Sie sind auf Seite 1von 150

D eutscher Bundestag

Stenographischer Bericht

28. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Inhalt:

Begrüßung des Speakers des Repräsentan- Dr. Dagmar Enkelmann PDS/Linke Liste 2085 A
tenhauses von Malaysia und einer parla-
mentarischen Delegation 2061 A Arnulf Kriedner CDU/CSU 2085 B
Vera Wollenberger Bündnis 90/GRÜNE 2086 C
Erweiterung der Tagesordnung 2061 B
Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler 2091 A
Begrüßung der Vizepräsidentin des Natio-
nalrates der Republik Österreich . . . . 2068 B Wolfgang Roth SPD 2102 C

Dietrich Austermann CDU/CSU 2106 C


Tagesordnungspunkt I:
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth 2086 C
Fortsetzung der Zweiten Beratung des
von der Bundesregierung eingebrachten Namentliche Abstimmung 2107 C
Entwurfs eines Gesetzes über die Fest-
stellung des Bundeshaushaltsplans für Ergebnis 2111 A
das Haushaltsjahr 1991 (Haushaltsgesetz
1991) (Drucksachen 12/100, 12/494)
Einzelplan 09
Geschäftsbereich des Bundesministers für
Einzelplan 04 Wirtschaft (Drucksachen 12/509, 12/530)
Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und Klaus Wedemeier, Präsident des Senats der
des Bundeskanzleramtes (Drucksachen Freien Hansestadt Bremen 2107 D
12/504, 12/530)
Kurt J. Rossmanith CDU/CSU 2113 A
Björn Engholm, Ministerpräsident des Lan-
des Schleswig-Holstein 2061 D Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) FDP . . . 2115B
Josef Grünbeck FDP 2116B, 2124 A
Volker Rühe CDU/CSU 2068 B
Ernst Waltemathe SPD . . . 2117A, 2128B
Freimut Duve SPD 2070 C
Bernd Henn PDS/Linke Liste 2117 D
Norbert Gansel SPD 2071D Ernst Hinsken CDU/CSU 2119A, 2121D, 2133 B

Dr. Otto Graf Lambsdorff FDP 2076 B Clemens Schwalbe CDU/CSU 2119C

Ingrid Matthäus-Maier SPD 2080 C Werner Schulz (Berlin) Bündnis 90/GRÜNE 2120A
Volker Jung (Düsseldorf) SPD 2123 B
Dr. Gregor Gysi PDS/Linke Liste 2081 D
Jürgen W. Möllemann, Bundesminister
Hans-Ulrich Köhler (Hainspitz) CDU/CSU 2084 D BMWi 2125A
II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Wolfgang Roth SPD 2126B Einzelplan 12

Stephan Hilsberg SPD 2127 B Geschäftsbereich des Bundesministers für


Verkehr (Drucksachen 12/512, 12/530)
Harald B. Schäfer (Offenburg) SPD . . 2129A
Ernst Waltemathe SPD 2163 A
Helmut Wieczorek (Duisburg) SPD . . 2130B
Wilfried Bohlsen CDU/CSU 2164 D
Elke Wülfing CDU/CSU 2130D
Helmut Wieczorek (Duisburg) SPD . . 2165 D
Lieselott Blunck SPD 2131 D
Dr. Klaus-Dieter Feige Bündnis 90/GRÜNE 2167 C
Kurt J. Rossmanith CDU/CSU 2132 C
Werner Zywietz FDP 2169 D
Hansjürgen Doss CDU/CSU 2135A
Jutta Braband PDS/Linke Liste 2172 A
Ingrid Matthäus-Maier SPD 2135 C
Dr. Günther Krause, Bundesminister BMV 2173A
Einzelplan 16 Ernst Kastning SPD 2174 C
Geschäftsbereich des Bundesministers für
Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Dr. Margrit Wetzel SPD 2175 A
(Drucksachen 12/516, 12/530)
Einzelplan 25
Hans Georg Wagner SPD 2137 D
Geschäftsbereich des Bundesministers für
Michael von Schmude CDU/CSU . . . 2140D Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
(Drucksachen 12/526, 12/530) 2177 C
Hans Georg Wagner SPD . . . 2143A, 2149 C

Jutta Braband PDS/Linke Liste 2143 C Einzelplan 13

Ina Albowitz FDP 2144 D Geschäftsbereich des Bundesministers für


Post und Telekommunikation (Drucksachen
Dr. Klaus-Peter Feige Bündnis 90/GRÜNE 2147A 12/513, 12/530) 2177 C

Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister BMU . . 2149B Einzelplan 23


Marion Caspers-Merk SPD 2153B
Geschäftsbereich des Bundesministers für
Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) CDU/CSU 2155 B wirtschaftliche Zusammenarbeit (Drucksa-
chen 12/525, 12/530) 2177 D
Ulrich Klinkert CDU/CSU 2155 D
Haushaltsgesetz 1991 (Drucksachen 12/531,
12/532) 2177 D
Zusatztagesordnungspunkt 1:
Beratung des Antrags der Gruppe Bünd-
Tagesordnungspunkt II:
nis 90/GRÜNE: Einsetzung eines Un-
tersuchungsausschusses (Drucksache Beratung der Beschlußempfehlung des
12/629) Haushaltsausschusses zu der Unterrich-
tung durch die Bundesregierung: Der Fi-
in Verbindung mit nanzplan des Bundes 1990 bis 1994
(Drucksachen 12/101, 12/494, 12/533) 2178A
Zusatztagesordnungspunkt 2:
Beratung des Antrags der Fraktion der Nächste Sitzung 2178 C
SPD: Einsetzung eines Untersuchungs-
ausschusses (Drucksache 12/654)
Anlage 1
Ingrid Köppe Bündnis 90/GRÜNE . . . . 2157B
Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 2179* A
Dr. Peter Struck SPD 2157 D

2159B Anlage 2
Dr. Jürgen Rüttgers CDU/CSU
Zu Protokoll gegebene Rede zum Einzel-
Dr. Gregor Gysi PDS/Linke Liste 2160D
plan 30 — Geschäftsbereich des Bundesmi-
Uwe Lühr FDP 2161C nisters für Forschung und Technologie
(Drucksachen 12/524, 12/530)
Dr. Ulrich Briefs PDS/Linke Liste . . . 2162 B
Dr. Heinz Riesenhuber, Bundesminister
Hans-Jürgen Kronberg CDU/CSU . . . 2162C BMFT 2179* C
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 III

Anlage 3 Manfred Kolbe CDU/CSU 2192* A

Zu Protokoll gegebene Reden zu Einzel- Arne Börnsen (Ritterhude) SPD 2193* B


plan 25 — Geschäftsbereich des Bundesmi-
nisters für Raumordnung, Bauwesen und Dr. Ulrich Briefs PDS/Linke Liste . . . 2194* C
Städtebau (Drucksachen 12/526, 12/530)
Werner Zywietz FDP 2195* C
Dr. Conrad Schroeder (Freiburg) CDU/CSU 2181 C
Dr. Christan Schwarz-Schilling, Bundesmini-
Dr. Nils Diederich (Berlin) SPD 2183* C ster BMPT 2196* B
Carl-Ludwig Thiele FDP 2185* C
Anlage 5
Hans-Wilhelm Pesch CDU/CSU 2186' C
Zu Protokoll gegebene Reden zu Einzel-
Gabriele Iwersen SPD 2187* C plan 23 — Geschäftsbereich des Bundesmi-
nisters für wirtschaftliche Zusammenarbeit
Dr. Ilja Seifert PDS/Linke Liste 2189' D (Drucksachen 12/525, 12/530)

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer, Bundesmini Dr. Christian Neuling CDU/CSU 2198* C


sterin BMBau 2190* C
Helmut Esters SPD 2200* C
Anlage 4
Werner Zywietz FDP 2202* A
Zu Protokoll gegebene Reden zu Einzel-
plan 13 — Geschäftsbereich des Bundesmi-- Dr. Ursula Fischer PDS/Linke Liste . . . 2203* B
nisters für Post und Telekommunikation
(Drucksachen 12/513, 12/530) Carl-Dieter Spranger, Bundesminister BMZ 2204*' D
28. Sitzung

Bonn, den 6. Juni 1991

Beginn: 9.01 Uhr

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Guten Morgen, Einzelplan 04


liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sitzung ist eröff- Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des
net. Bundeskanzleramtes
— Drucksachen 12/504, 12/530 —
Ich möchte zunächst auf der Ehrentribüne den
Speaker des Repräsentantenhauses von Malaysia, Berichterstatter:
Herrn Tan S ri Zahir, mit seiner parlamentarischen Abgeordnete Rudi Walther
- Dietrich Austermann
Delegation ganz herzlich im Deutschen Bundestag
begrüßen. Carl-Ludwig Thiele
Ich weise darauf hin, daß über diesen Einzelplan
(Beifall im ganzen Hause) gegen 13.30 Uhr namentlich abgestimmt wird.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
Sie sind von Berlin nach Bonn gekommen und reisen
die Aussprache vier Stunden vorgesehen. — Ich sehe
nach Baden-Württemberg. Sie sind an der Zusam-
keinen Widerspruch.
menarbeit mit uns in einer Weise interessiert, daß ich
uns nur wünschen kann, daß weiterhin enge parla- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Mini-
mentarische Beziehungen zwischen unseren beiden sterpräsident Engholm. (I
Ländern gepflegt werden. Ich wünsche Ihrem Besuch
Ministerpräsident Björn Engholm (Schleswig-Hol-
einen guten Verlauf.
stein): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die Ich möchte eine Bemerkung an den Anfang stellen,
verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die mit der Altbundeskanzler Helmut Schmidt vor kur-
Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunkt zem, wie ich glaube, der großen Mehrheit unseres
liste aufgeführt: Volkes und auch vielen in diesem Hohen Hause aus
dem Herzen gesprochen hat. Helmut Schmidt sagte:
1. Beratung des Antrags der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN: „Selbst wenn die deutsche Einheit dreimal so teuer
Einsetzung eines Untersuchungsausschusses — Drucksache käme,wie es sich gegenwärtig abzeichnet, und teuer
12/629- nicht nur im materiellen, sondern vielmehr auch im
seelischen und geistigen Sinne, selbst dann würden
2. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Einsetzung
eines Untersuchungsausschusses — Drucksache 12/654 — wir doch nicht auf die Einheit verzichten wollen."
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP
3. Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten und dem Bündnis 90/GRÜNE)
Entwurfs eines . .. Gesetzes zur Änderung des Grundgeset-
zes (Artikel 146 GG) — Drucksache 12/656 — — Ich wollte mir wenigstens einmal zu Beginn meiner
Rede den Luxus des Beifalls des ganzen Hauses gön-
4. Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten nen.
Entwurfs eines Gesetzes über das Verfahren zur Durchfüh- (Heiterkeit und Beifall bei der SPD)
rung des Volksentscheides nach Artikel 146 Absatz 2 des
Grundgesetzes (G Artikel 146 Abs. 2) — Drucksache Meine Damen und Herren, dieser schlichte Satz
12/657 — umschreibt die Bedeutung und die Größe der Kraftan-
strengung, vor der wir alle stehen. Viele in unserem
Sind Sie damit einverstanden? — Das ist der Fall. Volk und auch in der Politik — und ich denke, nicht
zuletzt die Sozialdemokraten im letzten Jahr der gro-
Wir setzen jetzt die Haushaltsberatungen fort: ßen Wahlauseinandersetzung — haben das so gese-
hen.
Fortsetzung der zweiten Beratung des von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ei- Allein die Bundesregierung ist mit verstelltem Blick
nes Gesetzes über die Feststellung des Bundes- auf diese Dinge zugegangen.
haushaltsplans für das Haushaltsjahr 1991 (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/
(Haushaltsgesetz 1991) (Drucksachen 12/100, GRÜNE — Lachen bei der CDU/CSU und der
) /49 12 FDP)
2062 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Ministerpräsident Björn Engholm (Schleswig-Holstein)


Wir könnten nach meiner Einschätzung auf dem Weg den Fundamenten dieser Republik gehört gewiß nicht
zur Bewältigung dieser unglaublichen nationalen An- zuletzt ein intakter und lebensfähiger Föderalismus.
strengung weiter sein, wenn die Bundesregierung von
Anbeginn an die Realität im Auge gehabt und den (Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Sehr
Mut zur Wahrheit besessen hätte. wahr!)
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ Leistungsfähige und finanzstarke Länder mit lebendi-
GRÜNE) gen und gestaltungsstarken Kommunen sind eine
Statt aber den Menschen im Osten die volle Wahr- zentrale Voraussetzung für die Entwicklung unseres
heit über die ökonomischen und sozialen Folgen der Landes.
Einigung zu sagen und die Bürgerinnen und Bürger
im Westen über die Notwendigkeit langfristiger, tief- (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/
greifender und großer Opfer voll aufzuklären, wurden GRÜNE)
wir im Osten wie im Westen — ich weiß nicht, aus Wer den Ländern und den Gemeinden an den Le-
welchem Grunde; vielleicht nur blauäugig — hinters bensnerv, insbesondere den finanziellen Lebensnerv,
Licht geführt. geht, wer ihnen damit die Grundlage für die Zukunfts-
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ gestaltung vor der Haustür der Menschen nimmt, der
GRÜNE) geht an den Lebensnerv des gesamten Gemeinwe-
sens.
Die jüngste Erfahrung zeigt — das ist eine Lehre für
alle, die Politik machen — : Wer leere Vesprechungen (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/
und Täuschungen sät, der muß Mißtrauen und Skep- GRÜNE)
sis ernten. Das sind die schlechtesten Wegbereiter.
(Beifall bei der SPD) Wir stehen heute in der neuen Bundesrepublik vor
einer Situation, von der man sagen kann, es gebe ein
Wir sind nun, meine Damen und Herren, nach lan- tief zerklüftetes, mindestens dreigeteiltes Ländersy-
gen Jahren einer schmerzlichen Trennung und — stem.
nicht zu vergessen — insgesamt fast zwei Generatio-
nen der Unfreiheit im Osten Deutschlands ein Staat Da ist die Erste Welt; dazu zähle ich Hessen, Bayern,
geworden. Das ist ein Glück, wie es Völkern in der Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen. Diese
Geschichte nur selten zuteil wurde. Ich weiß, die Ländersiauchtorkgen,umih
Freude darüber in diesem Hause ist ungeteilt. Zukunft selbsttätig zu gestalten. Aber wenn Sie mit
Herrn Streibl sprechen, dann wird er Ihnen sagen, die
(Beifall bei der SPD)
Grenzen der finanziellen Autonomie seien auch schon
Jetzt kommt es darauf an, daß aus diesem Glück bei ihm in Sicht.
nicht neues Unglück für die Menschen im Osten
Deutschlands wird. Um es deutlicher zu sagen: Es darf Da ist die Zweite Welt: das Saarland, Bremen,
kein neues deutsches Trauma geben, das Trauma der Schleswig-Holstein und, ich vermute, mit Abstand
Teilung in Einheit. Niedersachsen und Rheinland-Pfalz. Diese Länder
haben ihre finanzielle Gestaltungskraft bereits weit-
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ gehend verloren.
GRÜNE)
Ich sage das deshalb so nachdrücklich, weil ich (Zuruf von der CDU/CSU: Sie haben die
glaube, daß dann, wenn wir die Einheit sozial und Kommunen ausgehungert! Das haben doch
ökonomisch nicht verwirklichen, verhängnisvolle Fol- Sie gemacht!)
gen nicht nur für unser Volk, sondern auch für den
europäischen Einigungsprozeß vor der Tür stünden. — In welchem Umfang Sie daran mitgewirkt haben,
will ich heute morgen nicht auflisten.
Niemand würde gerade uns Deutschen zutrauen, das
große gemeinsame europäische Haus mitbauen zu Da ist schließlich die Dritte Welt. Das sind die ost-
können, wenn uns nicht einmal der Bau des bundes- deutschen Länder, für die der Föderalismus eine un-
deutschen Eigenheimes gelänge. glaublich identitätsstiftende Kraft ist, wo der Födera-
(Beifall bei der SPD) lismus finanzpolitisch aber nur formal auf dem Papier
steht und sich nicht wirklich entfalten kann.
Meine Partei wird deshalb darum ri ngen, daß die
Einheit ökonomisch kraftvoll und sozial vorbildlich (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/
gestaltet wird. Das heißt, wir werden alles tun, was wir GRÜNE)
als Sozialdemokraten können, um nicht zuzulassen,
daß auf Dauer im Zug zur Einheit eine Holzklasse für Es ist, meine Damen und Herren, vornehm ausge-
die Bürgerinnen und Bürger des Ostens und eine drückt, bedrückend, daß die Bundesregierung die Ko-
Plüschklasse für die des Westens existiert. sten der deutschen Einheit zunächst verkannt, dann
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ verniedlicht und dann weggetäuscht hat, um nach der
GRÜNE — F ri ed ri ch Bohl [CDU/CSU]: Und Bundestagswahl bruchstückweise mit der Wahrheit
eine Jet-set-Klasse!) ans Licht zu kommen.

Dieses Ziel, meine Damen und Herren, ist nur er- (Dr. Alfred Dregger [CDU/CSU]: Täuschen
reichbar, wenn wir die Fundamente, auf denen unsere Sie doch nicht! Sagen Sie selber die Wahr-
Republik steht, stärken, statt sie zu schwächen. Zu heit!)
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2063

Ministerpräsident Björn Engholm (Schleswig-Holstein)


Ich stimme Frau Matthäus-Maier zu, die gesagt hat: lenruhig zusieht, wie Länder und Gemeinden weiter
Wahrscheinlich sind wir bei der Bundesregierung von ausbluten.
der Wahrheit noch Lichtjahre entfernt. (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/
(Beifall bei Abgeordneten der SPD — Volker GRÜNE)
Rühe [CDU/CSU]: Pfui!) Am Ende dieses Weges hängen zwei D rittel oder mehr
der Länder und Gemeinden an der goldenen Leine
Bedrückend ist auch, daß die Bundesregierung ein des Bundes und am finanzpolitischen Zügel des Bun-
Steuer- und Abgabenpaket vorlegt, das sozial völlig desfinanzministers.
asymmetri sch ist. Es ist unter Solidaritätsgesichts-
punkten eine Absurdität, Bezieher kleiner Einkom- Mit dieser Politik — ich bitte Sie, das ernst zu neh-
men kräftig zu belasten, jetzt auch noch Bergleuten men; die meisten von Ihnen kommen ja aus Wahlkrei-
ans Existenzleder zu wollen und zugleich die Großen sen in Ländern und Gemeinden, in denen sie direkt
unserer Gesellschaft mit Vermögensteuerstreichel- gewählt werden — wird der Föderalismus ausgehöhlt
einheiten zu versehen. und die Macht der Zentrale gestärkt. Dies ist eindeu-
tig wider den Geist unserer Verfassung.
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/
GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/
GRÜNE)
Linke Liste)
Ich sage Ihnen, es ist verhängnisvoll auch für das,
Aber für uns als Länder und für unsere Gemeinden was Menschen empfinden, wenn sie sehen, daß wir
besonders bedrückend ist etwas anderes. Wir haben uns zunehmend für den Aufbau des Ostens finanziell
uns im Einigungsprozeß nachdrücklich engagiert. engagieren — was selbstverständlich ist —. Wenn sie
zugleich sehen, daß in den schwachen Ländern und
(Widerspruch bei der CDU/CSU — Volker den ausgebluteten Kommunen in den Kindergärten
Rühe [CDU/CSU]: Spät! — F riedrich Bohl der Putz von den Wänden herunterrieselt, wird die
[CDU/CSU]: 1,5 Millionen! Wer täuscht -hier Lust zum Teilen dadurch nicht gefördert.
eigentlich?)
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/
Wir haben aus eigenen Mitteln, bevor die Bundesre- GRÜNE — Dietrich Austermann [CDU/
gierung anfing, auch nur einen Finger zu rühren, ei- CSU]: Das ist eine ganz schwere Verzerrung!
genständig Programme im Osten finanziert und die Wo lebt ihr eigentlich? Das ist eine Beleidi
ersten Personaltransfers vorgenommen. gung für die Kommunalpolitiker! — F riedrich
Bohl [CDU/CSU]: Wie viele neue Planstellen
(Beifall bei der SPD — Friedrich Bohl [CDU/ haben Sie denn geschaffen? Sie hatten doch
CSU]: Das ist doch die Unwahrheit! Das ist Geld!)
lächerlich! Sie haben die Taschen zugehal
ten! Geizkragen!) — Herr Austermann hat gerade eingeworfen — ich
wiederhole es, weil Sie es nicht alle gehört haben —,
Wir zahlen als Bundesländer bis zum Jahr 2025 in das sei eine Beleidigung für die Kommunalpolitiker.
den Fonds Deutsche Einheit. Damit diejenigen unter
Ihnen, die natürlich keine Ahnung haben, wie es in (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Ein-
den Ländern aussieht, wissen, was das heißt: Für ein schließlich Ihrer neuen Kommunalverfas-
kleines Land wie Schleswig-Holstein bedeutet allein sung!)
der Fonds Deutsche Einheit eine Belastung von über Herr Austermann, ich wäre fast geneigt, Ihnen anzu-
6 Milliarden DM. Wer darüber lacht, hat das Mandat bieten, mit Ihnen die vielfältigen Etappen Ihrer Kom-
nicht verdient, mit dem er hier sitzt. munalpolitik einmal nachzuwandern, um Ihnen do rt
dieKlasnzmr,wousiehtzgn.
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/
GRÜNE sowie des Abg. Dr. Hans Modrow (Beifall bei der SPD — Diet rich Austermann
[PDS/Linke Liste] — Zuruf von der CDU/ [CDU/CSU]: Das können wir gerne machen!
CSU: Ganze vier Richter haben Sie ge — Friedrich Bohl [CDU/CSU]: Sie leben auf
schickt!) dem Mond! — Zuruf des Abg. Wolfgang
Kubicki [FDP])
Sie wissen, daß wir in einem schwierigen Prozeß das — Herrn Kubickis Zwischenruf habe ich nicht gehört.
Steueraufkommen so verteilt haben, daß alle Ostpart- Das ist vielleicht besser so.
ner inzwischen daran partizipieren. Vor uns steht
— wir wissen noch nicht, in welchen Größenordnun- Meine Damen und Herren, wir haben gestern den
gen, weil uns die endgültigen Planungen der Bundes- 100. Geburtstag der IG Metall in Frankfurt gefeiert.
regierung nicht bekannt sind — ein ständiger Verlust (Zuruf von der CDU/CSU: Da fiel auch der
von Bundesmitteln bei Gemeinschaftsaufgaben und Putz von den Wänden!)
sonstigen Projekten. Das heißt, wir — auch die schwä-
cheren unter uns Ländern — tragen diese Lasten, weil Auch viele, die heute hier sitzen, sind gestern dort
wir wollen, daß Deutschland so schnell wie möglich gewesen.
sozial und wirtschaftlich zusammenwächst. (Zuruf von der CDU/CSU: Da rieselte der
Kalk!)
Wir haben jedoch kein Verständnis dafür — das
sollten Sie eigentlich begreifen — , daß sich der Bund — Der eine oder andere, den ich noch von früher
jetzt allein neue Finanzquellen erschließt, aber see- kenne, hat zu der Zeit, als wir gemeinsam im Parla-
2064 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Ministerpräsident Björn Engholm (Schleswig-Holstein)


ment saßen, intelligentere Zwischenrufe gemacht. punkt, daß wir alle Teil des Weltwirtschaftssystems
Das lange Sitzen schleift offensichtlich ab. sind; da liegt eine große Verantwortung. Aber daß die
ökologische Umgestaltung der gesamten Industrie-
(Diet ri ch Austermann [CDU/CSU]: Sie ha
und Konsumgesellschaft, von der wir wissen, daß sie
ben auch bessere Reden gehalten! — Hans
Klein [München] [CDU/CSU]: Sie waren keine Alternative kennt, als Thema am Kabinettstisch
schon damals nicht besser!) keinen Platz hat, offenbart die Perspektivenlosigkeit
der Regierung.
Das Motto des gestrigen Geburtstages der IG Metall
lautete: „Dem Leben Zukunft geben". Wie sieht es mit (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/
„Dem Leben Zukunft geben" in der Realität unserer GRÜNE — Zuruf von der CDU/CSU: Waren
Politik aus? Daß nach bald einem Jahrzehnt wirt- Sie Mäuschen unter dem Tisch?)
schaftlichen Booms in der Bundesrepublik die Zahl Daß schließlich Millionen Menschen in aller Welt
der Armen in unserer Gesellschaft gewachsen ist ihre Heimat verlassen müssen und sich zunehmend
— siehe die Zahl der Sozialhilfeempfänger — , ist für auf den Weg in die reicheren Staaten des Westens
eine reiche Republik extrem beschämend. machen, dafür kann man keine nationale Regierung
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ verantwortlich machen.
GRÜNE)
(Zurufe von der CDU/CSU: Aha!)
Damit kein falscher Eindruck entsteht: Niemand
kann der Regierung einen Vorwurf daraus machen, Aber daß in Bonn das Asylrecht zu einer va riablen
daß es überhaupt Armut gibt. Aber daß eine Regie- Abwehrmasse dieses Problems gemacht wird, statt ein
rung keine Konzepte zur Bekämpfung der Armut ent- modernes Einwanderungsrecht — auch europäisch —
wirft und daß wir nach den vielfältigen Kürzungen in zu schaffen, ist ein Versäumnis.
der Sozialpolitik wieder auf dem Weg sind, aus Sozial- (Beifall bei der SPD)
politik so etwas wie Wohltätigkeit zu machen, das ist
bedrückend. - Ich glaube, hinter alldem, was man an Perspektiven
in der Regierungspolitik vermißt, steht so etwas wie
(Beifall bei der SPD — Diet ri ch Austermann ein tiefer ideologischer Unterschied, wobei ich inzwi-
[CDU/CSU]: Und unwahr! — Karl Stockhau schen fest davon überzeugt bin, daß die Ideologen
sen [CDU/CSU]: Jetzt baut er wieder Papp ihren Platz mehr in der Rechten Deutschlands haben
kameraden auf!) denn in der Linken.
Wir machen der Regierung auch nicht den Vorwurf,
daß es auf den deutschen Straßen mehr Kraftfahr- (Beifall bei der SPD)
zeuge gibt. Dahinter steht eine ausgeprägte Vorstellung, die
(Hans Peter Schmitz [Baesweiler] [CDU/ unsterbliche Idee des Laisser-faire, nämlich daß sich
CSU]: Arme SPD!) Probleme im Selbstlauf regulieren.
Aber daß Sie den öffentlichen Verkehr in den letzten (Diet ri ch Austermann [CDU/CSU]: Davon
Jahren ständig weiter schwächten und die deutschen kennt er etwas!)
Straßen ins Chaos laufen ließen, das offenbart eine
Daß viele, die bei Ihnen sitzen — nicht zuletzt auch in
bedrückende Perspektivlosigkeit.
der liberalen Partei — , dieser Idee anhängen, ist seit
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ langem bekannt. Deshalb müssen Sie sich auch nicht
GRÜNE) schämen, denn Sie stehen doch meistens dazu.
Daß es Wohnungsungleichgewichte bei sich (Zuruf von der FDP: Was soll denn das?)
schnell entwickelnden Gesellschaften gibt, wird jeder
Regierung passieren können. Aber daß eine Regie- Ich muß nur sagen: Eine Politik, die glaubt, man
rung — noch zu einem Zeitpunkt, da bereits sichtbar könne menschliche Nöte, strukturelle Defizite sich im
Hunderttausende auf der Suche nach bezahlbaren Selbstlauf erledigen lassen, versagt vor den großen
Wohnungen sind — von Vollversorgung spricht, ist für Gestaltungsaufgaben unserer Zeit und der Zukunft.
mich völlig unverständlich. (Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD — Manfred Opel [SPD]:
Meine Damen und Herren, die Gestaltung der so-
Das tut weh! — Karl Stockhausen [CDU/
zialen Einheit Deutschlands und die Bewältigung un-
CSU] : „Neue Heimat" ! )
serer großen Zukunftsaufgaben erfordert Opfer von
Der Vorsitzende der IG Metall, Herr Steinkühler, uns allen, im Westen wie im Osten. Wer Opfer ver-
hat gestern beim IG-Metall-Jubiläum gesagt, die langt, muß Opfer gerecht verteilen; denn wir wissen,
Menschheit stehe über kurz oder lang vor der Exi- daß die Menschen nur dann bereit sind, sich an Op-
stenzfrage ihrer eigenen Gattung, wenn sie weiter so fern zu beteiligen, wenn sie wissen, daß es dabei ge-
verantwortungslos mit den Gütern der Erde um- recht zugeht. Sozialdemokraten haben Ihnen dazu
gehe. seit langem vernünftige Vorschläge gemacht.
(Zuruf von der CDU/CSU: Das hat er an der (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Welche?)
richtigen Stelle gesagt!)
— Frau Matthäus-Maier hat das gestern in aller Aus-
Daß die Umweltzerstörung global in einem un- führlichkeit wiederholt.
glaublichen Maß voranschreitet, dafür können wir
alle nur bedingt etwas — außer unter dem Gesichts- (Zurufe von der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2065
Ministerpräsident Björn Engholm (Schleswig-Holstein)
— Die Kollegen sind wohl nicht hier gewesen. dingungen Arbeitslosenquoten von 2 % und weniger
haben. Daß es funktioniert, kann man in Skandina-
(Beifall bei der SPD — Dietrich Austermann
vien sehr deutlich sehen.
[CDU/CSU]: Warum wohl? — Jochen Bor
chert [CDU/CSU]: Wir haben nachgelesen!) (Beifall bei der SPD — Lachen bei der CDU/
— Mit Verlaub, ich habe die Debatte dort verfolgt, wo CSU — Gerhard O. Pfeffermann [CDU/
auch Sie es gelegentlich tun: am Bildschirm. CSU]: Wann waren Sie denn das letzte Mal
dort? — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)
(Zuruf von der CDU/CSU: Bei der IG Me
tall?) — Sagen Sie mir doch einmal, wie hoch Sie die Ar-
Ich wiederhole gern, was Sie nicht gehört haben: beitslosigkeit in Schweden oder Norwegen nach Ihrer
Wir sind für die Erhebung einer Ergänzungsabgabe Kenntnis einschätzen!
für Besserverdienende, aber nicht für die Belastung in (Fried ri ch Bohl [CDU/CSU]: Wir sind hier
der Breite und besonders der unteren Schichten unse- doch nicht in der Klippschule! — Weitere
res Volkes. Zurufe von der CDU/CSU)
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/
—Es gilt das gute alte deutsche Sprichwort: Erst infor-
GRÜNE — Dietrich Austermann [CDU/
mieren, dann denken und dann zwischenrufen. Das
CSU] : Und bei der Mineralölsteuer und der
macht allemal mehr Sinn!
Mehrwertsteuer?)
Wir schlagen Ihnen vor, eine befristete Arbeitsmarkt- (Beifall bei der SPD — Jochen Borchert
abgabe zu erheben, damit einen Solidaritätsbeitrag [CDU/CSU]: Das gilt auch für den Redner!)
auch die leisten, die in der Vergangenheit frei ausge-
Wir haben vorgeschlagen, die industrielle Substanz
gangen sind. und die indust ri elle Struktur in den östlichen Ländern
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ nicht völlig zusammenbrechen zu lassen, sondern das
-
GRÜNE) zu sanieren, was konkurrenzfähig gemacht werden
Wir schlagen Ihnen — darüber ist gestern nachdrück- kann, um es anschließend zu privatisieren. Wir sind,
lich gesprochen worden — über harte, aber sozial ver- wie ich glaube, auf diesem Weg inzwischen eine
tretbare Sparmaßnahmen hinaus insbesondere den Etappe weiter — was ich für einen Fortschritt halte —.
Verzicht auf neue militärische Großprojekte vor, de- (Dr. Rudolf Krause [Bonese] [CDU/CSU]:
ren Nutzen für die Zukunft allseits in Zweifel gezogen Wer ist „wir"?)
wird.
— „Wir" heißt doch wohl, daß das eine gemeinsame
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Vera
Angelegenheit des deutschen Volkes und des gesam-
Wollenberger [Bündnis 90/GRÜNE])
ten Parlaments und nicht nur der CDU/CSU-Fraktion
Ich schlage Ihnen, damit wir im Föderalismus ein ist.
Stück neuen Ausgleichs schaffen, ferner vor: Beteili-
gen Sie die Länder und die Gemeinden am Mineralöl- (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/
steueraufkommen zur Kompensation ihrer überpro- GRÜNE)
portional starken Belastungen, die sie jetzt zu ver- Flächendeckende Beschäftigungsgesellschaften
zeichnen haben! könnten ein richtiger Weg dafür sein.
(Beifall bei der SPD)
Wir müssen in die Infrastruktur investieren, von
Meine Damen und Herren, vor uns liegt kein kurzer Verkehrswegen über Telekommunikation, von Alt-
Zeitabschnitt, sondern, wie ich glaube, ein ganzes stadtsanierung bis Umweltschutz.
Jahrzehnt einer immensen Anstrengung für den Auf-
bau und die Modernisierung der fünf neuen Länder im (Hubert Doppmeier [CDU/CSU]: Was ge
Osten Deutschlands ebenso wie für die Lösung der schieht denn zur Zeit?)
bisher ungelösten großen Zukunftsaufgaben. Die Tal-
sohle in den neuen Ländern läßt sich verkürzen, wenn — Lassen Sie mich doch ausreden!
dieses Haus den Vorschlägen folgt, die die SPD in Ich empfehle Ihnen dringend, sich als Vorbild das
ihrem Nationalen Aufbauplan gemacht hat. von Ihnen früher einmal verlachte, von der soziallibe-
Sie kennen die Punkte. Ich werde sie sehr kurz wie- ralen Koalition gemachte Zukunftsinvestitionspro-
dergeben. Wir haben Ihnen vorgeschlagen — das gramm anzusehen. Dann wissen Sie, wie man so et-
wäre wirklich eine Innovation großen Stils in der Ar- was macht.
beitsmarktpolitik — , jetzt mit aller Kraft ausschließ-
(Beifall bei der SPD — Dr. Klaus-Dieter
lich neue Arbeit und Qualifizierung zu fördern, aber
Uelhoff [CDU/CSU]: Millionen Arbeitslose!)
nicht die nutzlose Arbeitslosigkeit.
(Beifall bei der FDP und dem Bündnis 90/ Wir brauchen eine nachhaltige weitere Verstär-
GRÜNE — Dr. Paul Laufs [CDU/CSU]: Wo kung beim Aufbau des öffentlichen Dienstes. Ich
leben Sie denn? — Zuruf von der CDU/CSU: glaube, daß wir unsere Kommunen insgesamt ermun-
Kommen Sie doch mal gucken!) tern könnten, in partnerschaftlicher Zusammenarbeit
den Gemeinden im Osten Deutschlands noch ein
— Ich fahre mit Ihnen einmal dorthin, wo dieses Prin- Stück mehr Unterstützung zu geben.
zip angewandt wird und wo wir, weil dieses Prinzip
angewandt wird, unter vergleichbaren Weltmarktbe (Beifall bei der SPD)
2066 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Ministerpräsident Björn Engholm (Schleswig-Holstein)


Dabei muß dem Aufbau des demokratischen Rechts- die Folgen dieses Versagens auch die Volkswirtschaft
wesens ein besonderes Gewicht zukommen. Bei aller im westlichen Teil Deutschlands immens gefährden.
Bedeutung von Eigentumsfragen muß die neue Rich- Also müssen wir durch und den Weg erfolgreich been-
terschaft wesentlich dazu beitragen, erlittenes Un- den.
recht für die Opfer des alten stalinistischen Systems
wiedergutzumachen. (Beifall bei der SPD)
Um Herrn Austermann und Herrn Kubicki ein Stück
(Beifall bei der SPD, dem Bündnis 90/ entgegenzukommen:
GRÜNE und der FDP — Ing rid Matthäus
Maier [SPD]: Warum klatschen Sie von der (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das finde
CDU/CSU denn nicht? — Gegenruf des Abg. ich gemein, daß Sie uns beide zusammen
Jochen Borche rt [CDU/CSU]: Es muß etwas nennen!)
Vernünftiges sein!) Wir können es ja mit der norddeutschen Devise hal-
Ich bin wie mein Freund Oskar Lafontaine, ten, die lautet: Es ist besser, heute unter Opfern Dei-
che zu bauen, als darauf zu hoffen, die Flut nehme
(Zurufe von der CDU/CSU) Vernunft an.
auf dessen Buckel und gegen dessen Wahrhaftigkeit (Beifall bei der SPD)
Sie eine Wahl gewonnen haben — da sollte schon ein
Stück Dankbarkeit vorhanden sein! —, Meine Damen und Herren, würde man dem Motto
der gestrigen Tagung der IG Metall, „Dem Leben
(Beifall bei der SPD — Diet rich Austermann Zukunft geben", folgen, dann hieße das auch, den
[CDU/CSU]: Was hat denn Helmut Schmidt Neubeginn in Deutschland nach der Einigung der
dazu gesagt? — Friedrich Bohl [CDU/CSU]: Deutschen für eine neue Periode der Reformen in
Daß es an Lafontaine liegt, wenn die SPD die Deutschland zu nutzen. Es ist meine Überzeugung
Wahl verliert, hat Schmidt gesagt!) und die meiner Fraktion und meiner Partei, Entschul-
- digung, Hans-Jochen: unserer Fraktion und meiner
und die Sozialdemokraten der Meinung, daß wir scho-
nungslos die Wahrheit sagen müssen. Partei:
(Hans Klein [München] [CDU/CSU]: Zitieren (Heiterkeit — Dr. Hans Jochen Vogel [SPD]:
Sie mal Schmidt, was er über Lafontaine ge So ist es gut!)
sagt hat!) Wer sich nicht weitgestreckte Ziele setzt, der tritt auf
Die Wahrheit ist: Der Weg zum Ziel der inneren Ein- der Stelle. — Oder um es mit Gustav Heinemann zu
heit der Deutschen wird schwerer, er wird dornenvol- sagen: Wer nicht verändert, der wird auch das verlie-
ler, und er wird länger, als es die größten Berufsopti- ren, was er zu behalten wünscht. Das heißt, es spricht
misten dieser Regierung dem deutschen Volk erzählt alles für Reformen.
haben. (Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ Mir scheinen starke neue Impulse in der Wi rt
GRÜNE) ftspolitik nötig. Wer das Buch von Konrad Seitz,-scha
Man muß dem Internationalen Währungsfonds der eine wichtige Funktion innehat, über die japani-
nicht auf Heller und Pfennig folgen. Wenn aber der sche Herausforderung gelesen hat, der weiß, die Kon-
IWF prognostiziert, daß wir für ein Jahrzehnt Investi- kurrenz in der Welt schläft nicht.
tionen in einer Größenordnung von 1,7 Billionen DM (Volker Rühe [CDU/CSU]: Der ist nicht für
benötigen,davon mehr als ein D rittel im öffentlichen die 35-Stunden-Woche!)
Bereich, dann zeigt das die Dimension, vor der wir
stehen. Wer die Zahlen des sächsischen Ministerprä- Wir sind als nationale Volkswirtschaft möglicherweise
sidenten Kurt Biedenkopf im Kopf hat, der kommt im zu klein, um dieser Herausforderung gewachsen zu
großen und ganzen zu ähnlichen Einschätzungen der sein. Wenn ich aber frage, wo die industriepolitische
Größenordnung. Das sind immense Herausforderun- Antwort der Bundesregierung auf diese Herausforde-
gen. rung ist, dann suche ich, aber finde nichts.
Ich bin trotz der Dimension und der Größenordnung (Beifall bei der SPD)
dieser Aufgabe sicher, daß wir den Weg erfolgreich Statt dessen stoße ich immer wieder auf diesen unsin-
beenden werden. Wir werden ihn erfolgreich been- nigen ideologischen Streit „Wirtschaft oder Staat"
den, wenn besonders die Menschen in Ostdeutsch- oder gar „Wirtschaft gegen Staat". Dabei wissen wir,
land das sichere Gefühl haben, daß wir sie auch auf daß in komplexen Wettbewerbsstrukturen der Welt
einer längeren Wegstrecke solidarisch begleiten und nur der obsiegen und seinen Platz sichern kann, der
nicht im Stich lassen. ein vernünftiges Miteinander des Staates und einer
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ hochinnovativen Wirtschaft organisiert.
GRÜNE) (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/
Wir werden den Weg erfolgreich beenden, weil wir GRÜNE)
wissen, daß es zur Bewältigung dieser Aufgabe keine Wo Konservative diesem falschen Antagonismus von
Alternative gibt, weder eine soziale noch eine ökono- Wirtschaft oder Staat hinterhergelaufen sind, etwa
mische Alternative. Versagen wir dabei sozial, verlie- Frau Thatcher oder Herr Reagan, da hat es der gesam-
ren wir unsere moralische Legitimation. Versagen wir ten Volkswirtschaft und auch den großen Unterneh-
beim Aufbau des Ostens ökonomisch, dann werden men bitter weh getan. Diese Alternative ist die falsche,
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2067

Ministerpräsident Björn Engholm (Schleswig-Holstein)


sie gehört in den Müllhaufen der Wirtschaftsge- Ein Land, das so hochgradig verwoben ist mit der gan-
schichte. zen Welt, das ein Drittel seines Volkseinkommens aus
dem Handel mit der ganzen Welt bezieht, enthält de-
(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/
nen, die aus der ganzen Welt bei uns leben, das Mit-
GRÜNE) bestimmungsrecht bei Kommunalwahlen vor! Ein un-
Wir brauchen weitreichende Perspektiven in der verständlicher Zustand!
Umweltpolitik, worüber sich in diesem Hause alle
grundsätzlich einig sind. Es spricht alles dafür, um ein (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/
GRÜNE)
Beispiel zu nennen, daß wir heute noch einmal in
einer riesigen Kraftanstrengung so viel Geld, so viel Schließlich und nicht endlich: Ich glaube, daß wir
Innovationsmut, so viel Phantasie in die Entwicklung wirklich mutigere Schritte zur Gleichstellung der
neuer Energiepfade investieren, wie wir es weiland Frauen in unserem Land brauchen.
mit der Kernenergie getan haben. Es wäre auch tech-
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/
nologisch ein riesiger Schritt in die Zukunft. GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/
(Beifall bei der SPD) Linke Liste)
Es spricht alles dafür, eine grundlegende Reform Die Gesellschaft und auch die Politik sind auf diesem
der Verkehrspolitik in die Wege zu leiten, um die Wege nach wie vor außergewöhnlich zögerlich. Wir
verstopften Straßen und die erstickenden Städte da- brauchen die in der Geschichte verschütteten Werte
durch zu entlasten, daß der öffentliche Personennah- der Frauen, wir brauchen die Talente der Frauen zum
verkehr eine neue Chance bekommt. Aufbau neuer Strukturen in unserer Gesellschaft. Es
(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ ist die verdammte Pflicht und Schuldigkeit der führen-
GRÜNE) den Politik, dem Elend der Ungleichstellung endlich
ein Ende zu bereiten.
Ich glaube, daß es unserer neuen Republik auch gut
anstünde — — - (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/
GRÜNE sowie bei Abgeordneten der FDP
(Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: „Neue und der PDS/Linke Liste)
Republik"?)
Ich habe es hier noch miterlebt: Vor knapp neun
— Doch, sind wir. Jahren trat die Bundesregierung unter dem Anspruch
(Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Wollen an, eine geistig-moralische Erneuerung in Deutsch-
Sie eine neue Republik?) land herbeizuführen.
— Wir sind auf dem Wege zu einer neuen Republik, (Zurufe von der SPD — Gegenruf des Abg.
indem zwei Teile zusammengewachsen sind. Das Hans Klein [München] [CDU/CSU]: Bei euch
bringt wirklich eine neue Qualität mit sich. ist es uns nicht gelungen!)
(Beifall bei der SPD — Dr. Wolfgang Bötsch Wir haben damals alle gestaunt, und jene, die gerade
[CDU/CSU]: Eine neue Qualität ja, aber nicht mehr an der Regierung waren, waren — das
nicht eine neue Republik!) kann man ja sagen — tief beeindruckt und haben
gedacht, nun komme ein Jahrzehnt tiefgreifender, vor
— Herr Kollege Bötsch, wenn ich sagen würde: „die
allem auch moralischer Erneuerung.
alte Republik", dann würden 16, 17 Millionen Men-
schen sagen, irgend etwas möchte ich in das Neue (Zuruf von der CDU/CSU: Die Einheit!)
auch einbringen. Wenn man heute dezent fragt, was aus diesem großen
(Beifall bei der SPD) Anspruch geworden ist, wo er auch in Ihren Bilanzen
Lassen wir es dabei, daß es ein rheto rischer und kein wieder einmal aufgetaucht ist, dann muß man lange
ideologischer Konfli kt sei. suchen. Dieser Beg riff scheint — selbst bei den deut-
schen Kabarettisten — in Vergessenheit geraten zu
Ich glaube, daß wir neue Anläufe für mehr Libera- sein.
lität und Toleranz in Deutschland brauchen.
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD — Hans
(Zuruf von der CDU/CSU: Das hört die FDP Klein [München] [CDU/CSU]: Sie haben sich
gern!) diese Rede wohl in jenen Kreisen schreiben
Warum eigentlich wagen wir nicht gemeinsam, in ei- lassen!)
ner Streitfrage, die so quer durch alle Fronten unseres Sie müssen zugeben: Was man in den Zeitungen über
Volkes geht wie die Frage des Regierungssitzes, dem die Koalitionsdiskussionen liest, spricht auch nicht un-
Volk die endgültige Entscheidung zu überlassen? bedingt für die Erfüllung dieses Anspruchs.
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ (Beifall bei der SPD)
GRÜNE)
Im letzten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts ist es an
Warum eigentlich gibt es einen so tiefen und erbitter- der Zeit, daß es in unserem Land wieder mehr politi-
ten Streit um die Frage, ob die Ausländer in Deutsch- sche und auch geistige Führung gibt, eine Führung,
land nicht wenigstens ein kommunales Wahlrecht be- die Ziele vorgibt, die Perspektiven aufzeigt, die Kräfte
kommen? im Volke bündelt, die Menschen Mut macht, sie her-
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ ausfordert und mitreißt. Wir haben wohl selten eine so
GRÜNE — Zustimmung des Abg. Dr. Wolf große Chance gehabt wie bei dem Prozeß der Eini-
gang Weng [Gerungen] [FDP]) gung der Deutschen, aus der Selbstzufriedenheit, der
2068 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Ministerpräsident Björn Engholm (Schleswig-Holstein)


Gemächlichkeit und der gelegentlichen Lethargie gen in dieser Rede zunächst zu dieser Wahl zum Vor-
herauszukommen und im letzten Jahrzehnt zu zeigen, sitzenden gratulieren.
wozu wir fähig sind.
(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten
(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ der CDU/CSU und der FDP)
GRÜNE) — Sehen Sie, jetzt habe auch ich es geschafft, am
Ich möchte, daß wir am Ende dieses Jahrzehnts sagen Anfang von allen Beifall zu bekommen.
können, wir hätten Deutschland mit gemeinsamer
(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Im Nach-
Kraft aufgebaut, ein Deutschland, in dem fast alle
ahmen waren Sie schon immer gut!)
Menschen eine sichere Zukunft haben und sich nicht
vor der Zukunft fürchten müssen, ein Deutschland, in Ich möchte aber auch unseren Respekt für die Ar-
dem eine starke Ökonomie allen ausreichend Arbeit beitsleistung ausdrücken, aber nicht nur dafür, son-
und Einkommen verschafft, ein Deutschland, von dem dern auch für die Leistung für die deutsche Demokra-
die Welt sagt, es sei ökologisch vorbildlich und setze tie, die Ihr Vorgänger Hans-Jochen Vogel in diesem
seine ganze Kraft für den Erhalt seiner Umwelt ein, ein Amt vollbracht hat.
Deutschland, in dem Frauen nicht mehr — wie heute (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD
noch — benachteiligt werden, und ein Deutschland, in und dem Bündnis 90/GRÜNE)
dem auch neue Möglichkeiten der Mitbestimmung
des Volkes in Politik, in Wirtschaft und Gesellschaft Beim Thema Arbeitsleistung fällt mir natürlich et-
erschlossen worden sind, was ein.
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Ar
GRÜNE) beitslose z. B.!)
und vor allem ein Deutschland, das seine neue Größe Björn Engholm, Sie haben mal gesagt, so hart wie Hel-
und seine Kraft dazu nutzt, wirtschaftlich, sozial, öko- mut Kohl und Jochen Vogel wollten Sie nun doch
logisch die schwächeren in Europa und in- der Welt zu nicht arbeiten. Die müßten verrückt sein, so hart zu
unterstützen, aber nicht für andere Dinge. arbeiten. Dann muß ich Ihnen sagen: Mit dem Amt,
was Sie jetzt übernommen haben, und dem, welches
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ Sie möglicherweise anstreben, müssen Sie sich schon
GRÜNE) in die Nähe der Arbeitsbelastung von Hans-Jochen
Meine Damen und Herren, hierin liegt eine riesige Vogel und Helmut Kohl bewegen.
Herausforderung unserer Generation und derjenigen, (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und
die jetzt in politischer Verantwortung stehen. Hierin der FDP — Zuruf der Abg. Ing ri d Matthäus
liegt eine unglaubliche Chance derer, die dieses Jahr- Maier [SPD] — Weitere Zurufe von der
zehnt politisch zu gestalten haben. Diese Chance nut- SPD)
zen heißt, unsere Zukunft sichern. Diese Chance ver-
passen heißt, die eigene Zukunft verpassen. — Daran kann doch gar nicht gezweifelt werden.
Auch ich gehöre zu der Generation. Auch ich habe
(Anhaltender lebhafter Beifall bei der SPD Schwierigkeiten, mich an der Arbeitsbelastung von
und Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE — Helmut Kohl und Hans-Jochen Vogel zu orientieren.
Dr. Hans-Jochen Vogel gratuliert Minister Aber ich versuche es zumindest. Die Verantwortung,
präsident Björn Engholm — Zurufe von der die Sie, Herr Engholm, übernommen haben, ist natür-
CDU/CSU: Aha!) lich ungeheuer groß, und die Aufgaben in diesem
Lande kann man nur mit einer Einstellung bewälti-
gen, wie sie der Bundeskanzler und auch der Hans-
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Meine Damen und Jochen Vogel in den letzten Jahren gehabt haben.
Herren! Darf ich, bevor ich das Wort an den Abgeord- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und
neten Volker Rühe weitergebe, Ihre Aufmerksamkeit der FDP)
auf einen österreichischen Gast lenken? — Auf der
Herr Engholm, Sie haben dann Helmut Schmidt zi-
Ehrentribüne hat die Vizepräsidentin des Nationalra-
tiert und gesagt, wir müßten alle Kosten aufbringen,
tes der Republik Österreich Platz genommen, Frau
wie groß sie immer sind, damit die Einheit ein Erfolg
Dr. Heide Schmidt, ist. Dem kann man nur zustimmen. Nur: Wie war denn
(Beifall im ganzen Hause) Ihre Politik in den eineinhalb Jahren, als es darauf
die ich ganz herzlich begrüßen möchte. ankam? Das war doch eine Politik der Entsolidarisie-
rung des deutschen Volkes, die die SPD bet rieben
Nun hat der Abgeordnete Volker Rühe das Wort. hat.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Sie haben doch unseren Mitbürgern im Westen gesagt
Volker Rühe (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe „Der Helmut Kohl gibt das ganze Geld im Osten aus",
Kolleginnen und Kollegen! Lieber Björn Engholm, und im Osten haben Sie gesagt „Der Helmut Kohl gibt
(Zurufe von der SPD) euch immer noch nicht genug". Das war doch die dop-
— Entschuldigung, wir kennen uns schon länger, und pelzüngige Politik, die Sie bet rieben haben, eine Poli-
zwar auch aus diesem Hause — , das war Ihre erste tik der Entsolidarisierung. Damit muß endlich Schluß
Rede im Bundestag nach Ihrer Wahl zum Vorsitzen- gemacht werden.
den der SPD. Deswegen möchte ich trotz vieler Passa (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2069
Volker Rühe
Ich habe ein besonders krasses Beispiel mitge- Ich muß Ihnen sagen — ich fange einmal an mit der
bracht, für das Sie sich sicherlich schämen werden. Rede des Bundeskanzlers am 19. Dezember 1989 in
Dresden —, daß der Bundeskanzler von Anfang an
(Zurufe von der CDU/CSU) — ich habe es in Leipzig auch miterlebt —, sich gera-
—Nein, es ist nicht die „Bild"-Zeitung. Es ist die „Zei- dezu der Begeisterung entgegenstemmend,
tung am Sonntag", herausgegeben vom SPD-Partei-
(Zuruf von der SPD: Und jetzt?)
vorstand, Ausgabe vom 18. November 1990. Da heißt
es: „Schöne Bescherung. Leere Regale vor Weihnach- auf die Schwierigkeiten des Weges hingewiesen
ten. Kunden empört. Lieferungen in den Osten ver- hat.
knappen Angebot. "
(Unruhe und Widerspruch bei der SPD)
(Zurufe von der CDU/CSU: Pfui!) —Entschuldigung! Der Bundeskanzler hat am 19. De-
Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands hat sich zember 1989 in Dresden gesagt:
damals hinter die Leute gestellt, denen es schon eine
(Zurufe von der SPD)
zu große Last für die Wiedervereinigung war, daß sie
einmal ein paar Tage auf ihren Videorecorder warten „Lassen Sie mich angesichts dieser Begeisterung, die
mußten. Das ist doch eine Schande! mich so erfreut, sagen, wie schwierig dieser Weg in
die Zukunft sein wird. " Und er hat das immer wieder-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — holt und auf die Opfer hingewiesen. Er hat dann aller-
Zurufe von der CDU/CSU: Unglaublich! — dings hinzugefügt:
Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Ein echter
Rühe!) (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Keine Steu
ererhöhung!)
— Entschuldigung, das ist eine echte SPD hier, Frau
Däubler-Gmelin, eine echte SPD-Zeitung. Sie sind „Aber ich bin sicher, gemeinsam werden wir es schaf-
mitverantwortlich. - fen. "
(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Ein echter (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Keine Steu
Rühe! Und immer gegeneinander!) ererhöhung!)
Dann muß man sich anhören, was die saarländische Sehen Sie, das ist das, was die Menschen bei Ihnen
Landesregierung noch heute sagt. Sie sagt: Liebe In- vermißt haben, nämlich daß Sie sagen: Ihr seid uns
vestoren, in der ehemaligen DDR, in den neuen Bun- herzlich willkommen, und gemeinsam werden wir es
desländern ist das zu unsicher. Kommt ins Saarland! schaffen. — Das hat man von Ihnen nicht gehört.
(Zuruf von der FDP: Unglaublich! — Zuruf (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —
von der CDU/CSU: Pfui! — Weitere Zu- Zurufe von der SPD)
rufe) Herr Engholm, Sie haben soeben noch einmal den
Ist das die Solidarität, die gelebte Solidarität? Versuch gemacht, das Ergebnis der Bundestagswahl
mit dem Mythos der Wahrhaftigkeit zu erklären, den
(Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der Sie hier für sich in Anspruch nehmen.
CDU/CSU: Freund Lafontaine! — Dr. Herta
Däubler-Gmelin [SPD]: Ein echter Rühe!) (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Steuerlüge
heißt das Ding!)
Das heißt: Anspruch und Wirklichkeit gehen weit aus-
einander. Deswegen will ich schon einmal einen Augenblick
darüber sprechen, warum es denn zu diesem Wahler-
(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Immer das gebnis gekommen ist.
gleiche! — Weiterer Zuruf von der SPD: Sa
gen Sie mal was zur Arbeitslosigkeit!) Tatsache ist doch, daß sich die Sozialdemokratische
Partei Deutschlands bequem in der Zweistaatlichkeit
Deswegen finde ich, Herr Engholm, daß in diese eingerichtet hatte,
Debatte auch ein Wort der Anerkennung für die Steu-
erzahler, auch im Westen, gehört, wenn in diesem (Beifall bei der CDU/CSU)
Haushalt 90 Milliarden DM, also fast jede vierte Mark, siehe SPD/SED-Papier. Noch an dem Tage, an dem
einheitsgebunden ausgegeben wird. Das ist gelebte die Mauer niederging, sprach Herr Momper vom Volk
Solidarität der Regierungspolitik. der DDR. Sie sprechen heute davon, wie wichtig es ist,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) das deutsche Volk zu einigen. Lafontaine machte
Druck auf die Bundestagsfraktion, den Vertrag über
Herr Engholm, Sie haben dann, wie auf dem Partei- die Wirtschafts- und Währungsunion zu verhindern.
tag, so auch hier wieder, versucht, einen Mythos der
Wahrhaftigkeit für sich in Anspruch zu nehmen und Nein, wir sind gewählt worden, weil wir erstens
haben im Zusammenhang mit uns diesmal nicht ge- konsequent und glaubwürdig für die deutsche Einheit
sagt „übers Ohr gehauen" , aber Sie haben gesagt eingetreten sind, Herr Engholm.
„hinters Licht geführt", „Täuschung " und was Sie da (Beifall bei der CDU/CSU)
noch alles an schlimmen Vokabeln verwandt haben.
Zweitens. Die Menschen, insbesondere im östlichen
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Paß auf! — Teil Deutschlands, wollten den Sozialismus in wel-
Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Wahl- cher Form auch immer als untaugliche Utopie abwäh-
lügner! ) len. Deswegen haben sie die Partei gewählt, die die
2070 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Volker Rühe
größte Distanz zum Sozialismus hatte. Das waren hätten einen historischen Fehler gemacht, wenn wir
nicht Sie. Das waren wir, und das bleiben wir auch. Ihnen gefolgt wären.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ordneten der FDP) Wir haben Fehler gemacht. Aber nur durch uns sind
Sie haben damals von einem dritten Weg gespro- große, nicht wieder gutzumachende historische Feh-
chen. Es gibt bei Ihnen schon jetzt wieder Leute, die ler vermieden worden. Deswegen sage ich Ihnen:
sagen, es sei auch eine Chance, daß der reale Sozia- Meine Partei ist stolz darauf, in einer zentralen Frage
lismus gescheitert sei; denn jetzt könne man wieder der deutschen Politik nicht versagt, sondern die rich-
über die Utopie sprechen und sozusagen einen näch- tigen historischen, politischen Entscheidungen getrof-
sten Anlauf machen. Nein, Sie sind nicht gewählt wor- fen zu haben.
den, weil Sie in der damaligen Auseinandersetzung (Beifall bei der CDU/CSU — Ministerpräsi
die Distanz zum Sozialismus nicht glaubwürdig einge- dent Björn Engholm [Schleswig-Holstein]
halten haben. wird von Abg. Dr. Gregor Gysi [PDS/Linke
Liste] beglückwünscht — Zurufe von der
(Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der CDU/CSU: Oh!)
SPD: Hamburg!)
— Jetzt nimmt er schon die Glückwünsche von Herrn
— Ich kenne natürlich auch Hamburg. Aber jetzt re- Gysi entgegen. Ich dachte, diese Zeiten wären vor-
den wir doch über Ihre Behauptung, wir hätten uns bei.
den Wahlsieg erschlichen.
(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP —
(Beifall bei der SPD) Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sie können es
Deswegen sage ich Ihnen, warum wir diese histori- nicht lassen! — Dr. Hans-Jochen Vogel
schen Bundestagswahlen gewonnen haben. [SPD]: Sowas mieses!)

