000 Unternehmensnachfolgen pro Jahr die ent-
nen in Deutschland und verbessern damit die Chancen sprechenden Arbeitsplätze nicht zum Beispiel deshalb
auf mehr Arbeitsplätze. Das bringt den Menschen auch abgebaut werden, weil bei der Übernahme Liquidität
mehr Wohlstand. „Mehr Arbeitsplätze in Deutschland“ verloren geht. Es wird ein Beitrag dazu geleistet, dass
ist auch eine Ansage gegen das Thema Unterschicht, ein junger Mensch, der die Chance hat, in ein Unterneh-
Herr Brüderle. Nicht populistische Reden, sondern bes- men einzutreten und dort ein Risiko zu tragen und Ver-
sere Chancen auf dem Arbeitsmarkt brauchen die Men- antwortung zu übernehmen, vom Staat eine Hilfestel-
schen. Daran wollen wir gemeinsam arbeiten. Die Koali- lung bekommt, statt belastet zu werden. Deshalb tun wir
tion bringt die Dinge entsprechend voran. das.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wir sind sehr aktiv, wenn es um Existenzgründungen
neten der SPD) und die Schaffung neuer Arbeitsplätze geht. Wir sollten
uns aber in diesem Sinne auch darum kümmern, dass
Wir sorgen nicht nur für günstigere Rahmenbedin- Unternehmen an unserem Standort, die lebensfähig sind,
gungen, damit Unternehmen hier mehr investieren. Wir in der Phase der Erbfolge bzw. des Unternehmensüber-
sorgen auch dafür, dass die Unternehmensgewinne, die gangs erhalten bleiben und nicht durch staatliche Ein-
in Deutschland erwirtschaftet werden, hier der Besteue- griffe behindert werden.
rung unterzogen werden. Das ist ein wichtiges Anliegen
und kein ökonomischer Unsinn. (Beifall bei der CDU/CSU)
(B)
(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Na, na!) Lassen Sie mich etwas zur Mittelstandsinitiative der (D)
Bundesregierung sagen. Es wird immer behauptet, im
Ich bin gespannt, wo Sie am Ende stehen: ob Sie die- Hinblick auf den Mittelstand geschehe nichts. Doch wir
jenigen unterstützen, die ihre Gewinne über die Landes- sind den Abbau bürokratischer Hindernisse ent-
grenze schieben, oder ob Sie dafür sorgen, dass die Ge- schlossen angegangen. Wir verfolgen dabei einen neuen
winne, die in Deutschland erwirtschaftet werden, auch Ansatz, der aus den Niederlanden stammt. Die Stich-
hier besteuert werden. Wir stellen uns auch dieser Ver- worte in diesem Zusammenhang lauten Bürokratie-TÜV
antwortung. und Standardkostenmodell. Jetzt wird in Deutschland
endlich mit den Sonntagsreden Schluss gemacht und
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- eine neue Philosophie verfolgt, um Bürokratie und Re-
neten der SPD) gulierungswut zu bekämpfen.
Auch stehen wir vor einer wichtigen strukturellen (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Mit dem Anti-
Entscheidung für den Finanzplatz Deutschland, nämlich diskriminierungsgesetz?)
vor der Entscheidung, die Abgeltungsteuer einzufüh-
ren. Dazu darf ich Herrn Steinbrück zitieren: Wir sind mit Ihnen von der FDP einer Meinung, wenn es
darum geht, mehr Freiheit zu wagen. Aber im Gegensatz
25 Prozent von x sind besser als 42 Prozent auf nix. zu Ihnen tun wir es und reden nicht nur darüber. Ich bin
Wenn die Menschen die Steuern, die sie eigentlich also der Meinung, dass wir die richtige Richtung einge-
zahlen müssten, nicht zahlen, nützt uns das nichts. Wir schlagen haben.
brauchen ein Steuersystem, das von den Menschen ak- Ich freue mich, dass der Bundeswirtschaftsminister,
zeptiert wird, sodass sie ihre Pflichten erfüllen. Ferner nachdem im Juni dieses Jahres das erste Mittelstandsent-
müssen wir die Attraktivität des Finanzplatzes Deutsch- lastungsgesetz verabschiedet worden ist, noch in diesem
land erhöhen, damit Investoren Investitionen tätigen Jahr ein zweites Mittelstandsentlastungsgesetz vorberei-
ten wird und dass die Koalition damit konkrete Maßnah-
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
men zum Bürokratieabbau ergreift.
Genau!)
(Otto Fricke [FDP]: Es ist ja noch nicht einmal
und die Dinge, die notwendig sind, finanzieren. Mit der ein Vertreter des Ministeriums anwesend!)
Abgeltungsteuer schaffen wir die entsprechenden Vo-
raussetzungen. Außerdem entledigen wir uns damit der Wir wollen die Startbedingungen für Gründer und
üblen Kontrollmitteilungen, die wir dann nicht mehr Kleinunternehmer verbessern. Wir wollen die Register-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006 6337
Dr. Michael Meister
(A) eintragungen bei der Gründung eines Unternehmens be- mit wir unser Land in gemeinschaftlichem Geist voran- (C)
schleunigen und ein zentrales Unternehmensregister bringen und den Menschen Mut für einen neuen Auf-
schaffen. Hinzu kommt eine Reform des GmbH-Rechts. bruch machen.
All das gehört zusammen. Ich glaube, manchmal leiden
wir und leidet vielleicht auch die Öffentlichkeit darunter, Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
dass gar nicht mehr wahrgenommen wird, welche Verän- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD –
derungen in unserem Land binnen zwölf Monaten statt- Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Jetzt ist
gefunden haben. Deutschland gerettet!)
(Jörg van Essen [FDP]: Das Antidiskriminie-
rungsgesetz haben wir nicht vergessen!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Vielleicht sollten wir mehr darüber reden, was sich zum Das Wort hat nun die Kollegin Dr. Dagmar
Positiven verändert hat, statt immer nur beckmesserisch Enkelmann für die Fraktion Die Linke.
über das eine oder andere Detail zu streiten und dabei die (Beifall bei der LINKEN)
große Linie aus den Augen zu verlieren.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE):
Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nun
Nun komme ich auf die Stärkung der Innovationsfä- liegt es an mir, etwas Wasser in den Wein zu gießen.
higkeit des Mittelstandes zu sprechen. Wir wollen (Zurufe von der CDU/CSU: Wie schade! –
mehr kleine und mittelständische Unternehmen in die Das ist doch wirklich völlig unnötig!)
Lage versetzen, Innovationen, Forschung und Entwick-
lung betreiben zu können. Frau Kollegin Aigner, das ist Ich hatte in dieser Woche eine Besuchergruppe zu Gast,
im Hinblick auf die Schaffung neuer Arbeitsplätze, die mich gefragt hat, ob ich mit der Arbeit der Bundesre-
insbesondere in kleinen und mittelständischen Unterneh- gierung zufrieden sei. Auf meine Gegenfrage, ob sie es
men, eine große Chance. Dieses Thema packen wir ent- denn sei, kam als Antwort ein vielstimmiges Nein. Nein,
schlossen an. Darüber hinaus beschäftigen wir uns mit mit dieser Regierung kann man nicht zufrieden sein.
der Modernisierung der beruflichen Bildung. In diesem Erinnern wir uns an die Situation vor etwas mehr als
Zusammenhang werden neue Berufsbilder und gestufte einem Jahr: Rot-Grün wurde abgewählt. Das war eine
Ausbildungsgänge geschaffen. ganz klare Absage an weiteren Sozialabbau, an die
(Ilse Aigner [CDU/CSU]: Genau!) Agenda 2010 und an Hartz IV.
(B) (D)
All diese Maßnahmen dienen dem wichtigen Ziel der Dass es seinerzeit eine deutliche Mehrheit für eine
Qualifizierung. Wir dürfen nicht nur über die Ergeb- große Koalition gab, hat etwas mit den großen Proble-
nisse der PISA-Studie und über Bildungsmängel klagen. men in diesem Land wie der Massenarbeitslosigkeit und
Vielmehr müssen wir diese Probleme konkret angehen den Disproportionen in der wirtschaftlichen Entwick-
und uns für ein höheres Bildungsniveau und damit für lung – eine schrumpfende Binnennachfrage bei einem
bessere Arbeitsmarktchancen für die Menschen in unse- deutlichen Exportwachstum –, den instabilen sozialen
rem Land einsetzen. Sicherungssystemen – wie sicher ist zum Beispiel die
Rente noch? – und der Verschuldung der öffentlichen
(Beifall bei der CDU/CSU)
Haushalte zu tun.
Als letzten Punkt will ich das Thema Wagniskapital
ansprechen. All das, was wir für die Bildung und für die Ein großer Teil der Wählerinnen und Wähler hat
Schaffung besserer Rahmenbedingungen für die mittel- große Hoffnungen auf die stabile Mehrheit einer gro-
ständische Wirtschaft tun, ist gut. Aber wir brauchen ßen Koalition gesetzt. In dieser großen Hoffnung haben
auch diejenigen, die Wachstum finanzieren. Wenn je- Sie sie arglistig getäuscht.
mand, der gute Ideen hat und alle notwendigen Voraus- (Beifall bei der LINKEN)
setzungen erfüllt, ein Unternehmen gründen möchte,
muss das bezahlt werden können. An dieser Stelle haben Es ist auch eine Folge Ihrer Politik, wenn eine Mehrheit
wir ein großes Defizit. Ich möchte dem Bundeskabinett der Bevölkerung inzwischen kein Vertrauen mehr in
herzlich dafür Dank sagen, dass es im Zusammenhang die Demokratie hat.
mit der Diskussion über die Eckpunkte der Unterneh- Vor kurzem beklagte der Vizekanzler, Franz
mensteuerreform und die REITs angekündigt hat, bis Müntefering, mit Tränen in den Augen, es sei doch un-
zum 1. Januar 2008 ein Gesetz zur Finanzierung von fair, dass die Wählerinnen und Wähler die CDU/CSU
Wagniskapital auf den Weg bringen zu wollen. und die SPD an ihren Wahlversprechen messen. – Woran
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) sonst sollen die Wählerinnen und Wähler Sie denn mes-
sen, wenn nicht an den Wahlversprechen?
Wir werden an dieser Stelle alles tun, um die Rahmenbe-
dingungen für die Wagniskapitalfinanzierung in Deutsch- (Beifall bei der LINKEN – Carl-Ludwig
land attraktiver zu machen. Thiele [FDP]: Sehr richtig!)
Meine Damen und Herren, Sie alle sind eingeladen, Sie sind doch gerade für Ihre Wahlversprechen gewählt
dabei mitzutun und diese Vorhaben zu unterstützen, da- worden. Die SPD zum Beispiel ist auch deshalb gewählt
6338 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006

Dr. Dagmar Enkelmann


(A) worden, weil sie die Mehrwertsteuererhöhung als un- Regierung allerdings sehr konsequent und ideenreich, (C)
wirtschaftlich und unsozial abgelehnt hat. und zwar beim weiteren Abbau des Sozialstaates. Sie
missbrauchen Ihre satte Mehrheit, um den Bürgerinnen
Die Halbwertszeit der Wahlversprechen ist offen-
und Bürgern immer unverschämter in die Tasche zu grei-
kundig so niedrig wie nie zuvor. Schon der Koalitions-
fen.
vertrag ist eine Ansammlung unverbindlicher Absichts-
erklärungen und diverser Prüfaufträge, die die FDP mit (Beifall bei der LINKEN)
ihrer Großen Anfrage hier nun auf den Prüfstand gestellt
Dazu hat der Kollege Meister zum Beispiel gar nichts
hat.
gesagt. Ich erinnere nur an die Kürzung der Pendlerpau-
(Jörg van Essen [FDP]: Dankenswerterweise!) schale und des Sparerfreibetrages, weitere Nullrunden
für Rentnerinnen und Rentner, die de facto Rentenkür-
Wie weit ist die Bundesregierung ein Jahr nach der Wahl
zungen bedeuten, oder die Rente mit 67 – sie ist im Er-
tatsächlich gekommen? Die Antworten geben ein bered-
gebnis ebenfalls eine Rentenkürzung –, steigende Bei-
tes Zeugnis für das Nichthandeln der Regierung. Die
träge für Krankenversicherung und Rentenversicherung,
Bundesregierung prüft und prüft und prüft in der Hoff-
die für das kommende Jahr angekündigt sind, die Ver-
nung, dass darüber die Legislaturperiode vorübergeht.
schärfung der Hartz-IV-Regelungen und die Mehrwert-
Die Antwort auf die Große Anfrage beweist auch, steuererhöhung um 3 Prozentpunkte, die offensichtlich
dass diese Regierung konzeptionslos ist bzw., wie es ein Wahlbetrug ist.
Herr Rüttgers, der Ministerpräsidenten des Landes Nord-
Sie verschärfen die soziale Schieflage in rasantem
rhein-Westfalen, formuliert hat
Tempo. Die Schere zwischen Einkünften aus privatem
(Otto Fricke [FDP]: Er ist in einer anderen Vermögen einerseits und Löhnen und Gehältern anderer-
Partei!) seits wird immer größer. Zugleich steigen die Manager-
gehälter in astronomische Höhen, bei der Deutschen
– er gehört, glaube ich, der CDU an –, dass die Regie-
Post zum Beispiel um 18 Prozent, bei Eon um
rung derzeit keine gemeinsame Leitidee habe und sich
63 Prozent und bei der Commerzbank sogar um
schwer tue, ihrem Regierungshandeln eine klare Kontur
187 Prozent. Die geplante Unternehmensteuer bringt den
zu geben. Es gebe kein großes Ziel. – Wo er Recht hat,
Großunternehmen weitere Geschenke in einer Größen-
hat er Recht.
ordnung von 29 Milliarden Euro im Jahr. Die Realein-
(Beifall bei der LINKEN) kommen sinken hingegen.
Inzwischen leben 10 Millionen Menschen in Armut
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: – darunter sind 2,5 Millionen Kinder –; die Existenzun-
(B) Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des (D)
sicherheit nimmt in immer größeren Teilen der Bevölke-
Kollegen Olaf Scholz? rung zu.
Zu all dem haben Sie nichts gesagt, Herr Meister.
Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE):
Nach all dem hat aber auch die FDP nicht gefragt.
Gerne.
Ich habe am Anfang von enttäuschten Hoffnungen ge-
(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Ist das jetzt sprochen. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
wirklich nötig?) FDP, an dieser Stelle haben auch Sie mich enttäuscht.
– Für die Aufklärung von Herrn Scholz ist das wahr- Ich hatte die leise Hoffnung, dass sich die FDP irgend-
scheinlich nötig. wann doch noch zu einer akzeptablen Opposition entwi-
ckelt. Diese Hoffnung haben Sie mit Ihrer Großen An-
Olaf Scholz (SPD): frage leider enttäuscht. Sie sind wirklich nur eine
Frau Kollegin, war das eben ein Koalitionsangebot an Regierung im Wartestand; das ist schade.
Herrn Rüttgers? Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Eindeutig ja! (Beifall bei der LINKEN)
Ganz klar!)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE): Nächster Redner ist der Kollege Olaf Scholz für die
Da es nach wie vor genug Unterschiede zwischen SPD-Fraktion.
Herrn Rüttgers und der Linken gibt, war das selbstver-
ständlich kein Koalitionsangebot. Aber ich finde, das (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Es hören immer-
wirksamste Argument ist immer noch, jemanden mit sei- hin noch fünf Abgeordnete der SPD zu! Das
nen eigenen Waffen zu schlagen. Da Herr Rüttgers sehr finde ich gut!)
gut über die Koalition – insbesondere über die CDU –
Bescheid weiß, sollte man ihn auch ab und zu als Autori- Olaf Scholz (SPD):
tätsbeweis heranziehen. Vielen Dank, Herr Kollege Meine Damen und Herren! Es ist manchmal wichtig,
Scholz. dass diejenigen, die noch etwas zu lernen haben, zuhö-
ren. Das sind heute die Abgeordneten der FDP.
Dass die Regierungskoalition konzeptionslos ist, ist
auch die Auffassung der Linken. In einem Punkt ist die (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006 6339
Olaf Scholz
(A) Ich bedanke mich daher für ihr zahlreiches Erscheinen. weil die Wirklichkeit unseres Landes ja wie folgt aus- (C)
sieht: Diejenigen, die sich länger damit beschäftigen,
(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Kann ich jetzt wissen, dass es ein ganzes Bündel von Steuervergünsti-
einen Kaffee trinken gehen?) gungen gibt, die – so wird es von allen ständig gefor-
Sie haben nun Gelegenheit, von den Erfahrungen zu pro- dert – abgeschafft werden müssten. Aber die politische
fitieren, die viele Menschen mit der Arbeit der Regie- Wirklichkeit in diesem Land, das Zusammenspiel von
rung seit der Neuwahl machen konnten. Bundestag und Bundesrat sowie das Zusammenspiel von
Regierung und Opposition, hat dazu geführt, dass tiefere
Die Große Anfrage bietet uns eine gute Gelegenheit Einsichten, die parteiübergreifend in diesem Hause vor-
– sie ist wohl die Fleißarbeit eines Sachbearbeiters der handen sind, nicht Gesetzeswirklichkeit werden konn-
FDP, der sich den Koalitionsvertrag der Regierungspar- ten. Der ehemalige Finanzminister Eichel kann ein Lied
teien sehr sorgfältig durchgelesen hat –, davon singen, wie viele seiner Initiativen gescheitert,
(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Das haben wir nun aber Gesetzesrealität sind. Dieses Beispiel ist ein
schon selber gemacht!) Beleg dafür, dass es doch einen weit über parteipoliti-
sche Auseinandersetzungen hinausgehenden Konsens
einmal auf den Feldherrnhügel hinaufzusteigen und sich gibt. Eine Aufgabe der großen Koalition ist, die Gele-
die Landschaft anzuschauen. Es zeigt sich, dass jenseits genheit zu nutzen und manche Dinge endgültig außer
des Tagesgetümmels viele Reformen zustande gekom- Streit zu stellen.
men sind bzw. auf den Weg gebracht wurden. In diesem
Lande bewegt sich etwas. Die große Koalition wird ih- Ich will das an einem Einzelbeispiel aus dem The-
rem Auftrag und ihren selbst gesteckten Zielen gerecht. menbereich Steuervergünstigungen belegen.
Da einige Punkte noch nicht fertig bearbeitet sind, ha- Es gibt kaum Fachleute außer sehr interessierten Lob-
ben wir ein gutes Programm bis 2009. Auch das ist byisten, die sich nicht schon seit Jahren darüber einig
vielleicht eine interessante Botschaft: Diese Koalition waren, dass die Eigenheimzulage eine teure und über-
hat nicht ein Arbeitsprogramm für ein, zwei Jahre vorge- flüssige Subvention war. Es hat aber wahrscheinlich in
legt, sondern ein Regierungsprogramm, das bis zum diesem Hause kaum einen Politiker und kaum eine Poli-
Ende dieser Legislaturperiode reicht tikerin gegeben, die geglaubt haben, dass man sie jemals
abschaffen kann. Dieses fatalistische Gefühl, das die Po-
(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Jetzt versaut litikerinnen und Politiker, die Journalisten, aber auch die
der mir noch das Wochenende!) Wählerinnen und Wähler begleitet, nämlich dass es ei-
und das uns die Chance verschafft, Jahr für Jahr, Halb- gentlich richtig wäre, etwas zu tun, das aber nicht ge-
(B) jahr für Halbjahr, Monat für Monat dazu beizutragen, schieht, weil sich etwas verhakt, ist nicht gut für die de- (D)
dass Fortschritte in der Gesetzgebung dieses Landes zu- mokratische Entwicklung und für den Fortschritt in
stande kommen. unserem Land. Insofern bin ich sehr froh, dass wir so
eine Maßnahme zustande gebracht haben, und ich bin
Weil es keinen Sinn macht, in politischen Debatten sehr froh darüber, dass wir das mit der großen Koalition
ständig das zu wiederholen, was andere gesagt haben, bewältigt haben.
verweise ich Sie zunächst auf die Rede meines Unions-
kollegen. Er hat in seiner schnellen Rede unglaublich Dieser Abbau von Steuervergünstigungen wird auch
viele Einzelmaßnahmen aufgezählt, die wir schon durch- weiter einen Beitrag dazu leisten, dass wir mit unserem
geführt haben. Eigentlich müsste er Sie sehr beeindruckt Haushalt besser zurechtkommen. Auch das zeichnet sich
haben. ab.
(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Absolut! Wir Zu den Dingen, die wir bereits gemacht haben, gehö-
sind fertig!) ren auch eine ganze Reihe von Maßnahmen zur Bele-
bung der Wirtschaftstätigkeit.
– Das habe ich gehofft. Ich muss Ihnen ehrlich sagen,
dass das auch hilfreich wäre; denn während Herr (Otto Fricke [FDP]: Mehrwertsteuererhö-
Brüderle eine etwas wolkige Rede gehalten hat, die ge- hung!)
nauso gut zu jedem anderen Tagesordnungspunkt ge-
Da gibt es sehr viel. Eine Maßnahme, die sich als großer
passt hätte und in der er einfach das gesagt hat, was er
Renner erwiesen hat, will ich herausgreifen: die Mög-
schon immer sagen wollte, ist der Kollege von der Union
lichkeit der steuerlichen Absetzbarkeit von Hand-
konkret geworden, und die Wahrheit ist eben konkret.
werkerdienstleistungen in Privathaushalten. Das ist
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – aus meiner Sicht eine gute Unterstützung. Damit kom-
Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Aber so wie men wir weg von der Schwarzarbeit und hin zu einer re-
Rainer kann es keiner!) gulären Tätigkeit und tragen zur Belebung der wirt-
schaftlichen Entwicklung bei. Ich bin viel skeptischer
– Den Karnevalswitz sollten wir noch einmal laut sagen: gegenüber Subventionen eingestellt als mancher in der
So wie Rainer kann es keiner! FDP.
Ich will auf das eingehen, was aus meiner Sicht in der (Otto Fricke [FDP]: Gut!)
Arbeit des abgelaufenen Jahres bemerkenswert war. Zu-
erst haben wir eine ganze Reihe von Steuervergünsti- Aber ich bin fest davon überzeugt, dass man in bestimm-
gungen abgebaut. Das finde ich deshalb bemerkenswert, ten Situationen durch einen Anreiz eine Entwicklung auf
6340 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006

Olaf Scholz
(A) den Weg bringen kann, die weit über die direkt dafür inhaltlich und konzeptionell einen Fortschritt über das (C)
eingesetzten Mittel hinaus wirkt. Hier geht es darum, hinaus erreicht, was wir technisch getan haben.
vielen Leuten deutlich zu machen, dass es möglich, rich-
tig und sinnvoll ist, Handwerker mit regulären Arbeiten (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
zu beauftragen, anstatt Schwarzarbeiter zu beschäftigen.
Damit ist nicht nur ein Lerneffekt, sondern auch ein Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
wirtschaftlicher Effekt verbunden. Beide Effekte gehen Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Kollege?
weit über die unmittelbare Unterstützung hinaus. Ich
hoffe für das deutsche Handwerk und für den deutschen Olaf Scholz (SPD):
Mittelstand, dass das diese Auswirkungen hat. Ich lerne Ja.
übrigens auch jeden Tag, dass mancher Handwerker bei
Gelegenheit eines Auftrages nun beweisen kann, dass
seine Arbeit so teuer, wie manche Politiker es darstellen, Ina Lenke (FDP):
gar nicht ist und dass man sie sich eigentlich auch ohne Herr Scholz, Sie haben gerade von den Krippenplät-
Subventionen leisten könnte. zen gesprochen. Meine Frage betrifft das Elterngeld, das
jetzt nur für ein Jahr gezahlt wird – ohne die Anschluss-
Das Gleiche gilt für die Maßnahmen zur Gebäudesa- betreuung von Kindern. Diese durch den Bund mitzu-
nierung, die wir unterstützt haben. Auch die gehen in finanzieren, lehnen Sie permanent – da sind Sie sich ei-
die richtige Richtung und haben einen Effekt, der weit nig in der Koalition – ab. Denn die 1,5 Milliarden Euro
über die unmittelbare Unterstützung hinausgeht. Das aus der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozial-
trägt dazu bei, dass die Menschen in ihr unmittelbares hilfe, die den Kommunen zur Verfügung stehen sollten,
Lebensumfeld und in ihr Eigentum etwas investieren, haben Sie bisher nicht den Kommunen gegeben. Inso-
was für die Zukunft unseres ganzen Landes von zentraler fern vermisse ich, dass der, der die Musik bestellt, auch
Bedeutung ist. „Richtig gemacht“, das ist ein guter Be- bezahlt.
richt über die Arbeit der großen Koalition. Sie sprechen vom Erfolg des Elterngeldes. Ich höre
Ein anderes Thema, anhand dessen ich exemplarisch aber Frauen, die fragen, wo die Anschlussbetreuung
zeigen kann, dass wir etwas zustande bringen, ist die bleibt, da ohne sie das Elterngeld nur ein nettes Starter-
Einführung des Elterngelds. paket für Familien sein würde. Den Erfolg, den wir alle
– auch die FDP – mit dem Elterngeld erreichen wollen,
(Zuruf der Abg. Ina Lenke [FDP]) werden Sie dann nicht haben. Es wird Sie wie ein Bume-
rang treffen, wenn Sie den Kommunen nicht sehr schnell
Ich will das deshalb sagen, weil auch damit der Erfolg Geld geben, um diese Anschlussbetreuung zu organisie- (D)
(B)
dieser Koalition bewiesen worden ist. Es geht ja bei vie- ren. Und sagen Sie mir jetzt bitte nicht, das sei nur eine
len Themen nicht nur darum, etwas technisch richtig zu Aufgabe der Kommunen.
machen und eine kluge Regelung zu finden.
(Zuruf des Abg. Matthias Berninger [BÜND- Olaf Scholz (SPD):
NIS 90/DIE GRÜNEN]) Verehrte Frau Kollegin, die Musik bestellen nicht der
Bund, die Länder oder die Kommunen, sondern – gestat-
Das haben wir getan. Es geht manchmal auch darum, ten Sie mir den Hinweis auf unsere Staatsverfassung –
ideologische Gräben, Gegensätze, die gar nicht sachlich die Wählerinnen und Wähler. Die haben eine andere Po-
begründet sind und die verhindern, dass man das Not- litik in diesem Land bestellt, und zwar mit einer sehr kla-
wendige tut, zu überwinden. So sehr es dem einen oder ren Perspektive. Ihnen ist es nämlich völlig egal, ob nun
anderen in meiner Partei schwer fällt, zu erleben, dass gerade die Gemeinden oder die beiden Staatsebenen
gute Vorschläge, die in unserer Partei schon lange disku- – also die deutschen Länder oder der Bundesstaat – zu-
tiert worden sind, nun auch von einer Ministerin unseres ständig sind. Sie sagen: Ihr müsst das gemeinsam hin-
Koalitionspartners richtig gefunden werden, so sehr ist kriegen.
das ein großer Erfolg, und zwar nicht für die SPD, son-
Was wir nach der Föderalismusreform noch verstehen
dern für unser Land. Denn es wäre hinderlich, wenn es
und hinbekommen müssen, ist, dass es nationale Debat-
wegen eines vermuteten und eigentlich 20 Jahre alten
ten zu Fragen, die uns alle angehen und bei denen wir
parteipolitischen Konflikts nicht gelänge, Erfolge für die
alle etwas Richtiges und Neues für das Land machen
Menschen und für die Familien zu erreichen, die sich der
müssen, gibt, die aber nicht von der einen Ebene auf
modernen Lebenswirklichkeit unseres Landes anpas-
Kosten der anderen Ebene gelöst werden können. Bei
sen. Das ist uns gelungen und wir haben da manche
diesen Aufgaben ist vielmehr eine gemeinsame Anstren-
Grenzen überschritten. Unabhängig von dieser konkre-
gung, ein Zusammenarbeiten notwendig, nicht aber, mit
ten Reformleistung wird das bei den Menschen darüber
dem Finger auf andere zu zeigen.
hinaus dazu beitragen, dass sie sich auf die neue Lebens-
wirklichkeit einstellen. Wir sind mittlerweile von Nord Deshalb ist es ein sehr guter Einfall des Bundes – der
bis Süd bereit, die Lebenswirklichkeit moderner Fami- letzten Regierung sowie der jetzigen, die daran festhält –
lien zu akzeptieren. Da geht es nicht nur um Elterngeld, gewesen, den Gemeinden 1,5 Milliarden Euro zu geben,
sondern auch um Krippen, um Kindergärten, Ganztags- damit sie eine ihrer originären Aufgaben neu beginnen
schulen usw. Das wird jetzt ganz anders diskutiert als können. Aber es bleibt dabei, dass nicht die bösen Bun-
noch vor zehn Jahren. Da hat die Koalition für das Land destagsabgeordneten oder die Ministerpräsidenten, son-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006 6341
Olaf Scholz
(A) dern die Bürgermeister und Bürgermeisterinnen, die ge- Arbeitsgruppe von Bund und Ländern einsetzen. Ich will (C)
wählt werden wollen, von den Wählerinnen und Ihnen sagen: Ich möchte, dass diese Arbeitsgruppe er-
Wählern in Zukunft mit anderen Fragen als früher kon- folgreich ist. Diese Koalition hat in diesem Parlament
frontiert werden. Die Wähler werden fragen, wieso es eine Mehrheit, die Verfassungsänderungen möglich macht.
nicht längst so ist, wie es sein sollte, nämlich dass wir Auch aufgrund der Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat
eine flächendeckende Kinderbetreuung in den Ge- sind Verfassungsänderungen möglich. Dies sollte genutzt
meinden, so wie Eltern sie wollen, haben. Das ist meine werden, um eine Reform zustande zu bringen, durch die
Antwort auf Ihre Frage. den Ländern mehr Verantwortung für das, wofür sie sel-
ber zuständig sind, zukommt, ohne dass die in der deut-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf schen Finanzverfassung verankerte Solidarität zwischen
von der FDP: Schwach!) Bund und Ländern und den Längern untereinander aufge-
Meine Damen und Herren, wir haben – das ist eine geben wird. Diese Aufgabe ist schwierig, aber lösbar. Wir
gute Anknüpfung an dieses Thema – eine Föderalis- wollen sie jetzt anpacken.
musreform zustande gebracht, an die viele nicht mehr (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie
geglaubt haben. Ich will das deshalb beschreiben, weil des Abg. Dr. Guido Westerwelle [FDP])
ich meine, dass sie viel erfolgreicher ist, als es in dem
Diskussionsprozess und in den angestrengten Debatten Die letzte größere, schon auf den Weg gebrachte Re-
zu der Zeit, als sie beschlossen wurde, wahrgenommen form, die ich ansprechen will, ist die Reform des Ge-
worden ist. Der Bund kann mittlerweile viele Gesetze in sundheitswesens.
eigener Verantwortung machen. Das erleben wir jetzt (Lachen bei Abgeordneten der FDP)
etwa bei der Diskussion um die Gesundheitsreform. Es
ist nicht der Bundesrat, der die Regierung aufhalten Es läuft auch da anders, als Ihre Große Anfrage – Stich-
kann. Es sind höchstens Politiker, die in Parteivorstän- wort „Prüfplanung“ – nahe legt. Schaut man sich Ihre
den Einfluss haben. Das hat eine andere Qualität, als Große Anfrage an, stellt man fest, dass ein großer Teil
wenn sie auf die institutionelle Macht in einem Verfas- der Fragen die Gesundheitsreform betrifft. Um Ihre Fra-
sungsorgan verweisen könnten. gen beantwortet zu finden, brauchen Sie nur den Gesetz-
entwurf zu lesen. Das heißt, dieser Koalition ist es gelun-
(Matthias Berninger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gen, Lösungen für eine ganze Zahl von schwierigen
NEN]: Angesichts der knappen Mehrheiten ist Problemen zu finden.
das sehr beruhigend!)
Ich will nicht behaupten, dass diese Lösungen iden-
Das Gleiche gilt für viele andere Dinge. Sowohl das an- tisch mit den möglichen Beschlüssen eines SPD-Partei-
(B) fangs der letzten Regierungsperiode auf den Weg ge- tages sind. Auch behauptet niemand, dass diese Lösun- (D)
brachte Staatsbürgerschaftsrecht als auch die Gesund- gen identisch mit den möglichen Beschlüssen eines
heitsreformen der letzten Legislaturperiode könnten CDU- oder eines CSU-Parteitages sind. Das kann man
nach der Reform der Staatsverfassung vom Bund allein nicht behaupten. Aber das erwartet auch niemand von
beschlossen werden, ohne dass ihn jemand dabei aufhal- uns. Vielleicht ist es gut, dass wir die Wahrheit ausplau-
ten könnte. dern: Es ist nicht so, dass sich die Parteien in diesem
Insofern glaube ich, dass wir das erreicht haben, was Lande immer ähnlicher werden und dass sie gar nicht
die Bürgerinnen und Bürger von uns erwarten. Sie er- mehr unterscheidbar sind. Das wird im Hinblick auf die
warten nicht, dass wir uns das Leben leichter machen, FDP, die Union, die Grünen, uns und gelegentlich sogar
dass wir mit weniger Leuten verhandeln müssen und die PDS behauptet. Über alle wird gleichmacherisch so-
dass die Nächte nicht mehr so lang werden. Das klappt ja zusagen ein und dieselbe Soße gegossen. Wer das tut,
– wie man sieht – ohnehin nicht. Sie erwarten, dass wir wird der Wirklichkeit nicht gerecht.
einen Weg aus der Situation finden, in der man nicht Dass es so nicht ist, heißt aber nicht, dass wir wegen
mehr überschauen kann, wer es überhaupt war, der da et- unterschiedlicher Ausgangspunkte keine gemeinsamen
was richtig oder falsch gemacht hat, und in der keiner Ergebnisse erzielen könnten. Das zu glauben, ist eine völ-
von uns mehr erklären kann, wer von der Regierung, der lig undemokratische Vermutung. Es gibt nichts, was im
Opposition, den Ländern und dem Bundestag eigentlich Geheimen vorab als richtig gilt. Es gibt nicht irgendeinen
welchen Anteil an Gesetzen hat. richtigen Geheimplan, den irgendjemand versteckt. Ko-
Das ist anders geworden. Das ist ein großer Fort- alitionsentscheidungen sind immer das Ergebnis einer de-
schritt. Langfristig werden die Auswirkungen noch viel mokratischen Debatte, einer Auseinandersetzung und ei-
größer sein als das, was durch die Reform der Institutio- nes Konsenses. Einen solchen Konsens haben wir erzielt,
nen selber erreicht worden ist. Darüber hinaus wird die im Übrigen gegen den heftigen Widerstand der anfragen-
Politik verständlicher und damit akzeptabler sein. Das den FDP.
sind wir als Demokraten der Demokratie und den Men- Gerade unsere Lösung bedeutet mehr Markt, mehr
schen in unserem Lande schuldig. Wettbewerb unter den Leistungsanbietern und damit
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) günstigere Preise für das, was die Versicherten brauchen.
Eine der interessantesten Beobachtungen, die man auf
Es ist wichtig, dass wir die Föderalismusreform II diesem Feld macht, ist, dass diejenigen, die das Wort
– sie betrifft die Finanzverfassung von Bund und Län- „Wettbewerb“ im Munde führen, immer den Wettbewerb
dern – durchführen. Wir werden dazu demnächst eine der Versicherten untereinander meinen. Allerdings sollte
6342 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006

Olaf Scholz
(A) es im Gesundheitswesen nicht um diesen Wettbewerb aber ich sehe darin, wenn ich das zusammenrechne, ein (C)
gehen, sondern um den Wettbewerb um die besten Leis- erhebliches Ausgabenwachstum.
tungen für die Versicherten, und das bei vernünftigen
Preisen. Das ist das eigentliche Problem von Ihnen in der gro-
ßen Koalition: Sie können Steuern erhöhen, Sie können
Da sind wir einen ganz erheblichen Schritt vorange- die Ausgaben wachsen lassen; wenn dann zusätzlich
kommen. Auch das ist eine Leistung dieser Koalition. Geld in die Kasse kommt, geben Sie auch das noch aus.
Ich denke, die vorzulegende Bilanz ist gut. Die Anzahl Sie machen das Gegenteil von nachhaltiger Finanzpoli-
der Koalitionsredner in dieser Debatte wird nicht ausrei- tik. – Die Union hätte das in ihren besten Zeiten heftig
chen, auf alle Einzelheiten einzugehen. kritisiert.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der In die gleiche Richtung geht Folgendes: Es herrscht
CDU/CSU – Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Konsens darüber, dass die Arbeitskosten in Deutschland
Sie müssen jetzt selber klatschen, sonst ist das zu hoch sind und die zu hohen Arbeitskosten, vor allem
zuwenig Beifall bei Ihnen!) im Bereich der schlechter bezahlten Jobs, in dem Be-
reich also, wo die Arbeitslosigkeit in Deutschland am
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: größten ist, eines der Haupthindernisse dafür sind, dass
Nächster Redner ist der Kollege Matthias Berninger neue Arbeit entsteht. Da prahlt man, wie schön man es
für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. geschafft habe, den Beitragssatz zur Arbeitslosenversi-
cherung zu senken. Ja, das haben Sie geschafft, finan-
Matthias Berninger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ziert teilweise durch eine Mehrwertsteuererhöhung und
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn teilweise dadurch, dass aufgrund der guten konjunkturel-
man den Rednern der großen Koalition in dieser Debatte len Lage sich die Einnahmebasis der Arbeitslosenversi-
aufmerksam gelauscht hat, dann hat man festgestellt, cherung gebessert hat. Ich finde aber, dass eine große
dass sie reden, als befänden sie sich im letzten Regie- Koalition groß genug sein müsste, hier zu sagen, dass sie
rungsjahr: Heute waren eine ganze Menge Durchhalte- den Beitragssatz zur Rentenversicherung erhöht und
parolen zu hören. dass sie trotz der ach so tollen Gesundheitsreform auch
den Beitragssatz zur Krankenversicherung erhöht, wäh-
Die Große Anfrage der FDP, die zu der heutigen De- rend gleichzeitig die Leistungen für die Bürgerinnen und
batte geführt hat, zeigt – wenn man sich die Prüfaufträge Bürger zurückgehen. Das wäre redlicher.
anschaut, die die große Koalition sich selbst ins Stamm-
(B) buch geschrieben hat –, dass diese große Koalition nicht Sie haben es mitnichten geschafft, das Problem der (D)
nur eine schwere Prüfung für unser Land, sondern auch hohen Lohnnebenkosten zu lösen, und damit haben Sie
für die Ministerien ist. Zwei Drittel der Prüfaufträge sind eine der Schlüsselbedingungen für die Schaffung neuer
alles andere als abgearbeitet. Da gibt es noch reihen- Arbeit in Deutschland bisher nicht erreicht. Reden Sie
weise offene Fragen. Ich fürchte, dass Ihnen auch vor sich die Sache nicht schöner, als sie ist! Schlimm wäre es
dem Hintergrund der Wahlen im Jahr 2008 die Zeit ein nämlich, wenn Sie an das, was Sie hier an tollen Bot-
wenig davonläuft, wenn es darum geht, auf Basis der schaften von sich gegeben haben, auch tatsächlich glau-
Prüfergebnisse noch Reformen voranzubringen. Ange- ben würden.
sichts Ihrer Bilanz ist das aber eher eine hoffnungsfrohe Ich bin sehr dankbar dafür, dass das Thema „Wettbe-
Nachricht für die Bürgerinnen und Bürger in diesem werb im Gesundheitswesen“ angesprochen wurde. Die
Land. große Koalition hat da in manchen Bereichen etwas ge-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schafft. Sie von der großen Koalition haben es aber nicht
geschafft, das Thema „Kassenärztliche Vereinigung“ in
Der Kollege Meister, der einen anderen Termin hat den Griff zu bekommen. Das liegt weniger an der SPD
und deswegen den Saal verlassen musste, hat davon ge- als an der CDU/CSU, wenn ich mich an die Koalitions-
redet, wie erfolgreich die große Koalition in der Finanz- verhandlungen richtig erinnere. Sie haben es nicht ge-
politik ist. Eine solche Rede hätte er in der Opposition schafft, die Stelle, wo „Mittelalter“ und „Mittelstand“
nicht nur nicht gehalten, sondern sogar mit heftigsten miteinander verwechselt werden, im Sinne von „Mehr
Zwischenrufen kritisiert. Freiheit wagen“ in den Griff zu bekommen, nämlich die
Die große Koalition hat es geschafft, im Rahmen der Privilegien der Apothekerinnen und Apotheker abzu-
Bereinigungssitzung am gestrigen Abend die Nettoneu- bauen. Es ist doch ein Irrsinn, dass wir in Deutschland
verschuldung um sage und schreibe 11 Milliarden Euro im Jahr 2006 vorschreiben, man dürfe nicht mehr als
zurückzuführen. Das ist eine gute Nachricht; darüber hat vier Apotheken besitzen und Apotheken dürften auch
Herr Meister geredet. nicht in Fremdbesitz sein.
(Beifall der Abg. Ilse Aigner [CDU/CSU]) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Dummerweise hat er das Zweite zu sagen vergessen, Das ist übrigens auch die Stelle, wo ich von der FDP
nämlich dass dem fast 18 Milliarden an Privatisierungs- immer eine Lektion in Marktwirtschaft bekomme nach
erlösen und zusätzlichen Steuereinnahmen gegenüber- dem Motto: Wir kennen uns mit der Marktwirtschaft aus.
stehen. Ich bin zwar nur nordhessischer Gesamtschüler, Deswegen sind wir an der Stelle gegen Wettbewerb. –
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006 6343
Matthias Berninger
(A) Ich glaube auch, dass das ein Problem Ihres Antrags ist; das heißt für eine enorme Vereinfachung der Gewährung (C)
darüber müssen wir ebenfalls reden. von Sozialleistungen und für Bürokratieabbau. Er gibt
damit eine Antwort auf die Frage, wie wir es schaffen,
(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Das ist nicht für Menschen, die auf die Unterstützung des Staates an-
das einzige Problem!) gewiesen sind, eine ausreichende Grundsicherung zu
Die Lösungen, die Sie in Ihrem Antrag präsentieren, gewährleisten, die gleichzeitig genügend Anreize zur
muten den Menschen etwas zu. Sie sagen: Der Kündi- Arbeitsaufnahme enthält. Heute muss jemand, der Ar-
gungsschutz muss weg. beitslosengeld II bekommt, von jedem Euro, den er da-
zuverdient, 80 bis 90 Cent an den Staat abliefern. Wenn
(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Reformieren! – das jemand von uns machen müsste, hätte er sofort Ver-
Weitere Zurufe von der FDP: Das sagen wir ständnis für Schwarzarbeit. Es ist doch klar, dass ein sol-
gar nicht!) ches System den Leuten keinen ausreichenden Anreiz
gibt, etwas hinzuzuverdienen.
Sie sagen: Wir müssen generell in vielen Bereichen den
Menschen mehr zumuten. – Was mir auffällt, ist, dass (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Sie Ihre recht lange Zeit in der Opposition bisher nicht
dazu genutzt haben, auch an den Stellen, wo die Privile- Was mich ärgert, ist, dass es die große Koalition nicht
gien Ihrer Klientel betroffen sind, Wettbewerb mit dem schafft, eine sozialpolitische Diskussion über diese
gleichen Impetus einzufordern, wie Sie das bei Arbeit- Frage zu führen.
nehmerinnen und Arbeitnehmern in schöner Regelmä-
Auch im Bereich des Niedriglohns kommt sie nicht
ßigkeit tun.
voran. Wenn man da etwas machen wollte, müsste man
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) das ehrlicherweise mit der Einführung von Mindest-
löhnen verbinden. Wenn der Staat den Menschen mit
Das ist auch ein Punkt, wo die FDP überlegen sollte, ob niedrigen Einkommen durch Aufstockung der staatli-
das der Glaubwürdigkeit ihrer Position zuträglich ist. chen Hilfe Beschäftigung leichter ermöglichen will,
In dem FDP-Antrag gibt es einen Hinweis, den ich dann muss er auch dafür Sorge tragen, dass nicht einige
sehr positiv finde. Er hat etwas mit der aktuellen Diskus- Arbeitgeber, nämlich die unverantwortlich handelnden,
sion in der Union zu tun. Zwei Ministerpräsidenten ha- über ein entsprechendes Dumping die Löhne immer wei-
ben sich in die sozialpolitische Debatte eingemischt: Der ter nach unten treiben. Deshalb hängt eine Diskussion
eine, Herr Rüttgers, ist sozusagen dabei, die schlechten über Mindestlöhne eng zusammen mit der Diskussion,
Tugenden der alten SPD auf die nordrhein-westfälische wie im Niedriglohnbereich neue Jobs geschaffen werden
können. Die große Koalition schafft es nicht, hierfür ei-
(B) CDU und möglicherweise auf die Bundes-CDU zu über- nen konsistenten Vorschlag zu machen. Ich finde, die (D)
tragen. Sein Sozialstaatskonzept orientiert sich an dem
dauerhaft beschäftigten, 40 Jahre Beiträge in die Versi- Union sollte ihre Blockadehaltung gegenüber Mindest-
cherung einzahlenden männlichen Normalerwerbstäti- löhnen überdenken; denn ohne diese wird man einen
gen. Wir wissen, dass es viele Jahre gedauert hat, die Niedriglohnbereich nicht vernünftig unterstützen kön-
Grundpfeiler der deutschen Sozialpolitik von dieser Vor- nen.
stellung hin zu einer stärkeren Abbildung der Realität in Zum Abschluss möchte ich auf einen Punkt hinwei-
unserem Lande, die geprägt ist von einer Vielfalt der so- sen, der von der großen Koalition sang- und klanglos be-
zialen Probleme, zu verschieben. Herr Rüttgers dagegen erdigt wurde, wodurch diesem Land erhebliches Zu-
hält an der alten Vorstellung fest und setzt sich deswegen kunftspotenzial geraubt werden wird: Im Jahr 2005 sind
heftig dafür ein, dass das Arbeitslosengeld I der be- in Deutschland über 150 000 Menschen mit hoher Quali-
schriebenen Gruppe länger gewährt wird. Wenn die fikation ausgewandert und ganze 900 Menschen, also
Union nun beschließen sollte, diesen Vorschlag aufkom- weniger als 1 000, mit hoher Qualifikation eingewan-
mensneutral umzusetzen, dann muss sie ehrlicherweise dert. Die Koalition hat sich ja zum Ziel gesetzt, die Be-
auch sagen, dass anderen entsprechend Geld weggenom- dingungen für die Einwanderung von Hochqualifizier-
men wird. Ich bin froh, dass die SPD diesen Populismus ten zu verbessern. Aber die Arbeitsmarktprotektionisten
nicht mitmacht; ich hoffe, dass sie das auch durchhält. auf der einen Seite, also die alten Kader im Arbeitsmi-
Ich bin aber sehr verwundert, wie weit die Sozialdemo- nisterium, und die nicht ganz so für Einwanderung ein-
kratisierung der Union – im schlechten Sinne – schon gestellten Teile der Unionsfraktion auf der anderen Seite
vorangeschritten ist. Das sieht man daran, dass es gegen haben dieses Projekt sang- und klanglos beerdigt und
die Vorschläge von Herrn Rüttgers wenig Widerstand fordern stattdessen, dass dafür gesorgt werden muss,
gibt. dass nicht so viele Menschen auswandern. Viele junge,
Der andere Ministerpräsident, den ich meine, ist Herr aber auch viele ältere Leute mit hoher Qualifikation ar-
Althaus. Er hat für meine Begriffe den mutigsten sozial- beiten wegen der Globalisierung und Europäisierung un-
politischen Vorschlag der letzten Jahre in die sozialpoli- serer Wirtschaft zeitweise im Ausland und nicht deswe-
tische Debatte eingebracht, indem er für die Einführung gen, weil es ihnen hier so schlecht gefällt. Unser
eines Grundeinkommens, eines Bürgergeldes oder wie Problem ist also vielmehr, dass wir zu wenige Hochqua-
man dies auch nennen mag, eingetreten ist, lifizierte aus anderen Ländern dazu bewegen, in unserem
Land zu arbeiten. Daran könnte die große Koalition et-
(Jörg van Essen [FDP]: Das ist das Aufgreifen was ändern, wenn sie das Problem beherzt anginge.
eines alten FDP-Vorschlags!) Stattdessen hat sie entsprechende Vorhaben in Form von
6344 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006