Die Wähler haben sich drittens für die- Union ent-


schieden, weil sie ihr als Partei der Sozialen Markt- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Abgeordneter
wirtschaft am ehesten zutrauten, mit den ungeheuren Rühe, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeord-
Problemen der deutschen Einheit fertig zu werden. neten Duve?

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Sehr


Volker Rühe (CDU/CSU): Bitte, ja.
glaubwürdig!)
Auch die Menschen in den neuen Bundesländern
wußten doch, daß Sie 1982 abtreten mußten, weil Sie Freimut Duve (SPD): Herr Kollege Rühe, stimmen
mit den wirtschaftlichen Problemen des westlichen Sie mir darin zu, daß es guter parlamentarischer
Deutschlands nicht fertig wurden. Brauch ist, daß man sich, wenn jemand, der Mitglied
des deutschen Parlaments ist, einem seinen Glück-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge wunsch ausspricht oder irgend etwas sagt, mit ihm
ordneten der FDP — Wolfgang Roth [SPD]: unterhält und daß es ein schlechter parlamentarischer
Deshalb hat Helmut Schmidt einen so guten Stil ist, wenn man dies zur politischen Propaganda
Ruf!) mißbraucht, wie Sie es soeben getan haben?
Warum sollte man ausgerechnet Ihrer Partei, die mit (Beifall bei der SPD)
der Luxussituation hier im Westen, die man potentiell
schaffen kann, nicht fertig wird, zutrauen — auch
Volker Rühe (CDU/CSU): Es ist guter parlamentari-
heute noch —, mit den Wirtschaftsproblemen und den
scher Stil, wenn Herr Engholm, mit dem ich ja hier
sozialen Problemen Gesamtdeutschlands fertig zu
argumentiere, zuhört. Sich von Herrn Gysi gratulieren
werden? Das war doch der Punkt.
lassen kann er auch noch später.
(Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
Auch die Regierungskoalition hat Fehler gemacht. ordneten der FDP — Widerspruch bei der
Das haben wir deutlich gemacht. Die Kosten zur Be- SPD)
seitigung der Erblast des Sozialismus sind falsch ein- Wir sind als CDU stolz darauf, das Ziel erreicht zu
geschätzt worden. Es wäre aus heutiger Sicht richtig haben, mit dem wir 1982 angetreten sind: Frieden
gewesen, die Frage einer möglichen Steuererhöhung schaffen mit weniger Waffen. — Gegen den erbitter-
offenzulassen. ten Widerstand der SPD und ihrer Sympathisanten
haben wir den NATO-Doppelbeschluß in der Bundes-
(Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Hört! Hört!)
republik durchgesetzt und damit den Weg frei ge-
Aber jetzt lassen Sie uns einmal über die Fehler spre- macht für ein Umdenken in der sowjetischen Führung
chen, die vermieden worden sind. und einen internationalen Abrüstungsprozeß ohne
(Ing ri d Matthäus-Maier [SPD]: Das war ein Beispiel.
bißchen schnell, Herr Kollege!) (Beifall bei der CDU/CSU)
Wir haben einen entscheidenden Fehler nicht ge- Die reale Abrüstung, die heute auf Grund des Ab-
macht. Als sich die historische Chance zur Einheit bot, baus der politischen Spannungen in Europa möglich
da haben wir entschieden gehandelt, während Sie auf ist, geht weit über die kühnsten Träume hinaus, die
Verzögerung und Langsamkeit setzten. Heute wissen manche Anfang der 80er Jahre gehabt haben.
wir: Wir hätten diese historische Chance verpaßt, wir (Zuruf von der SPD)
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2071
Volker Rühe
Die Sozialdemokraten haben den Wunsch nach —Wir haben Herrn Engholm auch nicht durch Fragen
Wiedervereinigung lange Zeit als eine Belastung un- unterbrochen.
seres Verhältnisses zu den europäischen Nachbarn (Norbert Gansel [SPD]: So geht man nicht mit
angesehen. — Wir sind stolz darauf, das große Ziel der Zitaten um, Herr Rühe!)
deutschen Einheit mit den Nachbarn erreicht zu ha-
— Sie können ja fragen, wenn ich es im Zusammen-
ben. Deutsche Einheit und europäische Einheit — das
hang vorgetragen habe.
gehört zusammen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Gansel, wenn
der FDP) Sie einen Augenblick warten! Sie erhalten gleich das
Wir sind schließlich auch stolz darauf, einen wesent- Wort als Fragesteller.
lichen Beitrag dazu zu leisten, die Spaltung Europas
zu überwinden und den jungen Demokratien im Volker Rühe (CDU/CSU): Richard Schröder, der
Osten die Heimkehr nach Europa zu erleichtern. Vorsitzende der SPD in der Volkskammer, hat in ei-
nem Artikel in der „Zeit" unter der Überschrift „Ohne
Das sind natürlich nicht alles Erfolge allein unserer Unrecht in Frieden leben" folgendes gesagt:
Politik.
Das mindeste, was eine Rechtsgemeinschaft ga-
(Freimut Duve [SPD]: Ist nicht wahr?!) rantieren muß, ist das Existenzrecht ihrer Mitglie-
Ohne den Prozeß tiefgreifender politischer Wandlun- der, und zwar nicht nur der edlen und mächtigen.
gen in Europa hätten wir das so nicht erreichen kön- Saddam Hussein hat ein Mitglied der Staatenge-
nen. Aber wahr ist auch: Ohne die klaren politischen meinschaft liquidiert, was auf individualrechtli-
Grundsätze, die von Konrad Adenauer bis Helmut cher Ebene dem Mord entspricht. Wenn dies un-
Kohl für die CDU immer verbindlich waren, wäre all gestraft möglich ist, dann allerdings haben wir
dies nicht erreicht worden. Deswegen sind wir stolz Grund zur Resignation. Kuwait hat innenpoliti-
auf dieses Ergebnis unserer Politik. - sche Reformen nötig. Aber das ist eine andere
Frage. Auch im Völkerrecht muß Euthanasie ver-
(Beifall bei der CDU/CSU) boten sein.
Herr Engholm, Sie haben in vielen Punkten sehr Mich würde interessieren, ob Sie hinter dieser Aus-
vage gesprochen. Deswegen möchte ich jetzt eine sage von Richard Schröder stehen. Ich kann nur voll
Reihe von sehr konkreten Fragen an Sie richten. Sie unterstreichen, was dieser Sozialdemokrat gesagt
haben sich z. B. dem ganzen Feld der Außen- und hat.
Sicherheitspolitik überhaupt nicht gewidmet. Ich (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
weiß nicht, wie man eine so große Volkspartei anfüh- ordneten der FDP)
ren will, wie man den Anspruch auf Regierungsver-
antwortung stellen kann, ohne daß man im Deutschen Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Abgeordneter
Bundestag klipp und klar über die Fragen der Außen- Rühe, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage?
und Sicherheitspolitik Auskunft gibt.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Volker Rühe (CDU/CSU): Ja.
ordneten der FDP)
Sie sind ja schon in der Golfkrise und im Golfkrieg Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Gansel!
durch große Schweigsamkeit aufgefallen.
Norbert Gansel (SPD): Herr Kollege Rühe, würden
(Zuruf der Abg. Dr. Herta Däubler-Gmelin Sie bitte erstens zur Kenntnis nehmen,
[SPD])
(Zuruf von der CDU/CSU: Keine Frage!)
Herr Gansel hat auf dem Parteitag gesagt: Wenn man
daß ich das von Ihnen zitierte Wort über den Unter-
einem blutigen Diktator militärisch in den Arm zu fal-
schied zwischen moralischer und moralisierender Po-
len versucht, und andere stehen dann beiseite — ist litik auf dem Bremer SPD-Parteitag im Zusammen-
das moralisch, oder ist das moralisierend? — Er hat für
hang mit der Diskussion über Blauhelme, also über
sich die Antwort gegeben: Das ist moralisierend. friedenserhaltende Missionen der UNO, gesagt habe?
(Zurufe von der SPD) Zweitens. Wenn es Ihnen darum geht, einem Diktator
in den Arm zu fallen, warum haben dann die Regie-
Richard Schröder, der frühere Vorsitzende der SPD rungsparteien nicht während des Golfkriegs im Bun-
Fraktion in der Volkskammer, hat in einem Artikel destag eine Verfassungsänderung beantragt, um un-
(Abg. Norbert Gansel [SPD] meldet sich zu ter der Führung der Ame ri kaner auf der Grundlage
einer Zwischenfrage) von UNO-Beschlüssen mit deutschen Soldaten und
deutschen Wehrpflichtigen am Golfkrieg beteiligt zu
— lassen Sie es mich einmal im Zusammenhang dar- sein? Warum stellen Sie diese Frage erst jetzt?
stellen —
(Norbert Gansel [SPD]: Sie haben mich ange- Volker Rühe (CDU/CSU): Das ist ja wohl unglaub-
sprochen!) lich, angesichts Ihres Verhaltens in der Golfkrise, wo
in der „Zeit" — — Sie es uns unmöglich machen wollten, ein Mindest-
maß an Solidarität mit den Verbündeten zu wahren,
(Norbert Gansel [SPD]: Sie haben mich und wo Sie gegen jede Zahlungen an die Verbünde-
falsch zitiert, Herr Kollege!) ten waren, jetzt eine solche Frage aufzuwerfen. Es war
2072 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Volker Rühe
doch beschämend, wie Sie sich damals verhalten ha- Besonders überrascht hat mich die Bemerkung über
ben. das Buch von Konrad Seitz. Da ich das Buch selber
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gelesen habe und auch viel mit dem Verfasser gespro-
chen habe, freue ich mich zunächst einmal, daß Sie es
Im übrigen hat sich die Blauhelmdiskussion doch aus ansprechen. Daß aber ausgerechnet Sie uns Japan als
der Situation des Golfkrieges ergeben. Vorbild hier vorhalten, wo Sie ansonsten für die 35-
Herr Gansel, wir waren doch zusammen in Israel. Stunden-Woche und ähnliches eintreten, dazu kann
Deswegen ist es so beschämend, daß dazu kein Wort ich nur sagen: Sie haben ein weites Feld der Arbeit in
von Björn Engholm gekommen ist. Es kommt doch Ihrer Partei, um dort die Japaner als unser Vorbild
darauf an, konkrete Friedenspolitik zu machen. Das durchzusetzen.
heißt: Wie bekommt der Israeli in den Wohnungen (Beifall bei der CDU/CSU)
und Straßen von Tel Aviv seinen Frieden vor den
Scud-Raketen? Den bekommt man doch nicht durch Ich frage Sie: Wie stehen Sie zu dem Industrie-
Moralisieren und durch Schweigen; das wissen Sie standort Bundesrepublik in Europa? Wir wollen, daß
doch ganz genau. Es geht doch um konkrete Frie- durch die staatlichen Rahmenbedingungen deutsche
denspolitik. Unternehmen nicht schlechtergestellt sind als ihre
Konkurrenten in den europäischen Nachbarstaaten.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Deswegen, Herr Engholm, frage ich Sie ganz konkret:
Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Das ist Wie stehen Sie zu Plänen, die Wettbewerbsfähigkeit
doch unglaublich, was Sie da sagen! Sie lü unserer Industrie und damit auch die Arbeitsplätze in
gen schon wieder! Moralisch abqualifi Deutschland durch eine Reform der Unternehmens-
ziert!) besteuerung zu sichern? Auch dazu muß ein Wort
Lafontaine hat im vergangenen Jahr, unwiderspro- kommen, wenn Ihnen die Wettbewerbsfähigkeit am
chen von der Parteiführung, gefordert, daß die Bun- Herzen liegt.
deswehr auf 200 000 bis 230 000 Mann -verkleinert (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
wird. Sie haben auf Ihrem SPD-Parteitag jetzt sogar
beschlossen, langfristig alle Streitkräfte überflüssig zu Sie haben dann über das Asylproblem gesprochen.
machen. Herr Engholm, ich frage Sie: Stehen Sie zu Es gibt eine größere und wachsende Zahl von sozial-
einer Bundeswehr in einer Größenordnung von demokratischen Bürgermeistern, die begreifen, daß es
370 000 Mann? Stehen Sie zu dem Auftrag der Bun- mit dem Mißbrauch des Asylrechts so nicht weiterge-
deswehr, zu unseren Streitkräften? Auch dazu hätte hen kann. Aber auch dazu gibt es von Ihnen keine
ich mir ein Wort gewünscht. konkreten Angebote, sondern nur eine leere Formel:
Wir brauchten ein modernes Einwanderungsrecht.
(Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Nur wenn
es um Stationierung vor Ort geht, dann ja!) Nun frage ich Sie, Herr Engholm: Was meinen Sie
damit? Meinen Sie, daß wir Quoten einführen sollen
Wie sehen Sie die Rolle der NATO? und Ausländer nur quotiert in unser Land kommen
(Freimut Duve [SPD]: Ist das wirklich die sollen, oder sind Sie mit uns der Meinung, daß wir eine
Rede eines führenden CDU-Politikers?) Grundgesetzänderung brauchen, um den Asylmiß-
brauch abzuwenden und gemeinsam mit unseren eu-
In dem Beschluß, den Sie auf Ihrem Parteitag gefaßt ropäischen Nachbarn Standards zu schaffen?
haben, kommt die NATO nur im negativen Sinne vor.
Es wird der Abzug aller Ame ri kaner gefordert, und es (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
wird davor gewarnt, daß aus der NATO ein Bündnis ordneten der FDP)
Nord gegen Süd wird. Mit einer solchen Formel „modernes Einwanderungs-
Für uns bleibt die NATO die Grundlage unserer recht" — alles, was modern ist, ist ja gut — werden Sie
Sicherheit. Dort schaffen Ame ri kaner und Europäer nicht durchkommen. Sie müssen hier Farbe beken-
die gemeinsame Sicherheit, die wir auch in Zukunft nen, was Sie wirklich wollen.
brauchen. Es gibt kein Wort von Ihnen, wie Sie zu Ich finde, wir hätten auch ein Wort von Ihnen zur
dieser Nordatlantischen Verteidigungsgemeinschaft Verfassungsdiskussion gebraucht, denn hier gibt es
stehen. sehr weitreichende Vorstellungen in Ihrer Partei. Sie
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) haben sich zur Volksabstimmung in der Frage des
Regierungssitzes bekannt. Ich muß Ihnen sagen: Das
Wir wollen den raschen Aufbau in den neuen Bun-
ist eine Politik, die unser Land zutiefst spalten würde.
desländern. Sie haben es selbst angesprochen, daß
Deswegen unterstütze ich alle diejenigen, die sich um
wir wenig Zeit haben. Der Verkehrsminister hat un-
einen Konsens bemühen, damit es am 20. Juni hier in
konventionelle Wege vorgeschlagen,
diesem Raum eine befriedende Lösung gibt.
(Lachen bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —
damit schneller gebaut werden kann. Sie wissen, was Manfred Opel [SPD]: Sie stört das Volk offen-
das auch für Schleswig-Holstein bedeutet. Ich frage sichtlich!)
Sie ganz konkret, Herr Engholm: Wie stehen Sie zu
einem Beschleunigungsgesetz? Wie stehen Sie dazu, Wir müssen die Verfassung europatauglich machen.
daß wir bürokratische Hürden abschaffen müssen, um (Wolfgang Roth [SPD]: Ist die Schweiz zu-
schnell Fortschritte für unsere Mitbürger zu errei- tiefst gespalten?)
chen? — Wer uns mit der Schweiz vergleichen will — von der
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Größenordnung her — und wer im übrigen die Pro-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2073
Volker Rühe
blerne dort nicht sieht, der hat nicht begriffen, was wir neuen Bundesländern gibt, die sehr problemgeladen
uns aufladen würden, wenn wir plebiszitäre Elemente ist.
in unsere Verfassung einführten. Ich finde, wir müssen uns mit der Frage auseinan-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dersetzen, ob wirklich der Vergleich zwischen Dres-
den und Köln, Rostock und München überhaupt legi-
Wir haben eine gute Verfassung, eine Verfassung, tim ist. Wer heute solche Vergleiche anstellt, verbin-
die nach innen und außen Stabilität und Vertrauen det doch damit die Erwartung, daß bereits im Jahr 1
signalisiert. Deswegen auch die Frage an Sie: Wollen des wiede rvereinigten Deutschland die Spuren von
Sie eine ganz andere Verfassung? Wollen Sie dort z. B. 40 Jahren gescheitertem Sozialismus beseitigt sind.
Rechte hineinschreiben wie das Verfassungsrecht auf Eine solche Betrachtungsweise ist doch unrealistisch
Arbeit und andere, die nur ein Staat garantieren und für die politische Diskussion nicht brauchbar.
könnte, der auch wirklich über die Produktionsmittel
verfügt? Der richtige Vergleichsmaßstab für die Lage in den
neuen Ländern findet sich in der Gegenüberstellung
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Du lieber mit den anderen ehemals sozialistischen Staaten. Und
Gott, nein!) dann müssen Sie feststellen: Es gibt einen gewaltigen
Wer heute eine ganz neue Verfassung fordert, Fortschritt in Deutschland.
(Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: „Neue (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Republik" haben die gesagt!) Umfragen zeigen, daß die Hoffnung zunimmt. Der
der muß sich fragen lassen, ob er nicht in Wirklichkeit wirtschaftliche Strukturwandel ist in Gang gekom-
auch eine ganz neue Gesellschaftsordnung, einen men. Über 1 600 Bet riebe wurden bereits privatisiert.
ganz neuen Staat fordert. Das kann nicht unser Ziel Seit Anfang 1990 sind rund 350 000 Bet riebe, vor al-
sein. lem im Dienstleistungsbereich und im Handwerk, neu
entstanden, ferner 2 Millionen neue Beschäftigungs-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) verhältnisse im Zeitraum November 1989 bis zum
Die Wirtschafts- und Währungsunion ist vor weni- heutigen Tage. Allein in diesem Jahr 50 Milliarden
ger als einem Jahr in Kraft getreten. Die deutsche Ein- DM öffentliche Investitionen zur Modernisierung der
heit wurde vor acht Monaten vollzogen. Ich finde, es Infrastruktur. Ich meine, alle diese Zahlen stehen
ist wichtig, in dieser Situation den Menschen in den eben auch für eine Wende zum Besseren.
neuen Ländern auch Mut und Zuversicht zu vermit- Erstmals nehmen auch die Rentner an einem
teln, gegen Resignation und Zukunftsangst anzuge- System des dynamischen Fortschritts teil. Norbe rt
hen. Deshalb möchte ich ausdrücklich den sächsi- Blümhatesirvognpche:Iralb
schen Bischöfen danken, die in der Woche vor Pfing- von 12 Monaten sind die Renten im Schnitt um 66 %
sten gemeinsam festgestellt haben: gestiegen. Deswegen möchte ich angesichts der An-
Die bereits gewonnene Freiheit, die wachsende griffe, die auch vorgestern wieder gegen Norbert
Einheit und die demokratische Grundordnung Blüm gefahren worden sind, sagen: Wir sind dem Ar-
sind bei weitem wertvoller als der noch nicht er- beitsminister, der sich von der ersten Minute an mit
reichte wirtschaftliche Aufschwung. heißem Herzen für die Wiedervereinigung und auch
für die soziale Einheit in Deutschland eingesetzt
Ich finde, das sollte ein Satz sein, der von allen Par- hat,
teien in diesem Parlament mitgetragen wird.
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Wer hat denn
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie die Sozialunion gemacht?)
bei Abgeordneten der SPD)
für die großen Erfolge dankbar, die er hier bereits
Die Wiederherstellung der Einheit hat allen Deut- durchgesetzt hat, z. B. für die Rentner.
schen Vorteile gebracht. Unfreiheit, Unrecht und Tei-
lung wurden überwunden. Aber wir sollten — und wir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
sind dazu bereit — in der Diskussion, die wir führen, Die Sozialdemokraten — ob es ihnen gefällt oder
nicht den Fehler machen, je nach parteipolitischem nicht —
Standpunkt die Realität entweder in Rosarot oder in
(Freimut Duve [SPD]: Ihre Rede ist weit mehr
Tiefschwarz zu beschreiben, wobei sich das ohnehin
heiße Luft als Substanz!)
überkreuzt: die Roten schwarzmalen und die Schwar-
zen rosarot. Das ist nicht überzeugend. Probleme dür- müssen sich entscheiden: Wollen Sie an dem schwie-
fen nicht verniedlicht werden, aber Erfolge auch nicht rigen Aufbau in den neuen Bundesländern konstruk-
unterschlagen werden. tiv mitarbeiten, oder wollen Sie auf den Marktplätzen
die Krise schüren? Sie müssen sich entscheiden: Wol-
Wer von Kosten und Lasten redet, der sollte gerech-
len Sie Mut machen, oder wollen Sie miesmachen?
terweise auch von den Chancen und den Erträgen
Und Sie müssen sich auch entscheiden, ob Ihre Sym-
sprechen. Die Fakten, die es schon heute auf der Ha-
pathie dem Eierwerfer von Halle oder den Menschen
benseite einer Zwischenbilanz gibt, dürfen nicht un-
gehört, die anpacken und versuchen, die Wende zum
terschlagen werden.
Besseren in Deutschland wirklich herbeizuführen.
Später wird auf die sehr gute wirtschaftliche Situa-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
tion im Westen hingewiesen werden, auf den höch-
sten Beschäftigungsstand seit Kriegsende. Das ändert Es gibt in Ihren Reihen ganz interessante Vorgänge:
nichts daran, daß es eine tiefe Anpassungskrise in den Der Ministerpräsident von Brandenburg, Herr Stolpe,
2074 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Volker Rühe
hat sich auch in dieser Woche wieder lobend dahin auch nicht reibungslos zu bewältigen. Es gibt an den
geäußert, wie vernünftig die Politik für die Herstel- Universitäten der neuen Länder — übrigens nicht nur
lung der inneren Einheit Deutschlands sei, welche dort — sicherlich mehr als 10 000 Werke, in denen die
Fortschritte es gegeben habe und daß es nicht um Umwandlung einer „kapitalistischen" Wirtschaft in
zusätzliche Vorschläge gehe, sondern jetzt darauf an- eine sozialistische beschrieben wird. Aber weltweit
komme, die schon gemachten Vorschläge auch umzu- existiert — das ist meine Behauptung — nicht ein ein-
setzen. ziges wissenschaftliches Werk, das den umgekehrten
Weg beschreiben würde.
Auf Ihrem Parteitag hat er ganz anders geredet. Das
will ich ihm einmal einen Moment lang nicht vorwer- (Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: So ist
fen. Viel interessanter ist, was man sagen muß, um auf es!)
einem SPD-Parteitag gewählt zu werden. Das ist doch
das eigentlich Interessante daran. Wir alle betreten hier Neuland. Es wäre doch absurd,
daraus einen politischen Vorwurf zu konstruieren
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU so oder gar die Behauptung aufzustellen, man verfüge
wie bei Abgeordneten der FDP) über andere und neue Rezepte, die schneller und bes-
Es ist schon bestürzend, daß ein Mann, der zwölf Mo- ser zum Ziel führen würden, als wir uns das vorge-
nate — darauf beruht ja auch seine Popularität; ich nommen haben.
schätze ihn sehr, ich kenne ihn lange — die Wahrheit (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
gesagt hat, Herr Engholm, nämlich daß es Fortschritte
gibt, daß die Politik der Bundesregierung völlig richtig Der wirtschaftliche Aufbau in den neuen Ländern
ist — er hat mir wörtlich gesagt, als ich ihn besucht wird oft mit dem Aufbau in den 50er Jahren in der
habe: Die Lage ist weit besser als die Stimmung —, alten Bundesrepublik verglichen. Richtig an diesem
das Kreuz hat, zu Ihrem Parteitag gehen zu müssen Vergleich ist, daß der Aufschwung auch damals nicht
und sich dort wählen zu lassen. Und dort sagt er genau über Nacht gekommen ist. Es bedurfte damals mehre-
das Gegenteil dessen, was er sonst gesagt - hat. Das rer Jahre harter Arbeit, bis ein erster bescheidener
sagt nichts gegen Stolpe, aber das sagt alles gegen die Wohlstand erreicht worden war. Aber wie ungleich
Art der Diskussion in Ihrer Partei. Denn Stolpe ist sind doch die Rahmenbedingungen, unter denen sich
schnell wieder zu seinen alten Aussagen zurückge- der wirtschaftliche Umstrukturierungsprozeß heute
kehrt. vollzieht. Während der Marshallplan — es ist eine
ganz wichtige Zahl, die ich jetzt nenne, und die Älte-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — ren werden sich genau daran erinnern, und die Jün-
Freimut Duve [SPD]: Das war ein gewaltiger geren müssen das wissen — für jeden Einwohner im
rheto rischer Sieg, den Sie da gerade errun Westen Deutschlands seinerzeit 800 DM vorsah, sind
gen haben! — Dr. Herta Däubler-Gmelin es heute 6 100 DM pro Bürger in den neuen Bundes-
[SPD]: Salto mortale rückwärts!) ländern, die im Rahmen des Gemeinschaftswerkes
Ich denke aber, über einen Punkt sollte es zwischen Aufschwung Ost zur Verfügung gestellt werden. Ich
Demokraten keinen Dissens geben: Der Weg in finde, das ist ein historisch bedeutender Einsatz, der
Deutschlands gemeinsame Zukunft kann mit den Re- sich auch in dieser historischen Perspektive sehen las-
präsentanten des alten SED-Regimes nicht gelin- sen kann.
gen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Ing ri d Matthäus-Maier [SPD]: Das ist rich- Ich weiß natürlich, daß heute psychologisch eine
tig!) schwierigere Situation gegeben ist; denn damals ha-
Dem demokratischen Neubeginn muß auch eine per- ben alle bei Null angefangen. Es ging sozusagen allen
sonelle Erneuerung entsprechen, in einem Land gleich schlecht. Es ist ein psychologi-
sches Problem, das wir heute haben. Trotzdem sollten
(Zuruf von der SPD: Auch bei Ihnen!) wir, was diesen materiellen Einsatz der Solidarität
damit sich die Opfer von einst nicht ein zweites Mal angeht, auf diesen historischen Vergleich hinwei-
betrogen fühlen müssen. Wer sich im SED-Staat in sen.
führender Position schuldig gemacht hat, muß nach Ich kann keine neuen Vorschläge der Sozialdemo-
rechtsstaatlichen Grundsätzen zur Verantwortung ge- kraten entdecken. Herr Stolpe, vorhin zitiert, hat ge-
zogen werden. sagt: Jetzt sind wir dran, die politisch Verantwortli-
(Zustimmung bei der CDU/CSU) chen in den neuen Bundesländern. Was nützt es uns,
wenn wir noch mit weiteren Investitionsmitteln zuge-
Wir wollen keinen kurzen Prozeß; aber gutes Recht schüttet werden, wenn wir sie nicht umsetzen kön-
muß auch schnelles Recht sein. Es darf nicht der Ein- nen? — Das ist eine richtige Aussage.
druck entstehen, daß der Staat vor denen kapituliert,
die in der Vergangenheit vom Unrecht profitiert ha- Herr Engholm, in Ihrer Rede hat die Solidarität als
ben. Begri ff eine große Rolle gespielt. In der Tat ist es die
Pflicht zur Solidarität, die uns diese große finanzielle
(Ing ri d Matthäus-Maier [SPD]: Das ist rich Kraftanstrengung machen läßt: 90 Milliarden DM al-
tig!) lein in diesem Haushalt für die neuen Bundesländer.
Es ist wahr: Die Herstellung der inneren Einheit Aber wir müssen uns doch einmal mit der Frage be-
Deutschlands, also die Angleichung der Lebensver- schäftigen, warum wir materiell zu dieser ungeheuren
hältnisse, ist die entscheidende Aufgabe, an der wir Solidarität überhaupt in der Lage sind. Die Antwort
alle gemessen werden. Sie ist nicht kurzfristig und ist: nur weil wir eine richtige Wirtschafts- und Finanz-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2075
Volker Rühe
politik durchgeführt haben und damit überhaupt erst — Wenn es dann konkret wird, sehen wir mal wei-
die Voraussetzungen dafür geschaffen haben, daß wir ter.
teilen können.
Ansprüche an Leistungen des Staates, die in der
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) alten Bundesrepublik gut begründet und geboten wa-
ren, müssen unter den neuen Bedingungen der Ein-
Es ist richtig, daß wir teilen müssen; doch wir können heit überprüft und gegebenenfalls korrigiert werden,
heute nur teilen, weil wir ein Finanzvolumen erwirt- wenn neue Prioritäten notwendig sind.
schaftet haben durch die erfolgreiche Wirtschaftspoli-
tik hier im Westen in den vergangenen Jahren, das Das gilt für die Besitzstände aller sozialen Gruppen,
uns materiell zur Solidarität fähig gemacht hat. Herr Engholm, auch im Bereich von Steuervergünsti-
gungen und Subventionen. Ich halte es für nicht ver-
Was ich Ihnen sagen möchte, ist: Solidarität wäre tretbar, im geeinten Deutschland auf Dauer Einzel-
ein bloßes Wort, wenn Ihre Wirtschaftspolitik fortge- gruppen in den alten Ländern mit Beiträgen und Sub-
setzt worden wäre. Deswegen verwahre ich mich ge- ventionen zu privilegieren, die weit größer sind als die
gen das Wort von der Holzklasse, die wir auf Dauer in Mittel des Gemeinschaftswerks Aufschwung Ost.
Deutschland einrichten wollten. Es kommt nicht dar-
auf an, von Solidarität zu sprechen, sondern darauf, Ich glaube, daß alle gefordert sind zu zeigen, ob sie
eine erfolgreiche Wirtschafts- und Finanzpolitik zu wirklich bereit sind, die alten Ausgabenstrukturen zu
machen, damit wir in der Lage sind, zu teilen, damit überprüfen, oder ob sie eine Politik der verbalen Soli-
wir in der Lage sind, die Holzklasse zu beseitigen. Das darität mit den neuen Bundesländern betreiben und
ist die richtige Politik. im übrigen sagen: Aber bitte im Ruhrgebiet und an-
derswo im Westen nichts Neues. Mit dieser Formel
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) „Im Westen nichts Neues" werden wir es nicht schaf-
fen. Sie werden daran gemessen werden, inwieweit
Was wollen Sie denn verteilen? Es wird zu Recht Sie bereit sind, mit uns zusammen diesen Weg zu
davon gesprochen, daß man von West nach Ost um- gehen.
verteilen muß. Das ist ja auch Ihr großes Thema. Nur,
wenn es nichts gibt, wenn Sie keine Erfolge in der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wirtschaftspolitik haben wie 1982, könnten Sie gar Die Sozialdemokraten haben auf ihrem Bundespar-
nicht teilen. Das wollen wir unseren Mitbürgern sa- teitag gesagt, die Zeit sei reif für eine gemeinsame
gen. Die Voraussetzung für das Teilen ist, daß man in Rolle Europas auf der Bühne der Welt; jetzt müsse
der Wirtschaftspolitik Erfolg hat. Deswegen gehören Deutschland uneingeschränkt ja sagen zu Europa.
wirtschaftliche und soziale Kompetenz einer Regie-
rung in einen unlösbaren Zusammenhang. Nur in ei- Ich muß Ihnen sagen: Wer so redet, dann aber den
ner leistungsfähigen Wirtschaft kann soziale Gerech- europäischen Nachbarn die Solidarität verweigert
tigkeit garantiert werden. Diesen doppelten Kompe- und sagt „Wenn es einmal um die Existenzfrage der
tenznachweis sind die Sozialdemokraten schuldig ge- Europäer geht, dann macht ihr das bitte allein" , ist
blieben. europaunfähig. Das sind Sie in Wirklichkeit mit Ihren
Beschlüssen zur Außen- und Sicherheitspolitik.
Lassen Sie mich noch eine letzte Bemerkung zu die-
sem Thema machen. „Im Westen nichts Neues", (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Hans-Jo-
chen Vogel [SPD]: Sie können ja nicht mal
(Manfred Opel [SPD]: Bei Rühe auch einen Ausschuß auf die Beine bringen!)
nicht!)
Mich hat besonders eine Aussage von Herrn Lafon-
das ist ein berühmter Romantitel. Als Überschrift über taine auf Ihrem Bundesparteitag im Zusammenhang
das Buch unserer gemeinsamen Zukunft eignet sich mit der Diskussion über die neue weltpolitische Ver-
dieser Satz aber nicht. Ich meine das sehr ernst. Das ist antwortung des wiedervereinigten Deutschlands be-
ein Appell an alle, die aus dem Westen kommen. Des- stürzt. Lafontaine — das ist noch viel zuwenig beach-
halb ist es unsere Aufgabe, das Bewußtsein dafür zu tet worden — hat folgendes gesagt: Andere hätten
schaffen, daß das Gemeinsame in Deutschland eben Angst, zu Opfern zu werden; die Deutschen müßten
auch etwas Neues ist, daß dieses Neue auch neues Angst haben, wieder zum Täter zu werden.
Denken und Umlernen erforderlich macht.
Ich muß Ihnen als Vertreter einer mittleren Genera-
Angesichts der Dimension der Aufgaben, die zu tion, der sein gesamtes bisheriges politisches Leben
bewältigen sind, muß grundsätzlich geprüft werden, und seinen Einsatz der Stabilität dieser deutschen
zu welchen Konsequenzen die gegenwärtigen Mehr- Demokratie gewidmet hat, sagen: Es ist unglaublich,
belastungen der öffentlichen Haushalte führen müs- welches Mißtrauen gegenüber der neuen deutschen
sen. Eine höhere Verschuldung sowie eine weitere Demokratie, gegenüber uns Deutschen aus diesem
Belastung des Steuerzahlers können nicht in Betracht Satz spricht.
kommen, solange nicht alle Möglichkeiten von Ein-
sparungen und Umschichtungen auch ausgeschöpft (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
sind. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir sagen, daß Es ist unglaublich, daß Franzosen und Engländer
wir doch noch keine gemeinsame politische Tages- mehr Vertrauen zu dieser neuen deutschen Demo-
ordnung in Deutschland haben. Im geeinten Deutsch- kratie haben als Herr Lafontaine und die Sozialdemo-
land müssen die Maßstäbe für staatliche Ausgaben kratie, wenn sie hinnimmt, daß ein solcher Satz gesagt
neu gesetzt werden. wird.
(Manfred Opel [SPD]: Ja, macht das doch!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
2076 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Volker Rühe
Ich empfinde das auch als einen persönlichen An- schen Partei gehalten haben — ich hatte gestern zum
griff auf alle, die wirklich diese großartige Chance der zweitenmal Gelegenheit, Ihnen dazu meinen persön-
neuen deutschen Demokratie genutzt haben. Diejeni- lichen Glückwunsch auszusprechen — , hat sich vom
gen, die noch als Soldaten, als ganz junge Flakhelfer Stil her angenehm abgehoben von dem, was wir hier
in den Krieg mußten — meine Lehrer, die ich in den in der letzten Zeit von anderen sozialdemokratischen
50er Jahren hatte, waren in einer solchen Situation —, Ministerpräsidenten gehört haben.
haben uns alle dazu gebracht, politische Verantwor- Am Schluß Ihrer Rede haben Sie die Ziele für ein
tung zu übernehmen. Diesem Deutschland kann man Deutschland in etwa zehn Jahren formuliert. Herr
trauen. Man darf ihm nicht auf Dauer mißtrauen. Wir Engholm, wer wollte Ihnen da nicht zustimmen? In
haben ein Recht auf Vertrauen, auch ein Recht auf diesem Punkt ist nicht viel zu bestreiten. War es aber
Normalität. Das müssen die Sozialdemokraten begrei- nicht ein wenig so wie schon in Bremen? Wir haben
fen. uns sehr bemüht, auf das Konkrete, auf die Umset-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zung, auf die Markierung der Schritte auf dem Wege
Im übrigen gilt — Herr Lamers hat es vor kurzem zur Erreichung dieses Ziels zu hören. So sehr viel
gesagt — : Die Berufung auf die Schuld in der Vergan- haben Sie dazu aber auch heute wieder nicht gesagt.
genheit dispensiert nicht von der Verantwortung in Eine Volksabstimmung wird dazu nur wenig beitra-
der Gegenwart. Die Sehnsucht nach schuldfreiem gen. Im Gegenteil! Glauben Sie, daß eine Volksab-
Handeln darf nicht zur Flucht in die Scheinidylle füh- stimmung, die frühestens im nächsten Jahr stattfinden
ren. Schuldig werden kann auch, wer sich verwei- kann, zusammen mit einer Auseinandersetzung, die
gert. dem vorhergehen und an einen bitteren Wahlkampf
erinnern wird, zu mehr Toleranz und mehr — —
(Dr. Alfred Dregger [CDU/CSU]: Sehr rich
tig!) (Zuruf von der SPD: Warum eigentlich?)
Haben Sie noch die Bilder von den Leichen vor — Weil es so sein wird! Wir erleben die Diskussionen
Augen, die man in Kuwait in den Kühlschränken
- ge- doch heute schon. Machen wir die Augen vor dem zu,
funden hat? Wissen Sie noch, was mit denen gesche- was dann passieren wird? Wir erleben es doch jeden
hen war? Sind nicht auch diejenigen, die zugewartet Tag. Wie können Sie dann noch fragen, warum? Sind
und gesagt haben „Wir machen da nichts!" Täter, die Sie nur selten in Bonn oder selten im Parlament und
eine Mitschuld gegenüber diesen Opfern haben? Man nehmen an der Diskussion nicht teil? Ich glaube, das
kann auch durch Nichthandeln schuldig werden. Das kann für uns nicht sehr hilfreich sein.
ist doch wohl eindeutig.
Sie sind einigermaßen konkret geworden, als es um
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) die Länderfinanzen ging. Das ist Ihr gutes Recht als
Wer hat denn das Morden in den deutschen Konzen- Ministerpräsident. Ich werde darauf noch zurückkom-
trationslagern gestoppt? Doch wohl nicht Demon- men. Ich frage Sie aber, ob es auch Ihr gutes Recht im
stranten mit einer zutiefst moralischen Position in Lon- Hinblick auf den Einigungsprozeß in Deutschland ist.
don und New York, sondern Soldaten der Alliierten Sie haben interessanterweise das Buch von Konrad
haben das Morden in den Konzentrationslagern in Seitz zitiert und auf das japanische Beispiel hingewie-
Deutschland gestoppt und den Aufbau einer neuen sen. Meiner Ansicht nach kommen Sie damit aber elf
Demokratie in Deutschland ermöglicht. Sie aber wol- Jahre zu spät, wie Sie wissen. Das habe ich nämlich
len sich in einer Situation, in der es darum geht, inter- schon im Jahre 1980 unter lebhaftem Protest Ihrer Par-
nationales Recht wiederherzustellen, grundsätzlich teifreunde getan.
verweigern? Das ist doch nicht nachvollziehbar. (Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — CDU/CSU — Wolfgang Roth [SPD]: Indu-
Freimut Duve [SPD]: Wovon sprechen Sie ei- striepolitik haben Sie immer abgelehnt! MITI
gentlich?) haben Sie immer abgelehnt! Erzählen Sie
Im Augenblick haben Sie zwar Erfolge in den Län- doch keine Märchen!)
dern, aber ich glaube, daß das, was in Bremen zur — Das lehne ich auch heute noch ab, damit wir ganz
Wirtschafts- und Sozialpolitik, zur Außen- und Sicher- klar sind.
heitspolitik gesagt oder nicht gesagt worden ist, zeigt,
daß Sie noch einen sehr, sehr langen Weg zur Regie- (Wolfgang Roth [SPD]: Aber der Seitz fordert
rungsfähigkeit auf Bundesebene vor sich haben. Das es!)
ist auch gut so. — Ich habe ja nicht gesagt, daß ich die Vorschläge von
Vielen Dank. Herrn Seitz übernehme und unterstütze.
(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und (Wolfgang Roth [SPD]: Ja eben! Machen Sie
der FDP) doch keinen Eiertanz!)
Ich habe gesagt, daß ich auf das japanische Beispiel
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat der und die dort erwirtschafteten Ergebnisse schon vor elf
Abgeordnete Dr. Graf Lambsdorff. Jahren hingewiesen habe, und zwar unter lebhaftem
Streit, damals wohl auch schon mit Ihnen, Herr Roth,
Herr Berater Roth.
Dr. Ott o Graf Lambsdorff (FDP): Frau Präsidentin!
(Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU)
Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Herr
Engholm, die erste Rede, die Sie hier in Ihrer neuen Meine Damen und Herren, das, was Herr Engholm
Eigenschaft als Vorsitzender der Sozialdemokrati- heute gesagt hat, hat mich auch ein wenig an den Sil-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2077

Dr. Otto Graf Lambsdorff


vesterabend des Jahres 1990 erinnert. Da war die Welt liegt. Das hat mit Ideologie überhaupt nichts zu tun,
nicht nur bei uns voller Hoffnung. Hatten die Ereig- und von Ideologie sollte man hier Abstand nehmen.
nisse des Jahres 1990 nicht den gerechtfertigten Aus- Sie haben Schweden als Beispiel zitiert. So, Herr
blick auf eine Ära des Friedens, der Menschenrechte, Engholm, darf man, glaube ich, Beispiele, mit Verlaub
der freiheitlichen, der demokratischen Entwicklung gesagt, nicht zitieren, wie Sie es getan haben.
weltweit eröffnet? Und dann kam es doch so ganz
anders: der Golfkrieg, das Elend der Kurden, bren- Sicher, die Arbeitslosenquote in Schweden ist noch
nende Ölquellen, der Ausbruch nationalistischer Strö- niedriger, als Sie gesagt haben; im vorigen Jahr be-
mungen in Ost- und Südosteuropa, Schüsse in Wilna trug sie 1,5 % Daß die Inflationsrate bei 11 % liegt,
und Riga — gestern und vorgestern war es wieder gehört aber ebenfalls in dieses Bild; daß der Staatsan-
sehr unerfreulich dort — , weltweite Rezession. Alles teil bei 60% liegt, gehört ebenfalls in dieses Bild; daß
das hat uns auf den harten Boden der Erkenntnis zu- der Staatshaushalt aus den Fugen gerät, gehört eben-
rückgebracht, daß diese Welt wohl doch nicht die be- falls da hinein. Schließlich — das wissen Sie natürlich
ste aller Welten ist. Aber sie ist unsere, und wir müs- ganz genau — gehört auch hinein — ich erwarte nicht,
sen mir ihren Problemen fertig werden. daß Sie das vortragen —, daß Ihre sozialdemokrati-
schen Freunde in Schweden zur Zeit nach allgemeiner
Auch die Deutschen hat der Alltag wieder einge- Einschätzung überhaupt keine Chance mehr haben,
holt. Aber ist es wirklich der Alltag? Alltäglich ist die die nächste Wahl zu gewinnen. Auch das wissen
Aufgabe, unser Land in allen Bereichen wieder zu Sie.
einen, wahrhaftig nicht. Eigentlich ist es das Gegen-
teil von Alltag. Es gibt — Herr Rühe hat recht — kein (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU —
Beispiel in der Geschichte für diesen Prozeß. Es gibt Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: So wie bei Ih
kein volkswirtschaftliches Lehrbuch, kein Rezept, wie nen!)
man eine Planwirtschaft über Nacht in eine markt- Meine Damen und Herren, 1991 hat zumindest
wirtschaftliche Ordnung integriert. Es ist, wie der einen Glanzpunkt gebracht: die Wiedererlangung
Bundeswirtschaftsminister kürzlich zu Recht- gesagt der vollen deutschen Souveränität durch die Ratifizie-
hat, auch ein Prozeß des „learning by doing". Es ist zu rung des Zweit-plus-Vier-Vertrages im sowjetischen
Fehleinschätzungen gekommen, und es werden nicht Parlament. Das war in diesem Jahr. Das war der
die letzten gewesen sein. Schlußpunkt einer Politik, die 1990 die historische
Chance zur deutschen Einheit erkannt und genutzt
(Zustimmung bei der CDU/CSU)
hat. Wir wissen heute, daß es eine kurze historische
Einige wären vermeidbar gewesen, alle sicher nicht. Sekunde war. Es ist das Verdienst dieser Bundesre-
gierung und dieser Koalition, entschlossen gehandelt
Ich sage, es ist wichtig, meine Damen und Herren, zu haben. Ich behaupte, allein dieses Verdienst recht-
daß wir uns die Fähigkeit und Breitschaft bewahren, fertigt ihren Erfolg bei den Bundestagswahlen am
Irrtümer, wenn wir sie erkennen, einzugestehen; 2. Dezember 1990.
denn nur dann kann man sie korrigieren.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Die Entscheidungen des Jahres 1990, insbesondere
Hüten wir uns davor, uns ideologisch einzugraben! die Währungsunion vom 1. Juli 1990, haben immense
Unbeweglichkeit ist gefährlich. Ihre Folgen baden die ökonomische Konsequenzen. Es war aber keine öko-
Menschen aus, in unserer Situation vor allem die nomische, es war eine politische Entscheidung; und
Menschen in den fünf neuen Bundesländern. sie war richtig. Die Folgen dieser Entscheidung waren
und sind tiefgreifend. Die Probleme türmen sich. Die
Das Stichwort Ideologie ist ja gestern und heute Arbeitslosigkeit wächst. Die verständliche Einkom-
mehrfach aufgekommen. Ideologie ist kein guter Rat- menserwartung der Menschen einerseits und die Pro-
geber. Sich über das Maß an Ideologie hin und her zu duktionskosten andererseits schaffen ein kaum aufzu-
streiten lohnt nicht. Aber, meine Damen und Herren, lösendes Dilemma. Die Zerstörung der Rechtsinstitute
wenn Ideologie für fundamentale Grundüberzeugung durch 40 Jahre Kommunismus erschweren Verwal-
und auch für eine politische Grundhaltung steht und tung und Investitionen. Die alten Seilschaften plagen
spricht, dann wünsche ich mir allerdings lieber Streit immer noch die Menschen. Jeder hier kennt die Stich-
und Diskussionen mit politischen Zeitgenossen, die worte, und sie lassen sich doch so schnell vermehren:
solche fundamentalen Grundüberzeugungen haben Handel statt Produktion, Altschulden, Umweltaltla-
und vertreten. Daß sie die Beweglichkeit behalten sten, Stasi-Akten usw. usw.
müssen, auch zu korrigieren, daß man Ausnahmen
von fundamentalen Grundüberzeugungen machen Die fünf neuen Bundesländer und damit wir alle
muß, das ist in der Tat wahr. haben ein schweres Jahr 1991 vor uns. Warteschleife,
Betriebsstillegungen sind nur zwei weitere Stich-
Aber, Herr Engholm, von laissez faire kann doch worte. Aber es gibt doch auch Beispiele, Herr Eng-
weiß Gott keine Rede sein. Sehen Sie sich bitte einmal holm, meine Damen und Herren, daß es sich zum Bes-
das Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost mit dem seren wendet. Es gibt eine Menge sichtbarer p rivater
weiten Katalog von Eingriffsmaßnahmen und von In- Initiative. An vielen Orten laufen Investitionen an. Die
terventionen an. Ist das laissez faire? Sehen Sie sich Treuhandanstalt — Sie haben es erwähnt, Herr
doch bitte einmal an, daß mehr als 50 % des Bruttoso- Rühe — hat fast 2 000 Bet riebe verkauft. Überall im
zialprodukts, das wir in der alten Bundesrepublik Land wird gebaut. Für Wohnungsmodernisierung und
Deutschland erwirtschaften, schon nicht mehr rein Instandsetzung sind 3,2 Milliarden DM Kredite von
marktwirtschaftlichen Wettbewerbsgesetzen unter- Privaten beantragt worden. Es wird nicht mehr nur
2078 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Dr. Otto Graf Lambsdorff


Westware gekauft, ja, es wird Ostware in die alten — Aber da gibt es natürlich unterschiedliche Meinun-
Bundesländer geliefert. gen, selbstverständlich. Aber ich werfe ja nicht mit
Eiern, verehrter Herr Kollege. Herr Kubicki wirft auch
Bei diesem Stichwort, meine Damen und Herren, nicht mit Eiern: Sie werden sich wundern, das tut er
möchte ich darum bitten, daß bei der Vergabe öffent- nicht, Herr Roth.
licher Aufträge — auch durch den Bund und ihm zu-
gehörende Institutionen, und ich habe Anlaß, das zu Es bleibt wichtig, daß wir im Westen der Bundesre-
sagen — darauf Rücksicht genommen wird, daß die publik alles in unseren Kräften Stehende tun, um den
Aufträge an solche Unternehmen gehen, die drüben Aufbau der fünf neuen Bundesländer zu erreichen.
produzieren, und nicht nach altem Verteilerschlüssel Hier, Herr Engholm, teile ich Ihre Bewertung nicht.
gehandhabt wird. Ich bleibe bei dem, was wir hier so oft gesagt haben.
Die finanziellen Beiträge der alten Bundesländer ka-
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der
men zu spät, sie kamen zu zögerlich. Ich schätze auch
SPD — Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Rich
— dies muß ich Ihnen offen sagen — den Vergleich
-tig!)
oder die Behauptung: strukturschwaches Land, für
Aber sollten wir nicht gemeinsam versuchen, der wen auch immer — auch für Schleswig-Holstein —,
Regel entgegenzuwirken, daß nur schlechte Nach- nicht mehr, wenn er in den alten Dimensionen vorge-
richten Nachrichten sind? Warum sprechen wir immer tragen wird. Selbstverständlich sind Sie ein struktur-
vom halbleeren und nicht vom halbvollen Glas, wenn schwaches Land oder waren es — es geht Ihnen ja
wir uns mit der Entwicklung in den fünf neuen Bun- besser, auch schon vor Ihrer Zeit — im Vergleich zu
desländern beschäftigen? Baden-Württemberg und Bayern. Aber vergleichen
Sie sich mit Sachsen-Anhalt und Thüringen, und dann
Ihr stellvertretender Vorsitzender, Herr Thierse, hat wissen Sie, wo die strukturschwachen Länder lie-
in Bremen gesagt: So hätte er sich die Wirklichkeit der gen.
deutschen Einheit in seinen schlimmsten Alpträumen
nicht vorgestellt. Hat er wirklich Alpträume
- der deut- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
schen Einheit gehabt? Ich will gerne einräumen, viel-
leicht zu viele Freudenträume gehabt zu haben, aber Es ist nachweisbar, daß zur Zeit alle alten Bundes-
Alpträume nicht. länder an der deutschen Einheit verdienen und das
Mehr an Steuereinnahmen ungerührt kassieren. Das
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der ist die Wahrheit. Wenn Sie daran etwas ändern wol-
CDU/CSU) len, Herr Ministerpräsident, dann frage ich Sie: Wie ist
Herrn Stolpes Bemerkung in Bremen ist von Ihnen, es denn mit dem Länderfinanzausgleich? Muß er
Herr Rühe, angesprochen worden. Ich habe gestern denn wirklich bis 1995 warten? Nach unserer Mei-
mit Herrn Stolpe darüber gesprochen. Ich habe ihn nung nicht.
gefragt, was er mit der Bezeichnung „Manchester (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU —
Kapitalismus" in Bremen angerichtet habe und damit Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Der Bund kas
sagen wollte. Er hat mir erklärt, daß er diejenigen
siert!)
gemeint habe, die dort nach Wildwestmanier p rivater
Initiative in den fünf neuen Bundesländern ihr Wesen Für die Zukunft muß sich das ändern. Ich fordere für
und ihr Unwesen treiben. Damit hat er in der Tat völlig die FDP erneut, daß wir in den nächsten Jahren darauf
recht. verzichten, die alte Bundesrepublik noch schöner zu
(Zuruf von der SPD: Das gibt es doch!) machen, daß wir uns jetzt einmal mit dem bisher Er-
reichten zufriedengeben und daß wir alles Mehr an
Er hat ausdrücklich bestätigt, daß er nicht etwa die Wachstum und Steuereinnahmen jetzt zum Wieder-
Wirtschaftspolitik der Bundesregierung und der Ko- aufbau der neuen Länder einsetzen.
alition damit meine.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU —
Friedrich Bohl [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Noch einmal: Herr Engholm, bitte vernebeln Sie
nicht die Spuren des Verhaltens der Länder im deut-
Das nimmt sich sehr viel besser aus. Aber es wirft ein schen Einigungsprozeß! Sie haben sich finanziell
interessantes, wenn auch nur kleines, Schlaglicht auf nicht angemessen verhalten; sie haben sich bei der
den Zustand Ihrer Partei, das Herr Rühe angespro- Festlegung der Stimmenverteilung im Bundesrat un-
chen hat: Der Eierwerfer von Halle, wobei ich die gewöhnlich unsolidarisch verhalten, sie haben den
Reaktion so interessant finde. Die Partei in Bremen neuen Ländern nicht die geringste Einwirkungsmög-
nimmt ihn auf, die Partei in Halle sagt: Wir hätten ihn lichkeit gegeben. Sie fanden alles von Ihnen vorf abri-
nicht wiederhaben wollen. Das ist das Bild Ihrer Par- ziert und vorentschieden vor. Sie selber kann ich nicht
tei, das Sie heute noch bieten. zitieren, aber ich vergesse nicht den Ausspruch des
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU!) niedersächsischen Ministerpräsidenten Schröder:
„Die da drüben sollen sich jetzt selber krummlegen! "
Meine Sympathie gehört übrigens denen in Halle, um — Größere Herzlosigkeit habe ich im Umgang mit den
das gleich hinzuzufügen, falls sich jemand einer Täu- neuen Bundesländern bei niemandem verspürt.
schung hingibt.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Heiterkeit bei der CDU/CSU — Zuruf von
der SPD: Aber es gibt auch bei Ihnen unter Ich will meine Zweifel an der Wirksamkeit solcher
schiedliche Meinungen!) Appelle, nämlich das Mehr jetzt drüben einzusetzen
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2079