Matthias Berninger
(A) Formelkompromissen beerdigt. Das wird dem Land reich und wir tun etwas für die Familien. Das ist eine (C)
langfristig schaden. hervorragende Möglichkeit.
Vielen Dank. Kollege Scholz hat es schon angesprochen: Jahrelang
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ist in diesem Land darüber diskutiert worden, was wir
gegen die Schwarzarbeit tun können. 16 Prozent des
Bruttoinlandsproduktes werden in der Schwarzarbeit,
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
vorbei an den Sozialkassen, erwirtschaftet. Gefordert
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Hans-Peter wurde, dass die Handwerkerrechnungen absetzbar ge-
Friedrich für die CDU/CSU-Fraktion. macht werden. Jetzt ist das unter der Regierung der gro-
(Beifall bei der CDU/CSU) ßen Koalition vollbracht worden. Wir haben den Ein-
stieg in die Absetzbarkeit von Handwerkerleistungen,
Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU): von Arbeitskosten im Handwerkerbereich für die Be-
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- schäftigung im eigenen Haus und in der eigenen Woh-
gen! Wir sind, Herr Brüderle, immer gerne bereit, Anre- nung geschafft. Das ist natürlich – ich verstehe Ihre Auf-
gungen, konstruktive Kritik, Vorschläge und Argumente regung – teilweise gedeckelt; aber der Einstieg ist
der Opposition aufzugreifen. Leider war heute in Ihren geschafft. Es geht um das Prinzip.
Redebeiträgen nicht viel Konstruktives feststellbar. Ich glaube daher, dass es gerechtfertigt ist, zu sagen,
Eine Kritik, Herr Brüderle, will ich besonders zurück- dass hier ein Beitrag zur Schaffung von Arbeitsplätzen
weisen, nämlich dass unsere Entscheidungsprozesse zu in diesem Lande geleistet worden ist. Wir stellen fest,
lang dauerten, zu zäh und zu umständlich seien. Das un- dass die Bauwirtschaft das erste Mal seit vielen Jahren
terscheidet uns, die Volksparteien CDU, CSU und SPD, wieder einen Aufschwung zu verzeichnen hat. Das ist
eben von Klientelparteien. Jeder, der sich in seiner eine Trendwende. Wir wissen, dass das immer ein Zei-
Nachbarschaft, seinem Freundes- und Bekanntenkreis chen für Optimismus ist; denn die Bauwirtschaft ist die
umschaut, weiß und spürt, dass es viele verschiedene In- Konjunkturlokomotive. Wenn gebaut wird, spiegelt das
teressen in diesem Lande gibt, die sich häufig widerspre- auch einen gewissen Optimismus der Menschen, eine
chen. Wir als Volksparteien haben die Aufgabe, eine Zukunftshoffnung wider, die auch auf den politischen
große Integrationsleistung zu erbringen und all diese Verhältnissen und den politischen Perspektiven beruht.
Gruppen zusammenzuführen und die Konflikte, die sich
in der Gesellschaft auftun, zu lösen. Demokratie ist müh- Wir haben als große Koalition auch diesen Prozess
sam; aber die Mühe lohnt sich und wir stellen uns ihr. aktiv begleitet. Die allererste Maßnahme der großen
(B) Deswegen akzeptiere ich die Kritik, dass alles zu lange Koalition vor einem Jahr war, zu beschließen, dass die (D)
dauere, überhaupt nicht. Es geht darum, soziale Span- Entscheidung der Vorgängerregierung, die Kosten der
nungen auch innerhalb der Gesellschaft zu vermeiden. Unterkunft für die Gemeinden nicht zu ersetzen, zu-
rückgenommen wird. Die große Koalition hat im letzten
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Jahr entschieden, 3 Milliarden Euro der Kosten der
Sie haben vorhin dazwischengerufen, der Staat Kommunen für die Unterkunft zu übernehmen; das sind
schaffe keine Arbeitsplätze. Richtig. Ebenfalls richtig ist 29,1 Prozent. Wir stellen fest, dass in diesem Jahr, 2006,
die Analyse, die Sie in Ihrem Antrag aufgegriffen haben der Rückgang der Investitionen bei den Kommunen das
– und die schon seit Jahrzehnten in diesem Land von al- erste Mal gestoppt werden konnte. Die kommunalen
len gepredigt wird –, dass wir eine strukturelle Beschäf- Spitzenverbände sagen uns, dass die Kommunen in die-
tigungskrise haben. Es ist Aufgabe des Staates und der sem Jahr zum ersten Mal wieder vielleicht einen Auf-
Politik, diese strukturelle Beschäftigungskrise zu beseiti- wuchs an Investitionen im öffentlichen Bereich zu ver-
gen. Aber auch das ist nicht mit einem Federstrich mög- zeichnen haben. Das ist ganz wichtig; denn 70 Prozent
lich, sondern das muss ganz mühsam Schritt für Schritt aller öffentlichen Aufträge werden von den Kommunen
mit vielen kleinen Stellschrauben bewältigt werden. vergeben.
Darüber ist viel geredet worden, zum Beispiel im Zu- Auch das ist ein Beitrag zur Beschäftigung in diesem
sammenhang mit der Frage, ob es im Wandel von der In- Lande, mit dem in den Kommunen die Auftragsbücher
dustriegesellschaft zu einer Dienstleistungsgesellschaft des Bauhandwerks gefüllt werden.
nicht genügend Beschäftigungsmöglichkeiten im Dienst-
leistungsbereich gibt, in Privathaushalten beispielsweise, Wir haben in diesem Jahr sogar noch eines draufge-
bei der Kinderbetreuung. Wir reden nicht nur darüber; setzt: Im neuen Bundeshaushalt werden nicht 3 Milliar-
seit dem 1. Januar dieses Jahres sind die Betreuungs- den Euro, sondern 4,3 Milliarden Euro – das entspricht
kosten für Kleinkinder von der Steuer absetzbar, einem Anteil von 31,8 Prozent – für die Kosten der Un-
terkunft, die den Kommunen entstehen, vom Bund über-
(Beifall bei der CDU/CSU)
nommen. Das schafft Spielräume für die Kommunen,
natürlich nur teilweise, gedeckelt, weil die finanziellen den Investitionsstau, der sich über viele Jahre aufgebaut
Möglichkeiten begrenzt sind. Aber der Einstieg in eine hat, aufzulösen. Wir werden die Einnahmen im kommu-
Beschäftigungsmöglichkeit in diesem Bereich ist ge- nalen Bereich stabilisieren. Ein Beitrag, der in diese
schafft; darum geht es. Wir entlasten die Bürger von Richtung geht, ist die Unternehmensteuerreform, die
Kosten, wir schaffen neue Arbeitsplätze in diesem Be- jetzt auf den Weg gebracht wurde.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006 6345
Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof)
(A) Vorhin ist schon einmal das CO2-Gebäudesanie- an die Initiative des Bundeswirtschaftsministers, der sich (C)
rungsprogramm erwähnt worden. Im ersten Jahr der engagiert für den Ausbildungspakt eingesetzt hat. Ich er-
großen Koalition wurde das CO2-Gebäudesanierungs- innere auch daran, dass viele Abgeordnete mit Unterneh-
programm mit einem Milliardenbetrag ausgestattet. Wir men gesprochen haben, um sie davon zu überzeugen,
können jetzt eine beispiellose Mobilisierung privaten Einstiegsqualifizierungen für junge Menschen durchzu-
Kapitals in Investitionen feststellen. Privates Kapital in führen. Wir dürfen keinen einzigen jungen Menschen in
Höhe von 8 Milliarden bis 9 Milliarden Euro wird in den diesem Lande verloren geben. Wir müssen ihnen sagen:
Baubereich investiert mit dem Ziel, die Bausubstanz zu Unser deutsches Vaterland, also unsere Gesellschaft und
verbessern, den Wohnungsbestand wertvoller zu machen unsere Volkswirtschaft, braucht jeden von euch. Das ist
und Energie einzusparen. Das hat gleichzeitig einen die Botschaft, die die große Koalition aussendet.
positiven Effekt auf die Beschäftigung; denn mit einem
Investitionsvolumen von 1 Milliarde Euro können etwa (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.
25 000 Arbeitsplätze gesichert werden. Carsten Schneider [Erfurt] [SPD])

(Beifall bei der CDU/CSU) Wir probieren neue Möglichkeiten des Miteinanders
aus. Ich erinnere an die Initiative der Bundesfamilien-
Das ist eine aktive Politik für Beschäftigung in diesem ministerin, Mehrgenerationenhäuser einzurichten, also
Lande, die die große Koalition betreibt. das Zusammenleben in einer veränderten Gesellschaft
Ich habe auch eine gute Nachricht für die Bürgermeis- neu zu organisieren. Das alles wollen wir ausprobieren.
ter im ganzen Lande. Ab dem 1. Januar des neuen Jahres Wir werden mit einer Hochtechnologieoffensive da-
werden auch die Gemeinden in der Lage sein, im Rah- für sorgen, dass, lieber Kollege Berninger, die hoch qua-
men des CO2-Gebäudesanierungsprogramms kommu- lifizierten jungen Menschen, die heute das Land verlas-
nale Gebäude zu modernisieren. Die Bedingungen wer- sen, zurückkommen und in diesem Land eine Chance
den noch in diesem Jahr allen Gemeinden rechtzeitig haben, sich zu betätigen und einzubringen.
bekannt gegeben. Ich glaube, dass das ein wirklich posi-
tiver Beitrag ist. Diese Koalition ist auf einem guten Weg. Wir sind in
einer neuen Zeit dabei, zur alten Kraft dieses Landes zu-
Wir leisten auch einen Beitrag durch die Bereitstellung rückzufinden. Dafür stehen wir, die CDU/CSU und die
von umfangreichen Städtebaufördermitteln. Diese Mit- SPD.
tel sind sehr flexibel einsetzbar; denn in den neuen Bun-
desländern bestehen zum Teil völlig andere Probleme als Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
in den alten Bundesländern. Diese Städtebaufördermittel
können sehr gezielt in den Bereichen eingesetzt werden, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
(B) (D)
in denen sich die demografische Veränderung brutal aus-
wirkt, nämlich in den ballungsfernen Gebieten in den Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
neuen wie in den alten Ländern. Das Wort hat nun der Kollege Carl-Ludwig Thiele für
Das Besondere an diesen Städtebauförderprogram- die FDP-Fraktion.
men ist, dass wir versuchen, die Bürger in die Prozesse (Beifall bei der FDP)
vor Ort einzubeziehen. Mit dem Umbau ihrer Städte und
Gemeinden soll ihre Lebensqualität gesteigert werden.
Der Weg in die Bürgergesellschaft bedeutet: Wir müssen Carl-Ludwig Thiele (FDP):
die Bürger dazu animieren, bei der Gestaltung ihres un- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
mittelbaren sozialen Umfeldes mitzuwirken und sich für Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon erstaunlich:
ihre Heimat einzusetzen. Diese Botschaft in Richtung Hier wird über die Bilanz der einjährigen Regierung
Bürgergesellschaft wollen wir aussenden. durch die große Koalition diskutiert und kein Bundesmi-
nister ist anwesend. Bei der SPD ist nicht einmal ein hal-
Mit dem Programm „Soziale Stadt“ wollen wir, ver- bes Dutzend Abgeordnete anwesend; es sind lediglich
knüpft mit sozialpolitischen Maßnahmen, das schwie- fünf. Das bedeutet doch, dass der Erfolg, der in unserem
rige soziale Umfeld in Großstädten, aber auch in kleine- Land momentan zu verzeichnen ist, auch von der großen
ren Städten verbessern. Damit ebnen wir den Menschen, Koalition selbst nicht als Erfolg der Regierung wahrge-
die dort zum Teil am Rande der Gesellschaft leben, den nommen wird. Denn ansonsten könnte sie ganz anders
Weg zurück in die Gesellschaft. dastehen und mögliche Erfolge ganz anders verkaufen,
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- als das heute der Fall ist.
neten der SPD) (Beifall bei der FDP)
Ich glaube, dass die große Koalition in diesem Jahr
Fast ein Jahr nach Abgabe der Regierungserklärung
gezeigt hat, dass eine breite Basis für die Bewältigung
von Bundeskanzlerin Angela Merkel hat die FDP einen
von Aufgaben geschaffen wurde. Es wurde außerdem
Antrag unter der Überschrift „Mehr Freiheit wagen“ ein-
die Voraussetzung dafür geschaffen, das Potenzial dieses
gebracht. Exakt das war das Leitmotiv, unter welchem
Volkes für das Land, für die Gesellschaft und für die
die Regierungserklärung der Bundeskanzlerin stand. Ein
Volkswirtschaft zu nutzen.
Jahr nach der Regierungserklärung fordern wir, die FDP,
Junge Menschen haben nun Hoffnung auf einen Aus- dazu auf, den Gedanken „Mehr Freiheit wagen“ tatsäch-
bildungsplatz. Ich erinnere in diesem Zusammenhang lich umzusetzen.
6346 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006

Carl-Ludwig Thiele
(A) Selbstverständlich freuen wir, die FDP-Fraktion, uns Viele Bürger in unserem Land haben gehofft, dass eine (C)
darüber, dass das Wachstum in unserem Land gestiegen große Koalition in der Lage wäre, mit großen Reformen
und die Arbeitslosigkeit gesunken ist und die öffentliche zu großen Lösungen zu gelangen. Sie müssen allerdings
Hand schon in diesem Jahr erheblich mehr Steuern ein- feststellen, dass – wie bei der Gesundheitsreform – die
nimmt, als noch im Frühjahr geschätzt. Die Entwicklung größte Gemeinsamkeit der großen Koalition im Suchen
sieht positiv aus und wird von uns, der FDP, überhaupt des kleinsten gemeinsamen Nenners besteht. Grundsätz-
nicht schlechtgeredet. Manch einer glaubt allerdings, liche Reformen fehlen. Vorgestern hat der Sachverstän-
dass aus dieser positiven Entwicklung der Schluss zu digenrat der Bundeskanzlerin sein Jahresgutachten mit
ziehen sei, Reformen könnten letztlich überflüssig sein. den Worten übergeben: Frau Bundeskanzlerin, die unge-
Die schlichte Argumentation lautet: Nun haben wir den nutzten Chancen! Hier müssen wir ansetzen. Wir können
Aufschwung. Wozu dann noch Reformen? Es geht doch beim Wirtschaftswachstum, bei der Arbeitslosenzahl
auch so. – Das war schon das Motto von Gerhard und beim Gesundheitswesen besser dastehen. Insofern
Schröder; er bezeichnete dieses Vorgehen als „ruhige muss hier mehr geschehen.
Hand“. Ähnlich ist leider das Motto der derzeitigen Bun-
Gestern Nacht hat der Haushaltsausschuss seine Bera-
deskanzlerin, die es „Politik der kleinen Schritte“ nennt.
tungen zum Haushalt für das Jahr 2007 abgeschlossen.
Das reicht nicht für unser Land. Hier muss mehr gesche-
Trotz der durch die Steuerschätzung für das nächste Jahr
hen; denn man kann sich nicht auf den Lorbeeren ausru-
prognostizierten Steuermehreinnahmen in Höhe von
hen, die momentan zu ernten sind.
8,5 Milliarden Euro wird die Neuverschuldung nur um
(Beifall bei der FDP) 2,5 Milliarden Euro reduziert. Das ist viel zu wenig; das
ist viel zu mutlos. Hier müsste mehr geschehen; denn die
Wer so denkt und handelt, übersieht, dass es nicht die Neuverschuldung belastet nach wie vor zukünftige Etats
Anstrengungen der Politik, sondern insbesondere die und die zukünftige Politik.
Anstrengungen der Wirtschaft sowie der Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmer in unserem Land sind, die dazu Ich komme zum Schluss. Wir wissen, dass ein höhe-
beitragen, dass die Entwicklung positiver ist, als sie zu- res Wachstum die Voraussetzung für mehr Beschäfti-
vor war. Die Unternehmen und ihre Mitarbeiter konnten gung, höhere Steuereinnahmen und sinkende Sozialaus-
nicht darauf warten, dass sich die Politik bewegt. Sie ha- gaben darstellt. Deshalb muss die Regierung alles
ben vielmehr selbst eine Menge unternommen. Die unterlassen, was das Wachstum gefährdet, und alles un-
Wettbewerbsfähigkeit ist erheblich gesteigert worden. ternehmen, was das Wachstum fördert. Daher appellie-
Die Entwicklung bei den Lohnstückkosten ist ausgespro- ren wir an die Bundesregierung, aber auch an die Abge-
chen günstig. Hier schlagen inzwischen Lohnzurückhal- ordneten der großen Koalition: Nutzen Sie – dem
Auftrag des Sachverständigenratgutachtens entspre-
(B) tung und Rationalisierungsbemühungen kräftig positiv chend – die Chancen! Wagen Sie endlich mehr Freiheit! (D)
zu Buche. Die Unternehmen verdienen wieder, zum Teil
sogar kräftig. Sie zahlen mehr Steuern und haben – vor In den Bereichen wird die FDP Sie unterstützen.
allem das ist wichtig – deutlich an Substanz gewonnen. Herzlichen Dank.
Sie können wieder investieren und Arbeitsplätze schaf-
fen. Die Arbeitsplätze, die jetzt geschaffen werden, sind (Beifall bei der FDP)
nicht durch die Bundesregierung geschaffen worden,
sondern von den Unternehmerinnen und Unternehmern Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
in unserem Lande. Nächster Redner ist der Kollege Carsten Schneider
für die SPD-Fraktion.
(Beifall bei der FDP)
(Beifall bei der SPD)
Aufgabe der Politik ist, dafür Sorge zu tragen, dass
wir weiter Wachstum haben, weiter Arbeitsplätze ge-
schaffen werden, die Arbeitslosigkeit abgebaut und die Carsten Schneider (Erfurt) (SPD):
Neuverschuldung gesenkt wird. Deutschland befindet Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
sich in einem verschärften globalen Wettbewerb. Es gibt Der Kollege Thiele hat eben zu „Mehr Freiheit wagen“
diesen Wettbewerb. Die anderen Staaten warten nicht aufgerufen. Ich will die Gelegenheit nutzen und mir die
darauf, bis wir uns ändern und wettbewerbsfähiger wer- Freiheit nehmen, nach einem Jahr großer Koalition eine
den, sondern handeln jetzt. Deshalb sind wir aufgefor- Bilanz zu ziehen. Das war ja auch Anlass Ihrer Großen
dert, Deutschland wettbewerbsfähiger zu machen. Das Anfrage.
geht nur durch entschlossenes Handeln. Ich glaube, dass der Zeitpunkt sehr gut gewählt ist.
Die Politik ist in der Pflicht, die Rahmenbedingungen Sie haben eben den Abschluss der Haushaltsberatungen
für Deutschland zu verbessern. Wir freuen uns, dass in in der letzten Nacht erwähnt. Wir haben im Haushalts-
diesem Jahr ein Wachstum von gut 2 Prozent erreicht ausschuss ein, wie ich meine, sehr gutes Ergebnis erzielt.
wird. Wir müssen aber leider feststellen, dass auch die- Die Finanzpolitik ist der Stabilitätsanker dieser Regie-
ses Wachstum nur halb so groß ist wie das Wachstum der rung. Wir hatten das Ziel, das strukturelle Defizit im
Weltwirtschaft und im nächsten Jahr schon wieder unter Bundeshaushalt, das 60 Milliarden Euro betragen hat,
2 Prozent liegen wird. bis zum Ende der Legislaturperiode zu halbieren. Der
Kollege Scholz hat bereits darauf hingewiesen, dass wir
Wir haben durch die große Koalition im Deutschen nun in der Situation sind, durch eine konsequente Politik
Bundestag eine veränderte politische Konstellation. des Abbaus von Steuervergünstigungen – das ist für
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006 6347
Carsten Schneider (Erfurt)
(A) mich auch eine Frage der Gerechtigkeit –, durch eine bei der Bundesagentur für Arbeit, bei der wir uns höhere (C)
klare Struktur im Bundeshaushalt und durch eine Über- Einnahmen erhofft haben. Wir haben es geschafft, diese
prüfung der Ausgaben deutliche Einsparungen erreicht Risiken abzudecken.
zu haben. Dadurch können wir das Ziel der Halbierung
Trotzdem ist es uns gelungen, den größten Teil der
des strukturellen Defizits, dessen Erreichung wir uns für
Steuermehreinnahmen zur Senkung der Nettokredit-
2010 vorgenommen haben, bereits im Jahr 2007 errei-
aufnahme zu verwenden. Sie sinkt von den geplanten
chen.
22 Milliarden Euro auf 19,5 Milliarden Euro. Das ist der
Für das Haushaltsjahr 2006 war eine Neuverschul- niedrigste Stand seit der Wiedervereinigung. Das ist ein
dung von 38 Milliarden Euro geplant. Wahrscheinlich großer Erfolg dieser großen Koalition. Das sage ich ins-
werden wir dieses Jahr mit 30 Milliarden Euro abschlie- besondere vor dem Hintergrund der Beteiligung der FDP
ßen. Der Grund der Einsparung von 8 Milliarden Euro an früheren Regierungen. Ich denke, dass es ein deutli-
ist ein besseres Wirtschaftswachstum. Dieses bessere ches Signal für die mittelfristige Finanzplanung ist, dass
Wirtschaftswachstum kommt nicht von irgendwoher. Ich die Nettokreditaufnahme deutlich unter den geplanten
behaupte nicht, dass es in Gänze auf die Initiativen die- 22 Milliarden Euro liegt; denn die Regierung wird bei
ser Bundesregierung zurückgeht. Ich denke aber doch, der Aufstellung des Haushalts 2008 nicht darüber hi-
dass die vom Kollegen Meister angesprochenen Maß- nausgehen können. Diese Linie wird also fortgeführt
nahmen – zum Beispiel die Hightechstrategie und das werden. Ich hoffe, dass wir am Ende dieser Legislaturpe-
CO2-Gebäudesanierungsprogramm, die auf dem Ar- riode – ich sehe diesbezüglich Einvernehmen zwischen
beitsmarkt, insbesondere im Baubereich, für einen Kapa- den Regierungsfraktionen – bei einem deutlich niedrige-
zitätsaufbau gesorgt haben – dazu geführt haben, dass ren Neuverschuldungswert ankommen werden als ge-
sich das Wirtschaftswachstum in der Bundesrepublik er- plant.
höht hat.
Das alles ist enorm wichtig, um das Vertrauen der
Ich bin mit unserer Bilanz sehr zufrieden. Unser Bürger in den Staat zu stärken. Allein die Verringerung
Wirtschaftswachstum wird in diesem Jahr deutlich der Neuverschuldung im Jahr 2006 um 8 Milliar-
über 2 Prozent liegen, wahrscheinlich bei 2,6 Prozent. den Euro bietet uns im nächsten Jahr einen Spielraum
Damit geht eine bessere Entwicklung auf dem Arbeits- von 300 Millionen Euro, der sich aus geringeren Zins-
markt einher. Wir haben eine halbe Million Arbeitslose zahlungen ergibt. Deswegen ist jede Reduzierung der
weniger und viele freie Stellen, was wir in vielen Bran- Verschuldung gut für dieses Land, gut für künftige Ge-
chen in den vergangenen Jahren leider nicht in diesem nerationen und gut für die wirtschaftliche Entwicklung.
Maße zu verzeichnen hatten. Außerdem haben wir eine
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
deutlich bessere Situation, was die Steuereinnahmen be-
(B) der CDU/CSU) (D)
trifft. All das unterstützt uns bei unserer Aufgabe, dieses
Land nach vorne zu bringen. Daneben nehmen wir die Reformen der Sozialversi-
cherungssysteme in Angriff. Bezüglich der Gesundheits-
Mit diesem Haushalt können wir insgesamt sehr zu-
reform haben wir zwar grundsätzliche politische Be-
frieden sein. Der Bundesfinanzminister Peer Steinbrück
schlüsse gefasst; wir werden sie im Bundestag allerdings
ist seine Aufgaben nicht nur als Fiskalist angegangen,
noch beraten müssen. Im Bereich der Arbeitslosenversi-
sondern er hat auch seinen wirtschaftspolitischen An-
cherung erreichen wir eine Absenkung der Lohnneben-
spruch deutlich gemacht.
kosten um 2,3 Prozent. Das hat es seit Bestehen dieser
Allein in der vergangenen Woche wurden von dieser Bundesrepublik noch nie gegeben. Es ist richtig, dass
Koalition – Stichwort: Unternehmensteuerreform – so wir – Herr Berninger, ich gehe auf Ihre Äußerungen
viele offene Punkte abgearbeitet, wie viele von uns nicht ein – bei der Rentenversicherung eine Erhöhung der
zu träumen gewagt haben. Von daher sage ich: Die Fi- Lohnnebenkosten verzeichnen müssen. Netto handelt es
nanzpolitik ist Stabilitätsanker und Motor dieser Regie- sich trotzdem um eine Entlastung.
rung.
(Matthias Berninger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Ich komme auf den Haushaltsentwurf zu sprechen, NEN]: Bei der Krankenversicherung?)
den wir gestern im Ausschuss beraten haben. Im Plenum
– Wir werden sehen, wie die Situation bei den Kranken-
werden wir ihn zwar erst in der nächsten Sitzungswoche
kassen nach der Reform aussehen wird. Im Bundeshaus-
beraten, ich möchte aber schon heute einige Schlaglich-
halt haben wir Vorsorge getroffen und den Steuerzu-
ter setzen: Auf der Seite des Bundes betragen die Mehr-
schuss um 1 Milliarde Euro erhöht. Ich persönlich war
einnahmen zwar 8 Milliarden Euro, im Etat waren aber
an den Beratungen über die Gegenfinanzierung beteiligt.
bereits Einnahmen in Höhe von 2,5 Milliarden Euro ein-
Wenn man in diesem Bereich weitere Aufbauschritte
geplant, sodass der Verteilungsspielraum nur noch circa
machen will, dann ist klar, dass man die mittelfristige Fi-
6 Milliarden Euro beträgt. Mit diesem Haushalt werden
nanzplanung für die Jahre 2008 und 2009 überarbeiten
wir die positive Entwicklung verstärken. Wir haben uns
muss. Wir müssen die Vorhaben auf ihre Gegenfinanzie-
nach eingehender Beratung entschlossen, mit den Steu-
rung prüfen.
ermehreinnahmen erkennbare Risiken abzudecken. Risi-
ken bestehen beispielsweise bei den Kosten der Unter- Die Notwendigkeit dafür resultiert aus zwei Ursachen.
kunft im kommunalen Bereich – Herr Friedrich hat das Zum einen sind das die von mir benannten Risiken, die
schon angesprochen –, für den wir Mehrausgaben in auch 2008 fortbestehen werden. Die Entlastung der Kom-
Höhe von 2,3 Milliarden Euro veranschlagt haben, und munen für Investitionen ist bis 2010 durchgeschrieben.
6348 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006

Carsten Schneider (Erfurt)


(A) Wir haben uns aber auch darauf zu verständigen, wie sich Doch über diese Freiheit haben Sie nicht diskutiert. (C)
der Steuerzuschuss für die gesetzliche Krankenversiche-
rung entwickeln soll. Den werden wir nicht aus konjunk- Sie reden von Ihrer Bilanz. Ich finde, man muss die
turellen Steuermehreinnahmen bestreiten können, weil Bilanz an der Veränderung der Lebenswirklichkeit der
konjunkturelle Mehreinnahmen nicht dauerhaft sind. Ein Menschen messen. Das werden die, die uns zuhören,
guter Kaufmann und guter Sachwalter des Bundeshaus- auch so sehen. Dann sehe ich, dass die Erfahrung der
halts und damit der Interessen der Steuerzahler muss da- Menschen ist, dass man mit harter Arbeit in diesem Land
für eine dauerhafte Finanzierung finden. Das wird eine keinen Wohlstand erreicht. Harte Arbeit und qualifizierte
Aufgabe für Mitte nächsten Jahres sein. Arbeit werden besteuert, mit Sozialabgaben belegt, Ka-
pitaleinkünfte hingegen privilegieren Sie. Ich habe lange
Damit bin ich nicht mehr nur bei der Bilanz, sondern nachgedacht – das finde ich das spannende Thema, wenn
auch beim Ausblick. Ich glaube, die Bilanz von einem wir hier schon über die Bilanz reden –, was die volks-
Jahr großer Koalition ist sehr gut, vor allen Dingen in wirtschaftliche Rationalität dessen, was Sie machen, ist.
dem Bereich, den ich hier zu vertreten habe. Bei der Ich sehe bei der großen Koalition ein Bündnis zwischen
Festlegung der Prioritäten für die nächsten Jahre wird Neoliberalismus und Fiskalismus. Ich weiß nicht, ob Sie
uns vieles beschäftigen: das Entwicklungshilfeziel, das sich über die Lage des Landes im nächsten Jahr im Kla-
wir erreichen wollen – die Bundeskanzlerin hat das zu- ren sind: Sie werden diesem Land durch die verschiede-
gesagt; es geht um Milliardenbeträge, die bisher nicht nen steuerpolitischen Beschlüsse, die Sie gefasst haben,
gegenfinanziert sind –, die Krankenversicherung, aber 38 Milliarden Euro Kaufkraft entziehen. Die Mehrwert-
auch die Maßnahmen zur Stabilisierung der wirtschaftli- steuererhöhung ist der größte Brocken, aber es kommen
chen Entwicklung. Ich bin angesichts der erfolgreichen andere hinzu. 9 Milliarden Euro davon schenken Sie den
Politik dieses Jahres guter Dinge, dass es uns gelingen großen Unternehmen durch die Senkung der Unterneh-
wird, in dieser Kontinuität auch in den nächsten drei Jah- mensteuern. Das ist eine Mischung von Einnahmen er-
ren sehr gute Ergebnisse für dieses Land zu erzielen. höhen auf Kosten der breiten Masse der Bevölkerung
und gleichzeitiger Begünstigung derer, die vor Kraft
Vielen Dank.
kaum mehr laufen können.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
(Beifall bei der LINKEN)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Das ist nicht gerecht, aber auch volkswirtschaftlich
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege nicht rational. Alle Welt – da können Sie jeden Wirt-
Ulrich Maurer für die Fraktion Die Linke. schaftsteil aufschlagen – spricht davon, dass die Welt-
konjunktur abkühlt. Die USA diskutieren die Frage,
(B) (Beifall bei der LINKEN) wie tief es in die Rezession geht oder ob es noch für eine (D)
halbwegs weiche Landung reicht. In dieser weltwirt-
Ulrich Maurer (DIE LINKE): schaftlichen Situation des Jahres 2007 privilegieren Sie
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- mit Ihren steuerpolitischen Beschlüssen erneut einseitig
gen! Was mich erschreckt, ist, wie wenig diese Debatten die Exportindustrie, setzen Sie erneut auf die Begünsti-
die Lebenswirklichkeit der Menschen in diesem Land gung von Kapitalanlagen, würgen Sie die ohnehin seit
widerspiegeln. Sie legen einen Antrag vor mit dem Titel Jahren schwache Binnennachfrage noch weiter ab. Was
„Mehr Freiheit wagen“. Ich frage mich immer: Wessen soll das werden? Was ist die volkswirtschaftliche Ratio-
Freiheit meinen Sie eigentlich? Sie meinen, wenn ich nalität einer solchen Politik?
das richtig verstehe, die Freiheit des Wettbewerbs und Sie feiern sich im Moment für etwas über 200 000 zu-
die Freiheit des Marktes. sätzliche sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsver-
(Matthias Berninger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- hältnisse. Kennen Sie die Zahlen in anderen westlichen
NEN]: Nicht bei den Apotheken! – Carl- Ländern? Kennen Sie die Zahlen in Europa? Da ist ja
Ludwig Thiele [FDP]: Freiheit für die Bürger!) kein herausragender Beitrag sichtbar, im Gegenteil. Sie
setzen eine Politik fort, mit der Sie den Brotkorb für den
Es ist unstreitig, dass die Freiheit des Wettbewerbs und kleinen Mann immer höher hängen und diejenigen be-
die Freiheit des Marktes dazu führen, dass die Stärke- günstigen, die Sie immer begünstigt haben. Das ist nicht
ren stärker und die Schwächeren schwächer werden. Das nur ungerecht, vielmehr wird das im Ergebnis auch dazu
ist eine Freiheit, die wir nicht meinen. Ich sage Ihnen: führen, dass die Zahl der Arbeitslosen nicht zurückgehen
Sie blenden die Lebenswirklichkeit der Menschen aus. wird und dass sich die Armutsproblematik und die Ver-
Uns geht es um die Freiheit der Millionen in diesem teilungskämpfe verschärfen werden. Wer in eine sich an-
Land, die überschuldet sind. Was ist mit der Freiheit der bahnende weltwirtschaftliche Abkühlung und in eine re-
Armen in Deutschland, was ist mit der Freiheit der zessive Situation in anderen Ländern hinein die eigene
2,5 Millionen armen Kinder in Deutschland? Was ist mit Binnenkonjunktur, die er ohnehin schon jahrelang ka-
der Freiheit der Menschen, die hart arbeiten und am puttgemacht hat, noch weiter belastet, der ist auf einem
Ende feststellen, dass es gerade für Nahrung, das Nö- völlig falschen Weg.
tigste an Kleidung und die Bezahlung der Wohnung aus-
reicht? Über deren Freiheit müsste debattiert werden in (Beifall bei der LINKEN)
diesem Land!
Feiern Sie sich deswegen nicht. Bei dem, was Sie hier
(Beifall bei der LINKEN) heute gefeiert haben, könnte es sich nämlich um etwas
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006 6349
Ulrich Maurer
(A) Ähnliches wie bei Schillers „Räubern“ handeln. Dort Ich hoffe, dass Sie von den Sozialdemokraten stärker (C)
gibt es den Satz: Noch ein letztes Zucken, dann ist es darauf achten – wir tun das allemal –, dass diese Einnah-
vorüber. – Im nächsten Jahr reden wir darüber. men zum Schuldenabbau genutzt werden. Die Botschaft,
die Sie hier senden, ist falsch: Der Schuldenberg steigt
(Beifall bei der LINKEN)
weiter.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Beifall bei der FDP)
Das Wort zu einer Kurzintervention auf die Rede des
Kollegen Schneider erteile ich nun dem Kollegen Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Koppelin. Seine Wortmeldung wurde vorhin übersehen. Herr Kollege Schneider, wollen Sie antworten?

Jürgen Koppelin (FDP): Carsten Schneider (Erfurt) (SPD):


Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Ich will es kurz
Herr Kollege Koppelin, Ihre Einschätzung von SPD-
machen. Die Haushaltsberatungen werden wir ja noch
Finanzpolitik und Stabilität teile ich voll und ganz. Das
durchführen.
kann ich unterschreiben. Hier befinden wir als SPD uns
Der Kollege Schneider ist auf den Haushalt 2007 ein- in einer großen Kontinuität.
gegangen, den der Haushaltsausschuss heute Nacht mit
der Mehrheit der Koalition verabschiedet hat. Er hat Ich will auf den Haushalt 2007 eingehen. Er wird uns
natürlich einiges vergessen. Trotz der hohen Einnahmen ja auch noch beschäftigen.
durch die Mehrwertsteuererhöhung, die wir als FDP ab- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Eichel-Nachfol-
lehnen – er hat sie mit über 10 Milliarden Euro bezif- ger!)
fert –, und trotz weiterer Steuermehreinnahmen von weit
über 10 Milliarden Euro – das bezieht sich immer nur Bei den Beratungen konnten wir den Abstand zwischen
auf den Bund – ist die Neuverschuldung im Haushalt den Investitionen und der Kreditaufnahme, der für die
nur um 2,5 Milliarden Euro gesunken. Das ist keine Er- Einhaltung des Art. 115 Grundgesetz maßgeblich ist,
folgsgeschichte. deutlich erhöhen. Nach den Beratungen ist klar, dass die
Investitionen des Bundes um 500 Millionen Euro stei-
(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Richtig!) gen.
Kollege Schneider, Sie müssen Folgendes feststellen:
(Jürgen Koppelin [FDP]: Aber nicht prozent-
Aufgrund der hohen Einnahmen, die die große Koalition
mäßig!)
erzielt, steigt der Schuldenberg zwar langsamer, aber Sie
(B) bauen ihn nicht ab und Sie verringern die Schulden im Die Nettokreditaufnahme sinkt auf 19,5 Milliarden (D)
nächsten Bundeshaushalt nicht auf null. Die Chance hät- Euro. Damit ist sie die niedrigste seit der Wiedervereini-
ten Sie gehabt. Auf der Ausgabenseite haben sie aber gung. Das heißt, wir haben Spielraum gewonnen. Durch
überhaupt nichts getan. die Mittel, die wir letztendlich auch durch die bessere
(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) Konjunktur eingenommen haben, haben wir die Netto-
kreditaufnahme abgesenkt.
Insofern ist dieser Haushalt 2007 keine Erfolgsge-
schichte. Sie haben die Mehrwertsteuererhöhung angespro-
chen. Sie wissen, dass nur 1 Prozentpunkt davon – das
Noch einmal: Der Schuldenberg steigt zwar langsa- sind 6,5 bis 7 Milliarden Euro – tatsächlich beim Bund
mer, aber er steigt. Das müssen unsere Kinder und Kin- verbleibt. Wenn wir diese nicht hätten, dann könnten wir
deskinder eines Tages bezahlen. Der eine entscheidende Art. 115 Grundgesetz nicht einhalten.
Punkt ist, dass Sie bei den Ausgaben nichts getan haben;
der andere – die große Koalition geht darauf überhaupt Das heißt, wenn Sie diese Maßnahme ablehnen, dann
nicht ein –, dass all diese Gelder, die Sie einnehmen, von verletzen Sie die Vorgaben des Grundgesetzes. Das führt
den Bürgern stammen. Sie kassieren bei den Bürgern zu einem verfassungswidrigen Haushalt. Wir brauchen
schamlos ab. Darauf sollten Sie einmal achten und ein- aber einen Abbau des strukturellen Defizits. Diesen Weg
gehen. werden wir weitergehen.
Kollege Schneider, Sie gehören der sozialdemokrati- (Beifall bei der SPD – Dr. Uwe Küster [SPD]:
schen Fraktion an. Ich erkenne an, dass Ihr Parteivorsit- So sind sie bei der FDP!)
zender Beck durchaus die richtigen Akzente gesetzt hat
– auch der Finanzminister hat dies manchmal getan –, Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
indem er gesagt hat, dass wir die Schulden stärker ab- Ich schließe die Aussprache.
bauen müssen. Diese Auffassung teilen wir. Leider ha-
ben Sie einen Koalitionspartner, der fleißig ausgibt. Zusatzpunkt 8. Wir kommen zur Abstimmung über
Diese Rolle haben Sie als SPD früher eher gehabt. Die den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/
SPD übernimmt jetzt die Rolle, die früher die CDU/CSU 3288 mit dem Titel „Mehr Freiheit wagen“. Wer stimmt
hatte. Vielleicht liegt das aber auch daran, dass Ihr Ko- für diesen Antrag? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? –
alitionspartner zurzeit keinen aktiven Wirtschafts- oder Damit ist der Antrag mit den Stimmen aller Fraktionen
Finanzpolitiker in seinen Reihen hat, der darauf achtet, mit Ausnahme der FDP-Fraktion, die dafür gestimmt
dass die Schulden stärker abgebaut werden. hat, abgelehnt.
6350 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 31 a und 31 b so- Der Gipfel wird sich mit den globalen Gefahren be- (C)
wie Zusatzpunkt 9 auf: fassen, denen wir uns ausgesetzt sehen. Wir wissen, dass
Gefahren heutzutage nicht mehr an unseren, sondern au-
31 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Eckart ßerhalb unserer Grenzen entstehen. Wir wissen, dass
von Klaeden, Dr. Andreas Schockenhoff, Bernd Globalisierung Komplexität bedeutet und dass durch die
Siebert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion dunkle Seite der Globalisierung die Gefahren, die sich
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Markus durch sie ergeben können, komplexer werden. Massen-
Meckel, Niels Annen, Rainer Arnold, weiterer vernichtungswaffen, transnationaler Terrorismus, Failing
Abgeordneter und der Fraktion der SPD States, Energie als eine strategische Waffe: All das sind
Die NATO vor dem Gipfel in Riga vom 28. bis Herauforderungen, mit denen wir uns auseinander zu
29. November 2006 setzen haben.

– Drucksache 16/3296 – Die eigentliche Herausforderung, die auf uns zukom-


men wird, ist, dass diese Gefahren nicht allein auftreten,
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Paul sondern sich miteinander verbinden können. Die Debatte
Schäfer (Köln), Monika Knoche, Hüseyin-Kenan über den Iran zeigt, dass sich diese Gefahren zu einer
Aydin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion neuen größeren Gefahr kombinieren können. Es gibt
der LINKEN ernsthafte Hinweise darauf, dass der Iran den Besitz von
Massenvernichtungswaffen anstrebt und den Terroris-
NATO-Gipfel in Riga für Abrüstungsinitiati- mus unterstützt, wie etwa die Hisbollah, die Hamas und
ven nutzen den globalen Dschihad. Er setzt seine Energiereserven
– Drucksache 16/3280 – strategisch ein, um im Weltsicherheitsrat die anderen
Länder zu Wohlverhalten aus seiner Sicht zu zwingen.
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Rainer Stinner, Jens Ackermann, Dr. Karl Wir stehen vor der Herausforderung, den Konsulta-
Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion tionsmechanismus innerhalb der NATO mit neuem Le-
der FDP ben zu erfüllen. Wir sehen, dass die Vereinigten Staaten
in der zweiten Amtsperiode von Präsident Bush ihre
Neues strategisches Konzept für die NATO Politik gegenüber den Bündnispartnern geändert haben
und stärker auf multilaterale Zusammenarbeit setzen.
– Drucksache 16/3287 –
Heute wird ganz anders über das Bündnis und seinen
Überweisungsvorschlag: Wert gesprochen, als das – darüber haben wir schon
Auswärtiger Ausschuss (f)
(B) Verteidigungsausschuss
heute Vormittag gesprochen – vor einigen Jahren der (D)
Fall gewesen ist.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe Umgekehrt bekennen wir uns als große Koalition in
dazu keinen Widerspruch. Dann werden wir so verfah- unserem Koalitionsvertrag zu dem Prinzip des effek-
ren. tiven Multilateralismus. Vor allem die Vereinigten
Staaten sind zu Multilateralismus verpflichtet. Es gibt
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen – im Sinne eines Werkzeugkastens der NATO – keine
Eckart von Klaeden für die CDU/CSU-Fraktion das „Coalition of the Willing“ mehr. Zunächst wird konsul-
Wort. tiert, gemeinsam beraten und gemeinsam entschieden.
Aber dann wird – diese Anforderung richtet sich an
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- uns – auch gemeinsam gehandelt. Die Amerikaner müs-
wie des Abg. Markus Meckel [SPD]) sen für den Multilateralismus sorgen. Wir aber müssen
für die Effizienz dieses Multilateralismus sorgen.
Eckart von Klaeden (CDU/CSU):
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolle- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
gen! Wir debattieren heute über den NATO-Gipfel in
Riga, der am 28. und 29. November dieses Jahres statt- Das zeigt sich insbesondere bei der größten Operation,
finden wird. Die wesentlichen Themen dieses Gipfels die die NATO zurzeit durchführt, nämlich in Afghanis-
werden die Operationen der NATO sein. Dabei wird es tan. Ich will die Afghanistandebatte, die wir heute Mor-
vor allem um die Lage in Afghanistan gehen. Möglicher- gen und auch in den letzten Wochen geführt haben, nicht
weise wird auch über die Lage im Kosovo gesprochen, wiederholen. Dazu fehlt mir auch die Redezeit. Ich will
insbesondere für den Fall, dass die Statusverhandlungen aber darauf hinweisen, dass im Hinblick auf Afghanistan
im nächsten Jahr zu einem Ende kommen werden. vor allem vonseiten der Vereinigten Staaten immer wie-
der die nationalen „caveats“, wie es im NATO-Deutsch
Auch die Lage in Darfur wird möglicherweise ange- heißt, also die nationalen Vorbehalte der Mitgliedstaaten
sprochen. Ich rechne allerdings nicht damit, dass die bezüglich des Einsatzes ihrer Truppen, kritisiert werden.
NATO eine Mission in Darfur plant. Vielmehr wird es
um die Frage gehen, wie die NATO, falls die Mission der Ich meine, dass sich diese Kritik nicht an Deutschland
Afrikanischen Union den Vereinten Nationen übertragen richten kann. Wir leisten in Afghanistan einen verita-
wird, wie bisher logistische und andere Unterstützung blen, einen wichtigen Beitrag. Es macht auch keinen
für diese Mission leisten kann. Sinn, den Norden zu destabilisieren, um im Süden Un-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006 6351
Eckart von Klaeden
(A) terstützung leisten zu können. Ich habe schon heute Vor- erkennen, dass der globale islamistische Terrorismus (C)
mittag auf die Kombination und gegenseitige Ergänzung auch die Sicherheit ihrer Länder bedroht. Dies macht
von Enduring Freedom und dem ISAF-Mandat hinge- deutlich, dass wir ein Interesse daran haben, dass sich
wiesen. Staaten wie zum Beispiel Indonesien oder Malaysia de-
mokratisch entwickeln. Das heißt nicht, dass wir uns
Klar ist aber auch, dass wir, wenn wir uns der Forde-
dort militärisch engagieren wollen. Aber Entwicklungen
rung nach Effizienz stellen, akzeptieren müssen, dass
in diesen Staaten haben Konsequenzen auch für die Si-
nationale Vorbehalte das gemeinsame Handeln ein-
cherheitslage bei uns. Wir müssen ein Interesse daran
schränken und wir in Zukunft – wenn wir ein multilate-
haben, dass sich solche Staaten positiv entwickeln und
rales Vorgehen der Amerikaner, aber auch anderer wol-
ein Vorbild in der muslimischen Welt für demokratische
len – von solchen nationalen Vorbehalten schrittweise
und rechtsstaatliche Entwicklung werden können. Des-
Abschied nehmen müssen.
wegen sage ich Ja zu einer stärkeren Kooperation mit
Gleichzeitig richtet sich an die Amerikaner die Auf- diesen Staaten.
forderung, bei den Rahmenbedingungen gemeinsamer
Ich will sechs Kriterien nennen, nach denen die Part-
Einsätze auch gemeinsame Grundlagen zu akzeptieren.
nerstaaten der NATO ausgesucht werden sollten:
Es ist richtig, dass nationale Vorbehalte dafür sorgen
können, dass die Solidarität im Bündnis unterminiert Erstens. Es müssen demokratische Staaten sein.
wird, weil die Gefahr besteht, dass schwierige Aufgaben
von den einen und Stabilisierungsaufgaben von den an- Zweitens. Sie müssen einen veritablen Beitrag zu un-
deren übernommen werden sollen. Das wird am Ende serem gemeinsamen Auftrag leisten können. Sowohl bei
nicht funktionieren. der Wahl der Partnerstaaten der NATO als auch im Rah-
men zukünftiger Erweiterungen muss geprüft werden,
Umgekehrt jedoch unterminieren Sonderregelungen, ob die Staaten, um die es geht, für die NATO einen Vor-
die einzelne Staaten für sich in Anspruch nehmen, zum teil bieten.
Beispiel bei der Behandlung von Kriegsgefangenen oder
so genannten unlawful combattants, auch die Bündnisso- Drittens. Sie müssen die wichtigen internationalen
lidarität, weil das dafür sorgt, dass die notwendige Un- Verträge einhalten, zum Beispiel den Vertrag über die
terstützung für das gemeinsame multilaterale Vorgehen Nichtverbreitung nuklearer Waffen.
in den Mitgliedstaaten verloren geht. Auch das ist nicht Viertens. Sie dürfen den Terrorismus nicht unterstüt-
im Sinne des Bündnisses. zen.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem Fünftens. Sie müssen sich klar darüber sein, dass mit
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Winfried der Kooperation kein Recht auf ein Veto gegen NATO- (D)
(B)
Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Entscheidungen verbunden sein kann und dass sechstens
Das war ein guter Kommentar zur vorherigen Art. 5 des NATO-Vertrages nicht gilt.
Debatte!)
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Es wird auch um die Erweiterung der NATO gehen,
wobei aus den bekannten Gründen, die ich jetzt aufgrund (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
der begrenzten Redezeit nicht weiter erläutern kann, ein
Membership-Action-Plan, also ein Aufnahmeverfahren Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
für die Ukraine und für Georgien, zurzeit nicht auf der Nächster Redner ist der Kollege Dr. Rainer Stinner
Tagesordnung steht. Von den Staaten in Europa, die sich für die FDP-Fraktion.
derzeit um eine Aufnahme bemühen, hat Kroatien die
meisten Fortschritte gemacht und ist am ehesten in der (Beifall bei der FDP)
Lage, NATO-Mitglied zu werden.
Wir werden aber auch über die Frage der so genann- Dr. Rainer Stinner (FDP):
ten Global Partnerships oder Contact Countries spre- Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-
chen. Es ist völlig klar, dass es dabei nicht um die Erwei- legen! Wir haben auf den letzten beiden Münchener
terung der NATO nach Ostasien geht. Es wird also auch Konferenzen für Sicherheitspolitik zwei sehr interes-
nicht um eine Erweiterung der Beistandsverpflichtung sante Reden zum Thema NATO gehört: im Jahre 2005
aus Art. 5 des NATO-Vertrages gehen. Eine solche Er- eine des damaligen Bundeskanzlers und im Jahre 2006
weiterung ist allein schon aufgrund Art. 10 des NATO- eine der Bundeskanzlerin. Die im Jahre 2005 von Herrn
Vertrages, der das Mitgliedsgebiet der NATO geogra- Schröder geschriebene Rede ist von Herrn Struck aber
fisch definiert, ausgeschlossen. wohl nicht verstanden und daher völlig lustlos vorgetra-
gen worden.
Wir haben aber ein Interesse daran, dass die Koopera-
tion mit den Staaten Ostasiens, die unsere Werte teilen, (Walter Kolbow [SPD]: Völlig falsch, Herr
intensiviert wird. Ich denke dabei vor allem an Japan Kollege!)
und Südkorea, aber auch an Australien und Neuseeland, – Etwas anderes ist nicht möglich. Herr Struck ist doch
auch wenn diese geografisch nicht zu Ostasien gehören. ein intelligenter Mensch.
All diese Staaten leisten einen wichtigen Beitrag. Man
muss sich einmal vor Augen führen, wie stark Australien (Walter Kolbow [SPD]: Sie waren ja gar nicht
und Neuseeland in Afghanistan engagiert sind, weil sie dabei!)
6352 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006

Dr. Rainer Stinner


(A) – Selbstverständlich war ich dabei. Wetten wir doch, sche Partnerschaft. Aber es stellen sich die Fragen: Was (C)
Herr Kolbow! heißt das? Ist unser Verhältnis zu den Ländern, die Sie
genannt haben – Südkorea, Japan und Australien –, ähn-
(Walter Kolbow [SPD]: Ach was!) lich oder anders gelagert? Gibt es hier einen qualitativen
Diese Rede ist so lustlos vorgetragen worden – Herr Unterschied?
Kolbow, auch Sie waren anwesend –, dass sie im weite- (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Darüber
ren Verlauf der Münchener Sicherheitskonferenz sogar müssen wir diskutieren!)
erhebliche Aufmerksamkeit erregt hat.
– Sehr richtig. Darüber müssen wir diskutieren. Ich bin
(Walter Kolbow [SPD]: Sie haben lustlos zu- Ihrer Meinung. Zunächst einmal sollten wir aber die
gehört!) Antwort der Regierung abwarten.
– Wenn Sie mir nicht glauben, lesen Sie es nach. Meiner Meinung nach gibt es einen erheblichen Un-
Auch die Frau Bundeskanzlerin hat sich in ihrer Rede, terschied zwischen solchen Ländern, deren Wertegerüst
die sie in diesem Jahr in München gehalten hat, sehr verlässlich ist und die die Bedingungen erfüllen, und sol-
stark der NATO zugewandt. Wir haben gedacht: Donner- chen Ländern, mit denen wir eng zusammenarbeiten
wetter! Da kommt frischer Wind. Das ist toll. – Sie hat müssen, weil wir zum Beispiel gemeinsame Ziele verfol-
Ankündigungen gemacht, die wir sehr begrüßen. Zum gen. Auch hierzu erwarte ich Vorlagen der Bundesregie-
Beispiel hat sie darauf hingewiesen, dass sie den Prozess rung. Herr von Klaeden, Ihre Einlassung zu diesem
der Entwicklung eines neuen strategischen Konzepts der Thema begrüße ich außerordentlich.
NATO anstoßen möchte. Wir dachten erneut: Donner- Darüber hinaus bin ich der Auffassung, dass es keine
wetter, das ist toll! – Aber was haben wir seit dieser Ta- Entgrenzung der NATO geben darf; das betrifft auch
gung Anfang Februar dieses Jahres erlebt? Eine Einlö- Art. 5 des NATO-Vertrages. Hier sind wir völlig einer
sung dieses Versprechens ist bisher nur in Ansätzen oder Meinung. Unter organisatorischen Gesichtspunkten wäre
gar nicht erfolgt. Das fordern wir natürlich ein. eine NATO mit 50 Staaten, unabhängig von den rechtli-
(Dr. Uwe Küster [SPD]: Ihre Rede fängt ja chen Bedingungen, nicht schlagkräftiger als eine NATO
wirklich gut an!) mit 26 und demnächst vielleicht 27 Mitgliedstaaten.
Auch hier sind wir einer Meinung.
Ich denke, gerade jetzt, auf dem anstehenden Riga-
gipfel, hätte man die Zeit, dieses Versprechen einzulö- Ich komme zum zweiten Thema, das ich genannt
sen. Denn auf dem Rigagipfel gibt es kein alles andere habe: dem Verhältnis zwischen der EU und der
überragendes Thema, wie es bei den vorigen Gipfeltref- NATO. Wir müssen feststellen: Das Verhältnis zwischen
(B) fen der NATO der Fall war, als die Situation in Afgha- EU und NATO ist schlecht bzw. zerrüttet. Sie dürfen das (D)
nistan im Vordergrund stand; darauf haben Sie hingewie- als Regierung nicht so offen sagen; das verstehe ich.
sen, Herr von Klaeden. Umso wichtiger ist es, dass wir Aber wir als Parlamentarier müssen der Realität ins
uns jetzt im Hinblick auf die NATO mit den grundsätzli- Auge schauen. Das Verhältnis zwischen diesen beiden
chen, konzeptionellen Themen beschäftigen. Organisationen ist zerrüttet.

Ich will aus dem gesamten Bündel möglicher Themen (Beifall bei der FDP)
nur drei ansprechen: Das erste ist die regionale Dimen- Das behindert uns sehr stark.
sion der NATO, das zweite ist das Verhältnis der EU zur
NATO und das dritte ist die sehr umstrittene Frage, ob Das mag zum Teil sicherlich in personellen Inkompa-
die NATO ein Werkzeugkasten sein soll. tibilitäten zwischen den beiden Spitzenvertretern dieser
Organisationen begründet sein.
Zum Thema der regionalen Dimension der NATO
haben Sie, Herr von Klaeden, Ausführungen gemacht. Ich sehe die Hauptgründe darin, dass wir ein unter-
Ich kann jedes Ihrer Worte unterschreiben. Ich finde das, schiedliches Verständnis der NATO haben. Das ist ein
was Sie gesagt haben, gut. Aber von der Bundesregie- Problem innerhalb der EU. So hat unser guter Freund
rung haben wir dazu bisher nichts gehört. Daher möchte und wichtiger Partner Frankreich offensichtlich völlig
ich die Regierung bitten, das zu bestätigen, was Herr von andere Vorstellungen über die politische Dimension der
Klaeden gesagt hat NATO als wir. Es ist Aufgabe der Bundesregierung, ge-
rade im ersten Halbjahr des nächsten Jahres als Füh-
(Zustimmung des Bundesministers Dr. Franz rungsmacht in Europa in diesen Fragen für Klarheit zu
Josef Jung) sorgen und sie gegenüber Frankreich deutlich anzuspre-
– vielleicht haben Sie ja Einfluss auf die Regierung –, chen.
oder aber selbst Initiativen zu ergreifen. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Winfried
(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Die Regie- Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
rung nickt!) Frankreich weigert sich zum Beispiel, Herr Minister, das
– Wie ich sehe, nickt der Minister. Das ist der kurze Thema Energie im Zusammenhang mit der NATO anzu-
Dienstweg. sprechen. Aber spätestens seit letztem Jahr wissen wir
alle, dass dieses Thema erhebliche sicherheitspolitische
Herr von Klaeden, wir müssen noch einen Schritt Komponenten hat. Deshalb muss es innerhalb der NATO
weiter gehen. Die NATO hat mit Russland eine strategi- besprochen werden.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006 6353
Dr. Rainer Stinner
(A) Der letzte Punkt betrifft die NATO als Werkzeug- zu kommen. Davon sind wir in vielen Punkten noch weit (C)
kasten. Wir sind mit der amerikanischen Sicht konfron- entfernt.
tiert worden und haben uns vehement dagegen ausge-
sprochen. Ich bitte, diese Einstellung zu überdenken. Ich bin der festen Überzeugung, dass es in der Frage
Schließlich gilt nach wie vor das alte Motto „Wenn du des Scheidewegs, ob die NATO ein lockeres Forum un-
nur einen Hammer hast, dann ist für dich alles ein ter Führung der USA sein soll – dem möglichst viele an-
Nagel.“ In diesem Sinne würde ich es begrüßen, wenn gehören, die den USA in einer „Coalition of the Willing“
die NATO nicht nur einen Hammer, sondern auch einige folgen – oder eine verbindliche Allianz, in der gemein-
andere Werkzeuge zur Verfügung hätte. Wir alle sind uns sam analysiert, entschieden und gehandelt wird, für uns
darin einig, dass auch im Rahmen der NATO neben der Europäer wichtig ist, dass die zweite Variante realisiert
militärischen Komponente die Politik eine größere Rolle wird, soweit dies möglich ist. Tendenziell war dies in der
spielen muss. Insofern würde ich es begrüßen, wenn sie Vergangenheit bereits der Fall, wenngleich die bereits
über ein breites Bündel von Werkzeugen verfügen angesprochenen Auflösungserscheinungen immer wie-
würde. der sichtbar wurden. Insofern steht diese Debatte nach
wie vor zu Recht auf der Tagesordnung.
Entscheidend ist aber nicht, ob wir ein Werkzeug oder
mehrere haben. Es geht vielmehr darum, wer über den Ich glaube, dass die kontroverse Diskussion über die
Einsatz welcher Werkzeuge wo und wann entscheidet. Sicherheitspolitik im NATO-Rat intensiver fortgesetzt
Das ist eine eminent politische Frage. Es ist auch Kredo werden muss. Schon in diesem Punkt gibt es unter den
der Bundeskanzlerin – ich bitte sie, dieses Kredo auch in NATO-Partnern oft keine Einigkeit. So besteht noch
Riga einzulösen –, dass diese politische Frage dort ent- nicht einmal Einigkeit über die Tagesordnung, weil etwa
schieden wird, wo sie hingehört, nämlich im Rahmen der unser Verbündeter Frankreich, mit dem wir sonst viel zu-
NATO. sammenarbeiten, sagt: Wir verstehen die NATO aus-
schließlich als militärisches Instrument und wollen dort
Ich danke Ihnen. keinen politischen Dialog führen. Ich bin dagegen der
Meinung, dass es sehr wichtig ist, den Dialog fortzufüh-
(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ ren und insbesondere nach der Präsidentschaftswahl in
DIE GRÜNEN) Frankreich im nächsten Jahr zu klaren Positionen zu
kommen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Das betrifft den gesamten Bereich der Zusammenar-
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Markus
beit zwischen NATO und EU. Er wird in Zukunft von
Meckel für die SPD-Fraktion.
eminenter Bedeutung sein. Ich bin sogar der festen
(B) (Beifall bei der SPD) Überzeugung, dass die Zukunft der NATO wesentlich (D)
von uns Europäern abhängen wird, von unserer Fähig-
keit, nicht nur in der Europäischen Union, sondern auch
Markus Meckel (SPD):
in der NATO mit einer Stimme zu sprechen. Es ist bis-
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und lang gewissermaßen ein Fauxpas, wenn man im Zusam-
Kollegen! Die zentralen Fragen, die in Riga und noch menhang mit der NATO von einem europäischen Caucus
weit darüber hinaus zur Debatte stehen, sind angespro- spricht. Ich halte das aber in Zukunft für notwendig. Es
chen worden. Lieber Herr Stinner, Sie haben die beiden ist doch absurd, dass Staaten, die Mitglied der EU und
Reden in München erwähnt. Dabei haben Sie aber ver- der NATO sind, in der EU gemeinsame Positionen fin-
gessen, mitzuteilen, was Herr Struck, der die Rede von den – hoffentlich haben wir in Zukunft öfter welche –,
Herrn Schröder stellvertretend vorgetragen hat, inhalt- aber im NATO-Rat so tun, als gäbe es solche Positionen
lich gesagt hat. Er hat kritisiert, dass in der NATO nicht nicht. Es muss aber in Zukunft möglich sein, sowohl in
über die Fragen diskutiert würde, über die im transatlan- der EU als auch in der NATO gemeinsame Positionen zu
tischen Raum dringend diskutiert werden müsste. Das vertreten. Auch wenn unser amerikanischer Partner das
müsse erreicht werden. Damit hat er übrigens Recht, un- nicht gerne sieht, ist es wichtig, dass wir, die Europäer,
abhängig davon, wer die Rede vorgetragen hat. künftig im Rahmen der NATO verstärkt mit gemeinsa-
Insofern ist es zu begrüßen, dass es bei dem früheren mer Stimme sprechen.
Bundeskanzler und der Bundeskanzlerin in dieser Frage (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Kontinuität gibt. Inzwischen ist in der NATO einiges der CDU/CSU)
passiert, wenngleich wir abwarten müssen, inwieweit
diese Entwicklung in Zukunft fortgesetzt werden kann. Das wird uns als Europäer partnerschaftsfähig machen.
Bislang hat man manchmal den Eindruck, dass wir nur
Der Forderung nach einem neuen strategischen Kon- gefolgschaftsfähig sind. Die einen sind willig, die ande-
zept stimme ich grundsätzlich zu; die Frage ist nur, ren nicht. Dann kommt es zu Schwierigkeiten wie beim
wann man damit beginnt. Ich bin nicht sicher, ob jetzt Irakkrieg.
der richtige Zeitpunkt dafür ist. Denn ein Konzept wird
dann erstellt, wenn ungefähr klar ist, wohin die Reise ge- Die Bewältigung der zentralen Herausforderungen,
hen soll. Das scheint mir zurzeit aber nicht ganz klar zu vor denen wir stehen, hängt wesentlich davon ab, ob wir
sein. Das heißt, wir brauchen einen längeren Diskus- Europäer die Fähigkeit und den politischen Willen ha-
sionsprozess innerhalb der NATO, um die angesproche- ben, sicherheitspolitisch gemeinsam zu handeln. Dafür
nen Fragen zu klären und zu konsensfähigen Antworten sind entsprechende Ressourcen notwendig. Hier müssen
6354 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006

Markus Meckel
(A) wir, glaube ich, noch einiges tun. Die Amerikaner redu- den. Wir sollten die Frage stellen, ob das jeweilige Ver- (C)
zieren dies auf die Frage nach dem Budget. Auch ich halten unseren Zielen entspricht, die Herzen und Köpfe
glaube, dass beim Budget noch einiges getan werden der Menschen in den Einsatzorten zu gewinnen.
muss. Aber viel wichtiger erscheint mir im Augenblick
die Frage, wie wir unsere Ressourcen nutzen. Entspre- Lassen Sie mich damit schließen – auch das ist ange-
chen alle Beschaffungen, die im Augenblick auf der Ta- sprochen worden –, wie es mit Südosteuropa nach den
gesordnung stehen und im Plan sind, zielgenau dem Statusverhandlungen im Kosovo weitergehen soll. Ich
künftigen Einsatz der Bundeswehr? Dies betrifft nicht bin der festen Überzeugung, dass wir, die NATO, bisher
nur uns Deutsche, sondern alle Europäer. Insofern ist die selbst ein Problem sind, da wir den Staaten des west-
Frage nach der Rüstungsagentur und ihrer Rolle – diese lichen Balkans bisher die Partnerschaft für den Frie-
sollten wir in Europa stärken – ausgesprochen wichtig. den vorenthalten haben. Ich halte die Zusammenarbeit
mit dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehema-
Wenn wir sowohl in der NATO als auch in der Euro- lige Jugoslawien in Den Haag für dringend notwendig.
päischen Union arbeitsteilig vorgehen wollen, dann Ich halte es aber für falsch, daraus ein Bedingungsge-
muss man darauf vertrauen können, dass andere die Res- füge zu konstruieren. Wir erhalten die Chance, mit der
sourcen, die man selbst nicht hat, zur Verfügung stellen. Partnerschaft für den Frieden auf die Sicherheitsstruktu-
Wir müssen uns in diesem Zusammenhang selbstkritisch ren dieser Länder Einfluss auszuüben. Ich bin der festen
fragen, welche verbindlichen Zusagen wir unseren Part- Überzeugung, dass wir das tun sollten. Deshalb ist meine
nern eigentlich geben können. Das betrifft uns alle; denn Erwartung an Riga, dass man diese Schritte geht, ge-
wir entscheiden im Bundestag über den Einsatz der Bun- nauso übrigens, wie wir das mit Belarus tun. Wenn ich
deswehr. Verbindliche Zusagen sind wichtig, damit un- sehe, dass wir mit diesem Diktator die Partnerschaft für
sere Partner nicht jede Waffe selbst haben müssen und den Frieden implementieren – übrigens aus guten Grün-
die europäischen Staaten sowohl in der NATO als auch den, nämlich um dort etwas sicherheitspolitisch zu tun –,
in der Europäischen Union verstärkt arbeitsteilig agieren dann frage ich mich, wo der Unterschied zu Serbien,
können. Ich glaube, hier sind einige Fragen in unserem Montenegro und den Staaten des westlichen Balkans ist.
Diskurs noch offen. Diese sind es mit Sicherheit wert, dass wir diesen Schritt
gehen, wobei die Forderung nach einer Zusammenarbeit
Ich gehöre übrigens zu denjenigen, die der Meinung mit dem Internationalen Strafgerichtshof aufrechterhal-
sind, dass wir es in Zukunft dann, wenn wir uns nicht ten bleiben muss.
selbst beteiligen wollen, ermöglichen bzw. verbindlich
zusagen sollten, dass deutsche Offiziere in den Stäben Vielen Dank.
bleiben. Wenn wir dies nicht tun, werden wir unsere Ver-
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
(B) lässlichkeit in Bezug auf die Handlungsfähigkeit inte- (D)
grierter Strukturen auf Dauer nicht stärken können bzw.
keine ausreichend verlässlichen Partner sein können. Die Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Frage nach „civic caveats“ wurde bereits gestellt. Dies Das Wort hat nun der Kollege Paul Schäfer, Fraktion
gehört, wie ich finde, wesentlich dazu. Wenn wir die Die Linke.
Verbindlichkeit integrierter Strukturen stärken und
arbeitsteilig vorgehen wollen, um es billiger und effekti- (Beifall bei der LINKEN)
ver zu machen, dann müssen wir diese Fragen gemein-
sam beantworten.
Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE):
Die Zusammenarbeit von EU und NATO ist ange- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
sprochen worden, auch die Schwierigkeiten und die Blo- Nach dem Ende des Kalten Krieges stellte sich die
ckade, die wir faktisch haben, weil die Türkei wegen Frage: Was passiert mit den hoch gerüsteten Militär-
der ungelösten Zypernfrage alles, was über die konkre- bündnissen, wenn der jeweilige Feind abhanden gekom-
ten Operationen hinausgeht, blockiert. Es ist auch ange- men ist? Kann man sie auflösen oder nicht? Weil nicht
sprochen worden, dass unser Partner Frankreich sich im sein kann, was nicht sein darf, kam schnell das geflü-
Grunde freut, dass die Türkei blockiert, weil Frankreich gelte Wort für die NATO auf: out of area oder out of
dann diese Gespräche nicht führen muss. Insofern business. Nun ist die NATO out of area, sie ist weltweit
glaube ich, dass wir auf parlamentarischer Ebene mit un- im Geschäft. „We are very busy“, hat uns der NATO-Ge-
seren französischen und türkischen Freunden stärker ins neralsekretär kürzlich gesagt. Man geht dabei von einem
Gespräch kommen müssen. Sicherheitsbegriff aus, der bei der organisierten Krimi-
nalität anfängt und über die Zufuhr lebenswichtiger Res-
In Riga stehen die globalen Partnerschaften auf der sourcen bis hin zur unkontrollierten Bewegung einer
Tagesordnung. Herr Kollege von Klaeden, dazu haben großen Zahl von Menschen – das steht in NATO-Doku-
Sie das Nötige gesagt. Ich teile völlig die Kriterien, die menten – reicht. Das alles kann unsere Sicherheit bedro-
angesprochen worden sind. Wir sollten vorsichtig sein hen. Gleichzeitig hat man sich 1999 im Jugoslawien-
und erst einmal die Fragen der Truppensteller, der Effek- krieg selbst zu Militärintervention und Krieg ermächtigt
tivität und des gemeinsamen Verhaltens klären. und hat das in die Doktrin hineingeschrieben. Mit ande-
Britische, amerikanische oder auch deutsche Soldaten ren Worten: Die NATO verpflichtet sich zu nichts, er-
kommen aus verschiedenen Traditionen und verhalten mächtigt sich aber zu allem.
sich vor Ort unterschiedlich. Auch über solche Dinge
sollten wir im Rahmen der NATO sehr viel intensiver re- (Beifall bei der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006 6355
Paul Schäfer (Köln)
(A) Ich finde, 15 Jahre nach dem Gipfel von Rom müsste Unser Antrag weist in die richtige Richtung. Wir (C)
eine kritische Bilanz darüber gezogen werden, was man müssen eine konsequente Politik der Zivilisierung ver-
erreicht hat und was nicht. Auf der Agenda steht seit folgen. Das heißt aber auch, dass wir kritisch reflektieren
1991 der Kampf gegen den Terrorismus. Das steht mit müssen, dass die NATO nun einmal das größte Aufrüs-
wachsendem Gewicht auf der Agenda der NATO. Haben tungsbündnis ist, das im Moment existiert. Deshalb wie-
wir in den Folgejahren weniger Terrorismus gehabt oder derholen wir unseren Vorschlag. Am Ende des Kalten
mehr Terrorismus? War diese Politik von Erfolg ge- Krieges hieß es: Wer mehr hat, soll mehr geben. Heute
krönt? Seit 1991 steht in den Dokumenten, die Nichtver- müssen wir sagen: Wer so viel hat wie die NATO, sollte
breitung von Atomwaffen, Rüstungskontrolle und Ab- wenigstens einmal anfangen mit der Abrüstung. Das ist
rüstung hätten größte Bedeutung für die NATO. Hat man der entscheidende Punkt.
hier etwas erreicht? Wir haben inzwischen de facto mehr
Atommächte. Wir haben wieder steigende Rüstungsaus- (Beifall bei der LINKEN)
gaben und auch die globalen Waffenströme wachsen an. Wir reden über die Krise der nuklearen Nichtverbrei-
Das ist keine Erfolgsstory. Ob das Kosovo als Beispiel tung. Auch diesbezüglich kann und muss die NATO ein
dafür taugt, dass die NATO ein Instrument der Krisenre- positives Signal setzen; dafür könnte einiges getan wer-
aktion ist, ist sehr in Zweifel zu ziehen. Diese Interven- den. Unter dem Strich brauchen wir nach unserer Auf-
tion war mit einem Völkerrechtsbruch verbunden. Das fassung als Fraktion Die Linke die NATO nicht als glo-
Ziel eines multiethnischen Kosovo ist inzwischen Schall bales Ordnungsbündnis und als Weltpolizist. Gegen eine
und Rauch. NATO out of business haben wir nichts.
Beim Thema Afghanistan sind wir inzwischen bei Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Durchhalteparolen angelangt, die lauten: Wir dürfen
nicht verlieren. Die NATO findet keinen Weg aus Krieg (Beifall bei der LINKEN)
und Gewalt. Das hängt nach unserer Überzeugung als
Linke damit zusammen, dass die NATO ganz überwie- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
gend eine Militärallianz geblieben ist, dass sie überwie- Der letzte Redner in dieser Debatte ist Herr Kollege
gend von den USA dominiert wird und dass sie der Winfried Nachtwei für die Fraktion des Bündnisses 90/
Mobilisierung neuer Ressourcen für eine Entwicklungs- Die Grünen.
politik im Wege steht.
(Beifall bei der LINKEN) Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die französische Verteidigungsministerin hat kürzlich In Riga wird der bisherige US-Verteidigungsminister
(B) bekräftigt, Frankreich sei nur für ein reines Militärbünd- Rumsfeld nicht mehr dabei sein. Ich denke, ich spreche (D)
nis zu haben, weil man sonst falsche politische Botschaf- sehr vielen aus dem Herzen, wenn ich feststelle, dass das
ten übermittelt, nämlich die einer Kampagne auf Initia- ein Gewinn für die NATO und für die internationale Si-
tive des Westens gegen diejenigen, die seine Auffassung cherheit ist.
nicht teilen. Sie fragte weiter: Welch einen Vorwand
würden wir damit denen liefern, die die These vom Kon- (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Wollen wir erst ein-
flikt der Kulturen vertreten? mal den Nachfolger angucken!)
Als Erstes möchte ich etwas zur NATO im Einsatz,
Da wurde wenigstens einmal kritisch darüber nachge-
und zwar nicht pauschal zur NATO im Einsatz, sondern
dacht, ob wirklich alles gut ist und ob wir, weil der Wes-
zur NATO im Friedenseinsatz sagen: Vor zwei Jahren
ten gut ist, über die militärische Stärkung und Hand-
beim NATO-Gipfel in Istanbul gab es zum einen den
lungsfähigkeit des Westens reden können. Das ist zwar
KFOR-Einsatz im Kosovo und zum anderen hatte die
auf französischer Seite nicht konsequent durchdekliniert,
NATO ein Jahr zuvor die ISAF in Afghanistan übernom-
ich möchte es aber einmal zuspitzen.
men. Viele von uns erinnern sich noch sehr deutlich da-
Ich habe noch ein anderes Zitat: ran, wie das damals war. Man war darauf gekommen,
dass Kabul allein nicht ausreicht, sondern dass man auch
Der Westen gewann die Welt nicht durch die Über- in die Provinzen gehen muss. Es hat aber im Jahr 2004
legenheit seiner Ideen oder Werte oder der Reli- unter den NATO-Partnern und Verbündeten enorme Mü-
gion, vielmehr durch seine Überlegenheit, organi- hen gekostet, auf ausreichend Kräfte für die regionalen
sierte Gewalt anzuwenden. Die Euro-Amerikaner Wiederaufbauteams in den Provinzen zu kommen. Es
vergessen oft diese Tatsache, der Rest der Welt gab eine enorme Zögerlichkeit, die auch wesentlich mit
nicht. dem Irakkrieg zu tun hatte. Damals ist entscheidende
Zeit verloren gegangen. Inzwischen gibt es die Vollaus-
– Das hat kein Linker gesagt, sondern Samuel weitung der NATO-geführten ISAF nach Süd- und
Huntington. Damit hat er einen Punkt problematisiert, Ostafghanistan. Seit etlichen Wochen stehen ISAF/
den Sie vielleicht auch einmal problematisieren sollten, NATO-Truppen erstmalig in der Geschichte der NATO
statt – wie im Antrag der Regierungskoalitionen – ein- in Bodenkämpfen, die inzwischen sehr viele Opfer auf
fach zu sagen, wir müssten jetzt die militärische Hand- allen Seiten gefordert haben.
lungsfähigkeit der NATO stärken und schon seien wir
auf dem Weg zu einer friedlichen Welt. Nein, das wird Selbstverständlich wird in Riga das Thema „Lasten-
so nicht funktionieren. verteilung im Bündnis“ eine erhebliche Rolle spielen. Im
6356 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006

Winfried Nachtwei
(A) Süden und im Osten Afghanistans ist der Doppelauftrag Tagesordnungspunkt 31 a. Abstimmung über den An- (C)
– auf der einen Seite Sicherheit zu schaffen und auf der trag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD mit dem
anderen Seite Aufbau und Entwicklung zu fördern – be- Titel „Die NATO vor dem Gipfel in Riga vom 28. bis
sonders kompliziert. Für die dort nicht beteiligten ISAF- 29. November 2006“. Wer stimmt für den Antrag auf
Nationen ist die Situation im Süden und Osten nach mei- Drucksache 16/3296? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
nem Eindruck kaum durchschaubar. gen? – Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen
In diesem Zusammenhang möchte ich ausdrücklich angenommen.
darauf hinweisen, dass es meiner Meinung nach falsch
ist, die Arbeit, die im Norden gemacht wird, als so ge- Tagesordnungspunkt 31 b. Abstimmung über den An-
nannten leichten Job abzutun. Wer da war, weiß, wie trag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „NATO-Gipfel
kompliziert und riskant die Situation ist. Bisher war man in Riga für Abrüstungsinitiativen nutzen“. Wer stimmt
dort aber relativ erfolgreich. Es wäre völlig falsch, die für den Antrag auf Drucksache 16/3280? – Wer ist dage-
Kräfte dort zu schwächen. Auf der anderen Seite muss gen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen
auch klar sein, dass sich der relativ erfolgreiche Weg im aller Fraktionen mit Ausnahme der Fraktion Die Linke
Norden ohne eine Stabilisierung im Süden nicht fortset- abgelehnt.
zen lässt.
Zusatzpunkt 9. Interfraktionell wird die Überweisung
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der Vorlage auf Drucksache 16/3287 an die in der Tages-
sowie des Abg. Markus Meckel [SPD]) ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind
Nun möchte ich noch auf den Punkt „Kooperation die Überweisungen so beschlossen.
und Partnerschaften“ zu sprechen kommen. Ich meine,
dies war in der Vergangenheit eine regelrechte Erfolgs- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 34 a und 34 b auf:
geschichte. Was vor allem amerikanische Vorschläge zu
einer Global Partnership angeht – ich brauche nicht zu a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
wiederholen, was meine Vorredner gesagt haben –: Eine CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
solche Entgrenzung des Bündnisses wäre eine völlige Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches
Überforderung. Dies ist in der Tat abzulehnen. Andere Sozialgesetzbuch und des Finanzausgleichsge-
Konsultations- und Kooperationsmöglichkeiten gibt es setzes
selbstverständlich. – Drucksache 16/3269 –
Zum Verhältnis NATO/Europäische Union ist schon Überweisungsvorschlag:
(B) einiges Richtige gesagt worden. Dieses Nebeneinander Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) (D)
Innenausschuss
reicht absolut nicht. Wir werden das im Kosovo beson- Rechtsausschuss
ders deutlich sehen. Wenn die UN abziehen, dann muss Finanzausschuss
man zusammenarbeiten. Dasselbe gilt für das Verhältnis Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
zwischen zivilen Organisationen und NATO. Notwendig Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
ist eine Zusammenarbeit auf gleicher Augenhöhe. Haushaltsausschuss

Der Gipfel in Riga ist der erste NATO-Gipfel in ei- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidrun
nem ehemaligen Staat der Sowjetunion. Hinzu kommt, Bluhm, Katrin Kunert, Dr. Gesine Lötzsch, wei-
dass dieser Gipfel an einem ganz besonderen, an einem terer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
historischen Ort stattfindet. Den meisten ist wahr- Bundesweite Mindeststandards für angemes-
scheinlich gar nicht bewusst: Vor 66 Jahren befand sich senen Wohnraum und Wohnkosten für Bezie-
Lettland seit sechs Monaten unter sowjetischer Besat- herinnen und Bezieher von Arbeitslosengeld II
zung. Vor 65 Jahren, am 29. November 1941, wurde in
Riga die Erschießung von mehr als 15 000 Rigenser Ju- – Drucksache 16/3302 –
den vorbereitet. Diese Erschießung wurde von der SS Überweisungsvorschlag:
am 30. November 1941 vollzogen. Anlässlich des Ri- Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
gaer NATO-Gipfels an diesem historischen Ort sollte da- Innenausschuss
ran erinnert werden, wofür Militär notwendig sein kann, Rechtsausschuss
nämlich zum Schutz des Völkerrechts, zum Schutz vor Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
schwersten Menschenrechtsverletzungen. Herr Minister, Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
es wäre gut, wenn Sie zusammen mit der Kanzlerin in Haushaltsausschuss
Riga die Gedenkstätte Rumbula besuchten.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist auch
Ich danke Ihnen. für diese Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. –
Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so be-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schlossen.
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Kollegen Karl Schiewerling für die CDU/CSU-Fraktion.
Ich schließe die Aussprache. (Beifall bei der CDU/CSU)
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(A) Karl Schiewerling (CDU/CSU): bringungskosten – für das nächste Jahr werden (C)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 14,3 Milliarden Euro angenommen – von ursprünglich
Verlässlichkeit ist einer der Grundpfeiler von politi- 2 Milliarden Euro auf 4,3 Milliarden Euro. Das ent-
schem Handeln – Verlässlichkeit der Politik und Verläss- spricht einem Anteil von 31,8 Prozent der Kosten; bis-
lichkeit zwischen den staatlichen Ebenen, zwischen lang waren es nur 29,1 Prozent
Bund, Ländern und Gemeinden. Diese Verlässlichkeit ist
(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg.
eine der Grundvoraussetzungen für unsere Demokratie.
Gabriele Hiller-Ohm [SPD])
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung des
Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und des Finanzaus- Wir haben somit eine Regelung zu den Kosten gefun-
gleichsgesetzes beweist der Bund, dass er verlässlich ist. den, mit der sich der Bund an den höheren Unterkunfts-
kosten beteiligt und damit die kommunalen Haushalte
Zugegeben: Bei der Verabschiedung der Hartz-Refor-
entlastet. Die Aufteilung der Mittel ist Sache der Länder.
men war die Regelung der Übernahme der Kosten der
Sie müssen das für sich selbst regeln.
Unterkunft eines der größten Probleme. Hierbei gab es
sehr unterschiedliche Bewertungen dazu, wie hoch die Die Kommunen erhalten diese Entlastung ebenso in
Einsparungen beim Wegfall der Sozialhilfe sein würden den Folgejahren. Der Bund bleibt auch insofern ein ver-
und wie viel Bedarfsgemeinschaften überhaupt zugrunde lässlicher Partner. Beide Seiten haben sich auf eine
zu legen sind. Wir hatten zu dieser Zeit keine gesicherte Gleitklausel verständigt: Steigt die Anzahl der Bedarfs-
Datenbasis. gemeinschaften, dann steigt auch der Anteil, den der
Bund an den Kosten der Unterkunft trägt; sinkt aber die
Letztlich verständigte man sich darauf, dass sich der
Zahl der Bedarfsgemeinschaften, dann sinkt auch die
Bund mit 29,1 Prozent an den von den Kommunen zu
Beteiligungsquote des Bundes.
tragenden Unterkunftskosten beteiligt. Es gab bis zuletzt
Streitigkeiten hinsichtlich der Berechung der Unter- (Vorsitz: Vizepräsidentin Petra Pau)
kunftskosten. Der Bund ging nach der horizontalen Be-
Mit dieser Gleitklausel passen wir den Bundesanteil
rechungsweise vor, während die Kommunen mit der ver-
künftig der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt und den
tikalen Berechnungsweise auf ihre Zahlen kamen. Wir
jeweils tatsächlich entstehenden Unterbringungskosten
haben es im SGB-II-Fortentwicklungsgesetz geregelt.
an.
Nicht übersehen werden darf, dass mit der Einführung
(Beifall bei der CDU/CSU)
von Hartz IV viele Städte finanziell entlastet wurden,
während viele ländliche Kommunen belastet wurden. Ich finde das fair. Das verstehe ich auch unter Verläss-
Auch nicht von der Hand zu weisen ist, dass diejenigen, lichkeit. Indem wir diese Verlässlichkeit zeigen, bewei-
(B) die vorher Sozialhilfe bezogen haben, nun mehr Geld sen wir, dass wir uns mit den Kommunen bei der Be- (D)
bekommen, weil die Regelsätze angehoben wurden. Al- kämpfung der Arbeitslosigkeit in einem Boot sehen.
lerdings sind Sonderbedarfe weggefallen. Aber das woll-
ten wir auch. Wir wollten pauschalieren und die Eigen- Der Kompromiss zeigt auch, dass wir die Probleme,
verantwortung stärken. die sich aus Langzeitarbeitslosigkeit ergeben, nur ge-
meinsam lösen können. Ziel muss es sein, dass die Be-
Der Bund hat dabei stets seine klare Intention betont: troffenen weiterhin Hilfe aus einer Hand bekommen.
Die Kommunen sollen eine verlässliche Entlastung bei Wir können es uns nicht erlauben, Auseinandersetzun-
den Kosten für Unterkunft und Heizung für die Bedarfs- gen zwischen den unterschiedlichen politischen Ebenen,
gemeinschaften erhalten, die Arbeitslosengeld II bekom- zwischen Bund, Ländern und Gemeinden, auf dem
men. Rücken der Langzeitarbeitslosen auszutragen. Die fast
24 Monate, seitdem Hartz IV in Kraft ist, haben manche
(Beifall bei der CDU/CSU)
Veränderungen mit sich gebracht. Wir haben diese auf-
Mit dem im vorliegenden Gesetzentwurf gefundenen gegriffen und in Gesetzesform gegossen. Ich bin sicher,
Kompromiss erreichen wir dieses Ziel für das kom- dass wir damit noch nicht am Ende sind. Wir lernen und
mende Jahr und für den überschaubaren Zeitraum bis wir handeln.
2010.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
(Beifall bei der CDU/CSU) neten der SPD)
2008 wird der Bundesanteil auf dieser Grundlage Meine Damen und Herren, die Grundsicherung ist
zwischen Bund und Ländern neu abgesteckt. Hartz IV eine Herausforderung für alle staatlichen Ebenen: Bund,
unterliegt nun einmal keinen statischen Regeln, sondern Länder und Kommunen. Die Kommunen tragen dabei in
muss jetzt und in Zukunft den tatsächlichen Entwicklun- hohem Maße zum Gelingen bei, da sie die Menschen vor
gen angepasst werden. In dem Kompromiss ist auch be- Ort direkt erreichen. Die Arbeit der Kommunen ent-
rücksichtigt, dass die Kommunen aus Eigeninteresse alle scheidet ganz wesentlich darüber, wie erfolgreich die
Anstrengungen unternehmen, um die Kosten selbst im Prinzipien der neuen Grundsicherung für die Menschen
Griff zu behalten. in die Praxis umgesetzt werden. Das gilt für die Arbeit in
den Argen, in Zusammenarbeit mit der Bundesagentur,
Der Blick auf die Zahlen zeigt, dass die These von
ebenso wie in den optierenden Kommunen.
der Verlässlichkeit allein schon vom Volumen her in
Euro und Cent umgesetzt wurde. Der Bund erhöht sei- Die aktuellen Arbeitsmarktzahlen belegen, dass im-
nen Anteil an den in den Kommunen anfallenden Unter- mer mehr Menschen aus dem SGB-II-Bezug herauskom-
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Karl Schiewerling
(A) men – zu unserer großen Freude auch verstärkt Lang- Land. Deshalb freue ich mich sehr über die Kommentare (C)
zeitarbeitslose. Allein 88 000 haben im letzten Monat und Stellungnahmen der Repräsentanten der kommuna-
den Sprung aus dem ALG-II-Bezug geschafft. Das ist, len Spitzenverbände aus den vergangenen Tagen, die
wie ich meine, ein großer Erfolg. zeigen, dass dieser Kompromiss auch für sie ein tragfä-
higes und verantwortbares Werk darstellt und dass auch
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Dirk sie die Verlässlichkeit des Bundes nicht infrage stellen.
Niebel [FDP]: Haben die jetzt Arbeit oder
kriegen die nur kein Geld mehr?) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich würde mich
freuen, wenn der Bundesanteil in diesem und im kom-
Endlich steigt die Zahl sozialversicherungspflichtiger menden Jahr weiter sinkt. Das wäre nämlich der Indika-
Beschäftigungsverhältnisse. Gegenüber dem Vorjahr gab tor dafür, dass immer mehr Menschen wieder in Lohn
es einen Anstieg um 258 000 auf nunmehr 26,56 Millio- und Brot stehen, für sich selbst sorgen können und kei-
nen. Dieser positive Trend macht sich auch an der finan- ner Hilfe der Gemeinschaft bedürfen. Es muss die ver-
ziellen Lage der Sozialkassen bemerkbar. Liebe Kolle- lässliche Kernaufgabe unseres politischen Handelns
ginnen und Kollegen, der von der großen Koalition sein, genau dafür zu sorgen, dass mehr Menschen eine
eingeschlagene Weg ist richtig. Erwerbsarbeit finden – egal ob mit oder ohne die Hilfe-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- stellung des SGB II. Dass wir an diesem großen Ziel er-
neten der SPD) folgreich arbeiten, darauf verlassen sich die Bürgerinnen
und Bürger. Diese Verlässlichkeit müssen wir in diesem
Sozial ist es eben nicht, wenn man den Erwerbslosen Hause, in den Ländern und auch im Zusammenspiel von
die Regelleistungen weiter erhöht, sondern, wenn man Bund und Ländern praktizieren und beweisen, indem wir
ihnen Perspektiven aufzeigt, wie sie aus dem staatlichen – ich sage es sehr deutlich – wie bei diesem Gesetzent-
Transfersystem herauskommen und den Lebensunterhalt wurf gemeinsam zielorientiert arbeiten.
für sich und ihre Familien aus eigener Kraft erwirtschaf-
ten können. Zugegeben: Es gibt viele Regionen in Ich danke Ihnen.
Deutschland, wo sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
schwierig darstellt, und in manchen Teilen Deutschlands
ist die Arbeitslosigkeit immens. Dennoch war es nie
Aufgabe von Hartz IV, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Vizepräsidentin Petra Pau:
Hartz IV ist und bleibt eine Grundsicherung. Der Staat Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Jörg Rohde das
kann nun mal nur die Rahmenbedingungen setzen, wäh- Wort.
rend die Wirtschaft die Arbeitsplätze schaffen muss. (Beifall bei der FDP)
(B) (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Wer (D)
hat denn immer von mehr Arbeitsplätzen ge- Jörg Rohde (FDP):
sprochen?) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Nachdem mittlerweile drei Nachbesserungs-
Das, was Sie von den Linken in Ihrem Antrag als an- gesetze zu Hartz IV verabschiedet wurden, beraten wir
gemessen und sozial beschreiben, passiert in der Praxis heute die nunmehr vierte Korrektur des unsäglichen rot-
schon längst. Umzugskosten werden bereits erstattet, grünen Hartz-Murkses.
Kautionen werden als Darlehen gezahlt. Wenn ein Er-
werbsloser umziehen muss, bekommt er auch die Kosten (Dr. Uwe Küster [SPD]: Halten Sie sich mal
für einen Bulli bezahlt. ein bisschen zurück!)
(Katrin Kunert [DIE LINKE]: Sehr unter- Die Kollegen von CDU und CSU schaffen es lediglich,
schiedlich!) einige schwarze Tupfer in das Gesetz einzubringen. Da
wir auf die Generalrevision der so genannten Hartz-IV-
In meinen Augen ist Ihr Antrag eine weitere Instrumen- Gesetze wohl noch länger warten müssen – als Erstes
talisierung – ich sage Ihnen das sehr deutlich – der Lang- würde ich übrigens gerne den Namen dieser Gesetze än-
zeitarbeitslosen für Ihre parteipolitischen Interessen. dern –, wird dies nicht der letzte Versuch einer Hartz-IV-
(Beifall bei der CDU/CSU – Katrin Kunert Korrektur sein.
[DIE LINKE]: Quatsch!) Kernpunkt der Fortschreibung des Gesetzes, um die
Sie machen Ihrer vermeintlichen Wählerklientel Hoff- es heute geht, sind die Unterkunftskosten, die zu einem
nungen auf mehr Geld, das die Steuerzahler erst einmal großen Teil von den Kommunen zu tragen sind. Diese so
erwirtschaften müssen. genannten KdU – die Kosten der Unterkunft – sind aber
nur die Symptome in diesem System. Die Ursache für
(Katrin Kunert [DIE LINKE]: Dann haben Sie die steigenden Kosten in diesem Bereich ist doch die
den Antrag nicht gelesen!) steigende Anzahl der Bedarfsgemeinschaften. Diese An-
Das führt nicht zu mehr, sondern zu weniger sozialer Ge- zahl wiederum ist so stark gestiegen, weil im Gesetz der
rechtigkeit. damals faktisch großen Koalition im Vermittlungsaus-
schuss viele Lücken waren, die von einigen Bürgern ge-
(Beifall bei der CDU/CSU) nutzt wurden, für die das Gesetz gar nicht gedacht war.
Meine Damen und Herren, Verlässlichkeit und Plan- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Sind Sie immer noch är-
barkeit – danach sehnen sich die Menschen in unserem gerlich, dass Sie nicht dabei sein durften?)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006 6359
Jörg Rohde
(A) Das war kein Missbrauch – diese Diskussion haben wir Die Anreize zur Arbeit vor Ort gehen meines Erach- (C)
heute schon geführt –, sondern schlicht handwerklicher tens in die richtige Richtung, reichen aber noch nicht
Dilettantismus bei der Gesetzgebung; aus. Jetzt müssen Sie auch konsequent sein, meine Da-
men und Herren von der Koalition: Erlauben Sie den
(Beifall bei der FDP)
Kommunen, sich aus einer Arge zu lösen und für die Zu-
die Bürger haben nur den Spielraum der Gesetze voll kunft die Option zu wählen!
ausgenutzt.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Zusätzlich versäumt es die Bundesregierung derzeit, der LINKEN)
durch eine bessere Wirtschaftspolitik und eine aktive Ar-
Nach den Erfahrungen der ersten beiden Jahre gibt es be-
beitsmarktspolitik, die Grundlagen für ein Sinken der
reits etliche Kommunen, die gerne optieren würden. Die
Anzahl der Bedarfsgemeinschaften zu schaffen.
damalige gesetzliche Festlegung auf maximal 69 Op-
Die Unterkunftskosten schnüren vielen Kommunen tionskommunen in Deutschland war doch willkürlich; si-
mittlerweile die Kehle zu. Es ist nichts als blanker Hohn, cher erinnern Sie sich noch daran. Geben Sie den Kom-
wenn gerade die Kolleginnen und Kollegen der SPD munen die Freiheit, sich für die Option zu entscheiden,
jetzt in ihren Kommunen fragen, wie es denn mit dem wenn sie das wünschen!
Ausbau der Kinderbetreuung aussehe, und meinen, da
Noch wichtiger als dieser Punkt wären die überfällige
müssten doch 2,5 Milliarden Euro sein. Davon kann
Reform der Finanzbeziehungen im föderalen System
keine Rede sein. Die kommunalen Spitzenverbände ha-
und die Entflechtung der finanziellen Zahlungsströme
ben einen Bedarf von 5,8 Milliarden Euro ausgerechnet,
zwischen Bund, Ländern und Gemeinden. Wenn die
wenn nach Abzug der Unterkunftskosten noch eine
Kommunen für die Vermittlung von Langzeitarbeitslo-
finanzielle Entlastung der Kommunen von 2,5 Milliar-
sen und gleichzeitig für die Finanzierung der KdU ver-
den Euro übrig bleiben soll. Ich frage Sie: Nehmen Sie
antwortlich wären, dann wäre man vor Ort noch moti-
in Kauf, dass die Kommunen, die bei den KdU verhält-
vierter, das Richtige zu tun, um diese Kosten in den Griff
nismäßig gut abschneiden, in die Kinderbetreuung in-
zu bekommen.
vestieren, und die Kommunen, bei denen es mit den
KdU nicht so gut läuft, eben nicht? Das kann doch nicht (Beifall bei der FDP)
Ziel Ihrer Politik sein.
Da kann die Formel, die ich eben gelobt habe, noch so
(Beifall bei der FDP) schön sein: Ein Leben ohne komplizierte Formeln, aber
dafür mit klaren Zuständigkeiten wäre eben viel einfa-
Von Handlungsfähigkeit und Planungssicherheit für cher.
die Kommunen kann jedenfalls keine Rede sein, wenn (D)
(B)
Herr Müntefering jetzt eine Kompromisssumme von (Beifall bei der FDP)
4,3 Milliarden Euro überweist. Die Hartz-Gesetze sind
Die Regierung könnte also noch bessere Gesetze als
kläglich gescheitert.
das jetzt vorliegende auf den Weg bringen. Es macht
Optionskommunen, die bei der Vermittlung in Arbeit mich daher wütend, dass wir heute zum x-ten Mal hier
beträchtliche Erfolge erzielen, können die Früchte ihrer den Mangel verwalten, anstatt endlich eine grundlegend
Arbeit nicht ernten, weil die ungedeckten Mehrausgaben andere Arbeitsmarktpolitik auf den Weg zu bringen.
bei den Kosten der Unterkunft jeden eingesparten So- Wenn alle Menschen einen Job hätten, dann müssten wir
zialhilfeeuro wieder auffressen. diese leidige Diskussion heute gar nicht führen. Aber die
große Koalition macht keine Politik für mehr Arbeit,
Positiv möchte ich aber zu der geplanten Gesetzesän- sondern steht der nachhaltigen Schaffung von Arbeits-
derung feststellen, dass zukünftig eine gute Arbeit der plätzen im Weg.
Kommunen vor Ort auch kleine finanzielle Vorteile
bringt. Durch die vorgeschlagene Formel zur Berech- (Beifall bei der FDP)
nung der Beteiligung des Bundes an den KdU wird zum
Zu Hartz IV wurde eine Vielzahl der im Koalitions-
Beispiel eine Optionskommune mehr von dem einge-
vertrag angeführten Nachbesserungen im Rahmen von
sparten Geld behalten können, wenn die Anzahl der Be-
mittlerweile drei Nachbesserungsgesetzen beschlossen.
darfsgemeinschaften sinkt, das heißt, wenn vor Ort
Eine Optimierung sehe ich indes noch nicht. Unter dem
Langzeitarbeitslose in Arbeit vermittelt werden. Erst im
Strich müssen wir Arbeitsplätze schaffen, damit die Zahl
Folgejahr wird dann der Verteilungsschlüssel angepasst.
der Bedarfsgemeinschaften sinkt und die KdU bei Bund
Bei sinkender Anzahl der Bedarfsgemeinschaften sinkt
und Ländern zurückgehen.
dann auch der prozentuale Anteil des Bundes an den
KdU. Wir brauchen ein zeitgemäßes Kündigungsschutz-
recht, ein der Zeit angepasstes Tarifvertragsrecht, be-
Umgekehrt wirkt die Formel genauso: Wenn in vielen
triebliche Bündnisse für Arbeit und vieles andere mehr.
Argen nur unzureichend Langzeitarbeitslose in Jobs ver-
Damit schaffen wir Arbeitsplätze. Ich sehe aber schwarz,
mittelt werden, dann steigt die Anzahl der Bedarfsge-
dass die Bundesregierung das schafft.
meinschaften, die entsprechende Kommune muss mehr
Geld für die KdU aufbringen – dann kann sie nicht in Ich befürchte vielmehr, dass wir uns weiterhin Gedan-
Kinderbetreuung investieren – und der Bund würde erst ken über steigende KdU machen müssen, vielleicht schon
im Folgejahr seinen Anteil an den Kosten prozentual er- bei den Haushaltsberatungen in der nächsten Sitzungswo-
höhen. che. Aber das werden Ihnen die Sachverständigen bei der
6360 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006