Dr. Otto Graf Lambsdorff


— schon das Wort „drüben" sollten wir bald bleiben eigentlich unserer Auffassung! — Dr. Hans
lassen —, Jochen Vogel [SPD]: Herr Hirsch sagt genau
dasselbe!)
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das ist rich
-tig!) Will die SPD morgen das Paket zur Finanzierung des
nicht verschweigen. Gemeinschaftswerks Aufschwung Ost in den Ver-
mittlungsausschuß bringen und damit das Finanzauf-
Meine Damen und Herren, es geht uns alle an. Wer kommen für die fünf neuen Bundesländer gefähr-
in den letzten Wochen in Hamburg durch die Wahl- den?
plakat-Allee vom Flughafen zur Innenstadt gefahren
ist, der konnte es ja lesen: Alle Plakate versprachen (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Nur besser
mehr, aber den Hamburgern, nicht den Rostockern finanzieren!)
oder den Chemnitzern.
Wir werden außerdem mit Interesse sehen, ob Sie,
(Volker Rühe [CDU/CSU]: „Weniger Hafen meine Damen und Herren von der SPD-Bundestags-
straße" haben wir gesagt! — Dr. Hans-Jo fraktion, sich mit der minoren Rolle begnügen wer-
chen Vogel [SPD]: Und weniger Stimmen den, die Ihnen der saarländische Ministerpräsident
sind herausgekommen!) zuweist.
Meine Damen und Herren, das Jahr 1991 hat uns
sehr schnell vor die Frage der gewachsenen interna- (Zurufe von der SPD)
tionalen Verantwortung des ungeteilten Deutschland — Das tut er.
gestellt. Vielleicht zu schnell? Die Deutschen sind da-
bei, ihre Rolle zu finden und zu definieren. Die FDP Meine Damen und Herren, deutsche Politik muß
hat das auf der Sitzung ihres Bundeshauptausschus- und wird europäische Politik sein. Wir Liberale wollen
ses in Hamburg vor 14 Tagen getan. Es ging uns um die europäische politische Union. Dazu gehört eine
die Beschreibung einer dem Frieden in der Welt,- der gemeinsame europäische Außen- und Sicherheits-
Freiheit und der Demokratie gewidmeten deutschen politik. Die gemeinsame Verteidigungspolitik muß
Verantwortungspolitik. Es ging uns um mehr als nur Teil der Sicherheitspolitik der Atlantischen Allianz
um den Bundeswehreinsatz. Aber diesem Problem sein. Es macht wenig Sinn, wenn NATO und WEU
sind wir auch nicht ausgewichen. einen öffentlichen Wettlauf der Beschlüsse auf diesem
Die Sozialdemokratische Partei, Herr Engholm, hat sensiblen Gebiet veranstalten.
eine unzulängliche, eine romantische, sympathische (Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Sehr rich
— vielleicht — , aber damit eine wirklichkeitsfremde
-tig!)
Antwort gegeben. Damit wäre eine deutsche Regie-
rung nicht bündnisfähig, weder in Europa noch in der Uns scheint es zweifelhaft, ob der Beschluß der
Atlantischen Allianz. Die Entscheidung des Bremer NATO-Verteidigungsminister über eine schnelle Ein-
Parteitages erinnert mich stark an die einseitige Abrü- satztruppe das letzte Wort sein wird. Die französi-
stungshaltung der britischen Labour Party. Damit war schen Bedenken sind nachvollziehbar. Die nuklearen
die Labour Party lange Jahre nicht bündnisfähig und Kurzstreckenwaffen der NATO müssen weg. Hatten
folglich auch nicht regierungsfähig. Das gilt auch für wir diese Diskussion, Herr Bundesverteidigungsmini-
die SPD nach ihren Bremer Beschlüssen. ster, nicht längst hinter uns?
Erfolge in den Ländern ersetzen keine fundamenta- (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Hört! Hört!
len außen- und sicherheitspolitischen Defizite.
Das weiß Herr Stoltenberg immer noch
(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr wahr!) nicht!)
Die Erfolge in den Ländern, meine Damen und Her- Die Gemeinschaft ist auf dem Weg zur Europäi-
ren, haben Ihnen die Mehrheit im Bundesrat ge- schen Währungsunion, zu einer europäischen Wäh-
bracht. Wir werden sehr schnell sehen, ob Sie eine rung. Noch aber sind die Vorbedingungen, eine unab-
Verantwortungsmehrheit oder eine Blockademehr- hängige europäische Zentralbank und die Konver-
heit wollen. genz der Wirtschaftspolitiken der Mitgliedstaaten,
(Zuruf von der FDP: Sehr richtig!) nicht erfüllt. Es ist abzusehen, daß nur ein Teil der
Mitgliedstaaten der EG fähig und bereit sein wird,
Insbesondere Sie, Herr Engholm, als neuer Parteivor- diese Voraussetzungen zu erfüllen. Müssen wir dann
sitzender, werden jetzt zeigen müssen, wie Sie Ihre auf lange Zeit auf weitere Integrationsfortschritte ver-
Position als Ministerpräsident mit der neuen Aufgabe zichten?
verbinden und zur Geltung bringen.
Die Frage verschärft sich noch beim Thema Vertie-
Schon haben die Sozialdemokraten die verschärften
fung oder Erweiterung. Dürfen Polen, die Tschecho-
Bestimmungen des Außenwirtschaftsgesetzes gegen
slowakei, Ungarn, dürfen Österreich und demnächst
illegalen Waffenexport angehalten und die Bundes-
Schweden deshalb nicht in die Europäische Gemein-
regierung damit außenpolitisch bloßgestellt. Was tau-
schaft? Die Erweiterung ist in der Tat eine hochpoliti-
gen eigentlich Ihre Bemerkungen gegen illegale Waf-
sche Frage. Aber die Europäische Gemeinschaft ist
fenschieber?
keine westeuropäische Gemeinschaft. Prag, Buda-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — pest, Warschau sind europäische Städte, auch Wien.
Wolfgang Roth [SPD]: Ein Kompromiß wäre Vielleicht lesen Kommission und Ministerrat einmal
in zwei Minuten zu finden gewesen! Sie sind Art. 237 und die Präambel des Römischen Vertrages.
2080 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Dr. Otto Graf Lambsdorff


Der Vertrag gibt jedem europäischen Staat das Recht, mertal ist, wie Sie es am Anfang Ihrer Rede gekenn-
Mitglied der Gemeinschaft zu werden. zeichnet haben?
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU —
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der
Zuruf der Abg. Ing rid Matthäus-Maier
SPD)
[SPD])
Die bevorstehende Währungsunion erhöht wahr- — Doch, Frau Matthäus, es war schon der Hinweis auf
scheinlich die Notwendigkeit des Europa der zwei ein Jammertal. Ganz versteckt lag darin auch ein
Geschwindigkeiten. Ökonomisch ist das wohl unab- Kompliment für den gesetzlichen Anspruch auf So-
weisbar. Politisch ist es sehr heikel, wenn ich an ein so zialhilfe und dies völlig zu Recht. Das gibt es nur in
bewährtes Partnerland wie Italien und an andere wenigen Ländern. Ich finde es unerhört, wenn Sie
denke. Es wird hoher diplomatischer Kunst bedürfen, sagen, daß dies allmählich in eine Wohlfahrts- und
um Verwerfungen zu vermeiden. Wohltätigkeitsveranstaltung überführt wird.
Meine Damen und Herren, das Thema Sowjetunion
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Graf Lambsdorff,
beschäftigt uns täglich. Der Westen muß der Sowjet-
union beim Aufbruch, bei der Politik der Perestroika gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten
helfen, sie auf dem Weg nach Europa und im Bemü- Frau Matthäus-Maier?
hen um die Integration in die Weltwirtschaft unter-
stützen. Würde eine dezentralisierte Sowjetunion da- Dr. O tt o Graf Lambsdorff (FDP): Gerne.
bei helfen? — Vielleicht. Eine destabilisierte Sowjet-
union wäre aber sicherlich in niemandes Interesse. Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Würden Sie bestäti-
Darin läge ein hohes Risiko für Westeuropa, aber auch gen, Graf Lambsdorff, daß es nicht darum geht — das
für die USA und den Westen insgesamt. ist heute morgen auch nicht getan worden — , die Bun-
desrepublik Deutschland als Jammertal darzustellen,
Der Westen hat seine Hilfsbereitschaft bekundet. sondern es darum geht, zu sagen, zu kritisieren und zu
Deutschland hat sich in besonderer Weise engagiert. ändern, daß es angesichts des enormen Wohlstandes,
Wir haben mit der Sowjetunion einen Vertrag über den wir uns erarbeitet haben und über den wir uns
gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenar- freuen, nach offiziellen Schätzungen der Wohlfahrts-
beit abgeschlossen. verbände mindestens 6 Millionen Arme in diesem
Wir haben uns darüber hinaus in erheblichem Maße Land gibt, was eigentlich unerträglich ist?
finanziell für die Stabilisierung der Sowjetunion enga-
giert. Allein die 1990 vereinbarten Leistungen belau- Dr. O tt o Graf Lambsdorff (FDP): Ich kann Ihnen
fen sich insgesamt auf knapp 25 Milliarden DM. In nicht bestätigen, daß das heute der Inhalt der Rede
dieser Summe nicht enthalten sind die besonders gün- von Herrn Engholm war. Über die Zahlen und über
stigen Exportkreditgarantien, die im Handel mit der den Tatbestand können wir uns unterhalten. Aber die
Sowjetunion vereinbart wurden. Um es klar und deut- Rede von Herrn Engholm zeigte im ersten Teil ein
lich zu sagen, damit niemand darum herumreden Land und Zustände, bei denen man sich fragt, warum
kann: Hier liefert der Verkäufer dem Kunden, dessen eigentlich von außen Leute hierherkommen sollten,
Bonität nicht überzeugt, das Geld zur Bezahlung um Zuflucht zu suchen.
gleich mit. Mich erinnert das an die alte Lebensweis- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU —
heit: Besser schenken als bürgen! Dr. Peter Struck [SPD]: Das ist aber eine ge-
wagte Interpretation gewesen!)
Über die Problematik einiger dieser Maßnahmen,
vor allem der Finanzkredite, sind wir uns durchaus im Die Verantwortung der Europäischen Gemein-
klaren. Aber, Kredite ohne Reformen, das kommt schaft gegenüber den Ländern Mittel- und Osteuro-
leicht dem Füllen eines Fasses ohne Boden gleich. pas und der Dritten Welt fordert eine offene handels-
Keine Kredite ohne Reformen, aber auch keine Refor- politische Haltung. Noch vor wenigen Tagen hat mir
men ohne Kredite. der tschechoslowakische Finanzminister Vaclav
Klaus wörtlich gesagt: Verschont uns mit Marshall-
Es gibt auch wichtige politische Aspekte. Wir lei- plan-Ideen, öffnet eure Märkte für uns! — Er hat sich
sten mit diesen erheblichen Mitteln einen wichtigen bitter darüber beklagt, welch ungenügende Angebote
Beitrag zur Stabilisierung der europäischen Frieden- die Europäische Gemeinschaft der Tschechoslowakei
sordnung. Es muß allerdings internationale Hilfe für in dieser Beziehung mache. Er hat recht.
die Sowjetunion geben. Weder Deutschland noch die Deshalb muß die Uruguay-Runde des GATT erfolg-
EG können das alleine schultern. reich abgeschlossen werden, und die Bundesregie-
rung muß nun endlich auch dem französischen Part-
Im übrigen versuchen wir dafür zu sorgen, Herr
ner klarmachen, daß es dabei nicht ohne Konzessio-
Ministerpräsident Engholm, daß die auch von Ihnen nen und Kompromisse abgeht.
angesprochene Wanderungsbewegung von Ost nach
West nicht zustande kommt, indem wir das Wohl- Die FDP begrüßt die klare Entscheidung des Kon-
standsgefälle, das übrigens ein historisches Wohl- gresses der Vereinigten Staaten, das Verhandlungs-
standsgefälle ist, einigermaßen einebnen. mandat für Präsident Bush um zwei Jahre zu verlän-
gern. Wir bedauern die unnötig verschärfende Spra-
Eines muß ich aber nun doch sagen, meine Damen che der neuen französischen Premierministerin. Die
und Herren: So ganz paßte das nicht zusammen. Antwort aus Tokio auf solche Töne hat nicht lange auf
Warum haben denn so viele Menschen die Neigung, sich warten lassen. Wir fordern die Bundesregierung
hierher zu kommen, wenn bei uns ein solches Jam- auf, dafür zu sorgen, daß der Binnenmarkt ab 1. Ja-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2081

Dr. Otto Graf Lambsdorff


nuar 1993 nicht zu einer Entliberalisierung des deut- Aber, ich habe gesagt, normalerweise gäbe dies zu
schen Marktes für Automobilimporte führt. Das wäre gravierenden Bedenken Anlaß. Ich füge hinzu: Die
das Fort Deutschland in der Festung Europa, ein deutsche Einheit rechtfertigt diese Anstrengung.
wahrhaft groteskes Ergebnis für den Binnenmarkt. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Die Haltung der Kommission, insbesondere der Vize- Die FDP verbindet ihre Zustimmung zum Bundes-
präsidenten Leon Brittan und Martin Bangemann,
haushalt 1991 und zu dieser Politik mit zwei Hinwei-
muß und sollte von der Bundesregierung unterstützt sen. Wo stünden wir wohl, wenn wir nicht seit 1982 die
werden. Haushalte konsolidiert hätten, wenn wir keine Politik
Meine Damen und Herren, die Hilfen, die wir inter- der marktwirtschaftlichen Erneuerung bet ri eben, son-
national bereitstellen wollen und müssen, ebenso wie dern Ihren Weg fortgesetzt hätten? Die Politik von
die Hilfen zum Wiederaufbau der neuen Bundeslän- FDP und CDU/CSU hat unser Land so leistungsfähig
der können wir nur leisten — Herr Rühe, Sie haben gemacht, daß wir den Herausforderungen der deut-
recht —, wenn die Wirtschaft im Westen unseres Lan- schen Einheit gewachsen sind. Diese Erfahrungen
des stark bleibt. Unsere wirtschaftliche Kraft ziehen dürfen Bundesregierung und Koalition nicht in den
wir aus der internationalen Wettbewerbsfähigkeit un- Wind schlagen. Wir müssen so schnell wie möglich
serer Wirtschaft. Sie darf nicht beschädigt werden, zurückkommen zu einer Politik der Haushaltskonsoli-
aber wir sind auf dem besten Wege, dies zu tun. Die dierung, der Rückführung der Staatsquote, der
Ergebnisse der Lohnrunde 1991 passen nicht in eine Steuersenkung und des Subventionsabbaus. In die-
Landschaft, in der der weltweite Konjunkturwind sem letzten Punkt unterstützt die FDP ausdrücklich
schärfer bläst. Wenn man Herrn Steinkühler von ge- die Initiative des Bundeswirtschaftsministers. Ich sage
stern zitiert — Herr Ministerpräsident Engholm hat noch einmal: Wenn jetzt — unter diesem Haushalts-
das getan — , so klangen darin einige Töne begrü- druck — nicht Subventionen abgebaut werden, wann
ßenswerter Einsicht über die eingeschlagene Ent- um alles in der Welt soll es dann möglich sein?
wicklung und die Gefahren, die mit ihr verbunden
- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
sind, deutlich an. Ich sage noch einmal — das ist ein Liebe Kolleginnen und Kollegen — ich wähle be-
Appell an die Tarifvertragsparteien — : Ermöglichen wußt diese von mir sonst nicht benutzte Anrede, weil
Sie in den fünf neuen Bundesländern für eine vorüber- ich an uns selber appellieren will — , es ist immer
gehende Zeit Öffnungsklauseln, und verweisen Sie leichter, dem Steuerzahler in die Tasche zu greifen
die Leute nicht darauf, daß sie das Ergebnis der Tarif- und Schulden zu machen. Aber die Rechnung dafür
verhandlungen schlucken müssen; friß, Vogel, oder zahlt die Generation nach uns. Den jungen Menschen
stirb! — Es kann so nicht funktionieren. im Osten und im Westen unseres Vaterlandes sind wir
zu einer seriösen Politik verpflichtet. Die FDP sagt der
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Bundesregierung ihre Unterstützung für eine solche
Politik zu.
Wir haben eine nationale Anpassungsaufgabe von
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
bisher unbekannten Dimensionen zu bewältigen. Die
Zinsen haben bei uns eine Höhe erreicht, die auf Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Dauer nicht ohne Rückwirkungen auf Wachstum und
Beschäftigung bleiben können. Es muß alles dafür Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat der
getan werden, daß der Kapitalmarkt entlastet wird, Abgeordnete Dr. Gysi.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Völlig rich Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste): Frau Präsiden-
tig!) tin! Meine Damen und Herren! Da es jetzt um die
Politik der Bundesregierung im Ganzen geht, will ich
sonst kann und wird die Bundesbank die Zinsen nicht
mich zunächst zu einigen wenigen außenpolitischen
senken, Herr Pöhl hat das heute noch einmal ge-
Fragen äußern.
sagt.
Ich finde, daß sich die Außenpolitik der Bundesre-
(Wolfgang Roth [SPD]: So ist es!) gierung widersprüchlich vollzieht. Zum einen sucht
sie die Zusammenarbeit mit Osteuropa und auch und
Meine Damen und Herren, der Bundeshaushalt gerade mit der Sowjetunion. Dies ist wichtig für die
1992 steht unter besonderen Vorzeichen. Sein Volu- Stabilität in Europa und für den europäischen Eini-
men, seine Nettokreditaufnahme, die damit verbun- gungsprozeß. Zum anderen wird aber immer deutli-
denen Steuererhöhungen gäben normalerweise zu cher, daß der europäische Einigungsprozeß — struk-
gravierenden Bedenken Anlaß. Aber ich sage: norma- turell und wirtschaftlich — eigentlich nur die Europäi-
lerweise. Unsere öffentliche Verschuldung oder, ge- sche Gemeinschaft erfassen soll. Setzt sich diese Poli-
nauer gesagt, die Nettokreditaufnahme der öffentli- tik durch, wird sich die soziale und wirtschaft li che
chen Hände ist in diesem und im nächsten Jahr höher Spaltung Europas vertiefen und wird die Gefahr von
als die so oft beklagte und kritisierte Nettokreditauf- Eruptionen auf dem Kontinent zunehmen. Gefährlich
nahme der Vereinigten Staaten. Es muß allerdings ist auch ein Vorherrschaftsstreben in Europa, eine
hinzugefügt werden: Auch das private Sparaufkom- Rolle, die uns nicht gut zu Gesicht steht, die Mißtrauen
men zur Finanzierung ist deutlich höher als in den erzeugen muß. Die komplizierten europäischen Pro-
USA. zesse werden auch nicht dadurch erleichtert, daß ein
Realpolitiker wie Bundesbankpräsident Pöhl in eine
(Ing ri d Matthäus-Maier [SPD]: Wie hoch ist Situation getrieben wird, in der ihm nur noch der
sie denn?) Rücktritt bleibt.
2082 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Dr. Gregor Gysi


Von besonderer Bedeutung für die Zukunft sind die genheit, das uns zur Zurückhaltung verpflichtet, statt
Pläne in bezug auf NATO und WEU. Der Zusammen- deutsche Soldaten in die Welt auszusenden.
bruch des sogenannten real existierenden Sozialismus
führte zu keinerlei Umdenken der Bundesregierung (Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Daran
in außenpolitisch-militärischen Fragen. Die Chancen wollte ich Sie erinnert haben, bevor Sie hier
zur Schaffung gesamteuropäischer Sicherheitsstruk- herummoralisieren und falsche Verdächti
turen im Rahmen der KSZE wurden verspielt. Statt gungen aussprechen!)
dessen wurde die NATO gestärkt. Von der Öffentlich- Wer die Tür für Blauhelme öffnet, weiß, daß sie
keit fast unbemerkt, wird zugleich die früher fast be- dann eines Tages für Möglichkeiten des internationa-
deutungslose WEU neu belebt. Die Bundesregierung len militärischen Einsatzes ganz aufgestoßen wird.
und Frankreich wünschen, daß daraus der militäri- Diese Politik wird deshalb auf unsere konsequente
sche Arm der Europäischen Gemeinschaft wird, wäh- Ablehnung stoßen. Sie geht möglicherweise in eine
rend andere Staaten darin ausschließlich die Europa verhängnisvolle Richtung.
Abteilung der NATO sehen wollen. Gehen die Pläne
der Bundesregierung auf, so bedeutet dies die Schaf- Im Haushalt spiegelt sich diese Politik in den ge-
fung einer internationalen europäischen Militärorga- planten Rüstungsausgaben wider. Für die Verteidi-
nisation, die abgekoppelt und unabhängig von den gung sollen 52 Milliarden DM ausgegeben werden.
USA wäre und damit in der sogenannten Dritten Welt Die Verteidigungsausgaben, die in den vergangenen
militärisch aktiv werden könnte. Jahren mit der Begründung der Bedrohung aus dem
Osten Jahr für Jahr wuchsen, werden auf gleichem
(Unruhe) Niveau fortgeführt. Dabei ist der Warschauer Vertrag
aufgelöst. Die Nationale Volksarmee ist Bestandteil
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ich bitte die Abge- der Bundeswehr geworden. Niemand kann mehr be-
ordneten, Platz zu nehmen und die Geräuschkulisse haupten, daß von den Militärpotentialen Polens, der
so zu gestalten, daß der Abgeordnete noch gehört CSFR, Ungarns, Bulgariens und Rumäniens eine Be-
- drohung der Bundesrepublik ausgeht. Mit der Sowjet-
werden kann.
union wurden Verträge ausgehandelt, die ein friedli-
ches Zusammengehen wesentlich sicherer machen.
Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste): Hier müßte doch Das alles spielt aber offensichtlich für die Bundesre-
einmal erklärt werden, welche Rolle denn eigentlich gierung keine Rolle, wenn es darum geht, 1991 jeweils
eine von den USA unabhängige europäische Militär- in Milliardenhöhe Waffen, neue Schiffe, neue Flug-
organisation als Arm der EG spielen sollte. Bereitet zeuge und neue Kampffahrzeuge in Dienst zu stellen
man sich hier etwa auf künftige Kämpfe um politi- und ohne Einschränkung und Neuorientierung die
schen und ökonomischen Einfluß in der Dritten Welt Wehrforschung für neue und immer perfektere Waf-
vor und will dabei auch nicht mehr von den USA fen in der alten Weise fortzusetzen.
abhängig sein? Ich halte diese Pläne für kreuzgefähr-
lich. Das Programm Aufschwung Ost umfaßt weniger,
Hier ordnet sich dann auch die Vorstellung zur An- als 1991 durch die Bundeswehr für neue Waffen und
derung des Grundgesetzes zum erweiterten Einsatz für die Wehrforschung ausgegeben werden soll; für
der deutschen Soldaten ein. Es fehlt hier jede histori- die Forschung allein 12,4 Milliarden DM.
sche Sensibilität dafür, daß von Deutschland in die- (Zuruf von der PDS/Linke Liste: Hört!
sem Jahrhundert zwei Weltkriege ausgingen; sonst Hört!)
käme man nicht auf die Idee, gerade deutsche Solda-
ten international einsetzen zu wollen. Ich spreche auch nicht von geringfügigen Einspa-
rungen, die man den Wählerinnen und Wählern weis-
(Beifall bei der PDS/Linke Liste) machen will, indem man in die Basis etwas einrech-
Bedauerlich, daß dem nun offensichtlich auch die net, was für die Beantwortung der Frage, wieviel neue
SPD zur Unterstreichung eigener Regierungsfähigkeit Waffen angeschafft werden, überhaupt keine Bedeu-
zustimmen will — zumindest hinsichtlich der soge- tung hat, nämlich die Ausgaben der NVA. Es geht um
nannten Blauhelm-Truppen der UNO — , so daß die eine ganz andere Qualität und Größenordnung an
erforderlichen Mehrheiten im Bundestag gegeben möglicher Abrüstung und Wahrnehmung tatsächlich
sind. Dabei ist es sehr vernünftig gewesen, diese gewachsener Verantwortung. Wenn man es mit Abrü-
Truppen vornehmlich durch kleine Armeen und neu- stung und Sozialpolitik ernst meint, hätte man doch
trale Staaten stellen zu lassen, nicht durch Groß- zumindest in diesem Jahr einmal auf die Anschaffung
mächte und Mächte, die Großmächte werden wollen. neuer Waffen verzichten müssen.
Diese sollten sich dagegen Zurückhaltung auferle-
gen. (Beifall bei der PDS/Linke Liste)
(Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Herr Wir unterbreiten den Vorschlag, Rüstungsausgaben
Gysi, wir sind nicht in die Tschechoslowakei im Umfang von 10 Milliarden DM zu reduzieren, wo-
eingerückt!) bei dann natürlich 5 Milliarden DM für Konversion
— Das ist schon wahr. erforderlich sind — zum einen für die soziale Absiche-
rung der Soldaten bei Reduzierung von Streitkräften,
(Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Was zum anderen für den Umbau von Produktionsstätten
das geschichtliche Denken anlangt!) der Rüstung auf zivile Produkte —; die anderen 5 Mil-
Aber das würde noch eher dazu zwingen. Sehen Sie, liarden DM könnten für soziale Zwecke eingesetzt
dann gibt es noch ein Lehrstück deutscher Vergan werden.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2083

Dr. Gregor Gysi


Mit den Mitteln des Haushaltes 1991 wurde der es zur individuellen Freiheit des einzelnen gehören
Golfkrieg mitfinanziert. Diesen Krieg haben aber sehr muß zu entscheiden, daß er auf Kündigungsschutz
viele abgelehnt. Das löste hier große Proteste aus. Ich rechte verzichtet und daß er auch unterhalb des Tarif-
frage nun, weshalb eigentlich jene, die diesen Krieg lohns bezahlt werden kann. Klar ist: Wenn sich diese
nicht wollten, zur Bezahlung dieses Krieges gleicher- Vorschläge durchsetzen sollten, werden alle gesetzli-
maßen in Anspruch genommen werden. Ich glaube, chen Bestimmungen zum Kündigungsschutz und
daß es dafür keine Grundlage gibt. auch hinsichtlich der Tarifverträge praktisch an Be-
deutung verlieren.
(Beifall bei Abgeordneten der PDS/Linke
Liste) Die Justizministerkonferenz beschließt in dem glei-
Im übrigen ist auch dafür mehr eingesetzt worden, als chen Zeitraum, nunmehr in Zivil- und Strafverfahren
Rechtsmittel in beachtlichem Umfang abschaffen zu
für das Aufschwungwerk Ost.
wollen und außerdem die sogenannte Zulassungsbe-
Im Vergleich zu dem, was die Bundesregierung für rufung einzuführen, wonach das Ge richt dann selbst
Rüstung ausgibt, ist das, was für Friedensforschung entscheidet, ob gegen sein Urteil die Berufung zuläs-
zur Verfügung gestellt wird, absolut minimal. sig ist. Das halte ich schon für ein ziemlich starkes
Verfehlt sind auch die geplanten geringeren Mittel Stück. Darauf sind nicht einmal die Vertreter des real
für Entwicklungshilfe. Nicht im Ansatz ist eine Neu- existierenden Sozialismus gekommen.
orientierung sichtbar. Die Kluft zwischen den Ländern (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Sie ha
der sogenannten Dritten und der sogenannten Ersten ben vorher überhaupt nicht gewußt, was ein
Welt wird täglich größer. Und was macht die EG-Kom- Rechtsweg ist! — Dr. Rudolf Krause [Bonese]
mission in diesem Moment? Sie beschließt, die Milch- [CDU/CSU]: Vor der Verhaftung stand das
produktion weiter zu reduzieren und — alles mit Zu- Urteil fest! Was lügen Sie da?! — Weitere
stimmung der Bundesregierung — Acker in Europa Zurufe von der CDU/CSU)
sozusagen brachzulegen, obwohl es Millionen Hun-
gernder in dieser Welt gibt. - — Ich will Ihnen einmal was sagen: Wenn Sie ent-
scheiden, daß das Ge richt selber sagen kann, ob ge-
(Peter Harry Carstensen [Nordstrand] [CDU/ gen sein Urteil eine Berufung zulässig ist, dann müs-
CSU]: Sie gehören zu den wenigen in den sen Sie auch dem Angeklagten das Recht einräumen,
neuen Bundesländern, die immer noch nicht selbst zu entscheiden, ob gegen ihn eine Anklage
wissen, was Soziale Marktwirtschaft ist! Da erhoben wird. Ich glaube, das wird wirk li ch rechts-
von verstehen Sie wirklich nichts! Davon ver staatlich unvertretbar. Übrigens geht es hier um
stehen Sie genauso viel wie eine Kuh vom Rechtsmittel, die nach der Statistik zu mehr als 60 %
Sonntag!) der Fälle zur Änderung des Urteils erster Instanz ge-
Da frage ich Sie: Warum wird eigentlich die Reduzie- führt haben, die sich also als notwendig erwiesen ha-
rung der landwirtschaftlichen Produktion und nicht ben.
der Transport der Überproduktion in die Dritte Welt Der Verkehrsminister wiederum schlägt nun vor,
finanziert, um den Hunger wenigstens einigermaßen für die neuen Bundesländer fast sämtliche Rechte zum
zu stillen? Nicht einmal dazu konnte sich die Bundes- Einspruch gegen Verkehrsbauten nicht zuzulassen,
regierung bisher entschließen. damit erst einmal alles vollgebaut werden kann, um
(Beifall bei der PDS/Linke Liste) dann später entsprechende Rechte einzuräumen.
Hinzu kommt, daß die Landwirtschaft in den neuen (Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: So ein
Bundesländern vorsätzlich zerstört wird. Hundert- saudummer Quatsch! Was Sie da sagen, ist
tausenden von Bäuerinnen und Bauern, die aber ge- doch barer Unsinn!)
nossenschaftlich weiterproduzieren wollen, wird die — Fragen Sie ihn doch selbst. — Das alles wird mit
Existenz geraubt. dem Osten Deutschlands begründet. Deshalb ist es
(Peter Harry Carstensen [Nordstrand] [CDU/ zusätzlich geeignet, die Ablehnung im Westen gegen
CSU]: Wann denn?) den Osten zu fördern, obwohl es in Wirklichkeit um
die Erfüllung alter Wunschträume geht.
— Dann gehen Sie doch einmal rüber und erkundigen
sich einfach. (Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Wir
machen heute doch nur das, was Sie 45 Jahre
(Zuruf von der CDU/CSU: Sie sind der größte
lang versäumt haben!)
Bauernleger aller Zeiten! — Weitere Zurufe
von der CDU/CSU) So
— lange lebe ich ja noch gar nicht, um solche
Träume zu hegen.
In der Bundesregierung gibt es Kräfte, die glauben,
den Wegfall der östlichen politischen Konkurrenz nut- Die Vorschläge der Deregulierungskommission, der
zen zu können, um langgehegten Träumen vom Ab- Justizministerkonferenz und des Verkehrsministers
bau von Sozialem und Demokratischem endlich zum sind in ihrer Begründung meines Erachtens ein Miß-
Durchbruch zu verhelfen. Was mit der Neugestaltung brauch der Ostdeutschen.
des § 116 des Arbeitsförderungsgesetzes begann, soll
(Zuruf von der CDU/CSU: Ausgerechnet Sie
nach den Vorschlägen der Deregulierungskommis-
reden von Mißbrauch!)
sion des Wirtschaftsministe ri ums mit der Unterwan-
derung von Kündigungsschutzregelungen und Tarif- Ich halte es auch für verfehlt, daß die Mineralöl-
verträgen fortgesetzt werden. Ich finde es demago- steuer nach den entsprechenden Vorstellungen be-
gisch, wenn von dieser Kommission gesagt wird, daß handelt wird wie eine einfache Einnahme und nicht
2084 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Dr. Gregor Gysi


ganz spezifisch im ökologischen Sinne in der Ver- zialisten! Ich habe damit nie etwas anfangen
kehrspolitik eingesetzt wird, um die öffentlichen Ver- können!)
kehrsmittel so billig wie möglich zu machen, damit die Was die Sozialpolitik angeht, so ist das geplante
individuelle Nutzung des Pkw abnimmt. Renten-Überleitungsgesetz grob ungerecht. Die An-
(Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Eben rechnungszeiten, insbesondere für Frauen mit Kin-
haben Sie sich gegen das Bauen ausgespro dern, werden erheblich reduziert. Pflegegeldzuschlä-
chen! — Weitere Zurufe von der CDU/ ge nach dem Sozialgesetzbuch, die es hier nicht gibt,
CSU) fallen für 422 000 Menschen weg. Über 600 000 wür-
den nach diesen Vorstellungen von Rentenempfän-
— Sie können der DDR ja viel vorwerfen, aber Sie
gern zu Sozialhilfeempfängern werden, insbesondere
können ihr nicht vorwerfen, daß die öffentlichen Ver-
auch hier wieder Frauen.
kehrsmittel so wahnsinnig teuer waren.
(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Sie ha
(Zuruf von der CDU/CSU: Aber in welchem ben sicher immer noch mehr als vorher!)
Zustand sie waren, das werfen wir Ihnen
vor!) — Selbst wenn es so wäre — es ist ganz bestimmt
so — , dann müssen Sie noch die Teuerungsrate mit-
— Den können wir doch verbessern. Aber deshalb zählen. Sie müssen doch einfach einräumen, daß es
müssen sie doch nicht unbezahlbar werden oder? für einen Menschen eine ganz unterschiedliche Stel-
Ich sage Ihnen: Was die Beschäftigungspolitik und lung ist, ob er einen Rechtsanspruch auf Rente hat
die soziale Politik bet ri fft, so ist die Tätigkeit und auch oder ob er Sozialhilfeempfänger ist und sich jedes
die Untätigkeit der Bundesregierung katastrophal. Im halbe Jahr neu aufblättern und betteln gehen muß.
Osten wird ein Heer von Arbeitslosen, Vorruheständ- Das ist ein unerträglicher psychischer Zustand für die
lern und Sozialhilfeempfängern organisiert, das stän- Betroffenen.
dig weiter ansteigt. Statt Arbeit wird Arbeitslosigkeit (Beifall bei der PDS/Linke Liste — Gerhard
finanziert. Statt Subventionierung des Osthandels zur O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Es ist ein
-
Erhaltung der Industriestandorte in den neuen Bun- Rechtsanspruch auf Sozialhilfe!)
desländern werden Unternehmer subventioniert. Mil-
lionen Menschen, die in der DDR, wie sie auch immer
war, das berechtigte Gefühl haben konnten, ge- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Abgeordneter
braucht zu werden, wird jetzt das Gefühl der Überflüs- Gysi, um ohnehin überhaupt wieder ein bißchen Ruhe
sigkeit und Nutzlosigkeit, daß sie einfach zuviel sind, zu schaffen: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des
vermittelt mit katastrophalen psychischen Folgen für Abgeordneten Köhler?
den einzelnen und seine Familie.
(Arnulf Kriedner [CDU/CSU]: Nutzlos sind Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste): Ja, bitte schön.
Sie vor allem! — Dr. Uwe-Jens Heuer [PDS/
Linke Liste]: Hören Sie da gut zu!)
Hans-Ulrich Köhler (Hainspitz) (CDU/CSU): Herr
Weil es nicht um Halbheiten gehen darf und jedes Gysi, gehen Sie recht mit mir, daß die Bundesrepublik
Identitätsgefühl in den neuen Bundesländern abge- Deutschland aus den Rentnern in den ehemaligen
baut werden soll, werden nicht nur Industrie und fünf Ländern erst Menschen gemacht hat und daß der
Landwirtschaft, sondern auch Wissenschaft und Kul- vorherige Staat die Rentner zu den Ärmsten der Ar-
tur abgebaut. Die Gesellschaft verzichtet bewußt auf men degradiert hat?
ein großes intellektuelles Potential und grenzt, z. B. im
öffentlichen Dienst, gleich Hunderttausende politisch (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —
und sozial aus. Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]:
300 Mark [Ost]!)
Es bleibt ein bemerkenswertes Merkmal der bun-
desdeutschen Gesellschaft, daß sie Nazis in großem
Stil integrierte und willkommen hieß Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste) : Dem ersten Teil
kann ich auf gar keinen Fall zustimmen. Das würde ja
(Arnulf Kriedner [CDU/CSU]: Unerhört ist bedeuten, daß die Rentner in der DDR früher keine
das!) Menschen waren.
— einverstanden, auch ich finde das unerhört —, (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Sie wur
(Arnulf Kriedner [CDU/CSU]: Was Sie erzäh- den so behandelt! — Peter Harry Carstensen
len, ist unerhört!) [Nordstrand] [CDU/CSU]: Warum habt ihr
sie dann unmenschlich behandelt? — Hans
ehemalige und opportunistische Sozialisten oder sich
Ulrich Köhler [Hainspitz] [CDU/CSU]: Es
früher auch nur als Sozialisten bezeichnende Men-
waren arme Menschen, Herr Gysi!)
schen dagegen schwer,
— Sie haben gesagt: „keine waren".
(Gerlinde Hämmerle [SPD]: Sozialismus ist
etwas anderes!) Was den zweiten Teil bet ri fft, da sind wir uns ja
absolut einig, daß eine Vielzahl von Renten in der
aber ehrliche, nicht karrieristische, sich bekennende DDR extrem niedrig war, daß allerdings natürlich ein
demokratische Sozialisten auf gar keinen Fall inte- bestimmter sozialer Standard durch die entsprechend
grieren will. gesicherten niedrigen Preise gewährleistet war.
(Peter Harry Carstensen [Nordstrand] [CDU/ (Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Sie
CSU]: Ach, das sind die demokratischen So- sind ein unglaublicher Zyniker!)
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2085
Dr. Gregor Gysi
Aber ich will Ihnen etwas sagen: Ich habe etwas den Renten für Stasi-Leute und für hohe Staatsfunk-
anderes kritisiert, daß Sie nämlich aus einem Rechts- tionäre verwechseln,
anspruch auf Rente einen Sozialhilfeanspruch in dem (Beifall des Abg. Gerhard O. Pfeffermann
Sinne machen, daß sich die Betroffenen jedes halbe [CDU/CSU])
Jahr über die Vermögensverhältnisse auch der Ver-
wandten etc. erklären müssen. Das ist eine demüti- ob Ihnen vielleicht die Zustände in normalen Alten-
gende Angelegenheit. heimen der ehemaligen DDR bekannt sind und ob Sie
einen Unterschied zu dem sehen, was etwa in den
(Beifall bei der PDS/Linke Liste — Diet rich Altenheimen des alten Bundesgebiets läuft.
Austermann [CDU/CSU]: Das ist ein Rechts-
anspruch auf menschenwürdiges Leben!) (Beifall bei der CDU/CSU — Peter Harry Car
stensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Do rt rie
selt der Kalk von den Wänden, wie Herr Eng
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Abgeordneter
holm gesagt hat! Der Engholmsche Kalk hat
Gysi, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der
bei euch gerieselt!)
Abgeordneten Enkelmann?

Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste) : Ja, bitte. Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste): Ich weiß zwar
nicht genau, woher Sie kommen, aber aus der Sprache
Dr. Dagmar Enkelmann (PDS/Linke Liste): Herr entnehme ich einmal, daß Sie aus den alten Bundes-
Gysi, ist Ihnen bekannt, daß ein Rentner in einem ländern kommen.
Altenheim einen Betrag von 105 Mark von seiner (Arnulf Kriedner [CDU/CSU]: Ich komme
Rente bezahlen mußte und daß er ab Juli z. B. in Bran- aus Thüringen!)
denburg etwa 1 500 DM zahlen muß, die er von seiner
Rente, ganz gleich, wie hoch sie ist, nicht zahlen kann, — Aha, aus Thüringen.
so daß er einfach gezwungen ist, Sozialhilfe zu - bean- (Lachen bei der CDU/CSU)
tragen, und daß er das vorher nicht mußte? —Ich habe ja nur gefragt. — Dann kann ich nur sagen,
daß ich mich früher relativ viel in Pflegeheimen schon
Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste) : Das kann ich deshalb aufgehalten habe, weil ich des öfteren vom
erstens bestätigen. Aber ich füge zweitens hinzu, daß Gericht als Pfleger bestellt worden bin.
sozusagen die relative soziale Ausgrenzung eines
(Zuruf von der CDU/CSU: Als Zwangspfle
Großteils von Rentnerinnen und Rentnern, die es in
ger?)
gewisser Hinsicht schon in der früheren DDR gegeben
hat, jetzt noch verstärkt wird. Das ist eine Tatsache. Ich kenne die Zustände also einigermaßen. Ich ge-
hörte auch nicht zu denjenigen, die diese Zustände
(Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Un-
etwa besonders gewürdigt haben. Aber erwarten Sie
glaublich!)
deshalb von mir, daß ich dafür eintrete, daß es den
— Ja, ich finde es unglaublich, aber wahr ist es trotz- Leuten jetzt noch schlechter, zumindest nicht besser
dem. geht, was alle diese Punkte bet rifft?
Übrigens gehen Sie ja auch viel weiter. Die Zahlun-
(Beifall bei der PDS/Linke Liste — Zuruf von
gen vieler Bürgerinnen und Bürger für die freiwillige
der CDU/CSU: Unerhört!)
Zusatzrentenversicherung werden z. B. nicht mehr
voll angerechnet Genau das Gegenteil muß doch das Ziel unserer Poli-
tik sein.
(Zurufe von der CDU/CSU: Die kriegen doch
viel mehr als vorher! — Wieder eine Lüge!) Ich füge hinzu, daß das Sonderopfer für Beitrags-
und vieles andere mehr. Das alles wissen Sie auch. pflichtige in der Arbeitslosenversicherung — ich war
ja schon bei einem etwas anderen Thema — genauso
Ich frage Sie beim Thema Sozialpolitik: Muß es ei- abgelehnt werden muß. Wir fordern eine Arbeits-
gentlich z. B. bei Steuererhöhungen so bleiben, daß marktabgabe für Besserverdienende ab Monatsein-
immer auch die Bezieher niedriger Einkünfte zur kommen von 6 500 DM. Das heißt, auch die Bundes-
Kasse gebeten werden, obwohl für sie jede Reduzie- tagsabgeordneten würden davon erfaßt, und ich
rung von Einkünften ganz andere Auswirkungen ha- meine zu Recht. Dazu fordern wir Freigrenzen für die
ben muß Erhebung des Zuschlags zur Einkommensteuerschuld
(Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Die in Höhe von 50 000 DM jährlich für Alleinstehende
zahlen doch überhaupt nichts!) und 100 000 DM jährlich für Verheiratete.
als höhere Abgaben für Besserverdienende? Wir fordern, für den Aufbau im Osten einen Teil der
Gewinne zu verwenden, die durch den Konjunktur-
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Abgeordneter aufschwung im Westen dank der Einheit erzielt wor-
Gysi, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des den sind.
Abgeordneten Kriedner? (Dr. Wolfgang Weng [Gerungen] [FDP]: Was
meinen Sie denn, woher das Geld kommt?)
Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste): Ja. Gemeint sind eine Anleihe mit Zeichnungspflicht für
Banken, Versicherungen und Handelsketten sowie
Arnulf Kriedner (CDU/CSU): Herr Gysi, ich wollte eine Investitionshilfeabgabe für die gewerbliche
Sie fragen, ob Sie eventuell das, was Sie als Zustands- Wirtschaft der alten Bundesländer zugunsten von In-
beschreibung der früheren DDR hier anführen, mit vestitionshilfen in den neuen Bundesländern.
2086 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Dr. Gregor Gysi


Aber die Bundesregierung ist die Regierung der geschieht, als Stückzahlen behandelt werden und
Reichen; nicht als Individuen, worauf sie alle einen Anspruch
(Zuruf von der CDU/CSU: Ja, natürlich!) haben.
Danke schön.
denn während das Geld für eine ausgewogene Sozial-
politik fehlt, stellte sie z. B. 1989 86,4 Milliarden DM (Beifall bei der PDS/Linke Liste — Zuruf von
für Hilfen und Vergünstigungen für Unternehmer zur der CDU/CSU: Unerträglich sind Sie!)
Verfügung; so die DIW-Untersuchung laut Wochen-
bericht 52/1990.
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Bei aller verständli-
Ich frage: Könnte es denn nicht gerade nach der
chen Empörung des Abgeordneten Dr. Rudolf Krause
hergestellten Einheit der Bundesrepublik Deutsch-
muß ich ihm doch einen Ordnungsruf für die Aussage
land ein Umdenken auch im sozialen Bereich geben? „Sie lügen! " erteilen.
Wäre es nicht an der Zeit, z. B. für die gesamte Bun-
desrepublik Deutschland eine Mindestrente einzu- (Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Aber,
führen? Frau Präsidentin, mit der Wahrheit wurde
nicht sehr gut umgegangen!)
(Beifall bei Abgeordneten der PDS/Linke
Liste) — Dafür kann ich Ihnen keinen Ordnungsruf ertei-
len.
Wäre es nicht an der Zeit, die Sozialhilfe und die damit
verbundenen Erniedrigungen abzuschaffen und dar- (Heiterkeit)
aus reale Ansprüche zu machen, die nicht von den Als nächste hat die Abgeordnete Vera Wollenber-
Vermögensverhältnissen irgendwelcher Verwandten ger das Wort.
abhängig sind?
(Beifall bei der PDS/Linke Liste — Gerhard Vera Wollenberger (Bündnis 90/GRÜNE): Sehr ge-
-
O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Auf Sozialhilfe ehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
gibt es einen Rechtsanspruch!) Diese Debatte findet ein halbes Jahr nach den Wahlen
— Sie kennen den Unterschied zur Rente, nehme ich und am Vorabend des einjährigen Bestehens der
an. Wenn es keinen gäbe, würde es ja nicht gesondert Währungsunion statt. Beide Daten markieren ent-
geregelt. Sie wissen auch, was es für die Betroffenen scheidende Wendepunkte in der Geschichte des deut-
bedeutet, sich jedes halbe Jahr neu aufblättern zu schen Volkes, die vor allen Dingen die Möglichkeit für
müssen. eine kritische Bestandsaufnahme historischer Erfah-
rung und die Chance einer umfassenden Erneuerung
(Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Sie
des politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftli-
haben noch nie das Rentenprinzip in der
chen Lebens geboten haben.
Bundesrepublik verstanden; sonst würden
Sie nicht dauernd so einen Unsinn daherre Im politischen Entwurf für die Gestaltung der deut-
den!) schen Einheit hätten bei der Grundsatzentscheidung
für die Rekonstruktion der ökonomisch und ökolo-
Sie wissen auch, wie viele Anspruchsberechtigte So- gisch ruinierten neuen Bundesländer die bekannten
zialhilfe gar nicht geltend machen, weil sie den Vor- Fehler, die beim Aufbau der Ex-BRD gemacht wur-
gang so demütigend finden. Das ist eine Tatsache. den, vermieden werden können. Es hätte eine nach
(Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste]: neuestem Wissensstand entwickelte sozial- und
Auch in den alten Bundesländern!) umweltverträgliche Industriegesellschaft aufgebaut
werden können mit allen positiven Rückwirkungen,
— Auch in den alten Bundesländern. — Ich finde,
die es auf die alten Bundesländer gehabt hätte.
dagegen kann man eine ganze Menge machen.
Die Politik hätte sich davon befreien können, bloßes
Sie können eines nicht leugnen — da gibt es keiner- Machtergreifungs- und Machterhaltungsinstrument
lei Kurskorrektur in Ihrer Politik — , daß nämlich auch zu sein, und wieder zur gesellschaftsgestaltenden
in der Bundesrepublik Deutschland der soziale Ab- Kraft werden können.
stand zwischen den Armen und den Reichen von Jahr
zu Jahr nicht geringer wird, sondern von Jahr zu Jahr Dieser mutige Schritt zur dringend notwendigen
größer wird. Selbst wenn es bei den unteren Einkom- Reform des bestehenden Industriegesellschaftsmo-
men eine Steigerung gibt, ist die Steigerung bei den dells wurde nicht getan. Im Gegenteil: Der Vorschlag
oberen immer höher. Diese Schere sollte in umge- vom Bündnis 90/GRÜNE, mit der Zählung der Legis-
kehrter Richtung verlaufen. Das gehört zu einer Poli- laturperioden neu zu beginnen, um damit ein symbo-
tik der sozialen Gerechtigkeit. lisches Zeichen für den gemeinsamen Neubeginn zu
setzen, ist im Ältestenrat steckengeblieben. Statt des-
(Beifall bei der PDS/Linke Liste) sen wird weitergezählt, als hätte es keinen dramati-
Gestatten Sie mir als letztes folgenden Hinweis, schen Einschnitt gegeben. Damit wird deutlich, daß
weil es so häufig um die Zustände in den neuen Bun- die Intoleranz gegenüber dem gemeinsamen Start be-
desländern geht: Ich finde es unerträglich, wenn über reits in diesem Hause beginnt.
die Vergangenheit der Menschen und ihren Identi- Es ist außer rheto rischen Pflichtübungen kein poli-
tätsverlust, wie es wirklich oft geschieht, in so arro- tischer Entwurf für die Gestaltung der deutschen Ein-
ganter Weise geredet wird. Es ist unerträglich, wie Sie heit zu erkennen. Im Gegenteil: Konzeptionslosigkeit
damit umgehen, wie Sie dazu stehen. Ich finde es ist das einzige sich klar abzeichnende Regierungspro-
unerträglich, wenn diese Menschen, wie es häufig gramm.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2087
Vera Wollenberger
Wenn ich zum Beweis dieser Behauptungen als er- des ersten gesamtdeutschen Verteidigungshaushaltes
stes die Grundgesetzdebatte heranziehe, so deshalb, hätte es der erste gesamtdeutsche Friedenshaushalt
weil es eine der wichtigsten Grundsatzentscheidun- sein müssen.
gen gewesen wäre; die hätte getroffen werden müs-
sen: dem vereinigten Deutschland eine neue Verfas- (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE)
sung zu geben. Die Regierungskoalition zieht es vor, Wir halten an unserer Posi tion fest, daß die Konver-
das deutsche Verfassungsproblem auf einige weitere sionsproblematik einheitlich durch ein Bundesgesetz
Grundgesetzänderungen zu reduzieren, die zu den zu den Abrüstungsfolgen und zur Konversion zu lösen
über 30 bereits beschlossenen noch hinzukommen ist. Daß die Ausgangslage in einigen alten Bundeslän-
sollen. Damit fällt Deutschland selbst hinter das Ent- dern und in den fünf neuen Ländern recht unter-
wicklungsland Jemen zurück, das sich nach der Ver- schiedlich ist, darf einer bundesweiten Lösung nicht
einigung eine neue Verfassung gibt. entgegenstehen, zumal die Ankündigung der erfol-
Eine Verfassungsdiskussion würde es den 16 Mil- genden Standortauflösungen in den alten Bundeslän-
lionen Menschen in den neuen Bundesländern er- dern ein gemeinsames Problemfeld schafft. Ost und
möglichen, ihre eigenen Erfahrungen, Wünsche und West sind betroffen, und die Zeit drängt. Anlaß genug,
Erwartungen in das geeinte Deutschland einzubrin- nun endlich vielleicht doch ernsthafter als bisher über
gen. den bereits zu Volkskammerzeiten verfaßten und im
Oktober letzten Jahres in den Bundestag eingebrach-
(Unruhe) ten Gesetzentwurf zur Konversion nachzudenken.
— Meine Herren von der Regierungskoalition, Ihre Wir werden den Gesetzentwurf erneut einbringen
mangelnde Aufmerksamkeit jetzt beweist, wie ernst und hoffen auf eine breite interfraktionelle Zustim-
Sie dieses Problem nehmen. mung.
Deshalb erfordert die Verwirklichung des Selbstbe- Parallel dazu regen wir an, ein Amt für Konversion
stimmungsrechtes der Bürgerinnen und der Bürger beim Wirtschaftsministe rium einzurichten. Auf eine
- ähnliche Initiative hin wurde in der ehemaligen DDR
der ehemaligen DDR, auf das Zusammentreten einer
gesamtdeutschen verfassungsgebenden Versamm- ein solches Amt eingerichtet. Ihm war nicht beschie-
lung hinzuwirken. den, den zweiten Tag nach der deutschen Vereini-
gung zu überleben. Wir hatten uns seinerzeit für die-
Die juristische Vereinigung Deutschlands war eine ses Amt eingesetzt, und wir sind angesichts der unge-
Frage des politischen Willens und des staatsmänni- lösten Probleme nach wie vor dafür, ein solches Amt
schen Geschicks. Die soziale Einheit ist eine Frage des zu schaffen.
Geldes und der wirtschaft lichen Kraft. Die sozialpsy-
chologische Vereinigung ist eine Frage der psycho- Einige Bemerkungen zur Stationierung bzw. zum
kulturellen Identität und deshalb die schwierigste. Sie Abzug der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte.
wird am besten befördert, wenn aus dem bloßen An- Als Vertreter der ostdeutschen Länder stehen wir be-
schluß der einen Gesellschaft an die andere ein ge- sonders in der Pflicht, alles zu tun, damit der Abzug
meinsamer Neuanfang wird. Dieser Neuanfang kann der Westgruppe der sowje tischen Streitkräfte ord-
und muß mit einer entscheidenden Weiterentwick- nungsgemäß und in möglichst ruhiger Atmosphäre
lung des Grundgesetzes und damit der Demokratie verläuft. Deshalb ist es dringend notwendig, die Auf-
verbunden sein. rechnungsklausel des Art. 7 des deutsch-sowjetischen
Abkommens über einige überleitende Maßnahmen
(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei der vom Oktober 1990 sowie deren in Aussicht gestellte
PDS/Linke Liste) Handhabung neu zu überdenken.
Einige aus der Sicht der Gruppe Bündnis 90/ Ohne die Umweltschäden auf sowje tischen Liegen-
GRÜNE entscheidende Aspekte möchte ich im fol- schaften zu minimieren, darf die sowjetische Seite
genden näher betrachten. Einer der wichtigsten ist die nicht durch ein Anprangern als Hauptumweltsünder
Pflicht Deutschlands zum Frieden. Wenn man den unter Druck gesetzt und damit indirekt veranlaßt wer-
Satz aus der Atlantischen Charta ernst nimmt, daß die den, möglichst kostensparend zu entsorgen und einen
Völker der Welt aus realistischen wie moralischen Teil der hinterlassenen Umweltschäden zu ve rtu-
Gründen dazu übergehen müssen, auf Gewaltge- schen. Bündnis 90/GRÜNE fordern darum die Bun-
brauch zu verzichten, erkennt man an, daß eine ganz desregierung auf, gegenüber der Westgruppe der so-
andere Art Demokratie erforderlich ist als jene, wie sie wjetischen Streitkräfte Maßnahmen zur Zusammen-
unter den Bedingungen der Ost-West-Konfronta tion arbeit bei der Beseitigung militärischer Altlasten und
entwickelt wurde. Das bedeutet für uns, die Verpflich- zur Vermeidung abzugsbedingter zusätzlicher Um-
tung des Staates, Ursachen für Kriege vorausschau- weltschäden vorzusehen.
end zu begegnen, die Pflicht zur Abrüstung, das Her-
stellungs- und Stationierungsverbot für Massenver- Mit anderen Worten: Der Abzug der Westgruppe
nichtungsmittel und das allgemeine Kriegsdienstver- muß so gestaltet werden, daß stabile koopera tive Be-
weigerungsrecht in der Verfassung festzuschreiben. ziehungen zwischen Deutschland und der Sowjet-
union sowie ein günstiges K lima für neue Sicherheits-
(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE) strukturen in Europa entwickelt werden.
Dazu gehört die Entwicklung eines umfassenden
(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Wer be
Konversionsprogramms und die Verabschiedung ei-
zahlt?)
nes Konversionsgesetzes. Von diesem gesamtdeut-
schen Haushalt hätten wich tige Impulse in Richtung Konversion darf in diesem Kontext nicht zum ab
Abrüstung und Konversion ausgehen müssen. Statt schreckenden, sondern muß zum ermutigenden Bei-
2088 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Vera Wollenberger
spiel für Abrüstung in Europa werden. Damit kann helme" — wird ausgenutzt, um der Durchsetzung na-
zugleich der schicksalhafte Übergangsprozeß in der tionaler Interessen künftig auch mit militärischen Mit-
Sowjetunion positiv beeinflußt werden. teln Nachdruck zu verleihen,
Leider setzt die Bundesregierung nach wie vor lie- (Arnulf Kriedner [CDU/CSU]: Das ist doch
ber auf militärische Kraftmeierei und notfalls auf Waf- Blödsinn, was Sie da erzählen!)
fenanwendung und ist dabei eine der treibenden
etwa beim Schutz deutscher Handelsschiffe auf Hoher
Kräfte innerhalb der NATO, eine schnelle Eingreif- See.
truppe für b risante Bedrohungen aufzubauen.
Das Spannende und Interessante an der jetzigen
Aus der Allianz hörte man im vergangenen Jahr, Etappe innerhalb dieser langen Diskussion um mehr
daß sie sich nun von der Konfrontation zur Koopera- außen- und sicherheitspolitische „Normalität" ist der
tion entwickeln wolle. Was aber beim letzten NATO Salto mortale, den Sie, Herr Bundeskanzler Kohl, nun
Gipfel beschlossen wurde, ist das genaue Gegenteil. vollführen müssen, nachdem Ihnen durch die Ent-
Es ging nicht um die Stärkung der politischen Funk- scheidung der SPD die Möglichkeit einer Grundge-
tion, sondern einzig und allein um eine Modernisie- setzänderung verbaut ist.
rung der militärischen Strukturen. Die angekündigte
Stärkung der politischen Rolle wurde bei diesem Tref- (Zuruf von der CDU/CSU: Wer sagt denn
fen reduziert auf die Bildung schnell verlegbarer Ein- das?)
greifverbände, die, wie US-Verteidigungsminister Ich möchte Sie hier deshalb an Ihre Erklärung vom
Cheney auf der Pressekonferenz ausführte, für jede 11. Juni 1987 erinnern, als einige westeuropäische
Krise vorbereitet sein müssen. Das ist kein politisches Staaten und die USA Kriegsschiffe in den Persisch
Signal zukünftiger Kooperation, das ist eine Drohge- Arabischen Golf schickten.
bärde.
(Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Stel
(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist unwahr, len Sie sich das einmal bildlich vor: der Kanz
Frau Wollenberger!) - ler und Salto mortale! — Heiterkeit bei der
Durch diesen Gipfel wurde nochmals mit Nach- CDU/CSU)
druck deutlich, daß sich die Bundesregierung — trotz Sie sagten damals:
einer radikal gewandelten sicherheitspolitischen
Lage in Europa — unisono mit ihren Verbündeten Ich habe im Vorfeld deutlich erklärt: Kriegs-
weiter auf Konfrontationskurs befindet, um den schiffe und Soldaten in den Golf zu entsenden ist
„neuen Risiken", wie die offizielle Sprachregelung indiskutabel. Unsere Verfassung verbietet das.
jetzt lautet, die man vor allen Dingen an der südlichen Mit dieser Position, die auch während der Golfkrise
Peripherie der NATO sieht, mutig entgegenzutre- von Mitgliedern der Bundesregierung ausdrücklich
ten. bestätigt wurde, haben Sie sich sehr deutlich festge-
Dabei ist die versuchte Tarnung in der Argumenta- legt.
tion schnell zu durchschauen. Die weiterhin als äu- Will man die Regelung künftiger Konflikte nicht
ßerst gefahrvoll an die Wand gemalten Bedrohungen den Supermächten überlassen, dann gibt es zur Stär-
dienen letztlich nur der Durchsetzung von Rüstungs- kung der Vereinten Na tionen keine Alternative. Al-
programmen, die gern als weltweite Wahrnehmung lerdings sind wir für eine bundesdeutsche Beteiligung
von Verantwortung verbrämt werden. Das ist der ei- an friedenserhaltenden Missionen der UNO nur dann,
gentliche Hintergrund für die momentan so hef tig ge- wenn es eine grundlegende Reform innerhalb der
führte Diskussion um einen Einsatz von Bundeswehr- Charta der Vereinten Na tionen gibt. Diese Reform ist
soldaten außerhalb des NATO-Vertragsgebiets. auch jenseits der dann daraus resultierenden Folgen
Fast 18 Jahre ist die Bundesrepublik Mitglied der für die Bundesrepublik Deutschland zwingend und
Vereinten Nationen, und seit dieser Zeit wird auch unbedingt erforderlich und bezieht sich in erster Linie
immer mal über einen bundesdeutschen Beitrag zu auf die Verfaßtheit des Weltsicherheitsrates.
den UN-Friedenstruppen diskutiert. Zur Zeit erleben Eine notwendige Voraussetzung für eine Beteili-
wir unter dieser Betrachtungsweise lediglich eine gung an UN- „peacekeeping opera tions" wäre dar-
neue Etappe auf dem Weg, die Bundeswehr für mili- über hinaus die völkerrechtlich verbindliche Zuord-
tärische Missionen außerhalb der Beschränkungen nung friedenserhaltender Maßnahmen der UNO zum
durch das Grundgesetz einzusetzen. Kapitel VI der Charta. Do rt müssen die Verfahrens-
Das Fatale an dieser Diskussion ist aber, daß es der modalitäten eindeutig und unmißverständlich präzi-
Bundesregierung bei der Änderung des Grundgeset- siert werden. Erst dann steht einem Einsatz von Ein-
zes keineswegs um die Stärkung der UNO und deren heiten der Bundeswehr für friedenserhaltende Maß-
friedenserhaltende Maßnahmen geht. Das war schon nahmen der Vereinten Na tionen aus unserer Sicht
zu ihren Oppositionszeiten — und ist es auch heute — nichts mehr im Weg. Ein weitergehender Einsatz der
nur schmückendes Beiwerk. Es ging von Anfang an Bundeswehr, z. B. im Rahmen einer westeuropäi-
darum, bundesdeutsche Soldaten zur Durchsetzung schen Eingreiftruppe der WEU oder EG oder im Rah-
nationaler Interessen — egal, unter welchem organi- men von Out-of-area-Einsätzen der NATO, ist für uns
satorischen Dach — weltweit einzusetzen. Die hohe völlig indiskutabel und wird deshalb entschieden ab-
Akzeptanz der bundesdeutschen Bevölkerung gegen- gelehnt.
über den unbestrittenen Leistungen der Vereinten Für unumgänglich halten wir dagegen die Auf-
Nationen — ich denke hier beispielsweise an die Ver- nahme neuer Grundrechte für Bürger in die Verf as
leihung des Friedensnobelpreises an die „Blau- sung. Dazu gehört das Recht aller Bürgerinnen und
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2089