Jörg Rohde
(A) Anhörung zu diesem Gesetz, die wir nachher beschließen Positionen geführt. Ich will die unterschiedlichen (C)
wollen, sicher sagen. Auf den Rat der FDP hören Sie lei- Standpunkte noch einmal kurz skizzieren.
der nicht so gerne.
Der Bund ging auf Basis der vom Bundesministerium
Vielen Dank. für Arbeit und Soziales im Juni 2006 erstellten Berech-
nungen für das Jahr 2007 zunächst von einer Bundesbe-
(Beifall bei der FDP) teiligung in Höhe von 15,5 Prozent oder rund
2 Milliarden Euro aus. Diese Annahme bildete auch die
Vizepräsidentin Petra Pau: Grundlage für den entsprechenden Ansatz im Entwurf
Für die Bundesregierung hat der Parlamentarische des Bundeshaushaltes 2007. Die Länder hingegen for-
Staatssekretär Gerd Andres das Wort. derten einen Bundesanteil in Höhe von 43,2 Prozent
oder 5,8 Milliarden Euro. Das ist schon ein ganz schöner
Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi-
Batzen Geld, der da dem Bund abverlangt wird.
nister für Arbeit und Soziales: Ich will kurz darstellen, welche Annahmen hinter den
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und jeweiligen Argumentationen stehen. Für den Bund ist
Herren! Das Sozialgesetzbuch II sieht vor, dass die klar, dass sowohl der Entlastungsbetrag der Kommunen
Kommunen im Zuge der Umsetzung des Vierten Geset- aufgrund weggefallener Ausgaben für erwerbsfähige So-
zes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt um zialhilfebezieher als auch der Entlastungsbetrag der Län-
insgesamt 2,5 Milliarden Euro entlastet werden. Um dies der infolge der Änderung des Wohngeldgesetzes auf die
sicherzustellen, haben Bundestag und Bundesrat 2004 Folgejahre fortgeschrieben werden muss. Nur so können
im Vermittlungsverfahren vereinbart, dass sich der Bund die Be- und Entlastungen des alten und des neuen Leis-
an den Kosten der Unterkunft von Arbeitslosengeld-II- tungsrechts miteinander verglichen werden. Die Länder
Empfängern beteiligt. Im Dezember des vergangenen hingegen lehnten eine Fortschreibung auf der Entlas-
Jahres wurde im ersten SGB-II-Änderungsgesetzes fest- tungsseite ab.
gelegt, dass für die Jahre 2005 und 2006 diese Beteili-
gung jeweils 29,1 Prozent beträgt. Neben diesem Konflikt bestehen Differenzen hin-
sichtlich der Aufteilung der so genannten dritten
Um es an dieser Stelle klar zu sagen: Der Bund steht Gruppe. Mit Einführung des neuen Leistungsrechts ka-
zu der Zusage, die Kommunen um 2,5 Milliarden Euro men Menschen in dieses Leistungssystem, die vorher
pro Jahr zu entlasten. Zwei Bemerkungen sind in diesem weder Arbeitslosenhilfe bezogen haben noch Sozialhil-
Zusammenhang aber unbedingt notwendig. feempfänger waren. Länder und Kommunen fordern hier
eine vollständige Kostenübernahme durch den Bund.
Erstens. Die Bundesregierung verbindet mit ihrer Zu- Das aber ist aus meiner Sicht völlig unakzeptabel. Die fi-
(B) sage an die Kommunen die klare Erwartung, dass diese nanziellen Auswirkungen der von Bundestag und Bun- (D)
Entlastungen zumindest teilweise – im Verfahren war die desrat gemeinsam beschlossenen Reform würden damit
Rede von rund 1,5 Milliarden Euro – für den Ausbau vollständig vom Bund getragen. Dieser Anspruch der
der Kinderbetreuung eingesetzt werden. Ich weiß, dass Länder ist weder sachgerecht noch realitätsnah, insbe-
einige aufseiten der Länder und Kommunen das nicht sondere vor dem Hintergrund, dass es noch immer ein-
gerne hören. Herr Kollege Rohde, als jemand, der dabei zelne Länder gibt, die Leistungsausweitungen in diesem
gewesen ist, weiß ich, was verabredet worden ist. Es System fordern.
geht um nicht mehr oder weniger als darum, dass auch
die kommunale Seite ihre Zusagen einhält. Angesichts der auch nach mehreren Verhandlungs-
runden weiterhin gegensätzlichen Positionen wurden
Für die Bundesregierung bestehen eindeutige politi- nun im Rahmen eines politischen Spitzengesprächs am
sche Absprachen. Wir werden ihre Erfüllung gerade vor 2. November folgende Kompromisslösungen verein-
dem Hintergrund, dass entsprechendes Handeln der bart:
Kommunen gegenwärtig nicht in ausreichendem Um-
fang erkennbar ist, auch einfordern. Erstens. Der Beteiligungssatz für das Jahr 2007 wird
im Vergleich zu 2006 auf 31,8 Prozent angehoben.
Zweitens. Der Bund kann sicherstellen, dass die
Kommunen insgesamt um 2,5 Milliarden Euro entlastet Zweitens. Der Beteiligungssatz wird in den Jahren
werden. Er kann aber nicht die Entlastung jeder einzel- 2008 bis 2010 nach Maßgabe der Entwicklung der Zahl
nen Kommune garantieren. Das lässt unsere Finanzver- der Bedarfsgemeinschaften jeweils durch Bundesgesetz
fassung nicht zu. angepasst. – Herr Rohde, das bedeutet, wir werden uns
auch in den kommenden Jahren immer wieder mit Ge-
Nun wünschen sich manche, der Bund würde auch lo- setzen befassen. Das ist aber nichts Neues und darf einen
kal für einen Ausgleich sorgen, weil die eigentlich Ver- Abgeordneten eigentlich nicht so erschrecken, wie Sie
antwortlichen es nicht tun. Aber hier sind eindeutig die das hier dargestellt haben. – Die Grundlage dafür bietet
Länder gefragt. Sie müssen im Wege des kommunalen eine im Gesetz festgelegte Formel.
Finanzausgleichs für den angemessenen Ausgleich sor-
gen. Das kann nicht Aufgabe des Bundes sein. Drittens. Der so genannte Ausgleich Ost wird über
Sonderbedarfsbundesergänzungszuweisungen um ein
Das Jahr 2006 neigt sich dem Ende zu. Wir brauchen Jahr und damit ebenfalls bis 2010 verlängert.
dringend eine neue Vereinbarung darüber, wie sich die
Bundesbeteiligung ab 2007 darstellt. Die Gespräche mit Für den Bund hat dieser Kompromiss erhebliche
den Ländern haben leider weder auf Fach- noch auf poli- finanzielle Auswirkungen. Eine Bundesbeteiligung an
tischer Ebene zu einer ausreichenden Annährung der den Kosten der Unterkunft in Höhe von 31,8 Prozent
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006 6361
Parl. Staatssekretär Gerd Andres
(A) führt zu einer Belastung in Höhe von 4,3 Milliarden Katrin Kunert (DIE LINKE): (C)
Euro. Die Mehrausgaben im Vergleich zum Ansatz im Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Haushalt 2007 belaufen sich damit auf die stolze Summe Werte Gäste! Die Linke lehnt Hartz IV nach wie vor ab.
von 2,3 Milliarden Euro. Wer sich diese Zahlen vor Au- Hartz IV ist Armut per Gesetz. Ihre Reformen haben
gen führt, kann nur zu der Einschätzung kommen, dass nicht dazu beigetragen, dass die Armut entschärft wird.
dies ein guter Kompromiss für die Kommunen ist. Sie Vielmehr ist sie weiter verschärft worden.
erhalten Planungssicherheit bis 2010, was die Beteili-
gung des Bundes an den Leistungen der Unterkunft an- (Beifall bei der LINKEN)
geht, und sie werden – das ist meine feste Überzeugung – Das zeigt sich insbesondere bei der Frage: Was ist für
in den nächsten Jahren um deutlich mehr als die zuge- einen ALG-II-Beziehenden ein angemessener Wohn-
sagten 2,5 Milliarden Euro entlastet werden. raum? Unsere Hauptkritik bezüglich der Kosten der Un-
Denn man muss berücksichtigen – das will ich ab- terkunft richtet sich auf zwei Punkte:
schließend anmerken –, dass die kommunalen Finanzie-
Erstens. Die Mehrfachdiskriminierungen der Men-
rungsdefizite seit 2004 deutlich geringer geworden sind
schen ohne Arbeit werden um einen Punkt erweitert,
und dass die Perspektiven bei den Steuereinnahmen so
schlecht nicht sind. Im Gegenteil: Laut aktueller Steuer- nämlich dadurch, dass ihre Wohnungen – also ihr ureige-
schätzung ist für 2006 insgesamt sogar ein Überschuss ner Lebensraum – infrage gestellt werden. Ihnen wird
denkbar. Demnach werden die Steuereinnahmen aller per Gesetz die Möglichkeit genommen, selbst über ihre
Gemeinden in 2006 bei rund 67 Milliarden Euro und in Wohnung zu bestimmen. Dem hat das Bundessozialge-
2007 bei fast 68 Milliarden Euro liegen. Das sind jeweils richt mit seiner Entscheidung am Mittwoch nun wider-
rund 4 Milliarden mehr als im Mai geschätzt. Darüber sprochen. Wir wollen ein Grundrecht auf Wohnen für
hinaus muss man berücksichtigen, dass die Entwicklung alle Menschen!
der Steuereinnahmen aller Gemeinden in den Jahren (Beifall bei der LINKEN – Andrea Nahles
2005 und 2006 deutlich dynamischer ist als bei Bund [SPD]: Das haben wir doch!)
und Ländern. Die Experten erwarten, dass sich diese
Tendenz bis 2010 fortsetzen kann. Ich meine, daraus ergibt sich für den Bund in jedem
Fall ein akuter Handlungsbedarf. Die Bandbreite der bis-
Den Einwand der Kommunen, dass der Zuwachs der herigen Praxis in den Kommunen bei der Festlegung von
Einnahmen aus kommunalen Steuern unter anderem we- angemessenem Wohnraum lässt auch willkürliche Ent-
gen der Mehrwertsteuererhöhung im Jahr 2007 vermut- scheidungen der Verwaltung erkennen.
lich geringer ausfallen wird als bei Bund und Ländern,
lasse ich nicht gelten. Denn die Kommunen sind über (Dr. Uwe Küster [SPD]: Zum Rederecht gehört
(B) den kommunalen Finanzausgleich mittelbar an den wohl auch, dass jeder Mist erzählen darf!) (D)
Mehreinnahmen der Länder, die sich aus der Erhöhung
der Mehrwertsteuer ergeben, beteiligt. Sie werden des- – Herr Küster, hören Sie doch erst einmal zu!
halb nicht von der positiven Steuerentwicklung abge- (Wolfgang Grotthaus [SPD]: Da sind wir jetzt
koppelt. gespannt!)
Wenn man dies in einen Zusammenhang mit der deut- Wie sieht die Praxis in den Kommunen aus? Einige
lichen Entlastung auf der Ausgabenseite, die wir für die Kommunen verzichten völlig auf die Festlegung von
Kommunen mit dem heute diskutierten Gesetzentwurf Wohnungsgrößen und bestimmen die Angemessenheit
vorsehen, stellt, dann bedeutet das: Die Kommunen ver- nur nach Kosten. Andere legen die Zimmeranzahl und
fügen über eine solide Basis für die fortgesetzte Erho- die Fläche als Richtgröße fest. Einige haben für be-
lung ihrer Finanzen. Damit verfügen Sie über genügend stimmte Personengruppen, die besonderen Schutz benö-
Spielraum, um die notwendigen Investitionen in die In- tigen, Ausnahmeregelungen getroffen. Ein Großteil der
frastruktur der Kinderbetreuung nun endlich in Angriff Kommunen verzichtet jedoch darauf. Dann gibt es Kom-
zu nehmen. munen, die die gesetzliche Frist von sechs Monaten zur
Der Bund geht davon aus, dass die Kommunen sich Übernahme der zu hohen Unterkunftskosten unterschrei-
beim Ausbau der Kinderbetreuung an die Absprachen ten. Das ist gesetzwidrig.
halten. Gleichzeitig weisen wir die übertriebenen Forde- (Lachen bei der SPD – Wolfgang Grotthaus
rungen der Länder und Kommunen entschieden zurück.
[SPD]: Werden Sie tätig!)
Wer dem Bund immer noch vorwirft, er komme bei den
Kosten der Unterkunft seiner Verantwortung nicht nach Es gibt sogar Kommunen, die für junge Menschen unter
und lasse die Kommunen finanziell im Stich, der handelt 25 Jahren generell die Möglichkeit auf eigenen Wohn-
unredlich und unfair. raum ausschließen. Auch das ist gesetzwidrig.
Herzlichen Dank. (Beifall bei der LINKEN – Wolfgang
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Meckelburg [CDU/CSU]: Sagen Sie, wo, dann
werden wir dem nachgehen!)
Vizepräsidentin Petra Pau: – Herr Kollege, es ist Ihre Pflicht, die Einhaltung dieser
Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Katrin Gesetze zu kontrollieren, das will ich Ihnen einmal sa-
Kunert das Wort. gen!
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN)
6362 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006

Katrin Kunert
(A) Es werden Unterschiede zwischen Bestands- und Zu- (Beifall bei der LINKEN) (C)
zugshaushalten gemacht, indem Höchstmieten für neu
bezogene Wohnungen festgelegt werden, die bis zu Vizepräsidentin Petra Pau:
10 Prozent unter der üblichen Grenze der Angemessen- Das Wort hat die Kollegin Anja Hajduk für die Frak-
heit liegen. tion des Bündnisses 90/Die Grünen.
(Wolfgang Grotthaus [SPD]: Sie machen es
sich ziemlich leicht!) Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
– Herr Kollege, vergleichen Sie doch einmal die Richtli-
Frau Kunert, die Zeit reicht nicht, um intensiv auf Sie
nien in den Kommunen!
einzugehen; deshalb nur eine Bemerkung: Sie verkürzen
Ein weiteres Problem ist das Verhältnis zwischen der das Armutsthema auf „Hartz IV ist Armut per Gesetz!
Angemessenheit in den Kommunen und den realen Wir sind dagegen!“ Die Höhe der staatlichen Zuwendun-
Wohnungsmarktbedingungen. So liegt die durchschnitt- gen im Zusammenhang mit Hartz IV, gleich ob es um die
liche Kaltmiete in Freiburg pro Quadratmeter um gut Höhe der Zuschüsse für Unterkunftskosten oder um an-
3 Euro über dem Satz von 5,62 Euro pro Quadratmeter, dere Bereiche geht, stehen in einem deutlichen Wider-
der einem ALG-II-Beziehenden zusteht. Sieht man sich spruch zu dieser platten Äußerung.
die Richtlinie an, so sagt die Vorgabe, dass ein allein le-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bender Erwerbsloser höchstens 45 Quadratmeter bewoh-
bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)
nen kann. Diese Wohnung darf maximal 253 Euro kos-
ten. Diese Wohnungen gibt es aber in Freiburg auf dem Wenn Sie Armutsbekämpfung darauf reduzieren, dass
freien Wohnungsmarkt nicht! Sie wissen, dass es zu die- der Staat mehr Geld ausschütten soll, dann zeigt das,
ser Frage bereits eine Reihe von Urteilen der Sozialge- dass Sie die Ursachen von Armut nicht vernünftig analy-
richte gibt. Es ist also an der Zeit, bundesweite Stan- siert haben. Eine linke Partei sollte auf das Armutspro-
dards einzuführen, die mehr Einheitlichkeit, mehr blem eine bessere Antwort haben als die, die Sie uns hier
Objektivität und mehr Gerechtigkeit schaffen. vorlegen.
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der CDU/CSU und der SPD – Jörg Rohde
Dies haben wir in unserem Antrag beschrieben. Unser
[FDP]: Wir müssen die Ursachen bekämpfen!)
Antrag stützt sich auf die Berliner Richtlinie zu den Kos-
ten der Unterkunft. Was wir hier vorschlagen, wurde Ich möchte jetzt auf die Kosten für die Unterkunft zu
vom rot-roten Senat – also von SPD und Linkspartei – in sprechen kommen. Die Entlastung der Kommunen um
(B) Berlin nicht nur beschlossen, sondern auch umgesetzt. 2,5 Milliarden Euro – Herr Andres hat das vorgetragen; (D)
der Redner von der CDU hat das bestätigt – steht in der
(Beifall bei der LINKEN – Zurufe)
Tradition dessen, worauf man sich zur Zeit der rot-grü-
Im Ergebnis muss ich sagen: In Berlin erhielten ledig- nen Regierung und im Bundesrat geeinigt hat. Das heißt
lich 1,8 Prozent der Bedarfsgemeinschaften die Auffor- Verlässlichkeit. Ich sage ausdrücklich, dass wir zu der
derung zur Senkung der Kosten der Unterkunft. Von Entlastung der Kommunen um 2,5 Milliarden Euro ste-
circa 350 000 Bedarfsgemeinschaften mussten nur hen.
103 Bedarfsgemeinschaften aus ihrer Wohnung auszie-
hen. Das sind 0,03 Prozent! Für uns ist am wichtigsten: Vizepräsidentin Petra Pau:
Menschen ohne Arbeit können in der Frage der Woh- Frau Kollegin Hajduk, gestatten Sie eine Zwischen-
nung weitestgehend selbst bestimmen. frage der Kollegin Kunert?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestatten Sie mir
noch zwei Anmerkungen zum vorliegenden Gesetzent- Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
wurf bezüglich des Anteils des Bundes an den Kosten Ja.
der Unterkunft. Das ist unser zweiter Hauptkritikpunkt.
Erstens. Der Bundesanteil in Höhe von 4,3 Milliarden Vizepräsidentin Petra Pau:
Euro wird nicht zur Entlastung der Kommunen beitra- Kollegin Kunert, bitte.
gen. Ihre Berechnung ist unsolide. In meinem Landkreis
wird sich die Belastung um 1,4 Millionen Euro erhöhen. Katrin Kunert (DIE LINKE):
Es bleibt abzuwarten, wie sich die unsägliche Mehrwert- Frau Kollegin, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu neh-
steuererhöhung auswirken wird. Wir werden beantragen, men, dass unser Antrag einen Mindeststandard für die
5,8 Milliarden Euro – wie von den kommunalen Spit- Betroffenen festlegen will, um eine ungerechte Behand-
zenverbänden gefordert – in den Haushalt einzustellen. lung der Betroffenen zu verhindern? Ich habe das Bei-
spiel aus Freiburg genannt. Es kann doch nicht im Er-
Zweitens. Herr Andres, wir fordern Sie erneut auf, ei-
messen der einzelnen Kommunen liegen, wie viel die
nen anderen Umgang mit den Kommunen zu pflegen.
Betroffenen für die Kosten der Unterkunft bekommen.
Wenn es um die Belange der Kommunen geht, gehören
Was den Wohnraum angeht, herrschen in den einzelnen
Sie an den Verhandlungstisch. Wir müssen den Kommu-
Kommunen höchst unterschiedliche Bedingungen vor.
nen ein verbindliches Mitwirkungsrecht sichern.
Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass unser An-
Ich danke Ihnen. trag gar nicht unbedingt höhere Ausgaben zur Folge hat?
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006 6363
Katrin Kunert
(A) In Berlin wird diese Regelung bereits umgesetzt. Die bräuchte von der Unterstützung bei den Unterkunftskos- (C)
Betriebskosten hat man dort zusammen mit den Mieter- ten gar nicht so zu profitieren. Doch wir wissen ebenso
bünden überprüft und ist so zu Einsparungen gekom- – darauf ist hingewiesen worden –, dass es Gemeinden
men. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass un- in der Fläche gibt, die davon nicht so profitieren. Genau
sere Anträge sehr differenziert sind und wir uns immer hier sind die Länder in der Pflicht, über den eigenen Fi-
in die Situation der Betroffenen hineinversetzen, mit nanzausgleich sicherzustellen, dass es in Zukunft fair zu-
dem Ziel, ihre Situation zu verbessern? geht.
(Beifall bei der LINKEN) Es kann nicht sein, dass sich die Gesamtbelastung
des Bundes immer danach bemisst, dass es noch ir-
Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gendwo im Lande eine Gemeinde gibt, der es anderen
Frau Kollegin Kunert, ich habe mit meiner Eingangs- gegenüber schlechter geht. Hierfür muss es einen fairen
bemerkung gar nicht so sehr auf Ihren Antrag abgeho- Ausgleich auf der kommunalen Ebene geben. Denn
ben. Sie haben zu Recht auf die Differenzierungen hin- – das möchte ich deutlich sagen – der Bund leistet hier
gewiesen. Dass die Wohnkosten in den einzelnen bereits Unterstützung in einem Volumen, das im Verhält-
Kommunen unterschiedlich hoch sind, muss berücksich- nis zum Gesamthaushalt erheblich ist: Dieses Jahr steu-
tigt werden. Wir Grünen kritisieren im Zusammenhang ern wir allein für die Kosten der Unterkunft knapp
mit Hartz IV selbst, wie Hamburg die Regelung zu den 4 Milliarden Euro bei. Dabei rede ich noch gar nicht von
Wohnkosten auslegt. Diese Probleme will ich gar nicht den 27 Milliarden Euro für das Arbeitslosengeld II. Wir
leugnen. Ihre Bemerkung zu den Armutsursachen und haben dieses Jahr allein für die Kosten der Unterkunft
zur Armutsbekämpfung fand ich für eine linke Partei wieder außerplanmäßige Mehrausgaben von 450 Millio-
aber nicht differenziert genug. Das habe ich gesagt. Auf nen Euro. Vor diesem Hintergrund muss ich denjenigen,
Ihren Antrag bin ich gar nicht eingegangen. die argumentieren, dass die Kommunen eine verlässliche
finanzielle Basis brauchen, entgegnen: Auch der Bund
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN braucht finanzielle Verlässlichkeit. Deswegen sind die
und bei der SPD – Paul Lehrieder [CDU/ Forderungen, wir sollten die Kommunen doch mit
CSU]: Deplatziert! – Zuruf von der LINKEN: 5,8 Milliarden Euro unterstützen, so nicht haltbar gewe-
Worüber reden wir denn heute?) sen. Wir müssen an dieser Stelle verantwortungsvoll
handeln und gerade als Mitglieder des Bundestages um
Jetzt möchte ich mit meiner Rede fortfahren. Wir sind
Verständnis dafür werben, dass auch der Bund in einer
uns eh nicht einig. Das ist mir schon klar.
Zwickmühle sitzt, was die Kosten angeht.
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Trau-
Damit komme ich zum Schluss. Für meine Fraktion
rig, aber wahr!)
(B) möchte ich sagen: Dieses Gesetz stellt keine Dauerlö- (D)
So klar wir Grünen für die festgelegte Entlastung sung dar. Zu dem Zeitpunkt, wo wir Hartz IV überprü-
der Kommunen um 2,5 Milliarden Euro sind – Herr fen, werden wir auch diesen Finanzierungsmechanismus
Andres hat deutlich gemacht, wie schwer das zu berech- überprüfen müssen. Kurzfristig tragen wir es mit, zulas-
nen ist –, so sehr sind wir aber auch dafür, den alten ten des Bundes die Finanzierung für die Kommunen si-
Begründungszusammenhang aufrechtzuerhalten: Wir cherzustellen. Wir haben dies gestern im Haushaltsaus-
erwarten, dass die Kommunen mehr Kinderbetreuungs- schuss mitgetragen. Doch spätestens ab 2010 werden wir
plätze schaffen. Ich fordere die große Koalition auf, an eine klügere Lösung brauchen.
diesem Punkt nicht nachzulassen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Die Kommunen konnten in den letzten Jahren, um das
ganz klar zu sagen, erfreulicherweise eine Stärkung ihrer Vizepräsidentin Petra Pau:
Einnahmeseite verzeichnen, und zwar insbesondere auf Ich schließe die Aussprache.
der steuerlichen Seite. Das hat auch mit steuerlichen
Maßnahmen zu tun, die sich zum Beispiel bei der Ge- Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf
werbesteuer erheblich auswirken. Von daher muss man Drucksachen 16/3269 und 16/3302 zur federführenden
sagen: Die Zielsetzung, die Kommunen zu entlasten, ist Beratung an den Ausschuss für Arbeit und Soziales und
richtig. Es ist aber auch richtig, darauf hinzuweisen, dass zur Mitberatung an den Innenausschuss, den Rechtsaus-
die Aufwendungen für die Kinderbetreuung von den schuss, den Finanzausschuss, den Ausschuss für Wirt-
Kommunen gestärkt werden müssen. schaft und Technologie und den Ausschuss für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung sowie an den Haushaltsaus-
Ich möchte nicht versäumen, in der heutigen Debatte schuss zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vor-
deutlich auf Folgendes hinzuweisen: Die Situation, die schläge? – Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überwei-
zu diesem Gesetzentwurf geführt hat, beruht auf einem sungen so beschlossen.
ziemlich unsystematischen Verhandlungshickhack. Ich
sehe durchaus, wie schwierig es für den Bund war, einen Ich rufe den Tagesordnungspunkt 33 auf:
Ausgleich mit den Kommunen zu finden. Hinzu kommt, Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion
dass die Länder, die bei den Verhandlungen gewisserma- der LINKEN eingebrachten Entwurfs eines
ßen in der Mitte stehen, nicht immer optimale und ehrli- Gesetzes zur Änderung des Schuldrechtsan-
che Verhandlungspartner waren. Denn es gibt, wie wir passungsgesetzes
wissen, Gewinnergemeinden. So ist meine Heimatstadt
Hamburg mit Sicherheit überproportional entlastet und – Drucksache 16/1736 —
6364 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006

Vizepräsidentin Petra Pau


(A) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- dehnt worden sind. Frau Leutheusser-Schnarrenberger, (C)
schusses (6. Ausschuss) Sie werden sich bestimmt daran erinnern. Der FDP-Par-
teitag in Rostock hatte dafür eine gute Vorlage geliefert.
– Drucksache 16/3207 –
Wichtig ist auch, anzumerken, dass das Bundesver-
Berichterstattung:
fassungsgericht über die Punkte, die die PDS mit ihrem
Abgeordnete Andrea Astrid Voßhoff
Gesetzentwurf in die Diskussion einbringt, bereits 1999
Christine Lambrecht
entschieden hat.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Jörn Wunderlich (Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]:
Jerzy Montag So ist das!)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weise darauf Das Gericht hat die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes
hin, dass wir später über den Gesetzentwurf namentlich ganz überwiegend bestätigt, zugleich aber auch den Zeit-
abstimmen werden. raum des generellen Kündigungsschutzes für Garagen
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die auf den 31. Dezember 1999 beschränkt. Wir reden hier
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Dazu höre heute über den Investitionsschutz, der am 31. Dezember
ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. 2006 ausläuft.

Das Wort hat der Kollege Hans-Joachim Hacker für In der Begründung ihres Gesetzentwurfes spricht die
die SPD-Fraktion. PDS von „neuerlichen entschädigungslosen Enteignun-
gen der im Geltungsbereich des Rechts der Deutschen
Demokratischen Republik erworbenen Eigentümer-
Hans-Joachim Hacker (SPD): rechte“. Ich stelle daher die Frage: Durch welches Ge-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! setz hat der Gesetzgeber nach der Wiedervereinigung
Wir behandeln heute noch einmal ein Problem, dessen Bürger in den neuen Ländern entschädigungslos enteig-
Wurzeln in der deutschen Teilung liegen. Wir haben es net? Das möge die PDS beantworten.
allerdings bereits 1994 bzw. 2002 abschließend geregelt.
Der Gesetzgeber hat nach der Wiedervereinigung die
Um es vorweg zu sagen: Die PDS greift ein Thema Diskrepanzen zwischen den zivilrechtlichen Regelungen
auf, bei dem kein Regelungsbedarf, aber auch keine Ge- des ZGB und des BGB in sozialverträglicher Weise aus-
staltungsmöglichkeit im Sinne des Gesetzentwurfes be- geglichen. Ich erinnere an das Sachenrechtsbereini-
steht. Natürlich ist es verführerisch, mit den diffusen gungsgesetz, mit dem wir ein Problem gelöst haben, mit
Ängsten der Menschen zu spielen, insbesondere wenn in dem Zehntausende, vielleicht sogar Hunderttausende Fa-
(B) den Köpfen Unklarheit über die bestehende Rechtslage milien in den neuen Ländern konfrontiert waren, indem (D)
herrscht. Das ist aber keine gute Position. wir getrenntes Wohngebäudeeigentum und Grundstücks-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) eigentum zusammengeführt haben. Wir haben die Nut-
zungsrechte für Grundstücke, die Wohnzwecken dienten
Ich will hier für die SPD-Bundestagsfraktion ganz und für die Nutzungsurkunden ausgegeben waren, ganz
klar sagen: In den Kommunen der neuen Länder muss klar von Restitutionsansprüchen ausgeschlossen. Das ist
Klarheit geschaffen werden, wie es mit den Garagen- in der Öffentlichkeit jahrelang anders dargestellt wor-
pachtverträgen weitergehen soll. Der Bundesgesetzge- den. Lesen Sie das in § 4 Abs. 2 des Vermögensgesetzes
ber, wir, sind in dieser Frage nicht der richtige Adressat. nach. Dort ist das noch vor der Wiedervereinigung völlig
Worum geht es? Mit dem Schuldrechtsanpassungsge- klar geregelt worden.
setz, das bereits am 1. Januar 1995 in Kraft getreten ist, (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Ich
sind die Nutzungsverträge zur Freizeitgestaltung und habe es gerade nicht dabei!)
Erholung – so hieß das im ZGB der DDR – in bundes-
deutsches Recht überführt worden. Dabei handelte es – Ich kann Ihnen das Gesetz bringen, wenn es Ihnen
sich insbesondere um Verträge über die so genannten fehlt. – Wer die Debatte hierzu in den Jahren nach der
Datschen und über Garagengrundstücke, die heute Wiedervereinigung verfolgt hat, der weiß, wer mit den
hier auf der Tagesordnung stehen. Sorgen und Ängsten der Häuslebauer, wie ich finde, ver-
antwortungslos umgegangen ist.
Bei der damaligen Gesetzgebung war allen Beteilig-
ten klar, dass es sozialverträgliche Übergangsregelungen (Dirk Manzewski [SPD]: Richtig!)
geben und dass ein entsprechender Kündigungsschutz
für die Nutzer geregelt werden muss. Ich finde, der Ge- Dort, wo keine klaren Rechtspositionen zur Zeit der
setzgeber hat damals tatsächlich einen Interessenaus- DDR bestanden, konnte und durfte der Bundesgesetzge-
gleich zwischen dem Nutzer und dem Grundstücks- ber auch keine Bevorteilungen zulasten der anderen
eigentümer hergestellt, der einen weitgehenden Seite vornehmen.
Kündigungsschutz, eine Begrenzung der Nutzungsent-
gelte und eine differenzierte Regelung über die Entschä- Im PDS-Gesetzentwurf ist die Rede von entschädi-
digung bei der Vertragsbeendigung enthielt. Diese Rege- gungslosen Enteignungen im Geltungsbereich des Rechts
lungen gelten noch heute. der DDR. Ich hatte das schon einmal angesprochen. Mir
fallen hier allerdings andere Eigentumseingriffe ein.
Ich erinnere daran, dass die zeitlichen Schutzregelun- Diese liegen in der Zeit zwischen 1949 und 1989. Ich
gen noch im Gesetzgebungsverfahren deutlich ausge- will Ihnen nur zwei Begriffe nennen, die dafür stehen:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006 6365
Hans-Joachim Hacker
(A) Zwangskollektivierung und Zwangsaussiedlung in der (Lachen bei der LINKEN) (C)
DDR.
Sprechen Sie doch einmal mit den Kämmerern und den
Um das noch einmal auf den Punkt zu bringen: Liegenschaftsverwaltern in den neuen Ländern! Die dor-
Würde der Bundestag diesem Gesetzentwurf zustimmen, tigen Kommunalpolitiker würden sich die Haare raufen,
dann gäbe er den Nutzern von Garagengrundstücken wenn das, was Sie vorgeschlagen haben, Gesetz würde.
Steine statt Brot. Wir würden das Urteil des Bundesver-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
fassungsgerichts vom 17. Juli 1999 sehenden Auges ne-
CDU/CSU)
gieren. Für die PDS-Fraktion im Deutschen Bundestag
schein das aber kein Problem zu sein. Ich sage Ihnen das Wenn es ein kommunales Interesse geben sollte, die
ganz offen: Das ist kein Ruhmesblatt für die Rechtspoli- Nutzungsrechtsverhältnisse bei den Garagengrundstü-
tiker in der PDS-Bundestagsfraktion. cken aufzuheben, müsste damit verbunden die Bereit-
schaft bestehen, ganze Garagenkomplexe in die Verwal-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ tung zu übernehmen. Natürlich wäre damit ein riesiger
CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/ Streit zwischen den Kommunen und den Pächtern ver-
DIE GRÜNEN) bunden. Allein aus diesem Grund würden viele Kommu-
Sie hatten hier schon einmal bessere Vertreter. nen von einem solchen Schritt Abstand nehmen.

In keinem Punkt hat das Bundesverfassungsgericht Auf der anderen Seite ist auch klar, dass diese Pacht-
eine ungerechtfertige Benachteiligung der Nutzer von verhältnisse in bestimmten Fällen in Zukunft nicht wei-
Garagengrundstücken gesehen. Diese Aussage trifft tergeführt werden können, beispielsweise wegen Wohn-
auch voll auf die Entschädigungsregelung zu. Es ist bebauung oder in den Fällen, in denen die Garagen nicht
seit mehr als zehn Jahren bekannt – das ist richtig –, dass bestimmungsgemäß genutzt werden. Das war im Übri-
der Investitionsschutz für die Garagennutzer am gen schon zu DDR-Zeiten so. Das ist also keine neue Si-
31. Dezember 2006 ausläuft. Das ist nicht zu bestreiten, tuation.
das ist damals so geregelt worden ist. Im Falle der Auf- (Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]:
hebung der Verträge – am 3. Oktober 2022 trifft das So ist es!)
dann auch auf die so genannten Datschen zu – ist durch
den Grundstückseigentümer die Entschädigung in Höhe Das ist auch nicht das Kardinalproblem. Das eigentliche
des Verkehrswertes und nicht mehr des Zeitwertes vor- Problem und deren Lösung liegt darin, dass die Kommu-
zunehmen. Das ist eine entscheidende Änderung, was nen in ihrer eigenen hoheitlichen Verantwortung Rege-
keiner bestreitet. lungen finden müssen. Automatisch – das hatte ich ge-
sagt – passiert am 1. Januar 2007 überhaupt nichts, wenn
(B) (Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]: der Pachtvertrag nicht gekündigt wird. (D)
Ja!)
Wer sich mit der Materie befasst, der wird feststellen,
Da in der aktuellen Diskussion oftmals Unklarheit be- dass ein Verein, der Verband Deutscher Grundstücksnut-
steht oder auch Unklarheit verbreitet wird, will ich in zer, diese Frage seit Jahren kritisch verfolgt. Dieser Ver-
dieser Frage noch einmal auf den Kern eingehen. Die ein ist nicht verdächtig, Sprachrohr der Koalition zu
Frage der Entschädigung für das Bauwerk stellt sich erst sein. Der Verein hat jüngst in seiner Zeitschrift „Das
dann, wenn der Vertrag tatsächlich beendet wird. Mit Grundstück“ hierzu Stellung genommen und auf zahlrei-
dem Gesetzentwurf wird bewusst oder unbewusst der che Fälle verwiesen, in denen in den neuen Ländern ge-
Eindruck erweckt, dass die Nutzer mit Ablauf des nau derartige Vereinbarungen zwischen den Kommu-
31. Dezember 2006 in jedem Fall ihr Eigentum verlie- nen und den Garagengrundstücksnutzern getroffen
ren. Auf die dies betreffende Aussage in der Gesetzesbe- worden sind.
gründung, nämlich „entschädigungslose Enteignung“,
bin ich bereits eingegangen. Vizepräsidentin Petra Pau:
Bevor ich zu den tatsächlichen Handlungsempfehlun- Kollege Hacker, ich glaube, die Kolleginnen und Kol-
gen komme, will ich noch auf eine aus meiner Sicht legen müssen dies in der Zeitschrift des Vereins nachle-
nicht unwichtige Passage im Gesetzentwurf der PDS sen. Das können Sie hier nicht mehr darstellen.
hinweisen. Unter dem Punkt „Kosten“ steht unter
„Haushaltsausgaben“: Hans-Joachim Hacker (SPD):
Das ist leider nicht mehr darzustellen. Ich hätte gerne
Kosten entstehen keine, da mit Entschädigungsleis-
einige Vereinbarungen der Kommunen zitiert. Aber ich
tung sich
komme zum Schluss.
– man höre und staune – Den Gesetzentwurf, den Sie heute vorlegen, kann
der Vermögenshaushalt der betroffenen Kommunen man nur mit einem abgewandelten Spruch Ihres früheren
entsprechend erhöht. Generalsekretärs bewerten: Rückwärts immer, vorwärts
nimmer! – Aus diesem Grunde lehnen wir Ihren Gesetz-
Unter dem Punkt „Vollzugsaufwand“ findet sich natür- entwurf ab.
lich: „Keine Kosten“.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Ich kann Ihnen nur empfehlen: Gehen Sie doch mal in der CDU/CSU und der FDP – Katrin Kunert
die Kommunen der neuen Länder! [DIE LINKE]: Sehr originell!)
6366 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: des Bauwerks zukommen zu lassen, nicht vereinbar. In (C)
Für die FDP-Fraktion hat die Kollegin Sabine vielen Fällen wird das Bauwerk für den Grundstückei-
Leutheusser-Schnarrenberger das Wort. gentümer keinerlei wirtschaftlichen Wert haben, zum
Beispiel weil es anderweitig baulich genutzt werden soll.
(Beifall bei der FDP) Es ist sachgerecht, dass der Nutzer bei einer Eigenkündi-
gung oder bei einer Kündigung nach Ablauf der Investi-
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): tionsschutzfrist eine Entschädigung nur erhält, wenn der
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- Verkehrswert des Grundstücks durch das Bauwerk noch
nen und Kollegen! Dies ist eine besondere Situation; erhöht ist, zum Beispiel bei Fortsetzung einer Garagen-
denn, Herr Hacker, ich kann Ihren Ausführungen wirk- nutzung. Allein diese Lösung hält sich im Bereich des
lich nur uneingeschränkt zustimmen. verfassungsrechtlich Zulässigen und Möglichen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Alle Nutzer – Herr Hacker hat die Fristen genannt –
der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- hatten und haben ausreichend Zeit, sich auf diese
NEN) Rechtslage einzustellen.
Sie haben völlig richtig die Diskussion wiedergegeben, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
die wir seit 1990/91 und dann im Gesetzgebungsverfah- der SPD))
ren 1994 geführt haben. Damals hat sich der Gesetzge-
ber erstmals der schwierigen Aufgabe gestellt, die sozia- Wer Gerechtigkeit will, darf nicht auf einem Auge blind
listische Eigentumsordnung der ehemaligen DDR in das sein. Diesen Vorwurf kann ich Ihnen, Fraktion Die
Rechtssystem der Bundesrepublik Deutschland zu über- Linke, im Hinblick auf diesen Gesetzentwurf leider nicht
führen und dabei einen gerechten Ausgleich zwischen ersparen.
den widerstreitenden Interessen von Nutzern und Eigen- (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei
tümern herzustellen. Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜND-
Das ist mit dem Schuldrechtsanpassungsgesetz ge- NISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Uwe Küster
lungen. [SPD]: Die sind auf beiden Augen blind!)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ihre Initiative ist einseitig, sie ist populistisch und ver-
der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS- kennt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsge-
SES 90/DIE GRÜNEN) richts. Für die FDP ist sie nicht zustimmungsfähig.
Dabei ist nicht zuletzt auf Druck der FDP im Interesse Vielen Dank.
(B) der Nutzer die Überführung zeitlich deutlich gestreckt (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der (D)
– wir reden hier von Sachverhalten, die 16 Jahre zurück- SPD)
liegen – und durch eine Begrenzung der Nutzungsent-
gelte sozial abgefedert worden.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Bundesverfassungsgericht hat dieses Gesetz im Für die Unionsfraktion spricht nun die Kollegin
Jahre 1999 im Wesentlichen bestätigt. Das hat mich auch Andrea Voßhoff.
persönlich sehr gefreut, da ich als Justizministerin für
dieses Gesetz Verantwortung getragen habe. Soweit das
Andrea Astrid Voßhoff (CDU/CSU):
Bundesverfassungsgericht einzelne Regelungen beanstan-
det hat, hat es dies mit einem Verstoß gegen die Eigen- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolle-
tumsgarantie des Grundgesetzes begründet. gen! Nach dem Einstieg durch Herrn Dr. Hacker und
Frau Leutheusser-Schnarrenberger kann ich mir einen
(Dr. Uwe Küster [SPD]: Genau!) Teil meiner Ausführungen sparen. Ich werde versuchen,
meine Redezeit nicht auszuschöpfen und an den Stellen
Das Gesetz war also nicht zu eigentümerfreundlich, es
zu begrenzen, wo das rechtlich Notwendige schon ge-
war vielmehr in einigen Punkten zu nutzerfreundlich.
sagt ist.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Nicht zum ersten Mal sage ich zu dem Thema Schuld-
NEN) rechtsanpassung an dieser Stelle – ich glaube, das wissen
alle, die damit zu tun haben –, dass die Regelungen der
Hierzu zählte auch die Entschädigungspflicht des Ei- Rechtsverhältnisse zwischen Grundstückseigentümern
gentümers bei vorzeitiger Kündigung. und Nutzern von Erholungs- und Garagengrundstücken
in den neuen Ländern zu den schwierigsten und sensi-
(Dr. Uwe Küster [SPD]: Genau!)
belsten Rechtsfragen im Einigungsrecht gehören. Jeder
Insoweit hat Karlsruhe festgestellt, dass eine Entschädi- von uns, der sich auch in vielen Bürgergesprächen im
gung des Nutzers nur in Betracht komme, wenn die Ver- Wahlkreis damit auseinander setzt, weiß das.
tragsbeendigung dem Grundstückseigentümer erhebli-
Nicht zum ersten Mal sage ich an dieser Stelle, dass
che wirtschaftliche Vorteile bringe.
die mit dem Schuldrechtsanpassungsgesetz zu regelnden
Mit diesen Grundsätzen des Bundesverfassungsge- Rechtsfragen von zwei völlig gegenläufigen und sehr
richtsurteils ist Ihre Forderung in diesem Gesetzentwurf, emotionalen Interessenlagen geprägt sind. Da ist die Be-
dem Nutzer stets eine Entschädigung nach dem Zeitwert troffenheit der Nutzer von Freizeit- und Garagen-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006 6367
Andrea Astrid Voßhoff
(A) grundstücken auf der einen Seite. Sie haben zu DDR- gebnis akzeptabel. Nicht nur das Bundesverfassungsge- (C)
Zeiten mit viel Mühe in Zeiten von Materialknappheit, richt hat uns das ins Stammbuch geschrieben, sondern
mit Herzblut und Entbehrungen oftmals ein Datschen- auch die Realität zeigt uns das.
grundstück überhaupt erst urbar gemacht oder mit viel
Einsatz eine Garage errichtet. Beides waren eben nicht Den Garageneigentümern wurde eine Zeitspanne von
nur Baulichkeiten aus Holz oder Stein, für viele Betrof- 16 Jahren eingeräumt – auch das ist schon gesagt wor-
fene war es auch ein Stückchen eigener Lebensleistung. den –, den Datscheneigentümern, wenn es sich um Erho-
Wer könnte diese Menschen nicht verstehen, die sich für lungsgrundstücke handelt, eine Zeitspanne von 33 Jah-
den Erhalt und die dauerhafte Nutzung des von ihnen ren, um sich auf die neuen Herausforderungen und damit
Geschaffenen einsetzen? auf einen im Ausnahmefall gegebenenfalls möglichen
entschädigungslosen Eigentumswechsel bei Beendi-
Diese Bauten, meine Damen und Herren, wurden aber gung des Vertrages einzustellen.
nun einmal auf fremdem Grund und Boden errichtet. Da-
mit kommen wir zu der anderen Seite, und zwar der In- Im Umkehrschluss heißt das aber auch, dass dem
teressenlage der Grundstückseigentümer, denen aus Grundstückseigentümer 16 bzw. 33 Jahre nach der Wie-
sozialistischer Ideologie heraus mit einem Federstrich dervereinigung erstmals überhaupt die freie Verfügungs-
das Eigentum und damit eben auch ein Stück Lebensleis- gewalt
tung schlicht entzogen wurde. (Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]:
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Genauso ist das!)
FDP)
und damit die uneingeschränkte wirtschaftliche Verwert-
Meine Damen und Herren von der Fraktion Die Linke, barkeit des ihm nach Art. 14 des Grundgesetzes eben-
für diese Ausgangslage war eine 40-jährige SED-Dikta- falls zustehenden Grundeigentums eingeräumt wird.
tur verantwortlich – das muss man Ihnen immer wieder
ins Stammbuch schreiben – und nicht das Wiedervereini- (Beifall der Abg. Sabine Leutheusser-
gungsrecht. Schnarrenberger [FDP])

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Das ist, wie ich denke, im Sinne des Ausgleichs beider
FDP) Interessen eine sinnvolle Regelung.
Ausgehend von dieser gegenläufigen Interessenlage Der Kollege Hacker hatte vorhin keine Zeit mehr, ei-
galt es, die Nutzungsverhältnisse im Zuge der Wieder- nige Aussagen des VDGN zu zitieren. Weil uns der
vereinigung in das Miet- und Pachtrecht zu überführen. VDGN in der Vergangenheit immer sehr kritisch beglei-
(B) Mit dem Schuldrechtsanpassungsgesetz – es ist bereits tet hat, habe ich seine Zeitschriften nicht nur aufbewahrt, (D)
angesprochen worden – und den im Jahre 2002 durchge- sondern gelegentlich schaue ich sogar hinein. Darin geht
führten Änderungen ist das im Wesentlichen gelungen. es unter anderem um die Frage: Wie wird ab dem
1. Januar 2007 in den Kommunen mit den Garagen-
Die Fraktion Die Linke startet den erneuten Versuch, grundstücken umgegangen? Oftmals sind ja die Kom-
die Entschädigungsregelungen einseitig zugunsten der munen der Eigentümer eines Grundstücks.
Nutzer auszuweiten. Das verkünden Sie mit emotionaler
Begleitmusik, wie ich das nennen möchte, auch in Ihrer Der Verband Deutscher Grundstücksnutzer hat sämt-
Pressemitteilung, die populistisch ist, in unzulässiger liche Zeitungsartikel, die zu diesem Thema veröffent-
Weise einseitig emotionalisiert und die Bürger instru- licht wurden, zusammengestellt. In der „Schweriner
mentalisiert. Volkszeitung“ vom 1. März dieses Jahres wird aus Gade-
busch in Mecklenburg-Vorpommern berichtet:
Durch die Wortwahl in Ihren Pressemitteilungen auf
Bundesebene und auf Länderebene erwecken Sie bei den Besitzer von 692 Garagen, die auf städtischem
Betroffenen den Eindruck, als würden die Nutzer von Grund und Boden stehen, können aufatmen. Wer es
Garagengrundstücken allein durch die zum Jahresende wünscht, kann einen Ergänzungsvertrag bis En-
ablaufende Frist über Nacht enteignet. Sie sprechen von de 2016 abschließen.
beispiellosen Enteignungsaktionen zum Jahresende und
bezeichnen es als skandalös, dass die Enteignung de In der „Märkischen Oderzeitung“ vom 9. März dieses
facto entschädigungslos erfolge. Das stimmt so nicht, Jahres hieß es zur Situation in Frankfurt/Oder:
meine Damen und Herren von der Fraktion Die Linke, Hier stehen auf städtischem Grund 413 Eigentums-
und das wissen Sie. garagen sowie 4 108 Garagen in 39 Garagen-
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der gemeinschaften. „Das Schuldrechtsanpassungsge-
FDP) setz eröffnet uns die Möglichkeit, im Interesse der
Bürger über die mögliche Kündigungsfrist hinaus
Richtig ist vielmehr, dass das Eigentum an einem die bestehenden Pachtverträge zu verlängern. Wir
Bauwerk so lange beim Nutzer verbleibt, bis das Ver- denken in keinem einzigen Fall daran, an den beste-
tragsverhältnis beendet wird. Das hat nichts mit dem henden Verhältnissen etwas zu ändern“, erklärt die
Fristablauf zu tun. Zum Schutz der Nutzer – das ist aus- Leiterin des Zentralen Immobilienmanagements.
geführt worden – findet ein Prozess der sozialen Ab-
federung statt. Ich denke, angesichts aller berechtigten Aus dem thüringischen Mühlhausen berichtet die
Interessen, auch der Interessen der Nutzer, ist dieses Er- „Thüringische Landeszeitung“:
6368 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006

Andrea Astrid Voßhoff


(A) „Unsere Kommune hat ein Interesse daran, dass die Vizepräsidentin Petra Pau: (C)
Eigentümer ihre Garagen weiterhin nutzen kön- Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist zwar sehr
nen“, so der dortige Leiter des Sachgebiets Liegen- schön, dass Sie so zahlreich die Debatte verfolgen, um
schaften. Und es sind nicht wenige Garagen – dann sach- und fachkundig abstimmen zu können. Ich
schätzungsweise 2 800 … bitte Sie aber, Ihre Gespräche draußen zu führen, um den
Durch Ihren Gesetzentwurf – aber nicht nur durch beiden folgenden Rednern die Möglichkeit zu geben,
ihn, sondern auch durch seine Begleitung – wollen Sie dass ihr Debattenbeitrag Gehör findet.
den Eindruck erwecken, als komme es über Nacht zu ei- (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Nicht alles,
ner Enteignung und als drohe nun entweder der Abriss was man hört, versteht man auch!)
oder eine höhere Pacht. In der Realität ist die Situation
aber ganz anders. Die Kommunen gehen sehr verantwor- Das Wort hat der Kollege Jörn Wunderlich von der
tungsvoll mit ihrer Verfügungsgewalt als Grundstücksei- Fraktion Die Linke.
gentümer um.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der SPD) Jörn Wunderlich (DIE LINKE):
Nehmen Sie das zur Kenntnis, informieren Sie sich und Vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe
stellen Sie nicht solche populistischen Anträge! Kollegen! Ich will nicht bei der SED-Diktatur anfangen;
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Zuruf von der CDU/CSU: Das glaube ich!)
Natürlich gibt es auch Gegenbeispiele, keine Frage. ich will auch nicht mit dem Jahr 1949 beginnen. Ich
Auch sie hat der VDGN genannt. fange mit dem Punkt an, der rechtlich relevant ist: der
Ich appelliere an die Grundstückseigentümer und an Beitritt der DDR zur Bundesrepublik 1990.
die Wohnungsbaugenossenschaften, die Garagennutzer
(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Den haben wir
nicht darüber im Ungewissen zu lassen, was sie mit den
gewollt!)
betroffenen Grundstücken planen. Wie Sie wissen, ist es
aber oftmals so, dass ein Baurecht auf dem Garagen- Dieser bescherte den Bürgern der DDR nämlich einen
grundstück gar nicht besteht und seine wirtschaftliche eklatanten Umbruch in ihren gewohnten Eigentumsver-
Verwertung nicht möglich ist. Diese Fakten, meine Da- hältnissen, und zwar fast immer zu ihrem Nachteil. Ich
men und Herren von der Linksfraktion, sollten Sie zur erinnere in diesem Zusammenhang nur an den Grundsatz
Kenntnis nehmen, statt die Realität immer auszublenden. „Rückgabe vor Entschädigung“, wodurch zehntau- (D)
(B)
Ein zweites Argument gegen Ihren Gesetzentwurf sende ostdeutsche Familien im Kampf von Haus und
– eigentlich kann ich es mir ersparen – ist, dass Sie das Hof vertrieben wurden. Diesen Kampf haben viele ver-
Urteil des Bundesverfassungsgerichts schlicht aus- loren.
blenden. Nicht mit einer einzigen Silbe gehen Sie darauf (Beifall bei der LINKEN – Sabine
ein. Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]: Also
(Zuruf von der SPD: Genau das!) wirklich! – Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das
ist eine Wahrheit, was Sie erzählen!)
Sie erklären auch nicht, warum der Tenor des Bundes-
verfassungsgerichts, der genau in die entgegengesetzte Ich begrüße es, dass jetzt jemand aus den ostdeut-
Richtung zielt, von Ihnen nicht beachtet wird. Meinem schen Ländern zu dieser Thematik spricht.
Anspruch in der Rechtspolitik entspricht es, Entschei-
(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Liegt Glad-
dungen des Bundesverfassungsgerichts ernst zu nehmen,
beck jetzt auch schon im Osten?)
statt sie nicht zu berücksichtigen und einfach einen Ge-
setzentwurf einzubringen. Die Berichterstatter im Ausschuss sind nämlich West-
(Beifall des Abg. Hans-Joachim Hacker deutsche, die sich in diese Problematik möglicherweise
[SPD]) nicht hineindenken können.

Ich weiß, wie emotional die Diskussion auch in den (Unruhe)


Wahlkreisen geführt wird, aber wie der Kollege Hacker Ende dieses Jahres droht es jedenfalls auch den Gara-
schon festgestellt hat, tun Sie den Garagennutzern damit genbesitzern an den Kragen zu gehen. Davon sind etwa
keinen Gefallen. Wenn Ihr Gesetzentwurf beschlossen eine halbe Million Menschen betroffen. Angesichts die-
würde, dann wären Klagen vor dem Bundesverfassungs- ser Tatsache finde ich die Lautstärke in diesem Hause
gericht vorprogrammiert. Dann würde sich die Situation verwunderlich. Das Thema scheint nicht viele zu interes-
wiederholen und das Bundesverfassungsgericht würde sieren.
wahrscheinlich ähnlich entscheiden.
Nach den Regelungen des Einigungsvertrags bestan-
Einem offenkundig verfassungswidrigen Gesetzent-
den jedenfalls die Rechtsverhältnisse der Nutzer und
wurf können wir nicht zustimmen.
Grundstückseigentümer, auf deren Grundstücken Ge-
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der bäude errichtet waren, nach den Vorschriften des ZGB
FDP) der DDR fort.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006 6369
Jörn Wunderlich
(A) (Zuruf des Abg. Hartmut Koschyk [CDU/ Die wirtschaftliche Nutzung steht dabei im Vordergrund. (C)
CSU]) Diese Schieflage soll mit dem Gesetzentwurf beseitigt
werden. Mehr verlangt dieser Entwurf nicht.
– Werfen Sie einen Blick auf die Landkarte! Ich setze
mich hier nur mit den Problemen auseinander, was Sie (Hans-Joachim Hacker [SPD]: So interpretiert
offensichtlich nicht tun. ein deutscher Richter ein Urteil des Bundes-
verfassungsgerichts! Nicht zu glauben!)
(Beifall bei der LINKEN)
Frau Leutheusser-Schnarrenberger, Sie haben das
Dieses Recht wurde aber schon bald aufgeweicht. Im Bundesverfassungsgericht falsch zitiert. Tatsächlich be-
Schuldrechtsanpassungsgesetz wurde formuliert, dass zeichnet das Bundesverfassungsgericht eine Entschädi-
mit der Beendigung der Vertragsverhältnisse das nach gung nach dem Zeitwert als sachgerecht und eine Ent-
dem Recht der DDR begründete und fortgeltende Eigen- schädigung nach dem Verkehrswert als angemessen.
tum an Baulichkeiten an die Grundstückseigentümer Was hindert uns denn daran, eine sachgerechte Entschä-
übergeht. digung in allen Fällen vorzunehmen? Wenn man sich auf
(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Er kommt den Standpunkt stellt, dass Gesetze, die verfassungskon-
aus Gladbeck! Ein Ossi aus Gladbeck!) form sind, nicht geändert werden dürfen, dann muss ich
mich fragen: Was macht denn die große Koalition stän-
Immerhin sah das Gesetz einen Kündigungsschutz vor, dig?
der durch die besagte Entscheidung des Bundesverfas-
sungsgerichts bei Garagen verkürzt wurde. Die so ge- (Beifall bei der LINKEN)
nannte Investitionsschutzfrist galt noch sieben Jahre Für uns ist das Gesetz eine Geste des gerechten Aus-
nach Ende der Kündigungsschutzfrist und endet am gleichs – dazu bedarf es nur des politischen Willens –,
31. Dezember dieses Jahres. Die Kündigungsbeschrän- damit nicht wieder Tausende Menschen im Osten
kungen, die in der auslaufenden Frist noch galten, fallen Deutschlands auf der Strecke bleiben.
zum 1. Januar weg.
Ich danke für Ihre „tolle“ Aufmerksamkeit.
Aber es kommt noch dicker: Ab 1. Januar gibt es eine
Entschädigung bei Beendigung der Vertragsverhältnisse (Beifall bei der LINKEN – Dr. Uwe Küster
nur noch in Höhe der festgestellten Verkehrswerterhö- [SPD]: Das war ein wunderlicher Beitrag und
hung, aber auch nur dann, wenn die Verkehrswerterhö- ist jetzt beendet!)
hung auf die Baulichkeit, also auf die Garagen, zurück-
zuführen ist. Inzwischen liegen sie aber zum Teil in Vizepräsidentin Petra Pau:
(B) attraktiven Gewerbelagen. Wenn ein Investor dort ein Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wiederhole (D)
Bürogebäude errichtet, um statt der 40 Euro Jahresmiete meine Bitte, allen Rednerinnen und Rednern die notwen-
für die Garagen 40 Euro pro Quadratmeter im Monat für dige Aufmerksamkeit zu schenken. Das gilt auch für die
Büroraum zu erzielen, dann ist es zwar verständlich, letzte Rednerin in dieser Debatte.
dass er mit seinen Investitionen den Gewinn verzigfa-
chen will, aber weil die Verkehrswerterhöhung nicht auf Das Wort hat die Kollegin Silke Stokar von Neuforn
die Garagen zurückzuführen ist, haben die Nutzer in die- für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
sem Fall keinen Anspruch auf Entschädigung und wer-
den eventuell noch an den Abrisskosten beteiligt. Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Lesen Sie doch NEN):
einmal das Urteil des Bundesverfassungsge- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Werter
richts!) Herr Kollege Wunderlich, ich finde, es ist nicht verwun-
derlich, dass Sie im Jahre 1990 beginnen wollen. Ich
– Hören Sie doch einmal zu, Mensch! Beschäftigen Sie sage Ihnen allerdings: So geht es nicht. 1990 hatten wir,
sich doch einmal mit den Problemen vor Ort! der Bundesgesetzgeber, erst begonnen, das komplexe
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Uwe Küster Thema der Bodenreform aufzugreifen und das SED-Un-
[SPD]: Sie werden doch in der Lage sein, das recht zu bereinigen. Wir hatten begonnen, unrechtmä-
zu erklären!) ßige Enteignungen wieder gutzumachen sowie die Fol-
gen von Zwangsausbürgerung und Zwangsaussiedlung
In Frankfurt/Oder sollen die Garagennutzer nach Vor- – die Menschen wurden nicht wieder in die DDR hinein-
gabe der Stadt schon jetzt im Hinblick auf mögliche Ab- gelassen – und des Mauerbaus zu bereinigen. Das ist der
risskosten Kautionen zahlen. Es ist doch klar, dass das Ausgangspunkt.
zu Unsicherheit führt. Dass es aber auch Gemeinden gibt
– zum Beispiel Bernau –, in denen zugesichert wird, dass (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
die Verträge weiterlaufen, ist ebenfalls bekannt. Was sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und
aber sagt die kommunale Aufsichtsbehörde dazu? Sie der SPD)
wird sicherlich einschreiten. Ich möchte zwar keine Rechtsbewertung – ich finde,
(Lachen bei der SPD) Herr Hacker und Frau Leutheusser-Schnarrenberger ha-
ben das bereits sehr gut dargelegt –, wohl aber eine poli-
Die sächsische Staatsregierung sieht ihrerseits keine tische Bewertung vornehmen. Wir reden hier über Ge-
Veranlassung, auf die Kommunalaufsicht einzuwirken. rechtigkeit. Das bedeutet für mich, dass man die
6370 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006

Silke Stokar von Neuforn


(A) Interessen der betroffenen Seiten gegeneinander abwägt. sache 16/1736. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner (C)
Wir haben es mit der Situation zu tun, dass Alteigentü- Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3207, den Ge-
mern das Recht auf ihre Grundstücke zugesprochen setzentwurf abzulehnen. Die Fraktion Die Linke ver-
wurde, auf denen Nutzer aus der ehemaligen DDR Dat- langt namentliche Abstimmung. Ich bitte die Schriftfüh-
schen und Garagen gebaut haben. Beide haben aufgrund rerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze
der teilungsbedingten Entwicklung Rechtsansprüche er- einzunehmen. Sind alle Plätze besetzt? – Das ist der Fall.
worben: die einen auf das Grundstück, die anderen auf Ich eröffne die Abstimmung.
das Gebäude. Ich denke, dass der Bundesgesetzgeber in
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
seiner Verantwortung eine gute Ausgleichsregelung ge-
Stimme nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall.
funden hat. Diese Regelung wurde 1999 vom Bundes-
verfassungsgericht bestätigt. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu
Meine Damen und Herren von der Linksfraktion, Ihr
beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen
populistischer Gesetzentwurf zeigt, dass Sie diese Rege-
später bekannt gegeben.1)
lung offensichtlich nicht zur Kenntnis genommen haben,
dass sie nicht Grundlage Ihrer Politik ist. Sie versuchen Wir setzen die Beratungen fort. Ich bitte die Kollegin-
17 Jahre nach dem Mauerfall, die vom Bundesverfas- nen und Kollegen, die der nächsten spannenden Debatte
sungsgericht bestätigte Ausgleichsregelung außer Kraft nicht folgen können, den Saal zu verlassen.
zu setzen und die alte Auseinandersetzung zwischen Alt-
eigentümern und Bewohnern der ehemaligen DDR wie- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 36 auf:
der zu emotionalisieren und erneut Grabenkämpfe zu Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
führen, und das alles auf einer verfassungswidrigen CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Grundlage. Gesetzes über die Festsetzung der Beitrags-
sätze in der gesetzlichen Rentenversicherung
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
und der Beiträge und Beitragszuschüsse in der
SES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und
Alterssicherung der Landwirte für das Jahr
der FDP)
2007
Wir haben es als Bundesgesetzgeber nicht immer ge- – Drucksache 16/3268 –
schafft, für Einzelfallgerechtigkeit zu sorgen. Das ist
Überweisungsvorschlag:
auch nicht möglich; das können wir nicht. Ich habe aber Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
die Hoffnung – ich sehe gute Erfolge –, dass die Men- Finanzausschuss
schen in den Kommunen weiter sind als die Politik. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
(B) Wenn wir verantwortlich handeln wollen, sollten wir den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und (D)
Betroffenen vor Ort vielleicht empfehlen, selber eine Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
einvernehmliche Regelung zu finden. In vielen Fällen ist Ausschuss für Gesundheit
das möglich. Haushaltsausschuss
Versuchen Sie, mithilfe der Kommunen vor Ort zwi- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
schen den Menschen, die sich kennen und die miteinan- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
der zu tun haben, zu einem Ausgleich zu kommen. Das dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
ist verantwortungsbewusste Politik. Das ist eine Politik,
die sich nicht nur auf eine Seite stellt. Das ist eine Poli- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla-
tik, die nicht mit dem Instrument der namentlichen Ab- mentarische Staatssekretär Gerd Andres.
stimmung arbeitet. Sie tun so, als seien die einen in der
Folge der Wiedervereinigung die Guten und die Gerech- Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
ten und die anderen die Bösen. minister für Arbeit und Soziales:
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, legen! Deutschland befindet sich im Aufschwung, die
bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Wirtschaft wächst und die Zahl der sozialversicherungs-
Das ist ein Missbrauch des Instruments der namentlichen pflichtigen Beschäftigten steigt. Das ist gut für die Men-
Abstimmung. Wir lehnen Ihren Antrag ab und wir leh- schen, die wieder Arbeit finden, und es ist auch gut für
nen auch Ihr Verhalten hier im Parlament ab. die öffentlichen Haushalte und für die Kassen der So-
zialversicherungen.
Danke schön.
(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, DIE GRÜNEN]: Warum steigen dann die Ren-
bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) tenbeiträge?)
Die Beitragseinnahmen in der gesetzlichen Renten-
Vizepräsidentin Petra Pau: versicherung haben sich in diesem Jahr sehr positiv ent-
Ich schließe die Aussprache. wickelt. Alle Prognosen sagen uns eine Fortsetzung der
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Frak- wirtschaftlichen Dynamik auch im Jahr 2007 voraus.
tion Die Linke eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände-
rung des Schuldrechtsanpassungsgesetzes auf der Druck- 1) Ergebnis Seite 6378 C
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006 6371
Parl. Staatssekretär Gerd Andres
(A) (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ schränken, werden wir den Beitragssatz zum 1. Januar (C)
DIE GRÜNEN]: Deshalb erhöhen Sie die 2007 um weitere 0,3 Prozentpunkte auf dann 4,2 Prozent
Mehrwertsteuer!) absenken.
Wir dürfen also damit rechnen, dass die gesetzliche (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
Rentenversicherung weiter gute Einnahmen erzielt. Die CDU/CSU)
Regierungsparteien CDU, CSU und SPD haben bereits Die Versicherten werden damit bei der Arbeitslosenver-
im Koalitionsvertrag vom November 2005 festgelegt,
sicherung um weitere 2,2 Milliarden Euro entlastet. Das
dass der Beitragssatz zur gesetzlichen Rentenversi- Entlastungsvolumen insgesamt beträgt nunmehr rund
cherung zum 1. Januar 2007 von 19,5 Prozent auf 17 Milliarden Euro.
19,9 Prozent angehoben werden soll. Dies war der aus
damaliger Sicht notwendige Beitragssatz. Nun haben wir Die stärkere Anhebung der Beiträge zur Rentenver-
die Situation, dass aufgrund der guten Einnahmen eine sicherung wird bei der Arbeitslosenversicherung also
Erhöhung um lediglich 0,2 Prozentpunkte kurzfristig mehr als kompensiert. Die Bundesregierung setzt mit ih-
ausreichend wäre. rer Politik ein eindrucksvolles Signal für mehr Wachs-
tum und mehr Beschäftigung in Deutschland. Wir sen-
(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE ken die Lohnnebenkosten und wir verbessern die
GRÜNEN]: Dann machen Sie es doch!) Rahmenbedingungen, damit noch mehr neue sozialversi-
Viele verlangen deshalb, dass wir den Beitragssatz cherungspflichtige Arbeit entstehen kann. Das ist gut für
nicht auf 19,9 Prozent, sondern nur auf 19,7 Prozent he- die Einnahmen der Sozialkassen und damit gut für ver-
raufsetzen sollen. Ungeachtet dieser Forderungen wird lässliche und stabile Sozialversicherungssysteme. Ich
die Bundesregierung ihre im Koalitionsvertrag niederge- füge hinzu: Es ist gut für die Menschen in unserem
schriebene Festlegung umsetzen und den Beitrag auf Land, für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und
19,9 Prozent anheben. Ich will Ihnen auch gern erklären, für die Arbeitgeber. Es wird möglicherweise weitere
warum wir das tun. Auswirkungen, was die wirtschaftliche Dynamik angeht,
haben.
(Anton Schaaf [SPD]: Weil es so richtig ist!)
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Die Politik der Bundesregierung ist geprägt von den
Prinzipien der Nachhaltigkeit und der Berechenbarkeit. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Im Gegensatz zu den lauten Kritikern schauen wir über
das Jahr hinaus und wollen mit konstanten und verlässli- Vizepräsidentin Petra Pau:
chen Entscheidungen das Vertrauen der Menschen in die Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Dr. Heinrich
(B) Sozialversicherungen stärken. Würden wir den Beitrags- Kolb das Wort. (D)
satz nur auf 19,7 Prozent anheben, dann kämen wir spä-
(Beifall bei Abgeordneten der FDP)
testens im Jahr 2008 in Schwierigkeiten.
(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
DIE GRÜNEN]: Wer sagt das denn?) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nach derzeitiger Einschätzung müssten wir ihn dann Ich will bereits zu Beginn meiner Rede feststellen: Die
nämlich noch über die jetzt geplanten 19,9 Prozent hi- FDP-Bundestagsfraktion lehnt die von der Koalition ge-
naus erhöhen. Wir würden damit unser selbst gestecktes plante Anhebung des Rentenversicherungsbeitrags auf
Ziel, bis zum Jahr 2009 den Beitrag stabil unter 19,9 Prozent ab.
20 Prozent zu halten, leichtfertig aufs Spiel setzen. Viel- (Beifall bei der FDP)
mehr müssten erhebliche Finanzmittel aufgewendet wer-
den, um dieses Ziel überhaupt noch erreichen zu können. Eine solche Erhöhung ist nach den jüngsten Ergebnissen
Das aber hätte mit Verantwortung, mit Vertrauen und mit des Schätzerkreises nicht mehr erforderlich. Selbst Ver-
Verlässlichkeit nichts zu tun. Deshalb halten wir an der treter der großen Koalition räumen inzwischen ein, dass
moderaten Anhebung auf 19,9 Prozent fest. im kommenden Jahr ein Beitrag von 19,7 Prozent ausrei-
chend wäre.
(Zuruf von der FDP: Moderat?)
(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Weil wir so
Dafür senken wir an anderer Stelle umso mehr. Ich gut regieren!)
freue mich, dass ich Ihnen aufgrund der guten wirtschaft-
lichen Entwicklung bereits heute einen Änderungsantrag – Das ist nicht deswegen so, weil Sie gut regieren.
zum vorliegenden Gesetzentwurf ankündigen kann. Wie (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Doch!)
Sie wissen, haben wir die Senkung des Beitragssatzes
zur Arbeitslosenversicherung von 6,5 Prozent auf Das ist nicht überraschend; schließlich haben Sie
4,5 Prozent zum 1. Januar 2007 bereits mit dem Haus- schon zu Beginn dieses Jahres kräftig Kasse gemacht:
haltsbegleitgesetz beschlossen. Sie haben den Unternehmen mit dem Vorziehen der Fäl-
ligkeit der Sozialversicherungsbeiträge mehr als
Der unerwartet hohe Überschuss, den die Bundes- 22 Milliarden Euro abgenommen, um den Sozialver-
agentur für Arbeit erwirtschaftet hat, gibt uns aber sicherungen damit mehr Liquidität zukommen zu lassen.
weiteren Handlungsspielraum. Ich will ausdrücklich Rund 10,5 Milliarden Euro davon sind in der Renten-
wiederholen: Ohne die aktive Arbeitsmarktpolitik einzu- kasse angekommen. Das entspricht einer Beitragssatzer-
6372 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006

Dr. Heinrich L. Kolb


(A) höhung von 1 Prozentpunkt. Deswegen ist es in hohem Dort heißt es im Abschnitt 2.1, Senkung von Lohnzu- (C)
Maße unvernünftig und konjunkturschädlich, wenn Sie satzkosten:
den Rentenbeitragszahlern – diesmal den Arbeitgebern
und den Arbeitnehmern gleichermaßen – nun schon wie- CDU, CSU und SPD stellen sicher, dass die Lohn-
der in die Tasche greifen. zusatzkosten (Sozialversicherungsbeiträge) dauer-
haft unter 40 % gesenkt werden.
(Beifall bei der FDP)
Ich frage Sie: Wann, wenn nicht jetzt, wollen Sie die
Der Erhöhungsbedarf, den Sie sehen, ist zu einem gu- Grenze von 40 Prozent in dieser Legislaturperiode über-
ten Teil hausgemacht. Wenn die große Koalition auf die haupt noch einmal ernsthaft anvisieren? Wenn für Union
Belastungen der Rentenkasse aufgrund der geplanten und SPD das Ziel, die Lohnnebenkosten unter
Absenkung der Rentenversicherungsbeiträge der Emp- 40 Prozent zu senken, unverändert gilt, dann darf bei
fänger von Arbeitslosengeld II verzichten würde – wir vorhandenem Spielraum der Beitragssatz zur Rentenver-
reden hier über rund 2 Milliarden Euro; das entspricht sicherung nicht ohne Not erhöht werden und muss im
0,2 Beitragssatzpunkten –, dann könnte der Beitragssatz Übrigen angesichts einer absehbaren Erhöhung des
sogar konstant bei 19,5 Prozent gehalten werden. durchschnittlichen Krankenversicherungsbeitrags um
0,5 bis 0,7 Punkte im nächsten Jahr auch der Beitrags-
Jetzt sagen Sie nicht, das Geld dafür sei nicht da. Die- satz zur Arbeitslosenversicherung noch stärker reduziert
ses Geld war offensichtlich da, wie die Bereitschaft des werden, als zuletzt beschlossen und von Ihnen hier vor-
Bundes, sich mit zusätzlichen 2,3 Milliarden Euro an getragen, Herr Staatssekretär.
den Kosten der Unterkunft zu beteiligen, zeigt. Aber Sie
haben bei der Verteilung der unerwarteten Steuermehr- (Beifall bei der FDP)
einnahmen andere Prioritäten gesetzt. Ich stelle fest: Nun versprechen Sie nach bewährtem Muster als
Bleibt es bei der Absenkung der Rentenbeiträge von Trostpflaster für die Nichtausnutzung von Spielräumen
Hartz-IV-Empfängern bei gleichzeitiger Erhöhung des im Hier und Jetzt, dass es dann aber mittelfristig Bei-
Rentenbeitrags auf 19,9 Prozent, ist das Haushaltssanie- tragssatzsenkungen geben soll. Liebe Kolleginnen und
rung auf Kosten der Beitragszahler. Kollegen von der Koalition und insbesondere von der
SPD, wer soll Ihnen das noch glauben?
(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) (Dirk Niebel [FDP]: Kein Mensch! – Peter
Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Den Zick-
Ich fordere die Koalition auf, den sich bietenden zackkurs der FDP glaubt Ihnen auch nie-
Spielraum für möglichst niedrige Beiträge in allen Zwei- mand!)
(B) gen der Sozialversicherung konsequent zu nutzen. Wenn (D)
der rentenpolitische Sprecher der Union, Peter Weiß, das Es ist noch keine drei Jahre her, dass Sie im RV-Nach-
Festhalten an der Rentenbeitragserhöhung damit begrün- haltigkeitsgesetz die Absenkung des Beitragssatzes zur
det, dass man den Unternehmen Planungssicherheit ge- Rentenversicherung auf 18,6 Prozent im Jahr 2010 ange-
ben wolle, kündigt haben. Und jetzt sollen wir froh sein, dass es bei
19,9 Prozent in 2010 bleibt? Wer so handelt, hat seinen
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Für Ruf ruiniert und darf nicht mehr erwarten, dass seine
die Zukunft!) Ankündigungen noch einmal ernst genommen werden.
dann ist das zynisch. Herr Weiß, das Motiv Ihres Han- (Beifall bei der FDP – Anton Schaaf [SPD]:
delns ist viel einfacher. Wie bei dem Festhalten an der Ihre Katastrophenszenarien stimmen nicht!)
Mehrwertsteuererhöhung handeln Sie nach dem Motto:
Den politischen Ärger für die Erhöhung haben wir ge- Was Sie heute hier mit der mutwilligen Erhöhung von
habt, jetzt wollen wir auch die Kohle sehen. So läuft das Lohnnebenkosten einleiten, taugt als neues Kapitel in
bei Ihnen. dem Buch „Wie man eine Volkswirtschaft ruinieren
kann“. Die konsequente Absenkung der Lohnneben-
(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ kosten – das will ich hier noch einmal feststellen – ist
DIE GRÜNEN – Hartmut Koschyk [CDU/ die beste Möglichkeit, die konjunkturelle Entwicklung
CSU]: Peter Weiß ist nicht zynisch, sondern im kommenden Jahr zu stützen. Wer wie die Koalition
liebenswürdig!) aus Angst davor, den Beitragssatz in einem Wahljahr
eventuell wieder erhöhen zu müssen, auf mögliche Ab-
Der federführende Minister, Arbeitsminister Franz senkungen verzichtet, beschädigt von vornherein die
Müntefering, hat der staunenden Öffentlichkeit vor kur- Chancen für eine dauerhafte konjunkturelle Erholung
zem erklärt, er wolle sich nicht an seinen Aussagen im
Wahlkampf messen lassen. Aber man wird doch noch (Zuruf des Abg. Peter Weiß [Emmendingen]
einmal nachfragen dürfen, ob wenigstens die Aussagen [CDU/CSU])
im Koalitionsvertrag ernst zu nehmen sind, ob man
und wird, Herr Weiß, die Probleme am Ende in ver-
sich als Bürger dieses Landes wenigstens darauf verlas-
schärfter Form vorfinden.
sen darf.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Da stehen
die 19,9 Prozent drin, Herr Kolb!) (Beifall bei der FDP)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006 6373

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: nicht über Löcher in der Rentenkasse reden müssen, son- (C)
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Peter Weiß dern Gott sei Dank über genügend Geld in der Renten-
das Wort. kasse reden können. Das ist doch eine gute Nachricht.
(Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD –
Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): GRÜNEN]: Polster anlegen! – Zurufe von der
FDP)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Man kann mit Reden auch alles vernebeln. Aber Fakt ist, Deswegen könnten wir – das ist richtig – im kommen-
die gute Nachricht ist: Diese große Koalition hält Wort. den Jahr den Beitragssatz zur Rentenversicherung auch
Wir senken die Lohnnebenkosten. Wir senken die So- auf 19,7 Prozent festsetzen.
zialversicherungsbeiträge.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aha! Hört! Hört! –
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Dauerhaft unter Weiterer Zuruf von der FDP: Es geht doch!)
40 Prozent? – Weitere Zurufe von der FDP:
Aber
Dauerhaft?)
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber?)
Wir entlasten die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
in diesem Land und die Wirtschaft. Gleichzeitig – das ist Politik macht man nicht nur für ein Jahr;
genauso wichtig – sorgen wir für Verlässlichkeit und So-
(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Man muss
lidität unserer sozialen Sicherungssysteme mit ihren Bei-
wollen!)
tragssätzen.
Politik muss auch eine längere Perspektive im Auge ha-
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – ben und auf Nachhaltigkeit setzen.
Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Dass die Leute durch die Mehr- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
wertsteuer weniger Einkommen haben, sagen
Alle Experten, auch der Schätzerkreis – die müssen es
Sie nicht!)
wissen –, sagen uns: Wenn ihr für nächstes Jahr den Bei-
Herr Kollege Dr. Kolb, was die FDP macht, ist tragssatz zur Rentenversicherung auf 19,7 Prozent fest-
legt, dann ist es so sicher wie das Amen in der Kirche,
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Einfordern, dass dass ihr ihn bereits im Jahr 2008 und dann auch für 2009
Sie den Beitragszahlern das Geld wieder zu- auf über 20 Prozent erhöhen müsst.
rückgeben, das Sie am Anfang des Jahres ein-
(B) genommen haben!) (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Das ist (D)
der Wunsch der FDP!)
in höchstem Maße unsolide und unseriös. Man kann üb-
rigens auch in der Opposition seine politische Glaubwür- Das heißt, wir würden bei der Rentenversicherung einen
digkeit verlieren. Auf dem Weg dahin ist die FDP, die Zickzackkurs fahren. Andererseits sagen sie: Wenn ihr
hier Vorschläge unterbreitet, bei denen sie ganz genau aber bereits 2007 auf 19,9 Prozent geht, könnt ihr euch
weiß – das haben Sie zum Schluss sogar zugegeben –, einigermaßen darauf verlassen, dass die deutsche Ren-
dass sie nicht für eine dauerhafte Entlastung sorgen, son- tenversicherung bis in das Jahr 2012 mit einem Beitrags-
dern dass auf das einmalige Senken wieder eine Erhö- satz von 19,9 Prozent auskommt und die Rente solide
hung folgt. und sicher finanziert ist.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Solch ein Zickzackkurs ist nicht gut für die deutsche Kollege Weiß, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Wirtschaft, sondern ist Gift für die Wirtschaft.
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: So ist es!) Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
Ja, bitte schön.
Das muss man einmal sagen: Die Giftmischer für die
deutsche Wirtschaft sitzen heute hier bei der FDP.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Wi- Herr Kollege Weiß, ich unterstelle einmal, das ist al-
derspruch bei der FDP – Volker Beck [Köln] les so richtig, wie Sie es hier vortragen.
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aber
nichts Neues!) Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
Die große Koalition hat bereits vor einem Jahr in der Haben Sie ein Gegenargument, Herr Kolb?
Koalitionsvereinbarung angekündigt, dass sie den Bei-
tragssatz zur Rentenversicherung in diesem Jahr und Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
damit für die gesamte Dauer der Legislaturperiode auf Könnten Sie mir vor diesem Hintergrund dann einmal
19,9 Prozent festsetzt. Nun ist es eine erfreuliche Tatsa- erklären, wann und wie Sie das auch im Koalitionsver-
che – darüber sollten wir uns alle eigentlich freuen und trag festgelegte Ziel umsetzen wollen, die Lohnneben-
sollten nicht darüber schimpfen –, dass die Einnahmen kosten, sprich die Sozialversicherungsbeiträge, dauer-
bei der Rentenversicherung hervorragend sind, dass wir haft unter 40 Prozent zu senken? Wann fangen Sie damit
6374 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006

Dr. Heinrich L. Kolb


(A) an? In welchen Bereichen sind Senkungen zu erwarten? Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir haben zwei (C)
Ist das, was Sie als Ziel formuliert haben, auf Dauer Alternativen: Entweder wir legen die Rentenversiche-
wirklich verlässlich? Könnten Sie mir dazu bitte einmal rungsbeiträge für nächstes Jahr auf 19,9 Prozent fest und
etwas sagen? können dann nicht nur in dieser Legislaturperiode, son-
dern auch in der nächsten Legislaturperiode eine sichere
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und solide Finanzierung der Rente gewährleisten,
NEN]: Das würde uns auch interessieren! –
Dirk Niebel [FDP]: Und die Krankenversiche- (Dirk Niebel [FDP]: Sie Blüm, Sie! –
rung nicht vergessen!) Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die Rente ist si-
cher!)
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
oder wir folgen dem Vorschlag der FDP, legen sie auf
Herr Kollege Kolb, die FDP schlägt uns vor, wir soll- 19,7 Prozent fest und haben dann in den Jahren darauf
ten den Beitragssatz zur Rentenversicherung nächstes die Wahl, sie auf über 20 Prozent anzuheben oder mehr
Jahr auf 19,7 Prozent festlegen. Auch Sie wissen – das Geld aus dem Bundeshaushalt, den wir ja gemeinsam sa-
haben Sie hier nicht widerlegt –, dass der Schätzerkreis nieren wollen, bereitzustellen oder die Renten zu kürzen.
uns eindeutig gesagt hat, dass der Beitragssatz dann
2008 und 2009 bei 20,1 Prozent liegt. (Zurufe von der LINKEN)
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das kommt doch Vor diese Wahl gestellt, gibt es meines Erachtens poli-
auf die konjunkturelle Entwicklung im nächs- tisch und auch wirtschaftlich nur einen richtigen Weg,
ten Jahr an!) nämlich die von uns vorgeschlagene Festsetzung auf
Das heißt, mit der Umsetzung Ihrer Forderung würde 19,9 Prozent, was dann auf Dauer zu einer soliden Fi-
man in den Folgejahren eine Erhöhung der Sozialversi- nanzierung der Rentenversicherung beiträgt.
cherungsbeiträge auslösen. Sie würden sich also von (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
dem Ziel, die Lohnnebenkosten auf unter 40 Prozent zu neten der SPD)
drücken, weiter weg bewegen. Das wäre die Folge Ihres
Vorschlages, Herr Kolb. Nach den aktuellen Steuerschätzungen werden die
Steuereinnahmen im Jahr 2007 voraussichtlich um
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – 20,1 Milliarden Euro höher ausfallen, als in der Steuer-
Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist doch gar schätzung vom Mai 2006 prognostiziert. Diese Mehrein-
nicht gesagt, wenn die Konjunktur im nächsten nahmen und die außergewöhnlich gute Entwicklung am
Jahr läuft!) Arbeitsmarkt geben uns die Chance, die Beitragssätze
(B) (D)
– Sehr richtig, auch davon hängt es ab. zur Arbeitslosenversicherung nicht nur wie geplant
von 6,5 auf 4,5 Prozent, sondern um mehr als ein Drittel
Unser Vorschlag ist, die Beiträge auf 19,9 Prozent auf 4,2 Prozent des Bruttolohns zu senken.
festzulegen und damit die Sicherheit zu gewinnen, dass
wir bis zum Jahre 2012 keine Erhöhung der Beiträge Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ein Beitragssatz
über diese 19,9 Prozent hinaus brauchen werden. von 4,2 Prozent zur Arbeitslosenversicherung ist der seit
1986, also seit 20 Jahren, historisch tiefste Beitragssatz
(Dirk Niebel [FDP]: Warum senken Sie dann zur Arbeitslosenversicherung.
bei der Arbeitslosenversicherung?)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Auf diesem Fundament steht die Operation, über die wir
neten der SPD)
noch reden werden und auf die ich noch zu sprechen
komme, angesichts der jetzt hervorragend laufenden Ich finde, diese Zahl macht wie nur wenig andere Zahlen
Konjunktur und der Verbesserung der Lage auf dem Ar- deutlich, dass wir in Deutschland tatsächlich eine Trend-
beitsmarkt den Arbeitslosenbeitrag sogar stärker zu sen- wende auf dem Arbeitsmarkt geschafft haben. Das ist
ken als in der Koalitionsvereinbarung vereinbart, die beste Nachricht für die Arbeitnehmerinnen und Ar-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Reicht nicht!) beitnehmer in unserem Land sowie für die vielen Ar-
beitslosen in Deutschland, die auf Arbeit hoffen.
nämlich nicht nur um 2, sondern um 2,3 Prozentpunkte.
(Beifall bei der CDU/CSU)
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Da müssen Sie
noch nachlegen, um auf die 40 Prozent zu
kommen!) Vizepräsidentin Petra Pau:
Kollege Weiß, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Das ist der Einstieg in das Vorhaben, zu Lohnnebenkos- Kollegen Fricke?
ten von weniger als 40 Prozent zu kommen. Die von Ih-
nen vorgeschlagene Operation würde diese langfristig
steigen lassen, mit unserer senken wir sie. Deshalb sind Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
wir auf dem richtigen Weg. Herr Kolb, sehen Sie das Bitte schön.
doch endlich ein.
(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU] [zu Abg.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Otto Fricke [FDP] gewandt]: Sie sind aber
neten der SPD) wissbegierig heute!)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006 6375

(A) Otto Fricke (FDP): lung in den nächsten Jahren zu unterstützen und mehr (C)
Ja, wissbegierig sind wir; denn – das wissen auch Sie – Chancen für Beschäftigung zu schaffen, als das, was die
Wissen ist Macht. große Koalition mit diesem Beitragsgesetz – Senkung
der Arbeitslosenversicherungsbeiträge, Sicherung eines
Deswegen frage ich den Kollegen Weiß: Habe ich ge- stabilen Niveaus der Rente – heute in Gang setzt.
rade richtig verstanden, dass Sie gesagt haben, dass die
Steuermehreinnahmen zu dieser Absenkung geführt ha- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
ben? Ist es nicht vielmehr so, dass die Steuermehrzah-
Meine Damen und Herren, wir wollen Stabilität und
lungen der Bürger im nächsten Jahr – das betrifft insbe-
Verlässlichkeit. Beide Beitragssätze – 4,2 Prozent bei
sondere die Erhöhung der Mehrwertsteuer, jedenfalls zu
der Arbeitslosenversicherung, 19,9 Prozent bei der Ren-
1 Prozentpunkt – zu der wesentlichen Absenkung füh-
tenversicherung – werden, wie uns die Experten sagen,
ren?
nicht nur für ein Jahr Gültigkeit haben, sondern voraus-
sichtlich auf viele Jahre eine stabile Finanzierung der
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Arbeitslosenversicherung und der Rentenversicherung
Selbstverständlich bin ich auch für die Wissbegierde gewährleisten.
des Vorsitzenden des Haushaltsausschusses dankbar, der
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das werde ich
offensichtlich auch nach dem Abschluss der Bereini-
Ihnen vorhalten, Herr Weiß!)
gungssitzung gestern noch Fragebedarf bezüglich des
Haushalts hat. Was die FDP vorschlägt, ist eine Berg- und Talfahrt,
die an Unseriosität kaum zu überbieten ist. Weil Sie da-
Die Koalition hat in der Koalitionsvereinbarung unter
für wirtschaftlichen Sachverstand, der angeblich bei Ih-
anderem die Erhöhung der Mehrwertsteuer zum
nen vorhanden ist, reklamieren, will ich Ihnen sagen:
1. Januar 2007 geplant, um den Arbeitslosenversiche-
Walter Eucken, der Begründer der Freiburger Schule der
rungsbeitrag zu senken und den Haushalt zu konsolidie-
Nationalökonomie
ren. Das Erfreuliche, Herr Fricke, ist, dass wir nun zu-
sätzlichen Handlungsspielraum gewonnen haben, weil (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Ein Neolibera-
die gute Konjunktur uns mehr Steuereinnahmen be- ler!)
schert, als wir ursprünglich gedacht haben. Deswegen
machen wir zwei wichtige Dinge: Wir senken den Ar- – er war kein Neoliberaler –,
beitslosenversicherungsbeitrag noch weiter und wir sen-
(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Doch, er war
ken vor allem – das müsste den Haushälter doch eigent-
ein Neoliberaler!)
lich freuen – die Nettokreditaufnahme des Bundes auf
(B) (D)
den historisch tiefsten Stand seit der Wiedervereinigung. hat in seinen erstmals im Jahr 1952 erschienenen
„Grundsätzen der Wirtschaftspolitik“ Folgendes ge-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
schrieben – ich zitiere –:
neten der SPD)
(Dirk Niebel [FDP]: Sagen Sie es lieber nicht,
Das sind beides positive Nachrichten für unser Land, für
sonst kriegen Sie noch Ärger!)
die Bürgerinnen und Bürger und auch für die Wirtschaft.
Die nervöse Unrast der Wirtschaftspolitik, die oft
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die Mehrwertsteuer-
heute verwirft, was gestern galt, schafft ein großes
erhöhung ist eine negative Nachricht!)
Maß an Unsicherheit und verhindert ... viele Inves-
Beides gehört zusammen und beides ist, wie ich finde, titionen. Es fehlt die Atmosphäre des Vertrauens.
ein großartiger Erfolg der großen Koalition.
Das Vertrauen kann erst wiederhergestellt werden,
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ihr kommt ja wenn bei wirtschafts- und sozialpolitischen Entschei-
von Erfolg zu Erfolg! – Dr. Jürgen Gehb dungen wieder Konstanz und Verlässlichkeit an die erste
[CDU/CSU]: Und das leider ohne die FDP!) Stelle treten. Genau das machen wir mit unserem Bei-
tragsgesetz. Deshalb bitte ich Sie um Zustimmung. Wir
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, auch wenn es im schaffen für die Wirtschaft wie auch für die Bürgerinnen
Bereich der Gesundheit und der Finanzierung der gesetz- und Bürger in diesem Land verlässliche Rahmenbedin-
lichen Krankenkasse im kommenden Jahr noch einmal gungen. Das ist das, was uns Walter Eucken ins Stamm-
zu Beitragserhöhungen kommt, bleibt unter dem Strich buch geschrieben hat. Die Union und Koalition handeln
– das ist das Wichtige – für die Bürgerinnen und Bürger danach.
in unserem Land Geld, das ihnen dadurch direkt zugute
kommt, da wir die Lohnnebenkosten, die Beiträge zur Vielen Dank.
Sozialversicherung, um mindestens 1,4 Prozentpunkte (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
senken. Das kann jeder an seinem Geldbeutel bemerken.
Deswegen beschließen wir heute ein Gesetz, das, in Vizepräsidentin Petra Pau:
Zahlen ausgedrückt, eine Entlastung von rund Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Volker
17 Milliarden Euro für die Bürgerinnen und Bürger, für Schneider das Wort.
die Beitragszahler in unserem Land bringt. Ich finde, es
gibt kein besseres Rezept, die konjunkturelle Entwick- (Beifall bei der LINKEN)
6376 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006

(A) Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE): setzesänderung haben Sie hier wahrlich Champions-Lea- (C)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! gue-Format erreicht.
Die Fußball-WM ist zu Ende und die Party geht weiter.
Das ist jedenfalls der Eindruck, den man haben kann, (Beifall bei der LINKEN – Wolfgang
wenn man sieht, wie die große Koalition versucht, sich Grotthaus [SPD]: Von Ihnen kommt immer
zu feiern und die breite Bevölkerung in diese Gute- nur die Forderung nach Geld!)
Laune-Stimmung einzubeziehen. Im Fördern verharren Sie dagegen maximal – ich will
(Dr. Peter Danckert [SPD]: Das ist eine sehr einmal gnädig sein und nicht vom Kreisklassenniveau
originelle Bemerkung!) sprechen – auf dem Niveau der Bezirksklasse.

Fassungslos beobachtet dieselbe Koalition, dass weite (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Das
Teile der Bevölkerung partout nicht mitfeiern wollen. haben wir doch alles schon im Ausschuss ge-
Aber hallo, die Rentenbeiträge werden doch nur maßvoll hört!)
erhöht und die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung Während Sie all diese Probleme einfach nicht wahr-
sollen in fast demselben Umfang sinken. Ist das denn nehmen können oder wollen, führen Sie auch noch mit
nicht – wie die alemannische Frohnatur Peter Weiß nicht der FDP einen aus unserer Sicht ebenso überflüssigen
müde wird zu verkünden; wir haben das gerade erlebt – wie einigermaßen abstrusen Streit über die Frage, ob die
eine erfreuliche Nachricht? Koalition ihr im Koalitionsvertrag gesetztes Ziel, die So-
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Wo er Recht hat, zialversicherungsbeiträge auf unter 40 Prozent zu sen-
hat er Recht!) ken, nun erreicht hat oder nicht.
Ist das denn kein Grund zu feiern? Ich fürchte, meine An dieser Stelle hat uns der Herr Kollege Brandner
Damen und Herren von der großen Koalition, Sie haben – jetzt ist er nicht mehr anwesend – eine tolle Erklärung
immer noch nicht die Sorgen und Nöte der Menschen in im Ausschuss für Arbeit und Soziales geliefert. Er hat
unserem Land verstanden und Sie werden sie auch nicht dort zwar eingeräumt, dass die Beiträge bei 40,3 Prozent
verstehen. liegen. Er meinte dann aber, feststellen zu müssen, dass
durch den Verzicht auf einen Urlaubstag
(Beifall bei der LINKEN)
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Feiertag!)
Die Menschen, so sie denn nicht Arbeitgeber sind, in-
teressiert nicht so sehr, ob sie denn nun die Hälfte von 0,5 Prozentpunkte eingespart werden könnten und wir
19,5 oder 19,9 Prozent ihres Bruttolohnes in die Renten- damit tatsächlich bei unter 40 Prozent ankommen wür-
(B) versicherung zahlen müssen. Die Menschen interessiert den. (D)
vielmehr, ob sie im Alter für die von ihnen eingezahlten
Leistungen ein auskömmliches Leben erwarten dürfen (Wolfgang Grotthaus [SPD]: Sie hätten zuhö-
oder nicht. Da ist nicht erst in dieser Koalition von der ren müssen! Es geht um den Buß- und Bettag
Politik erheblicher Kredit verspielt worden. und nicht um einen Urlaubstag!)

(Dr. Peter Danckert [SPD]: Und das können – Lassen Sie mich erst einmal zu Ende ausführen; dann
Sie beurteilen?) verstehen Sie es vielleicht. – Herr Brandner kam so je-
denfalls auf 39,8 Prozent. Das verschlägt einem schon
Die Menschen interessiert auch nicht in erster Linie, die Sprache.
ob der Beitragssatz in der Arbeitslosenversicherung bei
4,2 oder 4,5 Prozent liegt. Wenn Unternehmen, die dicke (Wolfgang Grotthaus [SPD]: Erzählen Sie
Gewinne einstreichen, Jobs streichen, haben Arbeitneh- doch nicht solch ein dummes Zeug!)
mer schlicht Angst vor der Zukunft. Sie fragen sich, Herr Kollege, diese krude Logik bewirkt, dass es zu ei-
wie gut sie für den leider nicht mehr so unwahrscheinli- ner Ersparnis für die Arbeitgeber kommt. Aber die Ar-
chen schlimmsten aller Fälle abgesichert sind. Sie sehen beitnehmer müssen eine zusätzliche Leistung erbringen.
sich am Anfang einer steilen Rutsche, die selbst den 50-
jährigen Ingenieur nach 25 Arbeitsjahren innerhalb nur (Wolfgang Grotthaus [SPD]: Richtig!)
eines Jahres auf das Sozialhilfeniveau hinunterbefördert.
Damit beginnt bereits das Prekariat und nicht erst dann, Der Sachverhalt ist also folgendermaßen: 19,9 Pro-
wenn man abgehängt ist. Davor haben diese Menschen zent der Lohnnebenkosten tragen künftig die Arbeitge-
Angst. ber und 20,4 Prozent die Arbeitnehmer.

(Beifall bei der LINKEN) (Wolfgang Grotthaus [SPD]: Genau!)

Die Menschen interessiert auch, auf welche sonstigen Das macht in der Addition – Volksschule Sauerland –
Hilfen sie hoffen dürfen, wenn der schlimmste aller wieder 40,3 Prozent.
Fälle eintritt. Da müssen sie es fast wie Hohn empfinden, (Beifall bei der LINKEN – Anton Schaaf
wenn in Ihrem Änderungsantrag steht: „Die aktive Ar- [SPD]: Auch richtig!)
beitsmarktförderung wird auf hohem Niveau stabili-
siert.“ Im Konzept des Forderns und Förderns kann ich Erstaunlich, dass eine solche Aushöhlung des Solidar-
ein hohes Niveau allenfalls in Bezug auf das Fordern er- prinzips von einem Bevollmächtigten der IG Metall zur
kennen. Spätestens mit den Sanktionen der letzten Ge- Rechtfertigung der eigenen Politik herangezogen wird!
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006 6377
Volker Schneider (Saarbrücken)
(A) (Wolfgang Grotthaus [SPD]: Jetzt beschimp- menden Jahr eigentlich ausreiche, um die gesetzlichen (C)
fen Sie mich nicht! Ich bin kein Bevollmäch- Verpflichtungen einzuhalten.
tigter der IG Metall!)
(Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
So scheint der Zustand der SPD insgesamt heutzutage zu NEN]: Hört! Hört!)
sein.
In der Begründung finden wir die meines Erachtens
Zusammengefasst: Diese Politik geht an den Interes- dreiste Aussage: Durch die Erhöhung des Beitragssatzes
sen der Menschen in unserem Land vorbei. Auf unsere im kommenden Jahr würden die Beitragszahler und der
Unterstützung werden Sie nicht hoffen können. Bundeshaushalt in den Jahren 2008 bis 2010 entlastet,
Besten Dank. (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]:
(Beifall bei der LINKEN) Und zwar mehr entlastet, Frau Schewe-
Gerigk!)
Vizepräsidentin Petra Pau: indem „die Beitragssatzanhebung im Jahre 2007 über-
Das Wort hat die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk kompensiert“ werde.
für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: So
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ist es!)
Mit anderen Worten: Der Minister sagt: Ich meine es
Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- doch nur gut mit euch Versicherten. Ich nehme euch jetzt
NEN): mehr weg,
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Im Windschatten des wirtschaftlichen Aufschwungs und (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Nein! Nachhal-
weitgehend unbemerkt, Herr Weiß, greift die große Ko- tigkeit)
alition in die Tasche der Versicherten. damit ich euch später nicht noch einmal etwas wegneh-
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Nein! – Peter men muss. Dann verschone ich euch. – Das ist schon
Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Stimmt eine besondere Logik, die meine Fraktion so nicht teilt.
doch nicht!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Sie will die Rentenversicherungsbeiträge im kommen- Anton Schaaf [SPD]: Jetzt habt ihr euch auch
den Jahr von 19,5 auf 19,9 Prozentpunkte erhöhen und von der Nachhaltigkeit verabschiedet!)
(B) spült damit 3,4 Milliarden Euro der Versicherten in die Wer glaubt denn eigentlich an einen Zufall, wenn ge- (D)
Rentenkassen, und zwar in die Rentenkassen, die sie rade gestern der Finanzminister erneut ankündigt, er
selbst zuvor geplündert hat. So wurden die Beitragszah- wolle den Bundeszuschuss langfristig auf dem jetzigen
lungen des Bundes für Langzeitarbeitslose halbiert. Da- Niveau einfrieren, und das, obwohl der Bundeszuschuss
durch fehlen der Rentenkasse jetzt jährlich 2 Milliarden nach eigenen Berechnungen der Regierung in den nächs-
Euro. ten Jahren um weitere 2 Milliarden Euro steigen müsste.
(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Sie haben uns Dazu sage ich: Nachtigall, ich hör dir trapsen! Der Bun-
ja sehr solide Rentenkassen hinterlassen!) deszuschuss wird nicht mehr erhöht. Stattdessen werden
dann Beitragsatzerhöhungen herangezogen.
Die Mentalität des Staates, den Bundeshaushalt zulasten
der Versicherten zu entlasten, lehnen wir ausdrücklich (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Na-
ab. türlich! Dieser Automatismus steht doch im
Gesetz!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Also kassieren Sie hier schon wieder 2 Milliarden Euro
NEN]: Entschieden!) ein.
Damit stehen wir nicht allein. Der Sozialbeirat hat vor Das macht deutlich: Die große Koalition entlastet den
kurzem die Erhöhung der Sozialbeiträge mit dem aus- Bundeshaushalt auf Kosten der Beitragszahler. Das ist
drücklichen Ziel, den Bundeshaushalt zu entlasten, als bereits in Ihrem Koalitionsvertrag festgelegt worden;
verfassungsrechtlich bedenklich kritisiert. Der wirt- dies wollen Sie offensichtlich fortsetzen. Die Halbierung
schaftliche Aufschwung lässt ohne ein Zutun der Regie- der Rentenbeiträge für die Langzeitarbeitslosen – das
rung – ich erinnere an die Rürup-Kommission – Mehr- habe ich vorhin schon gesagt – führt dazu, dass der Ren-
einnahmen von 19,4 Milliarden Euro in den tenkasse 2 Milliarden Euro fehlen. Die Angleichung der
Staatshaushalt fließen. Davon stehen dem Bund knapp Beitragssätze in der Alterssicherung der Landwirte hat
9 Milliarden Euro zur Verfügung. Auch die Rentenkas- eine ähnliche Wirkung. Hier entlastet sich der Bund um
sen profitieren von diesen Mehreinnahmen. 14 Millionen Euro. Die CDU/CSU hat einige weitere
Kürzungsvorschläge in petto, wie man weiß. Da passt es
Umso irritierender ist es, dass das Vorhaben der Re- gut, sich schon einmal ein gutes Polster anzulegen, ähn-
gierung, die Beiträge zu erhöhen, durchgesetzt werden lich der Aktion Eichhörnchen, passend zu dieser Jahres-
soll. Denn in der Vorlage zur Erhöhung der Rentenversi- zeit.
cherungsbeiträge wird ohne Scham zugegeben – ich zi-
tiere –, dass ein Beitragssatz von 19,7 Prozent im kom- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
6378 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006

Irmingard Schewe-Gerigk
(A) Dieser Weg ist für Sie offenbar der bequemste. Dabei nen von den fünf Wirtschaftsweisen bescheinigt worden. (C)
führt die Mehrwertsteuererhöhung im kommenden Jahr Sie sollten einmal überlegen, ob Sie die vielleicht abset-
zu Steuermehreinnahmen von mehr als 20 Milliarden zen, weil die Ihnen immer so unangenehme Nachrichten
Euro. Herr Weiß, vorhin haben Sie gesagt, die Umset- bringen. Darüber haben Sie ja schon nachgedacht.
zung des vorliegenden Gesetzentwurfes führe zu einer
Entlastung von 17 Milliarden Euro und die Steuererhö- Vielen Dank.
hung zu Mehreinnahmen von 20 Milliarden Euro. Die
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Differenz lässt sich leicht ausrechnen. Sie aber feiern es
als generöse Geste, einen Teil dieser Differenz für die
Senkung der Arbeitslosenbeiträge zu verwenden. Stellt Vizepräsidentin Petra Pau:
man allerdings dieser Senkung die Erhöhung der Kran- Ich schließe die Aussprache.
kenversicherungs- und der Rentenversicherungsbeiträge
gegenüber, kommt man zu dem Ergebnis, dass eine Fa- Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
milie mit einem Jahreseinkommen von 20 000 Euro Drucksache 16/3268 zur federführenden Beratung an
ganze 40 Euro weniger an Beiträgen jährlich zahlt. den Ausschuss für Arbeit und Soziales und zur Mitbera-
tung an den Finanzausschuss, den Ausschuss für Wirt-
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Im- schaft und Technologie, den Ausschuss für Ernährung,
merhin! Sie haben die Beiträge erhöht!) Landwirtschaft und Verbraucherschutz, den Ausschuss
Rechnet man die Mehrwertsteuererhöhung hinzu, für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, den Aus-
kommt man zu dem Ergebnis, dass das verfügbare Ein- schuss für Gesundheit sowie den Haushaltsausschuss zu
kommen der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? –
sinkt. Sie sollten sich einmal die diesbezügliche Unter- Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so be-
suchung des DIW anschauen. schlossen.