Vera Wollenberger
Bürger auf eine soziale Grundsicherung, d. h. auf ein — Sie haben ja sonst immer so viele Worte für die
Mindesteinkommen und eine angemessene Woh- Opfer übrig, aber offenbar haben Sie kein Gehör da-
nung. Dazu gehören das Grundrecht auf informatio- für.
nelle Selbstbestimmung und seine verfahrensrechtli- (Zuruf von der CDU/CSU: Es lohnt nicht! —
che Absicherung durch den Anspruch aller Menschen Weitere Zurufe von der CDU/CSU)
auf Einsicht in die über sie erhobenen Daten. Dem
steht die Begehr li chkeit des Verfassungsschutzes (Vorsitz: Vizepräsident Dieter-Julius
nach weiterer und legalisierter Nutzung der Stasi- Cronenberg)
Opfer-Akten gegenüber. Die Bundesregierung hat seinerzeit das Honecker
Regime mit Milliardenkrediten unterstützt und damit
Überhaupt sind auch im Bereich des Ministeriums länger als nötig am Leben erhalten und damit indirekt
des Innern mehrere Grundsatzentscheidungen falsch zum Leiden der Opfer beigetragen.
getroffen worden. Insgesamt sind die Aufwendungen (Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Wenn
für innere Sicherheit erheblich gesteigert worden. man Ihnen zuhört, wird man sofort veranlaßt,
Das dürfte mit der Erwartung eines sozial heißen Ihnen zuzurufen, wie unverschämt Sie argu
Herbstes in Zusammenhang stehen. Oder, wie der mentieren!)
Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei vor ca. vier
Wochen sinngemäß sagte: Vorkehrungen für die Auf-
rechterhaltung der inneren Sicherheit bzw. gegen Un- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab-
ruhen sind zugleich Standortwerbung und Vorbedin- geordneter Pfeffermann, Sie haben zur Zeit nicht das
gung für die in den neuen Bundesländern benötigten Wort.
Investoren. Trotzdem sind die Aufwendungen für den (Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Aber
Ausbau der Bereitschaftspolizei in Deutschland durch Sie will doch, daß ich zuhöre!)
Bundesinteresse nicht mehr zu rechtfertigen und ver-
stoßen darüber hinaus gegen Finanz- und Zuständig-
-
Vera Wollenberger (Bündnis 90/GRÜNE): Wir hal-
keitsregelungen des Grundgesetzes. Wir haben des-
halb einen entsprechenden Änderungsantrag vorge- ten es deshalb aus Gründen der politisch-moralischen
legt. Hygiene und des verantwortlichen Umgangs mit den
Fehlern der Vergangenheit für unumgänglich not-
wendig, daß für die Entschädigung der Opfer ein
Mehr Geld und Personal wären dagegen nötig für Bleichhoher Beitrag zur Verfügung gestellt wird, wie
die schnelle Durchsicht, Aufarbeitung und öffentliche man ihn seinerzeit für das Honecker-Regime übrig
Darstellung der Stasi-Aktenbestände und die Offenle- hatte. Damit könnten alle berechtigten Erwartungen
gung der Stasi-Strukturen. der Opfer erfüllt werden.
Neben der Erhaltung des Friedens ist der Schutz der
Wir brauchen auch dringend unbürokratische Re- natürlichen Lebensgrundlagen eine Aufgabe von exi-
gelungen für die Anerkennung von Stasi-Opfern und stentieller Bedeutung. Wir treten deshalb dafür ein,
Geschädigten des DDR-Systems. Wir brauchen eine daß in der Verfassung die Verpflichtung aller staatli-
endgültige, bef ri edigende Regelung für die Entschä- chen Gewalt, die Umwelt als Lebensgrundlage zu-
digung dieser Opfer. Der immer wieder zitierte Aus- künftiger Generationen und die Natur um ihrer selbst
spruch des Justizministers Kinkel, es dürften keine willen zu schützen, festgeschrieben werden muß.
unerfüllbaren Hoffnungen geweckt werden, ist eine
erneute Demütigung für die betroffenen Menschen. Die Welt darf nicht länger nur Fabrikationsmaterial
für die Gewinnproduktion sein. Statt des gegenwärti-
gen Anthropozentrismus
Im Augenblick ist nicht einmal gewährleistet, daß
der gerichtlichen Festlegung, daß der Staatshaushalt (Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Da
die Kosten eines Rehabilitierungsverfahrens trägt, hat Ihnen der Professor wohl etwas Falsches
auch entsprochen wird. Aus eigener Erfahrung weiß hineingeschrieben!)
ich, daß es vorkommt, daß Rehabilitierungsverfahren brauchen wir jene Schöpfungsbezogenheit, wie sie im
aus eigener Tasche bezahlt werden mußten. Aber wie konziliaren Prozeß der Kirchen gefordert ist. Wir brau-
viele der Opfer, von denen es vielen materiell sehr chen eine verfahrensrechtliche Absicherung durch
schlecht geht, können sich das leisten? Klage- und Akteneinsichtsrecht für Umweltschutzver-
bände. Ein ökologischer Rat sollte gebildet werden
Nicht um behaupteten unerfüllbaren Erwartungen und bei der Gesetzgebung mitwirken. Bund, Länder
zu genügen, sondern um den schwer benachteiligten und Gemeinden sollten verpflichtet werden, die
Opfern des DDR-Regimes endlich zu fairen Lebens- Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen im Rah-
chancen zu verhelfen, sollte eine Grundsatzentschei- men des ökologisch Verträglichen zu fördern.
dung getroffen werden. Im Bereich der Umweltsanierung könnten Hundert-
tausende von Arbeitsplätzen in den nächsten Jahren
(Anhaltende Unruhe) geschaffen werden, um die schlimmsten Altlasten zu
beseitigen, um die Luftreinigung voranzutreiben und
um die Gewässersanierung zu bewältigen. Die paar
— Vielleicht können Sie wenigstens jetzt mal zuhö- Pilotprojekte des Herrn Töpfer machen den Kohl nicht
ren. fett. Es bringt mehr Umweltschutz und mehr sinnvolle
Arbeit bei gleichem Investitionsvolumen, wenn statt
(Zurufe von der CDU/CSU) auf Atomkraftwerke auf Energiesparen und emeuer-
2090 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Vera Wollenberger
bare Energiequellen gesetzt wird. Es ist umwelt- felder nur dadurch unterscheidet, daß sie weiß ist und
freundlicher und schafft mehr sinnvolle Arbeitsplätze, über Giftmüll liegt. Das wäre das Gegenteil eines blü-
wenn auf den Vorrang des Schienenverkehrs und auf henden Landes, wie es uns bei der Wahl versprochen
den Ausbau vorhandener Landstraßen gesetzt wird wurde. Wer möchte in einem Land mit solchen Per-
statt auf den arbeitskräftearmen Autobahnbau, den spektiven leben?
Herr Krause mit der Brechstange vorantreiben will. Tatsächlich nehmen die rechtsradikalen Tenden-
Es ist umweltfreundlicher und schafft mehr sinn- zen gerade in Thüringen, Sachsen und Sachsen-An-
volle Arbeit, wenn Lebensmittel naturnah angebaut halt zu. Täglich werden im vereinten Deutschland
und in kleinen Netzen vermarktet werden. Doch dazu Asylbewerber und Einwanderer von rechtsradikalen
bedarf es ausreichender Investitionshilfen für Agrar- Gruppen angegriffen. Die Fremdenfeindlichkeit ge-
betriebe. gen die Asylbewerber und Einwanderer hat derartige
Ausmaße angenommen, daß die Asylbewerber und
Es ist umweltfreundlicher und schafft sinnvolle Ar- Einwanderer um ihre Sicherheit fürchten müssen.
beitsplätze, Elektromobile zu bauen, statt auf die alten
Benzinkutschen zu setzen. Hierfür braucht man ge- Die Fluchtbewegungen in der Welt nehmen zu und
zielte Zukunftsinvestitionsprogramme. In solche Pro- werden auch Europa zunehmend erreichen. Die Ursa-
gramme sollten Bundesförderungsmittel investiert chen sind vielfältig. Doch Hauptursachen bleiben die
werden und nicht z. B. in Kaligruben, die für die Auf- Unterdrückung und Verfolgung von Menschen
nahme von Giftmüll vorbereitet werden sollen. — durch Haft, Folter und Morddrohung — aus politi-
schen, wirtschaftlichen und religiösen Gründen bis
Bei einem Hearing am vergangenen Wochenende hin zu Krieg und Bürgerkrieg. Und an allen Fluchtur-
in Thüringen wurde bekannt, daß bereits Bundesför- sachen ist die Bundesrepublik Deutschland als eines
dermittel in Millionenhöhe in Gruben geflossen sind, der bedeutendsten Industrieländer indirekt beteiligt.
obwohl die erforderlichen Planfeststellungsverfahren
noch gar nicht abgeschlossen waren. Bekanntlich ist In dieser Situation ist es erforderlich, durch radikale
die Giftmüllentsorgung fest in p rivater Hand. Von rechtliche Gleichstellung aller Bevölkerungsgruppen
den Gewinnen, die durch die geplante Giftmüllver- allen nationalistischen und rassistischen Bestrebun-
bringung in Kaligruben gemacht werden — bekannt- gen die politisch-juristische Legitimation zu entzie-
lich sind die Gewinnspannen solcher Firmen mit de- hen. Die Verweigerung demokratischer Grundrechte
nen des Drogenhandels vergleichbar —, werden die für einen Teil der Bevölkerung schadet der Demokra-
betreffenden Bundesländer, in denen sich die Gruben tie insgesamt. Der Ausschluß von fast 5 Millionen Ein-
befinden, keinen Pfennig zu sehen bekommen. wohnerinnen und Einwohnern vom Wahlrecht bedeu-
tet, daß unsere Parlamente nicht mehr repräsentativ
Es werden also Bundesfördermittel eingesetzt, um sind.
die private Gewinnmaximierung zu begünstigen. Un-
In einer neuen deutschen Verfassung müßten des-
ter Aufschwung Ost hatten wir uns etwas anderes vor-
halb alle Grundrechte, die bisher nur deutschen
gestellt.
Staatsangehörigen zustehen, allen Bürgerinnen und
Als ob das nicht schon Skandal genug wäre, stellte Bürgern gewährt werden, die seit mindestens fünf
sich auch noch heraus, daß sämtliche bekannten Gift- Jahren legal in Deutschland leben.
abfälle, außer radioaktiven, unterschiedslos eingela- Die sehr begrenzte Redezeit unserer Gruppe er-
gert werden sollen, obwohl sich nach Expertenmei- laubt es nicht, alle Probleme umfassend darzustel-
nung nur etwa ein halbes Dutzend für die Lagerung in len.
Salzstöcken eignen. Das Argument, mit dem bei der
Bevölkerung eine Akzeptanz für Giftmülleinlagerun- (Zurufe von der CDU/CSU)
gen erzielt werden soll, ist, daß Arbeitsplätze geschaf- Wer auf die Dramatik der Situation in den neuen Bun-
fen würden. In meiner Heimatstadt Sondershausen, desländern hinweist, begibt sich in Gefahr, der Mies-
wo über 1 000 Kalikumpel arbeitslos werden, wären macherei beschuldigt zu werden.
es genau 19 Arbeitsplätze pro Schicht. Das ist weniger
als der bekannte Tropfen auf den heißen Stein. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Mit
Recht!)
Gleichzeitig würden aber Hunderte potentieller Ar-
beitsplätze in der Tourismusbranche gar nicht erst Dabei ist es bei aller berechtigten Freude über Teiler-
entstehen können; denn wer will schon auf einer Gift- folge geboten, den Ernst der Lage zu erkennen.
müllkippe Urlaub machen, und wenn die Gegend Die Selbstmordrate ist auf dem Gebiet der ehemali-
noch so schön ist? gen DDR auf das Zehnfache gestiegen. Dafür ist die
Die Landschaft, von der ich gerade spreche und die ehemals hohe Zahl der Geburten unter die in der ehe-
durch Giftmülleinlagerungen bedroht ist, ist eine der maligen BRD gesunken. Diese Tatsachen sprechen
artenreichsten Deutschlands. Die Gipskarstgebiete eine eigene Sprache.
der Gegend erfüllen alle Kriterien eines UNO-Bio- Stellen Sie sich vor, Herr Bundeskanzler, Sie wären
sphärenreservats. Sie hätten deshalb gute Chancen, ein Ossi: Ihr Sparguthaben nach langjähriger Arbeit
in die UNO-Liste aufgenommen zu werden. wäre vor einem Jahr halbiert worden, Sie stünden nun
ohne Arbeitsplatz da, aber dafür müßten Sie einen
Leider sind sie durch die Begehrlichkeiten der Gips-
Wohngeldantrag stellen, um Ihre Miete noch bezah-
industrie bedroht, die sich die zweifelhaften Bergbau-
schutzgesetze der alten DDR zunutze machen will. len zu können.
Statt eines Biosphärenreservats würde dort dann eine Die Politik des Anschlusses, die Sie, Herr Bundes-
Tagebaulandschaft entstehen, die sich von der Bitter- kanzler, betrieben haben, ist gescheitert. Sie sollten
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2091

Vera Wollenberger
den Mut haben, sich dafür bei den Menschen im — Nein, ich bin da vorsichtiger. — Wenn ich sie so im
Osten zu entschuldigen. nachhinein lese, dann muß ich sagen, daß ich sie für
Ich danke Ihnen. genauso wenig geglückt halte wie Ihre heutige
Rede.
(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und der
PDS/Linke Liste sowie bei Abgeordneten der (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)
SPD) Herr Ministerpräsident, da Sie ja so gerne im Be-
reich der Literatur und der Philosophie Ausschau hal-
ten, hoffe ich für Sie zusammen mit meinem Lands-
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort mann Ernst Bloch nach dem „Prinzip Hoffnung" auf
hat der Bundeskanzler. gute Auftritte hier im Bundestag.
Was ich aber bedauere — das ist ein Anspruch, den
Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler: Herr Präsident! man an den neugewählten Parteivorsitzenden der
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte SPD stellen kann — , ist, daß Sie keine Antworten ge-
vorab eine Bemerkung an die Adresse meiner ge- geben haben,
schätzten Vorrednerin machen. Ich bin ja daran ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
wöhnt, für alles verantwortlich gemacht zu werden.
Ich bin nun aber wirklich nicht bereit, auch noch die und zwar auf die konkreten Fragen der Politik, und
Verantwortung für das Absinken der Geburtenrate in daß Sie eine Begründung Ihrer ganz persönlichen Po-
den neuen Bundesländern zu übernehmen, litik in den letzten Jahren unterlassen haben. Sie sind
ja schon seit Jahren an verantwortlicher Stelle in unse-
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und rer Bundesrepublik tätig. Ich habe von Ihnen z. B.
der FDP) nichts zum Thema Abrüstung gehört. Volker Rühe
zumal ich noch gar nicht weiß, wie Sie das — — und auch Graf Lambsdorff haben das mit Recht hier
(Anhaltende Heiterkeit und Beifall bei -der schon gerügt. Über viele Jahre hinweg hat die Sozial-
CDU/CSU und der FDP) demokratische Partei Deutschlands die Abrüstung zu
einem zentralen Thema ihrer Politik gemacht. Hier im
— Sehen Sie, es ist sehr typisch für Sie, gnädige Frau, Deutschen Bundestag haben wir nach meiner Wahl
daß Sie es nie abwarten können. zum Kanzler am 1. Oktober 1982 große Redeschlach-
(Erneute Heiterkeit und Beifall bei der CDU/ ten um den richtigen Weg gehabt. Als ich Ihnen da-
CSU und der FDP) mals zurief „Wir wollen Frieden schaffen mit weniger
Die deutsche Einheit ist am 3. Oktober 1990 vollendet Waffen", haben Sie uns mit einer schlimmen Hetze in
worden. Jetzt schreiben wir, wenn ich mich richtig bezug auf Kriegsgefahr und anderes überzogen.
erinnere, Anfang Juni. Wie kommen Sie da eigentlich Nun, meine Damen und Herren, wir haben Wort
auf die neun Monate? gehalten.
(Erneute Heiterkeit und Beifall bei der CDU/ (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU — Bei
CSU und der FDP) fall bei der FDP)
Sehen Sie, diese Äußerung war leider ziemlich symp- Sie sprechen so gerne von Wahrhaftigkeit. Das ist ein
tomatisch für das, was Sie insgesamt gesagt haben. Punkt, bei dem Sie uns die Antwort auf die Frage
(Beifall bei der CDU/CSU) schulden, warum Sie damals von Kriegsgefahr ge-
sprochen haben und damit billige Geschäfte bei den
Meine Damen und Herren, die Haushaltsdebatte
Wählern machen wollten.
und die Beratungen des Etats des Bundeskanzleram-
tes sind traditionell Grundlage für eine Generalaus- Es gehört zu diesem Bild — das will ich hinzufü-
sprache. Es ist die verständlichste Sache der Welt, daß gen — , daß Sie auch über die politischen Folgekosten
hier Kri tik geübt wird und Meinungen auseinander- dieser so überaus erfolgreichen Abrüstungspolitik, die
gehen. Es ist auch ganz selbstverständlich — ich uns jetzt zu schaffen machen, ein Wort hätten sagen
selbst habe diese Rolle über viele Jahre hinweg wahr- können. Ich muß das schon bemerkenswert finden,
genommen —, daß die Opposition K ritik übt. Die heu- was ich täglich in meiner Post zu lesen bekomme,
tige Haushaltsdebatte war aber Anlaß zu einem unge- nämlich wer sich jetzt alles über den Abzug der Ame-
wöhnlichen Einstand. Der gerade neu gewählte Vor- rikaner oder der Franzosen und den Abbau von Bun-
sitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutsch- deswehrstandorten bitter beschwert.
lands, Herr Ministerpräsident Engholm, hat hier ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
sprochen. Ich nehme zunächst einmal die Gelegenheit
wahr, Herr Ministerpräsident, Ihnen zu Ihrer Wahl zu Ich habe niemals „Ami go home" gerufen; ich habe
gratulieren. Da ich jetzt 18 Jahre Parteivorsitzender mich nicht an jener Verfemung unserer amerikani-
einer anderen großen Volkspartei bin, habe ich eine schen Freunde während des Vietnam-Kriegs und in
Vorstellung davon, was auf Sie zukommt. Deshalb der Zeit danach beteiligt. Es ist schon erstaunlich, wel-
gratuliere ich Ihnen um so herzlicher. che Widersprüche einem heute zugemutet werden,
wenn es um den Abzug oder den Abbau von Truppen
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) und die Probleme geht, die damit natürlich vor Ort
Als Sie sprachen — lassen Sie mich das ganz ent- entstehen.
spannt sagen —, habe ich mich an meine erste Rede Ich spreche ein zweites an. Ich behaupte, daß es in
nach meiner Wahl zum Parteivorsitzenden im Jahre den langen Jahren der Bundesrepublik — ich spreche
1973 erinnert. keinem meiner Vorgänger in irgendeiner Weise sei-
(Zuruf von der CDU/CSU: Die war besser!) nen Willen und seine Tatkraft ab — niemals bessere
2092 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl


Beziehungen zu den wich tigsten Partnern Deutsch- stimmung sind Sie doch davon abgerückt; Sie haben
lands — den USA, Frankreich und Großbritannien — dann so weitergemacht.
und zur Sowjetunion gegeben hat als heute.
Wissen Sie, Herr Ministerpräsident, wo Sie als So-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zialdemokraten an jenem 10. November abends in
Berlin standen, als Herr Momper das aussprach, was
Dies ist ein Erfolg dieser Bundesregierung. Ich bin
die allermeisten bei Ihnen gedacht haben, nämlich
stolz darauf, daß ich dazu beitragen konnte.
daß es um „Wiedersehen" gehe und nicht um Wieder-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) vereinigung?
Drittens. Ich bin schon sehr erstaunt, Herr Minister- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
präsident, über das, was Sie hier über die europäische ordneten der FDP)
Integrationspolitik gesagt haben. Alles das, was Sie
Deswegen, Herr Ministerpräsident, bin ich nicht be-
verlangen, ist doch längst im Gange. Als ich mein Amt
reit, Kritik von einer Seite hinzunehmen, die zunächst
antrat, war das Wort von der „Eurosklerose" das
allen Grund zur Selbstkritik hätte. Daß wir nicht alles
meistgenannte Wo rt mit Blick auf Europa. Der Beg riff
optimal gemacht haben, daß wir Fehler gemacht ha-
einer schlimmen Krankheit war mit dem Beg riff
ben, daß in den dramatischen Entwicklungen dieser
Europa verbunden.
fünf Vierteljahre manches zu kurz gekommen ist, weil
Heute weiß jeder: Der große Markt kommt am zuwenig Zeit zum Nachdenken und zur Bedachtsam-
31. Dezember 1992. Heute wissen wir — das wissen keit vorhanden war, räume ich Ihnen gerne ein. Es
übrigens alle, auch Ihre politischen Freunde im Euro- hätte Ihnen jedoch gut angestanden, zu sagen, daß es
päischen Parlament — , daß die Bundesrepublik eben nur ein paar Wochen waren, in denen die deut-
Deutschland und die Bundesregierung die treibende sche Einheit interna tional durchsetzbar war. Diese
Kraft bei der europäischen Integra tion sind und daß Chance haben wir genutzt; das ist doch die Wahr-
François Mitterrand und ich gemeinsam immer wie- heit.
der die Initiative ergriffen haben, um als- Motor der (Anhaltender lebhafter Beifall bei der CDU/
europäischen Einigung zu wirken: bei der Wirt-
CSU — Beifall bei der FDP)
schafts- und Währungsunion und bei der Politischen
Union. Herr Ministerpräsident, ich komme auf das — je-
denfalls für mich — wichtigste Thema, nämlich die
Warum sagen Sie nicht ganz einfach: Dies ist ein
Entwicklung der neuen Bundesländer, gleich noch
Feld der Politik, bei dem wir übereinstimmen, und
einmal eingehend zurück.
dabei unterstützen wir Sie? Ich habe bisher keine bes-
seren Vorschläge von Ihrer Seite gehört. In bezug auf das, was Sie auch im Blick auf die
wirtschaftliche Entwicklung der alten Bundesländer,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
der bisherigen Bundesrepublik gesagt haben, ver-
Sie haben auch die Erhaltung der Schöpfung ange- stehe ich eines überhaupt nicht: Wie können Sie hier
sprochen. Nun, Herr Ministerpräsident, was haben als Ministerpräsident eines deutschen Bundeslandes
Sie während der Regierungszeit der SPD zum Erhalt ans Pult treten und sagen, daß uns die industriepoliti-
der Regenwälder getan? Der Raubbau an den Regen- sche Perspektive fehle? Meine Damen und Herren,
wäldern fand auch schon vor 1982 statt. Es war diese wie präsentiert sich denn die alte Bundesrepublik ei-
Bundesregierung, die beispielsweise eine Verbin- gentlich am heutigen Tag? Seit 1983 haben wir einen
dung zwischen Schuldenerlaß an Länder der Dritten kontinuierlichen wirtschaftlichen Aufstieg. Es gibt
Welt und dem Erhalt der Regenwälder hergestellt kein vergleichbares Land — vielleicht von der
hat. Schweiz abgesehen — , in dem ein Regierungschef
das gleiche von seinem Land sagen kann.
Wir haben gestern gemeinsam ein nationales Komi-
tee zur Vorbereitung der großen Umweltkonferenz (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU — Bei
der Vereinten Na tionen im nächsten Jahr gegründet. fall bei der FDP)
Ich hatte den Eindruck — ich war bei der Eröffnung
Wir haben Jahr für Jahr eine Zuwachsrate des Brut-
dabei —, daß auch die Kollegen aus der SPD, die
tosozialprodukts gehabt, im letzten Jahr den Rekord-
daran teilnahmen, das alles durchaus für vernünftig
wert von 4,5 % — natürlich nicht zuletzt und vor allem
hielten. Ich bin dafür, daß wir auch hier ein Stück
wegen der deutschen Einheit. Wir hätten diese 4,5 %
Gemeinsamkeit entwickeln.
nicht erreicht ohne den Prozeß der deutschen Einheit
Ich komme jetzt zum Thema deutsche Einheit. und den Boom, der auch dadurch in der westdeut-
Wenn ich an manche Äußerung, die auch auf Ihrem schen Wirtschaft entstanden ist. Wir haben jetzt allen
Parteitag gemacht wurde, denke — ich meine jetzt Unkenrufen zum Trotz — ich behaupte nicht, daß das
nicht Sie persönlich, sondern andere — , dann frage die Zahl für das ganze Jahr 1991 ist — im ersten Quar-
ich mich gelegentlich: Wo war ich eigentlich 1990? tal 1991 immerhin gut 4 % Zuwachsrate beim Brutto-
Wie Sie die Geschichte jetzt umzuschreiben versu- sozialprodukt.
chen, hat mit der Wirklichkeit von damals nichts zu
Jacques Delors, mit dem ich gerade gestern darüber
tun.
sprach, sagt ja auch, daß alle in der EG einen großen
Wo war die deutsche Sozialdemokratie, als wir Nutzen davon haben. Frankreich hat im ersten Vier-
Ende 1989 über mein Zehn-Punkte-Programm zur teljahr dieses Jahres im Export nach Deutschland eine
deutschen Einheit diskutiert haben, das international Steigerung von 20 % zu verzeichnen. Das heißt doch,
von vielen als das richtige Konzept zum richtigen Zeit- daß die deutsche Wirtschaft durch die Wiedervereini-
punkt erkannt wurde? Nach einem Moment der Zu- gung, aber auch durch die ökonomische Leistungs-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2093
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
kraft in der alten Bundesrepublik eine Entwicklung doch auch der Tatsache, daß sie für ihre Mitglieder —
vorzuweisen hat, die auch unseren EG-Partnern sehr das ist gestern ja hinreichend gerühmt worden — viel
zugute kommt. tun konnte. Sie konnte für ihre Mitglieder solche Ta-
Warum sollen wir denn jetzt eigentlich wieder sol- rifverträge durchsetzen, weil die Wirtschaft unseres
che Ladenhüter hervorziehen, Herr Ministerpräsi- Landes enorme Möglichkeiten bot.
dent, als sei irgend jemand in der Koalition der Mei- (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der
nung — hier muß ich ausdrücklich auch den Grafen FDP)
Lambsdorff verteidigen und in Schutz nehmen — , daß
Herr Abgeordneter, der Sie gerade den Zwischen-
Marktwirtschaft — wir reden hier übrigens nicht von
ruf gemacht haben, wenn Sie Ihre engere Heimat und
Marktwirtschaft, sondern von Sozialer Marktwirt-
schaft — eines der großen Automobilwerke, das dort steht, das
dort Niederlassungen hat, betrachten, dann wissen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie doch: Tarifverträge dieser A rt mit solchen Erfol-
gen für den einzelnen Arbeitnehmer kann man nur
bedeute, wir würden uns sozusagen als Staat — wir
alle, die wir den Staat repräsentieren — in unseren abschließen, wenn sich die Wirtschaft in einer glän-
zenden Verfassung befindet. Das hat mit unserer Poli-
jeweiligen Funktionen zurücklehnen und uns um
tik sehr viel zu tun!
überhaupt nichts kümmern? Das ist doch eine absurde
Vorstellung. Ludwig Erhard würde sich im Grab her- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
umdrehen, wenn das unsere Politik wäre. Ich nenne noch einen weiteren Punkt: Preisstabili-
Die Infrastruktur gehört dazu. Meine Vorrednerin tät. Ich finde, wir — wenn ich das sage, dann meine
hat den Kollegen Krause soeben wegen der Verkehrs- ich doch nicht nur die Bundesregierung, sondern alle
entwicklung in den neuen Bundesländern kritisiert. Teile unserer Gesellschaft — haben hier in den letzten
Ja, wenn Sie die Bahn- und die Autobahn- und die Jahren Beachtliches dazu leisten können, daß die D-
Kanalverbindungen nicht in Ordnung bringen, dann Mark so stabil ist. Wenn in der Diskussion über eine
werden Sie dort keinen industriellen Aufschwung ha- europäische Währung einige unserer Partner mit
ben. Das muß doch der Staat leisten! leichter Häme sagen: „Wir haben ja eigentlich schon
eine europäische Währung! ", dann hat das doch et-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) was mit der Stabilität unserer D-Mark zu tun.
Verehrter Herr Ministerpräsident Engholm, ich Ich könnte die Liste der Beispiele beliebig fortset-
weiß nicht, warum Sie Margaret Thatcher und Ronald zen. Ich will nur sagen: Ich habe viel Verständnis für
Reagan mit ihrer Wirtschaftspolitik hier in die Debatte Kritik, aber ich hätte es schon begrüßt, wenn Sie wirk-
eingeführt haben. Das war für mich nie ein Vorbild. liche Alternativen vorgetragen hätten, beispielsweise
Ich bin allerdings auch durch meinen kurzen Vaterna- zur Industriepolitik. Wir haben in Hamburg gerade
men davor geschützt, daß daraus ein Ismus gemacht die Zeche für eine großartige Politik bezahlt, die wir
wird. im Bund gemacht haben, die aber der Hamburger
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und Senat für sich in Anspruch genommen hat. Die Wirt-
der FDP) schaft dort boomt doch nicht auf Grund der Leistung
des Hamburger Senats.
Ich kann also nur sagen: Wir haben immer Politik der
Sozialen Marktwirtschaft gemacht. Das ist Politik zu- (Beifall bei der CDU/CSU)
gunsten breiter mittelständischer Schichten. Das ist Daß der Hamburger Hafen in Nordeuropa wieder eine
Politik für die Arbeitnehmerschaft. Wir sind jetzt da- Perspektive hat, daß es in der Nachbarschaft jetzt kei-
bei, etwa in bezug auf die neu entstehenden Bet riebe, nen Schießbefehl und keinen Stacheldraht mehr gibt,
auf die Idee zurückzukommen — sie wurde in den sondern die alte Verbindung nach Mecklenburg-Vor-
letzten dreißig Jahren leider nicht hinreichend kon- pommern wieder da ist, daß beispielsweise die Ent-
kretisiert — , daß sich möglichst viele Betriebsangehö- wicklung in der EG auch Hamburg enorme Vorteile
rige an dem jeweiligen Unternehmen beteiligen kön- gebracht hat und noch mehr bringen wird, das ist doch
nen. Es gibt jetzt doch interessante Diskussionen zu das Ergebnis unserer Politik.
diesem Punkt, aus denen wir auch praktische Konse-
quenzen ziehen wollen. Ich muß in Kauf nehmen — das weiß ich; lassen Sie
mich das einmal ganz offen sagen, auch wenn es im-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) mer wieder eine schmerzliche Erkenntnis ist — , daß
Wenn ich das richtig sehe, sind wir, was weite Teile diese Erfolge erst langsam und nicht über Nacht aner-
der Gewerkschaften und übrigens, so glaube ich, kannt werden und daß Sie in der Zwischenzeit daraus
auch Ihrer eigenen Partei angeht, gar nicht so weit natürlich auch politisch Honig saugen können. Nur,
auseinander. Es gibt doch vieles, was man miteinan- das habe ich als Parteivorsitzender nach 1973 auch
der besprechen könnte. lange geglaubt, und dann hat es immerhin noch neun
Jahre gedauert, Herr Kollege. Deshalb betrachte ich
Das Ergebnis unserer Industriepolitik konnten Sie dies mit großer Gelassenheit.
doch gestern mit mir gemeinsam in der Paulskirche
sehen. Sie sahen dort eine selbstbewußte Gewerk- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
schaft, eine der großen Gewerkschaften der Welt. Der Haushaltsentwurf, der jetzt zur Beratung an-
(Zurufe von der SPD) steht, dokumentiert die Verantwortung Deutschlands
für die Herstellung seiner inneren Einheit, für die
— Das will ich gleich begründen, Verehrter. Daß diese Schaffung des vereinten Europas und die Sicherung
Gewerkschaft so selbstbewußt sein kann, verdankt sie des Friedens in der Welt. Es ist hier mit Recht gesagt
2094 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl


worden — ich denke, das ist ein Stück gelebter Ge- Es ist auch ganz falsch, wenn in den westlichen
meinsamkeit —, daß wir gemeinsam das Ziel haben, Bundesländern manche so reden und denken, als hät-
gleiche Lebensverhältnisse in ganz Deutschland zu ten unsere Landsleute in den neuen Bundesländern
schaffen. Jeder hier im Saale weiß wohl, daß es gewal- die deutsche Einheit nur erstrebt, um möglichst
tige Schwierigkeiten auf diesem Wege gibt. Ich schnell den Wohlstand genießen zu können. Das ha-
glaube auch, wir sollten uns nicht gegenseitig vorhal- ben manche sogenannte Intellektuelle im letzten Jahr
ten, daß der eine mehr und der andere weniger von schon an Wahlabenden den Menschen klarzumachen
den Sorgen und Ängsten der Menschen versteht. versucht.
Herr Abgeordneter Gysi, Sie zeigten sich vorhin (Zurufe von der CDU/CSU: Schily!)
leicht indigniert über die Reaktion einiger Kollegen Das waren jene Zyniker, die vorgeben, für Menschen
aus den neuen Bundesländern hier im Saale, vor allem zu reden, aber gar nicht fähig sind, sich in deren Lage
aus meiner Fraktion, aber auch aus anderen Fraktio- hineinzuversetzen. Die Menschen wollten Freiheit,
nen. Wundert Sie das wirklich, wenn Sie hier so auf- sie wollten „Einigkeit und Recht und Freiheit" als ein
treten, wie Sie es tun? Sie sind einfach nicht dazu Stück ersehnter Erfüllung ihrer eigenen Hoffnun-
berufen, für die Menschen in den neuen Bundeslän- gen.
dern zu sprechen.
Die Menschen in den neuen Bundesländern haben
(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der mit der friedlichen Revolution 1989 eines der besten
FDP sowie Beifall der Abg. Dr. Hans-Jochen Kapitel deutscher Geschichte geschrieben. Seit fast
Vogel [SPD] und Gerlinde Hämmerle [SPD] 60 Jahren kannten sie nur das Unrecht und den Un-
— Dr. Ulrich Briefs [PDS/Linke Liste]: Das geist der Diktatur. Was ich für alle aus dem Westen,
sollten Sie den Wählern überlassen!) wenn ich das so verkürzt sagen darf, für nachdenkens-
wert halte: Sie haben sich trotz dieser Zeitspanne
— Natürlich haben Sie wie jeder andere, der in freier, gleichwohl Sensibilität für Gerechtigkeit und
geheimer und direkter Wahl gewählt ist, das Recht, Menschlichkeit bewahrt, vielleicht sogar mehr als
hier zu sein und zu sprechen. Aber Sie sollten nicht so manche in der Wohlstandsgesellschaft der bisherigen
tun, als seien Sie der Fürsprecher der Interessen der Bundesrepublik. Ich glaube, jetzt ist es wichtig, daß
Menschen in den neuen Bundesländern. Dieser Un- das Gefühl der Zusammengehörigkeit, das wir uns als
terschied ist hier schon zu machen. Dazu sind Sie nicht Nation in den Jahrzehnten der Teilung bewahrt ha-
in der Lage. ben, auch unseren Alltag bestimmt. Von Mitmensch-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) lichkeit und Verständnis dürfen wir nicht nur reden,
sie müssen sich praktisch bewähren. Wir müssen uns
Wir alle wissen um die Sorgen und Ängste der Men- in dieser schwierigen Phase des wirtschaftlichen Um-
schen um ihre Arbeitsplätze, Wohnungen und die Pro- bads ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen, Ver-
bleme des Alltages. Vor allem wer aus dem Westen antwortungsbewußtsein und Sinn für das Mögliche
kommt, muß begreifen, was es heißt und was es nach bewahren. Nach allem, was ich sehe — sie alle haben
den Erfahrungen von Jahrzehnten kommunistischer doch ihre eigenen Erfahrungen, die ähnlich sind —,
Ditaktur für eine persönliche Herausforderung ist, sind unsere Landsleute in den neuen Bundesländern
-sich in einer völlig anderes gearteten Gesellschafts entschlossen, ihr Schicksal in die eigene Hand zu neh-
und Rechtsordnung, in einem freiheitlichen Rechts- men. Aber sie brauchen in ihrer schwierigen psycho-
staat einzuleben. logischen Situation auch etwas Zeit, die übrigens die
Bundesbürger in den Jahren der Gründung der Repu-
Die Menschen in den westlichen Bundesländern
blik nach der Währungsreform ebenfalls hatten und in
— ich sage das auch für mich persönlich — hatten das
Anspruch genommen haben.
Glück, in einem freiheitlichen und demokratischen
Rechtsstaat zu leben. Unsere Landsleute lebten Jahr- Wenn ich die Arbeiter in Bitterfeld oder anderswo
zehnte in Unfreiheit. Die Älteren unter ihnen, die Al- vor mir sehe, dann weiß ich, daß es ein Unsinn ist,
ten, haben dies auch noch in der Zeit der Nazibarbarei wenn etwa in vielen westlichen Stammtischgesprä-
erleben müssen. chen gesagt wird: Die sollen erst einmal arbeiten ler-
nen. —
40 Jahre Unfreiheit — das heißt ja beispielsweise
40 Jahre Stasi-Herrschaft. Wie sich diese Krake in das (Beifall im ganzen Hause)
Leben und die Existenz des einzelnen eingefressen Als einer, der beruflich aus der chemischen Indust rie
hat, erkennt man bei den täglichen Gesprächen. Man kommt, der als Student dort Jahre als Arbeiter gear-
erkennt auch, welche Wirkungen das in den politi- beitet hat, habe ich eine Vorstellung von der Mentali-
schen Parteien hat und was es bedeutet, wenn gefragt tät in einem solchen Bet rieb. Ich kann nur sagen:
wird: „Warst du damals schon dabei? Wie war deine Wenn ich einerseits die Ergebnisse von Buna, Leuna
Rolle?" Wir haben nach 1945 eine Entnazifizierung und Bitterfeld, die dem Weltmaßstab sicherlich nicht
erlebt. Auch das war ganz gewiß eine schwierige Pe- entsprachen und andererseits die Bedingungen be-
riode unserer Geschichte. Aber es ging nur um zwölf trachte, unter denen diese Ergebnisse erzielt wurden,
Jahre, und viele Weitsichtige hatten spätestens mit dann kann ich von den Arbeitnehmern dort nur mit
dem Beginn des Zweiten Weltkrieges die Perspektive Hochachtung sprechen.
vor sich gesehen: Dieser Krieg geht nicht gut aus, und
die Nazizeit geht zu Ende. Das konnte noch vor drei (Beifall im ganzen Hause)
oder vier Jahren in der früheren DDR so niemand vor- Am 21. Juni des vergangenen Jahres habe ich an
aussagen. Deswegen, finde ich, sollten wir hier auch dieser Stelle in der Regierungserklärung zur Wäh-
Verständnis haben und aufeinander zugehen. rungs-, Wirtschafts- und Sozialunion gesagt:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2095
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
Es wird harte Arbeit, auch Opfer, erfordern, bis heute vielfach mißverstanden werden. Dies ist nicht
wir Einheit und Freiheit, Wohlstand und sozialen nur Seman tik. Ich greife bewußt das Wo rt „Sozial-
Ausgleich für alle Deutschen verwirklichen kön- hilfe " heraus. Wir müssen wirk li ch einmal darüber
nen. nachdenken, ob nicht bestimmte Begriffe, die für uns
Diese Feststellung bleibt richtig, der Übergang ist so selbstverständlich geworden sind, von unseren
Landsleuten in den neuen Bundesländern dahin miß-
schwierig.
verstanden werden, daß womöglich der Eindruck ei-
Daß die Solidarität des Bundes auch und gerade — ner sozialen Zweitrangigkeit entsteht, obwohl z. B.
und trotz unserer gewachsenen internationalen Ver- das Wohngeld damit überhaupt nichts zu tun hat.
antwortung — den neuen Bundesländern und den Diese Aufklärungsarbeit müssen wir gemeinsam lei-
Menschen do rt zugute kommt, zeigt doch der Haus- sten.
halt 1991. Es ist schon gesagt worden: Jede vie rte
Mark auf der Ausgabenseite steht im Zusammenhang Erst letzten Montag habe ich erneut eine Wi rt
mit dem gemeinsamen Aufbauwerk in den neuen -schaftkonerzübdiLgneuBds-
Bundesländern. Wir erhöhen in nahezu allen Berei- ländern geleitet. Hier waren Gewerkschafter, Unter-
chen die Leistungen soweit möglich. Unsere Finanz- nehmer, Unternehmensverbände und viele andere
politik erlaubt es uns, unsere Aufgaben im Inneren Gruppen vertreten, und ich durfte wieder einmal er-
und nach außen zu erfüllen, und zwar ohne Überfor- fahren, daß der Wille zur Gemeinsamkeit vorhanden
derung der Kapitalmärkte. Ich bin dem Haushaltsaus- ist. So werden wir beispielsweise das gerade im Som-
schuß ausdrücklich dankbar, daß er mit seinen Be- mer dieses Jahres besonders drängende Problem der
schlüssen die Politik der Bundesregierung und vor Arbeitsplätze nicht lösen können, wenn wir nach alt-
allem auch des Bundesfinanzministers bestätigt hat. hergebrachten Schablonen verfahren. — Ich streite
jetzt wirk li ch nicht um Begriffe. Sie haben zum Teil
Wir müssen mit Augenmaß vorangehen; denn wir
andere Beg riffe verwandt, und die Gewerkschaften
wissen um die Pflicht, unsere Währung stabil zu hal- haben dies auch getan. Hier geht es jedoch um die
ten. Dies ist eine der Grundvoraussetzungen für zu-
Sache, und dies heißt für mich, daß Arbeitsbeschaf-
künftige wirtschaft li che Wohlfahrt. Volker Rühe hat fungsmaßnahmen durchgeführt werden müssen, daß
es schon gesagt — man kann es nicht oft genug er- Qualifizierungs- und Umschulungsprogramme ge-
wähnen; ich sage es am heutigen Tage besonders
macht werden müssen. Do rt , wo es noch an Unterneh-
gern, weil sich gestern der Tag gejährt hat, an dem
men mangelt, wo es noch keine Handwerksbetriebe
George Marsha ll in der Harvard-Universität den nach gibt und daher auch keine Lehrlinge ausgebildet wer-
ihm benannten Plan vorgeschlagen hat — : Im Jahre
den können, müssen wir eben eine Übergangsrege-
1950 wurden durch die Hilfe der Ame ri kaner für da- lung schaffen. Dies ergibt sich aus unserer Verantwor-
mals über 50 Mi llionen Einwohner 7 Mil liarden DM
tung für die jungen Leute, die jetzt einen Ausbil-
bereitgestellt. Nach heutigen Preisen — Volker Rühe
dungsplatz brauchen.
hat es schon gesagt — wären dies immerhin 800 DM
pro Einwohner. Heute geben wir für jeden der gut (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
16 Millionen Einwohner der neuen Bundesländer
6 100 DM aus. Daran sieht man, daß hier eine gewal- Meine Damen und Herren, in diesem Jahr stehen
tige finanzielle Anschubkraft vorhanden ist. Dies ist allein 280 000 Plätze in Arbeitsbeschaffungsmaßnah-
selbstverständlich keine Milchmädchenrechnung; men zur Verfügung. Außerdem können wir mit rund
vielmehr sind die heutigen Preise berücksichtigt. Ich -7,7 Milli arden DM mehr als 500 000 Fortbildungs
habe nicht behauptet, daß sich diese Dinge völlig ver- und Umschulungsmaßnahmen verwirklichen. Ich
gleichen lassen. Aber angesichts der Tatsache, daß so sprach von den Lehrstellen. Das, was sich jetzt ab-
viele sagen, es geschehe nicht genug, wi ll ich doch zeichnet, ist noch keineswegs die Erfüllung unserer
darauf hinweisen, daß bereits eine geringere Summe Wünsche; aber ich muß ebenso klar sagen, daß ich aus
zum Aufbau der ursprünglichen Bundesrepublik ent- der Besprechung am vergangenen Montag mit dem
scheidend beigetragen hat. Hinzu kam natürlich die Gefühl herausgegangen bin, daß — wie damals 1984/
Leistungsbereitschaft der Menschen. Der Aufstieg der 85 Gewerkschaften, Unternehmer, der Deutsche
alten Bundesrepublik ist nicht vom Himmel gefallen, Indust ri e- und Handelstag und die Handwerksver-
er ist ha rt erarbeitet worden. Gemeinsam müssen wir bände große Anstrengungen unternehmen, das Ziel
nun auch den Aufstieg der neuen Bundesländer erar- zu erreichen. Ich finde es müßte eigentlich unser ge-
beiten. meinsamer Ehrgeiz sein, daß Ende dieses Jahres mög-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) lichst alle Schulabgänger auch Ausbildungsplätze be-
kommen. Das muß unser Ziel sein, und das halte ich
Ich finde es nicht gut, wenn, wie dies eben wieder für ganz wich ti g.
durch meinen Vorredner geschehen ist, die sozialen
Errungenschaften, die jetzt auch den Menschen in (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
den neuen Bundesländern zur Verfügung stehen, her-
abgesetzt werden. In der ursprünglichen Bundesrepu- Wir haben Förderbedingungen für den Aufbau in
blik waren alle stolz auf die soziale Tat der Einführung den neuen Bundesländern geschaffen, wie es sie nie
des Wohngeldes. Das Wohngeld ist doch nie als Almo- zuvor gegeben hat und wie es sie, wenn ich das richtig
sen verstanden worden, sondern es ist verstanden sehe, gegenwärtig in keinem Land Europas gibt. Es
worden als eine gesellschaftspolitische Notwendig- gibt für p rivate Investitionen eine Investitionszulage
keit, die etwas mit der Lebensqualität von Menschen und Sonderabschreibungen — und damit besonders
zu tun hat. Ich bin mir darüber im klaren, daß die von günstige Bedingungen. Ich bin ganz sicher, daß dies
uns verwendeten Beg riffe wie z. B. „Sozialhilfe" die Gesamtentwicklung positiv verändern wird.
2096 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl


Ich sagte schon: Wir alle wissen, daß die Situa tion die Menschen geschehen muß, können doch dann,
auf dem Arbeitsmarkt der östlichen Bundesländer in wenn Herr Bundesminister Krause hier — gemeinsam
den nächsten Monaten noch schwieriger werden mit dem Kollegen Kinkel — eine Vorlage für ein Be-
wird. Ich weiß, was Verlust des Arbeitsplatzes heißt, schleunigungsgesetz macht, nicht geltend machen,
wobei viele natürlich auch wissen, daß sie nach einer das sei ein Eingriff in die Umwelt, ein Verstoß gegen
Durststrecke eine große Chance haben. Umweltbelange. Hier geht es doch darum, daß wir
So erfreut ich darüber bin und so ermutigend es ist, schnell handeln können.
daß seit November 1989 in den neuen Bundesländern (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —
bereits 2 Millionen neue Beschäftigungsverhältnisse Freimut Duve [SPD]: Die gleiche verkehrte
eingegangen wurden — das ist ein ausgezeichnetes Verkehrspolitik wie hier in den vergangenen
Ergebnis —, so müssen wir auch die Probleme derje- Jahren!)
nigen sehen, die ganz besonders betroffen sind. Vor — Herr Kollege, Ihre Zwischenrufe sind immer die
dem jetzt 25- oder 30jährigen liegt ein weiter Lebens- gleichen, sehr laut, und zwar bewundernswert laut.
weg in Freiheit, in Frieden und in sozialer Sicherheit.
Für den jetzt 55jährigen ist das sehr viel schwieriger. (Heiterkeit bei der CDU/CSU)
Ihm Rat zu geben ist sehr viel schwieriger; wir leisten Herr Ministerpräsident, das hätte ich gern heute
uns ja selbst hier, in der prosperierenden Wi rtschaft von Ihnen gehört. Das ist so ein Vergleich zu meiner
der alten Bundesrepublik, den Unsinn, daß in vielen Zeit, 1973.
Betrieben ein 55jähriger bei Neueinstellungen als zu
alt gilt. Sie sind jetzt hier Parteivorsitzender, und Sie sind
natürlich auch Ministerpräsident. Sind Sie bereit,
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und auch als der Mehrheitsführer im Bundesrat — wenn
der FDP) ich das einmal so nennen darf — zu sagen: „Jawohl,
Ich bin ganz sicher, daß die jetzt verfügbaren Mög- Bundesregierung, wir wollen, daß die Gesetze so
lichkeiten genutzt werden. schnell wie möglich durchgehen, damit sie den neuen
Ländern helfen."? — Das wäre doch ein Wort gewe-
Ich will auch gerne sagen, Herr Ministerpräsident, sen!
daß die neuen Bundesländer in wenigen Jahren zu
den modernsten und attraktivsten Standorten in Eu- (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der
ropa zählen werden. Es muß unser Interesse sein FDP)
— auch in den westlichen Bundesländern — , daß sie Wir haben sehr viel für die Finanzausstattung der
möglichst so stark werden, daß auch der eine oder neuen Länder und Gemeinden getan. Daß das, was
andere in den westlichen Bundesländern im Blick auf wir bisher getan haben, nicht ausreicht, ist auch ganz
die Entwicklung der Zukunft dadurch gezwungen klar; denn das, was getan wurde, bezieht sich nur auf
wird aufzuwachen. Auch das ist ein Stück Zukunft. die Zeit bis Ende 1991. Alle Ministerpräsidenten
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) — ich sage: alle, also solche aus der SPD wie
solche aus der CDU; auch da gibt es ja bekanntlich
Dazu — das muß vor allem der Staat mit seinen
Nuancen —
Institutionen leisten — gehört eine neue, hochmo-
derne Infrastruktur mit entsprechenden Standorten. (Heiterkeit)
Wenn Sie sehen, was allein im Bereich der Bundespost haben erklärt: Das ist ausreichend. — Wir werden
auf diesem Weg geleistet wird, ist das so bemerkens- 1992 — der Kollege Waigel wird diese Gespräche jetzt
wert, daß man das einmal deutlich sagen sollte: Bis beginnen; ich denke, in den nächsten Wochen — mit
Ende 1993 wird die Post-Telekom 1,8 Millionen neue den Kollegen aus den Ländern prüfen, inwieweit hier
Anschlüsse schalten. In der früheren DDR wurden in eine ergänzende Finanzunterstützung durch den
40 Jahren gerade 1,6 Millionen Telefonanschlüsse Bund und die alten Bundesländer notwendig ist.
gelegt. Diese Zahlen muß man doch einmal zur Kennt- Wichtig bleibt, daß alle Beteiligten bei der Entschei-
nis nehmen, bevor man in ein allgemeines Lamento dung über die Haushalte 1992 im Herbst Klarheit dar-
ausbricht. über haben, welche Finanzausstattung sie haben.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Jetzt sage ich auch noch ein Wo rt zu dem, was Sie zu
Bis Ende 1997 wird es in den neuen Bundesländern dem Punkt Gemeindefinanzen und zu den Landesfi-
9 Millionen Anschlüsse geben. Die Zahl der West- nanzen in den westlichen Ländern geäußert haben:
Ost-Telefonverbindungen wird Ende dieses Jahres Mir ist völlig klar, daß angesichts der dramatischen
31 000 betragen. Vor der Maueröffnung waren es Veränderungen in Deutschland die grundsätzliche
1 500; vielleicht auch aus dem Grunde, Herr Gysi, weil Frage der finanziellen Entwicklung aller Länder auf
man 1 500 besser kontrollieren konnte als wesentlich der Tagesordnung steht. Ich finde, bei einem vernünf-
mehr. tigen Verhältnis von Bund, Ländern und Gemeinden
ist es auch richtig, daß wir jetzt in absehbarer Zeit
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) darüber reden. Ich weiß nicht, wie das Ergebnis sein
Wir investieren Milliardenbeträge in die neuen Ver- wird, aber ich weiß, daß ein dringender Gesprächsbe-
kehrswege. Gerade auf dem Feld der Verkehrsinfra- darf auch auf diesem Feld besteht, wobei ich aller-
struktur ist doch die Erbschaft des SED-Regimes kata- dings hinzufügen möchte: Was Sie, Herr Ministerprä-
strophal. Wenn wir das nach althergebrachter bun- sident, zu den Gemeindefinanzen sagen, werden Sie
desrepublikanischer A rt machen, dann wird sich erst doch wohl im Ernst nicht halten können! — Ich will Sie
in acht, neun Jahren etwas bewegen. Diejenigen, die jetzt wirklich nicht mit Sta tistik aufhalten; aber
mit dem Anspruch angetreten sind, daß jetzt etwas für ich hatte vor etwa 14 Tagen oder drei Wochen die
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2097
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
große Freude unter dem Vorsitz des von mir be- begangen. Aber ich will ausdrücklich sagen: Ich habe
sonders geschätzten Kollegen Bernrath beim Städte- Grund zu der Annahme, daß dort gute Arbeit geleistet
und Gemeindebund zu sein, und zwar erstmals mit wird
Delegierten aus den neuen Bundesländern. Er hat
gerühmt — sicherlich im Gegensatz zu manchen Kol- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
legen, wenn ich etwa an den Oberbürgermeister von ordneten der FDP)
Stuttgart oder an den Oberbürgermeister von Hanno- und daß man, wenn man sich die Zahlen anschaut
ver denke — , daß es den Gemeinden im Westen alles — ich will Sie damit nicht aufhalten; aber jedem ste-
in allem ganz gut geht und daß jetzt Vorfahrt für die hen sie zur Verfügung — anerkennen muß, welch
Gemeinden in den neuen Bundesländern gegeben große Leistung dort erbracht wird.
werden muß. Und ich bleibe dabei!
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Der Ifo-Konjunkturtest läßt bereits zwei Monate in
Folge eine Verbesserung der Erwartungen in den
Auf dem Weg zur Angleichung der Lebensverhält- Betrieben der neuen Bundesländer erkennen. Wir
nisse haben wir ja auch ganz ungewöhnliche Dinge wissen: Es kommt darauf an, daß die p rivate Investi-
getan. Ich denke beispielsweise an die Zuweisung tionswelle in den neuen Ländern an Stärke und Breite
von 5 Milliarden DM an Landkreise und Gemeinden gewinnt.
im Rahmen des Gemeinschaftswerks Aufschwung
Ost. Nach allem, was ich höre, greift dieses Programm Graf Lambsdorff, ich stimme Ihrer Bemerkung völ-
ganz schnell, für die Modernisierung von Schulen, lig zu, daß die Unternehmen in Westdeutschland, die
von Krankenhäusern, von Altenheimen; vieles andere gut verdient haben und gut verdienen, verstärkt Pro-
wäre hier noch zu nennen. Ich höre aus Städten der duktionsstätten in den neuen Bundesländern errich-
ehemaligen DDR in den letzten Tagen, daß zwischen ten sollten
80 % und 100 % der Mittel als Aufträge bereits verge-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ben sind. -
Ich höre auch, daß es in der einen oder anderen und daß wir alles tun müssen, um ausländische Inve-
Gemeinde oder Stadt oder in dem einen oder anderen storen zu gewinnen.
Landkreis nicht klappt. Auch hier warne ich die Bür- Meine Damen und Herren, wirtschaftliche, soziale
ger im Westen vor vorschnellen Urteilen. Es gibt auch und ökologische Fragen sind dringlich. Aber ich
im Westen Bürgermeister und Landräte, die länger glaube nicht — bitte, mißverstehen Sie das nicht —,
brauchen als andere. daß das unser Hauptproblem ist. Ich glaube, daß wir
(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP) mit jeweils unterschiedlichem Tempo die wirtschaftli-
chen, sozialen und ökologischen Probleme im großen
Deswegen halte ich von diesen pauschalen Urteilen, und ganzen in einer absehbaren Zeit lösen können.
die wir von morgens bis abends hören, überhaupt Die Bewältigung der ökologischen Herausforderun-
nichts. gen wird länger dauern; das weiß jeder.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Aber es wird noch viel länger dauern, bis auch die
Meine Damen und Herren, es ist wahr — es ist ja immateriellen Schäden aus der Zeit des SED-Regimes
nicht einmal ein Jahr her, seit die Währungs-, Wirt- beseitigt sind. Ich denke vor allem an die schwerwie-
schafts- und Sozialunion geschaffen wurde, und noch genden Folgen, die über vier Jahrzehnte kommunisti-
weniger Zeit seit der deutschen Einheit — , daß sich scher Diktatur im Leben und in den Seelen der Men-
für die Menschen in den neuen Bundesländern eine schen hinterlassen haben. Die in den letzten Tagen
neue, eine bessere Lebensperspektive abzeichnet. An und Wochen bekanntgewordenen Fälle der Zwangs-
dieser Tatsache ändert sich nichts, wenn ich sage, daß adoption von Kindern, deren Eltern das SED-Regime
wir dabei eine Durststrecke zu überwinden haben. ablehnten, sind ein besonders schlimmes Beispiel für
Aber weil so viel nachgekartet wird, will ich auch die Unmenschlichkeit einer Diktatur, der zur Erhal-
das einmal sagen: Es erweist sich doch jetzt, daß die tung ihrer Macht wahrlich jedes Mittel recht war.
Einführung der D-Mark am 1. Juli 1990 und der gün- (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD
stige Umtauschkurs für die Sparer der ehemaligen und dem Bündnis 90/GRÜNE)
DDR sehr vorteilhaft waren. Im jüngsten Monatsbe-
richt der Deutschen Bundesbank lesen wir — ich zi- Es sind in den vergangenen Jahren und Jahrzehn-
tiere — : ten viele Wunden geschlagen worden, Wunden, die
Die Vermögenssituation der Bevölkerung in den denen, die sie erlitten haben, zum Teil erst jetzt richtig
neuen Bundesländern kommt den Verhältnissen bewußt werden. Ich glaube, jene — ich sage das noch
nahe, wie sie im Westen Deutschlands zu Beginn einmal — , die das Glück hatten im freien Teil unseres
der siebziger Jahre geherrscht hatten. Landes zu leben, sind vor allem nicht nur aufgerufen,
sondern auch verpflichtet, unseren neuen Mitbürgern
(Dr. Alfred Dregger [CDU/CSU]: Immer Achtung und Verständnis entgegenzubringen.
hin!)
(Vera Wollenberger [Bündnis 90/GRÜNE]:
Meine Damen und Herren, im Zusammenhang mit Fangen Sie einmal im Parlament damit an!)
der Entwicklung in den neuen Bundesländern will ich
auch ein Wort zur Treuhandanstalt sagen. Auch die — Wissen Sie, ich bin ja damit einverstanden, daß wir
Treuhandanstalt steht vor außergewöhnlichen, neu- im Parlament gut miteinander umgehen. Aber wenn
artigen Aufgaben. Natürlich werden auch dort Fehler Sie den Vorwurf gegenüber der CDU erhoben haben:
2098 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl


Ihre eigenen Kollegen waren bei Ihrer Rede gar nicht desbank genauso wie den Auftrag der Politik. Ich bin
anwesend. ganz sicher, daß die künftige Bundesbankführung
(Hans Klein [München] [CDU/CSU]: Die diesen Stabilitätskurs fortsetzen wird.
wußten, warum! — Weiterer Zuruf von der Meine Damen und Herren, wir erleben jetzt in den
CDU/CSU: Drei waren da!) westlichen Bundesländern bei Investitionen, Einkom-
Meine Damen und Herren, in den alten Bundeslän- men und Beschäftigung Rekordwerte. Am Arbeits-
dern neigen nicht wenige dazu, Freiheit, Frieden und markt dort haben wir eine Situation wie selten zuvor.
Wohlstand als etwas Selbstverständliches zu betrach- Auch das, Herr Ministerpräsident Engholm, ist Ergeb-
ten. Ich wünsche mir, daß wir in Ost und West den nis einer klugen Industriepolitik im Rahmen der So-
Ansporn zur Kreativität und zum Empfindungsgeist zialen Marktwirtschaft.
wieder stärker verspüren, so daß wir die Chancen der
Einheit auch in diesem Zusammenhang nutzen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Freimut Duve [SPD]: „Empfindungsgeist" In diesem Zusammenhang will ich ein Thema an-
ist gut ausgedrückt! — Zuruf von der CDU/ sprechen, das in die Nähe eines Glaubenskrieges ge-
CSU: Lohnt nicht!) raten ist, und ich möchte Ihnen ausdrücklich anbieten
— Ich bin ja damit einverstanden, daß Sie mir einmal und Sie fragen, ob wir hier nicht vernünftige Gesprä-
zustimmen. Ich sage das extra, damit es im Protokoll che führen können. Es geht mir darum — Ende 1992
vermerkt wird. haben wir den Binnenmarkt in Europa vollendet; ich
bin sicher, daß noch in diesem Jahrzehnt der entschei-
(Heiterkeit) dende Durchbruch beim Bau der Vereinigten Staaten
Ich habe natürlich „Erfindungsgeist" sagen wollen. von Europa erzielt wird, was ja auch die Wirtschafts-
und Währungsunion einschließt — : Wie wird sich der
Meine Damen und Herren, es ist ein Glücksfall, daß Standort Deutschland künftig präsentieren?
die wirtschaftlichen Herausforderungen- jetzt bewäl-
tigt werden können auf der Grundlage der wirtschaft- Damit bin ich bei den Unternehmensteuern. Was
lichen Entwicklung, die die ursprüngliche Bundesre- können wir tun, um konkurrenzfähig zu sein, um den
publik genommen hat. Standort Deutschland noch investitions- und beschäf-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) tigungsfreundlicher zu gestalten? Dabei geht es im-
mer auch um vorhandene und um neue Arbeitsplätze.
Ich habe die Zahlen ja vorhin schon genannt. Wenn Das gilt natürlich auch schon für die neuen Bundes-
wir nicht eine boomende Wirtschaft hätten, die übri- länder. Deswegen haben wir in der Koalition verein-
gens auch wegen der deutschen Einheit boomt, könn- bart, daß die Unternehmensteuerreform zu den zen-
ten wir doch das alles, was jetzt im Haushalt steht, tralen Vorhaben dieser Legislaturperiode gehört.
finanziell gar nicht bewältigen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Meine Damen und Herren: Den Streit hierüber ver-
stehe ich deswegen nicht, weil ich bisher noch nie-
Der Erfolg dieser jetzt beinahe neun Jahre beste- manden gefunden habe, der die Richtigkeit einer sol-
henden Bundesregierung ist das Ergebnis Sozialer chen Politik — über Einzelheiten kann man natürlich
Marktwirtschaft. Deswegen bin ich gegen jede Ver- streiten — grundsätzlich in Frage stellt; denn wenn
änderung unseres Kurses. Deutschland ist heute für Sie nach Spanien blicken — oder nach Frankreich
Investoren eine der besten Adressen in der Welt. Auch oder Großbritannien —, dann sehen Sie: Überall rich-
wenn von Unternehmerseite gelegentlich gesagt tet man sich auf den europäischen Binnenmarkt ein,
wird, es gebe noch bessere Adressen, lasse ich mich überall macht man sich fit dafür.
von dieser Auffassung nicht abb ringen.
Alle, die mir in ihren Reden in der Londoner City in Auch wir müssen fit sein für Europa. Wir müssen
den letzten Jahren geraten haben, die dortige Politik doch pragmatisch überlegen — sehen Sie, Herr Mini-
zu übernehmen, sind durch die Entwicklungen wider- sterpräsident Engholm: das ist ein Thema, bei dem
legt worden. man darüber nachdenken kann, inwieweit man zu-
sammenwirkt —, wie wir eine Unternehmensbesteue-
Ich will gern die gute Gelegenheit nutzen, bei der rung sicherstellen, die den Standort Deutschland sta-
Frage der Stabilität der Währung besonders ein Wort bil, konkurrenzfähig erhält, aber gleichzeitig — das
des Dankes an die Deutsche Bundesbank und an den eine gehört unlöslich zum anderen — beispielsweise
in wenigen Wochen ausscheidenden Bundesbankprä- die Finanzautonomie der Gemeinden nicht schmä-
sidenten Karl Otto Pöhl zu richten, lert. Mit mir ist auf diesem Gebiet nichts zu machen,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie was die Städte, Gemeinden oder auch Landkreise fi-
bei Abgeordneten der SPD und des nanziell entmündigen würde.
Abg. Dr. Wolfgang Ullmann [Bündnis 90/
GRÜNE]) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
ordneten der FDP)
der seine Arbeit immer mit großem persönlichem En-
gagement, mit dem Sinn für die Realitäten und für Ich habe das in den vergangenen Monaten oft ge-
seine Verantwortung versehen hat. Ich habe ihm auch nug gesagt. Wir brauchen nicht nur bei bestimmten
zu danken für eine gute Zusammenarbeit, und zwar Festtagen die Stein'schen Reformen zu preisen. Wer
eine Zusammenarbeit unter Partnern, die sehr wohl den Gemeinden die Finanzhoheit nimmt, wer sie —
wissen, daß der Erfolg nur möglich ist, wenn sie sich ich sage es einmal salopp — an den Tropf des jewei-
auch gegenseitig respektieren, den Auftrag der Bun- ligen Landesfinanzministeriums hängt, der zerstört
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2099

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl


die Gemeindestruktur Deutschlands. Das wollen wir schaftsreform muß dort entschieden werden. Wir sind
nicht. nicht in der Lage, gewissermaßen in ein Faß ohne
Boden zu investieren.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
der Abg. Frau Hämmerle [SPD]) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
Das heißt, ganz einfach gesagt: Wir brauchen in die- ordneten der FDP)
sem Bereich eine Steuerstruktur, die zweierlei be- Vor ein paar Tagen habe ich in Washington die
wirkt: Zum einen müssen die Ratsfraktionen, der Bür- Gelegenheit gehabt, mit Mitgliedern der gesetzge-
germeister, Oberbürgermeister oder Landrat für die benden Körperschaften, mit der Administration, vor
örtliche Wirtschaft und das Gewerbe aufgeschlossen allem mit Präsident Bush zu sprechen. Ich habe ihm
sein, und zum anderen muß dem örtlichen Gewerbe bei dieser Gelegenheit unsere Positionen zu einzelnen
am Wohlergehen von Stadt, Gemeinde oder Land- Feldern unserer Außenpolitik noch einmal deutlich
kreis gelegen sein. gemacht. Wir waren gemeinsam überzeugt, daß es im
Es gibt hierzu doch Vorschläge, es gibt doch sinn- westlichen und gesamteuropäischen Interesse liegt,
volle Überlegungen. Wenn wir uns jetzt zusammen- daß die Reformpolitik Präsident Gorbatschows — un-
setzen, die Bundesregierung, natürlich die Koalitions- ter den Voraussetzungen, die ich genannt habe — er-
parteien, die Fraktionen zu Diskussionen dann im folgreich ist.
Ausschuß, der Deutsche Städtetag, der Deutsche Wir waren gemeinsam der Auffassung, daß es für
Städte- und Gemeindebund und der Deutsche Land- die Stabilität ganz Europas entscheidend ist, daß sich
kreistag — es geschieht ja fast ein Wunder, wenn alles in den Reformstaaten Mittel- und Südosteuropas die
richtig läuft und wir dann in einiger Zeit einen einheit- demokratischen Strukturen, Soziale Marktwirtschaft
lichen Gemeindeverband haben, in dem alle drei zu- und freiheitliche Demokratie, festigen, und daß wir
sammengeschlossen sind — , dann muß es doch wirk- ihnen dabei helfen müssen. Die hierzulande häufig zu
lich möglich sein, etwas Vernünftiges zustande zu hörende Forderung, wir sollten erst einmal abwarten,
bringen. - was sich da entwickelt, ist unsinnig und töricht. Wir
Hören Sie doch bitte auf, davon zu reden, daß die haben eine viele hundert Kilometer lange Grenze zu
Reichen entlastet werden, und Neidkomplexe zu Polen. Wenn diese Grenze an Oder und Neiße eine
schüren. Es geht um den Standort Deutschland, es Wohlstandsgrenze wird, wird es keine Stabilität in
geht um die Arbeitnehmer genauso wie um die Unter- dieser Region geben.
nehmen in Deutschland. (Beifall im ganzen Hause)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir wollen auf dem Weg, den die im November
In diesem Zusammenhang muß auch gesagt wer- 1990 unterzeichnete Charta von Paris für ein neues
den, was wir außerhalb unserer Staatsgrenzen an Ver- Europa vorgezeichnet hat, vorankommen. Dazu gehö-
pflichtungen übernehmen und übernommen haben. ren: Aufbau der Demokratie, Entwicklung wirtschaft-
Es gibt eine größere Verantwortung des vereinten licher Freiheit, soziale Gerechtigkeit, Achtung der
Deutschlands in Europa und in der Welt. Wir werden Menschen- und Minderheitenrechte überall in Eu-
uns auch in Zukunft in der deutschen Außenpolitik ropa — ein hochaktuelles Thema, das auch jetzt auf
von bewährten Grundsätzen leiten lassen: Wir han- der KSZE-Außenministerkonferenz eine Rolle spielen
deln im engen Einvernehmen mit unseren Freunden wird.
und Partnern in der Europäischen Gemeinschaft. Wir
setzen auf unsere Freundschaft und auf den Sicher- Ich will auch darauf hinweisen, daß George Bush
heitsverbund mit den Vereinigten Staaten von Ame- und ich uns einig waren, daß der transatlantische Si-
rika und mit Kanada. Wir leisten unseren Beitrag zur cherheitsverbund für Europa und für Deutschland un-
Festigung der neuen Demokratien in Mittel- und Süd- verzichtbar ist, daß die NATO auch in Zukunft Anker
osteuropa. Wir stehen zum Ausbau der vertraglich unserer Sicherheit ist und daß wir auch in Zukunft
vereinbarten Zusammenarbeit mit der Sowjetunion. substantielle Präsenz amerikanischer Streitkräfte auf
dem Kontinent haben wollen.
Dabei bekenne ich hier ganz klar, daß ich zu jenen
gehöre, die Präsident Gorbatschow Erfolg bei einer Meine Damen und Herren, wir haben in absehbarer
Politik wirklicher Perestroika wünschen. Ich wünsche Zeit wichtige Entscheidungen zu treffen, auch im
mir, daß diese Politik, die unendliche Schwierigkeiten Blick auf die NATO-Entwicklung. Das Bündnis wird
in sich birgt, erfolgreich ist. künftig über Hauptverteidigungs-, Eingreif- und Ver-
stärkungskräfte verfügen — soweit möglich mit multi-
(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der nationaler Struktur. Aber — und das füge ich hinzu;
SPD sowie bei Abgeordneten des Bündnisses ich glaube, Graf Lambsdorff hat es eben in der De-
90/GRÜNE) batte gesagt — das, was jetzt diskutiert wird, darf
Dazu gehört, daß man sich im Innern der Sowjetunion nicht bedeuten, daß wir uns den Weg zu europäischen
ausschließlich f riedlicher Mittel bedient. Optionen verschließen. Wir müssen hier nach dem
Prinzip des Sowohl-Als-auch vorgehen.
Präsident Gorbatschow braucht unsere Hilfe zur
Selbsthilfe. Deswegen begrüße ich auch, daß er nach Ich bin damit bei dem wichtigen Thema der euro-
London kommen wird und daß wir mit ihm über diese päischen Entwicklung, meine Damen und Herren:
Themen sprechen können. Aber ich sage noch ein- Wir wollen nicht ein Entweder-Oder — hier Europa,
mal: Es kann nur um Hilfe zur Selbsthilfe gehen. Über dort USA — , sondern wir wollen auf dem Weg der
den Neuaufbau der staatlichen Organisation der So- transatlantischen Gemeinsamkeit die notwendigen
wjetunion und über die Grundlagen für eine Wirt- Entscheidungen treffen.
2100 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl


Meine Damen und Herren, ein Thema, das uns da- Ähnliche Entscheidungen haben wir bei den Kohlen-
bei besonders beschäftigen wird, darf ich noch an- dioxid-Emissionen getroffen.
sprechen: Unter dem europäischen Dach — wie
Dies werden entscheidende Themen auf der UN
selbstverständlich auch im Rahmen der Vereinten Na-
Tagung „Umwelt und Entwicklung" 1992 in Brasilien
tionen — wird das vereinte Deutschland mehr Ver-
sein. Es ist eben keine fixe Idee von einigen wenigen,
antwortung auch auf sicherheitspolitischem Gebiet
wenn das Thema „Schutz der Tropenwälder" zuneh-
übernehmen müssen. Ich bin dafür, daß wir in diesem
mend Beachtung findet.
Jahr die Voraussetzungen dafür klären. Ich darf Ihnen
jetzt schon sagen — in diesem Fall als Vorsitzender Ich werde versuchen, dieses Thema auch auf dem
der Christlich Demokratischen Union: Meine politi- Weltwirtschaftsgipfel in London in wenigen Wochen
schen Freunde und ich werden kämpferisch diesen erneut in unsere Diskussion einzubringen mit der
Gedanken überall im Land vertreten. Hoffnung, daß wir jetzt zu Entscheidungen kommen.
Denn ich sage Ihnen ganz offen: Ich würde es für eine
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge sonderbare Vorstellung halten, wenn wir diese Konfe-
ordneten der FDP) renz in Brasilien im nächsten Jahr abhalten und zu-
Ich halte es für selbstverständlich, daß wir alle gleich das Abholzen und die Vernichtung der Regen-
Pflichten akzeptieren, die sich aus unserer Mitglied- wälder weitergeht.
schaft in den Vereinten Nationen ergeben. Das be- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
deutet auch, daß wir bereit sein müssen, an militäri-
schen Aktionen im Rahmen der Vereinten Nationen Graf Lambsdorff hat zu Recht — ich unterstütze ihn
zur Erhaltung und zur Wiederherstellung des Frie- dabei — das für das Exportland Deutschland wichtige
dens sowie zur Wahrung des Völkerrechts mitzuwir- Thema Uruguay-Runde im GATT eingeführt. Meine
ken. Meine Damen und Herren, wer jetzt dagegen ist Damen und Herren, wir haben vor allem drei Gründe
— ich will das nur vorsorglich zu Protokoll geben —, für unser Interesse an einem baldigen Erfolg dieser
wird in sehr kurzer Zeit — auch wenn er jetzt ablehnt; Verhandlungen: Wir sind eines der wichtigsten Ex-
-
deswegen muß man sich eine solche Ablehnung gut portländer der Welt, immer auf Platz eins oder zwei.
überlegen — vor die Entscheidung gestellt werden, Wenn wir uns auf Protektionismus einließen, würden
ob im Rahmen der Politischen Union Europas nicht wir die Folgen schon bald bitter verspüren. Wir hatten
eben genau das gleiche von uns Deutschen gefordert hierzulande in den 50er Jahren eine Diskussion, in der
sein wird. Ohne diese Grundentscheidung wird es auf Ludwig Erhard immer die These vertreten hat: Die
längere Sicht keine wirkliche Politische Union ge- deutsche Volkswirtschaft wird nur stark sein, wenn sie
ben. der frischen Luft ausgesetzt ist, wenn Fenster und
Türen geöffnet sind. Daran hat sich nichts geändert.
(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Meine Damen und Herren, die Bundesrepublik Ein zweiter Punkt ist für mich genauso wichtig. Ich
Deutschland hat im Rahmen der globalen Auf gaben- finde, davon wird viel zu wenig gesprochen, wie ich
und Lastenteilung erhebliche Leistungen erbracht. überhaupt finde, daß die ökonomische Diskussion ei-
Ich finde, es ist wichtig, vor dem Forum des deutschen nen überproportional breiten Raum einnimmt, wäh-
Parlaments, auch gegenüber dem Ausland — auch im rend die Themen, die mit der Ökonomie verbunden
Blick auf die Debatte, die wir wegen unserer Haltung sind, die aber die Lebensqualität der Menschen min-
im Golfkonflikt erlebten — , einmal darauf hinzuwei- destens genauso betreffen, beispielsweise die Erhal-
sen, daß das vielgenannte Wort vom burden sha ring tung der Schöpfung, zu kurz kommen: Wir, die großen
nicht nur in einem militärischen Kontext gesehen wer- Industrieländer, können nicht so weitermachen wie
den kann. Alle Mittel, die wir in Milliardenhöhe zur bisher. Auf keinen Fall dürfen wir uns gegenüber der
Stabilisierung der Länder in Mittel-, Ost- und Südost- Dritten Welt abschotten. Wenn die Länder in Latein-
europa einsetzen, sind heute genauso wichtig wie mi- amerika, Asien oder Afrika ihre Produkte nicht auf
litärische Aufwendungen in anderen Teilen der Welt. unseren Märkten verkaufen können, dann haben sie
Auch das will ich gerne noch einmal bei dieser Gele- kein Geld, bei uns Produkte zu kaufen. Und es ist
genheit für die Bundesregierung betonen. schon ein absurder Vorgang, daß wir die Käufer an-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) locken, daß wir ihnen Kredite geben, um sie über-
haupt in die Lage zu versetzen, bei uns zu kaufen, und
Eine unserer wichtigsten Aufgaben ist es, eine le- nach ein paar Jahren werden sie dann wieder ent-
benswerte Umwelt zu bewahren. Es ist heute, Gott sei schuldet. Das ist nicht nur ökonomisch unsinnig, es ist
Dank, allgemein begriffen, daß eine drohende Klima- auch gegen die Würde des Menschen und gegen die
veränderung eine Herausforderung für die ganze Würde der einzelnen Völker.
Welt ist, daß wirksame Maßnahmen gegen den Abbau
der Ozonschicht, gegen die weitere Zunahme des (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Treibhauseffekts und gegen die Vernichtung der Wäl- Ich glaube, daß wir deswegen alles tun müssen
der, insbesondere der Tropenwälder, angesichts der — ich sehe übrigens auch eine Chance — , damit wir
akuten und steigenden Gefährdungen zu treffen in der Uruguay-Runde zu einem guten Abschluß kom-
sind. men. Und, Graf Lambsdorff, da brauchen wir keine
Ermahnung, wie wir unsere französischen Freunde
Mit dem Beschluß der Bundesregierung, bis zum
ansprechen.
Jahr 1995 auf die die Ozonschicht zerstörenden
FCKW und Halone zu verzichten, geht die Bundesre- (Dr. Otto Graf Lambsdorff [FDP]: Um so
publik weit über das Protokoll von Montreal hinaus. besser!)
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2101

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl


Bloß, Sie wissen aus Ihrer Amtszeit als Bundeswirt- auch aufhören sollten, einander mit Unterstellungen
schaftsminister, daß es eine Sache ist, sie anzuspre- zu begegnen: Wir, die Deutschen, werden uns nie
chen, und eine andere Sache, Erfolg zu haben. Auch dazu hergeben, Menschen den Zutritt zu uns zu ver-
das muß man dabei offen sagen. wehren, die wegen ihrer Rasse, wegen ihrer Religion
Drittens glaube ich, daß die jüngsten Beschlüsse der oder wegen ihrer politischen Einstellung verfolgt wer-
Agrarminister in die richtige Richtung gehen und daß den; das ist völlig ausgeschlossen.
das, da Frankreich ja zugestimmt hat, eine Entwick- (Beifall bei der CDU/CSU)
lung ist, die jetzt einen gewissen Optimismus begrün-
det. Das heißt im übrigen auch — lassen Sie mich auch Aber ich sage das gleiche, was der spanische Mini-
das sagen — , daß wir den Bauern in unserem eigenen sterpräsident für sein Land sagt: Wir sind kein Ein-
Land in dieser Übergangszeit selbstverständlich hel- wanderungsland und können die Probleme dieser
fen wollen und helfen müssen. Auch das haben wir Erde nicht allein bei uns lösen. Das ist doch, meine
gesagt. Damen und Herren, die eigentliche Frage.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Meine Damen und Herren, bei den deutsch-franzö- Ich nenne das andere Thema, das mir große Sorgen
sischen Gipfelkonsultationen vor wenigen Tagen in bereitet: die Entwicklung im gemeinsamen Kampf ge-
Lille haben wir vor allem über die nächsten Monate gen die Drogenmafia und die international organi-
der europäischen Entwicklung gesprochen. Es geht sierte Kriminalität. Ich weiß, in einem föderal geglie-
um den Abschluß der beiden Regierungskonferenzen derten Land ist das schon schwer auszusprechen, in
über die Wirtschafts- und Währungsunion und die einem Europa jedoch, in dem viele immer noch größ-
Politische Union. Wir wollen — die französische Re- ten Wert auf den Nationalstaat legen, noch schwerer:
gierung und wir, François Mitterrand und ich — die Wir werden ohne eine gemeinsame europäische Poli-
Zeit nutzen, auf dem EG-Gipfel in Luxemburg in ein zeiorganisation dieser Herausforderung nicht gerecht
paar Tagen Zwischenbilanz zu ziehen, um dann auf werden können.
-
dem Gipfel in Maastricht Mitte Dezember dieses Jah-
res einen vernünftigen Abschluß erzielen zu kön- Die Lage im Bereich der Drogenmafia hat sich dra-
nen. matisch verschlechtert. Kokaindealer setzten 1990 in
der westlichen Welt 150 Milliarden US-Dollar um. Das
Ich will hier noch einmal wiederholen — ich bin mir
bedeutet gegenüber dem Jahr davor eine Zunahme
dabei der Zustimmung des ganzen Hauses sicher —,
von gut 60 %. Im vergangenen Jahr waren in Deutsch-
für uns Deutsche kann es nicht angehen, daß man die
land fast 1 500 Drogentote zu verzeichnen. Im Ver-
Wirtschafts- und Währungsunion voranbringt und die
gleich zum Vorjahr hat sich damit die Zahl etwa um
Politische Union vernachlässigt. Wir wollen beides.
die Hälfte erhöht. Das ist doch keine statistische
Wir wollen klar fixierte Fortschritte — auch mit Termi-
Größe. Fast jeder von uns hat in seinem Bereich — im
nen — als Ergebnis beider Regierungskonferenzen,
Wahlkreis, im Bekannten- und Freundeskreis — Er-
um zur Politischen Union und zur Wirtschafts- und
fahrungen mit Betroffenen, mit Eltern, die auf ihre
Währungsunion zu kommen. Dabei denke ich nicht
Kinder schauen; es geht um erschütternde Schicksale.
zuletzt an die Rechte des Europäischen Parlaments.
Deswegen, finde ich, müssen wir a lles tun, um wenig-
Ich kann nur wiederholen, was ich immer wieder
stens auf diesem Feld möglichst rasch zu Entscheidun-
hierzu sage: Ich kann mir nicht vorstellen, daß wir in
gen zu kommen.
EG-Europa — ich sage das auch als Parteivorsitzen-
der — die Bürger noch einmal an die Wahlurnen rufen Lassen Sie mich auch noch ein Wort zu der Entwick-
können für die Wahl eines Parlaments, dem wir so lung in Jugoslawien sagen. François Mitterrand und
wenige Rechte geben. Das muß jetzt geändert wer- ich haben anläßlich unseres Treffens nachdrücklich
den. noch einmal die Mission des EG-Ratspräsidenten Jac-
(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der ques Santer und des Kommissionspräsidenten Jac-
SPD) ques Delors nach Belgrad unterstützt. Ich wi ll die Ge-
legenheit heute vor dem Deutschen Bundestag nutzen
Meine Damen und Herren, wir müssen — und da und erneut an alle Verantwortlichen in Jugoslawien
nehme ich einen Gedanken auf, den Sie, Herr Mini- appellieren, mit Besonnenheit und unter Verzicht auf
sterpräsident, angesprochen haben, allerdings mit ei- Gewaltanwendung in dieser Situa tion zu versuchen,
nem anderen Akzent — in zwei Feldern noch schnel- zu einem vernünftigen, erträglichen Kompromiß zu
ler handeln, als es die zeitlichen Perspektiven für die kommen.
Vollendung der Politischen und der Wirtschafts- und
Währungsunion vorgeben. Ich nenne zum einen das (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der
europäische Asylrecht. Ich halte es für völlig ausge- SPD)
schlossen, daß wir die Probleme, die bei dieser A rt von
Nur ein demokratisch erneuertes Jugoslawien, in dem
Völkerwanderung auf uns zukommen, allein auf na-
die Menschenrechte — dazu gehören immer auch die
tionaler Ebene werden lösen können.
Rechte der Minderheiten — respektiert werden, hat
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Zukunft.
ordneten der FDP)
Ich füge hinzu — ich denke, Sie alle stimmen zu — :
Das ist nicht nur meine Meinung, es ist genauso die
Nur so ist Jugoslawien auch ein Pa rtner, dem wir und
Meinung beispielsweise meines spanischen Amtskol- die Europäische Gemeinschaft unsere Zusammenar-
legen oder die der Niederländer und anderer. Deswe-
beit anbieten können.
gen brauchen wir im Vorgriff auf alles andere ein ver-
nünftiges europäisches Asylrecht, wobei wir doch (V o r sitz : Vizepräsidentin Renate Schmidt)
2102 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl


Meine Damen und Herren, im Zusammenhang mit Vorstellungen zu gestalten, Familien zu gründen und
dem Golfkonflikt hat die Völkergemeinschaft den ein erfülltes Leben zu führen.
Diktator Saddam Hussein entschieden in die Schran- Nachdem wir jetzt in Kreta über die Opfer der
ken gewiesen. Wir haben das Völkerrecht im Rahmen schweren Kämpfe, auch über die Opfer der Besat-
der Vereinten Nationen durchgesetzt. zungszeit nachdenken konnten, dürfen wir, glaube
Lassen Sie mich dazu heute zwei Bemerkungen ich, dankbar bekennen, daß wir jetzt die Chance ha-
machen: ben, einer jungen Generation in Europa und in
Deutschland zu sagen: Euch bleibt dies erspart; ihr
Erstens. Kuwait, das seine Souveränität wiederge- habt eine Chance, die kaum je zuvor eine andere
wonnen hat, muß auch auf dem Weg zur Rechtsstaat- Generation in Deutschland hatte, die Chance auf ein
lichkeit und zur Demokratie vorangehen. Ich glaube, ganzes Leben in Frieden und in Freiheit.
dies ist eine berechtigte Forderung angesichts des
Einsatzes der Völkergemeinschaft. Ich möchte bei all den Sorgen des Alltags — wir
haben solche Sorgen; ich und andere sprachen da-
Das zweite, was ich sagen will, ist, daß wir an alle von— uns einfach einladen, dieses Ziel vor Augen zu
Verantwortlichen appellieren, insbesondere im Irak, behalten: Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit, und
das Schicksal der Flüchtlinge zu lindern und über- dann zu tun, was unsere Pflicht ist.
haupt die Ursache für die Fluchtbewegungen zu be- (Langanhaltender Beifall bei der CDU/CSU
enden. Wir haben vor Ort geholfen. Ich nehme gern und der FDP)
die Gelegenheit wahr, all denen zu danken, die dabei
aus Deutschland dorthin gekommen sind, den Solda-
ten der Bundeswehr genauso wie den Hilfsorganisa- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das Wort hat der
tionen. Abgeordnete Wolfgang Roth.
(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der
SPD) Wolfgang Roth (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kol-
Aber das alles ist nur Hilfe für eine Übergangszeit. leginnen und Kollegen! Der Bundeskanzler hat an
Die betroffenen Menschen, vor allem die Kurden, vielen Stellen seiner Rede Herrn Ministerpräsidenten
müssen in ihrer Heimat eine friedliche Zukunft finden Engholm nicht allein in dessen Funktion als Parteivor-
können. sitzender der SPD, sondern auch im Hinblick auf des-
sen Rolle im Bundesrat angesprochen. An vielen Stel-
Das führt uns zu einer weiteren großen Herausfor- len wurde deutlich, daß z. B. bezüglich der wirtschaft-
derung in dieser Region: der Friedenskonferenz. Es lichen Möglichkeiten der früheren DDR, der heutigen
ist unser Interesse als Deutsche — wegen unserer neuen Bundesländer, bezüglich der Reform des Un-
engen Verbundenheit, unserer schicksalhaften Ver- ternehmenssteuerrechts, aber auch für viele andere
bundenheit mit dem Volk und dem Staate Israel, aber Fragen in der Bundesrepublik Deutschland eine Ge-
auch wegen unserer alten traditionsreichen Bezie- setzgebung nur dann möglich ist, wenn der Bundes-
hungen zur arabischen Welt —, daß alles getan wird, tag und die sozialdemokratische Seite im Bundesrat
damit aus einem gewonnenen Krieg ein gewonnener gemeinsame Lösungen finden.
Frieden wird.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das ist ein interessanter Lernprozeß. Als unser Frak-
Es wäre schlimm, wenn am Ende dieses Prozesses der tionsvorsitzender Hans-Jochen Vogel im November/
Krieg gewonnen und der Frieden verloren würde. Dezember 1989 angesichts der gewaltigen Aufgabe,
die die Integration der damaligen DDR in die Bundes-
In diesem Zusammenhang, wenn es um die Siche- republik darstellte, vom Runden Tisch und von Ko-
rung des Friedens geht — was immer auch bedeutet: operation gesprochen hat, hat der Bundeskanzler
wi rt schaftlicher Aufschwung und soziale Sicherung noch gesagt, Runde Tische seien Ereignisse in Dikta-
für die Menschen der Region — , wird die Bundesre- turen. Heute aber will er offensichtlich Gespräche am
publik Deutschland bereit sein, ihren Beitrag zu lei- Runden Tisch. Das ist ein kleiner Fortschritt.
sten, trotz der vielen anderen Probleme, die wir im
eigenen Land und vor allem in Mittelost- und Südost- (Beifall bei der SPD)
europa haben. Ich frage mich an dieser Stelle natürlich auch: Was
wäre uns erspart geblieben, wenn schon damals eine
Meine Damen und Herren, dieser Haushalt 1991 offene Auseinandersetzung über die schwierigen Pro-
führt bereits weit hinein in die 90er Jahre. Es sind nur bleme der Integration der DDR in die Bundesrepublik
noch wenige Jahre, die uns vom Ende dieses Jahrhun- begonnen hätte? Es wären viele Fehler vermieden
derts trennen. Vor ein paar Tagen habe ich aus Anlaß worden.
des fünfzigsten Jahrestags der Schlacht um Kreta die
Gelegenheit wahrgenommen, dort hinzufahren und (Beifall bei der SPD)
Soldatenfriedhöfe, deutsche wie die von Alliierten, zu Ich möchte jetzt, Herr Bundeskanzler, Ihr Thema
besuchen. Wenn man vor diesen Gräberfeldern steht, Unternehmenssteuerreform aufnehmen. Wir vertre-
Gräberfeldern, die es auch an vielen anderen Orten ten seit jeher die Position, daß in unsere Unterneh-
aus zwei Weltkriegen gibt, empfindet man, daß dort mensbesteuerung Fehler eingebaut sind. Die Unter-
die Hoffnung von Millionen junger Menschen begra- nehmensbesteuerung in der Bundesrepublik
ben ist, deren Idealismus durch verantwortungslose Deutschland könnte deutlich investitionsfreundlicher
Machthaber mißbraucht wurde und denen es ver- werden. Aber die Vorschläge der Koalition waren bis-
wehrt wurde, ihr persönliches Glück nach eigenen her nicht auf die Investitionsförderung, sondern auf
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2103
Wolfgang Roth
die Förderung der höheren und hohen Einkommen lange fackelt, bei uns abzuschreiben. Das ist mir übri-
ausgerichtet. Das ist aber nicht die Unternehmens- gens lieber als die gegenteilige Haltung.
steuerreform, die mit uns zu machen ist. Waren vor einem Jahr Beschäftigungsgesellschaf-
(Beifall bei der SPD) ten für Arbeitslose, die keine normale Arbeit hatten,
noch ein Verstoß gegen die Marktwirtschaft, so hat
Kein Mensch konnte bisher erklären — vor kurzem Herr Blüm unser Konzept inzwischen voll übernom-
hat sogar Graf Lambsdorff Zweifel angemeldet; auch men.
Sie, Herr Möllemann — , was die p rivate Vermögen-
steuer mit einer Investitionstätigkeit der Unterneh- War eine drastische Investitionsförderung der Pri-
men oder mit der Wettbewerbsfähigkeit der Bundes- vaten durch Sonderabschreibungen, Investitionszula-
republik Deutschland zu tun hat. gen und Investitionszuschüsse eine Wettbewerbsver-
zerrung, so hat man etwa 80 % unserer Vorschläge
Ich habe in diesem Zusammenhang ein seltsames inzwischen übernommen.
Erlebnis mit einem Kollegen in diesem Hause gehabt.
Er ist der Vater einer eher reichen Dame. Als ich Lautete vorher der einzige und alleinige Auftrag an
betont habe, daß Unternehmensinvestitionen nicht die Treuhandgesellschaft in Berlin, die nun noch Tau-
mit der Beseitigung der Vermögensteuer zusammen- sende Betriebe besitzt, zu privatisieren und nichts als
hängen, hat er mir lebhaft zugestimmt. Jener Kollege zu privatisieren, so ist jetzt der Auftrag an die Treu-
war offen genug, es zu tun. hand genau in unsere Richtung verändert worden;
man akzeptiert jetzt Strukturveränderungen und die
Ich sage noch einmal: Wir sind bereit, mit Ihnen Sanierungsaufgabe.
über die Reform der Unternehmenssteuer zu reden.
Dazu ist insbesondere Ministerpräsident Engholm be- War der absolute Vorrang der Rückgabe von Grund
reit. Aber wir reden über eine Beseitigung der Vermö- und Boden und Betrieben an Altbesitzer tabu, so sind
gensteuer oder eine Senkung des Steuersatzes für rei- Sie inzwischen zu einem beträchtlichen Teil auf un-
che Leute nicht in einer Phase, in der die Mehrwert- sere Vorschläge zur Vorfahrtsregelung für Investoren
steuer erhöht werden soll. Das paßt sozial nicht zu- eingegangen.
sammen. Das heißt, wir sehen Bewegung. Aber man muß
gleichzeitig sagen, das kommt viel zu spät, und teil-
(Beifall bei der SPD)
weise ist es völlig halbherzig.
Ich habe schon gesagt: Wir hätten gern mit Ihnen im Typisch dafür ist die künftige Eigentumsregelung.
November und Dezember 1989 und dann im ganzen Sie haben zwar Elemente von uns übernommen. Aber
Jahr 1990 über die Probleme der Integration der da- das Ergebnis war ein Gesetz, das so kompliziert ist,
maligen DDR in die Bundesrepublik geredet. daß selbst die ausgefuchste westdeutsche Verwaltung
Ich sage ganz offen: Manchmal freut man sich nicht es nicht praktizieren könnte, geschweige denn, daß
darüber, daß man sagen kann, man hat letztlich recht diejenigen es anzuwenden vermögen, die im Osten
behalten. Wir Sozialdemokraten haben von Anfang damit umgehen sollen.
an gesagt, daß das, was wirtschaftspolitisch ansteht, (Beifall bei der SPD)
eine außerordentliche Aufgabe und Herausforderung
ist, für die es in der Wirtschaftspolitik keine Vorbilder Die Ideologie hatte Ihnen den Blick verstellt. Man
gibt. Wir haben — das bezweifelt ja niemand mehr — wollte einfach den großen staatlichen Handlungsbe-
vor einem Jahr richtig analysiert und die richtigen darf nicht zur Kenntnis nehmen, den eine funktions-
Maßnahmen vorgeschlagen, als Sie noch ideologische tüchtige Marktwirtschaft gerade beim Neuaufbau als
Scheuklappen hatten und behaupteten, es gebe jetzt Grundlage hat. Das war nach meiner Auffassung
ein Wirtschaftswunder in der DDR; der Mittelstand nichts anderes als unterlassene Hilfeleistung.
blühe automatisch auf; jetzt sei eine Phase wie in den Ihr Wunderglaube an die Allheilmittel des Marktes
50er Jahren automatisch da. verhinderte geradezu, daß der Marktwirtschaft in die-
Ich sage noch einmal: Wir sind nicht glücklich dar- ser kritischen Phase sogleich eine Chance gegeben
über, daß wir mit unserer Analyse und unserer Theo- wurde.
rie richtig gelegen sind. Ich wäre froh, es wäre besser Die Übergangskrise hat gezeigt, daß die Sozialde-
gegangen. Denn wir müssen alle noch lange an dieser mokraten in Zeiten wirtschaftlicher Schwierigkeiten
Hypothek bezahlen. in der Einschätzung, in der Analyse und in der Erar-
Die Bundesregierung ist bisher an der Aufgabe ge- beitung von Antworten weit realistischer sind als Li-
scheitert. Aber die wirtschaftliche und soziale Einheit berale und Konservative. Das läßt sich in der Bundes-
darf nicht scheitern. republik übrigens historisch nachweisen. Die Kon-
junkturkrise 1966/1967 hat zum Rücktritt von Erhard
(Beifall bei der SPD) geführt; Schiller hat die Bundesrepublik Deutschland
Deshalb sind wir trotz Ihrer früheren Ablehnung wei- wieder in eine Wachstumsphase gebracht.
terhin gesprächsbereit. (Lachen bei der CDU/CSU)
Manche sagen, die Regierung habe jetzt dazuge- Helmut Schmidt hat die beiden Ölkrisen 1973 und
lernt; sie habe Vorschläge der Opposition übernom- 1980 als erster und einziger sofort richtig eingeschätzt.
men; da habe sich etwas geändert. Sicher, es wäre Beispielsweise hat er damals jene Weltwirtschaftsgip-
völlig falsch, zu bestreiten, daß die Regierung Ideen fel durchgesetzt, auf die sich der Bundeskanzler heute
von uns aufgegriffen hat. Über Wirtschaftsminister berufen konnte. Es ist ja auch kein Geheimnis, daß
Möllemann muß man sagen, daß er wirklich nicht sich zur Zeit viele Bürgerinnen und Bürger in der Bun-
2104 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Wolfgang Roth
desrepublik Deutschland angesichts der ökonomi- schätzung von gestern lautet: Wir brauchen keine
schen Probleme im Osten einen Bundeskanzler mit Steuererhöhung. Die Fehleinschätzung von heute
dem wirtschaftlichen Erfahrungshintergrund von Hel- lautet: Wir brauchen nur für ein Jahr eine — zudem
mut Schmidt und nicht einen Bundeskanzler Kohl ungerechte — Ergänzungsabgabe.
wünschen.
Nein! Wir Sozialdemokraten sagen: Wir brauchen
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) in den 90er Jahren aus Gründen der Solidarität mit
Umfragen in der Öffentlichkeit zeigen das ganz deut- dem Osten eine befristete Ergänzungsabgabe auf
lich. Im übrigen sind gerade Wähler und Anhänger lange Zeit.
der CDU/CSU und der FDP dieser Meinung. (Beifall bei der SPD)
Natürlich wollen Sie jetzt über die Probleme und In drei, vier Jahren ist das nicht anders.
Ihre Fehleinschätzungen stillschweigend zur Routine
übergehen. Das verstehe ich sogar. Wer läßt sich Man kann es auch so sagen: Aus der falschen Ana-
schon gern an Fehler erinnern? lyse setzt sich die Steuerlüge der Regierung Kohl fort.
Sie wird zur Dauerübung.
Leider ist das aus einem Grund nicht möglich: Irrtü-
mer und Fehleinschätzungen setzen sich immer noch (Dietri ch Austermann [CDU/CSU]: Kennen
fort. Besonders deutlich wird das bei der Vorausschau Sie noch die Lebenslüge?)
auf die wirtschaftliche Entwicklung im Osten sowie
bei der Finanzierung. Wir haben gestern das Ergebnis einer Umfrage von
Infas erfahren. Auf die Frage, ob der Vorwurf der
Der Bundeskanzler hat bis in die letzten Wochen Steuerlüge berechtigt sei, sagen 72 % der Bürger: Ja,
immer wieder gesagt, man brauche etwa drei bis vier so ist es. Wenn das die Meinung der Bürger ist, dann
Jahre, bis das Leistungsniveau im Osten demjenigen hören Sie auf, zu sagen, das sei sozialdemokratische
im Westen entspreche. Propaganda, sondern korrigieren Sie endlich Ihre Ein-
- heranzie-
Ich will gar nicht meine eigenen Analysen schätzung und Ihre Steuerpolitik! Gehen Sie mit den
hen, sondern die Analysen Ihres Parteifreundes in Bürgerinnen und Bürgern, insbesondere denen im
Sachsen, Professor Biedenkopf. Osten, fair um!
(Zuruf von der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Gerd
— Ich habe schon bei den Zwischenrufen gemerkt: Er Poppe [Bündnis 90/GRÜNE])
ist kein Freund, sondern nur ein Parteifreund von Ih- Wer soll das alles noch ernst nehmen?
nen.
(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Was
Professor Biedenkopf, der immerhin Ministerpräsi- Sie sagen?)
dent von Sachsen ist, sagt zu Recht: Da die neuen
Bundesländer 1992 — das ist jetzt schon absehbar — In der Steuerpolitik werden Tag für Tag neue Steuer-
nur 25 % des Leistungsniveaus des Westens haben vorschläge gemacht. Der Herr Möllemann hat einen
werden, brauche man bis zum Ende des Jahrtausends, neuen Vorschlag zur Vermögensteuer gemacht; er
also in den nächsten acht Jahren, jedes Jahr eine will jetzt halbieren. Andere wollen gleich zwei Punkte
durchschnittliche Wachstumsrate von 22 %. Mehrwertsteuererhöhung. Was die Ergänzungsab-
gabe betrifft, ist alles unklar.
(Dr. Willfried Penner [SPD]: Ein bißchen
viel!) Noch grotesker ist die Diskussion über den Subven-
tionsabbau. Als Sie an die Regierung kamen, hat fast
Darf ich Sie daran erinnern, daß selbst in der Auf- jeder der sich zu finanzwirtschaftlichen Fragen äu-
schwungphase zwischen 1950 und 1960 der Durch- ßerte gesagt: Das ist die Regierung des Subventions-
schnitt des Wirtschaftswachstums gerade bei 7 % lag; abbaus.
das höchste Wachstum betrug 12 % , das niedrigste
3,6 %. Aber seit 1982 ist keine wesentliche subventions-
Der Bundeskanzler zieht durch die Lande und ver- politische Maßnahme beschlossen worden, die diesen
Begriff rechtfertigt.
spricht den Ostdeutschen, in drei bis vier Jahren
werde das Leistungsvermögen etwa wie im Westen (Adolf Roth [Gießen] [CDU/CSU]: 14 Milliar
sein. Diese Fehleinschätzung ist nur noch mit der Be- den DM im letzten Jahr!)
hauptung vergleichbar, daß es im letzten Jahr ein
Wirtschaftswunder hätte geben müssen. Jetzt sagt der Herr Möllemann, er wolle zurücktre-
ten, wenn nicht 10 Milliarden DM erwirtschaftet wür-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten den. Gestern sagte er noch, er wolle einen Unterneh-
des Bündnis 90/GRÜNE) mer als Subventionsbeauftragten berufen, der Vor-
Diese Fehleinschätzung wird fortgesetzt. schläge machen solle. Jetzt geht es nicht nur um eine
Privatisierung von öffentlichen Einrichtungen, son-
Warum müssen wir das immer wieder wiederho- dern auch noch um eine Privatisierung der Politik. Ist
len? es nicht eine Schande, wenn eine Regierung sagt, sie
(Adolf Roth [Gießen] [CDU/CSU]: Ihr müßt brauche Unternehmensberater, um Subventionen ab-
gar nicht!) zubauen?
— Wir müssen das wiederholen, weil sich aus dieser (Beifall bei der SPD — Adolf Roth [Gießen]
Fehleinschätzung ständig die Fehleinschätzungen im [CDU/CSU]: Auch Sie nehmen doch Bera
Bereich der Finanzpolitik entwickeln. Die Fehlein ter!)
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2105
Wolfgang Roth
Meine Damen und Herren von der Regierung, ich Lassen Sie mich noch über ein besonderes Thema
empfehle, beim Subventionsabbau ganz genau dar- sprechen, das die neuen Bundesländer betrifft und mir
über nachzudeken, daß jede einzelne entscheidene auch bei meinen Begegnungen im Osten immer grö-
Maßnahme der Zustimmung des Bundesrates be- ßere Schwierigkeiten macht.
darf. Sie alle wissen, daß es beim Übergang von der ehe-
(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Eine maligen Ostmarkt zur D-Mark erhebliche Wirtschafts-
Drohung?) kriminalität gegeben hat. Wir reden zwar zur Zeit viel
Sie haben vorhin in Richtung Bundesratsbank gesagt, über Schalck-Golodkowski — das geschieht zu Recht;
Sie erwarteten eine kooperative Haltung. Das gilt ge- es wird darüber einen Untersuchungsausschuß ge-
rade beim Subventionsabbau. Wer über den Kahl- ben —; aber es gibt im Zusammenhang mit der Ein-
schlag für das Revier nachdenkt, wer den Bergbau führung der D-Mark noch sehr viele andere unge-
zerstören will, der wird in der SPD keine Gesprächs- sühnte Durchstechereien.
partner finden. (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Weiß Gott!)
(Beifall bei der SPD) Während wir an die Bürgerinnen und Bürger appel-
Wir sind aber bereit, über alle anderen Themen zu lieren, mit der Ergänzungsabgabe und mit der in zwei
sprechen, weil der derzeitige Umfang der Verschul- Jahren eintretenden Mehrwertsteuererhöhung zur so-
dung in der Bundesrepublik Deutschland nicht zu ak- liden Finanzierung der Integration der ehemaligen
zeptieren ist. DDR beizutragen, gibt es Leute, die auf Kosten der
Bürgerinnen und Bürger dort Tag für Tag an der frü-
Wenn ich alle Kredite des Jahres 1991 addiere, dann heren DDR verdienen. Das kann nicht so weiterge-
komme ich zu Kreditaufnahmen von etwa 200 Milliar- hen.
den DM.
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/
(Karl Stockhausen [CDU/CSU]: Das hat Frau GRÜNE — Siegfried Hornung [CDU/CSU]:
Matthäus-Maier schon gesagt!) - Traurig genug! — Zuruf von der CDU/CSU:
Es entfallen 149 Milliarden DM auf Bund, Länder und Da wird so mancher Sozialdemokrat dabei
Gemeinden direkt sowie auf den Fonds Deutsche Ein- sein!)
heit, ERP; 22 Milliarden DM auf die Treuhand; 7 Mil- Wir müssen sehen, daß für viele drüben der Ein-
liarden DM auf die Bahn; 15 Milliarden DM auf die
druck entstanden ist, hier gehe es nicht um Soziale
Post; 5 Milliarden DM auf den Kreditabwicklungs-
Marktwirtschaft, sondern um Geschäftemacherei und
fonds; 7 Milliarden DM auf die Ablösung von Krediten
Spekulantentum.
im Wohnungsbau. Das ergibt über 200 Milliarden
DM. Ich spreche über eine spezielle Branche. Ich meine
nicht die guten, vernünftigen Wirtschaftsprüfer und
Wir sind inzwischen bei nahezu 8 % Schulden, ge-
-berater. Aber das, was im Beratungswesen in den
messen am Bruttosozialprodukt. Diese Verschul-
neuen Bundesländern umherrennt und für teures
dungsrate ist höher als beispielsweise die Verschul-
Geld falsche Ratschläge gibt, ist unerträglich. Ich bitte
dungsrate von Herrn Reagan. Eine derartige Finanz-
auch die Verbände, dafür zu sorgen, daß das gestoppt
politik ist auf Dauer nicht machbar.
wird.
(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Für was?)
(Beifall bei der SPD und der FDP — Siegf ried
— Es geht nicht um die Frage: Für was? Stellen Sie Hornung [CDU/CSU]: Jawohl!)
sich einmal vor, wieviel Kurzarbeitergeld in der frühe-
ren DDR zur Zeit aus Schulden bezahlt wird! Das sind Tut die Bundesregierung hiergegen etwas? Ich
keine Investitionen, sondern konsumtive Ausgaben. habe bisher nichts gehört.

(Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Richtig! (Karl Deres [CDU/CSU]: Was soll sie denn
— Siegf ri ed Hornung [CDU/CSU]: Heißt machen?)
das: Sie wollen gar nichts bezahlen? — Wei Das muß sich schnell ändern. Wir dürfen es nicht zu-
terer Zuruf von der CDU/CSU: Wollen Sie lassen, daß der Start der Marktwirtschaft in den neuen
streichen? — Gegenruf des Abg. Dr. Hans Bundesländern in einem Sumpf von Schieberei ver-
Jochen Vogel [SPD]: Ist das primitiv!) sinkt.
— Ich bin ja der Auffassung, daß wir helfen müs- Wir müßten eine Sonderarbeitsgruppe der Ministe-
sen; rien in Bonn und der neuen Bundesländer schaffen,
(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Na die beispielsweise die Staatsanwaltschaften berät und
und? Wie denn?) auch typische Fallkonstruktionen veröffentlicht, da-
mit die Leute vor derartigen Aktionen gewarnt sind.
aber ich bin nicht der Auffassung, daß diese Finanz-
politik auf die Dauer fortgesetzt werden kann. In dem Zusammenhang ist auch die Wirtschaft ge-
fordert. Eine große Versicherungsgesellschaft kann
Deshalb schlagen wir vor, daß dieser Dialog be- nicht einfach wegsehen, wenn in ihrem Auftrag und
ginnt, für ihre Provision Dutzende, Hunderte von Schlep-
(Zuruf von der CDU/CSU: Nicht nur re pern durch die neuen Bundesländer fahren und die
den!) Leute zu Versicherungen überreden, die sie auf die
und zwar auch über die Frage einer Verbesserung der Dauer überhaupt nicht bezahlen können.
Steuerstruktur in der Bundesrepublik und einer bes- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Sehr
seren Finanzabdeckung. richtig!)
2106 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Wolfgang Roth
Ich fordere auch die deutsche Versicherungswirt- Sechster Punkt. Die Tatsache, daß eine Regelung
schaft auf, hier endlich für solide Verhältnisse zu sor- der ökologischen Altlasten bis heute fehlt, führt auch
gen. Das ist nicht nur eine staatliche Aufgabe. zu unterlassenen Investitionen im ökologischen Sek-
tor.
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/
GRÜNE sowie des Abg. Dr. Freiherr Wolf Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum
gang von Stetten [CDU/CSU] — Siegf ried Schluß sagen: Es gibt neue Vorschläge, es gibt zusätz-
Hornung [CDU/CSU]: Sehr gut!) liche Ideen. Es muß einen zusätzlichen Ideenwettbe-
werb in Richtung auf die neuen Bundesländer geben.
Lassen Sie mich einige Worte zu den Kaufhauskon- Gehen Sie endlich von Ihrem hohen Roß herunter!
zernen sagen. Ich weiß, da handelt es sich nicht um Gehen Sie in sorgfältige Gespräche mit Bundesrat und
Wirtschaftsk rimina li tät. Aber auch sie sind rechen- Opposition! Wir haben weitere Anregungen. Helfen
schaftspflichtig. Warum sind denn dieselben Güter im Sie mit, daß den Menschen im Osten geholfen wird!
Osten teurer als im Westen? Das darf doch nicht wahr
sein! Wir verlangen von den Bürgern Steuergelder zur (Beifall bei der SPD, dem Bündnis 90/
Finanzierung des Aufbaus im Osten und manche GRÜNE und der PDS/Linke Liste)
Kaufhauskonzerne nutzen die mangelhafte Wettbe-
werbssituation im Osten gnadenlos aus. Das muß auf-
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das Wort hat der
hören. Kollege Dietrich Austermann.
(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten
des Bündnisses 90/GRÜNE)
Dietrich Austermann (CDU/CSU) : Frau Präsidentin!
Ich fordere den Wirtschaftsminister auf, hiergegen zu- Meine Damen und Herren! Es ist, glaube ich, vernünf-
sammen mit dem Bundeskartellamt stärker vorzuge- tig und richtig, daß man nach den Ausführungen des
hen. Kollegen Roth noch ein paar klarstellende Bemerkun-
-
(Dr. Otto Graf Lambsdorff [FDP]: Was soll gen zu dem macht, was er gesagt hat, und ein paar
denn das Kartellamt dabei machen?) kurze Sätze anschließt.
Das zentrale Problem im Osten ist und bleibt die (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Er hat über
Arbeitslosigkeit. Das zentrale Problem ist die Gefahr, haupt nichts gesagt!)
daß wir im Dezember 3 Millionen Arbeitslose haben Es muß ganz deutlich unterstrichen werden, daß die
werden. Ich glaube nicht, daß das Instrumentarium SPD durch ihre Verzögerungshaltung im letzten Jahr
ausgereizt ist. die Voraussetzung für das, was in den neuen Bundes-
Wir machen heute erneut Vorschläge. Ich unter- ländern zu geschehen hat, gerade erschwert und nicht
breite Ihnen noch einmal sechs Punkte, weil sie in der erleichtert hat. Sie hat den Wahltermin verzögert, und
sie hat viele andere Dinge problematisiert.
von Regierung und Opposition gebildeten Arbeits-
gruppe nicht durchgesetzt werden konnten. (Beifall bei der CDU/CSU)
Erster Punkt. Massenentlassungen im Osten müs- Es muß auch festgestellt werden, daß Anlaß für Runde
sen ausgesetzt werden, und als Nachfolgeregelung Tische in auslaufenden Diktaturen ist, aber nicht in
zur Kurzarbeit Null müssen flächendeckend Beschäf- einer funktionierenden Demokratie.
tigungsgesellschaften gegründet werden. Es darf (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
eben nicht entlassen werden. Wenn das Angebot zur Zusammenarbeit besteht, soll
Zweiter Punkt. Bei öffentlichen Aufträgen in den es gerne genutzt werden. Auf Runde Tische ist man
neuen Bundesländern müssen 70 % der Wertschöp- aber nicht unbedingt angewiesen.
fung aus östlicher Leistungserstellung nachgewiesen Die Debatte um den Kanzleretat stellt immer auch
werden. Das ist übrigens ein Punkt, auf den gerade die Frage, ob und wie gut dieses Land geführt wird
Klaus Dohnanyi aus seiner Erfahrung heraus ständig und wie die Alternative aussähe. Dies muß man deut-
hinweist. lich herausstellen. Ich kann nur sagen: Nach der De-
Dritter Aspekt. Finanzielle Absatzhilfen für Indu- batte heute morgen sprechen viele, ja eigentlich alle
strieprodukte müssen fortgeführt werden, sie dürfen Indizien dafür, daß eine andere, beispielsweise SPD
nicht in diesem Jahr auslaufen, sonst gibt es unnötige geführte, Bundesregierung die Wiedervereinigung
Betriebsschließungen, die man verhindern kann. nicht so schnell herbeigeführt hätte und dies für alle
Bürger teurer geworden wäre. Dies zeigen auch die
Vierter Punkt. Es muß zusätzliche Stützungsmaß- Erklärungen über Subventionsabbau und Steuererhö-
nahmen für den Osthandel geben, und zwar nicht nur hungen, die Herrn Roth bei weitem noch nicht ausrei-
in Richtung Sowjetunion, sondern auch in Richtung chen. Ich möchte ganz deutlich sagen: Wer nach den
der kleineren Länder. Erfahrungen von 1982 heute an einen Regierungs-
Fünftens. Wir brauchen endlich eine vernünftige wechsel zur SPD denkt, ist entweder Masochist, oder
Entschuldungsregelung. Die Fall-zu-Fall-Regelung er leidet an retrograder Amnesie.
hat sich als schwerer Fehler erwiesen und hat zu wei- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
teren Betriebsstillegungen geführt, die man verhin-
Meine Damen und Herren, es besteht allerdings in
dern muß.
der Tat Bedarf und Notwendigkeit, über das, was bis-
(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Aber mit her eingeleitet worden ist und was wir miteinander
Nullwachstum kann man das nicht errei begonnen haben, zu informieren. Wer ein objektives
chen!) Bild hat, wird feststellen, daß die wirtschaftlichen Da-
Deutscher Bundestag -- 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2107
Die tr ich Austermann
ten in der Bundesrepublik so gut waren wie nie zuvor ses zu einer Meinung. Dies zeichnet nicht gerade Füh-
und daß sich auch in den östlichen Bundesländern die rung aus.
Zeichen der Besserung mehren. Selbst ADN ist nicht Diese Regierungskoalition, meine Damen und Her-
mehr in der Lage zu leugnen, daß sich einiges tut, daß ren, hat die Zwölfte Wahlperiode mit einem klaren
Großunternehmen zunehmend investieren, wie noch Programm begonnen. Wir könnten sicherlich ein
gestern in der „Neuen Zeit" gemeldet wurde. Stück weiter sein. Manches hätte — auch dadurch,
Meine Damen und Herren, es ist aber auch die daß die Opposition besser mitgemacht hätte — besser
Frage zu stellen, wie es mit dem Thema Steuerirrtum/ laufen können. Aber der Weg ist richtig. Heute kann
Steuerlüge/Steuerbetrug nun tatsächlich aussieht. man sagen: Das Schiff nimmt fahrt auf. Zum Kapitän
Wenn wir ein paar Zitate heranziehen, dann wird gibt es keine Alternative. — Die CDU/CSU stimmt
deutlich, daß die Sozialdemokraten selbst Fehlein- dem Kanzleretat zu.
schätzungen unterlegen sind. Dies gilt nicht nur für Herzlichen Dank.
Lafontaine mit der Äußerung, die DDR sei ein lunren- (Beifall bei der CDU/CSU)
des Industrieland gewesen, sondern auch für Herrn
Stolpe, der noch im Februar sagte: Es fehlen uns heute
aktuelle Bestandsaufnahmen. — Und Engholms Fi- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Damit schließe ich
nanzministerin schloß am 21. Feb ru ar 1991 an: Die die Aussprache zu Einzelplan 04.
neuen Bundesländer sollen erst einmal in den eigenen Wir kommen zur Abstimmung über diesen Einzel-
Taschen nachsehen, was drin ist. Man kann uns also plan in der Ausschußfassung. Die Fraktion der CDU/
nicht vorwerfen, wir hätten zu spät gehandelt. CSU verlangt namentliche Abstimmung. Ich eröffne
die Abstimmung. —
Helmut Schmidt hat kurz vor der Wahl gesagt, La-
Darf ich fragen, ob noch irgend jemand im Saal ist,
fontaine verliere zu Recht; Helmut Kohl habe innen-
der seine Stimme nicht hat abgeben können? — Das
politisch keine Fehler gemacht. Zu den Vorwürfen aus
ist nicht der Fall. Damit schließe ich die Abstimmung
seiner Partei hinsichtlich einer angeblichen Steuer-
- und bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu
lüge sagt er am 12. Ap ril dieses Jahres vor der Atlan-
beginnen.
tikbrücke, den Vorwurf der Steuerlüge an die Adresse
der Herren Kohl, Waigel und Lambsdorff habe er nicht Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird
geteilt. Karl Schiller sagt, er hätte genauso gehandelt später bekanntgegeben. *)
wie Herr Waigel und auch Widerstand geleistet gegen
übertriebene vorweggenommene Steuererhöhungen, Ich rufe nun auf:
so wie sie von der SPD immer wieder gefordert wür- Einzelplan 09
den.
Geschäftsbereich des Bundesministers für
Herr Engholm dagegen geht mit weinerlicher Wirtschaft
Stimme durch das Land Schleswig-Holstein und sagt, — Drucksachen 12/509, 12/530 —
er müsse wegen der Bonner Haushaltsmaßnahmen
Berichterstatter:
viele Dinge streichen. Hierzu ist festzustellen: Auch in
Abgeordnete Kurt J. Rossmanith
Schleswig-Holstein geht es zur Zeit wegen der guten
Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen)
Bundespolitik besser denn je.
Helmut Wieczorek (Duisburg)
(Beifall bei der CDU/CSU — Zustimmung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
des Abg. Dr. Otto Garf Lambsdorff [FDP] — die Aussprache zu diesem Einzelplan zwei Stunden
Unruhe bei der SPD) vorgesehen. — Dagegen gibt es keinen Widerspruch.
Dann ist dies so beschlossen.
Das Land erhält mehr Hilfestellung denn je. Alleine
die direkten Finanzhilfen auf der Grundlage des jetzt Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bür-
zu beschließenden Haushalts belaufen sich für dieses germeister des Landes Bremen, Klaus Wedemeier.
Jahr auf 2,5 Milliarden DM. Wenn es in Schleswig-
Holstein gut läuft, dann deshalb, weil der Bund nach Präsident des Senats Klaus Wedemeier (Bremen):
wie vor so massiv hilft und nicht etwa deshalb, weil Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
das Land eine hervorragende Regierung hat. Herren! Es mag manchem ungewöhnlich erscheinen,
daß sich ein sozialdemokratischer Ministerpräsident
In diesem Zusammenhang müßte man eigentlich
gegen die in Rede stehenden Vorschläge zum Sub-
die alternative Halbzeitbilanz der Jusos aus dem letz-
ventionsabbau ausspricht.
ten Jahr über Engholms Regierungszeit zitieren, in
der von Pleiten, Pech und Pannen als integralem Be- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Da
standteil der sozialdemokratischen Regierungspolitik haben wir keinen Zweifel, daß Sie das lobby
in Schleswig-Holstein die Rede ist. istisch tun werden!)
Aber es gibt Gründe dafür, sich gegen das auszuspre
Meine Damen und Herren, die Ergebnisse nach
chen, was der Bundeswirtschaftsminister derzeit vor
achteinhalb Jahren Regierungszeit in Bonn sind her-
schlägt, und zwar, wie Sie wissen, nicht nur bei uns.
vorragend; die Ergebnisse für die neuen Bundeslän-
der werden besser. Dies kann gar nicht oft genug (Ernst Kastning [SPD]: Es gibt auch Gründe
unterstrichen werden. Es gibt überhaupt keine Veran- dafür, daß er zuhören sollte!)
lassung, über andere, neue Regierungen nachzuden- — Dann würde er etwas lernen; das wäre schwierig.
ken. Bei wesentlichen Entscheidungen kam die SPD
immer erst nach Abschluß des Entscheidungsprozes- *) Ergebnis Seite 2111 A
2108 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Präsident des Senats Klaus Wedemeier (Bremen)


Meine Damen und Herren, es geht bei diesem Die Frage ist, ob er aus der p rivaten Wirtschaft kom-
Thema nicht nur um die internationale Wettbewerbs- men muß.
fähigkeit unserer Wi rtschaft — das allein wäre schon Wenn man ihm etwas raten darf, dann vielleicht
Grund genug — , sondern es geht auch um zigtau- dies: Herr Möllemann, Subventionsabbau ist kein Er-
sende von Arbeitsplätzen, die der Bundeswirtschafts- satz für eine zukunftsgerichtete Strukturpolitik. Er-
minister gefährdet. wecken Sie mit Ihrem risikobehafteten Einsatz um
Es ist nämlich kein Konzept erkennbar, das dieses den Subventionsabbau nicht den Eindruck, als würde
Vorhaben begleitet, das Alternativen für die betroffe- die Bundesrepublik Deutschland an der Spitze aller
nen Menschen, für die be troffenen Unternehmen oder Subventionsgeber stehen.
für die betr offenen Regionen aufzeigt. Ich frage mich, Es tut mir ja richtig leid, daß ich es jetzt mit Ihnen zu
ob wir es uns in Deutschland leisten können, Wirt- tun habe, Herr Riedl. Aber Ihr Chef ist nicht da.
schaftspolitik mit Subventionsabbaupolitik gleichzu-
setzen. Können wir es uns leisten, die Wettbewerbs- (Bundesminister Jürgen W. Möllemann:
politik, die Außenwirtschaftspolitik, die Industriepoli- Bitte?)
tik oder die Regionalpoli tik zu vernachlässigen? — Entschuldigen Sie bitte, Herr Möllemann.
Wir alle wissen, daß die Bundesrepublik Deutsch- (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Der eine ist ja
land und — je nach Problemdruck unterschiedlich — doppelt so schwer wie der andere!)
die verschiedenen Regionen unseres Landes vor Her- Ich meinte, er saß vorhin etwas weiter hinten. Ich
ausforderungen stehen, die eine grundlegende Über-
glaube, er hat sich etwas nach vorne geschlichen, weil
prüfung unserer wi rtschaftspolitischen Überlegungen die Plätze dort frei geworden sind.
notwendig machen. Selbstverständlich ist es unsere
Pflicht, all es zu tun, damit die neuen Bundesländer Lieber Herr Möllemann, erwecken Sie bitte nicht
schnellstmöglich den Anschluß an die allgemeine Ent- den Eindruck, als würde die Bundesrepublik an der
wicklung erreichen. Aber dies darf nicht dazu führen, Spitze aller Subventionsgeber liegen.
daß wir unsere Wettbewerbsposition im- gesamteuro- Ich möchte die Feststellung der OECD zu den Indu-
päischen Zusammenhang und in der internationalen striesubventionen in den OECD-Wirtschaften wie-
Arbeitsteilung aufs Spiel setzen. derholen. Da wird gesagt, daß die staatlichen Subven-
(Beifall bei der SPD) tionen in Deutschland — damals noch als Summe der
alten elf Bundesländer — für das gesamte verarbei-
Wir müssen sehen, daß die europäischen Nachbarn tende Gewerbe einschließlich Transport und Verkehr
durchaus dankbar sind, wenn sich die Deutschen mit um 28 % unter dem EG-Durchschnitt liegen, daß die
ihren eigenen Problemen befassen und aus diesem Industriesubventionen in Deutschland unter allen EG-
Grunde nicht in der Lage sind, sich den Herausforde- Ländern am niedrigsten sind und daß die Subventio-
rungen des europäischen Binnenmarkts zu stellen. nen selbst in den Branchen Stahl und Schiffbau weit
Auch die Konkurrenten in Fernost werden es mit posi- von der EG-Konkurrenz entfernt sind.
tivem Interesse registrieren, wenn wir uns aus indu-
striellen Zukunftsmärkten international verabschie- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Wollen Sie die
den, sei es aus der Mikroelektronik, aus dem Schiff- wieder erhöhen?)
bau, aus der Stahlverarbeitung oder der Raumfahrt, — Ich komme darauf zurück. Aber Sie scheinen sich
wo es ja verschiedene Auffassungen gibt. mit diesem Thema nicht allzu oft befaßt zu haben,
Horror sonst könnte ich so dumme Zwischenrufe nicht verste-
(Carl-Ludwig Thiele [FDP]:
hen.
-szenario!)
(Beifall bei der SPD — Kurt J. Rossmanith
Wenn man diesen Grundgedanken nun akzeptiert,
[CDU/CSU]: Das ging zu weit, Herr Bürger
bedeutet dies natürlich noch lange nicht den Verzicht
meister!)
auf Subventionsabbau.
Unter europäischen Maßstäben ist Handlungsbe-
(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Aha!) darf generell nicht erkennbar. Es kann ihn trotzdem
Aber Subventionsabbau ist, wie wir alle wissen, ein geben, und es gibt ihn sicherlich. Da sind wir nicht
schwieriges und langwieriges Geschäft und kein auseinander. Aber Subventionsabbau in der Indust rie
Thema für spektakuläre Hauruckaktionen, so wie es kann nur im Zusammenhang mit einem industriepoli-
Herr Möllemann meint. tischen Konzept diskutiert werden und nicht ohne.
(Beifall bei der SPD — Carl-Ludwig Thiele (Beifall bei der SPD)
[FDP]: Aber man muß es einmal machen!) Selbstverständlich muß akzeptiert werden, daß
— Die Frage ist, wie man es macht. Dauersubventionen die marktwirtschaftlichen Pro-
zesse aushöhlen, deshalb auch degressiv und nur für
Ich habe vorhin gehört, daß Herrn Möllemann ein einen begrenzten Zeitraum zu gestalten sind.
Unternehmensberater zur Seite gestellt werden soll.
Meine Damen und Herren, der hektische und ha-
(Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Aha!) stige Aktionismus des Bundeswirtschaftsministers,
diese Zehn-Milliarden-Einsammelaktion, ist aber
Im Prinzip kann man Herrn Möllemann einen Berater
konzeptionell nicht abgesichert. Was können wir den
gönnen. Unternehmen und den Arbeitnehmern auf den Ze-
(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Hat er auch drin chen und bei den Werften an Perspektive bieten,
gend nötig!) wenn wir nur mitteilen, daß alle Subven tionen mehr
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2109
Präsident des Senats Klaus Wedemeier (Bremen)
oder weniger unsinnig sind, und, wenn es nur irgend- 9,5 % vollends nehmen, läßt zu, daß in Spanien noch
wie geht, alle abgebaut werden sollten? mehr als 15 % gezahlt werden dürfen — die Spanier
Nun muß man zugeben, daß ein industriepoliti- haben eine Ausnahmeregelung — , und weiß wahr-
sches Konzept schon vor Möllemann nicht erkennbar scheinlich nicht, daß in Italien und in Spanien der
war. Ich will einmal schildern, weil es mir regional Staat auch noch die Verluste der Werften übernimmt,
naheliegt, was in den letzten Jahren allein der mari- dort also Preise gemacht werden können, wie man sie
timorientierten Wirtschaft zugemutet worden ist. machen muß, um überhaupt einen Auftrag zu bekom-
men.
Von 1975 bis 1990 sind in Norddeutschland rund
41 000 Arbeitsplätze auf den Werften abgebaut wor- Herr Möllemann, bevor Sie hier weiter Kahlschlag
den. Das ist ein Abbau von 57 % der Arbeitsplätze. Im politik betreiben, wäre es sinnvoll — dabei würden
Lande Bremen waren es sogar 67 %. Die Bundesregie- wir alle Sie unterstützen — , zunächst einmal in Eu-
rung und die norddeutschen Länder hatten sich da- ropa die Subventionen gleich zu gestalten — außer-
mals, wenn auch mühsam, auf ein gemeinsames Kon- dem ist ja auch noch an die unterschiedlichen Lohn-
zept verständigt, das mit den betroffenen Unterneh- höhen zu denken — oder aber dafür zu sorgen, daß in
men, auch mit den Betriebsräten, erörtert worden ist. Europa keine Subventionen für den Schiffbau mehr
Es sind Zielzahlen für Schiffbauarbeitsplätze festge- gezahlt werden dürfen.
legt worden. Ich will an dieser Stelle noch einmal (Beifall bei der SPD)
betonen, daß die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,
die Kollegen auf den Werften freiwillig auf Lohn ver- Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie das erreichen,
zichtet haben, um ihre Arbeitsplätze überhaupt noch bevor Sie hier den Kahlschlag versuchen; denn dann
halten zu können. Freiwillig! wären die deutschen Werften die wettbewerbsfähig-
(Beifall bei der SPD — Ernst Waltemathe sten Werften in Europa. Im Nahen Osten haben wir
[SPD]: Zuhören! — Gegenruf des Bundesmi natürlich Probleme, ähnliches zu erreichen.
nisters Jürgen W. Möllemann: Tue ich -die Daß die Bundesregierung das ähnlich sieht, möchte
ganze Zeit!) ich an Hand des Finanzplans zeigen. — Im Finanzplan
Der Fördersatz für die Wettbewerbshilfe ist von der Bundesregierung ist folgendes nachzulesen — ich
1989 bis heute von 20 % über 14 % auf 9,5 % abge- zitiere — : Das von Bund — zwei D ri ttel — und Län-
senkt worden. Wir haben es also, wenn man so will, dern — ein D ri ttel — gemeinsam finanzierte Wettbe-
mit erheblichen Kürzungen im Bereich der Schiffbau- werbshilfeprogramm dient dazu, wettbewerbsverzer-
industrie zu tun — abgesehen davon, daß die Bundes- renden Subventionen anderer Staaten entgegenzu-
regierung für 1989 und 1990 Nullsummen eingesetzt wirken. — Also: Die Begründung für eine Wettbe-
hatte. Der Haushaltsausschuß hat das korrigiert. Ich werbshilfe schreibt die Bundesregierung selbst in den
bin dafür sehr dankbar. Das sage ich für alle norddeut- Finanzplan. Weiteres ist dort nachzulesen.
schen Länder, übrigens auch für alle norddeutschen Der Bundesminister Rudolf Seiters hat mir im Auf-
Parteien, um Ihnen das vielleicht einmal klarzuma- trag des Bundeskanzlers geschrieben — das war am
chen. 11. November 1990, aber so lange ist das ja noch nicht
(Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ her — : Der Haushaltsausschuß des Bundestages hat
CSU: Auch die süddeutschen!) intensiv und ausführlich die Fortsetzung des Pro-
gramms über 1990 hinaus geprüft und ist dabei zu
— Darauf komme ich noch zu sprechen. Auch die süd- dem Ergebnis gekommen, 500 Millionen DM an Ver-
deutschen müßten dankbar sein. pflichtungsermächtigungen bis 1992 vorzusehen, weil
Ich wundere mich übrigens, wenn ich lese, welche trotz steigender Nachfrage am Weltmarkt immer noch
Arbeit der Haushaltsausschuß leisten muß, welcher kaum kostendeckende Preise durch die deutschen
Umgang zwischen Regierung oder einem einzelnen Werften erzielt werden können. Mit der Fortsetzung
Minister und dem Parlament gepflegt wird. Das kenne des Wettbewerbshilfeprogramms sind sichere Per-
ich so nicht, daß das Parlament einen Haushalt be- spektiven für die deutsche Werftindustrie geschaf-
schließt, und selbstherrlich wird irgend etwas gekürzt. fen.
Bei den Finanzbeiträgen war es ähnlich.
(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Interessant!)
Insgesamt bleibt festzustellen, daß bereits ein er-
heblicher Abbau der Wettbewerbshilfe für den Schiff- Der Mann hat recht! Aber er hat wahrscheinlich keine
bau stattgefunden hat, seit 1988 aber etwas Konzep- Kopie zum Bundeswirtschaftsminister geschickt,
tionelles, so wie es vorher war, nicht erkennbar ist.
(Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Können wir
Wir sollten auch darauf achten, was die Europäische eben ablichten!)
Gemeinschaft zu solchen Kürzungsvorhaben sagt.
Der Bundeswirtschaftsminister läßt in der Europäi- was sinnvoll gewesen wäre, damit der weiß, wie das
schen Gemeinschaft zu, daß in den übrigen europäi- Bundeskanzleramt denkt.
schen Ländern 15 % Wettbewerbshilfe gezahlt wer- Jetzt darf ich auf Bayern zu sprechen kommen. —
den dürfen, Allenfalls 40 % des Wertes eines Schiffes werden an
(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das darf nicht der Küste erarbeitet. Bei manchen Schiffstypen gibt es
wahr sein!) bis zu 60 % Zulieferungen aus anderen Bundeslän-
dern, in der Hauptsache aus Bayern,
bei uns nur 9,5 %. Als wir 20 % hatten, hatten die noch
39 %. Das ist also beinahe Kontinuität. Er will uns die (Zurufe von der SPD: Aha!)
2110 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Präsident des Senats Klaus Wedemeier (Bremen)


aus Baden-Württemberg, gingen letztendlich alle pleite, wenn wir bei Null stün-
den — und dann zu glauben, man könne die ostdeut-
(Zurufe von der SPD: Aha!)
sche Schiffbauindustrie gleichzeitig hochfahren. Die
aber auch aus Nordrhein-Westfalen. ostdeutsche Schiffbauindustrie lebt vom Know-how
(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Bayern ist in Ord — das soll nicht überheblich klingen; es ist aber so —
nung! — Weitere Zurufe von der SPD) der westdeutschen Schiffbauindustrie. Sie müssen
eng zusammenarbeiten, damit die Arbeitsplätze in
Die Hauptlieferanten für den Schiffbau an der Küste Mecklenburg-Vorpommern gesichert werden kön-
sind die Bayern und die Baden-Württemberger. Wenn nen.
es um die technischen Einrichtungen in der Hauptsa-
che geht, ist das z. B. eine große Firma in München. (Beifall bei der SPD)
(Parl. Staatssekretär Dr. E rich Riedl: Es sind Dazu muß es die Schiffbauindustrie in Westdeutsch-
mehrere große!) land aber geben; sonst kann man den Kolleginnen
und Kollegen und den Unternehmen in Ostdeutsch-
— Es sind mehrere große. Wir beide haben da auch land nicht helfen. Es gibt hier also einen direkten
keine Probleme; aber ich will Sie jetzt auch nicht in
Zusammenhang.
Schwierigkeiten bringen, Herr Kollege. Die Probleme
habe ich mit Ihrem Minister. Herr Minister, wir sind zum Dialog bereit. Das hat
(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Sind Ihnen heute morgen auch zwischen Herrn Engholm und
die Berichterstatter bekannt, woher sie kom dem Bundeskanzler eine Rolle gespielt. Aber wir er-
men, die sich dafür eingesetzt haben, Herr warten von Ihnen, daß wir nicht aus der Zeitung erfah-
ren, was Sie vorhaben, und daß unsere Wirtschaftsmi-
Bürgermeister?)
nister in Norddeutschland nicht erst lange um Ter-
— Ich will es wiederholen, wenn es nur Herr Walte- mine bitten müssen, bevor etwas passiert. Das können
mathe gehört haben sollte — , ich sage es also noch nicht nur wir erwarten, sondern das kann man an der
einmal ausdrücklich: Ich bedanke mich - bei allen Saar genauso wie z. B. an Rhein und Ruhr oder auch in
Haushaltsausschußmitgliedern aller Parteien für ihren Niedersachsen oder anderen Ländern, wenn es um
Einsatz in dieser Sache. Ich hoffe, daß Sie den Bun- landwirtschaftliche Gebiete geht, erwarten.
deswirtschaftsminister auch in Zukunft, wenn er solch
sprunghaftes Verhalten zeigt, korrigieren werden. Wir selbst haben schon zuviel Geld in die Schiffbau-
industrie gesteckt — und das in einem Land, dem es
(Beifall bei der SPD) wahrlich nicht so gut geht — , als daß wir uns das jetzt
Ich würde auch nicht, wenn jetzt diese Entschei- kaputtmachen lassen könnten.
dung schrittweise einkassiert werden soll — und sie
(Bundesminister Jürgen W. Möllemann: Das
wird ja schrittweise einkassiert — , sagen, dies sei nun stimmt!)
als erste Schwäche der Position des Ministers zu se-
hen. Auch das ist nicht der Fall. Das ist die Fähigkeit, Ich denke, daß auch die Koalition sich das, was hier
aus der genauen Prüfung von Fakten zu neuen Ein- passiert, nicht gefallen lassen kann. Ich will aus einer
sichten zu kommen. Diese Fähigkeit müssen wir je- großen deutschen Tageszeitung zu dem, was hier in
dem zugestehen. Rede steht, ein Zitat aus einem Kommentar bringen:
Es wäre aber generell begrüßenswert, wenn die Den Rest an Glaubwürdigkeit, der der FDP-Wirt-
Wirtschaftpolitik der Bundesregierung sich an Fakten schafts- und Finanzpolitik verblieben ist, strapa-
orientieren würde und konzeptionell untermauert ziert jetzt Minister Möllemann, und zwar gründ-
werden könnte. Die deutsche Indust rie und die Ar- lich. Sah es zunächst so aus, als ob der neue Bun-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben einen An- deswirtschaftsminister das politische PR-Ge-
spruch auf ein Konzept in der Wirtschaftspolitik und schäft souverän beherrschte, so stellt sich immer
nicht auf hohle Sprüche. deutlicher heraus, daß sich Möllemann in seinem
(Beifall bei der SPD) schier unbändigen Drang nach permanenter
Selbstdarstellung erheblich überschätzt hat und
Es ist in der Indust rie und bei den Arbeitnehmerinnen politisch überdreht.
und Arbeitnehmern Vertrauen notwendig. Das er-
reicht man aber nicht so, wie hier zur Zeit gehandelt (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Sehr wahr!)
wird.
Seine alberne Rücktrittsdrohung im Zusammen-
Das gilt nicht nur für den Schiffbau; ich nehme das hang mit dem von ihm publicityträchtig gepusch-
exemplarisch. Wir können nicht — in welchem Be- ten Thema Subventionsabbau ist nur ein Schnit-
reich auch immer, ob bei der Mikroelektronik oder in zer von vielen, der an der Seriosität seiner Politik
anderen Bereichen — mit der Indust rie etwas verab- und damit zwangsläufig auch an der seiner Partei
reden und es dann wenige Monate, nachdem der zunehmend Zweifel aufkommen läßt. Mag ein
Haushaltsausschuß es sogar abgesegnet hat, wieder künftiger FDP-Vorsitzender Möllemann viel-
kassieren. Was ist das für eine Wirtschaftspolitik in der leicht der Enkelgeneration innerhalb der SPD
Bundesrepublik? Ich glaube nicht, daß wir in der Wirt- eine verlockende Perspektive bieten;
schaft damit den Mut schaffen, den wir ihr bei allen
möglichen Investitionen, die sie tätigen soll, immer — na, na, kann ich da nur sagen —
abverlangen. diejenigen aber, die derzeit an der Bonner Fi
Es wäre auch völlig unsinnig, die westdeutsche nanzpolitik schier verzweifeln, verbinden den
Schiffbauindustrie auf Null herunterzufahren — es Namen Möllemann mit reinem Aktionismus, der
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2111
Präsident des Senats Klaus Wedemeier (Bremen)
innerhalb der Koalition nur Unf rieden und in der Jung (Limburg) Pützhofen
Öffentlichkeit bloße Verwirrung stiftet. Dr. Kahl Frau Rahardt-Vahldieck
Kalb Raidel
Genau das ist richtig, und das, Herr Kollege, muß auf- Kampeter Dr. Ramsauer
hören! Dr.-Ing. Kansy Rau
Dr. Kappes Rauen
(Beifall bei der SPD) Frau Karwatzki Rawe
Kauder Regenspurger
Keller Reichenbach
Kiechle Dr. Reinartz
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Bevor ich nun Kittelmann Frau Reinhardt
nach dem Präsidenten des Senats der Hansestadt Bre- Klein (Bremen) Repnik
men das Wort dem Kollegen Kurt Jürgen Rossmanith Klein (München) Dr. Rieder
gebe, möchte ich Ihnen das Ergebnis der Abstim- Klinkert Dr. Riedl (München)
Köhler (Hainspitz) Dr. Riesenhuber
mung zum Einzelplan 04 bekanntgeben: Dr. Köhler (Wolfsburg) Frau Rönsch (Wiesbaden)
Abgegeben wurden 559 Stimmen. Ungültige Sti Dr. Kohl Frau Roitzsch (Quickborn)
men gab es nicht. Mit Ja haben 348 gestimmt, mit Kolbe Romer
Frau Kors Dr. Rose
Nein haben 210 gestimmt. Es gab 1 Enthaltung. Koschyk Rossmanith
Kossendey Roth (Gießen)
Kraus Rother
Endgültiges ErgebnisEhrbar Dr. Krause (Börgerende) Dr. Ruck
Frau Eichhorn Dr. Krause (Bonese) Rühe
Abgegebene Stimmen: 559 Engelmann Krause (Dessau) Dr. Rüttgers
Eppelmann Krey Sauer (Salzgitter)
ja: 348 Eylmann Kriedner Sauer (Stuttga rt)
Frau Eymer Dr.-Ing. Krüger Scharrenbroich
nein: 210 Krziskewitz
Dr. Faltlhauser Frau Schätzle
enthalten: 1 Feilcke Lamers Dr. Schäuble
m- Dr. Fell Dr. Lammert Schartz (Trier)
Fischer (Hamburg) Lamp Schemken
Frau Fischer (Unna) Lattmann Scheu
Fockenberg Dr. Laufs Schmalz
Francke (Hamburg) Laumann Schmidbauer
Frankenhauser Frau Dr. Lehr Schmidt (Fürth)
Dr. Friedrich Lenzer Dr. Schmidt (Halsbrücke)
Ja Fritz Dr. Lieberoth Schmidt (Mühlheim)
Fuchtel Frau Limbach Frau Schmidt (Spiesen)
CDU/CSU Ganz (St. Wendel) Link (Diepholz) Schmitz (Baesweiler)
Frau Geiger Lintner Dr. Schneider (Nürnberg)
Adam Geis Dr. Lippold (Offenbach) Dr. Schockenhoff
Frau Augustin Dr. Geißler Dr. sc. Lischewski Graf von Schönburg-Glauchau
Augustinowitz Gerster (Mainz) Lohmann (Lüdenscheid) Dr. Scholz
Austermann Gibtner Louven Frhr. von Schorlemer
Bargfrede Glos Dr. Luther Dr. Schreiber
Dr. Bauer Dr. Göhner Frau Männle Dr. Schroeder (Freiburg)
Frau Baumeister Götz Magin Schulhoff
Bayha Gres de Maizière Dr. Schulte
Belle Frau Grochtmann Frau Marienfeld (Schwäbisch Gmünd)
Frau Dr. Bergmann-Pohl Gröbl Marschewski Schulz (Leipzig)
Dr. Blank Grotz Dr. Mayer (Siegertsbrunn) Schwalbe
Frau Blank Dr. Grünewald Meckelburg Schwarz
Dr. Blens Günther (Duisburg) Meinl Dr. Schwörer
Bleser Frhr. von Hammerstein Frau Dr. Merkel Seehofer
Dr. Blüm Harries Frau Dr. Meseke Seibel
Frau Dr. Böhmer Haschke (Jena-Ost) Frau Michalk Seiters
Börnsen (Bönstrup) Haungs Dr. Mildner Skowron
Dr. Bötsch Hauser (Esslingen) Dr. Möller Dr. Sopart
Bohl Hauser (Rednitzhembach) Molnar Frau Sothmann
Bohlsen Heise Müller (Wadern) Spilker
Borchert Frau Dr. Hellwig Nelle Spranger
Brähmig Helmrich Neumann (Bremen) Dr. Sprung
Breuer Dr. Hennig Nitsch Dr. Stavenhagen
Frau Brudlewsky Hinsken Frau Nolte Frau Steinbach-Hermann
Brunnhuber Hintze Dr. Olderog Dr. Frhr. von Stetten
Büttner (Schönebeck) Hörsken Ost Stockhausen
Buwitt Hörster Oswald Dr. Stoltenberg
Carstens (Emstek) Dr. Hoffacker Otto (Erfu rt) Strube
Carstensen (Nordstrand) Hollerith Dr. Päselt Stübgen
Clemens Dr. Hornhues Dr. Paziorek Frau Dr. Süssmuth
Dehnel Hornung Pesch Susset
Frau Dempwolf Hüppe Petzold Tillmann
Deres Jäger Pfeffermann Dr. Töpfer
Deß Frau Jaffke Pfeifer Dr. Uelhoff
Frau Diemers Jagoda Frau Pfeiffer Uldall
Dörflinger Dr. Jahn (Münster) Dr. Pfennig Frau Verhülsdonk
Doppmeier Janovsky Dr. Pflüger Vogt (Düren)
Doss Frau Jeltsch Pofalla Dr. Voigt (Northeim)
Dr. Dregger Dr. Jobst Dr. Pohler Dr. Waffenschmidt
Echternach Dr.-Ing. Jork Frau Priebus Dr. Waigel
Ehlers Dr. Jüttner Dr. Protzner Graf von Waldburg-Zeil
2112 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Vizepräsidentin Renate Schmidt


Dr. Warnke Dr. Thomae Jungmann (Wittmoldt) Frau Dr. Sonntag-Wolgast
Dr. Warrikoff Timm Frau Kastner Sorge
Werner (Ulm) Türk Kastning Dr. Sperling
Frau Wiechatzek Frau Walz Kirschner Frau Steen
Frau Dr. Wilms Dr. Weng (Gerlingen) Frau Klemmer Stiegler
Wilz Wolfgramm (Göttingen) Dr. sc. Knaape Dr. Struck
Wissmann Frau Würfel Körper Tappe
Dr. Wittmann Zurheide Frau Kolbe Dr. Thalheim
Wittmann (Tännesberg) Zywietz Kolbow Tietjen
Wonneberger Koltzsch Frau Titze
Frau Wülfing Kretkowski Toetemeyer
Würzbach Kubatschka Urbaniak
Frau Yzer Dr. Kübler Vergin
Zeitlmann Nein Kuessner Dr. Vogel
Zöller Dr. Küster Voigt (Frankfurt)
SPD Kuhlwein Vosen
Lambinus Wagner
Andres Frau Lange Waltemathe
FDP Bachmaier von Larcher Walther
Frau Barbe Leidinger Wartenberg (Berlin)
Frau Dr. Adam-Schwaetzer Bartsch Lennartz Frau Dr. Wegner
Frau Albowitz Becker (Nienberge) Lohmann (Witten) Weiermann
Frau Dr. Babel Frau Becker-Inglau Frau Dr. Lucyga Frau Weiler
Baum Bernrath Maaß (Herne) Weißgerber
Bredehorn Beucher Frau Marx Weisskirchen (Wiesloch)
Cronenberg (Arnsberg) Bindig Matschie Welt
Eimer (Fürth) Dr. Böhme (Unna) Dr. Matterne Dr. Wernitz
Engelhard Börnsen (Ritterhude) Frau Mattischeck Frau Wester
van Essen Frau Brandt-Elsweier Meckel Frau Westrich
Friedhoff Dr. Brecht Frau Mehl Frau Wettig-Danielmeier
Friedrich Dr. von Bülow Meißner Frau Dr. Wetzel
Funke Büttner (Ingolstadt) Dr. Mertens (Bottrop) Frau Weyel
Frau Dr. Funke-Schmitt-Rink Frau Bulmahn Dr. Meyer (Ulm) Dr. Wieczorek
Gattermann Frau Burchardt Mosdorf Wieczorek (Duisburg)
Gries Bury Müller (Schweinfurt) Frau Wieczorek-Zeul
Grüner Frau Caspers-Merk Frau Müller (Völklingen) Wiefelspütz
Dr. Guttmacher Frau Dr. Däubler-Gmelin Müller (Zittau) Wimmer (Neuötting)
Hackel Daubertshäuser Müntefering Dr. de With
Hansen Dr. Diederich (Berlin) Neumann (Bramsche) Wittich
Heinrich Diller Neumann (Gotha) Frau Wohlleben
Dr. Hirsch Frau Dr. Dobberthien Frau Dr. Niehuis Frau Wolf
Dr. Hitschler Dreßler Dr. Niese Frau Zapf
Frau Homburger Duve Niggemeier Dr. Zöpel
Frau Dr. Hoth Ebert Frau Odendahl Zumkley
Dr. Hoyer Dr. Ehmke (Bonn) Oesinghaus
Hübner Eich Oostergetelo
Irmer Dr. Elmer Opel
Kleinert (Hannover) Erler Frau Dr. Otto PDS/LL
Kohn Esters Paterna
Dr. Kolb Ewen Dr. Penner Frau Bläss
Koppelin Frau Ferner Dr. Pfaff Frau Braband
Kubicki Frau Fischer (Gräfenhaini- Rempe Dr. Briefs
Dr.-Ing. Laermann chen) Frau von Renesse Frau Dr. Enkelmann
Dr. Graf Lambsdorff Fischer (Homburg) Frau Rennebach Frau Dr. Fischer
Frau Leutheusser-Schnarren- Formanski Reschke Dr. Gysi
berger Frau Fuchs (Köln) Reuter Henn
Lüder Frau Fuchs (Verl) Rixe Dr. Heuer
Lühr Fuhrmann Roth Frau Dr. Höll
Dr. Menzel Frau Ganseforth Schäfer (Offenburg) Frau Jelpke
Möllemann Gansel Frau Schaich-Walch Dr. Keller
Nolting Dr. Gautier Schanz Frau Lederer
Dr. Ortleb Frau Gleicke Scheffler Dr. Modrow
Otto (Frankfurt) Graf Schily Dr. Riege
Paintner Großmann Schloten Dr. Schumann (Kroppenstedt)
Frau Peters Habermann Schluckebier Dr. Seifert
Frau Dr. Pohl Hacker Schmidbauer (Nürnberg) Frau Stachowa
Richter (Bremerhaven) Frau Hämmerle Frau Schmidt (Aachen)
Rind Hampel Frau Schmidt (Nürnberg)
Dr. Röhl Frau Hanewinckel Schmidt (Salzgitter) Bündnis 90/GRÜNE
Schäfer (Mainz) Frau Dr. Hartenstein Frau Schmidt-Zadel
Frau Schmalz-Jacobsen Dr. Hauchler Dr. Schmude Dr. Feige
Schmidt (Dresden) Hiller (Lübeck) Dr. Schnell Poppe
Dr. Schmieder Hilsberg Frau Schröter Frau Wollenberger
Schuster Dr. Holtz Schröter
Frau Sehn Horn Schütz
Frau Seiler-Albring Huonker Dr. Schuster
Frau Dr. Semper Ibrügger Schwanhold
Dr. Sohns Frau Iwersen Schwanitz Enthalten
Dr. Starnick Frau Jäger Seidenthal
Frau Dr. von Teichman und Frau Janz Frau Seuster Fraktionslos
Logischen Dr. Janzen Sielaff
Thiele Jaunich Frau Simm Lowack
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2113
Vizepräsidentin Renate Schmidt
Der Einzelplan 04 ist damit in der Ausschußfassung DM gestellt worden. Damit können Investitionen in ( 1
angenommen. Höhevon20MilardDuetw30n
Das Wort hat nun der Kollege Rossmanith. Arbeitsplätze gefördert werden.

Ich glaube, ebenso erfolgreich läuft auch die regio-


nale Wirtschaftsförderung in den neuen Bundeslän-
Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Frau Präsident!
dern an. Bis Ende Ap ril dieses Jahres sind schon rund
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Bür-
5 000 Anträge auf Förderung von Vorhaben der ge-
germeister Wedemeier, gestatten Sie mir, daß ich zu-
werblichen Wirtschaft mit einem Investitionsvolumen
nächst zum heutigen Thema — wir beraten jetzt den
von fast 34 Milliarden DM gestellt worden. Bis zum
Einzelplan des Bundesministers für Wirtschaft — et-
gleichen Zeitpunkt wurden Investitionszuschüsse für
was sage. Ich habe aber auch das Thema Subventions-
über 1 000 Infrastrukturmaßnahmen mit einem Inve-
abbau im Visier. Sie dürfen mir glauben, daß ich auch
stitionsvolumen von etwa 10 Milliarden DM bean-
zu den Werften und der Werfthilfe etwas sagen werde,
tragt. Auch hierdurch werden bis zu einer halben Mil-
alldieweil ich glaube, daß ich mit Fug und Recht be-
lion neue Arbeitsplätze geschaffen.
haupten kann, daß wir vom Haushaltsausschuß uns
redlich bemüht haben, mit den Kolleginnen und Kol- Meine sehr verehrten Damen und Herren, das sind
legen aus den norddeutschen Ländern eine vernünf- sicher sehr erfreuliche Anzeichen, die allerdings nicht
tige Regelung zu finden, die auch tatsächlich sowohl darüber hinwegtäuschen dürfen, daß sich der Be-
diesem für mich und für uns alle sehr wichtigen Wirt- schäftigungsrückgang in den fünf neuen Bundeslän-
schafts- und Industriezweig, aber auch der Notwen- dern in diesem Jahr zunächst noch weiter fortsetzen
digkeit einer sparsamen Haushaltsführung gerecht wird. Wer die neuesten Arbeitsmarktzahlen heute ge-
wird. hört hat, kommt zu der erfreulichen Erkenntnis, daß
Gemeinhin wird der Haushalt das Schicksalsbuch sich die Arbeitslosenzahl in den fünf neuen Bundes-
der Nation genannt. Ich glaube, gerade für diesen ländern — Gott sei Dank, muß ich sagen — gegenüber
Haushalt 1991 gilt das in ganz besonderem Maße, ein- dem Vormonat kaum erhöht hat. Wir haben jetzt
fach deshalb, weil dieses der erste gesamtdeutsche 1,6 Millionen Arbeitslose in den alten Bundesländern,
Haushalt ist und der eben unter der Prämisse des Eini- im westlichen Bereich unseres Vaterlandes, und
gungsprozesses steht. Wir sind alle dankbar, daß wir 842 000 Arbeitslose in den neuen Bundesländern. Das
dieses nationale Ziel der deutschen Einheit erlangt ist ein Anstieg um über 5 000 gegenüber dem Vormo-
haben. Wir stehen jetzt vor der Problematik, auch die nat. Allerdings bin ich mir natürlich dessen bewußt,
wirtschaftliche und soziale Integration der bisheri- daß das Auslaufen der „Warteschleifenregelung" im
gen beiden deutschen Teilstaaten bewältigen zu müs- öffentlichen Dienst und von Kündigungsschutzab-
sen. Wir wollen so rasch als möglich — da muß ich um kommen in der Wirtschaft sowie die unvermeidbare
Geduld auf der einen wie auf der anderen Seite bit- Schließung nicht mehr wettbewerbsfähiger Bet ri ebe
ten — auch gemeinsame Lebensbedingungen in ganz zu einer weiteren Freisetzung von Arbeitskräften in
Deutschland schaffen. den neuen Bundesländern führen werden.
Es war ja zu erwarten, daß die Wirtschaft in den
neuen Bundesländern nach der Vereinigung eine sehr Ich muß in dem Zusammenhang — Bürgermeister
schmerzhafte Phase der Anpassung durchlaufen muß Wedemeier hat das hier ausdrücklich bestätigt — na-
und der Übergang zur Marktwirtschaft und, damit türlich auch die große Rolle der Lohnpolitik mit er-
verbunden, die Öffnung der Märkte nach 40 Jahren wähnen. Auch für die neuen Bundesländer gilt die
sozialistischer Planwirtschaft und Mißwirtschaft mit volkswirtschaftliche Grundregel, daß die Erhöhung
großen Schwierigkeiten behaftet sein würde. Zu die- der Löhne mit der Steigerung der Produktivität Schritt
ser Problematik der Überleitung zur Sozialen Markt- halten sollte. Eine kurzfristige Angleichung der Löhne
wirtschaft kam der desolate Zustand der gesamten an das westdeutsche Niveau würde fast alle bestehen-
Infrastruktur — sei es Schiene, sei es Straße, sei es das den Unternehmen in den neuen Bundesländern über-
Kommunikationsnetz — hinzu. Mit diesen Erblasten fordern und das Entstehen kleiner und mittlerer
des Sozialismus müssen wir eben fertigwerden. Unternehmen — wir haben ja in den alten Bun-
Hier liegt natürlich gerade für den Wirtschaftsmini- desländern gesehen, daß Beschäftigungsimpulse ge-
ster ein ganz wesentlicher Schwerpunkt seiner Tätig- rade von den mittleren Unternehmen, vom Mittel-
keit. stand ausgehen — in den neuen Bundesländern be-
hindern.
Ich glaube, daß die Maßnahmen, die wir insbeson-
dere auch mit dem Gemeinschaftswerk Aufschwung Ich möchte auch einen Appell an die Gewerkschaf-
Ost und den steuerlichen Erleichterungen — Sonder- ten richten. Die Gewerkschaften stehen hier ganz
abschreibungen und Investitionszulagen — geschaf- massiv in der Verantwortung. Ich darf den früheren
fen haben, auch ganz wichtige Voraussetzungen wa- Bundeskanzler Helmut Schmidt zitieren, der in einem
ren und sind, daß sich so langsam ein erster Silber- Aufsatz in der „Zeit" folgende Mahnung an die
streif am Ho ri zont sehen läßt. Die Investitionsneigung Adresse der Gewerkschaften gerichtet hat:
nimmt zu, wobei vor allem Impulse von reprivatisier-
ten Unternehmen und von westlichen Investoren aus- Wer der Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern
gehen. Die lebhafte Inanspruchnahme öffentlicher entgegentreten will, wer dort mit Recht gegen
Förderprogramme in den neuen Bundesländern ist Arbeitslosigkeit protestiert, wer gar ein Grund-
für mich ein ganz wesentliches und deutliches Indiz. recht auf Arbeit in die Verfassung hineinschrei-
So sind bisher schon 95 000 Anträge auf ERP-Kredite ben möchte, der muß solidarisch seine westdeut-
mit einem Volumen von insgesamt rund 10 Milliarden sche Lohnpolitik zügeln.
2114 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Kurt J. Rossmanith
Ich glaube, dem brauchen wir nichts mehr hinzuzufü- schen Bauunternehmer bei den weiteren Bauab-
gen. schnitten einsetzen wird.
Der Haushalt des Bundesministers für Wirtschaft ist
Wir müssen angesichts dieser großen finanziellen
von den Folgekosten der deutschen Einheit gekenn-
Belastungen durch die deutsche Einheit natürlich
zeichnet. Sein Volumen hat sich mehr als verdoppelt
weiterhin eine strenge Ausgabendisziplin verfolgen.
und beläuft sich für das laufende Haushaltsjahr 1991
Deswegen konnten wir nicht allen Wünschen und al-
auf rund 14,5 Milliarden DM. Der Mehrbedarf ist, wie
len Anregungen in diesem Haushalt Rechnung tra-
gesagt, fast ausschließlich einigungsbedingt.
gen. Wir sind uns mit dem Sachverständigenrat und
Bei den Beratungen im Haushaltsausschuß hat es den wirtschaftswissenschaftlichen Instituten darin ei-
weitgehend Einvernehmen über die Ansätze dieses nig, daß ein Defizit in der derzeitigen Höhe nicht auf
Einzelplans gegeben. Ich möchte deshalb vor allem Dauer ohne Schaden für die gesamte Wirtschaft
meinen Berichterstatter-Kollegen von dieser Stelle durchgehalten werden kann. Nur muß ich hier wieder
aus noch einmal meinen Dank für die faire und sach- an die Kolleginnen und Kollegen der großen Opposi-
liche Zusammenarbeit aussprechen. tionspartei appellieren, der nichts anderes und nichts
Danken möchte ich aber auch den mit dem Haus- Besseres einfällt, als nach weiteren Steuererhöhun-
halt beschäftigten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gen zu rufen. Wir haben uns zum Ziel gesetzt — das ist
im Wirtschaftsministe rium und im Finanzministerium, sicherlich ein sehr schwieriges Unterfangen —,
die nicht nur eine umfangreiche und sehr gute Vorar-
(Ernst Waltemathe [SPD]: Wer ist denn jetzt
beit geleistet haben, sondern uns auch jede ihnen
mögliche Unterstützung haben zukommen lassen. „wir"?)

Lassen Sie mich deshalb nur ganz kurz und in Stich- durch Subventionskürzungen auch zu einer Konsoli-
punkten auf die Schwerpunkte der einigungsbeding- dierung des Haushaltes, Herr Kollege Waltemathe,
ten Ausgaben im Einzelplan des Bundesministers für beizutragen. Ich bin mir bewußt — wir machen diese
Wirtschaft eingehen, die sich auf mehr als 7 Milliar- Arbeit im Haushaltsausschuß ja schon lange ge-
den DM belaufen. nug — , daß Finanzhilfen und Steuernachlässe gestal-
tende Politik sind, bei deren Reduzierung aber natür-
Dabei handelt es sich u. a. um Maßnahmen zur För- lich nicht nach dem Sankt-Florians-Prinzip vorgegan-
derung des wirtschaftlichen Wiederaufbauprozesses.
gen werden darf. Deshalb halte ich, was Subventions-
Hierzu gehören die Investitionsförderung im Rahmen abbau anlagt, überhaupt nichts von der Rasenmäher-
der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regio-
methode, nach der alle Subventionen ohne Rücksicht
nalen Wirtschaftsstruktur" mit 2 Milliarden DM sowie
auf Zweck und Bedeutung einfach um einen bestimm-
die Förderung der mittelständischen Wirtschaft mit ten Prozentsatz gekürzt werden.
knapp 700 Millionen DM. Die Erfahrungen in den
alten Bundesländern haben ja gezeigt, daß gerade die (Beifall der Abg. Lieselott Blunck [SPD])
mittelständischen Betriebe entscheidend zum Struk-
turwandel und zur Schaffung neuer Arbeitsplätze bei- — Ich freue mich ja, Frau Kollegin, wenn wir hier einig
tragen können. Deshalb ist diese Schwerpunktverla- sind. Ich bin überzeugt, daß wir dann auch ein ent-
gerung in diesem Haushalt für diesen Bereich für mich sprechendes Ergebnis erzielen werden.
eine ganz wichtige und logische Konsequenz. Ich
glaube — und ich bin überzeugt, daß wir uns darin Ich bin der Meinung, daß die Finanzhilfen und
hier alle einig sind — , daß die Förderung der Grün- Steuervergünstigungen im einzelnen auf Notwendig-
dung selbständiger Existenzen in den neuen Bundes- keit und Höhe überprüft werden müssen. Nur so las-
ländern von uns allen nachhaltig begrüßt wird. sen sich sinnvolle und vertretbare Ergebnisse errei-
Große Bedeutung kommt sicherlich auch der Bera- chen. Staatliche Hilfen, meine sehr verehrten Damen
tung und Qualifizierung der Arbeitnehmer zu. Auch und Herren und werter Herr Minister Möllemann,
diese Mittel haben wir im Haushaltsausschuß noch sind natürlich auch keine Entscheidung parteipoliti-
entsprechend aufgestockt, ohne aber das Volumen scher Opportunität. Ich gehe durchaus mit Ihnen ei-
des Einzelplans insgesamt zu erhöhen. Wir haben es nig, daß die staatlichen Hilfen dort deutlich reduziert
durch Umschichtungen geschafft. Das sind für mich oder ganz gestrichen werden müssen, wo ein Abbau
Maßnahmen, die zwingend erforderlich sind. kranker und längst überholter Strukturen erreicht
werden kann, d. h. für mich Reduzierung und Abbau
Neben den Mitteln für diese Förderungsmaßnah- von Finanzhilfen und Steuervergünstigungen, die
men sind natürlich auch noch sonstige Folgekosten wirtschaftlich überflüssig sind, die veraltete Struktu-
der deutschen Einheit veranschlagt. Sie machen allein ren festigen und keinerlei Zukunftsperspektiven dar-
in diesem Jahr rund 4 Milliarden DM aus. Neben der stellen.
Aufarbeitung von Hinterlassenschaften der ehemali-
gen DDR — ich nenne hier nur die Rekultivierung der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Uranbergbaugebiete in Thüringen und Sachsen — der FDP)
umfassen diese Kosten auch die erste Rate für das
Wohnungsbauprogramm für die in ihre Heimat zu- Wir müssen aber dort Akzente setzen, wo es sich um
rückkehrenden sowjetischen Truppen. Die Durch- die Sicherung von Zukunftstechnologien und damit
führung dieses Programms hat in der letzten Zeit et- um zukunftssichere Arbeitsplätze handelt. Finanzhil-
was zu Irritation geführt. Ich hoffe, sehr geehrter Herr fen und steuerliche Erleichterungen sollten deshalb
Bundesminister Möllemann, daß sich die Bundesre- als Anschubfinanzierung wirken, zu Investitionen an-
gierung für eine angemessene Beteiligung der deut- regen, die für die Wirtschaft erforderlichen Zukunfts-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2115

Kurt J. Rossmanith
strukturen schaffen, und sie sollten natürlich nicht auf wort zu geben: für mich ein ganz klares Nein. Es han-
Dauer angelegt sein. delt sich hierbei nämlich nicht um eine Erhaltungs-
subvention zu Lasten von Wachstum und Beschäfti-
(Lieselott Blunck [SPD]: Das muß man Herrn gung, nicht um eine Beeinträchtigung der Leistungs-
Kiechle ins Stammbuch schreiben!) und Wettbewerbsfähigkeit.
— Auch das ist ein Thema, über das wir uns noch Deshalb beteiligt sich der Staat ganz bewußt am
werden unterhalten müssen: Was ist Subvention und Risiko neuer Entwicklungen, und zwar nicht nur in
was nicht? Verehrte Frau Kollegin Blunck, ich werde Form verlorener Zuschüsse, sondern auch in Form
gleich den Versuch machen, darauf eine Antwort zu bedingt rückzahlbarer Darlehen, insbesondere was
geben. Ich wäre dankbar, wenn wir diese Antwort die Luftfahrt anlangt, die im Erfolgsfall sogar eine
gemeinsam finden würden. unbefristete Rückzahlung erfordern.
Es wird soviel über Subventionen gesprochen. Je- Aus diesem Grunde müssen wir — davon bin ich
der meint, hier mitreden zu können und mitreden zu überzeugt, meine sehr verehrten Damen und Her-
müssen, ohne im Endeffekt überhaupt zu wissen, um ren — eine Ergänzung zur Förderung des Großflug-
was es sich bei einer Subvention handelt. zeugbaus vornehmen, um auch der mittelständischen
Luftfahrtindustrie bei uns in Deutschland den Zugang
Herr Bürgermeister Wedemeier hat aus seiner Sicht zum internationalen Markt zu erschließen.
mit Recht — ich darf Ihnen sagen: hier haben Sie die
Unterstützung des gesamten Deutschen Bundestages (Zustimmung des Abg. Dr. Hermann Schwö
von Nord bis Süd — einen Punkt herausgegriffen, rer [CDU/CSU])
nämlich den Werftenbereich. Ich weiß, daß es dabei Deutsche mittelständische Hersteller von Fluggeräten
um etwa 35 000 bis 37 000 Arbeitsplätze geht. Ich verfügen über innovative Ressourcen für technisch
habe — heute allerdings zum erstenmal, wie ich sa- moderne und ökologisch verträgliche Flugzeuge, so-
gen muß — dankbar vernommen, daß dabei auch süd- wohl was die Werkstoffe und die Aerodynamik als
deutsche, insbesondere bayerische Unternehmen be- auch den Antrieb bet rifft. Diese Chance, meine sehr
-
teiligt sind, was den Ausbau anlangt. verehrten Damen und Herren, darf nicht vertan wer-
den; zukunftstechnologisch hochstehende Arbeits-
Aber nicht dies war für uns der Anlaß, uns massiv plätze dürfen unserer Jugend nicht vorenthalten wer-
für eine Fortführung der Wettbewerbshilfe für die den. Ich weiß aus zahlreichen Diskussionen mit Fach-
Werften einzusetzen, und zwar von seiten der CDU/ leuten aus der Wirtschaft, daß diese Ansätze der staat-
CSU, der FDP und der SPD. Ich danke meinen nord- lichen Förderung nicht nur notwendig, sondern auch
deutschen Kolleginnen und Kollegen, die dabei die richtig sind und quasi als Eintrittsgeld für die Techno-
entsprechende Unterstützung und Hilfestellung ge- logie der Zukunft dienen. Das vorhandene Fluggerät
geben haben. Ich danke auch den Werften, die mir die — wir alle wissen das und spüren es mitunter selbst
Möglichkeit gegeben haben, mich vor Ort von der sehr schmerzhaft — ist zum überwiegenden Teil tech-
Notwendigkeit dieser Hilfe zu überzeugen. nisch überaltert und ökologisch nicht mehr zeitgemäß.
Sie alle wissen, daß der Haushaltsausschuß und da- Hoher Ersatzbedarf erwartet deshalb innovative und
mit auch meine Person in dieser Frage mit Herrn Möl- wirtschaftliche Fluggeräte. Hier müssen wir unseren
lemann gewisse Schwierigkeiten haben oder hatten. Beitrag leisten. Wir sollten bereits jetzt, Herr Bundes-
Aber einen Vorwurf, Herr Bürgermeister Wedemeier, minister Möllemann, Vorsorge für den Haushalt 1992
darf ich auf ihm nicht sitzenlassen: daß er nicht das treffen. Ich und alle in diesem Parlament sind diesbe-
Gespräch gesucht habe. Ich weiß, daß er mehrere züglich gern zur Mitarbeit bereit, damit wir bei dieser
Gespräche geführt hat und daß er weitere Gespräche Zukunftstechnologie nicht vom internationalen Wett-
mit der Schiffbauindustrie führen wird. Das möchte bewerb abgekoppelt werden und sie nicht nur den
ich hier auch einmal erwähnen. Vereinigten Staaten, den Japanern oder den Franzo-
sen, die jetzt verstärkt auf diesen Markt drängen,
Ich möchte noch zwei weitere Bereiche, was den überlassen, sondern daß wir diese Zukunftstechnolo-
Subventionsabbau anlangt, exemplarisch erwähnen, gie selbst gestalten. Wir sollten dafür Sorge tragen,
und zwar zum einen das Eigenkapitalhilfeprogramm. daß unsere jungen Menschen, die heute in dieser
Hier ist beabsichtigt, für die bisherigen Bundesländer Technologie arbeiten, die heute das Studium aufneh-
das Eigenkapitalhilfeprogramm mit Ablauf dieses men und die heute ihren Ausbildungsplatz in diesem
Jahres auslaufen zu lassen. Ich glaube, meine verehr- Bereich suchen, diese zukunftstechnischen Berufe
ten Kolleginnen und Kollegen, verehrter Herr Bun- auch hier in Deutschland vorfinden und nicht ins Aus-
desminister, auch darüber müssen wir uns noch ein- land abwandern müssen.
mal nachdrücklich unterhalten. Ich sehe in diesem
Ich bedanke mich.
Eigenkapitalhilfeprogramm eine wesentliche Stütze
unseres wirtschaftlichen Erfolgs und des Auf- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
schwungs.
Ich möchte ganz kurz exemplarisch auch die allge- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das Wort hat der
meine Luftfahrt ansprechen. Ich möchte an uns alle Kollege Wolfgang Weng.
— das habe ich schon angedeutet, verehrte Frau Kol-
legin Blunck — , die Frage richten, ob denn bei dieser Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (FDP): Frau Präsi-
Zukunftstechnologie — seien es die Werften oder die dentin! Meine Damen und Herren! Wahrscheinlich ist
allgemeine Luftfahrt — eine staatliche Förderung der der Öffentlichkeit bisher gar nicht bewußt gewesen,
Entwicklungskosten eine Subvention im üblichen daß im Einzelplan des Wirtschaftsministers eine große
Sinne darstellt. Ich weigere mich nicht, Ihnen die Ant- Menge von Subventionen etatisiert sind. Ohne jetzt
2116 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen)


auf allzu viele Einzelheiten einzugehen, möchte ich ordnet stillzulegen, zu sanieren und die Betriebsflä-
doch einige Schwerpunkte verdeutlichen, weil dies chen zu rekultivieren. Hierbei sind ganz wesentlich
auch im Vorfeld der Diskussion über den erforderli- die seither total vernachlässigten Umweltnotwendig-
chen Subventionsabbau ab 1992 ein wenig zur Auf- keiten, Aspekte des Strahlenschutzes und auch der
hellung beiträgt. Bergsicherheit zu berücksichtigen.
Wenn sich, Herr Bürgermeister Wedemeier, jeder Für uns hier im Westen ist fast unvorstellbar — ich
Vertreter von Einzel- oder Regionalinteressen schüt- sage dies auch mit Blick auf die Biedermannmiene,
zend vor seinen speziellen Subventionsbereich stellt, mit der Herr Modrow und andere Vertreter der SED/
dann können wir den Subventionsabbau insgesamt PDS hier in der Haushaltsdebatte aufgetreten sind —
gleich vergessen.
(Ernst Waltemathe [SPD]: Das stimmt doch (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
nicht! Sie haben nicht zugehört!) der CDU/CSU)
Ich sage auch: Die Forderung nach Gesamtkonzeptio-
nen ist häufig die wohlfeile Ausrede bei fehlender mit welcher Menschenverachtung die Arbeitnehmer
eigener Handlungsbereitschaft. in diesem Betri eb ohne jede Rücksicht auf ihre Ge-
sundheit in übelster Weise ausgenutzt und benutzt
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) worden sind.
Die Situation unserer Wirtschaft und des Arbeits-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
marktes in den alten Bundesländern ist ein Beweis für
eine langjährige erfolgreiche Wirtschaftspolitik der Wir haben schnelle Abhilfe geschaffen und müssen
FDP in der Koalition, jetzt mit der CDU/CSU. Herr jetzt in der Erledigung voranschreiten.
Bürgermeister Wedemeier, Ihre K ri tik an dieser Wirt- Über 1 Milliarde DM ist etatisiert, um das Woh-
schaftspolitik geht insoweit völlig ins Leere. nungsbauprogramm in der UdSSR anzufinanzieren.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Es hat ja eine breite öffentliche Diskussion darüber
- gegen, ob all die Wohnungen, die für die heimkehren-
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege, der den Soldaten der Sowjetarmee zur Verfügung stehen
Kollege Grünbeck möchte Ihnen eine Zwischenfrage sollen, ausschließlich von deutschen Firmen gebaut
stellen. werden müssen. Ich bin der Meinung, daß sich die
deutsche Bauindustrie dem internationalen Lei-
Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (FDP): Wird es mir stungs-, aber auch Kostenwettbewerb stellen muß.
nicht angerechnet? Die Bedürfnisse auf dem innerdeutschen Baumarkt
garantieren auf lange Zeit eine weitestgehende Aus-
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Es wird Ihnen lastung der Bauindustrie. Ein Blick auf die unter der
nicht angerechnet. SED—Herrschaft erheblich verrottete Bausubstanz in
den neuen Bundesländern macht dies besonders
deutlich. Da darf es keine Schutzzäune im Wettbe-
Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (FDP): Alles klar! werb geben.
Bitte sehr!
Meine Damen und Herren, ich erinnere an die Be-
Josef Grünbeck (FDP): Herr Kollege Weng, sind Sie merkung, die der Herr Bundeskanzler hier heute mor-
mit mir der Auffassung, daß die K ri tik des Herrn Bür- gen gemacht hat. Er hat gesagt, daß eine Volkswirt-
germeisters Wedemeier an der konzeptionslosen schaft die frische Luft des Wettbewerbs dringend be-
Wirtschaftspolitik der letzten Jahre insoweit völlig nötigt.
verfehlt ist, als wir inzwischen die höchste Beschäfti- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
gungsrate in den alten Bundesländern erreicht haben,
Nur die spezielle Situation der Bauwirtschaft in den
was die beste Voraussetzung für eine wirklich aufrich-
neuen Bundesländern hat den erfolgreichen Moskau
tige und soziale Marktwirtschaft darstellt?
Einsatz des Herrn Bundeswirtschaftsministers für die
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Beteiligung deutscher Baufirmen am ersten Los der
Neubauten legitimiert. Die weitere Ausschreibung
Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (FDP) : Ja. wird marktwirtschaftliche Aspekte berücksichtigen
(Heiterkeit — Dr. Ulrich B riefs [PDS/Linke müssen.
Liste]: 1,6 Millionen Arbeitslose!) Zusätzlich finanzieren wir eine Reihe von Verpflich-
Stichworte wie „Maßnahmen zugunsten des deut- tungen, die sich unter dem Aspekt Vertrauensschutz
schen Steinkohlenbergbaus", „Förderung der Luft- zugunsten der UdSSR aus den Verträgen mit der ehe-
fahrttechnik" und „Hilfen für die Werftindustrie" be- maligen DDR ergeben und die zum Teil auch Vorlei-
ziehen sich auf nur einige Bereiche; die politisch ge- stungen für Gegenleistungen sind, die wir in Zukunft
wünschte vielfältige Unterstützung des Mittelstandes erwarten können. Ich nenne die Lieferung von Roh-
kommt noch hinzu. Daß unter dem Aspekt der deut- stoffen, z. B. von Eisenerz und Erdgas.
schen Wiedervereinigung das Wirtschaftsministerium Lassen Sie mich noch einmal zum Subventions-
jetzt zusätzlich wichtige Abwicklungsaufgaben über- thema zurückkommen. Meine Damen und Herren,
nehmen mußte, wird durch eine Reihe neuer Etatan- der Bundeswirtschaftsminister hat im Haushaltsaus-
sätze deutlich, von denen ich einige kurz darstellen schuß ja einen ersten Eindruck davon erhalten, die
will. Lösung einer wie schwierigen Aufgabe er sich zusam-
Mehr als eine Milliarde DM wenden wir auf, um die men mit Finanzminister Waigel und Innenminister
sowjetisch deutsche Aktiengesellschaft Wismut ge-
- Schäuble beim Subventionsabbau vorgenommen hat.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2117
Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen)
Sein Versuch, bei der Werfthilfe zumindest weitge- Auch in der alten Bundesrepublik bleibt die Förde-
hende Optionen offenzuhalten, mußte mit Blick auf rung des Mittelstandes eine wichtige Aufgabe; denn
die Beschlußlage des vergangenen Jahres unter dem gerade die ausgewogene Struktur kleiner, mittlerer
Druck der Interessenten teilweise zurückgenommen und großer Firmen macht seither unsere Leistungs-
werden. stärke aus. Dabei soll es für Gesamtdeutschland auch
Ich will dieses Beispiel zum Anlaß für einen Appell bleiben.
an die Kollegen insbesondere in der Koalition neh- (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten
men. Unsere finanzpolitische Handlungsfähigkeit der CDU/CSU)
können wir nur dokumentieren, wenn wir gemeinsam Meine Damen und Herren, das Wirtschaftsministe-
unter Zurückstellung von Einzelinteressen den ord- rium ist ganz wesentlich auch das Energieministe-
nungspolitisch notwendigen, in Koalitionsbeschlüs- rium. Es ist nötig, daß Wirtschaftsminister Möllemann
sen festgelegten Subventionsabbau ermöglichen. dem Bereich Energiepolitik eine höhere Aufmerk-
samkeit schenkt, als dies in der Vergangenheit der
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege Fall war. Energiepolitik muß heißen: neue Energiepo-
Weng, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen litik. Es ist richtig, daß es nicht zu einer einseitigen
Waltemathe? Neuorientierung auf den Ausbau der Kernenergie im
Zusammenhang mit der deutschen Einheit kommt.
Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (FDP): Ja, bitte, Das Parteiprogramm der FDP zeigt zu Energiefra-
gerne, Frau Präsidentin. gen seit langem den richtigen Weg auf: Eine struktu-
rell ausgewogene Versorgung einerseits, aber vor al-
lem die Forderung nach sparsamer Verwendung und
Ernst Waltemathe (SPD): Herr Kollege Weng, trifft nach bestmöglicher Nutzung alternativer Energien
es zu, daß am 10. Oktober 1990 der Kompromiß über andererseits sind gefordert. Gerade die Verschleude-
die Wettbewerbshilfe für Seeschiffswerften auch mit rung von Energie, die seither in rücksichtsloser Weise
Zustimmung der FDP zustande gekommen ist? -
die Umwelt und damit den Lebensraum der Men-
schen in den neuen Bundesländern zerstört hat — da
Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (FDP): Es trifft zu, rate ich wirklich allen, sich einmal die Umgebung von
Herr Kollege Waltemathe. Aber erstens wissen Sie, es energieerzeugenden Anlagen in den neuen Bundes-
gibt seitdem eine neue Situa ti on. ländern anzusehen —, ist ein deutliches Signal für
Umkehr auf den richtigen Weg.
(Ernst Waltemathe [SPD]: Dazwischen lag
eine Wahl!) Energiepolitisch ist viel zu tun, Herr Bundeswirt-
schaftsminister: Über Gebiets- und Leitungsmonopole
Zweitens kann man die Frage stellen, ob hier eine kann man neu nachdenken, ausgewogene Struktu-
totale Bindung auf lange Jahre das Sinnvolle war oder ren, auch dezentrale kleinere Einheiten ansteuern,
ob nicht erst die konzeptionelle Überlegung da sein eine vernünftigere, verbrauchshemmende Tarifpolitik
muß, ehe man dann einen Teil dieser Bindung freigibt. angehen. All dies sind wich tige Aufgaben, die sofort
Der Weg, der jetzt beschritten ist, gibt — so unterstelle in Angriff genommen werden müssen. Daß sich mit
ich einmal — den erforderlichen Spielraum. Wir wer- Hinweis auf die viel zu hohen Kosten der deutschen
den sicherlich im Zusammenhang mit dem Subven- Steinkohle der Kreis in Richtung Subventionsabbau
tionsabbaukonzept, das hier übrigens Bürgermeister wieder schließt, diesen Hinweis will ich zusätzlich
Wedemeier lustigerweise kritisiert hat, obwohl es geben.
noch gar nicht vorliegt — es ist ja noch gar nicht
erstellt — darüber zu reden haben. Meine Damen und Herren, die Erfüllung der vielfäl-
tigen und schweren Aufgaben des Wirtschaftsministe-
(Widerspruch des Abg. Dr. Ul rich B riefs riums wird durch die Koalitionsentscheidung zum
[PDS/Linke Liste]) Etat 09 im Haushaltsausschuß ermöglicht. Die FDP-
— Nein, nein, bis jetzt ist es noch nicht da. Fraktion stimmt dem Einzelplan des Bundeswirt-
Die SPD hat sich — ich wende mich wieder an die schaftsministers zu und wünscht Jürgen Möllemann
Kolleginnen und Kollegen von der Koalitionsseite — bei der mit großem Elan in Ang riff genommenen Er-
aus ihrer Mitverantwortung in diesem Bereich ja be- füllung seiner Aufgaben Erfolg.
reits gestern verabschiedet. Ich erinnere an die Rede- Vielen Dank.
beiträge insbesondere von Frau Matthäus-Maier. Von (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
der SPD wird in diesem Bereich keinerlei Unterstüt-
zung zu erwarten sein; wir müssen das wissen.
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das Wort hat der
(Josef Grünbeck [FDP]: Leider richtig!) Abgeordnete Bernd Henn.
Ich will eine Bemerkung anfügen. Ausgewogenheit
ist bei einem solchen Abbau eine Notwendigkeit. Bernd Henn (PDS/Linke Liste): Frau Präsidentin!
Ganz sicher darf nicht nach dem Motto „Hier ist der Meine Damen und Herren! 40 Jahre autoritärer, bü-
Widerstand am geringsten" ein einseitiger Eingriff in rokratischer Sozialismus haben in der ehemaligen
die Mittelstandsförderung erfolgen. Ich sage dies DDR keine so effiziente und hochproduktive Wi rt
ganz wesentlich mit Blick darauf, daß der Aufbau ei- -schaftwiendrlBRDtshena.i
ner mittelständischen Struktur in den neuen Bundes- unbestreitbar. Über die Ursachen und über die Me-
ländern erst am Anfang steht und daß er ordnungs chanismen, die dazu geführt haben, über äußere und
wie staatspolitisch dringend erforderlich ist. innere Faktoren, über Systembedingtheit und subjek-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) tive Fehler und über die historischen Möglichkeiten
2118 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Bernd Henn
eines demokratischen Sozialismus, über alle diese sche Einheit geht. Diese Kosten können von denen
Dinge werden wir streiten können, hier und sicher aufgebracht werden, die über Vermögen verfügen,
auch andernorts. die an der Einheit verdient haben und immer noch an
ihr verdienen.
In diese Diskussion gehört aber dann auch das
Thema der humanen und sozialen Kosten unserer (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Die PDS! Das
kapitalistischen Ellenbogengesellschaft. Dazu gehört gestohlene Geld soll sie mal zurückgeben!
dann auch die Frage, warum in unserer ach so effi- Dem Volk gestohlenes Geld!)
zienten Wirtschaft die Gesellschaft Millionen Sozial- — Herr Hinsken, inzwischen sollten Sie es beg ri ffen
hilfeempfänger zu versorgen hat. 31,6 Milliarden DM haben: Kümmern Sie sich um Schalck-Golodkowski;
waren es 1990. Dazu gehört weiter die Frage, warum da ist noch einiges zu holen. Lassen Sie den nicht
in dieser ach so effizienten Wirtschaft weitere Millio- immer ungeschoren.
nen Menschen in nicht geschützten Arbeitsverhältnis- (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Das war
sen leben — Stichworte: Zeitverträge, Leiharbeit, doch Ihr Erfüllungsgehilfe!)
Teilzeitarbeit unter der Sozialversicherungsgrenze
usw. — und warum immer noch fast zwei Millionen Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Menschen in Westdeutschland arbeitslos sind. Die Treuhand-Verkäufe sollen 400 000 Arbeitsplätze in
alte BRD war und ist ebensowenig ein Arbeiterpara- der ehemaligen DDR gesichert haben; so Herr
dies, wie es die DDR war. Dr. Waigel hier gestern in der Debatte und der Bun-
deskanzler in der Wirtschaftskonferenz. An der sozia-
Dies alles wird Thema sein, weil es auf die Dauer len Katastrophe ändert das nichts. Die Treuhand-Un-
unerträglich ist, daß die berechtigten Ansprüche der ternehmen werden bis zum Jahresende ihre Beleg-
westdeutschen Arbeiter und Angestellten wegen der schaftszahl laut Treuhand-Be richt von 2,8 Millionen
Vereinigung unter die Räder kommen. auf 1,4 Millionen halbieren; fast 500 000 Kündigun-
Man kann viel darüber reden, daß die Maschinen gen werden den Arbeitern und Angestellten noch bis
und Anlagen in der ehemaligen DDR auf- Verschleiß Ende Juni zugehen. Da nützen auch die gebetsmüh-
gefahren und vor allem die menschlichen Ressourcen lenartigen Verweise auf 40 Jahre Sozialismus nichts
fehlgeleitet wurden. Das haben die Arbeiter und An- mehr.
gestellten und viele Betriebsleiter drüben sehr wohl Der Weg zum schrittweisen Umbau der DDR-Wirt-
beklagt, ohne daß sie daran etwas ändern konnten. schaft auf Weltmarkterfordernisse stand 1990 offen. Er
ist bewußt nicht gegangen worden, und zwar nicht,
Aber man muß auch wieder darüber reden, daß in weil angeblich das Tor zur Einheit nur kurze Zeit offen
unserer kapitalistischen Ellenbogengesellschaft viele stand. Wenn man die Position von Gorbatschow im
Menschen im Arbeitsprozeß physisch und psychisch Hinblick auf den Weltwirtschaftsgipfel beurteilt, kann
auf Verschleiß gefahren werden und daß in den Fabri- man nun wirklich nicht zu diesem Urteil kommen. Das
ken und Verwaltungen täglich mehr Menschen, die ist also Legendenbildung.
gesundheitlich angeschlagen sind, arbeiten, als
gleichzeitig Menschen wegen einer ärztlich attestier- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]:
ten Krankheit nicht arbeiten. Deshalb werden wir die- Diese Ihre Bemerkung ist nicht nur eine Un
sen törichten Schwätzern, welche die Lohnfortzah- verschämtheit, sondern sie ist auch eine
lung im Krankheitsfall angreifen, auch jeglichen ent- Frechheit! — Ernst Hinsken [CDU/CSU]:
schiedenen Widerstand entgegensetzen. Die Effizienz Und obendrein dumm!)
unserer westdeutschen Wirtschaft hatte und hat eben — Das mag Ihr Urteil sein. Ich denke, daß die Chancen
auch ihren menschlichen Preis. für die deutsche Einheit, einen anderen Weg zu ge-
Die Arbeiter und Angestellten haben den westdeut- hen, im Jahre 1990 gegeben waren.
schen Unternehmen im Jahre 1990 ein neugebildetes Die wahren Gründe dürften an anderer Stelle lie-
Geldvermögen von 187 Milliarden DM erarbeitet. Die gen. Der Kollege Roth hat ja hier heute schon ange-
liquiden Mittel wuchsen damit auf mehr als 1,5 Billio- deutet, wer an der Einheit verdient. Ich denke, daß
nen DM an. 680 Milliarden DM sind bei in- und aus- insbesondere auch die Handelskonzerne diesen Weg
ländischen Firmen auf Terminkonten angelegt, die und diesen Prozeß der Einheit wollten, denn sie ver-
mehr als 30 Milliarden DM an Zinsen im Jahr bringen; dienen heute insbesondere an dem Anschluß der
so der Be richt der Deutschen Bundesbank im Mai DDR. Sie wissen auch, daß die Handelskonzerne zwi-
1991. schen Rostock und Suhl den ostdeutschen Bürgern
höhere Preise abnehmen als den Bürgern im Westen,
Wenn der Herr Bundesminister Dr. Waigel hier ge- daß sie also klotzig daran verdienen. Das ist der ei-
stern darauf verwiesen hat, daß durch die Treuhand gentliche Skandal.
Verkäufe 60 Milliarden DM Investitionen in der ehe-
maligen DDR mobilisiert werden konnten, die sich (Zustimmung bei der PDS/Linke Liste)
allerdings auf einige Jahre verteilen dürften, dann
muß man hinzufügen, daß in Westdeutschland allein
1990 ein Wert von über 300 Milliarden DM erreicht Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege
wurde und daß die Unternehmen sozusagen aus dem Henn, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Stand in der Lage wären, den doppelten Betrag, also Hinsken?
über 600 Milliarden DM, anzulegen. Weil das so ist,
werden wir von der Partei des Demokratischen Sozia-
lismus nicht das Hohelied vom Teilen anstimmen, Bernd Henn (PDS/Linke Liste): Ich denke, das wird
wenn es um die Finanzierung der Kosten für die deut- nicht auf meine Redezeit angerechnet.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2119

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Ja. gemacht haben, das sollten Sie einmal an
sprechen!)
Ernst Hinsken (CDU/CSU) : Ich möchte nur fragen, — Es geht darum, was Sie mit der Politik jetzt dort
ob Sie in der Lage sind, ein Beispiel für das anzufüh- anrichten! — Es gäbe durchaus Möglichkeiten, die
ren, was Sie soeben gesagt haben, nämlich daß die Chemie in Sachsen-Anhalt und in Sachsen zu erhal-
Produkte in der ehemaligen DDR seitens der Handels- ten und zu stärken. Sogar Ihr eigener Bundesver-
ketten teurer abgesetzt werden als bei uns. kehrsminister hat Vorschläge gemacht, denen wir zu-
stimmen könnten. Er hat vorgeschlagen, diese Che-
mieunternehmen vorübergehend zu einem Verbund
Bernd Henn (PDS/Linke Liste): Ich beziehe mich unter staatlicher Verantwortung zusammenzuführen,
— Herr Hinsken, Sie haben das gestern sicher auch um diese Unternehmen dort mit entsprechender Un-
nachlesen können — auf eine von der Stiftung Waren- terstützung in produktionstechnischer Hinsicht wie-
test durchgeführte Untersuchung. der wettbewerbsfähig zu machen, wie das nach dem
(Dr. Ulrich B riefs [PDS/Linke Liste]: Hört! Krieg mit Wolfsburg und Salzgitter geschehen ist.
Hört! — Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Es ist ja
zumindest interessant, wenn der Kommunist Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege
so eine Zeitung liest!) Henn, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir
sind der Auffassung, daß ohne eine neue Weichenstel- Bernd Henn (PDS/Linke Liste): Bitte!
lung in der Wirtschaftspolitik die sozialen Folgelasten
des bisherigen Crashkurses dauerhaft den sprich- Clemens Schwalbe (CDU/CSU): Herr Kollege, ich
wörtlich kleinen Mann im Westen wie im Osten bela- möchte Sie fragen, wann Sie das letzte Mal in der
sten werden. Vielen wird es schlechter gehen, weni- Region Buna/Leuna waren.
gen besser. -
Natürlich werden sich die Arbeitslosenquoten in Bernd Henn (PDS/Linke Liste): Am Sonntag.
Ost und West durch entsprechende Abwanderung
nach und nach angleichen. Die Arbeitslosigkeit wird Clemens Schwalbe (CDU/CSU): Das ist nämlich
eines Tages sicher auch zum Stillstand kommen, weil mein Wahlkreis, und ich habe dort von Ihnen noch
immer mehr Frauen aus dem Leistungsbezug heraus- nichts gehört.
fallen werden und an den sogenannten Kochtopf, in
die stille Reserve zurückgedrängt werden. Ich bin ge- Bernd Henn (PDS/Linke Liste): Ich habe auch nicht
spannt, ob Sie dann auch noch von verdeckter Ar- unbedingt den Kontakt zu Ihnen gesucht, das muß ich
beitslosigkeit reden werden, denn wir im Westen hat- zugeben. Vielleicht sollten wir uns beim nächsten Mal
ten auch millionenfach verdeckte Arbeitslosigkeit, verabreden. Ich bin sehr häufig da; das läßt sich
d. h. all die resignierten Arbeitslosen, die sich nicht durchaus regeln.
mehr haben registrieren lassen.
Ich meine also, daß es entsprechende Möglichkei-
Ich meine, eine Perspektive ist nur möglich, wenn in ten gäbe. Dazu bedarf es eines industriepolitischen
die strukturbestimmenden Industriezweige der Ex- Konzepts. Für den Chemieverbund müssen natürlich
DDR schneller und umfangreicher Investitionen ge- bestimmte Voraussetzungen geschaffen werden. Es
lenkt werden. Dazu bedarf es einer Industriepolitik, wäre beispielsweise eine Erdöltrasse erforderlich, um
von der wirklich noch unklar ist, ob diese Regierung leichtes Erdöl in dem Bereich zu haben. Es gibt schon
sie zu betreiben bereit ist. Ich will das angesichts der eine Trasse, die vom Ruhrgebiet bis Kassel projektiert
knappen Redezeit am Beispiel der Chemie kurz zu ist. Das müßte fortgeführt werden, damit do rt auf
beschreiben versuchen. Äthylenbasis weiterhin kostengünstig produziert wer-
(Jochen Borchert [CDU/CSU]: Das ist ein un den kann. Das sind natürlich Voraussetzungen, die zu
tauglicher Versuch!) schaffen sind. Aber wenn man diese Region nicht wei-
Das Chemiedreieck Halle-Merseburg-Bitterfeld- ter verkommen lassen will, als das vorher schon ge-
Leipzig ist zum Wallfahrtsort der Politiker geworden. schehen ist, dann muß man dies tun.
Dem Herrn Bundesaußenminister nehme ich noch ab, Im Chemiedreieck Halle-Merseburg-Leipzig-Bit-
daß er persönlich ein großes Interesse an dieser Re- terfeld haben sich der Bundeskanzler und der Bun-
gion hat. Der Kanzler hat sich dort im Wahlkampf und desaußenminister weit aus dem Fenster gelehnt. Ge-
auch danach geäußert. Die Fakten sehen so aus, daß messen an den Erwartungen, die sie geweckt haben,
von den ehemals 108 000 in den vier Großkombinaten sind sie eigentlich schon abgestürzt. Ohne eine wirt-
Bitterfeld, Wolfen, Leuna und Buna Beschäftigten am schaftspolitische Kurskorrektur werden die Menschen
Ende ganze 13 000 bis 20 000 — die Zahlen schwan- dort sehr bald in einer Situation sein, die sie erkennen
ken, je nachdem, wer sich dazu äußert — übrigblei- läßt, daß sie im Wahlkampf mißbraucht und belogen
ben werden. Das ist für diese Region nun wahrlich worden sind. Dann allerdings wird das Chemiedrei-
keine Perspektive. Der Bundeskanzler hat bei seinen eck so etwas wie das Bermuda-Dreieck für diejenigen
jüngsten Besuchen in Buna und Bitterfeld Zusagen werden können, die mehr versprochen haben, als sie
gemacht, aber er hat keine Zahlen genannt. Die Men- zu halten bereit sind.
schen sind wirklich ratlos, wie es mit ihnen weiterge- (Beifall bei der PDS/Linke Liste)
hen wird.
(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Daß Sie Vizepräsident Renate Schmidt: Als nächstes hat der
diese Region zu einem ökologischen Inferno Kollege Werner Schulz das Wort.
2120 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Werner Schulz (Berlin) (Bündnis 90/GRÜNE): Frau überschreiten wird, weiß heute keiner genau zu sa-
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Umbruch gen.
von der sozialistischen Mißwirtschaft zu einer funktio-
nierenden Marktwirtschaft reißt tiefere Wunden als Wohlgemerkt: Dies sind die Aussichten, trotz Fonds
jeder bisher bekannte Strukturwandel innerhalb ei- Deutscher Einheit, trotz Investitionsbeihilfen, trotz
nes Wirtschaftssystems. Das krisenhafte Ungleichge- Verbesserung der finanziellen Ausstattung der neuen
wicht zwischen alten und neuen Bundesländern Bundesländer, trotz Gemeinschaftswerk Aufschwung
droht, sich noch weiter zu verschärfen. Ost. Es erweist sich mit jedem Tag mehr, daß der Bun-
desregierung der Prozeß, den sie vor einem Jahr mit
Momentan stellt sich die wirtschaftliche Situation der abrupten Einführung der D-Mark in der ehemali-
im vereinten Deutschland wie folgt dar: Während die gen DDR in Gang gebracht hat, außer Kontrolle gera-
Produktion in den westlichen Bundesländern auf ho- ten ist.
hem Niveau weitgehend stabil ist, setzt sich der Nie-
dergang von Wettbewerbsfähigkeit und Produktion in Das Beitrittsgebiet befindet sich jetzt folgerichtig in
Ostdeutschland fort. Wenn einige Auguren in den In- der typischen Situation eines Entwicklungslandes,
stituten nunmehr den Aufschwung in Sicht sehen, degradiert zum Absatzmarkt, eigener Erwerbsmög-
dann bedeutet das nur, daß die wirtschaftliche Aktivi- lichkeiten beraubt. Der Absatz ist dort, Produktion
tät bald ganz unten angekommen sein wird. und Gewinn hier. Die D-Mark fließt in den Westen
und muß mit der Kreditpumpe durch öffentliche Fi-
(Zuruf von der CDU/CSU: Sie ist unten!) nanztransfers zurückgepumpt werden.
Andere Prognosen hantieren die Talwanderung auf
(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Lesen Sie
mindestens fünf bis zehn magere Jahre.
bitte meine Rede nach! Sie waren nicht
Nur der Kanzler ist in seinem Zweckoptimismus da!)
nicht zu beirren. Mit schon fast Autosuggestionskraft
und an solche grenzender Beharrlichkeit meint er So entstehen die ins Uferlose wachsenden Kosten der
samt seiner Partei, in den nächsten drei bis vier Jahren Deutschen Einheit, die noch immer nicht genau zu
über den Berg zu sein. An die Steuerillusion schließt beziffern sind und die uns sicher in den nächsten
sich der wiederholte Schwindel von der Lebensver- Haushaltsjahren beschäftigen werden.
besserung an. Der Kanzler sollte sich besser von den Die schockartige Währungsunion hat der ostdeut-
wirt schaftlichen Problemen als von Eierwerfern aus schen Wirtschaft jede Zeit zur Verarbeitung der neuen
der Rese rv e locken lassen. Und natürlich ist nicht er Situation vorenthalten. Die Politiker hätten damals
für den Rückgang der Geburtenrate verantwortlich. anstatt auf die umjubelten Marktplätze wohl eher in
Diese Potenz hätte ihm wohl gar keiner zugetraut, die verschlissenen Betriebe gehen sollen, um sich ein
glaube ich. tatsächliches Bild zu machen, das sie nicht gehabt zu
(Heiterkeit bei der SPD — Ernst Hinsken haben meinen. Denn Neuorientierungen brauchen
[CDU/CSU]: Ihnen aber auch nicht!) Zeit. Deswegen vollzieht sich die Anpassung jetzt als
Zusammenbruch.
Es ist wohl mehr seine Politik, die Existenzunsicher-
heit hervorruft. Wir brauchen keinen August den Star- In dieser Situation ist die Wirtschaftspolitik nicht in
ken, wir brauchen aber auch keinen Sitzriesen. der Lage, Prozesse zu gestalten, Entwicklungen vor-
herzusehen und Richtungen zu weisen. Heute vermag
(Beifall bei der SPD)
die Politik kaum mehr zu tun, als das Schlimmste zu
Ich glaube, wir brauchen einen Kanzler, der sich nicht verhindern: Entlassungen zeitlich zu strecken, Auf-
mit der Alimentierung des Ostens begnügt, sondern fangbecken für Erwerbslose zu schaffen, die Nach-
Mut faßt, dem nationalen Kapital an den patriotischen frage künstlich zu stützen; dies alles mit hohem finan-
Kragen zu gehen. Mit Appellen zur Investition ist das ziellen Aufwand und mit Methoden, die vor Jahren
Ganze nicht getan. noch als indiskutabel gegolten hätten.
Während das Preisniveau im Westen moderat an- Diese Regierung hat lange Zeit aus marktideologi-
steigt, ist die Teuerung für die Menschen in den neuen scher Borniertheit heraus auf eine wirksame Einfluß-
Bundesländern zum Teil schmerzhaft spürbar. Wäh- nahme auf das wirtschaftliche Geschehen in Ost-
rend schließlich die Beschäftigungsrate in West- deutschland verzichtet. Sie hat die Treuhandanstalt
deutschland weiter steigt, tut sich auf dem ostdeut- mit unzureichender Orientierung für ihre schwere
schen Arbeitsmarkt ein Abgrund auf. Die „Wirt- Aufgabe allein gelassen. Sie hat die Möglichkeiten
schaftswoche" rechnet, daß zum Ende dieses Jahres einer wirkungsvollen Arbeitsmarktpolitik bei weitem
von den ursprünglich 9,5 Millionen Erwerbstätigen in nicht ausgeschöpft. Sie ist mit veralteten strukturpoli-
Ostdeutschland nur noch etwa 4 Millionen übrig blei- tischen Konzepten an den Aufbau der neuen Bundes-
ben werden. länder herangegangen und hat es versäumt, dafür zu
Nach wie vor wandern Spezialisten und junge Fach- sorgen, daß die ostdeutschen Unternehmen in dem
arbeiter — das stärkste Kapital der ostdeutschen Bun- schwierigen Umstrukturierungsprozeß faire Markt-
desländer — in den Westen. Die Flucht heißt neuer- chancen erhalten und nicht von der westlichen Kon-
dings „Binnenwanderung" und nimmt den wohl kurrenz erdrückt werden.
stärksten Investitionsanreiz mit. Auf der anderen Seite hat sie aber den im Hand-
Wann sich die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt streich geschlossenen Energievertrag zwischen west-
umkehren wird, wann also die Zahl der neugeschaf- deutschen Energiemultis und der damaligen DDR
fenen Arbeitsplätze die der abgebauten erstmals nach Kräften gefördert und so die Möglichkeiten zum
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2121
Werner Schulz (Berlin)
Aufbau eigenständiger, dezentraler Energieversor- wiederholt werden. Ich nenne hier die verfehlte, un-
gungssysteme weitergehend blockiert. differenzierte Wachstumsorientierung, den viel zu ho-
hen Anteil der direkten Förderung von Unternehmen
Zu all diesen Fragen haben wir in die vor einigen
im Vergleich zur Infrastrukturförderung sowie den
Wochen im Sande verlaufenen Arbeitsgruppenge-
Mangel an Förderung von regionaler Forschung, Ent-
spräche zwischen Opposition und Regierung unsere
wicklung, Technologie- und Know-how-Transfer.
konkreten Vorschläge und Forderungen eingebracht,
zu denen wir nach wie vor auf begründete Antworten Der fast völlige Verzicht der Bundesregierung auf
der Regierung warten. eine Wirtschaftsstrukturplanung und die mangelnde
Abstimmung der Förderinstrumente tragen darüber
Die Treuhand hat, wie vor wenigen Tagen dem hinaus zum Versagen der Regionalförderung in struk-
„Handelsblatt" zu entnehmen war, Entlassungen in turschwachen Gebieten bei:
Millionenhöhe für die kommenden eineinhalb Jahre Wir halten eine Neukonzipierung der regionalen
angekündigt. Wenn Sie diese Ankündigungen wahr Wirtschaftsförderung im Hinblick auf die Probleme in
macht, steht der Verlust des größten Teils der Arbeits- den ostdeutschen Ländern für ganz besonders dring-
plätze in den Treuhand-Unternehmen zu befürchten. lich. Eine Schlüsselrolle kann hierbei der Aufbau von
Von ursprünglich vier Millionen Beschäftigten wer- regionalen Entwicklungszentren spielen, die als
den zum Schluß vielleicht eine Million Beschäftigte Dienstleistungszentren vielfältige Aufgaben beim
übrigbleiben. Dies darf so nicht hingenommen wer- Entstehen einer eigenständigen und dauerhaften re-
den. Wir brauchen den Staat als Impulsgeber, nicht als gionalen Wirtschaft wahrnehmen. Diese Zentren sol-
Nachtwächter oder als Feuerwehr. len in gemeinsamer Trägerschaft von Wirtschaft, Ge-
(Dr. Ulrich Briefs [PDS/Linke Liste]: Das hät werkschaften, Umweltverbänden, Arbeitsverwaltung
ten Sie vor den Wahlen sagen sollen! — Ge und Gebietskörperschaften entstehen. Nicht als Su-
genruf von der FDP: Jetzt haben Sie sich aber perb ehörden, sondern als Dienstleistungsangebot
widersprochen!) und Vorleistung für örtliche und im Aufbau befindli-
- che Unternehmen sollen sie sich u. a. der Erarbeitung
Die Treuhand muß den klaren gesetzlichen Auftrag regionaler Entwicklungskonzeptionen und ökologi-
bekommen, die ihr anvertrauten Unternehmen zu sa- scher Sanierungsprogramme, dem Technologietrans-
nieren, wenn diese nicht sofort unter Erhaltung ihrer fer, der Beratung und der Erleichterung bei Existenz-
Substanz privatisiert werden können und wenn auf gründungen, der Vermittlung von Informationen und
mittlere Sicht Rentabilität zu erwarten ist. Hierzu ge- der Bereitstellung wirtschaftsnaher Dienstleistungen
hört die konsequente Altlastensanierung und die sowie der überbetrieblichen Weiterbildung widmen.
ökologische Modernisierung der Unternehmen. Notwendig ist darüber hinaus eine Mittelaufstok-
Hierzu gehört ebenfalls eine intensivere Verzahnung kung sowie eine Neugewichtung bei der Gemein-
der Arbeit der Treuhandanstalt mit staatlicher Regio- schaftsaufgabe Verbesserung der regionalen Wirt-
nal- und Strukturpolitik. Die Treuhandanstalt braucht
schaftsstruktur. Die Mittel der Gemeinschaftsaufgabe
angemessene finanzielle Mittel, um notwendige Ent- müssen künftig vorwiegend der umweltverträglichen
schuldungen durchzuführen und die Sanierungsauf-
Infrastrukturförderung, insbesondere dem Aufbau re-
gaben erfüllen zu können. Frau Breuel hat jüngst dar-
gionaler Entwicklungszentren zugute kommen.
auf hingewiesen, daß noch erhebliche zusätzliche For-
derungen auf den Bund zukommen werden.
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege
Die vielfältigen finanziellen Ansprüche an das Schulz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kolle-
Treuhandvermögen müssen neu bewertet werden. gen Hinsken.
Vorrang gebührt eindeutig der Sanierungsaufgabe
und den damit unmittelbar zusammenhängenden Werner Schulz (Berlin) (Bündnis 90/GRÜNE): Ja.
Aufgaben.
Von Belastungen wie Haushaltssanierung, Entschä- Ernst Hinsken (CDU/CSU): Herr Kollege Schulz, ich
digungszahlungen sowie von den Altschulden der pflichte Ihnen bei, wenn Sie sagen: Damit Schwung
Treuhandunternehmen und sachfremden Zinslasten hereinkommt, brauchen wir in Zukunft mehr Mittel,
muß die Treuhandanstalt gänzlich freigestellt werden. und deshalb sollen die Mittel für die Verbesserung der
Die Länder müssen einen deutlich verbesserten Ein- regionalen Wirtschaftsstruktur aufgestockt werden.
fluß auf die Arbeit der Treuhandanstalt bekommen. In Meine Frage aber an Sie diesbezüglich: Meinen Sie
Fragen von weiterreichender Bedeutung — insbeson- nicht auch — wie ich — , daß die Aufgaben, die Sie
dere Betriebsstillegungen — muß die Treuhandan- einer neuen Institution zuführen wollen, auch von den
stalt Einvernehmen mit den Ländern herstellen. Industrie- und Handelskammern und den Hand-
werkskammern bewältigt werden können, die dafür
In einem wichtigen Punkt stimmen wir im übrigen prädestiniert sind, eben dieser Aufgabenstellung ge-
mit Herrn Möllemann überein: Entsprechend ihrer recht zu werden?
Aufgabenstellung sollte die Treuhandanstalt der
Fach- und Rechtsaufsicht des Bundeswirtschaftsmini-
Werner Schulz (Berlin) (Bündnis 90/GRÜNE): Es
sters unterstellt werden.
geht vor allen Dingen um eine Umverteilung der Mit-
Die traditionellen Förderinstrumente der Regional- tel, nicht nur um einseitige Aufstockung. Im Grunde
politik haben schon in den alten Bundesländern nicht genommen geht es darum, daß diese Investitionssprit-
zu einem wirksamen Abbau des Entwicklungsgefälles zen nicht allein in die Bet riebe gehen, die momentan
geführt. Die Systemfehler der bisherigen Regional- aufgefangen werden können, sondern daß man in
förderung dürfen in den neuen Bundesländern nicht Regionen geht, wo momentan noch keine Indust ri e-
2122 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Werner Schulz (Berlin)


struktur vorhanden ist. Um diese regionale Entwick- integriert werden sollen, selbst von einer tiefen und
lung zu fördern, darum geht es uns in erster Linie. dauerhaften Beschäftigungskrise und einem wesent-
lich niedrigeren Beschäftigungsniveau als in der ehe-
Der bisherige Systemfehler, den ich angedeutet maligen DDR gekennzeichnet. Die Massenerwerbslo-
habe, lief darauf hinaus — das wiederholt sich in der sigkeit auf sehr hohem Niveau wird deshalb kein
gleichen Weise — , daß Investitionsförderung eigent- kurzfristiges Übergangsproblem bleiben, sondern
lich nur an den Stellen erfolgt, wo momentan bereits über Jahre hinaus den ostdeutschen Arbeitsmarkt
Industri e vorhanden ist. Andere Regionen haben prägen.
überhaupt keine Chance oder tun sich sehr schwer.
Ich glaube, daß wir mehr Infrastrukturaufbau fördern Wir fordern daher eine neue Konzeption der Ar-
müssen. Das geschieht bisher unzureichend. Ich beitsbeschaffungsmaßnahmen, die u. a. eine Verlän-
glaube auch nicht, daß das durch die Indust rie- und gerung der Förderungsdauer auf mindestens vier
Handelskammern allein getan werden kann, obwohl Jahre und Qualifizierungsmaßnahmen mit entspre-
sie hier nicht ausgespart sein dürfen; das muß mitein- chenden Berufsabschlüssen einschließt. Notwendig
ander verbunden sein. sind ebenfalls die Erleichterung des Antrags- und Be-
willigungsverfahrens und die Einführung ge-
Ostdeutsche Güter und Dienstleistungen haben, schlechtsspezifischer Quotierung bei der Vergabe von
unabhängig von ihrer Qualität und Wettbewerbsfä- ABM-Stellen. Bevorzugte Bereiche für diese Maßnah-
higkeit, immer noch schlechte Chancen auf dem In- men sollten der Umweltschutz und die sozialen Dien-
landsmarkt. Mitverantwortlich hierfür sind der oft
ste sein.
schlechte Ruf dieser Produkte sowie mangelnde
Marktpräsenz. Angesichts des Ausmaßes der zu erwartenden Er-
werbslosigkeit kommt der Schaffung von Qualifizie-
Wenn der Absturz von Produktion und Beschäfti- rungs- und Beschäftigungsgesellschaften ganz be-
gung in den ostdeutschen Ländern aufgehalten wer- sondere Dringlichkeit zu, wobei das Ziel der Aufbau
den soll, muß für eine Übergangszeit zusätzlich zur neuer marktfähiger Bet riebe aus den Beschäftigungs-
bereits in Kraft gesetzten Investitionsförderung der gesellschaften heraus sein muß.
Absatz ostdeutscher Produkte durch die öffentliche
Hand gestützt und gefördert werden. Zu diesem All dies wird jedoch nur greifen, wenn gleichzeitig
Zweck ist ein System von Präferenzen für ostdeutsche die Beratungstätigkeit und die personelle Ausstattung
Produkte zu schaffen. der Arbeitsverwaltung in den neuen Bundesländern
erheblich verbessert werden. Derweil grübelt man im
Ob hierfür eine generelle Mehrwertsteuerbefreiung
Hinblick auf den Beamtenexport von West nach Ost,
oder -ermäßigung für ostdeutsche Waren und Dienst- ob man die Beamten in einer Sänfte über die Elbe
leistungen oder ein Präferenzsystem nach dem Vor- bringen kann oder ob man sie vorher in Ketten legen
bild der Berlin-Förderung eingeführt wird, ist letztlich
muß.
nicht entscheidend. Maßgeblich ist die Verbesserung
der Absatzchancen ostdeutscher Anbieter für eine be- Doch auch die Westdeutschen können zu einer
grenzte Übergangszeit. spürbaren Verbesserung der Arbeitsmarktlage im
Osten beitragen, und zwar durch den Verzicht von
In die gleiche Richtung wirkt die Verpflichtung, bei
Überstunden und Sonderschichten in der gesamten
der Vergabe öffentlicher Aufträge bevorzugt solche
Bundesrepublik. Dies könnte und sollte, wenn nötig,
Anbieter zu berücksichtigen, die in Gebieten mit durch gesetzliche Einschränkungen erreicht wer-
mehr als 15 % Arbeitslosigkeit tätig sind. Dies bedeu-
den.
tet gegenwärtig zwangsläufig eine Präferenz für ost-
deutsche Anbieter. Der Stromvertrag erweist sich für die Kommunen
als große Investitionsbremse. Ohne Verfügungsbe-
Zu vergleichbaren Präferenzen für ostdeutsche Pro- rechtigung über die örtlichen energiewirtschaftlichen
dukte sollten in angemessenem Umfang Empfänger
Anlagen sind die Kommunen in dieser Hinsicht hand-
öffentlicher Subventionen und Bürgschaften sowie lungsunfähig. Eine schnelle Übertragung des ener-
zinsverbilligter Kredite verpflichtet werden. Auch die
giewirtschaftlichen Vermögens in die Hände der ost-
Treuhandanstalt muß, wo dies möglich ist, mit Inve-
deutschen Kommunen könnte dagegen einen flä-
storen bei der Beschaffung von Investitionsgütern Prä-
chendeckenden Investitionsschub auslösen. Infolge
ferenzen für ostdeutsche Produkte vereinbaren. Mir
der Umstellung auf eine neue, dezentrale Energiepo-
ist durchaus bewußt, daß solche Vorschläge nicht auf
litik ist in den neuen Bundesländern mit mindestens
die ungeteilte Begeisterung der EG-Kommission in
50 000 neuen Dauerarbeitsplätzen zu rechnen.
Brüssel treffen werden. Aber auch der EG kann an
einem permanenten Notstandsgebiet im Osten Der CO2-Ausstoß pro Kopf der Bevölkerung ist in
Deutschlands, zusätzlich zu anderen europäischen den Ostbundesländern mit 22,4 t pro Jahr fast doppelt
Problemregionen, nicht gelegen sein. so hoch wie im Westen. Drastische Reduzierungen
sind hier möglich und dringend erforderlich. Die Bun-
Auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt treffen mo-
desregierung sollte deswegen sofort die Aufkündi-
mentan zwei Problemfelder aufeinander: Zum einen
gung oder Aufhebung der entsprechenden Regelun-
ist der Prozeß der völligen Neuorientierung der wirt-
gen des Stromvertrags in Ang riff nehmen sowie die
schaftlichen Strukturen Ostdeutschlands auf mittlere
umgehende und vollständige Übertragung des örtli-
Sicht mit F ri ktionen des Arbeitsmarktes von bisher chen energiewirtschaftlichen Vermögens an die
unbekanntem Ausmaß verbunden.
Kommunen und Landkreise durch die Treuhandan-
Zum anderen ist das westdeutsche marktwirtschaft- stalt entsprechend dem Treuhand- und Kommunal-
liche System, in das die neuen Bundesländer jetzt vermögensgesetz ermöglichen.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2123

Werner Schulz (Berlin)


Ebenfalls dringend erforderlich ist die Verbesse- in den neuen Bundesländern drastisch vor Augen ge
rung der Einspeisungsbedingungen für Strom aus de- führt worden.
zentraler Krafte-Wärme-Kopplung durch Änderung (Josef Grünbeck [FDP]: Da hat es doch gar
des Stromeinspeisungsgesetzes. Der aus dezentralen keine Wirtschaftsentwicklung gegeben! Was
Blockheizkraftwerken erzeugte und ins Netz einge- reden Sie da!)
speiste Strom wird von den großen Energieversor-
gungsunternehmen lediglich mit rund 9 Pfennigen Als ein Experimentierfeld hat sich Herr Möllemann
pro Kilowattstunde vergütet. Mit einer gerechteren die Energiewirtschaft ausgesucht, den denkbar unge-
Vergütung hätten die dezentralen Anlagen, die mit eignetsten Wirtschaftsbereich, der eine unentbehrli-
einem Gesamtwirkungsgrad von mehr als 80 % arbei- che Grundlage für die störungsfreie Entwicklung
ten, entschieden bessere Entwicklungschancen. einer modernen Volkswirtschaft ist.
Weiteren Handlungsbedarf sehen wir in der Förde- Spätestens seit dem Ölpreisverfall von 1985 hat die
ru ng des Ausbaus und der Sanierung von Bundesregierung keine eigenständige Energiepolitik
Fernwärmenetzen, bei der Bezuschussung dezentra- mehr gemacht. Sie hat sie vielmehr dem Markt und
ler Blockheizkraftwerke und schließlich in der wirk- der Energiewirtschaft überlassen. Es ist deshalb über-
samen Förderung von Wärmeschutzmaßnahmen an haupt kein Wunder, daß seitdem der Energiever-
Gebäuden. Hier sind die deutschen Standards bei brauch und die Umweltbelastungen wieder drastisch
weitem noch nicht das Optimum. angestiegen sind.
Meine Damen und Herren, wir plädieren für mehr (Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Leider
Weitsicht im Aufbau der neuen Bundesländer. Der wahr! —Josef Grünbeck [FDP]: Haben Sie
größte Denkfehler aller bisherigen Ansätze ist sicher- schon einmal etwas von einer Hochkonjunk
lich die Vorstellung, daß die Probleme der neuen Bun- tur gehört?)
desländer allein durch Veränderungen auf dem Ge- Bundeswirtschaftsminister Möllemann will die För-
biet der ehemaligen DDR gelöst werden können. - derung der heimischen Steinkohle schon im kom-
Die Deutschen stehen vor der historischen Aufgabe, menden Jahr um 10 Millionen t reduzieren. Das ist
durch solidarisches Handeln einen Ausgleich der Le- zwar halbherzig dementiert worden, aber wir wissen
bensverhältnisse zu erreichen. Für die Westdeutschen ja, was man von solchen Dementis zu halten hat. Be-
bedeutet dies, auf eine weitere Wohlstandssteigerung reits ab 1992 sollen je 5 Millionen t Steinkohle weni-
vorerst zu verzichten. Sie haben die einmalige Gele- ger verhüttet und weniger verstromt werden. Damit
genheit, ein Verhalten modellhaft vorwegzunehmen, treibt der Bundeswirtschaftsminister den Bergbau in
das allein der weltweiten sozialen und ökologischen die schwerste Existenzkrise seit dem Ende der 60er
Kri se begegnen kann. Modell Deutschland als Vor- Jahre.
griff auf eine gerechte und ökologische Weltwirt- (Beifall bei der SPD — Zuruf von der SPD: Ein
schaft. Skandal!)
Wir sollten sehen, wie wir trotz materieller Ein- Dies, obwohl die vereinbarten Anpassungen der
schränkungen noch ein reichhaltiges Leben führen letzten Kohlerunde von 1987, die eine Förderkürzung
können in leidlicher Harmonie mit der Natur und bei um 15 Millionen t und einen Abbau von 30 000 Ar-
wachsender Gerechtigkeit gegenüber der Zwei-Drit- beitsplätzen vorsehen — ich betone: einen sozialver-
tel-Welt. träglichen Abbau von Arbeitsplätzen; das ist in die-
Ich danke Ihnen. sem Zusammenhang sehr wichtig — , noch gar nicht
umgesetzt, geschweige denn verkraftet worden sind.
(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei
der PDS/Linke Liste sowie bei Abgeordneten Dies, obwohl der Hüttenvertrag von der Europäischen
Kommission bis 1997 genehmigt ist. Das Argument,
der SPD)
Brüssel würde die Stützung der heimischen Stein-
kohle in dieser Höhe nicht mehr länger akzeptieren,
ist zumindest bei der Kokskohlenbeihilfe völlig ver-
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster hat f ehlt.
das Wort der Kollege Volker Jung. Dies auch, obwohl vom Bundeskanzler und den Mi-
(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Be nisterpräsidenten der Bergbauländer noch 1989 ver-
ruf Gewerkschaftssekretär!) einbart wurde, die Verstromung heimischer Stein-
kohle für die Restlaufzeit des Jahrhundertvertrages
bis 1995 bei 41 Millionen t zu stabilisieren. Das wurde
zuletzt durch die Regierungserklärung von Anfang
Volker Jung (Düsseldorf) (SPD): Frau Präsidentin! dieses Jahres bestätigt. Aber auch das ist ja schon
Meine Damen und Herren! Der Bundeswirtschaftsmi- einige Monate her. Möglicherweise ist die Bundesre-
nister möchte im nächsten Bundeshaushalt 10 Milliar- gierung inzwischen zu der Auffassung gelangt, daß
den DM an Subventionen einsparen. Das Thema ist in nach der Steuerlüge eine weitere Lüge, nämlich die
dieser Haushaltsdebatte schon vielfach hin und her Kohlelüge, den Kohl nicht mehr fett macht.
gewendet worden. Wenn er das genannte Ziel nicht
(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke
erreicht, dann will er zurücktreten. Damit hat er zwei-
Liste)
fellos Punkte in der Offentlichkeit gemacht. Damit
kann man aber auch viel kaputtmachen. Wohin diese Unausweichliche Konsequenz dieser Politik würde
marktwirtschaftliche P rinzipienreiterei führen kann, die Schließung von mindestens fünf Zechen und die
ist uns mit der katastrophalen Wirtschaftsentwicklung Entlassung von 20 000 Bergleuten sein, die ebenso
2124 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Volker Jung (Düsseldorf)