Das sind ungefähr 0,5 Prozent, die die sozialversiche- Ich komme zurück zum Tagesordnungspunkt 33 und
rungspflichtigen Beschäftigten an verfügbarem Einkom- gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern
men jetzt weniger haben. Sie verkaufen das als große ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung
Wohltat. Es ist keine Wohltat. Herr Müntefering ist lei- über den von der Fraktion Die Linke eingebrachten Ge-
der nicht da. Wenn morgen Sankt-Martins-Tag ist, dann setzentwurf zur Änderung des Schuldrechtsanpassungs-
nimmt Ihnen keiner diese Rolle ab. Wir lehnen das ab. gesetzes, Drucksachen 16/1736 und 16/3207, bekannt:
Abgegebene Stimmen 497. Mit Ja haben gestimmt
Herr Weiß, vorhin sagten Sie, die Opposition gehe im 46 Kolleginnen und Kollegen, mit Nein haben gestimmt
(B) Zickzackkurs. Herr Kollege Weiß, hier müssen Sie ir- 450 Kolleginnen und Kollegen, eine Enthaltung. Damit (D)
gendetwas verwechselt haben. Der Zickzackkurs ist Ih- ist der Gesetzentwurf abgelehnt.

Endgültiges Ergebnis Inge Höger-Neuling Alexander Ulrich Jochen Borchert


Abgegebene Stimmen: 497; Dr. Barbara Höll Jörn Wunderlich Wolfgang Börnsen
davon Ulla Jelpke Sabine Zimmermann (Bönstrup)
Dr. Lukrezia Jochimsen Wolfgang Bosbach
ja: 46
Dr. Hakki Keskin fraktionslos Klaus Brähmig
nein: 450 Michael Brand
Katja Kipping Gert Winkelmeier
enthalten: 1 Monika Knoche Helmut Brandt
Jan Korte Dr. Ralf Brauksiepe
Ja Katrin Kunert Nein Monika Brüning
Oskar Lafontaine Georg Brunnhuber
DIE LINKE Dr. Gesine Lötzsch CDU/CSU Gitta Connemann
Ulrich Maurer Ulrich Adam Leo Dautzenberg
Hüseyin-Kenan Aydin
Karin Binder Dorothee Menzner Ilse Aigner Alexander Dobrindt
Dr. Lothar Bisky Kornelia Möller Peter Albach Thomas Dörflinger
Heidrun Bluhm Kersten Naumann Peter Altmaier Marie-Luise Dött
Eva Bulling-Schröter Wolfgang Nešković Dorothee Bär Maria Eichhorn
Dr. Martina Bunge Dr. Norman Paech Thomas Bareiß Georg Fahrenschon
Roland Claus Petra Pau Norbert Barthle Ilse Falk
Dr. Diether Dehm Elke Reinke Dr. Wolf Bauer Dr. Hans Georg Faust
Werner Dreibus Paul Schäfer (Köln) Günter Baumann Enak Ferlemann
Dr. Dagmar Enkelmann Volker Schneider Ernst-Reinhard Beck Ingrid Fischbach
Klaus Ernst (Saarbrücken) (Reutlingen) Hartwig Fischer (Göttingen)
Wolfgang Gehrcke Dr. Ilja Seifert Veronika Bellmann Dirk Fischer (Hamburg)
Diana Golze Dr. Petra Sitte Clemens Binninger Axel E. Fischer (Karlsruhe-
Dr. Gregor Gysi Frank Spieth Carl-Eduard von Bismarck Land)
Lutz Heilmann Dr. Kirsten Tackmann Peter Bleser Dr. Maria Flachsbarth
Cornelia Hirsch Dr. Axel Troost Antje Blumenthal Klaus-Peter Flosbach
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006 6379
Vizepräsidentin Petra Pau
(A) Herbert Frankenhauser Wolfgang Meckelburg Volkmar Uwe Vogel Monika Griefahn (C)
Dr. Hans-Peter Friedrich Dr. Michael Meister Andrea Astrid Voßhoff Kerstin Griese
(Hof) Friedrich Merz Gerhard Wächter Achim Großmann
Erich G. Fritz Maria Michalk Marco Wanderwitz Wolfgang Grotthaus
Jochen-Konrad Fromme Hans Michelbach Kai Wegner Wolfgang Gunkel
Dr. Jürgen Gehb Philipp Mißfelder Peter Weiß (Emmendingen) Hans-Joachim Hacker
Ralf Göbel Dr. Eva Möllring Gerald Weiß (Groß-Gerau) Bettina Hagedorn
Dr. Reinhard Göhner Marlene Mortler Karl-Georg Wellmann Klaus Hagemann
Peter Götz Stefan Müller (Erlangen) Anette Widmann-Mauz Alfred Hartenbach
Dr. Wolfgang Götzer Bernward Müller (Gera) Elisabeth Winkelmeier- Michael Hartmann
Reinhard Grindel Dr. Gerd Müller Becker (Wackernheim)
Hermann Gröhe Hildegard Müller Dagmar Wöhrl Hubertus Heil
Markus Grübel Henry Nitzsche Willi Zylajew Reinhold Hemker
Manfred Grund Michaela Noll Rolf Hempelmann
Monika Grütters Dr. Georg Nüßlein SPD Gustav Herzog
Karl-Theodor Freiherr zu Franz Obermeier Dr. Lale Akgün Petra Heß
Guttenberg Eduard Oswald Gregor Amann Gabriele Hiller-Ohm
Olav Gutting Henning Otte Gerd Andres Stephan Hilsberg
Holger Haibach Rita Pawelski Ingrid Arndt-Brauer Gerd Höfer
Gerda Hasselfeldt Dr. Peter Paziorek Rainer Arnold Iris Hoffmann (Wismar)
Ursula Heinen Ulrich Petzold Ernst Bahr (Neuruppin) Frank Hofmann (Volkach)
Uda Carmen Freia Heller Dr. Joachim Pfeiffer Doris Barnett Eike Hovermann
Michael Hennrich Sibylle Pfeiffer Dr. Hans-Peter Bartels Klaas Hübner
Jürgen Herrmann Dr. Friedbert Pflüger Klaus Barthel Christel Humme
Bernd Heynemann Beatrix Philipp Sören Bartol Brunhilde Irber
Ernst Hinsken Ronald Pofalla Sabine Bätzing Johannes Jung (Karlsruhe)
Peter Hintze Ruprecht Polenz Dirk Becker Josip Juratovic
Robert Hochbaum Daniela Raab Uwe Beckmeyer Johannes Kahrs
Klaus Hofbauer Thomas Rachel Klaus Uwe Benneter Ulrich Kasparick
Franz-Josef Holzenkamp Dr. Peter Ramsauer Dr. Axel Berg Dr. h. c. Susanne Kastner
Joachim Hörster Peter Rauen Ute Berg Ulrich Kelber
Anette Hübinger Eckhardt Rehberg Petra Bierwirth Christian Kleiminger
Hubert Hüppe Katherina Reiche (Potsdam) Kurt Bodewig Hans-Ulrich Klose
Dr. Peter Jahr Klaus Riegert Clemens Bollen Astrid Klug
(B) Dr. Hans-Heinrich Jordan Dr. Heinz Riesenhuber Gerd Bollmann Walter Kolbow (D)
Andreas Jung (Konstanz) Franz Romer Dr. Gerhard Botz Fritz Rudolf Körper
Steffen Kampeter Johannes Röring Klaus Brandner Karin Kortmann
Alois Karl Kurt J. Rossmanith Willi Brase Rolf Kramer
Bernhard Kaster Dr. Norbert Röttgen Bernhard Brinkmann Anette Kramme
Siegfried Kauder (Villingen- Dr. Christian Ruck (Hildesheim) Ernst Kranz
Schwenningen) Albert Rupprecht (Weiden) Marco Bülow Nicolette Kressl
Volker Kauder Peter Rzepka Ulla Burchardt Angelika Krüger-Leißner
Eckart von Klaeden Anita Schäfer (Saalstadt) Martin Burkert Dr. Hans-Ulrich Krüger
Jürgen Klimke Hermann-Josef Scharf Dr. Peter Danckert Jürgen Kucharczyk
Julia Klöckner Dr. Wolfgang Schäuble Karl Diller Helga Kühn-Mengel
Jens Koeppen Hartmut Schauerte Martin Dörmann Dr. Uwe Küster
Kristina Köhler (Wiesbaden) Dr. Annette Schavan Dr. Carl-Christian Dressel Christine Lambrecht
Manfred Kolbe Dr. Andreas Scheuer Elvira Drobinski-Weiß Dr. Karl Lauterbach
Norbert Königshofen Karl Schiewerling Garrelt Duin Waltraud Lehn
Dr. Rolf Koschorrek Georg Schirmbeck Detlef Dzembritzki Helga Lopez
Hartmut Koschyk Bernd Schmidbauer Sebastian Edathy Gabriele Lösekrug-Möller
Michael Kretschmer Andreas Schmidt (Mülheim) Siegmund Ehrmann Dirk Manzewski
Gunther Krichbaum Dr. Andreas Schockenhoff Hans Eichel Lothar Mark
Dr. Günter Krings Dr. Ole Schröder Petra Ernstberger Caren Marks
Dr. Martina Krogmann Bernhard Schulte-Drüggelte Karin Evers-Meyer Katja Mast
Johann-Henrich Uwe Schummer Annette Faße Hilde Mattheis
Krummacher Wilhelm Josef Sebastian Elke Ferner Markus Meckel
Dr. Hermann Kues Kurt Segner Gabriele Fograscher Petra Merkel (Berlin)
Dr. Karl Lamers (Heidelberg) Bernd Siebert Rainer Fornahl Dr. Matthias Miersch
Andreas G. Lämmel Thomas Silberhorn Gabriele Frechen Ursula Mogg
Dr. Norbert Lammert Johannes Singhammer Dagmar Freitag Marko Mühlstein
Katharina Landgraf Christian Freiherr von Stetten Peter Friedrich Detlef Müller (Chemnitz)
Dr. Max Lehmer Gero Storjohann Martin Gerster Michael Müller (Düsseldorf)
Paul Lehrieder Andreas Storm Iris Gleicke Gesine Multhaupt
Ingbert Liebing Max Straubinger Günter Gloser Dr. Rolf Mützenich
Eduard Lintner Thomas Strobl (Heilbronn) Renate Gradistanac Andrea Nahles
Dr. Michael Luther Lena Strothmann Angelika Graf (Rosenheim) Thomas Oppermann
Stephan Mayer (Altötting) Dr. Hans-Peter Uhl Dieter Grasedieck Holger Ortel
6380 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006

Vizepräsidentin Petra Pau


(A) Johannes Pflug Dr. Peter Struck Dr. Werner Hoyer Britta Haßelmann (C)
Joachim Poß Joachim Stünker Michael Kauch Peter Hettlich
Christoph Pries Dr. Rainer Tabillion Dr. Heinrich L. Kolb Priska Hinz (Herborn)
Dr. Wilhelm Priesmeier Jella Teuchner Hellmut Königshaus Ulrike Höfken
Dr. Sascha Raabe Dr. h. c. Wolfgang Thierse Gudrun Kopp Dr. Anton Hofreiter
Mechthild Rawert Jörn Thießen Jürgen Koppelin Bärbel Höhn
Steffen Reiche (Cottbus) Franz Thönnes Heinz Lanfermann Ute Koczy
Maik Reichel Rüdiger Veit Sibylle Laurischk Sylvia Kotting-Uhl
Gerold Reichenbach Simone Violka Harald Leibrecht Fritz Kuhn
Christel Riemann- Jörg Vogelsänger Ina Lenke Renate Künast
Hanewinckel Dr. Marlies Volkmer Sabine Leutheusser-
Undine Kurth (Quedlinburg)
Walter Riester Andreas Weigel Schnarrenberger
Markus Kurth
Dr. Ernst Dieter Rossmann Petra Weis Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt Monika Lazar
Karin Roth (Esslingen) Gert Weisskirchen
(Wiesloch) Jan Mücke Dr. Reinhard Loske
Michael Roth (Heringen)
Dr. Rainer Wend Burkhardt Müller-Sönksen Anna Lührmann
Ortwin Runde
Lydia Westrich Dirk Niebel Jerzy Montag
Anton Schaaf
Dr. Margrit Wetzel Jörg Rohde Kerstin Müller (Köln)
Axel Schäfer (Bochum)
Bernd Scheelen Andrea Wicklein Dr. Konrad Schily Winfried Nachtwei
Marianne Schieder Engelbert Wistuba Marina Schuster Omid Nouripour
Ulla Schmidt (Aachen) Dr. Wolfgang Wodarg Dr. Max Stadler Brigitte Pothmer
Silvia Schmidt (Eisleben) Heidi Wright Dr. Rainer Stinner Claudia Roth (Augsburg)
Heinz Schmitt (Landau) Manfred Zöllmer Florian Toncar Krista Sager
Carsten Schneider (Erfurt) Christoph Waitz Elisabeth Scharfenberg
Olaf Scholz FDP Dr. Guido Westerwelle Christine Scheel
Ottmar Schreiner Dr. Claudia Winterstein Irmingard Schewe-Gerigk
Jens Ackermann
Reinhard Schultz Martin Zeil Dr. Gerhard Schick
Dr. Karl Addicks
(Everswinkel) Christian Ahrendt Rainder Steenblock
Swen Schulz (Spandau) BÜNDNIS 90/ Silke Stokar von Neuforn
Daniel Bahr (Münster)
Ewald Schurer DIE GRÜNEN Dr. Harald Terpe
Uwe Barth
Dr. Angelica Schwall-Düren Rainer Brüderle Marieluise Beck (Bremen) Jürgen Trittin
Dr. Martin Schwanholz Patrick Döring Volker Beck (Köln) Wolfgang Wieland
Rolf Schwanitz Mechthild Dyckmans Cornelia Behm Josef Philip Winkler
Rita Schwarzelühr-Sutter Jörg van Essen Birgitt Bender Margareta Wolf (Frankfurt)
(B) Dr. Margrit Spielmann Ulrike Flach Grietje Bettin (D)
Jörg-Otto Spiller Otto Fricke Ekin Deligöz
Dr. Ditmar Staffelt
Enthalten
Horst Friedrich (Bayreuth) Dr. Thea Dückert
Andreas Steppuhn Miriam Gruß Dr. Uschi Eid
BÜNDNIS 90/
Ludwig Stiegler Joachim Günther (Plauen) Hans Josef Fell
DIE GRÜNEN
Rolf Stöckel Elke Hoff Kai Gehring
Christoph Strässer Birgit Homburger Anja Hajduk Hans-Christian Ströbele

Somit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die wei- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
tere Beratung. Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten
Ich rufe Tagesordnungspunkt 35 auf: soll. – Auch dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist
Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker das so beschlossen.
Beck (Köln), Monika Lazar, Kai Gehring, weite- Ich eröffne die Aussprache. Für die Fraktion Bünd-
rer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND- nis 90/Die Grünen hat der Kollege Volker Beck das
NISSES 90/DIE GRÜNEN Wort.
Zivilgesellschaftliches Engagement gegen
Rechtsextremismus gesetzlich schützen – Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rechtsprechung zur Verwendung von Kenn- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das
zeichen verfassungswidriger Organisationen Landgericht Stuttgart hat in seiner Entscheidung vom
auswerten 29. September 2006 entschieden, den Vertrieb von
– Drucksache 16/3202 – Antinazisymbolen wie durchgestrichene Hakenkreuze
auf Buttons oder T-Shirts als Verwendung von Kennzei-
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
chen verfassungswidriger Organisationen nach § 86 a
Innenausschuss des Strafgesetzbuches zu bestrafen. Laut Presseberichten
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe hat das Gericht unter anderem erklärt, bei Verwendung
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006 6381
Volker Beck (Köln)
(A) des Hakenkreuzes bestehe unabhängig vom Kontext die (Daniela Raab [CDU/CSU]: Richtig!) (C)
Gefahr, sich an das Symbol zu gewöhnen.
nicht rechtskräftig, muss in den Räumlichkeiten des
Ich glaube, dieses Urteil ist ein Schildbürgerstreich Deutschen Bundestages deshalb auch nicht umgesetzt
der Justiz, der gerade diejenigen kriminalisiert, die sich werden. Darüber müssen wir reden. Das darf in Zukunft
im öffentlichen Raum mit Zivilcourage gegen den er- nicht mehr der Fall sein.
starkten Rechtsextremismus wenden wollen. Wir finden,
das ist ein Skandal. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der LINKEN)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Jörg van Essen [FDP]: Das ist doch noch gar Die Berliner Staatsanwaltschaft handelt völlig richtig.
nicht rechtskräftig! Warten Sie doch ab!) Sie hat gesagt, durchgestrichene Hakenkreuze sind für
sie kein Anlass für strafrechtliche Ermittlungsverfahren.
– Herr van Essen, Sie haben zu Recht bemerkt, dass das Ich habe einen Button auf meiner Homepage. Von mir
Urteil noch nicht rechtskräftig ist. Deshalb sagen wir hat noch kein Staatsanwalt deswegen etwas gewollt.
ebenso wie die Justizministerin, man soll die weitere
Rechtsprechung prüfen. (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Oh, oh!)

Wir wollen hier und heute aber als Deutscher Bundes- Am Platz vor dem Neuen Tor hängt dieses Plakat, auf
tag zum Ausdruck bringen, was die Intention des Ge- dem zu sehen ist, wie ein Hakenkreuz in den Papierkorb
setzgebers war. geworfen wird – wie es sich gehört. Die Berliner Staats-
anwaltschaft hat zu Recht gesagt: Das ist keine Verlet-
(Dr. Peter Danckert [SPD]: Sie wollen das!) zung des § 86 a StGB.
– Richtig, Herr Danckert, wir als Fraktion Bündnis 90/ (Dr. Peter Danckert [SPD]: Können wir ein
Die Grünen wollen zum Ausdruck bringen, dass die In- Foto von dem Plakat machen?)
tention des Gesetzgebers darin bestand, die Verwendung
entsprechender Symbole nicht mit dem Anschein zuzu- Ich wünschte, das würde auch von der Polizei des Deut-
lassen, verfassungswidrige Organisationen könnten trotz schen Bundestages so gesehen und das wäre einheitliche
ihres Verbots ungehindert ihre Wiederbelebung betrei- Meinung in diesem Hause.
ben. Nicht beabsichtigt ist dagegen, die Strafverfolgung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
auch für solche Fälle zu eröffnen, in denen Personen de- und bei der LINKEN)
monstrativ ihre Ablehnung einer verfasswidrigen Orga-
nisation zum Ausdruck bringen wollen. Das entspricht Statt uns über durchgestrichene Hakenkreuze aufzure-
gen, sollten wir uns lieber darüber aufregen, dass ges- (D)
(B) der herrschenden Meinung. Die Kommentarliteratur
stellt eindeutig fest: „Bestraft wird die abstrakte Gefahr tern, am Tag der Reichspogromnacht, in Brandenburg
einer inhaltlichen Identifizierung mit dem Bedeutungs- ein Gedenkstein von Neonazis geschändet wurde. Das
gehalt symbolträchtiger Kennzeichen, deren Verbreitung ist ein Grund, um sich aufzuregen.
oder Verwendung den Anschein erwecken kann, verfas- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
sungswidrige Organisationen könnten trotz ihres Verbots bei der SPD und der LINKEN sowie des Abg.
ungehindert ihre Wiederbelebung betreiben.“ So heißt es Hartmut Koschyk [CDU/CSU])
bei Tröndle entsprechend.
Es gibt jedoch keinen Grund, gegen irgendwelche Anti-
Herr Kollege van Essen, Sie haben gesagt, wir brau- faschisten vorzugehen.
chen diese Debatte nicht.
Ein weiterer Grund, sich aufzuregen, ist der NPD-
(Jörg van Essen [FDP]: Richtig! Weil wir uns Parteitag, der morgen in Berlin stattfinden soll. Ich rufe
in ein laufendes Justizverfahren nicht einmi- alle Bürgerinnen und Bürger auf, die in Berlin sind, sich
schen sollten!) dem Allparteienbündnis anzuschließen und um 10 Uhr
– Ja. Ich respektiere Ihre Meinung. – Ich glaube, wir an der Trabrennbahn in Berlin-Mariendorf für ein welt-
brauchen diese Debatte, weil die Polizei des Deutschen offenes Berlin zu demonstrieren, Flagge zu zeigen und
Bundestages auf Anweisung des Direktors – wir haben vielleicht auch durchgestrichene Hakenkreuze zu zeigen.
im Ältestenrat darüber diskutiert – dieses Urteil zur (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Grundlage polizeilichen Handelns macht. Es ist völlig bei der SPD und der LINKEN – Dr. Jürgen
klar, dass man im Plenum weder für den Erhalt der Wale Gehb [CDU/CSU]: Um wie viel Uhr?)
in den Weltmeeren werben noch mit Banderolen gegen
den Nationalsozialismus agieren darf. Außerhalb des Ich bin Kölner. Ich bin morgen nicht in Berlin. Wir
Plenarsaals, auf den Wandelgängen, auf den Fluren dür- haben am 11.11. etwas anderes zu feiern. Aber auch das
fen Parlamentarier aber natürlich, wie alle anderen Bür- hat mit antifaschistischer Gesinnung zu tun.
gerinnen und Bürger auch, Erlaubtes zum Ausdruck (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sie feiern
bringen. Sankt Martin!)
Gegenwärtig ist es im Hohen Haus Praxis, dass man Deshalb möchte ich mit Erlaubnis der Präsidentin zum
mit einem Button am Revers, auf dem ein durchgestri- Schluss ein Karnevalslied
chenes Hakenkreuz zu sehen ist, nicht hereingelassen
wird. Ich finde, diese Praxis ist falsch. Das Urteil ist (Zurufe von der SPD: Singen!)
6382 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006

Volker Beck (Köln)


(A) vortragen, das auf dieses Thema Bezug nimmt: lichtet, das ist handwerklich so dilettantisch, dass man (C)
nur sagen kann: Mit Ihrer Büttenrede haben Sie dem
Ich bin ene klene Mann, auch sprachlich den richtigen Rahmen gegeben. So ist
der nicht alles verstann. das: Non multum, sed multa.
Eines han auch ich kapiert:
Bei den braune Funke wird nit mitmarschiert. (Beifall bei der CDU/CSU)
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine fröhliche Das zum Ersten, was Sie in Ihrem Antrag fordern.
Zeit und antifaschistisches Engagement. Das Zweite ist noch viel schlimmer: Da fordern Sie
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den Bundestag auf, er soll die Bundesregierung auffor-
und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten dern, für den Fall, dass der Bundesgerichtshof das Urteil
der SPD) bestätigt, gesetzlich darzustellen, was mit § 86 a StGB
nicht gemeint ist. Dass wir hier einen konditionierten
Vizepräsidentin Petra Pau: Beschluss fassen sollen, das ist wirklich ein Unikat. Herr
Beck, ehrlich gesagt, ich verstehe schon, dass sich heute
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Dr. Jürgen
kein Rechtskundiger von Ihnen hierhin gestellt hat, son-
Gehb das Wort.
dern dass man Sie vorgeschickt hat: Ihnen nimmt man es
nicht so übel,
Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der An- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/
lass für die heutige Debatte ist schon genannt worden. DIE GRÜNEN]: Ach, Herr Gehb!)
Herr Beck, Sie haben Ihre Rede mit einer Büttenrede be- wenn Sie Paragrafenschlüssel und Notenschlüssel ein-
endet. So ist auch der ganze Antrag zu verstehen. mal nicht auseinander halten können.
Man mag dieses Urteil des Landgerichts Stuttgart als (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Schildbürgerstreich ansehen. Nur, wenn wir jeden NEN]: Ihre Büttenrede könnte langsam auch et-
Freitag eine Debatte darüber führen würden, ob man Ur- was vertragen! – Peter Hettlich [BÜND-
teile des Amtsgerichts Dinkelsbühl bis zum Bundesfi- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Hessischer Karne-
nanzhof in München für einen Schildbürgerstreich hält, val!)
dann könnte man sicher wochenlang darüber debattie-
ren. Ihre zweite Forderung geht, wie wir feststellen, auch
nicht.
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Üblicherweise werden sie nicht hier im Was bleibt? Wir wollen jetzt einmal schön abwarten,
(B) (D)
Bundestag zur Grundlage polizeilichen Han- wie das in den Instanzen weitergeht. Ich will Ihnen eines
delns gemacht!) sagen: Es ist gar nicht so, dass sich die höchstrichterliche
Rechtsprechung mit so etwas noch nicht befasst hätte.
Wo kommt eigentlich Ihr Misstrauen gegen die Justiz Der Bundesgerichtshof hat bereits mit Entscheidung
her? Wie wollen Sie diesem vermeintlichen Fehlurteil vom 14. Februar 1973 – in dem Band BGHSt 25,
begegnen? Sie stellen einen Antrag im Bundestag mit Seite 133 – etwa Folgendes festgestellt: Der Tatbestand
dem Petitum, dass der Bundestag feststellen möge, wel- von § 86 a Strafgesetzbuch ist nicht erfüllt, wenn das
ches Rechtsgut in § 86 a des Strafgesetzbuches geschützt Symbol karikierenden Charakter hat und für jeden er-
ist und welches nicht. Sie alle kennen Montesquieu. Herr kennbar ist, dass der Schutzzweck der Norm nicht ver-
Beck, er ist nicht mit dem Grafen von Monte Christo, ei- letzt wird. Insofern haben wir hier vielleicht ähnliche
ner Romanfigur, zu verwechseln. Er ist auch nicht ir- Sachverhalte.
gendein Kochkünstler oder ein Modezar. Er ist einer der
Erfinder des Gewaltenteilungsprinzips. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: In dem Urteil wird diese Entscheidung
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE zitiert!)
GRÜNEN]: Sie arroganter Schnösel!)
Warten wir einmal in aller Ruhe ab, Herr Beck, wie
Wenn eine Entscheidung dem Unterlegenen nicht ge- der Bundesgerichtshof über das Rechtsmittel des Verur-
fällt, hat er bei uns in Deutschland die Möglichkeit, teilten entscheidet! Dann können wir uns überlegen, ob
Rechtsmittel einzulegen. Genau das ist hier passiert; gesetzgeberische Maßnahmen nötig sind. Das wird dann
denn der Verurteilte hat Rechtsmittel eingelegt. allerdings nicht bei Feststellungen bleiben können, son-
dern dann müssen Sie, wie gesagt, einen entsprechenden
Ich selber habe in meiner ersten Presseerklärung ge- Gesetzentwurf einbringen.
sagt, dass ich durch das Urteil prima facie irritiert war,
aber dass ich Vertrauen habe in unsere Rechtsprechung. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Es kann doch nicht nach jeder tatsächlichen oder auch NEN]: Das machen wir schon, keine Sorge!)
nur vermeintlichen Fehlentscheidung des Gerichts der
Aber das zivilgesellschaftliche Engagement einfach in
Gesetzgeber aufgefordert werden, darzulegen, wie die
der Weise gesetzlich zu schützen, wie Sie das wollen, ist,
Bestimmungen auszulegen sind. Herr Beck, dann müs-
wie gesagt, aus mehreren Gründen nicht möglich.
sen Sie einen Gesetzentwurf einbringen – darüber kann
man reden. Aber dass der Bundestag feststellen soll, was Dass die Bundesregierung die Rechtsprechung be-
de lege lata geschützt ist, das ist intellektuell unterbe- obachten soll, dazu noch eine kleine Belehrung, Herr
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006 6383
Dr. Jürgen Gehb
(A) Beck: Damit stiften Sie gewissermaßen jemanden an, (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C)
der ohnehin tatgeneigt ist. Den nennt man den omni NEN]: Wussten Sie das von Montesquieu
modo facturus; der ohnehin Tatgeneigte. auch?)
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Treffen Sie sich draußen und machen Jörg van Essen (FDP):
Sie das unter sich aus!) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich habe sehr lange überlegt, ob ich heute hier tatsäch-
Außerdem hat die Bundesjustizministerin zugesagt, lich reden oder meine Rede zu Protokoll geben sollte,
das zu beobachten. Wir beobachten täglich die Recht- weil ich finde, dass die Grünen mit ihrem Antrag all den-
sprechung. Nicht nur die Bundesregierung beobachtet jenigen, die den Kampf gegen rechts führen wollen, ei-
die Rechtsprechung, sondern auch die Abgeordneten be- nen Bärendienst erwiesen haben,
obachten sie, die Presse beobachtet sie. Was soll also Ihr
Schaufensterantrag? Irgendwann stellen wir hier noch (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: So ist das!)
fest, dass der Mensch den aufrechten Gang beherrscht! weil es doch vollkommen klar ist, dass zur Demokratie,
Ein Allerletztes, Herr Beck: Selbst wenn diese Ent- die wir schützen wollen, auch der Respekt der Gewal-
scheidung nicht richtig war, ist zu überlegen, ob das zi- ten untereinander gehört.
vilgesellschaftliche Engagement gegen Rechtsextremis- Hier geht es um ein laufendes Gerichtsverfahren.
mus tatsächlich nur dadurch erreicht werden kann, Wir alle haben wahrscheinlich das gleiche Gefühl hin-
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sichtlich der Frage, wie es ausgehen wird. Als jemand,
NEN]: Von „nur“ habe ich nicht gesprochen!) der in der Justiz als Staatsanwalt und Oberstaatsanwalt
in der politischen Abteilung solche Verfahren sehr lange
dass man solche Symbole zeigt, von denen man genauso führen musste, darf ich jedenfalls sagen, dass ich solche
gut meinen kann, dass dieser Schund hier generell nichts Verfahren immer eingestellt habe.
zu suchen hat, dass man nicht erst prüfen muss, welchen
(Zuruf von der SPD: Sehr gut!)
Beweggrund derjenige hat, der ein solches Symbol zeigt.
Nun mag es im vorliegenden Fall evident gewesen sein. Deswegen habe ich eine Ahnung davon, wie das Ganze
Doch schon wenn ich so ein Symbol tragen würde, wür- ausgehen wird. Ich finde aber, wir sollten hier zeigen,
den Sie sagen: Na, was macht denn der Herr Gehb da? dass wir Vertrauen in die Justiz haben.
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Daniela
NEN]: Ich teile Ihre Unverschämtheiten Raab [CDU/CSU])
(B) nicht!) (D)
Es geht hier um ein laufendes Verfahren und es ist doch
Was, wenn jemand mit kurzen Haaren und Stiefeln so et- geradezu ungewöhnlich, dass sich der Bundestag – ge-
was trägt? nötigt durch einen Antrag der Grünen – in dieses lau-
fende Verfahren einmischen soll. Ich warne uns davor,
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE das zu tun.
GRÜNEN]: Jetzt wird’s aber albern!)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Ich sage nur eins: Man muss auch vermeiden, dass
selbst durch solche karikierenden Kennzeichen objektiv Der Kollege Gehb hat alle Dinge angesprochen, die
der Eindruck erweckt wird, es gebe noch solche Par- aus meiner Sicht hier anzusprechen sind. Ich unterstütze
teien. Also vorsichtig mit Ihrem zivilgesellschaftlichen das, was er gesagt hat, mit Nachdruck. Ich habe in dieser
Engagement gegen Rechtsextremismus! Immer schön Angelegenheit volles Vertrauen in die Rechtsprechung
aufpassen, ob der gesetzliche Schutz nur so erreicht wer- des Bundesgerichtshofes. Nach meiner Auffassung wer-
den kann, wie Sie es fordern. den wir uns deshalb auch mit keinerlei Neufassung des
§ 86 a StGB zu befassen haben.
Ich bin der Meinung, dass er so nicht gefordert wer-
den kann. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse heute in Falls es anders ausgehen sollte, haben wir das zu re-
diesem Hause wird Ihnen der Erfolg auch versagt blei- spektieren. Dann müssten wir darüber sprechen. So hat
ben. das auch die Bundesjustizministerin gesagt. Das ist nach
meiner Auffassung die Antwort, die wir heute hier zu
Ich wünsche Ihnen allen und auch den Zuhörern auf geben haben – nicht mehr und nicht weniger.
der Tribüne ein schönes Wochenende. Dort oben sitzen
ja fast mehr als hier unten im Deutschen Bundestag. Sie Vielen Dank.
sehen, mit was wir uns alles beschäftigen müssen. Kom- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
men Sie gut nach Hause!
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Peter Vizepräsidentin Petra Pau:
Danckert [SPD] und bei der FDP) Das Wort hat der Kollege Peter Danckert für die SPD-
Fraktion.
Vizepräsidentin Petra Pau: (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Das Wort hat der Kollege Jörg van Essen für die FDP- NEN]: Sagen Sie bitte einmal etwas zu der
Fraktion. Weisung vom Direktor!)
6384 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006

(A) Dr. Peter Danckert (SPD): Hinterkopf haben muss: Durchgestrichene Hakenkreuze (C)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolle- können als massenhafte Werbung durchaus auch nega-
gen! Ich glaube, das Bündnis 90/Die Grünen hat hier tive Effekte haben,
wirklich eine Premiere veranstaltet: In einem laufenden
(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Ganz genau!)
Strafverfahren ist ein Urteil ergangen, das noch nicht
rechtskräftig ist. Dies wird in den Blickpunkt unserer weil sie geeignet sind, missbräuchlich verwendet zu
parlamentarischen Diskussion gerückt. – Das ist wirk- werden.
lich ein sehr bemerkenswerter Vorgang, auch unter dem
Gesichtspunkt der Gewaltenteilung. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/
CSU und der FDP – Dr. Jürgen Gehb [CDU/
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- CSU]: Inflationär!)
NEN]: Das Urteil war schlimmer!)
Was machen wir denn, wenn schwarz gekleidete und
Wenn wir das getan hätten, dann hätten Sie sofort ein- Stiefel tragende Menschen mit einem solchen Emblem,
gegriffen, nach dem Motto: Was passiert denn hier? Die das möglicherweise nicht eindeutig zu identifizieren ist,
Regierungskoalition mischt sich in laufende Verfahren durch unsere Straßen laufen?
ein.
(Zuruf von der LINKEN: Eindeutig ist es
(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Ja, unglaub- schon!)
lich!)
Ich bitte darum, dass wir uns diesen Gedanken einmal in
Lieber Kollege Beck, ich glaube, Sie haben sich, Ihrer aller Ruhe und ohne Emotionen durch den Kopf gehen
Fraktion und unserem Parlament einen Bärendienst er- lassen.
wiesen.
Einige dieser Buttons und Aufkleber aus dem Internet
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der – sie sind nicht so gut erkennbar – sind, unabhängig von
FDP – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Genau! dem, was der Betroffene damit bezweckt hat, durchaus
Blamabel!) geeignet, Missverständnisse hervorzurufen.
Ich weiß nicht, wie es draußen bewertet wird, wenn wir (Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/
damit anfangen, uns in gerichtliche Verfahren einzumi- DIE GRÜNEN): Bei wem denn?
schen. Wenn ich mich recht erinnere, sprachen Sie da-
von, die Rechtsprechung zu beobachten. Diesen Duktus Auch das müssen wir im Auge haben. Es geht nicht nur
halte ich für sehr problematisch. – ich glaube, darin sind wir uns alle in diesem Raum
einig – um die eindeutige Bekämpfung des Rechtsradi-
(B) (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Unglaublich! kalismus und der Neonazis. Ich bin froh, dass es die (D)
Big brother is watching you!) Neonazis nicht geschafft haben, in dieses Parlament ein-
Wir fangen im Parlament jetzt damit an, uns die Ent- zuziehen. In einigen Bundesländern ist das ja leider der
scheidungen in allen möglichen Rechtsgebieten – nicht Fall.
nur im Strafrecht – auf den Tisch zu legen und die Wir sollten davon absehen, missverständliche Wer-
Rechtsprechung zu beobachten, um nicht zu sagen, zu bung entstehen zu lassen. Der Träger eines solchen But-
kontrollieren. tons will damit zum Ausdruck bringen – seine Gesin-
(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sehr richtig!) nung ist ja ehrenwert –, dass er gegen jede Form von
Rechtsradikalismus und gegen die Nazis ist. Aber ein
Dieser Vorgang wäre besser unterblieben. kurzer Blick auf einen solchen Button könnte möglicher-
weise den Eindruck hervorrufen, dass er eine andere
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der
Tendenz verfolgt.
FDP)
Herr Beck, das, was Sie eben mit dem Naziplakat ge-
Ich habe mir das Urteil, das man aufmerksam durch-
macht haben, fand ich gar nicht gut. Die Absicht, die mit
lesen muss, besorgt. Zu diesem Urteil sage ich: Ich bin
diesem Plakat verfolgt wird, ist erkennbar. Aber müssen
der festen Überzeugung, dass das beim Dritten Straf-
wir dieses Symbol überall in der Öffentlichkeit verbrei-
senat des BGH gut aufgehoben ist. Seit 1972 gibt es dort
ten? Ich halte das für einen schwierigen Vorgang.
eine durchgehend klare Rechtsprechung bezüglich der
Frage, was strafbar ist und was nicht. (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das wird hof-
fähig!)
(Jörg van Essen [FDP]: Richtig!)
Mir wäre eine verbale Auseinandersetzung, eine eindeu-
An dieser Stelle kann man gut davon ausgehen, dass die-
tige Erklärung der Beteiligten viel lieber, als indirekt
ses Urteil keinen Bestand haben wird.
Werbung für die Nazis zu betreiben, auch wenn das nicht
(Iris Gleicke [SPD]: Das wäre sehr gut!) gewollt ist.
Ich weiß, dass ich mich damit auf ein schwieriges (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der
Terrain begebe, aber weil das noch nicht erwähnt wor- FDP – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/
den ist, möchte ich noch einen Gesichtspunkt anspre- DIE GRÜNEN]: Wer macht denn hier Wer-
chen, den man bei dieser gut gemeinten Aktion – das un- bung für die Nazis? Nehmen Sie das zurück!
terstelle ich dem Angeklagten einmal – auch im Das ist der eigentliche Skandal!)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006 6385
Dr. Peter Danckert
(A) In diesem Sinne ist alles gesagt worden. Ich muss hier Die CDU/CSU sollte heute etwas bescheidener sein, (C)
meine Redezeit nicht voll ausnutzen. Wir sollten solche nachdem sie gestern Abend in der Debatte nichts anderes
Urteile nicht zum Anlass nehmen, eine Debatte darüber zu tun hatte, als Linke mit rechten Mördern und Tot-
zu führen, was alles möglich ist. schlägern gleichzusetzen.

Ich möchte Sie alle an dieser Stelle einladen – einige (Beifall bei der LINKEN)
haben sich schon entschuldigt –, nächste Woche nach
Deswegen würde ich heute etwas bescheidener auftre-
Halbe zu kommen. Dort ist am 18. November, am Tag
ten; das will ich noch einmal deutlich sagen.
der Demokraten, eine geeignete Gelegenheit, Farbe zu
bekennen, ohne Button präsent zu sein und den Nazis, (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
wenn sie durch Halbe marschieren, Einhalt zu gebieten. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Das ist mein Wunsch an alle, die das hier zur Kenntnis
genommen haben. Ich will zu diesem Punkt auch noch sagen, dass das
Urteil aus Stuttgart ziemlich einmalig ist. Dieses Urteil
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. sehen alle anderen – darauf ist heute zu Recht hingewie-
sen worden – etwas kritischer. Das sieht selbst der säch-
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der sische Verfassungsschutz ein wenig anders, mit dem wir
FDP) ansonsten nicht sehr viel gemeinsam haben.
(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das glaube
Vizepräsidentin Petra Pau:
ich! – Jörg van Essen [FDP]: Ich weiß, Sie ha-
Das Wort hat der Kollege Jan Korte für die Fraktion ben vorher woanders gearbeitet!)
Die Linke.
– Ja genau, in Osnabrück, wo ich herkomme.
(Beifall bei der LINKEN)
(Jörg van Essen [FDP]: Ja, auch da!)
Jan Korte (DIE LINKE): Ich finde, der Bundestag hat die Aufgabe, dann, wenn
Es ist völlig legitim, dass sich der Bundestag mit ei- es offensichtlich eine solche Problematik und dann eine
nem offensichtlich gesellschaftlichen Prozess und einer entsprechende Debatte darüber gibt, auch ein politisches
aktuellen Diskussion auseinander setzt. Was ist das Pro- Zeichen zu setzen, egal, wie er dieses Urteil bewertet.
blem? Wenn er dazu nichts sagen möchte, gibt es auch dafür
– da haben Sie Recht – gute Gründe. Trotzdem haben,
(B)
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- wie ich finde, der Bundestag und die hier Anwesenden (D)
neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – gerade jetzt in dieser Situation – ich verweise noch ein-
Jörg van Essen [FDP]: Die Gewaltenteilung in mal auf die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung – die
der Demokratie, Herr Kollege!) Aufgabe und die Pflicht, denjenigen jungen Menschen
und denjenigen älteren Antifaschisten, die tagtäglich in
Es leuchtet mir nicht ein, dass man in diesem Hause den Kommunen versuchen, sich dem braunen Mob ent-
nicht auch über die Justiz diskutieren kann. Warum gegenzustellen, Anerkennung und Respekt zu zollen.
sollte man das nicht tun können? Dieses komische Poli- Natürlich schließt das auch diese Symbole ein. Nur zivil-
tikverständnis teile ich nicht. gesellschaftliches Engagement zu fordern, ist schön und
gut, reicht aber nicht.
Ich will Ihnen sagen, warum ich diesen Antrag der
Grünen ausnahmsweise für wirklich gut halte. Fragen (Dr. Peter Danckert [SPD]: Was heißt „schön
Sie einmal die Kids, die mit einem solchen Button durch und gut“? Das ist das Wichtigste!)
so genannte No-Go-Areas marschieren. Das ist über-
Das bedeutet vor allem, dass man beim Kampf gegen
haupt nicht missverständlich. Die Annahme, dass durch rechts keine Vorsicht walten lassen kann. Ganz im Ge-
ein wirklich klares antifaschistisches Symbol der Fa- genteil! Man muss hier in die Offensive gehen, und zwar
schismus irgendwie hoffähig gemacht wird, ist völlig ab- mit Symbolen, ohne Symbole, auf der Straße und auch
surd. hier im Bundestag. Deshalb unterstützen wir den Antrag.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der LINKEN und dem
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Gerade die jungen Leute nutzen diese Buttons, um un-
missverständlich deutlich zu machen: Wir haben mit Vizepräsidentin Petra Pau:
dem Faschismus und vor allem mit der NS-Vergangen- Ich schließe die Aussprache.
heit nichts zu schaffen! Wir machen da nicht mit! Wir
stellen uns dem entgegen! Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/3202 an die in der Tagesordnung aufge-
(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Selbst absurde führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
Gerichtsentscheidungen sind im Instanzenzug verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
zu korrigieren, nicht hier!) so beschlossen.
6386 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006

Vizepräsidentin Petra Pau


(A) Ich rufe Tagesordnungspunkt 37 auf: Auch hier wollten wir eine halbe Stunde debattieren. (C)
Beratung des Antrags der Abgeordneten Patrick Ich eröffne die Aussprache und nehme die Reden der
Meinhardt, Cornelia Pieper, Uwe Barth, weiterer Kollegin Professor Monika Grütters für die Unionsfrak-
Abgeordneter und der Fraktion der FDP tion, des Kollegen Dr. Ernst Dieter Rossmann für die
SPD-Fraktion, des Kollegen Uwe Barth für die FDP-
Offensive Weiterbildung – Weiterbildung als
Fraktion, der Kollegin Petra Sitte für die Fraktion Die
4. Säule des Bildungswesens ernst nehmen
Linke und des Kollegen Kai Gehring für die Fraktion
– Drucksache 16/2702 — Bündnis 90/Die Grünen zu Protokoll.2)
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Wir schließen damit die Aussprache. Interfraktionell
Technikfolgenabschätzung (f) wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/3192
Ausschuss für Arbeit und Soziales an den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend folgenabschätzung vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die so beschlossen.
Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten sollte. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
Ich eröffne die Aussprache und wir nehmen die Bei- ordnung.
träge des Kollegen Schummer für die Union, des Kolle- Eine Information muss ich Ihnen noch geben: Der Äl-
gen Dr. Ernst Dieter Rossmann für die SPD, des Kolle- testenrat hat in seiner gestrigen Sitzung vereinbart, dass
gen Patrick Meinhardt für die FDP, des Kollegen Volker während der Haushaltsberatungen ab dem 21. November
Schneider für die Fraktion Die Linke und der Kollegin 2006 keine Befragung der Bundesregierung, keine Fra-
Priska Hinz für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu gestunde und auch keine Aktuellen Stunden stattfinden
Protokoll.1) sollen.
Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell
(Otto Fricke [FDP]: Das gehört sich auch so!)
wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/2702
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse Sind Sie damit einverstanden?
vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. (Zustimmung)
Ich rufe Tagesordnungspunkt 38 auf: – Ich höre keinen Widerspruch, sondern ausdrückliche
(B) Zustimmung aus den Fraktionen. Dann ist das so be- (D)
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Petra schlossen.
Sitte, Cornelia Hirsch, Volker Schneider (Saar-
brücken) und der Fraktion der LINKEN Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Dienstag, den 21. November 2006, 10 Uhr,
Die Zukunft der Lehre und Forschung an ein.
Hochschulen mit Hilfe der Juniorprofessur
stärken Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche Ihnen
ein schönes Wochenende.
– Drucksache 16/3192 –
Überweisungsvorschlag: Die Sitzung ist geschlossen.
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (Schluss: 15.14 Uhr)

1) Anlage 5 2) Anlage 6
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006 6387

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis


Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Andreae, Kerstin BÜNDNIS 90/ 10.11.2006 Müntefering, Franz SPD 10.11.2006


DIE GRÜNEN
Paula, Heinz SPD 10.11.2006
Annen, Niels SPD 10.11.2006
Raidel, Hans CDU/CSU 10.11.2006
Dr. Bartels, Hans-Peter SPD 10.11.2006
Ramelow, Bodo DIE LINKE 10.11.2006
Dr. Bartsch, Dietmar DIE LINKE 10.11.2006
Röspel, René SPD 10.11.2006
Blumentritt, Volker SPD 10.11.2006
Schmidt (Nürnberg), SPD 10.11.2006
Caspers-Merk, Marion SPD 10.11.2006 Renate

Dagdelen, Sevim DIE LINKE 10.11.2006 Dr. Schui, Herbert DIE LINKE 10.11.2006

Eymer (Lübeck), Anke CDU/CSU 10.11.2006 Vaatz, Arnold CDU/CSU 10.11.2006

Friedhoff, Paul K. FDP 10.11.2006 Weinberg, Marcus CDU/CSU 10.11.2006

Dr. Gerhardt, Wolfgang FDP 10.11.2006 Weißgerber, Gunter SPD 10.11.2006

(B) Goldmann, Hans- FDP 10.11.2006 Wolff (Wolmirstedt), SPD 10.11.2006 (D)
Michael Waltraud

Granold, Ute CDU/CSU 10.11.2006 Zapf, Uta SPD 10.11.2006

Grosse-Brömer, Michael CDU/CSU 10.11.2006 Zypries, Brigitte SPD 10.11.2006

Haustein, Heinz-Peter FDP 10.11.2006

Hill, Hans-Kurt DIE LINKE 10.11.2006


Anlage 2
Hinz (Essen), Petra SPD 10.11.2006
Erklärung nach § 32 GO
Hoppe, Thilo BÜNDNIS 90/ 10.11.2006 der Abgeordneten Ulla Jelpke (DIE LINKE)
DIE GRÜNEN zur Beratung der Großen Anfrage: Entwick-
lung der extremen Rechten und die Maßnah-
Kossendey, Thomas CDU/CSU 10.11.2006
men der Bundesregierung (63. Sitzung, Tages-
Kröning, Volker SPD 10.11.2006 ordnungspunkt 12)
Frau Kristina Köhler, MdB, hat sich in ihrem Wort-
Leutert, Michael DIE LINKE 10.11.2006 beitrag zu dem oben genannten Tagesordnungspunkt da-
hin gehend geäußert, ich habe mich in einer Rundmail an
Link (Heilbronn), FDP 10.11.2006 den Beirat des „Bündnisses für Demokratie und Tole-
Michael ranz“ wie folgt geäußert: Erstens. In Deutschland sei es
mit den Frauenrechten auch nicht viel weiter als im Iran.
Löning, Markus FDP 10.11.2006
Zweitens. Nicht jeder Mensch sehne sich nach Demo-
Lötzer, Ulla DIE LINKE 10.11.2006 kratie und Menschenrechten.
Tatsächlich habe ich mich wie folgt geäußert: „Das
Merten, Ulrike SPD 10.11.2006 Anliegen, gegen die Diskriminierung von Frauen, die
Entrechtung von Schwulen, gegen Antisemitismus und
Meyer (Hamm), Laurenz CDU/CSU 10.11.2006 autoritäre Herrschaftsmethoden zu protestieren, unter-
6388 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006

(A) stütze ich. Der Islamismus, verstanden als politsches 2001 in New York und Washington der Gerechtigkeit zu- (C)
Programm und nicht als religiöse Bewegung, verdient geführt, also vor Gericht – „bring to justice“ – gestellt
den entschiedenen Widerstand aller Demokratinnen und werden sollen. Gerade das aber ist im Afghanistan-Krieg
Demokraten.“ nicht der Fall.
Zu den Äußerungen im Einzelnen: In Afghanistan findet Aufstandsbekämpfung statt, die
Ad Erstens habe ich festgestellt, dass auch „iranische auf die Vernichtung der gegnerischen Kämpfer und sol-
Frauen gerne gleichberechtigt wären“. Daran anschlie- cher Personen gerichtet ist, die für gegnerische Kämpfer
ßend habe ich darauf hingewiesen, „dass auch Frauen in gehalten werden. Fast immer sind auch Zivilisten,
Deutschland die Gleichberechtigung fordern und noch Frauen und Kinder, unter den Opfern der Kriegseinsätze.
nicht erreicht haben.“ Ganze Ortschaften werden aus der Luft mit Raketen an-
gegriffen und vollständig zerstört. Unterschiedslos ster-
Ad Zweitens: Tatsächlich habe ich mich in dem ben in den Trümmern Kämpfer und Zivilbevölkerung.
Schreiben wie folgt geäußert: „ … das Bündnis gegen Verdächtige werden getötet, vertrieben oder nach Guan-
den Al-Quds-Tag stellt die Verhältnisse im Iran als das tanamo verbracht. Das vermutete Umfeld, Häuser und
ganz ,Andere‘ dar, als absolutes Gegenteil dessen, was Siedlungen werden mit Bomben und Raketen zerstört.
im Westen herrschte. In dieser Sichtweise ,sehnen‘ sich Die Erfahrungen dieser Kriegsführung bewirken neuen
die Menschen nach ,Demokratie und Menschenrech- Haß und treiben den Islamisten neue Kämpfer zu. Diese
ten‘.“ Das Wort „sehnen“ ist dabei ein Zitat aus dem Spirale der Gewalt und die Eskalation des Terrors
Aufruf des Bündnisses selbst und durch die Anführungs- scheint unaufhaltsam.
striche auch als solches kenntlich gemacht.
Dieser Kriegseinsatz Enduring Freedom in Afghanis-
tan hat immer weniger Hoffnung auf Frieden und eine
Anlage 3 friedliche Entwicklung zur Folge. Die militärische Lage
ist dramatisch schlechter geworden. Noch Ende 2004 er-
Erklärung nach § 31 GO klärten Militärkommandeure in Afghanistan die Islamis-
der Abgeordneten Hans-Christian Ströbele, ten faktisch für besiegt. Aber trotz immer neuer Groß-
Winfried Hermann, Monika Lazar, Peter offensiven der Streitkräfte von Enduring Freedom sind
Hettlich, Sylvia Kotting-Uhl, Dr. Anton die militanten islamistischen Fundamentalisten heute so
Hofreiter, Dr. Harald Terpe und Irmingard stark wie nie zuvor seit dem Sturz der Taliban vor fünf
Schewe-Gerigk (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Jahren. Jede Woche gibt es neue Meldungen von Ge-
NEN) zu der namentlichen Abstimmung über fechten mit Hunderten von Toten. Der britische General
(B) die Beschlussempfehlung zu dem Antrag der Richards befürchtet, dass sich 70 Prozent der Afghanen (D)
Bundesregierung: Fortsetzung des Einsatzes be- wieder den Taliban anschließen würden
waffneter deutscher Streitkräfte bei der Unter- Der Kriegseinsatz Enduring Freedom diskreditiert die
stützung der gemeinsamen Reaktion auf terro- Aufbaubemühungen im nach Jahrzehnten des Krieges
ristische Angriffe gegen die USA auf Grundlage zerstörten Afghanistan. Die US-Armee und ihre Verbün-
des Artikels 51 der Satzung der Vereinten Na- deten werden schon jetzt im Süden und Osten als Besat-
tionen und des Artikels 5 des Nordatlantikver- zer gesehen, die der Bevölkerung nur weitere Leiden
trags sowie der Resolutionen 1368 (2001) und bringen. Der Krieg verhindert, dass Aufbaubemühungen
1373 (2001) des Sicherheitsrates der Vereinten der als Besatzer Gesehenen anerkannt und akzeptiert
Nationen (Tagesordnungspunkt 29 a) werden. Einer Armee, die gerade noch Gehöfte und Dör-
Den Antrag der deutschen Bundesregierung auf Fort- fer zerstört und Familienangehörige getötet hat, kann
setzung einer deutschen Beteiligung bei der Operation man schwer abnehmen, dass sie Schulen zum Wohle der
„Enduring Freedom“, OEF, lehnen wir ab. Bevölkerung bauen will.
Zu Enduring Freedom gehört der Kriegseinsatz im Eine Erfolg versprechende Planung für eine Beendi-
Süden und Osten Afghanistans. Er findet unter Führung gung des Krieges und Aufbau und Entwicklung im gan-
der US-Armee seit fünf Jahren statt. Er schürt die isla- zen Land ist nicht ersichtlich. Stattdessen gilt das „Wei-
mistische terroristische Gefahr. Er bringt dem Land kei- ter so“ und wird die Forderung erhoben nach immer
nen Frieden und keine friedliche Entwicklung. mehr Kampftruppen und schwerem militärischen Gerät.
Als wenn mehr Soldaten und mehr Krieg den Frieden
Der Kriegseinsatz Enduring Freedom trägt nicht dazu
schaffen könnten, den zu schaffen in den letzten Jahren
bei, die islamistische terroristische Gefahr nachhaltig zu
auch mit immer mehr Soldaten gänzlich misslungen ist.
mindern oder gar zu beseitigen, nicht in Afghanistan,
Inzwischen wird das Militär des ISAF-Einsatzes, der ei-
auch nicht weltweit. Ganz im Gegenteil, durch diesen
gentlich anders als der von Enduring Freedom nicht auf
Kriegseinsatz und insbesondere durch die Art und Weise
Kriegsführung ausgerichtet war, sondern auf Schutz und
der Kriegsführung wird diese terroristische Gefahr er-
Unterstützung der Aufbau- und Entwicklungsarbeit,
höht und letztlich gefördert.
immer mehr für den Aufgabenbereich von Enduring
In dem UN-Beschluss, mit dem dieser Kriegseinsatz Freedom im Süden und Osten Afghanistans eingesetzt.
legitimiert wird, ist keine Rede von einem Recht oder ei- Die Unterscheidung der Einsätze dort von ISAF und
nem Auftrag zur Kriegsführung, sondern davon, dass die Enduring Freedom wird immer weniger möglich. Diese
Verantwortlichen für die Anschläge vom 11. September Entwicklung wird dazu beitragen, die ISAF-Kräfte auch
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006 6389

(A) im Norden und Westen immer stärker als Besatzer zu se- zu der namentlichen Abstimmung über die Be- (C)
hen und den Krieg auch in den Norden auszuweiten. schlussempfehlung zu dem Antrag der Bundes-
regierung: Fortsetzung des Einsatzes bewaffne-
Deshalb fordern immer mehr Experten aus dem mili-
ter deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung
tärischen und zivilen Bereich, wie der ehemalige Gene-
der gemeinsamen Reaktion auf terroristische
ral Reinhard, die Entwicklung einer Ausstiegsstrategie,
Angriffe gegen die USA auf Grundlage des Arti-
um die Eskalation des Krieges zu stoppen und die
kels 51 der Satzung der Vereinten Nationen und
Chancen einer friedlicheren Entwicklung zu wahren.
des Artikels 5 des Nordatlantikvertrags sowie
Auch wir sehen, dass deutsche ISAF-Kräfte, von der
der Resolutionen 1368 (2001) und 1373 (2001)
NATO gedrängt, zunehmend Teil des Kampfes im südli-
des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
chen Afghanistan werden. Das Risiko ist groß, dass sich
(Tagesordnungspunkt 29 a)
der Krieg auch in den noch relativ friedlichen Norden
ausweitet. Angesichts einer unübersehbaren Gewaltspi- Fünf Jahre nach den schrecklichen Anschlägen vom
rale und eines immer deutlicher werdenden Scheiterns 11. September 2001 bleibt der international geführte
einer militärischen Befriedung des Landes halten wir Kampf gegen den Terrorismus notwendig. Eine erfolg-
eine kritische Reflexion der Afghanistanstrategie für reiche Eindämmung und Bekämpfung terroristischer
dringend geboten. Dazu gehören auch Überlegungen zu Netzwerke und ihrer Akteure bedarf auch weiterhin ei-
einer verantwortbaren Rückzugsstrategie. Im Abwä- nes starken politischen, zivilen aber auch militärischen
gungsprozess, ob ein Bleiben mehr oder weniger Gewalt Engagements der internationalen Gemeinschaft.
bedeutet, sehen wir immer klarer, dass der militärische
Weg – Enduring Freedom und ISAF – Gewalt steigert, Die langfristige Stabilisierung Afghanistans und ein
anstatt sie abzubauen. Der internationale Terrorismus erfolgreicher Wiederaufbauprozess kann zum gegenwär-
wird so jedenfalls nicht erfolgreich bekämpft. Im Gegen- tigen Zeitpunkt ebenfalls nur durch einen Gesamtansatz
teil: Selbstmordanschläge, die es früher in Afghanistan von politischen, zivilen und militärischen Mitteln ge-
gar nicht gab, werden ungewollt gefördert. Es droht die währleistet werden. Aufgrund der prekären Sicherheits-
Irakisierung Afghanistans. lage können zivile Wiederaufbauhelfer ohne eine militä-
rische Absicherung nicht tätig werden. Ohne Sicherheit
Die Bundesregierung hat auf jegliche Begründung, ist kein Wiederaufbau in Afghanistan möglich. Umge-
die die Verhältnisse in Afghanistan in den Blick nimmt, kehrt gilt: ohne Wiederaufbau keine Sicherheit.
verzichtet. Sie begründet ihren Antrag allein mit dem
Blick auf die Verbündeten und warnt vor einem schlech- Der Deutsche Bundestag hat sich daher zu Recht vor
ten Signal. Sie klärt weder das Handeln von Enduring wenigen Wochen für eine Verlängerung des ISAF Ein-
Freedom in der Gesamtheit auf noch beantwortet sie die satzes in Afghanistan ausgesprochen. Unter der Führung
(B)
Frage der Einbindung deutscher KSK-Kräfte in die Ope- der NATO leistet die Bundeswehr dabei einen wichtigen (D)
ration. Sie bezieht auch keine Stellung zu den notwendi- Beitrag zur Stabilisierung Afghanistans und zur Terroris-
gen Konsequenzen für deutsche Kräfte aus der Inkraft- musprävention.
setzung des Military Commission Act der US- Ohne eine Beteiligung der US-Regierung ist eine er-
Regierung, der dem international gültigen Kriegsvölker- folgreiche internationale Kooperation als Strategie zur
recht widerspricht und rechtliche Voraussetzungen für Bekämpfung des Terrorismus weder denkbar noch sinn-
folterähnliche Methoden für Militär und Geheimdienste voll. Dies gilt auch für Afghanistan. Gleichzeitig muss
schafft. Es fehlt der Mut und die Kraft, sich von den in- das konkrete Vorgehen der US-Regierung gerade auch
akzeptablen Praktiken der US-Armee zu distanzieren, im Rahmen von OEF deutlich kritisiert werden. Mit dem
obgleich die Kritik daran weite Teile der US-Armee er- In-Kraft-Treten des Military Commissions Act im Okto-
fasst hat, wie jüngst auch an den US-Kongresswahlen ber 2006 wird der US-Armee die uneingeschränkte will-
offensichtlich wurde. kürliche Verhaftung von Terrorverdächtigen sowie die
Die von der Bundesregierung vorgeschlagene Verlän- Anwendung folterähnlicher Verhörmethoden erlaubt.
gerung des Einsatzes Enduring Freedom ohne Wenn und Dem US-Präsidenten wird das Recht eingeräumt, „Inhalt
Aber würde einen verhängnisvollen Weg ohne reale und Anwendung der Genfer Konventionen“ zu interpre-
friedliche Perspektive für Afghanistan fortsetzen. Ich tieren. Diese Missachtung des Völkerrechts zerstört die
lehne diesen Einsatz deshalb ab. Glaubwürdigkeit und Legitimation von Terrorbekämp-
fung und beeinträchtigt ihre Wirksamkeit. Außerdem
gibt es begründeten Anlass zur Kritik an dem militäri-
schen Vorgehen der US-geführten Operation „Enduring
Anlage 4
Freedom“, OEF. Dazu zählt unter anderem die Praxis,
Erklärung nach § 31 GO Opiumfelder zu zerstören und auf diese Weise Bauern in
die Hände von „Oppositionellen Militanten Kräften“ zu
der Abgeordneten Marieluise Beck (Bremen),
treiben, ohne das Ziel der Beendigung des Drogenan-
Birgitt Bender, Matthias Berninger, Dr. Thea
baus nachhaltig zu erreichen.
Dückert, Dr. Uschi Eid, Katrin Göring-Eckardt,
Anja Hajduk, Priska Hinz (Herborn), Anna Zudem hat sich fünf Jahre nach der Intervention in
Lührmann, Omid Nouripour, Krista Sager, Afghanistan und dem Sturz des Talibanregimes die Si-
Rainder Steenblock, Silke Stokar von Neuforn, cherheitslage in den Südostprovinzen dramatisch ver-
Wolfgang Wieland und Margareta Wolf schlechtert. Terroristische und radikalislamistische be-
(Frankfurt) (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) waffnete Gruppen wie Taliban, al-Qaida und Mitglieder
6390 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006

(A) der Hizb-e Islami unter Führung von Hekmatjar kämp- Bundestag kontinuierlich und systematisch über den (C)
fen hier teilweise im Verbund mit kriminellen Akteuren Einsatz der deutschen Soldaten im Rahmen von OEF zu
der Drogenkartelle gegen die Zentralregierung und be- unterrichten und hat damit eine wesentliche Grundvor-
drohen den fragilen Aufbauprozess. Aussagen von zivi- aussetzung für die parlamentarische Zustimmung ver-
len und militärischen Afghanistanexperten ergeben über- letzt.
einstimmend die Bewertung, dass nicht die bloße
Präsenz von OEF, sondern deren Art und Weise der Ope- Wir kommen daher zu dem Schluss, dass die OEF-
rationsführung den „Oppositionellen Militanten Kräf- Mission in der gegenwärtigen Form immer weniger ziel-
ten“ Auftrieb gegeben hat. So hat sich die Sicherheits- führend und verantwortbar ist. Wir werden dem Antrag
lage durch die Zunahme militärischer Attacken von der Bundesregierung auf eine Verlängerung des OEF-
militanten Gruppen in den Südprovinzen von einer Mandats nicht zustimmen und uns unserer Stimme
„Patt-Situation“ im Vorjahr zu einem regelrechten Auf- enthalten. Wir fordern die Bundesregierung auf, interna-
stand in diesem Jahr entwickelt. tional für eine Veränderung der Strategie und Vorgehens-
weise von OEF einzutreten. Es ist auch zu prüfen, ob die
Nach der West-, Süd- und Osterweiterung ist die zwei verschiedenen Militärmandate in Afghanistan noch
NATO-geführte und VN-mandatierte Unterstützungs- zweckmäßig sind.
truppe ISAF mit 31 000 Soldatinnen und Soldaten,
davon circa 11 000 US-Truppen, inzwischen in ganz
Afghanistan aktiv und stationiert. Viele zentrale Unter- Anlage 5
stützungsleistungen – Evakuierung, Luftnahunterstüt-
zung –, die früher von OEF für ISAF bereitgestellt wur- Zu Protokoll gegebene Reden
den, werden nun auch von ISAF selbst gestellt. ISAF
zur Beratung des Antrags: Offensive Weiterbil-
selbst führt heute auch, wie zuletzt im Süden, massive
dung – Weiterbildung als 4. Säule des Bildungs-
Militäreinsätze zur Aufstandsbekämpfung durch.
wesens ernst nehmen (Tagesordnungspunkt 37)
Militärisches Vorgehen kann nur als Unterstützung ei-
ner politischen Strategie und ziviler Wiederaufbaupro- Uwe Schummer (CDU/CSU): Lebenslanges Lernen
jekte erfolgreich sein. Hierbei hat sich Deutschland in ist ein Schwerpunktthema dieser Koalition. Die sie be-
der Vergangenheit als verlässlicher Bündnispartner er- gründende Koalitionsvereinbarung hat klare Arbeitsauf-
wiesen und leistet einen erheblichen Beitrag, insbeson- träge erteilt. Wir haben uns verpflichtet, in dieser Legis-
dere in Afghanistan. So hat Deutschland als Lead-Nation laturperiode die Weiterbildung als starke Säule in der
beim Aufbau einer funktionsfähigen afghanischen Poli- Bildungslandschaft auszubauen. Es ist erfreulich und es
zei qualitativ hervorragende Beiträge geleistet. Um die- ermuntert uns, dass die FDP-Fraktion mit ihrem Antrag (D)
(B)
sen Beitrag schneller in die Fläche zu bringen, sollte das dieser Koalitionsvereinbarung von SPD und Union folgt.
deutsche Kontingent von derzeit 40 Polizeiberatern deut-
lich aufgestockt und in eine EU Polizeimission überführt Die deutsche EU-Präsidentschaft wird Signale für das
werden. lebenslange Lernen aussenden. So haben wir im Bundes-
tagsausschuss für Bildung, Forschung und Technikfol-
Gleichzeitig müssen – wie vom Sondergesandten der genabschätzung für den 11. Dezember eine Expertenan-
Vereinten Nationen in Afghanistan, Tom Koenigs, gefor- hörung terminiert, die sich mit dem europäischen
dert – auch die zivilen Anstrengungen der internationa- Bildungsraum beschäftigt. Dabei geht es auch darum,
len Gemeinschaft in den Provinzen – insbesondere des dass Kompetenzen definiert werden, die europaweit in
Südens und Ostens – intensiviert werden, um den „Op- die berufliche Praxis eingebracht werden können, unab-
positionellen Millitanten Kräften“ den Nährboden zu hängig davon, ob sie schulisch, akademisch oder betrieb-
entziehen. Hier sind insbesondere die stärkere Unterstüt- lich entwickelt wurden. Entscheidend ist, dass man über
zung und Einbeziehungen von lokalen Governance- diese Kompetenzen verfügt und dass diese nachprüfbar
Strukturen notwendig. Auch müssen insbesondere die sind. Wir wollen einen Bildungsraum schaffen, in dem
USA stärker als bisher auf Pakistan einwirken, um Ter- wir zwischen Portugal und Polen Mobilität und Ver-
roristen Rückzugsgebiete an der Grenze zu Afghanistan gleichbarkeit der Abschlüsse für die Menschen errei-
zu nehmen. chen. Die Europäische Union darf nicht nur eine Wirt-
Weiterhin leistet die Bundesrepublik im Rahmen der schaftsorganisation sein; sie muss werden, was sie früher
OEF-Mission durch die Bereitstellung von Marinekräf- stärker war: eine Lebens-, Kultur- und Bildungsgemein-
ten zur Überwachung des Seeraums am Horn von Afrika schaft. Ohne diese Grundlagen wird auch das gemein-
einen Beitrag zur militärischen Bekämpfung des interna- same Wirtschaften nicht funktionieren.
tionalen Terrorismus. Dieser Einsatz bleibt grundsätzlich
In der Koalitionsvereinbarung haben wir angekün-
auch weiterhin notwendig.
digt, dass wir für das lebenslange Lernen einen Finanzie-
Wir halten die Informationspolitik der Bundesregie- rungsmix entwickeln wollen. Dazu gehören einerseits
rung für völlig unzureichend. Sie hat bis zum heutigen das prämienbegünstigte Bildungssparen, tariffähige
Tag keine umfassende Bewertung über die Erfolge und Langzeitkonten, die auch für Bildungsmaßnahmen ge-
Misserfolge von OEF vorgelegt und daher auch nicht nutzt werden können, sowie Perspektiven für das
überzeugend begründen können, warum die Mission un- Meister-BAfög und sich an Studienkrediten orientie-
ter den heutigen Rahmenbedingungen fortgesetzt wer- rende Weiterbildungskredite. In einer internen Anhörung
den soll. Sie hat es zudem versäumt, den Deutschen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, die von der Arbeits-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006 6391

(A) gruppe Bildung und Forschung sowie dem Parlaments- schreiten und die Zusagen der Koalitionsvereinbarung (C)
kreis Mittelstand und der Arbeitnehmergruppe in der zum lebenslangen Lernen einzuhalten.
Unionsfraktion durchgeführt wurde, haben mit wenigen
Ausnahmen alle Experten uns ermuntert, neue Instru-
Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): „Auf den ers-
mente zu prüfen und das Thema lebenslanges Lernen
verstärkt in die politische Arbeit einzubringen. Wir wer- ten Blick erscheint die aktuelle Situation in der Weiter-
den dies, entsprechend unserer Koalitionsvereinbarung, bildung von einem Widerspruch gekennzeichnet: Die
zu Beginn des nächsten Jahres vorantreiben. Gemeinsam breite öffentliche Rhetorik über die Bedeutung von le-
mit dem Ausschuss werden wir im Januar hierzu eine benslangem Lernen für die persönliche Entfaltung, die
Expertenanhörung durchführen, um uns über konkrete Teilhabe am Erwerbsleben und die Sicherstellung der
Konzepte zu verständigen. Humanressourcen in einer alternden Gesellschaft ist un-
gebrochen.“ So formuliert das Konsortium Bildungsbe-
Wer, wie die Koalition, das Renteneintrittsalter erhö- richterstattung in dem ersten Bericht zur Bildung in
hen und die Lebensarbeitszeit verlängern will, der muss Deutschland, den wir im neuen Jahr auch im Parlament
auch dafür sorgen, dass lebenslanges Lernen möglich ist. umfassend zu diskutieren haben werden. Nur ist es ja
Bei der Begründung des Arbeitsförderungsgesetzes von nicht allein der erste Blick, sondern die Wirklichkeit
1967 durch den damaligen Bundesarbeitsminister Hans selbst, die dann auch bei einem zweiten und dritten und
Katzer ging es darum, dass einige 100 000 Arbeitslose vierten Blick sehr deutlich macht, wie groß das Missver-
so gefördert werden, dass sie anschließend wieder in den hältnis zwischen Rhetorik und Anspruch einerseits und
Arbeitsmarkt integriert werden können. Heute geht es den aktuellen Entwicklungstendenzen andererseits schon
darum, dass im globalen Wettbewerb der Wissensgesell- geworden ist und sich noch auszudehnen droht. Weiter-
schaften über 34 Millionen Arbeitnehmer permanent bildung braucht tatsächlich eine Offensive in Deutsch-
weitergebildet werden. Dies geht nicht mehr über die land. Weiterbildung muss als vierte Säule des Bildungs-
Arbeitskosten, das kann auch der Steuerzahler nicht wesens wirklich ernst genommen werden.
schultern, sondern hier ist ein Finanzierungsmix notwen-
dig, in dem verstärkt die Selbstfinanzierung und die Zumindest der Überschrift des FDP-Antrages können
Wirtschaft nach dem Nutznießerprinzip gefordert sind. wir deshalb aus voller Überzeugung beipflichten. Und
Bildungssparen hat für die Erhaltung der Arbeitskraft wir wollen es auch gerne begrüßen, dass nach der Frak-
und die Beschäftigungsfähigkeit sowie für das gesell- tion Die Linke jetzt auch die FDP mit einem Antrag zur
schaftliche Leben des Einzelnen den gleichen Stellen- Weiterbildung aus ihrer Sicht das Feld bereitet, das wir
wert wie die Alterssicherung und das Bausparen. Es im nächsten Jahr dann schwerpunktmäßig gemeinsam zu
reicht aber nicht, dies in Sonntagsreden zu sagen, son- beackern haben werden.
(B) dern wir müssen klare Fakten schaffen – Fakten, auf die (D)
sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber verlassen können. Um noch einmal einige genauere Blicke in die Wirk-
lichkeit zu werfen, so wie sie der erste Nationale Bil-
Wir haben in diesem Hause oft über Exzellenzförde- dungsbericht darstellt: Erstens. Der Bildungsbericht
rung gesprochen. Elite und Exzellenz erhalten wir je- muss feststellen, dass nach den Daten des Berichtssys-
doch erst dann, wenn wir eine solide Breitenbildung or- tems Weiterbildung – die individuelle Teilnahme an
ganisieren. Ohne Breitenbildung wird auch die Elite sehr Weiterbildung – seit 1997 kontinuierlich abnimmt. Be-
mäßig sein. Notwendig ist ein Bildungspakt, an dem sich sonders krass ist dabei der Rückgang der beruflichen
die großen gesellschaftlichen Kräfte und die unter- Weiterbildung im Osten. Zweitens. Im gesamten Be-
schiedlichen politischen Ebenen beteiligen. Ziel muss trachtungszeitraum der vergangenen fünfzehn Jahre hat
sein, die Erziehungskraft der Eltern, die Kindergärten als sich an den Abständen in der Weiterbildungsquote zwi-
spielerische Vorschulen, eine starke Breitenförderung in schen den unterschiedlichen Bildungsgruppen so gut wie
der allgemeinen Bildung, die duale Berufsausbildung nichts verändert. Nach wie vor erreicht Weiterbildung
und das in der Koalitionsvereinbarung angekündigte diejenigen, die besonders qualifiziert sind und gerade
Konzept zum lebenslangen Lernen zusammenzuführen. nicht diejenigen, die Weiterbildung besonders gut ge-
brauchen könnten. Drittens. Betrachtet man nur die fünf-
Wer dies will, der muss auch die Motivation für Bil-
zehn EU-Staaten, dann nehmen die deutschen Arbeits-
dung verbessern. Bildung ist ein Thema, das aus den
kräfte in den Lernaktivitäten insgesamt eher einen
pädagogischen Sparten in die allgemeine Öffentlichkeit
unteren Platz ein mit 42 Prozent, während die skandina-
getragen werden muss. Wer verstärkt die Selbstfinanzie-
rung der Bildung anreizen will, der muss auch den Wert vischen Staaten, Österreich und Luxemburg mit Teilnah-
von Bildung bewerben. Wir sehen bei der Alphabetisie- mequoten bis über 80 Prozent die Spitze bilden. Vier-
rungskampagne einiger Fernsehanstalten, dass nach jeder tens. Öffentliche und private Arbeitgeber investieren
Ausstrahlung ein tausendfacher Zulauf an die Volkshoch- beträchtliche Mittel in die Weiterbildung ihres Personals.
schulen stattfindet, und das bei einer Bevölkerungs- Entgegen der Rhetorik stagnieren aber in Deutschland
gruppe, die gemeinhin als „bildungsfern“ definiert wird. diese Mittel oder sind sogar rückläufig. Dies gilt insbe-
Moderne Öffentlichkeitsarbeit gehört eben auch zum le- sondere für die öffentlichen Ausgaben für Weiterbil-
benslangen Lernen, sodass die Instrumente, die wir ent- dung, die seit einigen Jahren sogar hinter das Niveau von
wickeln, dann auch umfassend genutzt werden. 1995 zurückgefallen sind. Dies gilt auch insbesondere
für die Bundesagentur für Arbeit, die ihre Ausgaben zur
Den Antrag der FDP sehe ich als Motivation und Er- Förderung der beruflichen Weiterbildung erheblich ein-
munterung für die Koalition auf, ihrem Weg voranzu- geschränkt hat.
6392 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006

(A) Insoweit bestätigen auch die Blicke in die Wirklich- Schulabschluss nachholen oder eine Ausbildung erfolg- (C)
keit, wie sie der erste deutsche Bildungsbericht nach- reich durchlaufen zu können.
zeichnet, das, was von der FDP aus einer anderen he-
rausragenden Quelle, dem OECD-Bericht „Bildung auf Dieses Programm wird dabei nicht nur das Bildungs-
einen Blick 2006“, in ihrem Antrag zur Situationsbe- ministerium, sondern in gleicher Weise auch das Ar-
schreibung ausgeführt wird. beits- und Wirtschaftsministerium fordern und in An-
spruch nehmen. Wir erwarten von der Regierung für das
Diese Diskrepanz im nationalen Bereich wird beson- nächste Jahr hierzu konkrete konzeptionelle Vorschläge,
ders problematisch vor dem Hintergrund der Analyse, bei denen wir als Sozialdemokraten insbesondere darauf
der Zielsetzungen und der Programme, wie sie im Zuge dringen werden, dass die konkreten Ideen zum Bildungs-
des so genannten Lissabonprozesses zur Entwicklung sparen für die Mittelschichten auf der einen Seite durch
von Europa als einem der leistungsfähigsten und größten konkrete Förderungsmaßnahmen für die zweite Chance
wissensbasierten Wirtschaftsräume der Welt verabredet bei den sozial Benachteiligten und Bildungsarmen aus-
worden sind und zur Strategie des lebenslangen Lernens balanciert werden. Wir brauchen auch klare Verbesse-
als europäische Leitvision geführt haben. Der Bildungs- rungen im Zuge der kritischen Überprüfung des Bereichs
bericht formuliert hierzu in seinen Perspektiven ab- beruflicher Weiterbildung nach den Arbeitsmarktrefor-
schließend: „Politisch nachdenklich stimmen sollte auch men der letzten Legislaturperiode. Vieles, was sich hier
der Sachverhalt, dass Deutschland bei der Weiterbil- in einer sehr drastischen Form der Reinigungskrise ent-
dungsbeteiligung einschließlich informeller Lernaktivi- wickelt hat, verdient auch nach unserer Auffassung eine
täten innerhalb der EU-Fünfzehn-Staaten eher am unte- kritische Überprüfung, damit Weiterbildung wieder in
ren Ende rangiert. Ob damit nicht auch die ökonomische die Priorität kommt, die Maßnahmen auch wirklich die
Wettbewerbsfähigkeit auf lange Sicht beeinträchtigt Menschen erreichen und fördern und es für die Träger
wird, ist eine offene Frage.“ stabile, planbare und damit auch in der Qualität gesi-
cherte Strukturen geben kann.
Dem wird man widersprechen können und müssen.
Es ist keine offene Frage. Die Antwort wird schon jetzt Das Ziel muss sein, dass wir am Ende nicht nur im
gegeben, wenn sich erste Lücken im Fachkräftebedarf Grundsätzlichen und in der Rhetorik einen Konsens in
deutlich zeigen. Die Struktur der Arbeitslosigkeit macht Deutschland gewinnen, wie Weiterbildung systematisch
jeden Tag aufs Neue klar, dass an Erstausbildung, Wei- zur vierten Säule des Bildungswesens ausgebaut werden
terbildung und kontinuierlicher Qualifizierung nicht ge- kann, sondern dies auch ganz praktisch wird zwischen
spart werden darf, wenn Langzeitarbeitslosigkeit mög- allen Beteiligten, den Gewerkschaften und den Arbeitge-
lichst vermieden werden soll. Alle Experten sagen bern, den Bildungsträgern und den Kommunen, den Re-
(B) voraus, dass mit dem Rückgang im Bedarf an einfacher gierungen in den Ländern und im Bund wie auch zwi- (D)
Arbeit und der Weiterentwicklung der vorrangig wis- schen den Parteien auf allen Ebenen.
sensbasierten Dienstleistungs- und Industriekultur in Für den Bundestag heißt dies, dass wir endlich die
Deutschland es umso wichtiger werden wird, lebenslan- gute Vorarbeit, die durch die so genannte Timmermann-
ges Lernen zum Grundprinzip der persönlichen Lebens- Kommission aus der vergangenen Legislaturperiode mit
entwicklung, staatlicher Leistungen und Bildungsför- dem Bericht zur Finanzierung des lebenslangen Lernens
derung und wirtschaftlicher wie unternehmerischer vorgelegt worden ist, im Parlament aufgreifen, über eine
Anstrengungen zu machen. Anhörung in die Details gehen, den Bildungsbericht
In der Koalitionsvereinbarung von SPD, CDU und ernst nehmen und dann zu Beginn des nächsten Jahres
CSU sind hierzu die Ziele und Maßnahmen für diese Le- auch mit konkreten Vorschlägen der Regierung zur För-
gislaturperiode benannt. Wir wollen die Weiterbildung derung der zweiten Chance wie zum Bildungssparen, zur
mittelfristig zur vierten Säule des Bildungssystems ma- Qualitätssicherung wie zur Systematisierung der Weiter-
chen. Es soll eine Weiterbildung mit System und bun- bildungsqualität wieder da anknüpfen können, wo leider
deseinheitlichen Rahmenbedingungen etabliert werden. ein Rückgang an Weiterbildung in den vergangenen Jah-
Das erfolgreiche Meister-BAföG wird weitergeführt. ren zu verzeichnen war – nämlich an der über eine lange
Die Vielzahl der bestehenden Weiterbildungsangebote Zeit auch in Deutschland bis in die 80er-Jahre bestehen-
soll durch die Optimierung der Bildungsberatung trans- den Tendenz, die Weiterbildung im Gleichklang mit
parenter gemacht werden. Die Qualitätssicherung von wachsender Lebensqualität, wirtschaftlicher Prosperität
Weiterbildungsangeboten soll ausgeweitet werden. An und Anhebung des individuellen Bildungsniveaus wie
der Finanzierung von Weiterbildung müssen sich die der persönlichen kontinuierlichen Weiterbildung zu ver-
Allgemeinheit, die Wirtschaft und der Einzelne in ange- stärken und in eine positive Dynamik zu bringen.
messener Weise beteiligen. Durch Bildungssparen soll
ein neues Finanzierungsinstrument entwickelt und dazu Patrick Meinhardt (FDP): Kluge Köpfe sind die
das Vermögensbildungsgesetz novelliert werden. Dies wichtigste Ressource unseres Landes. Bildung und Wis-
soll haushaltsneutral geschehen. Für die sozialdemokra- senschaft müssen wieder in den Vordergrund rücken.
tische Seite besonders wichtig war die Festlegung, dass Unsere Bildungseinrichtungen müssen Neugierde und
insbesondere sozial Benachteiligte gefördert werden sol- Kreativität fördern, zu Leistungsbereitschaft und Eigen-
len, um deren Weiterbildungsbeteiligung zu erhöhen. initiative ermuntern, den Teamgeist stärken und ein posi-
Insbesondere Jugendliche und Erwachsene ohne Ab- tives Verständnis für die Grundbedingungen des wirt-
schluss sollen eine zweite Chance erhalten, um einen schaftlichen Denkens und die Chancen moderner
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006 6393

(A) Technologien vermitteln. Nur mit gut ausgebildeten gne zu starten, die die Bereitschaft der Bürger, sich wei- (C)
Menschen bringen wir Deutschland wieder voran – ein terzubilden, erhöht. Die FDP hat Gelder hierfür im
Leben lang. Haushalt beantragt. Meine Damen und Herren von der
Regierungskoalition: Machen Sie einfach mit!
Der Antrag der FDP zielt genau darauf: Wer Bildung
in ihrer ganzen Bandbreite ernst nimmt, muss im Kin- Drei Schwerpunkte stellen sich für uns als FDP dar:
dergarten anfangen und muss endlich den Schulen im Erstens. Die Finanzierung der Weiterbildung muss auf
Wettbewerb um die besten Ideen und die optimale neue und verlässliche Grundlagen gestellt werden. Die
Talentförderung Freiheit für eigene Entscheidungen ge- Ausgaben der öffentlichen Hand für Weiterbildung sind
ben. Vor allem aber brauchen wir in Deutschland eine zwischen 2000 und 2003 von 1,5 Milliarden auf 1,2 Mil-
wirkliche offensive Weiterbildung. liarden gesunken. Die Bundesanstalt für Arbeit hat ihre
Förderung beruflicher Weiterbildung von 6,8 Milliarden
Lebenslanges Lernen ist zu einem der entscheidenden im Jahr 2000 auf 3,6 Milliarden im Jahr 2004 zurückge-
Faktoren einer nachhaltigen wirtschaftlichen und gesell- fahren. Während der Staat sich zurückzieht, gibt er wei-
schaftlichen Entwicklung geworden. Diese Bedeutung terhin keine Anreize, Weiterbildung privat zu finanzie-
wird sich in den kommenden Jahren und Jahrzehnten ren.
weiter verstärken.
Die Kosten der Weiterbildung sind beträchtlich: Zum
Bereits 2030 wird der Anteil der über 60-Jährigen an einen sind es Kosten des Lebensunterhaltes während der
der Gesamtbevölkerung mehr als 40 Prozent betragen. Weiterbildung, dann die Kosten möglicherweise entgan-
Der Anteil jüngerer Fachkräfte in der Wirtschaft wird genen Einkommens während dieser Zeit und schließlich
sich dramatisch zugunsten der Älteren verschieben. die Kosten der Weiterbildung selbst.
Schon daran wird deutlich, dass diese Entwicklung das
Bildungssystem vor eine gewaltige Herausforderung Die Kommission „Finanzierung Lebenslangen Ler-
stellt und der Stellenwert von Weiterbildung massiv auf- nens“ hat zur Finanzierung von Weiterbildungsmaßnah-
gewertet werden muss. men bemerkenswerte Vorschläge gemacht, die wir gerne
aufgreifen. Deren Empfehlungen lauten: Ausbau des
Angesichts der demografischen Entwicklung muss in Bildungssparens und die Gleichstellung mit dem Bau-
ganz besonderer Weise das Potenzial und das Wissen der sparen mit zusätzlichen Arbeitgeberleistungen durch
Erwachsenen genutzt werden. Durch den demografi- Tarifregelungen; Finanzierung unternehmensnaher Wei-
schen Wandel erlangen Aufstiegsweiterbildung, Um- terbildung durch freiwillige Umlagen wie in der Bau-
stiegsweiterbildung, Nachqualifikation und Wiederein- wirtschaft; Verzahnung von SGB-III-Maßnahmen mit
stiegsqualifikation nach Familienphasen, aber auch betrieblichen Maßnahmen.
(B) allgemeine Weiterbildung zur Stabilisierung von Moti- (D)
vation und Schlüsselqualifikationen weiter wachsende Alle diese Empfehlungen unterstützt die FDP nach-
Bedeutung. „Ausgelernt“ gibt es nicht mehr. Wir brau- drücklich.
chen die Kompetenz und Erfahrung der älteren Genera-
Zweitens. Formen der Weiterbildung wie Fernunter-
tion und müssen den Rahmen für Weiterbildung fortent-
richt oder das so genannte E-Learning müssen gefördert
wickeln. Wer über 50 ist, darf nicht aufs Altenteil
werden. In anderen Ländern haben sich alle Bildungsbe-
abgeschoben werden. Dies ist wirkliche soziale Unge-
teiligten und viele Institutionen aus der Wirtschaft sehr
rechtigkeit. Die OECD-Studie hätte alle Alarmsignale in
frühzeitig auf eine umfassende Strategie zur Entwick-
Deutschland auf Rot stellen müssen. Eine Teilnahme-
lung des E-Learnings verständigt und den Aufbau der In-
quote von 12 Prozent macht deutlich, dass die Bundesre-
frastruktur in den Bildungseinrichtungen und die Ent-
gierung in die Gänge kommen muss.
wicklung von effizienten E-Learning-Programmen
Die Situation der Weiterbildung in Deutschland darf vorangetrieben. Dies ist in Deutschland leider nicht der
nicht weiter verniedlicht werden. Seit 1998 hat die Teil- Fall: Obwohl dieser Bereich der Weiterbildung immer
nahme an Maßnahmen der Weiterbildung Jahr für Jahr wichtiger wird, fährt die Bundesregierung die Förderung
abgenommen. Viel zu wenige der deutschen Arbeitneh- massiv zurück.
mer nehmen an Weiterbildungsmaßnahmen teil, wäh- Die Zahlen belegen dies: 2002: 50 Millionen, 2003:
rend unsere europäischen Nachbarn in Skandinavien, 47,75 Millionen, 2004: 41,8 Millionen, 2005: 27,3 Mil-
Österreich und Luxemburg mit Teilnahmequoten von lionen, 2006: 25 Millionen, 2007: 20 Millionen Euro.
über 80 Prozent die Spitze bilden. Dies ist für die Zu-
kunft des Wirtschafts-, Bildungs- und Forschungsstand- 60 Prozent Kürzung seit 2002, dies ist ein Skandal.
orts Deutschland höchst gefährlich. Berichte von Exper- Die schwarz-rote Regierung setzt die Kürzungsorgie in
ten dürfen nicht nur in Auftrag gegeben werden; die diesem zukunftsträchtigen Bereich ungeniert fort.
Bundesregierung muss jetzt auch mit einer Offensive Deutschland darf hier die Entwicklung nicht verschla-
Weiterbildung Konsequenzen daraus ziehen! fen.
Weiterbildung kann nur erfolgreich sein, wenn sie auf Drittens. Die Kriterien der Bundesanstalt bei Weiter-
ein aktives Mitwirken der Betroffenen stößt. Die Akzep- bildunqsmaßnahmen gehören auf den Prüfstand! Wie so
tanz der Weiterbildung und ihr Stellenwert in der Bevöl- oft bei der Arbeit der Bundesagentur führt die Organisa-
kerung sind demzufolge von großer Bedeutung auch für tionsstruktur des großen zentralistischen Molochs, bei
die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung. Deswegen dem trotzdem oft die linke Hand nicht weiß, was die
fordert die FDP die Bundesregierung auf, eine Kampa- rechte tut – in den meisten Fällen jedoch genau das Fal-
6394 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006

(A) sche –, dazu, dass die von der Bundesanstalt vermittelten stufe II im Vergleich zu 7 Prozent in der OECD an Fort- (C)
Weiterbildungsmaßnahmen nicht den Kriterien einer op- und Weiterbildungsmaßnahmen teil, während dies
timalen und effizienten Vermittlung entsprechen. 24 Prozent der Personen mit einem Abschluss des Ter-
tiärbereichs taten (OECD 31 Prozent).
Die Bundesanstalt fördert Weiterbildung, die am
wirklichen Bedarf vorbei geht, und verschwendet da- Und die Antwort der Bundesregierung? Leider nicht
durch Gelder der Arbeitnehmer. Wir brauchen eine hö- mehr als Lyrik. Der Koalitionsvertrag verspricht, die
here Treffsicherheit bei den persönlichen Weiterbildungs- Weiterbildung zur 4. Säule des Bildungssystems auszu-
angeboten sowie eine Angebotsvielfalt bei den Trägern. bauen. Und in was materialisiert sich diese wohlfeile
Ankündigung? Angesichts des nach wie vor nebulösen
Deshalb fordert die FDP: Die Vermittlung von Wei- Konzeptes Bildungssparen als scheinbar einziger Idee
terbildungsmaßnahmen der Bundesanstalt muss von der Bundesregierung könnte man fast feststellen: außer
Grund auf überprüft werden. Die Vermittlung von Wei- Bildungsspesen nichts gewesen.
terbildungsmaßnahmen muss auf die kommunale Job-
center-Ebene heruntergebrochen werden. Vor Ort wissen Insoweit teilt die Fraktion Die Linke, die in dem An-
die Vermittler am besten, mit welchen Maßnahmen Ar- trag der FDP zum Ausdruck kommende Kritik. Wir tei-
beitnehmer und Arbeitslose ihre beruflichen Chancen len auch die Einschätzung, dass ein Fortdauern der be-
verbessern können. Deswegen muss gelten: Geförderte stehenden Defizite sich wirtschaftlich rächen wird.
Maßnahme sind nach der Qualität und nicht nach dem Besonders begrüßen wir, dass die Kolleginnen und Kol-
Preis zu vergeben! legen von der FDP nicht versäumt haben, darauf hinzu-
weisen, dass der Fokus in der Weiterbildung nicht nur
Förderung des lebenslangen Lernens heißt nach dem
auf die wirtschaftlichen Aspekte und damit auf die be-
Verständnis der Expertenkommission „Finanzierung Le-
rufliche Weiterbildung gerichtet sein darf, sondern auch
benslangen Lernens“ und der FDP-Fraktion: „Förderung
die allgemeine und politische Bildung mit einbeziehen
des Lernens von der Kindheit über die Jugend bis in das
muss.
Erwachsenenalter auch über das fünfte Lebensjahrzehnt
hinaus“. Starten wir endlich die Offensive Weiterbil- Was schlägt uns nun die FDP als Alternative vor?
dung! Nun, man könnte sagen, das, was man von einer Partei
erwarten darf, die alles Heil dieser Welt in privater Ini-
Volker Schneider (Saabrücken) (DIE LINKE): tiative sieht: Bildungssparen, Bildungskredite und nach-
Nichts muss das deutsche Bildungswesen derzeit mehr laufende Eigenbeteiligung, letzteres immerhin mit „so-
fürchten als internationale Vergleichsstudien. Fortlau- zial verträglicher“ Komponente. Bemerkenswert, wie
(B) fend sind die Ergebnisse die immer gleichen. Gemessen hier das Auftauchen meiner Fraktion auch in der FDP für (D)
am eigenen Anspruch kann das Fazit nur lauten: unterir- die Wiederentdeckung des sozialen Gewissens gesorgt
disch. Das gilt nicht nur für PISA. Das beginnt schon im hat!
Vorschulbereich. Nur Österreich „leistet“ sich in diesem
Weichen stellenden Bereich eine ähnlich niedrige Quali- Insgesamt soll wieder einmal überwiegend privat vor-
fikation des Betreuungspersonals. Das gilt auch für die gesorgt werden für etwas, was doch – oder liege ich da
Hochschulen, die in Bezug auf soziale Selektivität naht- völlig falsch? – zu einem nicht unerheblichen Teil auch
los an das anknüpfen, was in Vorschule und Schule „er- im Interesse von Arbeitgebern liegen sollte. So, wie Sie,
folgreich“ grundgelegt wurde. liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, hier die
Verantwortung für den Weiterbildungsbedarf verteilen
Und das gilt – natürlich? – auch für den Bereich unse- wollen, drängt sich der Verdacht auf, dass Sie die Kosten
res heutigen Beratungsgegenstandes, also für die Weiter- für den Qualifizierungsbedarf in der Wirtschaft von den
bildung. Es mag ja noch ein schwacher Trost sein, dass Arbeitgebern auf die Arbeitnehmer und vielleicht noch
nach der OECD-Veröffentlichung „Bildung auf einen zusätzlich auf den Steuerzahler umlenken wollen.
Blick 2006“ Deutschland hinsichtlich der Teilnahme-
stunden an berufsbezogener Weiterbildung im Laufe ei- Nicht nur weil Die Linke, solche Umverteilung von
nes Berufslebens mit 398 Stunden noch knapp über dem unten nach oben grundsätzlich ablehnt, können wir Ih-
OECD-Mittel von 389 Stunden liegt. Einen Vergleich rem Antrag nicht zustimmen, sondern auch weil wir die
mit „echten“ Konkurrenten wie Frankreich (713 Stun- berechtigte Vermutung hegen, dass dieser Lösungsansatz
den), Schweiz (723 Stunden) und Dänemark (943 Stun- so nicht zum gewünschten Erfolg führt. Die Bereitschaft
den) sollte man allerdings besser nicht wagen. zu sparen ist nun einmal abhängig von der Attraktivität
des Sparziels. Der vielfach bedauernswerte Zustand un-
Dass dabei relativ wenige relativ viele Stunden in An- serer Weiterbildungslandschaft und ein Mangel an „Er-
spruch nehmen, offenbart die Teilnahmequote von folgsaussichten“ bei zu vielen Angeboten der berufli-
12 Prozent, die um ein Drittel niedriger liegt als das chen Weiterbildung werden viele potenzielle Adressaten
OECD-Mittel (18 Prozent). Beim Blick auf die Vereinig- davon abhalten, sich der Mühe und Belastung eigener
ten Staaten (37 Prozent), Dänemark (39 Prozent) oder Anstrengungen zu unterziehen. Denn um es mal mit Ih-
Schweden (40 Prozent) kann man nur noch vor Neid er- ren Worten zu sagen: Leistung muss sich lohnen. Das
blassen. Und wieder einmal – leider – ist auch dieser Bil- gilt auch für diejenigen unterhalb der Gehaltsgrenzen Ih-
dungsbereich in hohem Maße sozial selektiv. In rer Klientel. Erst müsste sich die Attraktiviät von Weiter-
Deutschland nahmen lediglich 3 Prozent der Personen bildung positiv verändern, dann steigt das Interesse an
mit einem Bildungsabschluss unterhalb der Sekundar- ihrer Wahrnehmung und die Bereitschaft, dafür auch zu-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006 6395

(A) sätzliche eigene Mittel aufzubringen. Nur in der Reihen- Extrem wichtig ist auch eine bessere Bildungsbera- (C)
folge wird ein Schuh daraus. tung. Hierfür sind entsprechende Strukturen zu schaffen.
Bildungsberatung ist vor allem nötig, um die große
Dennoch begrüßen wir, dass die FDP nun nach unse- Gruppe der Geringqualifizierten für Weiterbildung zu
rer Fraktion ebenfalls einen Antrag zur Weiterbildung in gewinnen. Sie nehmen heute nur sehr unterdurchschnitt-
den parlamentarischen Ring geworfen hat, und freuen lich an Weiterbildung teil.
uns auf die Diskussion in den Ausschüssen. Auch Bünd-
nis 90/Die Grünen hat einen solchen Antrag in der Pipe- Diesbezüglich ist übrigens der FDP-Antrag völlig un-
line. Vielleicht gelingt es uns als Oppositionsparteien, zureichend. Die FDP macht überhaupt keine Vorschläge
gemeinsam die große Koalition aus ihrem Dornröschen- für die Gruppe der Geringqualifizierten. Dabei sieht man
schlaf zu wecken, ansonsten werden wir sie eben zum doch, dass ein großer Teil derjenigen, die aus der Schule
Jagen tragen müssen. kommen, nicht die erforderlichen Kompetenzen hat, um
am Berufsleben teilzuhaben. Hier tickt eine Zeitbombe;
wir müssen auch für diese junge Menschen Ideen entwi-
Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
ckeln, wie sie sich weiterqualifizieren können.
NEN): Erfreulicherweise gibt es eine große Einigkeit bei
den Bildungspolitikerinnen und -politikern der Fraktio- Natürlich kann man bei der Diskussion um Weiterbil-
nen: Bei der Weiterbildung muss wesentlich mehr ge- dung nicht die Bundesagentur für Arbeit außen vor las-
schehen. Diese Einsicht ist aber leider noch nicht bei der sen, wie es die FDP tut. Immerhin finanziert die BA
Bundesregierung angekommen. Frau Schavan macht 11 Prozent der Weiterbildung in Deutschland. Hier muss
nämlich schlicht keine Weiterbildungspolitik. Das biss- nach den Umbrüchen der letzten Jahre, die zum Teil ge-
chen Bildungssparen, das geplant ist – im Übrigen war- wollt waren, weil ein undurchsichtiger Dschungel an
ten wir immer noch auf ein Konzept –, ist völlig unzurei- Maßnahmen und Trägern entstanden war, die Weiterbil-
chend, um auf den Bedarf, den Deutschland bei der dung wieder verstetigt und auf längere Maßnahmen so-
Weiterbildung hat, zu reagieren. Hier sollten die Abge- wie auf die Förderung Geringqualifizierter ausgerichtet
ordneten der Koalitionsfraktionen ihrer Ministerin ein- werden.
mal ein bisschen Dampf machen! Die sonst so um die
Innovationsfähigkeit Deutschlands bemühte Ministerin Aber auch die Unternehmen müssen ihrer Verantwor-
sollte sich eine neue Untersuchung des Deutschen Insti- tung stärker nachkommen. Besondere Schwierigkeiten
tuts für Wirtschaftsforschung ansehen; der kürzlich ver- gibt es oft bei den kleinen und mittleren Unternehmen,
öffentlichte Innovationsindikator macht deutlich: Die In- da sie entweder keinen Weiterbildungsbedarf für ihre
novationsschwächen Deutschlands liegen vor allem im Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sehen oder den Zeit-
ausfall kaum stemmen können. Hier ist es sinnvoll, ge-
(B) Bildungssystem und hier bei der beruflichen Weiterbil- meinsame Weiterbildungsverbünde zu schaffen und zu
(D)
dung, weniger in der Forschung und der Umsetzung von
Forschungsergebnissen. unterstützen. Auch das Instrument der Jobrotation
könnte bei den KMU Abhilfe schaffen. Dies bedeutet,
Der Bedarf an Weiterbildung wird in Deutschland vor dass für den Mitarbeiter, der zu einer Qualifizierung
allem aufgrund der wirtschaftlichen und der demografi- geht, ein Arbeitsloser in den Betrieb kommt Dies wird
schen Entwicklung massiv ansteigen. Zum Ersten: Wir sogar öffentlich gefördert, aber in Deutschland noch viel
werden immer älter und steuern um 2020 auf einen zu wenig angewandt, weil die Arbeitsagenturen dieses
Fachkräftemangel zu. Dies bedeutet, dass ältere Be- Instrument nicht dementsprechend empfehlen.
schäftigte länger arbeiten müssen und auch entsprechend
weiterqualifiziert werden müssen. Zum Zweiten: Wir le- Nicht zuletzt muss auch die dünne Datenlage bei der
ben heute in einer Wissensgesellschaft. Damit gewinnt Weiterbildung, insbesondere, was die Bewertung und
die Fähigkeit, Informationen zu verarbeiten und einzu- Messung des informellen Lernens angeht, verbessert
ordnen, immens an Bedeutung. Immer wichtiger wird werden. Bildungsforschung – das wäre doch zumindest
auch, Wissen schnell zu erneuern. Das heißt, eine ein- ein Ansatz, der auch der Bundesbildungsministerin ge-
zige, quasi passgenaue Erstausbildung reicht nicht mehr. fallen dürfte. Nach einem Jahr großer Koalition erwarten
Weiterqualifizierung muss in allen Lebensphasen ge- wir Grünen endlich ein Konzept, wie die Weiterbildung
schehen. Lebenslanges Lernen wird so zur Chance und in Deutschland verbessert werden kann.
Herausforderung für jeden Einzelnen. Es kann nur gelin-
gen, wenn alle Menschen frühzeitig, das heißt schon in
Kindertagesstätte und Schule, die Kompetenz zum le- Anlage 6
benslangen Lernen erlangen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Außerdem müssen wir die berufliche Ausbildung mo-
dernisieren und anschlussfähiger an die Weiterbildung zur Beratung des Antrags: Die Zukunft der
machen. Dies kann zum Beispiel bedeuten, Lernorte der Lehre und Forschung an Hochschulen mit Hilfe
beruflichen Ausbildung verstärkt für Weiterbildung zu der Juniorprofessur stärken (Tagesordnungs-
öffnen. Auch die Hochschulen müssen verstärkt in die punkt 38)
Weiterbildung einbezogen werden. Durch Modularisie-
rung – immer im Rahmen des Berufsprinzips – kann eine Monika Grütters (CDU/CSU): Offenbar haben Bil-
bessere Vereinbarkeit von Aus-und Weiterbildung gelin- dung und Wissenschaft zurzeit in Deutschland Konjunk-
gen. tur. Das ist gut so, denn das ist unser aller Zukunft.
6396 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006

(A) Deshalb ist es schade und gefährlich, wenn wir immer gen, das sind 206 mehr als im Jahr 2004. Eine über- (C)
nur an heute denken und fragen, wo wir bei Wissen- durchschnittlich hohe Erfolgsquote ergibt sich übrigens
schaft und Kultur noch sparen können, statt an morgen auch aus den bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft
zu denken und zu fragen, was wir alle für Wissenschaft eingereichten Forschungsanträgen. Die Förderquote ins-
und Kultur tun können. gesamt betrug 47,7 Prozent im Zeitraum 2002 bis 2005,
von denen wiederum 54,2 Prozent Juniorprofessoren
Ein wichtiger Schritt in die wissenschaftspolitische sind.
Zukunft und vor allem in die Zukunft vieler Nachwuchs-
wissenschaftlerinnen und -wissenschaftler war die Ein- Ein wichtiges Ziel war und ist die Vergrößerung des
führung der Juniorprofessur im Jahr 2002, bot – und bie- Frauenanteils unter den Wissenschaftlern. Seit 1995 ist
tet – sie doch die Chance, dem wissenschaftlichen der Frauenanteil innerhalb der Professorenschaft stetig
Nachwuchs schon früher als bisher mit oder nach der gewachsen. Der Anteil der Lehrstuhlinhaberinnen stieg
Habilitation eine berufliche Perspektive an den deut- in diesem Zeitraum von 8 Prozent auf über 14 Prozent
schen Unis aufzuzeigen. Damit wird übrigens auch ein an. Nach den vorläufigen Ergebnissen für 2005 erreicht
wichtiger Schritt getan im internationalen Wettbewerb; die Zahl für Professorinnen mit rund 5 400 einen neuen
denn in vielen Ländern sind die Nachwuchswissen- Höchststand.
schaftler wesentlich jünger als in Deutschland, wenn sie
– hier erst nach der Habilitation mit durchschnittlich Der Frauenanteil unter den Juniorprofessoren liegt
über 40 Jahren – endlich in relevante Positionen kom- auch hier weit vorn, er liegt bei 32 Prozent, in den Geis-
men. Die Juniorprofessur ist daher eine Riesenchance teswissenschaften sogar bei 48 Prozent. Die Befürchtun-
für den wissenschaftlichen Nachwuchs in Deutschland. gen, dass sich das Modell des Juniorprofessors als fami-
lienfeindlich erweisen könnte, haben sich ausdrücklich
Mit ihrer Einführung hat die Bundesregierung Refor- nicht bestätigt. Über die Hälfte aller befragten Juniorpro-
men auf den Weg gebracht, die jungen Nachwuchswis- fessoren der CHE-Studie haben Kinder. Im Gegensatz
senschaftlerinnen und -wissenschaftlern in der Qualifi- zur klassischen Professorenlaufbahn scheint die Junior-
kationsphase nach der Promotion hervorragende professur es also zuzulassen, Karriere und Familienpla-
Entfaltungsmöglichkeiten bietet. Als neuer Karriereweg nung zu vereinbaren. Auch bei den wissenschaftlichen
bietet die Juniorprofessur dem wissenschaftlichen Nach- Mitarbeitern und Assistenten liegt der Frauenanteil bei
wuchs einen weiteren Zugang zur Professur und ermög- rund 30 Prozent. Wenn das nicht erfreuliche Zahlen sind!
licht bereits im Alter von Anfang 30 eigenständiges For-
schen und Lehren. Die Juniorprofessur kann auch weiterhin als bester
Ansatz gesehen werden, wenn es darum geht, auf die na-
Im Wettbewerb um die klügsten Köpfe der Welt ist tional wie international veränderten Bedingungen im
(B) die Juniorprofessur von zentraler Bedeutung: Sie erhöht Wissenschafts- und Hochschulbereich zu reagieren. Frü- (D)
das Innovationspotenzial in Forschung und Lehre durch here Selbstständigkeit, verbesserte Gleichstellung und
junge und motivierte Leistungsträger und steigert gleich- Internationalisierung, wissenschaftliche Innovation und
zeitig die Internationalität des Wissenschaftsstandorts eine verbesserte Planbarkeit wissenschaftlicher Karriere-
Deutschlands durch Schaffung international vergleich- verläufe erscheinen mit der Juniorprofessur erreichbar.
barer Standards. Mit der in Kürze zu erwartenden Um-
setzung der Juniorprofessur in Landesrecht auch in Der hier vorliegende Antrag der Linken fordert, das
Sachsen haben dann alle Bundesländer die Juniorprofes- Förderprogramm des Bundes nicht auslaufen zu lassen.
sur gesetzlich verankert. Die Förderung des Bundes zur Ausstattung der Junior-
professuren war jedoch von Anfang an bundesseitig nur
Bislang liegen zur Situation des wissenschaftlichen als Anschubfinanzierung gedacht und nicht als eine
Nachwuchses in Deutschland nur unzureichende Infor- Dauerbewilligung. Diese Incentives, diese Zusatzfinan-
mationen vor. Aus diesem Grund plant die Bundesregie- zierung durch den Bund, war natürlich eine große Hilfe,
rung, im Herbst 2007 den ersten Bundesbericht zur aber mit deren Wegfall wird das Instrument der Junior-
Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses vorzu- professur noch lange nicht sterben, wenn die Länder be-
legen. Der Bericht wird die Situation des wissenschaftli- greifen, wie erfolgreich es ist und es sich daher zu eigen
chen Nachwuchses darstellen und analysieren sowie machen.
Empfehlungen für seine weiteren Entwicklungen und
Reformmaßnahmen formulieren. Mit der Förderalismusreform liegt der Hochschulbe-
reich nunmehr noch stärker als bisher in der Kompetenz
Nach der Studie des Centrums für Hochschulentwick- der Länder. Die Länder müssen folgerichtig nun dafür
lung (CHE) und der Jungen Akademie – auf die sich der Sorge tragen, dass die Voraussetzungen, wie beispiels-
hier vorliegende Antrag bezieht – sind 59,3 Prozent aller weise die Schaffung einer entsprechenden Anzahl von
Juniorprofessoren mit ihrer Situation zufrieden, 31,7 Pro- Stellen, eine arbeitsfähige Ausstattung oder eine eindeu-
zent sogar sehr zufrieden. Das sind insgesamt über tige Zuordnung in die Gruppe der Hochschullehrer, ge-
90 Prozent. Positiv bewertet wurden vor allem die frü- schaffen werden.
here Selbstständigkeit, die Selbstbestimmung, die hö-
here Eigenverantwortung, der Gestaltungsfreiraum oder Der Bund ist jetzt nicht mehr gefragt: Die Juniorpro-
die größere Unabhängigkeit in Forschung und Lehre. fessur ist als flexibles Instrument vorgesehen. Die Hoch-
schulen bzw. deren Fachbereiche entscheiden, ob Junior-
Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes ist die professuren oder habilitierte Stellen eingerichtet werden.
Zahl der Juniorprofessoren im Jahr 2005 auf 617 gestie- Teilweise klappt das auch gut wie beispielsweise an der
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006 6397

(A) Humboldt-Universität hier in Berlin; leider gilt das noch dabei fördern und fordern zu einem Zeitpunkt, in dem (C)
nicht flächendeckend. Die Humboldt-Uni war nicht nur sich ihre Leistungsfähigkeit aller Erfahrung nach beson-
die erste Uni, die das Angebot sofort für sich entdeckt ders stark entfaltet. Die Juniorprofessur sollte ein Bei-
und diese Stellen geschaffen hat, sondern sie hat den Ju- trag zur inneren Reform der Hochschulen sein. In ihr
niorprofessor in ihrer Strukturplanung eingerichtet und sollte die unzeitgemäße Form der alten Ordinarienuni-
aufgefangen. Die Länder und ihre Hochschulen sollten versität, mit ihren undemokratischen Strukturen und den
sich durchaus ein Beispiel an der Humboldt-Uni in Ber- wissenschafts- und innovationsfeindlichen Abhängig-
lin nehmen: So hat zum Beispiel jede Juniorprofessur, keitsverhältnissen positiv reformiert werden. Juniorpro-
die dort ausgeschrieben wird, grundsätzlich eine Tenure- fessuren sind auch mit dem Ziel verbunden, hoch quali-
Option. Diese Option soll es ermöglichen, die besten Ju- fizierte jüngere Frauen und Männer an die Hochschulen
niorprofessorinnen und -professoren auf eine W2-/W3- zu binden in Konkurrenz zu anderen Berufsfeldern, um
Lebenszeitprofessur zu berufen und so an der Humboldt- dem Bedarf an Hochschullehrern für die Zukunft recht-
Universität zu halten. zeitig zu entsprechen.
Wichtig ist es jetzt also, dass unabhängig von der Die Fraktion der SPD freut es, dass auch die Die
Bundeszuweisung Stellen an den deutschen Hochschu- Linke die Institution der Juniorprofessur derart positiv
len auch in Juniorprofessuren umgewandelt werden. Es beurteilt, wie es in ihrem Antrag niedergelegt ist. Wir er-
muss eine neue Kultur in deutschen Hochschulen entste- innern uns noch gut daran, welche harten Kontroversen
hen, bei der die positiven Aspekte der Juniorprofessor die damalige mutige und wegweisende Reform der rot-
aufgegriffen und gezielt gefördert werden. Die in der grünen Bundesregierung und ihrer Bildungsministerin
Studie befindlichen Anregungen und Vorschläge zur Edelgard Bulmahn in der Auseinandersetzung mit kon-
Verbesserung dieses neuen Qualifikationsweges müssen servativen Hochschulverbänden und Hochschulen, aber
von den Ländern und Hochschulen gemeinsam aufge- auch Teilen der politischen Kräfte von der rechten bis
griffen werden, um die Ausstattungen der Juniorprofes- zur ganz linken Seite und mit den Ländern ausgelöst hat.
sur noch weiter zu verbessern. Besonders kontrovers war hier die Frage, ob die Junior-
professur als moderne Alternative zur Habilitation, die ja
Einmal mehr sind also die Länder und sind die Uni- einen der vielen Sonderwege in Deutschland im Ver-
versitätsleitungen gefragt. Der Bund hat hier einen An- gleich zur übrigen Welt darstellt, diese verpflichtend ab-
reiz beim Start eines modernen Karrieremodells gege- lösen sollte und könnte. Hiergegen klagten Thüringen,
ben, jetzt nehmen wir die Nutznießer in die Pflicht. Auch Sachsen und Bayern, wie wir wissen mit Erfolg. Das
die Länder müssen an morgen denken und sich fragen Bundesverfassungsgericht erklärte im Juli 2004 die
lassen, was sie für ihre Wissenschaftseinrichtungen tun. 5. Novelle des Hochschulrahmengesetzes für verfas-
(B) Ich hoffe, sie alle finden eine gute Antwort darauf. sungswidrig, weil sie den Ländern nicht ausreichend (D)
Spielraum lassen würde, die Hochschulqualifikations-
Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Mit ihrem An- wege in eigener Zuständigkeit zu ordnen. Seither bleibt
trag zu Juniorprofessuren greift die Fraktion Die Linke es den Ländern überlassen, ob sie die Juniorprofessur als
eine Thematik auf, die den Deutschen Bundestag, die Qualifikationsweg neben der Habilitation einrichten.
Hochschulen und die interessierte Öffentlichkeit im Dieser Streit mit den Ländern ging später dann sogar so
Rahmen der Neufassung des Hochschulrahmengesetzes weit, dass das in diesen Fragen sich besonders unrühm-
im Februar 2002 durch die rot-grüne Bundesregierung lich auszeichnende Land Hessen selbst das Engagement
sehr stark beschäftigt hat. des Bundes in Form von Förderprogrammen für die Mo-
dernisierung der Hochschule verfassungsrechtlich be-
Die von der damaligen Bildungs- und Forschungsmi- klagte.
nisterin Edelgard Bulmahn eingeleitete Reform zielte
darauf, den Ausbildungsweg junger herausragender Wis- Dabei bleibt ganz im Gegensatz zu diesen Auseinan-
senschaftler bis zur Berufung auf eine Lebenszeitprofes- dersetzungen festzustellen: Mittlerweile haben alle Bun-
sur deutlich zu verkürzen und ihnen die Möglichkeit desländer die Juniorprofessur in ihrem Landeshoch-
zum Forschen und Lehren in einem viel früheren Sta- schulrecht eingeführt. Alle Bundesländer, die die
dium ihres Lebensweges zu ermöglichen. Besonders Juniorprofessur eingeführt haben, sehen Lockerungen
prägnant hat der Präsident der Deutschen Forschungsge- beim Verbot der Hausberufung vor und ebenso Wege für
meinschaft, Ernst-Ludwig Winnacker, das Problem auf den „Tenure Track“, sodass Juniorprofessoren an der ei-
den Punkt gebracht, wenn er feststellt: „In der Wirtschaft genen Hochschule auf eine Professur berufen werden
führen Leute mit 30 Jahren ganze Unternehmen. In der können. In der KMK-Vereinbarung für die Lehrver-
Wissenschaft dagegen sind wir noch nicht bereit, 30-Jäh- pflichtung in Hochschulen haben sich alle Länder darauf
rigen Verantwortung zu geben.“ verständigt, für Juniorprofessuren in der ersten Anstel-
lungsphase vier Lehrveranstaltungsstunden und in der
Tatsächlich unterschied sich Deutschland damals da- zweiten Anstellungsphase vier bis sechs Lehrveranstal-
mit massiv von den vielen anderen Ländern, in denen die tungsstunden vorzusehen. Es gibt kein Bundesland, in
Juniorprofessur, auch in Verbindung mit der Einrichtung dem es keine Juniorprofessuren gibt. Es gibt auch keine
des so genannten „Tenure Track“, schon eine Tradition Stimmen, dass sich irgendein Bundesland von der Mög-
hatte in der Personalentwicklung und dem systemati- lichkeit der Juniorprofessur wieder verabschieden will.
schen Aufbau von hoch qualifiziertem Nachwuchs in
Forschung und universitärer Lehre. Eine hohe eigene Gleichwohl gibt es natürlich Probleme und hat sich
Verantwortung sollte die jungen Spitzenwissenschaftler die Institution der Juniorprofessur noch nicht so entwi-
6398 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006

(A) ckelt, wie es die damaligen Reformenbetreiber sich ge- der Regierung, dass sie dieses intensiv betreibt und auch (C)
wünscht haben. Insgesamt gibt es in der Gesamtheit der zu einem Erfolg führt. Dies wird allerdings nur auf dem
deutschen Hochschulen rund 900 Stellen an rund Verhandlungswege geschehen können und es wird auch
70 Hochschulen. Damit ist die Zahl wesentlich kleiner, nur in Übereinstimmung mit den Ländern machbar sein.
als damals von der Bundesregierung angestrebt, die eine Denn die Rechtslage durch das Bundesverfassungsge-
Zahl von 6 000 Stellen in die Planungen eingebracht hat. richt kann auch durch noch so gut gemeinte Anträge im
An den besetzten Professuren halten die Frauen einen Bundestag nicht übersprungen werden. Schließlich ist
Anteil von rund 30 Prozent. Auch hierin gibt es noch – so bedauerlich dies auch sein mag – durch die Födera-
eine Abweichung zu der Quote, die eine Größe von min- lismusreform jetzt entschieden, dass der Bund bis auf
destens 40 Prozent erreichen soll. Die Verteilung der Ju- Zulassungen und Abschlüsse keine hochschulgesetzli-
niorprofessuren nach Bundesländern zeigt zudem deut- chen Kompetenzen mehr hat. Auch deshalb ist der An-
lich, dass diese Institution nicht überall die gleiche trag der Linksfraktion in vielem nur gut gemeint und
Resonanz findet. Besonders markant hebt sich hier Bay- ohne wirkliche Durchschlagskraft.
ern negativ ab, indem es angesichts der Größe des Lan-
des und der Bedeutung der Hochschulen gerade einmal Entscheidend wird es dagegen an erster Stelle sein,
sechs besetzte Juniorprofessuren gibt. In der Verteilung durch die Qualität der Juniorprofessur auch noch die
der Juniorprofessuren nach Disziplinen sind diese beson- letzten Zweifler davon zu überzeugen, dass dieses der
ders bei den Naturwissenschaften und in der Mathematik richtige Weg für die Nachwuchsförderung, die Stärkung
angesiedelt. Auch wenn es keine grundsätzliche Kritik der jungen Spitzenkräfte an den Hochschulen und die
mehr an der Form der Juniorprofessuren gibt, gibt es Förderung der Innovationskraft an unseren Universitäten
dennoch auch Vorbehalte gegenüber diesem Qualifizie- ist. Der Hochschulpakt mit dem absehbaren Aufbau von
rungsweg bei den Betroffenen selbst. Noch vor drei Jah- zusätzlichen und „jungen“ Lehr- und Forschungskapazi-
ren erklärte jeder dritte Juniorprofessor, sich vermutlich täten an den Hochschulen wird hierzu viele Möglichkei-
auch noch habilitieren zu wollen. Dieses wäre dann al- ten geben. Juniorprofessoren sind neben dem zweiten
lerdings das genaue Gegenteil der Intention der Refor- Vorschlag der so genannten „Lecturer“ eine große
mer, denn die Zeit bis zur Professur sollte ja gerade ver- Chance, sich auf die absehbare Nachfrage nach hoch
kürzt und nicht dramatisch verlängert werden. qualifiziertem wissenschaftlichem Personal in For-
Schließlich erwarten laut Umfrage des CHE, Centrum schung und Lehre an den Hochschulen rechtzeitig vorzu-
für Hochschulentwicklung, in Gütersloh rund 10 Prozent bereiten, damit die Universitäten für die wachsenden
der Hochschulleitungen immer noch, dass die Habilita- Studierendenzahlen mit einem verbesserten Angebot
tion auch künftig bedeutungsvoll bleiben wird. Fast drei von Lehre und Forschung auch wirklich ein gutes Stu-
Viertel der Hochschulleitungen gehen davon aus, dass dium organisieren können. Nachdem der Bund mit dem
(B)
die Habilitation in einigen Fächern Voraussetzung für ei- millionenschweren Programmansatz von Edelgard (D)
nen Ruf bleiben wird. Bulmahn den Ländern für die Juniorprofessuren über
lange Zeit ausdrücklich Fördermittel angeboten hat,
Wo stehen wir also und wie kann es mit dieser Re- kann jetzt aber nicht erwartet werden, dass unabhängig
form weitergehen? Woran kann es gelegen haben, dass vom Hochschulpakt diese Mittel trotz der Länderzustän-
noch nicht alle Ziele erreicht worden sind? Immerhin digkeit noch unendlich weiter vorgehalten werden. Das
hatte die Bundesregierung die Länder bei der Einrich- Programm der Regierung von Rot-Grün und Edelgard
tung von Juniorprofessuren mit einem großzügigen För- Bulmahn war befristet, und läuft jetzt aus, das wussten
derprogramm unterstützt. Für die für Forschungszwecke und wissen alle Länder. Auch die Hochschulen konnten
erforderliche Erstausstattung der neuen Stellen wurden sich hierauf einstellen und unter diesen Gesichtspunkten
jeweils bis zu 60 000 Euro bereitgestellt. Insgesamt stan- halten wir es auch nicht für sinnvoll, über den Hoch-
den weit mehr Mittel über mehrere Jahre bereit, als letzt- schulpakt hinaus noch weitere Programme als Förder-
lich an die Hochschulen ausgeschüttet werden konnte. programme des Bundes vorzuhalten, wenn Länder und
Gründe sind sicherlich in den grundsätzlichen Behar- Universitäten glauben, offensichtlich ohne diese Mittel
rungskräften im hochschulischen Bereich zu sehen. Die die anstehenden Hochschulreformen und Kapazitätser-
Zögerlichkeit im Aufbau ist auch darin begründet, dass weiterungen schultern zu können.
es nicht den breiten Konsens für die Juniorprofessuren
von Anfang an gegeben hat, wie er sich jetzt letztlich mit Es kommt also auf die Werbung in der Sache an. In
der Verankerung der Juniorprofessur in allen Hochschul- diesem Sinne wollen wir den Antrag der Faktion Die
gesetzen doch ausdrückt. Auch die Ablehnung mancher Linke gerne positiv als nochmalige Bestätigung nehmen,
konservativer Bundesländer der Fördermittel des Bundes dass wir gerade jetzt politisch-programmatisch nicht von
aus prinzipiellen Gründen heraus mag die Schubkraft für den Juniorprofessuren als dem besten Weg in das akade-
diese Reform geschwächt zu haben. mische Lehr- und Forschungsamt als Professor abrücken
dürfen, sondern dieses politisch-konzeptionell offensiv
Auch wir von der sozialdemokratischen Seite aus ha- weiter vertreten. Dass dies gegen alle früheren Zweifler
ben deshalb in unseren Eckpunkten für den Hochschul- an der Kompetenz der Juniorprofessoren mehr als be-
pakt und bei den ständigen, begleitenden Beratungen rechtigt ist, will ich noch knapp mit einer Information
hierzu im Bildungsausschuss immer wieder angemahnt, aus dem letzten Informationsbrief der Deutschen For-
dass in die Qualitätsseite des Hochschulpaktes auch die schungsgemeinschaft über die wissenschaftlichen An-
weitere Förderung und der Ausbau der Juniorprofessur tragsaktivitäten von Juniorprofessoren belegen. Danach
unbedingt einbezogen werden muss. Wir erwarten von können sich die Juniorprofessoren ausdrücklich trotz ih-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006 6399

(A) res vergleichsweise hohen Lehrdeputats im starken Wissenschaftlern die Entscheidung darüber, welchen (C)
Wettbewerb um Drittmittel aus dem Förderfonds der Weg sie einschlagen wollen – den über die Habilitation
Deutschen Forschungsgemeinschaft sehr gut behaupten. oder eben jenen über die Juniorprofessur – selbst über-
Im Rückblick auf die ersten zwei Jahre des neuen Quali- lassen bleiben. Allerdings ist es auch ein Irrweg, zu glau-
fikationsweges treten zwei Drittel der Betroffenen Nach- ben, dass für jeden Juniorprofessor der Pfad zur festen
wuchswissenschaftler aus den Lebens- und Naturwissen- Dienststelle von Anbeginn geebnet ist.
schaften und mehr als die Hälfte aus den
Ingenieurwissenschaften im Beobachtungszeitraum bis Wir Liberale sind uns durchaus bewusst, dass die
2004 mindestens einmal als Antragsteller bei der DFG in Nachfrage nach Studienplätzen in den nächsten Jahren
Erscheinung. Von den Geistes- und Sozialwissenschaft- deutlich ansteigen wird. Das wissen auch die Länder.
lern war jeder dritte antragsaktiv. Juniorprofessoren aus Jetzt aber, wie es der Antrag der Linken fordert, die Ju-
den Lebens- und Naturwissenschaften sind mit ihren niorprofessoren zu einer Reparaturbrigade für Fehlent-
DFG-Anträgen überdurchschnittlich erfolgreich. Diese wicklungen des Hochschulausbaus, des Hochschulmar-
Studie belegt also eindrucksvoll, dass die Juniorprofes- ketings oder der Berufungspraxis zu machen, ist doch
sur im Hinblick auf die Forschungsförderung alles an- ein Holzweg. Das ist purer Aktionismus.
dere als eine Sackgasse ist, sondern vielmehr ganz im Dieser Vorschlag verkennt absolut, dass auch Junior-
Gegenteil hoch qualifizierte Wege für Forschung und professoren sich in einer entscheidenden Lebensphase
Lehre öffnet. Auch deshalb können wir noch einmal mit befinden: in der Qualifikationsphase zum Hochschulleh-
allem Nachdruck erwarten, dass die Juniorprofessur als rer! Sie jetzt noch stärker in die Lehre einzubeziehen, sie
Teil der Gesamtkonzeption des Hochschulpaktes aufge- zu verpflichten, noch mehr Prüfungen abzunehmen führt
nommen und weiter verstärkt wird. Auch deshalb sind sie nicht auf den Tenure-Track, sondern direkt aufs Ab-
wir mit guten Argumenten ausgestattet, wenn wir für die stellgleis.
Juniorprofessur in Zukunft noch intensiver werben, als
wir dies in der Vergangenheit schon getan haben. Letztendlich zählen bei Neuberufungen doch die For-
schungsergebnisse und die wissenschaftliche Reputa-
tion; sich diese erarbeiten und verdienen zu können,
Uwe Barth (FDP): „Juniorprofessur noch nicht eta- dazu müssen auch die Juniorprofessoren eine faire
bliert“, das musste ich letzte Woche in der „Welt“ lesen. Chance erhalten. Seit Mitte der 90er-Jahre ist die Zahl
Dieser gut recherchierte Beitrag zeigt sehr deutlich die der Professuren um über 1 500 zurückgegangen. Wir ste-
Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit dieses hen genau in dem Moment, in dem die Studierenden-
wissenschaftlichen Qualifikationsweges auf. Und als welle die Hochschulen erfasst, auch vor einer Emeritie-
„Letzten Gruß“ prophezeite die „Welt“ der Juniorprofes- rungswelle von Professoren. Dass dieses erforderlich
(B) sur das „Aus“. macht, schon heute deutschlandweit über 8 000 neue (D)
Lehrstühle auszuschreiben und mit jungen, hochmoti-
Um eines vorwegzunehmen: Wir Liberale haben die- vierten Forschern und Hochschullehrern zu besetzen,
sen neuen Karriereweg für den Hochschullehrernach- wissen auch die Landesregierungen.
wuchs von Anfang an begrüßt. Vieles sprach dafür. Aber
in einem wesentlichen Punkt unterschieden sich unsere Studierendenwellen dürfen nicht dazu führen, Kon-
Vorstellungen von den Vorschlägen der damaligen rot- tinuität in der Lehre und Forschung aufzugeben. Es müs-
grünen Bundesregierung: Sie wollte die Bundesländer sen auch weiterhin Lehrstühle gefördert werden, die tra-
und die Hochschulen nämlich dazu zwingen, die Habili- ditionell das Bild der Universitäten prägen und deren
tation faktisch zu verbieten. Dass sich Qualität von allein Erhalt von gesamtstaatlicher Bedeutung, zum Beispiel
durchsetzt, dass Wettbewerb auch das wissenschaftliche Geisteswissenschaften, Forschungsmuseen, wissen-
Geschäft beleben kann und vor allem, dass junge Akade- schaftliche Bibliotheken, ist.
miker selbst über den eigenen wissenschaftlichen Wer-
degang entscheiden wollen, diese Überlegungen passten Von den einst geplanten 6 000 Juniorprofessuren an
nicht in das Weltbild der Autoren der damaligen HRG- den Hochschulen wurden 2005 gerade einmal 617 Stel-
Novelle. len öffentlich erfasst. Im gleichen Jahr aber habilitierten
sich über 2 000 Wissenschaftler, darunter auch Junior-
Eines jedoch ist geblieben: Der Glaube der Bundes- professoren. Gerade die Juniorprofessoren glauben, so
länder, dass die Juniorprofessur ein geeigneter Qualifi- ihre Chance auf Berufung auf einen Lehrstuhl zu erhö-
kationsweg für den wissenschaftlichen Nachwuchs ist. hen.
So sieht es auch das modernste Hochschulgesetz der Der bereits qualifizierte Nachwuchs wartet auf seine
Bundesrepublik Deutschland, das in NRW als „Hoch- Chance, die von den Linken vorgeschlagenen, dirigisti-
schulfreiheitsgesetz“ gerade verabschiedet wurde. In- schen Instrumente werden diese nicht erhöhen.
zwischen haben alle Bundesländer die auf maximal
sechs Jahre befristete Juniorprofessur in ihren Landes-
hochschulgesetzen aufgenommen. Petra Sitte (DIE LINKE): „Vieles ist gut gemeint,
aber weder zu Ende gedacht noch konsequent umgesetzt.
Ich bin davon überzeugt, dass sich für diesen Qualifi- Wie soll sich da Vertrauen ins Hochschulsystem auf-
kationsweg zum Hochschullehrer mehr junge Wissen- bauen?“ Dieser Satz, gefallen auf der Nachwuchskonfe-
schaftler entscheiden werden, wenn sich die Mehrbelas- renz des Bundesministeriums für Bildung und For-
tung durch die frühe Verbindung von Lehre und schung Anfang Oktober, beschreibt eine Grundkritik an
Forschung auch wirklich auszahlt. Es muss den jungen der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses.
6400 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006

(A) Paradoxien durchziehen den hochschulpolitischen Erstausstattung eines solchen Lehrstuhls bedroht. Daher (C)
Alltag dieses Nachwuchses in der Bundesrepublik. Trotz sollte die ausgesprochen positive Resonanz der Nach-
europaweit geringerer Absolventenzahlen nimmt die wuchswissenschaftler auf die Juniorprofessur von Bund
Bundesrepublik mit rund 25 000 Promotionen jährlich und Ländern als Ansporn verstanden werden, beste-
einen Spitzenplatz ein. Trotzdem wird allerorten über hende Unsicherheiten zu beseitigen.
mangelnden Nachwuchs und über die Abwanderung
desselben geklagt. Offensichtlich wird dieser Nach- Die aktuellen Verhandlungen zum Hochschulpakt
wuchs anderswo als so gut eingeschätzt, dass beispiels- 2020 sind für gemeinsame Vereinbarungen ein guter
weise schon heute bis zu 60 000 in Deutschland ausge- Zeitpunkt. Eine Bund/Länder-Vereinbarung zum Ausbau
bildete Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen an dieses Qualifizierungsweges sollte durch ein entspre-
amerikanischen Hochschulen lehren. Wenngleich wir chendes Förderprogramm untersetzt werden. Ausgabe-
über ein so großes Nachwuchspotenzial verfügen, hat modalitäten sollten einerseits an ursprünglichen Größen-
höchstens ein Drittel eine reale Chance auf eine ordentli- ordnungen anknüpfen, aber die Kritik an der
che Professur. Ausgabepraxis verarbeiten. Im Bundeshaushalt darf des-
wegen das Förderprogramm nicht auslaufen. Einstel-
Vor diesem Hintergrund war die Einführung der Ju- lungsvoraussetzungen und Stellenzuschnitt sollten har-
niorprofessur vor einigen Jahren durch den Bund ein monisiert werden. Hierbei sollte zum Beispiel noch
richtiger Schritt. Zwar scheiterte ihre Einführung auf einmal über die Lehrbelastung nachgedacht werden.
Bundesebene im ersten Schritt, aber zwischenzeitlich hat Wenn dabei von Verlässlichkeit die Rede ist, sind trans-
sie Platz in den Hochschulgesetzen der Länder gefun- parente Kriterien gemeint, die als Voraussetzung für si-
den. Günstige Bedingungen für die Sicherung von mehr chere Perspektiven von Bewerbern und Bewerberinnen
Selbstständigkeit des Nachwuchses, sollte man meinen. gleichermaßen zu erfüllen sind.
Doch das Bundesprogramm zur Förderung der Ausstat-
Unter diesen Bedingungen soll auch der Tenure Track
tung von Juniorprofessuren läuft Ende dieses Jahres aus.
helfen, das persönliche vom Forschungsrisiko zu ent-
Das alles hat bei den Adressaten zu erheblichen Unsi-
koppeln. War ein berufener Juniorprofessor bzw. eine
cherheiten geführt. So berichtete selbst die Tageszeitung
berufene Juniorprofessorin zuvor an einer anderen
„Die Welt“ in der vergangenen Woche, dass die Dyna-
Hochschule, sollte ihm bzw. ihr die Möglichkeit der Be-
mik, die Juniorprofessur als alternativen Qualifizie-
rufung auf eine ordentliche Professur an der eigenen
rungsweg auszubauen, deutlich hinter den Erwartungen
Hochschule eröffnet werden. Es ist doch absurd, wenn
zurückblieb.
eine Hochschule über Jahre diesen Nachwuchs fördert
Diesen Umstand greift der Antrag auf. Durch die Fö- und am Ende sagen soll: Du musst jetzt gehen. Das wirkt
(B) deralismusreform ist die schrittweise Auflösung erwähn- besonders dramatisch, weil derzeit am Ende der Qualifi- (D)
ter Unsicherheiten in der Nachwuchsentwicklung zwar zierungswege viele Betroffene in ein Beschäftigungs-
komplizierter geworden, aber nicht unmöglich. Denn loch fallen. Es gibt keine adäquaten Übergänge, die bis
Nachwuchsförderung bettet sich sehr gut in die Prioritä- zu Berufungszusagen angeboten werden könnten. Diese
ten zur Gestaltung eines leistungsfähigen Hochschulwe- Unsicherheit wirkt nachgewiesenermaßen besonders ab-
sens ein. Gemeint sind die Sicherung der Einheit von schreckend auf Frauen.
Forschung und Lehre sowie ihre entsprechende perso- Wir wollen mit diesem Antrag keine Zwangsbe-
nelle und finanzielle Absicherung. Eine gemeinsam ver- glückung von oben. Aber wir wollen dafür sorgen, dass
abredete Strategie zwischen Bund und Ländern soll das Perspektiven für Nachwuchswissenschaftlerinnen und
Vertrauen des Nachwuchses in Perspektiven stärken. -wissenschaftler in Deutschland erhalten bleiben.
Drei Qualifikationswege stehen heute nach der Promo-
tion offen: die Habilitation – einschließlich der kumula-
tiven –, die Leitung einer Nachwuchsgruppe in der For- Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): „Mit
schung und die Juniorprofessur. der Einrichtung der Juniorprofessur wurde eine zusätzli-
che, international wettbewerbsfähige und zukunftswei-
Auf der Nachwuchskonferenz jedoch wurde darauf sende Option für eine wissenschaftliche Karriere an
gedrungen, die Juniorprofessur auszubauen. Ich sage, deutschen Hochschulen geschaffen.“ Dies klingt nach
eine Einigung zwischen Bund und Ländern über gemein- Eigenlob – ist es aber nicht. Denn so bewertet das
same Anforderungen an die Juniorprofessur und deren unionsgeführte Bildungsministerium die von der Vor-
finanzielle Unterstützung muss doch wohl möglich sein. gängerregierung eingeführte Juniorprofessur.
Ursprünglich sollten Juniorprofessuren die anderen Qua-
lifizierungswege ersetzen. Das ist weder in den Ländern Die von Rot-Grün initiierte Juniorprofessur ist ein Er-
noch unter den Adressaten mehrheitsfähiges Ziel. Ich folgsmodell, ungeachtet des Störfeuers aus unionsregier-
muss dies zur Kenntnis nehmen. Allerdings bezeichnet ten Ländern. Sie bringt junge Nachwuchswissenschaftler
selbst der Präsident der Deutschen Forschungsgemein- und -wissenschaftlerinnen früher in verantwortungsvolle
schaft, Prof. Winnacker, die Habilitation „als Herr- Positionen. Bereits nach der Promotion können sie ei-
schaftsinstrument, das Abhängigkeiten hervorbringt“. genständig forschen sowie eigene Forschungsprojekte
initiieren und umsetzen. Die paternalistische Abhängig-
Insgesamt hat also allein die Existenz neuer Qualifi- keit und der jahrelange Prüfungsmarathon junger For-
zierungswege für viel Bewegung im Gesamtsystem ge- scher und Forscherinnen an deutschen Hochschulen ge-
sorgt. Derzeit ist das Modell der Juniorprofessur aller- hören damit der Vergangenheit an. Zudem erhöht die
dings durch die auslaufende Bundesförderung für die Juniorprofessur mit der Öffnung eines Karrierewegs an
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006 6401

(A) der eigenen Hochschule die Lebensplanungssicherheit Anlage 7 (C)


der Nachwuchswissenschaftler und -wisschenschaftle-
Amtliche Mitteilungen
rinnen. Die Option zum Tenure Track hilft zudem auch
den Hochschulen: Juniorprofessuren können für lang- Die Fraktion der FDP hat mit Schreiben vom 8. No-
fristige Personalentwicklung genutzt werden. vember 2006 mitgeteilt, dass sie den Antrag Beendigung
der Gewalt und Wiederherstellung von demokratischen
Die Juniorprofessur ist nicht zuletzt ein wichtiges Grundrechten und Menschenrechten in Nepal auf Druck-
Element der Frauenförderung. Der wissenschaftliche sache 16/682 zurückziehe.
Karriereweg wird dadurch transparenter und besser plan-
bar, ein Kriterium, das für Frauen – vor allem als Mütter – Der Bundesrat hat in seiner 827. Sitzung am 3. No-
noch wichtiger ist als für Männer. Deshalb sind deutlich vember 2006 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen
mehr Juniorprofessuren als Vollzeitprofessuren mit zuzustimmen bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77
Frauen besetzt. Abs. 2 des Grundgesetzes nicht zu stellen:
– Gesetz zur Einführung des Elterngeldes
Insgesamt schafft die Juniorprofessur einen neuen at-
traktiven Qualifikationsweg in der Wissenschaft. Er kann – Gesetz zu dem Abkommen vom 12. August 2004
dazu beitragen, jungen Nachwuchsforschern und -for- zwischen der Bundesrepublik Deutschland und
scherinnen Perspektiven im Inland und damit Bleibe- der Republik Ghana zur Vermeidung der Doppel-
gründe im internationalen Wettbewerb zu geben oder sie besteuerung und zur Verhinderung der Steuer-
aus dem Ausland für den Wissenschaftsstandort Deutsch- verkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom
land zu gewinnen bzw. zurückzugewinnen. Einkommen, vom Vermögen und vom Veräuße-
rungsgewinn
Aus diesem Grund ist die Förderung der Juniorprofes-
sur unbedingt fortzusetzen. Zur Weiterentwicklung der – Gesetz zu dem Abkommen vom 26. Oktober 2004
Personalstruktur und der Schaffung von Lehrkapazitäten zwischen der Europäischen Union, der Europäi-
muss die Juniorprofessur zusammen mit weiteren Instru- schen Gemeinschaft und der Schweizerischen
menten wie die vorübergehende Doppelbesetzung von Eidgenossenschaft über die Assoziierung dieses
Professuren und die Einführung des Hochschuldozenten Staates bei der Umsetzung, Anwendung und Ent-
– „Lecturer“ – betrachtet werden. Alle drei Personalka- wicklung des Schengen-Besitzstands
tegorien müssen Teil eines ausgewogenen, zukunftsori- – Gesetz zur Änderung des Zwölften Buches Sozial-
entierten Personalmix an den Hochschulen sein. Dafür gesetzbuch und anderer Gesetze
setzen wir uns in unserem soeben vorgelegten Antrag
– Gesetz zur Änderung des Betriebsrentengesetzes
(B) zum Hochschulpakt ein, in dessen Rahmen wir die Zu- (D)
kunft der Juniorprofessur absichern wollen. und anderer Gesetze
– Gesetz zur Errichtung und zur Regelung der Auf-
Allein insofern ist ein isolierter Antrag zur Juniorpro-
gaben des Bundesamts für Justiz.
fessur, wie jetzt von der Linksfraktion vorgelegt, nicht
erforderlich und sinnvoll. Zudem versäumt es die Linke, Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben
die Juniorprofessur im umfassenden Kontext „Wissen- mitgeteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2
schaft als Beruf“ zu betrachten. Hierzu gehören auch der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den
Fragen der Befristung, die wir in Kürze in der Aus- nachstehenden Vorlagen absieht:
schussanhörung zum Wissenschaftszeitvertragsgesetz
der Koalition behandeln werden, der Verbeamtung und
Auswärtiger Ausschuss
neuer Personalkategorien wie dem Hochschuldozenten.
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Sachlich und logisch falsch ist die Forderung der Lin-
Bericht der Bundesregierung über die Tätigkeit des Eu-
ken, Einstellungsvoraussetzungen für Juniorprofessoren roparates für die Zeit vom 1. Januar bis 30. Juni 2005
hochschulübergreifend zu vereinheitlichen, um damit – Drucksachen 16/2156, 16/2548 Nr. 1.1 –
Hausberufungen zu erleichtern. Beim Tenure Track geht
es ja eben um den Verbleib an der Hochschule und nicht – Unterrichtung durch die Bundesregierung
um den Wechsel zwischen Universitäten. Mit unnötigen Bericht der Bundesregierung über die Tätigkeit des Eu-
Forderungen zur Vereinheitlichung schränken Sie die roparates für die Zeit vom 1. Juli bis 31. Dezember 2005
Autonomie der Hochschulen ein. Außerdem reißen Sie – Drucksachen 16/2157, 16/2548 Nr. 1.2 –
damit alte Gräben zwischen den Ländern auf. Was brin-
gen wohlfeile Forderungen nach Vereinheitlichung von – Unterrichtung durch die Bundesregierung
hochschulgesetzlichen Regelungen, wenn die Länder die 114. Interparlamentarische Versammlung vom 7. bis
Klagen dagegen längst gewonnen haben und seit der Fö- 12. Mai 2006 in Nairobi, Kenia
deralismusreform ohnehin die alleinige Kompetenz da- – Drucksachen 16/2236, 16/2548 Nr. 1.6 –
für innehaben?
Haushaltsausschuss
Aus diesen Gründen können wir Ihrem Antrag nicht
zustimmen. Für die fortgesetzte Förderung der Junior- – Unterrichtung durch die Bundesregierung
professur setzen wir Grüne uns auf Bundesebene beim Haushalts- und Wirtschaftsführung 2006
Hochschulpakt und auf Landesebene unvermindert ein. Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 1113 Titel 636 85
6402 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. November 2006

(A) – Zuschüsse zu den Beiträgen zur Rentenversicherung Drucksache 16/1748 Nr. 1.4 (C)
der in Werkstätten beschäftigten behinderten Men- Drucksache 16/1942 Nr. 2.1
schen – Drucksache 16/1942 Nr. 2.26
– Drucksachen 16/2713, 16/3053 Nr. 1.2 – Drucksache 16/1942 Nr. 2.27
Drucksache 16/2555 Nr. 2.72
Drucksache 16/2555 Nr. 2.73
Innenausschuss Drucksache 16/2555 Nr. 2.75
Drucksache 16/2555 Nr. 2.71
– Unterrichtung durch die Bundesregierung Drucksache 16/2555 Nr. 2.90
Zweiter Bericht der Bundesrepublik Deutschland ge-
mäß Artikel 15 Abs. 1 der Europäischen Charta der Re- Ausschuss für Arbeit und Soziales
gional- oder Minderheitensprachen
Drucksache 16/1475 Nr. 2.16
– Drucksachen 15/3200, 16/820 Nr. 1 – Drucksache 16/1748 Nr. 1.5
Drucksache 16/1748 Nr. 2.2
– Unterrichtung durch die Bundesregierung Drucksache 16/1942 Nr. 2.45
Bericht der Bundesregierung über den Stand der Ab-
wicklung des Fonds für Wiedergutmachungsleistungen
an jüdische Verfolgte Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
– Stand 30. Juni 2006 – Reaktorsicherheit
– Drucksachen 16/2463, 16/2548 Nr. 1.10 – Drucksache 16/1101 Nr. 2.24
Drucksache 16/1942 Nr. 2.9
Drucksache 16/2555 Nr. 1.27
Ausschuss für Arbeit und Soziales Drucksache 16/2555 Nr. 2.29
Drucksache 16/2555 Nr. 2.62
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Berichte für die Europäische Kommission zur Umset-
zung des Europäischen Sozialfonds in der Bundesrepu- Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
blik Deutschland Drucksache 16/150 Nr. 1.7
– Zeiträume 1994 bis 1999 (Aktualisierung) und 2000 Drucksache 16/150 Nr. 1.32
bis 2006 – Drucksache 16/150 Nr. 1.60
hier: Verwirklichung der Chancengleichheit von
Frauen und Männern auf dem Arbeitsmarkt
Ausschuss für Bildung, Forschung und
– Drucksachen 15/2049, 16/820 Nr. 33 –
Technikfolgenabschätzung
– Unterrichtung durch die Bundesregierung Drucksache 16/1942 Nr. 2.11
Drucksache 16/2555 Nr. 2.33
Bericht der Bundesregierung über die Situation und
(B) Entwicklung der Au-pair-Vermittlung
Drucksache 16/2555 Nr. 2.66 (D)
Drucksache 16/2555 Nr. 2.136
– Drucksachen 15/4791, 16/893 Nr. 1 – Drucksache 16/2695 Nr. l .6

Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden EU- Union
Vorlagen bzw. Unterrichtungen durch das Europäische Drucksache 16/150 Nr. 2.266
Parlament zur Kenntnis genommen oder von einer Bera- Drucksache 16/419 Nr. 2.23
tung abgesehen hat Drucksache 16/820 Nr. 1.62
Drucksache 16/820 Nr. 1.66
Drucksache 16/820 Nr. 1.67
Petitionsausschuss Drucksache 16/820 Nr. 1.68
Drucksache 16/820 Nr. 1.69
Drucksache 16/2555 Nr. 1.33 Drucksache 16/820 Nr. 1.70
Drucksache 16/901 Nr. 1.9
Drucksache 16/901 Nr. 1.10
Rechtsausschuss Drucksache 16/1475 Nr. 2.14
Drucksache 16/150 Nr. 2.88 Drucksache 16/1942 Nr. 1.4
Drucksache 16/820 Nr. 1.12 Drucksache 16/1942 Nr. 2.22
Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin
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ISSN 0722-7980

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