viele Arbeitsplätze in den abhängigen Wirtschaftsbe- 20 % der nationalen Stromerzeugung gefördert wer-
reichen vernichtet. Das ist den Bergleuten nicht zuzu- den darf, weil dies nicht zufällig dem Anteil der Kern-
muten, und das kann von den strukturschwachen Re- energie an der britischen Stromversorgung entspricht.
gionen nicht verkraftet werden. Es wäre grotesk, wenn unsere Kohleförderung nur
(Beifall bei der SPD) noch den Umfang des von der EG-Kommission geneh-
migten britischen Nuklearpennys haben sollte. Auf
diese Weise werden englische Kohleinteressen mit
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Kollege Jung, ge- rechtlich zweifelhaften Begründungen gefördert. Das
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Grün- nenne ich schlicht einen politischen Mißbrauch.
beck?
(Lieselott Blunck [SPD]: Richtig!)
Volker Jung (Düsseldorf) (SPD): Ja, die gestatte ich Es ist ein Skandal, daß die Bundesregierung dagegen
natürlich. nicht vorgeht.
(Beifall bei der SPD)
Josef Grünbeck (FDP): Herr Kollege Jung, weil Sie
Es paßt aber leider zu Ihrer Politik gegenüber der
soviel von Lüge reden: Haben Sie eigentlich Ihre Aus- EG-Kommission, die Vereinbarung vom August 1989
führungen mit der Kollegin Frau Matthäus-Maier ab- nicht offensiv zu vertreten, geschweige denn im Sinne
gestimmt, die gestern zur Kohlepolitik etwas ganz
einer europäisch definierten Versorgungssicherheit
anderes gesagt hat? durchzusetzen.
Wer mit uns einen neuen energiepolitischen Kon-
Volker Jung (Düsseldorf) (SPD): Es kommt öfters
sens will, meine Damen und Herren, wer verhindern
vor, daß Reden nicht miteinander abgestimmt sind.
will, daß die Kumpel die Brocken hinschmeißen, der
Ich bleibe bei dieser Aussage.
sollte folgendes zur Kenntnis nehmen: Erstens.
Damit wird nicht nur dem Hüttenvertrag und dem Ebenso wie die Energiewirtschaft, die zu erkennen
Jahrhundertvertrag die Grundlage entzogen. Damit gegeben hat, daß sie gegen unseren Widerstand keine
wird auch jede Anschlußregelung zum Jahrhundert- Kernkraftwerke mehr bauen will, haben wir uns bei
vertrag verhindert. Die Stromwirtschaft zeigt ohnehin der Frage der Nutzung der Kernenergie bewegt. Wir
keine Neigung, eine Anschlußregelung zu vereinba- werden mit uns über die Nutzungsdauer reden las-
ren. Jeder, der die Lage kennt, weiß, daß dies das Aus sen.
für den heimischen Steinkohlenbergbau wäre.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Unausweichliche Konsequenz dieser Politik würde
der FDP — Zurufe von der FDP: Aha!)
auch die Notwendigkeit sein, die entstehende Versor-
gungslücke durch andere Energieträger zu schließen, Aber eines sollte klar sein: Einen Ersatz oder Zubau
entweder durch Importkohle, die an unserer CO2- von Kernkraftwerken wird es mit unserer Zustimm-
Bilanz nichts ändern würde und außerdem unsere Im- mung nicht geben.
portabhängigkeit erhöht, oder durch die Kernenergie, (Beifall bei der SPD)
die die Sicherheitsrisiken erhöht und die nach wie vor
ungeklärte Entsorgungslage verschärft. Dieses Sze- Zweitens. Wir befürchten, die Politik gegen die
nario macht mit einem Schlag die Unzulänglichkeiten Steinkohle im Westen ist nur der Auftakt für einen
der gegenwärtigen Energiepolitik deutlich. Kahlschlag bei der Braunkohle im Osten. Seit der
Die Bundesregierung hat bis heute kein energie- deutschen Vereinigung fehlt für die neuen Bundes-
politisches Gesamtkonzept vorgelegt, aus dem deut- länder jedes energiepolitische Erneuerungskonzept.
lich wird, welche Rolle sie den einzelnen Energieträ- Die Bundesregierung hat sich mit dem Abschluß des
gern in einem ausgewogenen Energiemix zuordnet. Stromvertrages aus der energiepolitischen Verant-
Anstatt seine energiepolitischen Hausaufgaben zu wortung gestohlen. Damit will sie sich auch der sozia-
len Verantwortung für die Bergleute in Ostdeutsch-
machen, bereitet der Bundeswirtschaftsminister wie
seine Vorgänger im Amt einen Kahlschlag gegen die land entziehen. Sie spielt die Bergleute in Ost und
Kohle vor. West gegeneinander aus. Das werden wir Sozialde-
mokraten nicht zulassen.
Einzig und allein die Begründung, die dafür herhal-
ten muß, hat gewechselt. Haben Bangemann und (Beifall bei der SPD — Dr. Rudolf Sprung
Haussmann ihre Antikohlepolitik noch damit begrün- [CDU/CSU]: Das ist nicht fair, Kollege
det, daß es angeblich nur um ein soziales oder regio- Jung!)
nalpolitisches Problem gehe, so begründet Mölle- Drittens. Da sich die Weltenergieversorgung noch
mann dieselbe Politik mit der vermeintlichen Notwen- lange Zeit auf die Kohle stützen wird, könnten gerade
digkeit eines Subventionsabbaus. Wer aber die Ener- wir bedeutende Beiträge zu ihrem umweltfreundli-
giepolitik unter den Zwang stellt, Subventionen abzu- chen Einsatz leisten. Das trifft vor allem für die Nut-
bauen, der zäumt das Pferd vom Schwanz auf, der zung neuer, CO2-ärmerer Kohletechniken zu, die in
betreibt Haushaltspolitik und keine eigenständige der Dritten Welt dringend benötigt werden, weil die
Energiepolitik. Zu einer solchen Politik werden wir hochkomplizierte und sicherheitsempfindliche Kern-
Sozialdemokraten unsere Hand nicht reichen. energie nach unserer gemeinsamen Überzeugung in
(Beifall bei der SPD) diesen Ländern nicht eingesetzt werden kann.
Es kann nicht Grundlage unserer Energiepolitik Viertens. All dies macht aber keinen Sinn, wenn wir
sein, die Vorgabe des britischen EG-Kommissars nicht die Energieeinsparung, eine rationellere Ener-
Brittan zu akzeptieren, daß nur noch ein Anteil von gienutzung und den Einsatz erneuerbarer Energien
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2125
Volker Jung (Düsseldorf)
fördern. Nachdem die Bundesregierung in den letzten setzungen für eine solche günstige wirtschaftliche
Jahren alle Steuererleichterungen und Investitionshil- Entwicklung im Westen und eine ansteigende — erste
fen für die rationelle Energienutzung abgeschafft hat, Anzeichen dafür gibt es — , sich bessernde wirtschaft-
haben die Koalitionsparteien bei den Etatberatungen liche Lage im Osten gegeben sein müssen, die es zu
im Wirtschaftsausschuß alle unsere Vorschläge zum sichern gilt.
Energiesparen abgelehnt, ohne eigene Vorschläge
Da ist als erstes — nach dem Beitrag des Kollegen
vorzulegen.
Jung sage ich das ganz bewußt — die EG-Integration.
(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU] : Völlig unre Herr Kollege Jung, mir gefällt wirklich nicht die Art
alistisch war das!) und Weise, wie hier permanent eine Art Antagonis-
Meine Damen und Herren, das ist in höchstem mus, eine Art unterstelltes Gegeneinander konstruiert
Maße konzeptionslos. Ich sage Ihnen: Legen Sie end- wird: hier die EG — als irgendetwas anderes, etwas
lich ein energiepolitisches Gesamtkonzept vor, damit Feindliches — , dort wir, als seien wir nicht Bestandteil
wir uns über die Anteile der einzelnen Energieträger derselben. Wir sind die Hauptprofiteure der Europäi-
auseinandersetzen können, aber hören Sie auf, nur schen Gemeinschaft.
auf die Kohle einzuschlagen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Beifall bei der SPD)
Niemand hat einen solchen Nutzen vom gemeinsa-
men Markt wie wir. Wir haben im letzten Jahr 36 %
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das Wort hat der aller Waren und Dienstleistungen, die in Deutschland
Bundesminister für Wirtschaft, Herr Jürgen Mölle- hergestellt wurden, auf ausländische Märkte expor-
mann. tiert. Niemand ist vom Export, vom freien Zugang zu
(Ernst Waltemathe [SPD]: Der Mann, der anderen Märkten, so sehr abhängig wie wir. Aber das
gern Minister bleiben möchte!) heißt natürlich auch, daß man sich den Regeln dieses
Marktes, die man gemeinsam definiert hat, unterwer-
- fen muß.
Jürgen W. Möllemann, Bundesminister für Wirt-
schaft: Da stimme ich Ihnen zu. Das ist gut; darauf Die Bestimmungen, die in der EG gelten, sind nicht
komme ich gleich zurück, Herr Waltemathe. von Herrn Leon Brittan oder von den Kommissaren,
die gelegentlich sozialdemokratischen oder sozialisti-
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und schen Parteien angehören, oktroyiert worden, son-
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die zentrale dern sie sind als gemeinsame Willensbildung und Wil-
Aufgabe der Wirtschaftspolitik — wie im übrigen auch lensbekundung festgelegt worden, als ein Ordnungs-
der anderen Politikbereiche in dieser Legislaturpe- system, dem wir uns freiwillig unterwerfen.
riode — ist die Herstellung und Absicherung der wirt-
schaftlichen und sozialen Einheit Deutschlands nach (Liselott Blunck [SPD]: Wenn es politisch
der staatlichen Einheit. Darauf muß sich die Wirt- paßt, wird es laufend durchlöchert!)
schaftspolitik vorrangig konzentrieren. — Wenn das denn geschieht, finde ich es nicht gut. Ich
Wir haben dies mit dem Konzept unter dem Stich- sage doch nur: Wir wollen nicht den Eindruck erwek-
wort Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost in Angriff ken, als gäbe es ein EG-System, von anderen entwik-
genommen. Wir wenden dafür in Form eines Finanz- kelt, das uns gegenüber feindlich gesinnt ist und von
transfers von West nach Ost in diesem Jahr 128 Milli- dem wir Nachteile haben. Das ist nicht wahr. Wer eine
arden DM auf, die in Investitionen, in die Infrastruk- solche Haltung in der Exportnation Nummer eins ein-
tur, in die Beschäftigung und in das soziale Siche- nimmt, der darf sich nicht wundern, wenn andere, die
rungssystem gehen. Das ist ein sehr hoher Aufwand, einen solchen Nutzen wie wir nicht haben, das plötz-
der aber notwendig ist und der geleistet werden kann, lich so interpretieren. Er würde unsere Exportinteres-
weil, wenn und solange unsere wirtschaftliche Lei- sen auf das schwerste beschädigen.
stungskraft im Westen so stark ist, wie sie sich derzeit
Deshalb bitte ich bei aller Notwendigkeit der kriti-
darstellt.
schen Auseinandersetzung mit der Position des einen
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) oder anderen Mitglieds der Kommission sehr herzlich
Wir sind in einer florierenden Wirtschaftssituation darum, nicht so zu simplifizieren, wie Sie es getan
im Westen. Wir haben ein Wachstum des Bruttosozi- haben, und den Mitgliedern der Kommission nicht zu
alproduktes von 4,2 % im ersten Quartal. Die west- unterstellen, sie würden in ihrer Arbeit den jeweils
deutsche Wirtschaft hat unverändert eine Lokomotiv- nationalen Standpunkt hineintragen.
funktion. Ihre Impulse wirken sich nicht nur innerhalb Wir haben im übrigen gelegentlich in der Debatte
Deutschlands, sondern auf die gesamte europäische über die Position der deutschen Kommissare zur
Wirtschaft aus. Kenntnis genommen, daß sie sehr wohl den EG-An-
Ich glaube, das ist zuallererst das Verdienst derer, satz und nicht — wie manche gewünscht haben —
die im wirtschaftlichen Prozeß handeln: von Unter- den engen nationalen Ansatz vertreten. Das sollte
nehmen, Unternehmern, Managern, aber auch Be- man den anderen auch zubilligen.
schäftigten auf allen Ebenen. Aber so völlig falsch
kann die Politik nicht sein, die zu einer solchen Ent- Die zweite Voraussetzung bet rifft ebenfalls unsere
wicklung ihren Beitrag leistet. Rolle als Exportnation, als Exportweltmeister. Sie be-
trifft das Thema GATT. Hierzu ist heute vom Bundes-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) kanzler mit Nachdruck für die Bundesregierung klar-
Nun geht es bei einer Debatte über den Bundes- gestellt worden, daß wir uns für einen Abschluß der
haushalt darum, die Frage zu klären, welche Voraus- Uruguay-Runde möglichst bald einsetzen. Nun
2126 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Bundesminister Jürgen W. Möllemann


kommt der nicht zustande, wenn nicht die Position, — Aber jetzt machen Sie mich richtig knatschig, das
die die EG bislang in mehreren Kernbereichen einge- stimmt. Da hat Herr Schäfer völlig recht.
nommen hatte, ebenso verändert wird wie jene Posi- (Wolfgang Roth [SPD]: In Sehnsucht auf eine
tion, die die Vereinigten Staaten von Amerika, Japan seriöse Antwort ziehe ich den letzten Satz
und einige Staaten der Dritten Welt eingenommen zurück!)
haben.
— Sehen Sie, so einfach geht das.
(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist rich-
tig!) Zurück zu Ihrer Frage ohne diesen letzten Teil: Herr
Kollege Roth, ich komme ohnehin gleich zum Thema
Das heißt, wir müssen definieren, wo wir sie verän- Subventionsabbau. Ich habe mich zunächst einmal
dern wollen. konzentriert auf jene Finanzhilfen und andersartigen
Hier wird es keinen Weg vorbei an einem Abbau Subventionen, die in meinem Haushalt, in meinem
der Agrarexportsubventionen geben. Das ist auch Ministerium ressortieren. Das tun die Agrarhilfen
gemeinsame Politik im Kabinett; da gibt es keinen wirklich nicht. Sosehr ich das Thema der Agrarpolitik
Dissens mit dem Landwirtschaftsminister. Das war im faszinierend finde, es ist auch Ihnen geläufig, daß wir
letzten Herbst der Knackpunkt. Wir müssen jetzt in einen ungeheurer tüchtigen Agrarminister haben, der
der Tat, wie Graf Lambsdorff gesagt hat, die französi- sich diese Aufgabe vorgenommen hat.
schen und die irischen Partner dafür gewinnen. (Beifall bei der CDU/CSU)
Es wäre ein Treppenwitz der Geschichte, es wäre Im Gesamtpaket der Subventionskürzungen wird das
ein schwerer Schaden für die deutsche Wirtschaft, Thema Agrarpolitik — ich habe es gerade angespro-
wenn wir es nicht schafften, das GATT-System zu chen — bei der Reduktion der Agrarexportsubventio-
erhalten, d. h. — das meint dieser technische Beg riff nen eine Rolle spielen müssen, vielleicht auch an an-
— das internationale Freihandelssystem, das uns den derer Stelle. Ich komme also gleich darauf zurück.
Zugang zu den internationalen Märkten ermöglicht.
-
Es wäre gut, wenn es gelänge, diese Verlängerung Nach dem Gemeinsamen Markt und GA TT möchte
des Abkommens respektive die Vereinbarungen, die ich als dritte Voraussetzung für das Andauern einer
notwendig sind, bis Anfang nächsten Jahres zu fin- günstigen wirtschaftlichen Entwicklung die Tarifab-
den, weil dann in den Vereinigten Staaten der Wahl- schlüsse nennen: Wir haben bei einem prognostizier-
kampf beginnt. Man kann sich ausrechnen, was das ten wirtschaftlichen Wachstum von vielleicht 3 % in
heißt. Dann wird es kaum noch möglich sein. Westdeutschland und andauernden Schwierigkeiten
— mit beginnendem Aufschwung vermutlich im näch-
(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Aber die Land sten Jahr — in Ostdeutschland Tarifabschlüsse zu
wirtschaft darf nicht geopfert werden!) konstatieren, die das Wachstumspotential deutlich
— Nein. übersteigen.

(Wolfgang Roth [SPD]: Genau dazu hätte ich (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist leider
eine Frage!) wahr!)

— Bitte schön, Herr Roth. Das Problem ist, daß wir von seiten des Staates, des
öffentlichen Dienstes, nicht mit dem besten Beispiel
vorangegangen sind. Aber ich möchte doch von dieser
Stelle aus — bei vollem Respekt für die Tarifautono-
mie — an die Tarifvertragsparteien appellieren, künf-
Wolfgang Roth (SPD): Sie haben zum Bergbau, zu tige Abschlüsse weniger aus der Retrospektive heraus
den Werften — das wird bei uns sicherlich unter- zu tätigen, d. h. im Blick auf möglicherweise ganz
schiedlich bewertet — immer Vorschläge zum Sub- günstiges Wachstum in der Vergangenheit, sondern
ventionsabbau gemacht. Sie wissen, daß wir in der auch im Auge zu haben, wie der Gestaltungsraum in
Landwirtschaft ein Regime haben mit Preisfestsetzun- der voraussichtlichen Entwicklung des kommenden
gen, Mengenregulierung, das unmarktwirtschaftli- oder gar der nächsten zwei Jahre sein wird. Daß wir
cher gar nicht sein könnte. Mich wundert eigentlich, sonst Mittel verfrühstücken, die wir dann nicht für
warum der für Ordnungspolitik zuständige Minister Investitionen zur Verfügung haben, ist unbest ritten.
auch im Hinblick auf GATT nie Vorschläge zu einem Wir sind im Rahmen des Dialogs „Aufschwung Ost" in
veränderten Agrarsystem gemacht hat. Warum haben einem Gespräch mit Arbeitgebern und Arbeitneh-
Sie das eigentlich unterlassen, wo Sie sonst wirklich in mern und haben uns verabredet, darüber in der näch-
jedes Fettnäpfchen treten? sten Runde in einer internen Unterredung zu spre-
(Heiterkeit bei der SPD) chen. Ich finde es gut, daß dieses Gespräch möglich
ist, und hoffe, daß es zu einem guten Ergebnis
kommt.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Jürgen W. Möllemann, Bundesminister für Wirt-
Die vierte Voraussetzung für das Andauern unserer
schaft: Hätten Sie diese Frage, die bis dahin ja noch günstigen wirtschaftlichen Entwicklung und das Ein-
mein Interesse gefunden hatte, nicht mit dieser klei- setzen derselben in den neuen Ländern ist ein erst-
nen Nickeligkeit am Ende versehen, hätte es mir auch
klassiges Ausbildungssystem. Es ist sehr wichtig, daß
Spaß gemacht, sie zu beantworten. es uns über die Jahre gelungen ist, mit dem System
(Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Jetzt unserer dualen Berufsausbildung ein System zu ent-
machen Sie es unwillig?) wickeln, das weltweit bewundert wird, Nachahmer
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2127
Bundesminister Jürgen W. Möllemann
findet und das jetzt auf die neuen Länder übertragen haben wir dieses Programm beschlossen, das — mit
wird. Am Anfang macht das allerdings erhebliche staatlichen Hilfen — vorsieht, auch in überbetriebli-
Schwierigkeiten: von der Ausstattung der Unterneh- chen und außerbetrieblichen Ausbildungsstätten
mungen, vom Übertragen der Ausbildungsordnun- Ausbildungsplätze zu schaffen. Es ist richtig und
gen, von dem Nichtvorhandensein einer großen Zahl bleibt in jedem Fall richtig: besser eine Ausbildung
von Handwerksbetrieben und Handwerksmeistern — und sei es auch in überbetrieblicher oder in außer
her. In den westlichen Bundesländern werden etwa betrieblicher Form — als keine Ausbildung. Deswe-
36 % der Lehrlinge in Handwerksbetrieben ausgebil- gen stellen wir diese Mittel dafür zur Verfügung.
det, in den neuen Ländern geht das derzeit nur bei
(Beifall bei der FDP)
ungefähr 6 %. Hier muß durch partnerschaftliche Hilfe
zwischen den Kammern, aber auch durch staatliche Ich kann Ihre Befürchtung zwar nicht völlig ausräu-
Unterstützung — ein solches Programm hat das Kabi- men, aber wir tun, was wir können.
nett vorgelegt und verabschiedet — dafür Sorge ge-
(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Aber gewisse
tragen werden, daß jeder junge Mensch, der das will,
Voraussetzungen muß ein Meister schon er
auch in den neuen Ländern zum 1. September die
füllen, um überhaupt ausbilden zu kön
Chance bekommt, wieder eine Lehrstelle zu haben.
nen!)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
— Das ist klar.
Dazu müssen auch finanzielle Mittel des Staates ein-
gesetzt werden. Ich appelliere nachdrücklich an alle Der nächste Punkt — damit komme ich dann schritt-
im Wirtschaftsprozeß Tätigen, an die Unternehmun- weise an das heran, was die Herren Wedemeier, Jung
gen wie auch an die Gewerkschaften, mitzuhelfen, und andere angesprochen haben — : Die fünfte we-
daß dieses Ausbildungsziel erreicht wird. sentliche Voraussetzung für ein Andauern der wirt-
schaftlichen Prosperität sind gesunde Staatsfinanzen.
Dabei gibt es einen Punkt.
Meine Damen und Herren, wir sind in der Situation,
(Abg. Stephan Hilsberg [SPD] meldet sich- zu daß wir durch die Einheit, durch das, was wir bislang
einer Zwischenfrage) getan haben, und durch das, was wir demnächst
— Herr Kollege, ich möchte den Gedanken noch — das weiß hier ja wohl jeder — für die Reformstaaten
gerne abschließen — , den der Bundeskanzler heute in Mittel- und Osteuropa werden tun müssen, sowie
morgen in einer Nebenbemerkung angedeutet hat, durch die 17 Milliarden DM für den Golfkrieg zusätz-
den ich hier einmal aufgreifen will. Es gibt zwar nicht liche finanzielle Aufwendungen finanzieren müssen,
die große Zahl von Handwerksmeistern unserer Prä- für die wir zum Teil die Steuern erhöht haben. Das war
gung. Es gibt aber eine große Zahl von Industriemei- mit einem massiven Vertrauensverlust für die Regie-
stern. Ich finde es sehr wichtig, daß jetzt nicht klein- rungskoalition verbunden, weil wir das nicht ange-
kariert und ängstlich über die Details aller Bestim- kündigt hatten.
mungen zur Anerkennung des Handwerksberufs im (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Herr Kollege,
Westen argumentiert wird, sondern daß man einer „ist verbunden" ! )
großen Zahl von Industriemeistern die Möglichkeit
gibt, sich in die Handwerksrolle einzutragen, sich als — War und ist.
Handwerksmeister niederzulassen und eine eigene (Zuruf von der SPD: Und bleibt!)
Existenz aufzubauen.
— Ich täusche mich darüber überhaupt nicht hinweg.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
Wir haben trotzdem so entschieden, weil wir es für
bei Abgeordneten der SPD)
notwendig erachteten, diese zusätzliche Kraftanstren-
Bitte schön. gung zu finanzieren. Aber wir haben in dem Beschluß
der Koalition, in dem die Steuererhöhungen festge-
Stephan Hilsberg (SPD) : Herr Bundesminister, sind legt wurden — am selben Tag, am 23. Februar, in
Sie tatsächlich der Meinung, daß sich das Ausbil- Punkt 7 —, auch gesagt — ich zitiere —:
dungsplatzdefizit von ca. 100 000 Stellen noch in ei- Die Koalitionsparteien bilden eine Arbeitsgruppe
nem Zeitraum von drei Monaten tatsächlich abbauen mit dem Auftrag, zusätzlich zu dem beschlosse-
läßt, und sind Sie nicht auch — zweitens — der Mei- nen Abbau von Steuervergünstigungen und Fi-
nung, daß man dann für eine Übergangszeit nicht nanzhilfen Einsparungen in Höhe von weiteren
hundertprozentig nur das duale Ausbildungssystem ca. 4 Milliarden DM zu erzielen. Dadurch soll sich
befördern darf, sondern nach anderen Lösungsmög- ab 1992 ein Subventionsabbauvolumen von
lichkeiten suchen muß? 10 Milliarden DM ergeben.
Um diesen Beschluß geht es, also nicht um einen Be-
Jürgen W. Möllemann, Bundesminister für Wirt- schluß des Bundeswirtschaftsministers, sondern der
schaft: Solche Prognosen sind immer gewagt. Die Er- Koalition.
fahrung haben wir in der Zeit der geburtenstarken
(Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Tritt
Jahrgänge und des Lehrstellenmangels hier auch ge-
die Koalition zurück, wenn es nicht
macht: daß die Zahl derer, die noch einen Ausbil-
klappt?)
dungsplatz gesucht haben, bis kurz vor September/
Oktober deutlich höher war. Aber ich kann nicht aus- — Herr Kollege Schäfer, es geht um einen Beschluß
schließen, daß Ihre Befürchtung eintritt, daß eine be- der Koalition, und sie wird diesen Beschluß auch um-
stimmte Quote von jungen Menschen auf dem regu- setzen. — Beauftragt worden sind mit der Erarbeitung
lären Weg keinen Ausbildungsplatz findet. Deswegen der entsprechenden Vorschläge zwei Gruppen, eine
2128 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Bundesminister Jürgen W. Möllemann


Gruppe von Finanzpolitikern, der die Kollegen Gat- Jürgen Möllemann, Bundesminister für Wirtschaft:
termann, Faltlhauser und Uldall und weitere angehö- Die Art Ihrer Frage zwingt mich, Vermutungen dar-
ren — auch Kollege Rind, glaube ich —, und eine wei- über zu äußern, was Sie gemeint haben könnten;
tere Gruppe, der die Bundesminister Dr. Schäuble, (Heiterkeit)
Dr. Waigel und Möllemann angehören. Die sind in der
Verantwortung und müssen die Vorschläge bringen. ich tue das jetzt mal. Wenn Sie gemeint haben sollten,
Beraten werden wir darüber am 27. Juni in den Koali- daß die Fixierung von Obergrenzen für bestimmte
tionsfraktionen und am 10. Juli im Kabinett bei der Subventionen bedeute, man müsse die unbedingt
Beratung und Beschlußfassung über den Haushalts- ausschöpfen, dann widerspreche ich Ihnen nach-
entwurf 1992 und über die mittelfristige Finanzpla- drücklich.
nung. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Der Abbau von Subventionen hat nicht nur die Be- der CDU/CSU)
gründung, die ich soeben gegeben habe. Herr Schily, Das wäre ja noch schöner, wenn wir dazu kämen. Das
nicht nur die Frage der notwendigen Balance in den sind Limits, die man nie überschreiten darf, und das
Staatsfinanzen ist zu beachten, die ja nicht hergestellt wollen wir auch nicht.
werden kann über die Fortschreibung der Steuererhö-
Aber jetzt zu dem Punkt, auf den es ankommt. Die
hungen über das bef ri stete Volumen hinaus, auch
einzelnen Kürzungen werden nicht so vollzogen, daß
nicht über weitere Verschuldung, sondern durch Ein-
die Betroffenen das Volumen der Kürzungen förmlich
sparungen.
in einem Schreiben oder in einem Presseartikel mitge-
Es gibt eine zweite Begründung. Subventionen ha- teilt bekommen — das wissen Sie doch ganz genau —,
ben häufig, wenn sie eben nicht degressiv angelegt sondern die Gespräche laufen. Heute nachmittag ist
und zeitlich bef ri stet sind — die Werftensubventionen nach dieser Debatte zu einem Gespräch bei mir der
sind in letzter Zeit zwar degressiv gewesen, aber im- Vorstand der IG Bergbau. Vor 14 Tagen war der Vor-
merhin 30 Jahre in Funktion, und ich weiß nicht, wo stand des Verbandes der deutschen Werftindustrie bei
dann zeitliche Befristungen noch definierbar sind; ir- mir. Mit denen haben wir gesprochen, und das Ge-
gendwo muß man sich, glaube ich, Gedanken ma- spräch wird fortgesetzt. Ich habe beiden gesagt
chen, ob 100 Jahre, 50 Jahre oder vielleicht doch nur — auch den anderen Beteiligten —, daß Entscheidun-
10 oder 5 Jahre in Frage kommen — , auch wettbe- gen noch nicht definitiv getroffen sind; aber die Ver-
werbsverzerrenden Charakter. mutung, die die alle haben, daß unter Subventionsab-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten bau nicht ein Prozeß zu verstehen ist, bei dem sie
der CDU/CSU) anschließend mehr bekommen, ist begründet.
Das ist ja das Problem, mit dem wir uns unter den (Heiterkeit)
Stichworten GATT und EG auseinanderzusetzen ha- Insofern verstehe ich den vorsorglichen Protest, der da
ben. Das sind ja technisch klingende Beg ri ffe, wenn schon angemeldet wird, sehr gut.
wir über die Regeln sprechen; aber dort ist festgelegt,
wie solche staatlichen Eingriffe in den Markt auszu- Aber ich finde es nicht in Ordnung, wenn eine Or-
gestalten, zu befristen, festzulegen sind. ganisation wie die IG Bergbau, die ich ansonsten für
eine sehr vernünftige halte, wissend, daß wir heute
das Gespräch haben, in den vergangenen Tagen mit
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Minister, ge-
Flugblattaktionen von Kahlschlagpolitik sprach. Das
statten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen ist nicht in Ordnung. Sie wissen ganz genau, daß es
sowohl der Ruhrkohle — Stichwort: Optimierungs-
Waltemathe?
konzept — als auch Herrn Berger, dem Vorsitzenden
der IG Bergbau — ich erinnere an seine Rede auf dem
Jürgen Möllemann, Bundesminister für Wirtschaft:
Gewerkschaftstag der IG Bergbau — , als auch der
Bundesregierung um einen Abbau in einer Größen-
Aber mit Vergnügen.
ordnung geht, über die wir verhandeln müssen. Es
geht um eine Reduktion der Fördermenge. Das ist
Ernst Waltemathe (SPD): Herr Bundesminister, Sie
überhaupt nicht umstritten.
haben Ihre Rede damit angefangen, das Haus zu be- Was würden Sie eigentlich sagen, wenn ich Herrn
schwören, doch auch zu sehen, daß wir in der EG sind, Berger oder der Ruhrkohle Kahlschlagpolitik vorwer-
und das einzuhalten, was die EG verabredet. Im Zu- fen würde, nur weil die Mengen abbauen wollen? Das
sammenhang mit dem Thema Subventionsabbau ist etwas, was ich auch will. Über die Größenordnung
scheint das aber nicht ganz zu gelten; denn wenn wir müssen wir uns unterhalten — darüber sprechen wir
uns erstens in diesem Hause einig sind, daß Subven- im Moment — , und zwar zuallererst unter dem Ge-
tionsabbau ein Thema ist, über das man nicht nur sichtspunkt der Energiepolitik.
spricht, sondern bei dem wir auch mitmachen wollen Ich habe Ihnen das Gesamtkonzept im Berliner
und das dann zweitens auch organisieren und deshalb Reichstag vorgetragen. Das ist drei Wochen her. Jetzt
mit Subventionen heruntergehen, drittens das nun stellen Sie sich hier so hin, als hätten Sie die Rede
auch einhalten, was die EG beschlossen hat — wohl nicht gehört. Ich frage mich manchmal wirklich, ob
nicht ohne Zutun der Bundesregierung — , und weit wir diesen rituellen Quatsch machen müssen.
unter dem bleiben, was die EG zugelassen hat, finden
Sie es dann noch redlich, einerseits zu sagen, wir seien (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
nicht EG-freundlich genug, und andererseits zu sa- Herr Jung war dabei, als ich im Reichstag gesagt
gen, wir wollten keine Subventionen abbauen? habe: Zum Oktober wird das energiepolitische Ge-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2129
Bundesminister Jürgen Möllemann
Samtkonzept vorgelegt, wir arbeiten daran. Hier aber ein Gesamtkonzept einzufügen. Deswegen ist die De-
sagen Sie: Machen Sie lieber Ihre Hausaufgaben, batte unvermeidlich auch insoweit neu zu führen.
bringen Sie erst einmal ein Gesamtkonzept!
Wir haben drittens den Zusammenhang, Herr Schä-
Wir arbeiten daran, auch in diesen Gesprächen. fer, den ich vorhin nannte, nämlich daß wir die staat-
Dabei wird die Frage nach dem Energiemix zu stellen lichen Finanzen mit einer ganzen Reihe neuer P ri o ri
sein, und zwar unter den Gesichtspunkten einer ko- -täenkofrish.WPotäenfiazr
stengünstigen, sicheren und umweltfreundlichen will, muß in der Lage sein, zu sagen, wo er an anderer
Energie sowie eines gemeinsamen europäischen Stelle sparen will, wenn er dem Bürger das Geld nicht
Energiemarkts. zusätzlich abnehmen will.
Meine Damen und Herren, wir werden uns inner-
halb von zwei Jahren wundern, wir merkwürdig anti- Sie werden bis zum Herbst Geduld haben müssen.
quiert bestimmte Debatten von vor zwei Jahren wir- Dann wird das Energiegesamtkonzept vorgelegt. Zu-
ken werden, wenn nämlich um uns herum Anlagen- vor laufen die Verhandlungen mit der EG-Kommis-
bauer Kraftwerke der verschiedensten Art errichten sion und mit den Beteiligten.
und sagen werden: Diskutiert ihr in Deutschland ru- Auch der Vorsitzende der IG Bergbau und auch die
hig noch drei Jahre, das intereressiert uns gar nicht Ruhrkohle haben signalisiert — ich wiederhole es —,
mehr; wir liefern euch den Strom von außen! daß die Fördermengen reduziert werden müssen.
Meine Damen und Herren, ich kann doch nichts dafür,
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Minister, ge- daß die deutsche Steinkohle pro Tonne im Moment im
statten Sie eine weitere Zwischenfrage? Schnitt 287 DM kostet, die Tonne Steinkohle auf dem
Weltmarkt nur 97 DM. Die Differenz von 190 DM
zahlt der Steuerzahler respektive der Stromkunde.
Jürgen W. Möllemann, Bundesminister für Wirt-
schaft: Nein. Ich möchte versuchen, einmal einen Ge- Da muß die Frage erlaubt sein, aus welchem Grund
danken im Zusammenhang vorzutragen, obwohl - ich wir denn einen so hohen Anteil von rund 10 Milliar-
Spaß an der Diskussion habe. — Aber wenn Harald den DM Subventionen teils aus dem Haushalt, teils
Schäfer fragt, bitte! über den Kohlepfennig finanzieren sollen und ob es
nicht möglich ist, einen neuen Kohlemix zu definie-
Harald B. Schäfer (Offenburg) (SPD): Herr Mölle- ren. Das ist doch wohl nicht von der Hand zu wei-
mann, gerade weil es in der Energiepolitik wie in kei- sen.
nem anderen Bereich auf berechenbare langfristige (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Rahmenbedingungen, auch was die staatlichen Vor-
gaben angeht, ankommt: Haben Sie denn kein Ver- Letzter Punkt: Herr Bürgermeister — Herr Senats-
ständnis dafür, daß sich angesichts auch dieser Tatsa- präsident — — Auch falsch?
che die Menschen im Ruhrgebiet und im Saarland von
der Bundesregierung schlichtweg verschaukelt füh- (Bürgermeister Klaus Wedemeier [Bremen]:
len müssen, wenn vor der Wahl in einer wichtigen Das ist ganz falsch! — Harald B. Schäfer [Of-
Frage künftiger Energiepolitik — nicht nur der Struk- fenburg] [SPD]: Herr Wedemeier! — Zuruf
turpolitik, nicht nur der Sozialpolitik — exakt das Ge- von der FDP: Der andere heißt Grobecker!)
genteil dessen zugesagt wurde, was uns nach der — Herr Wedemeier und ehemaliger Kollege Grobek-
Wahl von Ihnen als Wortführer angekündigt wird? ker, Sie, Herr Wedemeier, hätten Ihre Rede — abge-
sehen davon, daß sie kaum jemanden beeindruckt
Jürgen W. Möllemann, Bundesminister für Wirt- hat — gar nicht zu halten brauchen, weil Sie von den
schaft: Es ist einfach nicht wahr, was Sie hier sagen. Unternehmungen aus Bremen genau wissen, daß wir
Durch solche Äußerungen, die die Leute hören und uns im Gespräch befinden. Sie wissen ferner, daß es
sehen, wird die Stimmung, von der Sie sprechen, ge- um die Frage geht, wie die Werftenhilfe künftig ge-
schürt. Das ist nicht in Ordnung. staltet werden soll. Wenn ich Sie richtig verstanden
habe, haben Sie wohl nicht eine Heraufsetzung er-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
wartet, sondern möglicherweise auch eine degressive
Ich darf es folgendermaßen darstellen. Sie heben ab Tendenz für möglich gehalten. Darüber wird im Mo-
auf die Vereinbarung zwischen dem Kanzler und den ment gesprochen und verhandelt. Wir werden die
beiden Ministerpräsidenten der Kohleländer: Zahlen, sobald wir uns festgelegt haben werden, pu-
40,9 Milliarden Tonnen bei der Verstromung. Diese blizieren.
Vereinbarung ist unter dem Vorbehalt der Genehmi-
gung durch die EG, und zwar sowohl beihilfemäßig Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, eine
als auch kartellrechtlich, getroffen worden. Das wis- letzte Bemerkung. Ich bin gebeten worden, noch et-
sen Sie ganz genau. was zu den Gesprächen mit der Sowjetunion zu sa-
gen. Bei meinem letzten Besuch haben wir uns in zwei
(Wolfgang Roth [SPD]: Könnte es sein, daß
Punkten festgelegt. Der erste Punkt bet ri fft die Tatsa-
Sie da nachgeholfen haben?)
che, daß die Sowjetunion bei den Firmen in den neuen
Die Gespräche laufen. Bundesländern im Rahmen der besonderen Hermes
Zweitens ist diese Vereinbarung zu einem Zeit- Konditionen nicht nur Waren für 9 Milliarden DM or-
punkt getroffen worden, als die deutsche Energie- dern will — 6 Milliarden DM sind fest kontrahiert —,
politik eine andere war, nämlich die der westdeut- sondern für 12 Milliarden DM. Das ist wichtig und
schen Länder. Wir haben mittlerweile mehr Braun- wirkt sich auf die Beschäftigungssitution der Unter-
kohle als Steinkohle in Deutschland. Das haben wir in nehmungen in den neuen Bundesländern aus.
2130 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Bundesminister Jürgen W. Möllemann


Zweitens hat sich die Sowjetunion mit uns darauf und wie auch immer man sich das technisch vorzustel-
verständigt, daß wir Auseinandersetzungen, wie wir len hat.
sie kürzlich über den Bau von Wohnungen für die (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Ich
abziehenden Soldaten geführt haben, in Zukunft ver- habe nicht von „glitschig" gesprochen!)
meiden wollen. Nach diesen Gesprächen kann ich
hier ohne große Probleme sagen: Wir sind zuversicht- Verehrter Herr Kollege, ich habe mich in meinen
lich, daß ein beträcht licher Teil der zukünftig zu ver- Bemerkungen auf den Hinweis beschränkt, daß ich es
gebenden Lose für Bauprojekte — die nächste Ent- für notwendig halte, die GATT-Verhandlungen durch
scheidung über zehn Orte steht im Juli an — auf deut- den Abbau der Agrarexportsubventionen wieder flott-
sche Unternehmen entfallen wird. Bei den ersten drei zumachen. Es gibt Nationen, die am GATT—System
Projekten sind 50 % der Aufträge, die an deutsche beteiligt sind und deren einzige Einahmequelle die
Unternehmen vergeben worden sind, an ostdeutsche Agrarprodukte sind. Diese Staaten wehren sich ver-
Unternehmen vergeben worden. ständlicherweise dagegen, daß wir unsere teuren
Agrarprodukte mit Mitteln der EG und mit nationalen
Ich warne allerdings vor dem Trugschluß, daß ein
Mitteln heruntersubventionieren. Das müssen wir in
Auftrag an ein Unternehmen — wo auch immer in
einem bestimmten Mindestumfang korrigieren, um
Deutschland — automatisch zur Folge hätte, daß alle ihre Zustimmung zu einer neuen GA TT —Vereinba-
Beschäftigten, die an dem entsprechenden Baupro- rung zu bekommen.
jekt mitarbeiten, aus Deutschland kommen. Das be-
absichtigen weder die Unernehmen hüben noch die Die übrigen EG-Agrarreformvorschläge und auch
Unternehmen drüben. Im Zweifel greifen alle Bewer- die nationalen bitte ich Sie herzlich mit Herrn Kolle-
ber auf dieselben Bauarbeiter aus Bulga rien, der Tür- gen Kiechle, der, wie gesagt, ein exzellenter Agrarmi-
kei und Rumänien zurück; denn sie sind zu anderen nister ist, zu erörtern.
Konditionen zu haben, wodurch es den Unternehmen, Vielen Dank.
die diese in ihre Angebotspalette integriert haben, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
erlaubt ist, entsprechend niedrig anzubieten.
Wir werden das Wettbewerbsverfahren nicht außer
Kraft setzen, damit wir es schaffen, erstens kostengün- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Ich möchte die
stig zu bauen und zweitens den Fahrplan einzuhal- Kollegen und Kolleginnen auf die Möglichkeit der
ten. Kurzintervention aufmerksam machen — man muß
nicht alles durch Zwischenfragen zu erledigen versu-
chen — und den Herrn Bundeswirtschaftsminister
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Auch der Kollege darauf, daß ich nicht die Möglichkeit habe, ihm die
Wieczorek darf noch eine Zwischenfrage stellen, ob- Redezeit zu kürzen, sondern daß er reden kann, so-
wohl Ihre Redezeit schon deutlich überschritten ist. lange er will.
Nun hat die Kollegin Elke Wülfing das Wort.
Jürgen W. Möllemann, Bundesminister für Wirt-
schaft: Ja, ist klar.
Elke Wülfing (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Herren! Sehr geehrte wenige Damen!
Helmut Wieczorek (Duisburg) (SPD): Herr Minister, Seit dem 3. Oktober 1990 sind wir, glaube ich, alle
bevor Sie uns unter den Fingern wegrinnen, möchte gemeinsam für die Schaffung gleicher Lebensver-
ich ganz gern die Frage aufnehmen, die Sie Herrn hältnisse in ganz Deutschland verantwortlich, und
Roth nicht beantwortet haben. Aus dem Kontext Ihrer zwar nicht nur wir Politiker, sondern alle Bürgerinnen
Auffassung zum Subventionsabbau heraus sollte sie und Bürger unseres Landes. Als Politiker können wir
aber noch einmal gestellt werden. Sie haben gesagt, hier nur die richtigen Weichen stellen, und ich glaube,
staatliche Eingriffe in den Markt seien eines der we- das haben wir getan. Auch die SPD wird sicherlich
sentlichsten Handlungskriterien für ihren Abbau. nichts dagegen sagen.
Würden Sie mir unter diesem Gesichtspunkt noch ein-
mal erläutern, wie Sie nicht als Landwirtschaftsmini- Mit Leben erfüllen müssen diese Einheit die Men-
ster, sondern als derjenige Minister, der die Subven- schen selbst. Sie beteiligen sich ja auch ganz unter-
tionen abbauen will und die staatliche Lenkung als schiedlich an diesem Vereinigungsprozeß: als Arbeit-
einen Teil seines Abbaukonzeptes ansieht, die Land- nehmer, als Arbeitgeber, als Investoren, als Verwal-
wirtschaft sehen? tungsbeamte, als Wohlfahrtsverbände, als Kirchen
und natürlich auch als Treuhandmitarbeiter, vor allen
Dingen aber auch als normale Steuerzahler. Letzteres
Jürgen W. Möllemann, Bundesminister für Wirt- möchte ich hier wirklich einmal erwähnen; denn, ich
schaft: Frau Präsidentin, Sie waren schon großzügig glaube, wir Politiker können uns auch bei den Steuer-
genug, mir das jetzt nachzusehen. Ich werde versu- zahlern, die bereit sind, für diese Einheit zu zahlen,
chen, diese Frage so zu beantworten, daß Sie nicht von hier aus durchaus einmal dafür bedanken, daß sie
ungeduldig werden. das auch tun.
(Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Legen (Beifall bei CDU/CSU — Wolfgang Roth
Sie einen Zettel auf die Lampe; dann irritiert [SPD]: Wenn man es nicht macht, zahlt man
sie Sie nicht so!) Bußgeld!)
Gleichzeitig möchte ich bei Herrn Kollegen Wieczo- Statt ständig nach irgendwelchen Schuldigen für
rek nicht das Gefühl wecken, daß ich ihm unter den diese vorübergehend schwierige Lage in den neuen
Fingern wegrinnen will, was auch immer das heißt Bundesländern zu suchen, die natürlich nach Mei-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2131
Elke Wülfing
nung der Opposition hauptsächlich bei uns, nämlich Meine Damen und Herren, wir brauchen statt Indu-
bei der CDU/CSU und bei der FDP, zu finden sind, strielenkungspolitik im Gegenteil noch mehr Ver-
ständnis für marktwirtschaftliche Prozesse. Das ist
(Beifall des Abg. Wolfgang Roth [SPD]) kein Manchester-Kapitalismus, wie der brandenbur-
sollten wir vielmehr alle Anstrengungen unterneh- gische Ministerpräsident, Herr Stolpe, auf dem SPD-
men, um Menschen zu ermutigen, noch mehr Hilfe in Bundesparteitag meinte.
den neuen Bundesländern zu leisten, als es jetzt schon (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord
passiert. neten der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU) Überlebensfähig werden nämlich nur all diejenigen
Bet ri ebe sein, die marktfähige Produkte anbieten
Wir haben hier in Bonn mit einem 100-Milliarden können. Das ist wirklich die wichtigste Voraussetzung
DM-Programm von Investitionszulagen und -zuschüs- für die gute Entwicklung eines Bet ri ebs. Außerdem
sen, mit Existenzgründungsdarlehen, mit Eigenkapi- müssen die Bet ri ebe natürlich die Fertigung sehr
talhilfeprogrammen, mit ERP-Krediten, mit dem ge- schnell modernisieren können, damit auch der An-
samten Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost und vor schluß an die Weltmarktpreise erreicht werden
allen Dingen auch mit den Mitteln zur sozialen und kann.
arbeitsmarktpolitischen Flankierung des schwierigen
Bei aller Wertschätzung für die schwierige Arbeit
Anpassungsprozesses die Weichen richtig gestellt.
der Treuhand, die Enormes leistet, in dieser Situation
(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sehr richtig! bedarf es aber vielleicht doch eines gewissen Umden-
Eine ganze Palette!) kens einiger Treuhand-Sachbearbeiter vor Ort, die
bei der Berurteilung von Sanierungskonzepten den
Wir brauchen keine planwirtschaftlichen Industrie- Aspekt der Marktfähigkeit von Produkten vielleicht
lenkungspolitiken, wie dies die PDS hier zum Teil noch etwas stärker berücksichtigen sollten. Solche auf
geäußert hat; auch bei Herrn Roth waren heute einige dem Markt eingeführten Produkte gibt es in den
-
Anklänge davon zu hören. Wir brauchen vielmehr — neuen Bundesländern in weit größerem Ausmaß, als
da haben wir unsere Schularbeiten ja gemacht — In- manche vielleicht meinen.
vestitionsanreize und vor allen Dingen das vorhin hier
schon angesprochene Instrumenta rium der Gemein- (Vorsitz: Vizepräsident Hans Klein)
schaftsaufgab e zur Verbesserung der regionalen Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe
Wirtschaftsstruktur, Verständnis für die Sorgen und Nöte der Menschen,
die jetzt von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Aber ich
(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sehr gut!) bin auch zuversichtlich, daß wir die Aufgabe schaffen
mit dem wir ja auch in den alten Bundesländern für werden, die wir uns vorgenommen haben, nämlich
die Ablösung von Monostrukturen gesorgt haben. den wirtschaftlichen und den sozialen Neuaufbau in
Gerade diese Monostrukturen — das wissen alle die- den neuen Bundesländern zu leisten. Die Vorausset-
jenigen, die aus dem Gebiet der ehemaligen DDR zungen sind gut. Sie könnten im Grunde gar nicht
kommen, vielleicht noch besser als diejenigen, die besser sein.
nicht von dort kommen — sind in den neuen Bundes- Die Wirtschaft in den alten Bundesländern ist auch
ländern durchaus ein großes Problem. weiterhin — auch noch im ersten Quartal 1991 — auf
Erfolgskurs. Wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion
Ich komme selber aus einem Wahlkreis, der vor
werden auch weiterhin alles Notwendige tun, um bei
20 Jahren noch eine Monostruktur mit Textilindustrie
der Erhaltung und Beschaffung von Arbeitsplätzen
und Landwirtschaft aufwies. In diesem Jahr sind wir
mitzuhelfen. Ich kann Sie alle, die Oppositionsfraktio-
aus der Gemeinschaftsaufgabe deswegen herausge-
nen, hier nur auffordern, sich daran zu beteiligen, statt
fallen, weil sich unsere Wirtschaft so diversifiziert und
immer nur zu meckern. Stimmen Sie doch einfach
so überdurchschnittlich gut entwickelt hat, daß wir
dem Einzelhaushalt zu.
diese Hilfe nicht mehr brauchen. Dies war mit der
Gemeinschaftsaufgabe möglich, die wirk li ch sehr Vielen Dank.
viele Investoren zu uns gelockt hat. Es war aber auch (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
durch das Angebot an sehr vielen guten, jungen, tat-
kräftigen Arbeitnehmern möglich. Ich möchte gerade
auch auf diese Tatsache einmal hinweisen. Vizepräsident Hans Klein: Frau Abgeordnete
Auch in den neuen Bundesländern werden neben Blunck, Sie haben das Wort.
den Investitionsanreizen und der Gemeinschaftsauf-
gabe zur Verbesserung der regionalen Wirtschafts-
Lieselott Blunck (SPD): Herr Präsident! Meine sehr
struktur vor allen Dingen die gut ausgebildeten Ar-
beitskräfte zusätzliche Investoren ins Land bringen verehrten Damen und Herren! Sie haben einen Dank
und helfen, Monostrukturen zu beseitigen. an die Steuerzahler ausgesprochen. Ich denke, eine
Entschuldigung wäre angebrachter gewesen.
Den Vorteil, hier ein Arbeitskräftepotential zu ha- (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste
ben, das uns in den alten Bundesländern inzwischen — Zuruf von der CDU/CSU: Was sagen Sie
fehlt, sollte man vielleicht bei der Werbung von Inve- denn da!)
storen im In- und Ausland noch stärker herausstel-
len. Denn für die abgeforderte Solidarität ist immer die
Wahrheit Voraussetzung; und Sie beginnen die Ab
(Zurufe von der CDU/CSU: Sehr wahr!) forderung der Solidarität mit einer Steuerlüge. Ich
2132 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Lieselott Blunck
denke, dafür wäre eigentlich die Entschuldigung Herrn Huber aus Passau oder von Herrn Bergmann
dringend erforderlich. aus Erfurt.
(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Herr Schmitz
— Zuruf von der CDU/CSU: Na, na! — Hans aus Köln!)
Peter Schmitz [Baesweiler] [CDU/CSU]: Eine Das Gebaren von Banken und Versicherungen ist un-
echt billige Tour!) ser aller Problem und eben grenzenlos. — Sie wollen
Ich will aber zur Verbraucherpolitik reden. Auch eine Frage stellen.
dort wird der König Kunde sehr mies von Ihnen be-
handelt. Im Wirtschaftsministe ri um sitzt er nicht ein- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Rossmanith,
mal am Katzentisch. Beim Landwirtschaftsministe- bitte.
rium wird er für eine verfehlte Agrarpolitik verant-
wortlich gemacht.
Lieselott Blunck (SPD): Ich hoffe, daß das nicht auf
(Zurufe von der CDU/CSU: Na, na!) meine Redezeit angerechnet wird.
Der Umweltminister benutzt ihn als Schutzschild, um
von eigener Tatenlosigkeit abzulenken. Ich nenne da Vizepräsident Hans Klein: Natürlich nicht.
nur das Stichwort „Abfallinfarkt" oder „Entsorgungs-
infarkt". Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU) : Frau Kollegin
Öffentliche Anbieter wie die Post oder die Bahn Blunck, ich darf Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist, daß
kennen den Kunden nur dann, wenn es darum geht, eine Vereinbarung mit den Bundesländern besagt,
ihm sehr unfreundlich in die Tasche zu langen. Der daß mit Ablauf dieses Jahres die Beiträge des Bundes
Postminister spielt heute morgen im Rundfunk Ver- für die Verbraucherschutzverbände auslaufen, und
braucherpolitik und Datenschutz gegeneinander aus. daß der Haushaltsausschuß und gerade die von Ihnen
Ich sage auch nichts Neues, wenn ich die öffentlichen so sehr gescholtenen Koalitionsfraktionen, um den
-
Anbieter wirklich anprangere, weil sie etwa beim Ge- Verbraucherschutzverbänden und den Ländern eine
stalten eines Fahrplans nicht an den Verbraucher, an Hilfe zu geben und die Mittel nicht so abrupt abzu-
den Kunden, an die Kundin denken. schneiden, für die nächsten Jahre dennoch ein Aus-
Ich kann beliebig fortfahren mit Versicherungen, laufen dieses Modells mit 80, 60, 40 und 20 % bereits
mit Banken, — beim Ignorieren der Wünsche ist jeder im Haushalt 1991 festgeschrieben haben?
vorn. Aber wenn es an das Kassieren geht, dann sind (Ina Albowitz [FDP]: Woher soll die Dame
alle da. Nur wenn es um die Verbraucherrechte geht, das denn wissen?)
z. B. um Information, um Vertretung und Beratung,
ziehen alle den Schwanz ein.
Lieselott Blunck (SPD): Genau dagegen verwahre
(Beifall bei der SPD) ich mich, denn es ist unsinnig, daß Sie die Verbrau-
Der Haushalt 1991 ist ein verbraucherpolitisches cherpolitik nicht weiter ausbauen und mehr Geld da-
Armutszeugnis. Klägliche 0,00015 % oder ein Sieben- für in die Hand nehmen. Statt dessen bauen Sie die
tausendstel des Bundesetats ist der Bundesregierung entsprechenden Mittel ab. Damit kann man mitnich-
der Verbraucherschutz wert oder — so müßte ich es ten einverstanden sein.
wohl besser sagen — unwert. Aber auch dieses Tröpf- (Beifall bei der SPD)
chen ist der christlich-liberalen Koalition offensicht- Herr Rossmanith, ab und zu zuhören ist auch eine
lich zuviel. So sollen ab 1992 die Bundesmittel für die ganz schöne Sache.
Verbraucherzentralen noch erheblich gekürzt wer-
den. Vorgeschoben werden verfassungsrechtliche (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Nein! Ich
Gründe. Verbraucherzentralen beraten angeblich nur hätte Sie ja nur fragen wollen, ob — — ! )
individuell und regional begrenzt. Der Wirtschaftsmi-
nister kramt dazu eine völlig veraltete Stellungnahme Vizepräsident Hans Klein: Moment, Herr Kollege. —
aus dem Jahre 1976 hervor. Seine Argumente halten Wenn Sie eine weitere Zusatzfrage stellen wollen,
einer Überprüfung überhaupt nicht stand. dann müssen wir die Kollegin fragen, ob sie bereit ist,
(Zustimmung bei der SPD) sie zu beantworten.
Die Beratung der Verbraucherzentralen, die Schwer-
punktaktionen bis hin zur Verbandsklage und die Lieselott Blunck (SPD): Aber nicht, wenn mir hier
Gesetzgebung auf Bundes- und auf EG-Ebene spre- noch eine Minute verlorengeht.
chen dagegen. Ich will auch ein Beispiel dafür anfüh-
ren. Vizepräsident Hans Klein: Nein, nein. — Ansonsten
können Sie als Fragesteller keinen Kommentar abge-
ben. Wollen Sie noch eine Frage stellen? — Frau Kol-
Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, gestatten legin, sind Sie bereit, die Frage zu beantworten?
Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Rossmanith?
Lieselott Blunck (SPD) : Ja.
Lieselott Blunck (SPD): Ich darf diesen Satz noch zu
Ende bringen; dann gerne. Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU) : Herr Präsident und
Beispielsweise Hormone im Fleisch sind nicht nur Frau Kollegin, ich bedanke mich ausdrücklich. — Ich
das Problem von Herrn oder Frau Jensen aus Pinne darf Sie fragen, ob Ihnen des weiteren bekannt ist, daß
berg, sondern genauso das Anliegen von Frau oder der Verbraucherschutz Aufgabe der Länder ist und
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2133
Kurt J. Rossmanith
daß sich der Bund bisher nur — ich möchte fast sa- Wir machen einmal eine gemeinsame Lese
gen — auf freiwilliger Basis daran beteiligt hat. stunde im Keller!)
(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Verfassungsge
richtsurteil!)
Lieselott Blunck (SPD) : Das ist eine gute Idee.
Lieselott Blunck (SPD): Dies sollte er nicht nur wei-
Viele Verbraucher und Verbraucherinnen, vor al-
terhin freiwillig machen, sondern er sollte endlich er- lem in den fünf neuen Bundesländern, sind von der
kennen, daß es seine Aufgabe ist. In der Ernährungs- sogenannten Sozialen Marktwirtschaft bitter ent-
beratung erkennt er dies ja auch an. täuscht. Verbraucherpolitik könnte helfen, die So-
(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Dann müs ziale Marktwirtschaft glaubwürdiger zu machen.
sen Sie die Verfassung ändern!) Aber dazu bräuchten wir eben eine andere, eine vor-
— Nein, ich muß nicht die Verfassung ändern, son- sorgende, eine aktive Verbraucherpolitik. Das ist eine
dern Sie dürfen die Gründe nicht gerade so herholen, gesamtwirtschaftliche Aufgabe. Dazu muß der Bund
wie es Ihnen paßt, sondern Sie müssen bitte schön ein einmal ordentlich Geld in die Hand nehmen, anstatt
bißchen nach Recht und Ordnung verfahren. sich aus fadenscheinigen Gründen des Rotstiftes zu
(Beifall bei der SPD) bedienen.
Ich lobe mir die Mitglieder des Wirtschaftsausschus- (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Aber an
ses, die insgesamt dem kw-Vermerk, dem Vermerk: fangs haben Sie kritisiert, daß wir zuviel Geld
künftig wegfallend, nicht zugestimmt haben, und ausgeben!)
zwar im Gegensatz zu den Haushältern — es tut mir Ich möchte noch einmal die Zahlen nennen, damit
leid, Herr Rossmanith, denn Sie sind sonst so ein ange- das klar wird: Im Wirtschaftshaushalt geht es um
nehmer Mensch —, 14,5 Milliarden DM, und wir streiten uns im Augen-
(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP) blick um 9,7 Millionen DM. Wir streiten uns also um
- zwei gutplazierte Lottogewinne, und dies zum Scha-
die, wie Sie, die Notwendigkeit der Verbraucherbera-
tung erst gar nicht richtig erkannt haben. den vieler Millionen Bürgerinnen und Bürger in den
neuen und den alten Ländern.
Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, es gibt ein (Beifall bei der SPD — Ernst Hinsken [CDU/
weiteres Begehren nach einer Zwischenfrage des Kol- CSU]: Das sind aber hohe Gewinne, Frau
legen Hinsken. Kollegin! — Zuruf von der CDU/CSU: Einen
solchen Lottogewinn hätte ich gerne!)
Ernst Hinsken (CDU/CSU): Frau Kollegin Blunck, Im übrigen — ich gehe noch einmal auf Ihre Argu-
ist Ihnen bekannt, daß es ein diesbezügliches Urteil mentation ein — zweifelt der Wirtschaftsminister bei
des Bundesverfassungsgerichts gibt, wonach das, was der Existenzgründungsberatung nicht an der alleini-
Verbraucherschutzverbände leisten und was finanzi- gen Bundeskompetenz.
ell zu unterstützen ist, und zwar staatlicherseits, eine
reine Aufgabe der Länder und nicht des Bundes ist? (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Aha!)
Man holt sich eben die Begründungen he rv or, die man
Lieselott Blunck (SPD): Sie müßten dieses Gerichts- gerade gut gebrauchen kann.
urteil bitte noch einmal genau nachlesen. Es ist nicht (Zustimmung der Abg. Ing rid Matthäus-
im Hinblick auf Verbraucherberatung ausgesprochen Maier [SPD] — Zuruf von der SPD: Richtig
worden. Ich werde es Ihnen gerne zuschicken. Dann widerlich!)
erkennen Sie, daß es zwei völlig verschiedene Paar
Schuhe sind und daß es mitnichten die Bundesfinan- Das Lavieren macht u. a. deutlich: Es sind eben
zierung der Verbraucherzentralen berührt. nicht die hehren verfassungsrechtlichen Grundsätze,
die der Bundesregierung die Hände binden; es fehlt in
Herr Hinsken, nun habe ich Sie gerade so gelobt.
diesem Zusammenhang vielmehr schlicht der politi-
Warum machen Sie diesen Schlenker? Er zeigt doch
sche Wille.
nur, daß Ihnen dieses Gerichtsurteil nicht in allen Ein-
zelheiten bekannt ist. (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Leider! —
(Beifall bei der SPD — Ernst Hinsken [CDU/ Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist zu billig,
CSU]: Ich bin ja gefragt worden! — Herr Prä Frau Kollegin!)
sident, da ich gefragt worden bin, sei mir So reiht sich denn die Kürzung der Bundesmittel
gestattet, eine Antwort zu geben!) auch nahtlos in die bisherige verbraucherpolitische
Untätigkeit der Kohl-Regierung ein. Gesetzliche Re-
Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Hinsken, gelungen zum Verbraucherschutz beschränkten sich
selbst wenn die Antwort in Frageform gekleidet ist, schon in den letzten Jahren auf die unvermeidbare
beginnt damit kein Dialog. Wenn Sie eine weitere Umsetzung von EG-Vorhaben. Dabei wurden nicht
Zwischenfrage stellen und die Antwort vielleicht in einmal vorhandene Spielräume zugunsten der Ver-
die Frage einbauen wollen, dann muß die Kollegin braucher genutzt. In nur allzu schlechter Erinnerung
Blunck zustimmen. sind uns das Verbraucherkreditgesetz, die Novellie-
(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Ich möchte nur rung des Versicherungsrechtes und die Produkthaf-
feststellen, daß ich davon ausgehen muß, daß tung. Auf eigene verbraucherpolitische Initiativen
die Frau Kollegin Blunck das Urteil nicht wartet man bei dieser Regierung vergeblich.
richtig gelesen hat! — Rudolf Bindig [SPD]: (Zuruf von der SPD: Wohl wahr!)
2134 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Lieselott Blunck
Auch in der neuen Legislaturperiode hat Minister dung von Schaden Vorrang vor der nachträglichen
Möllemann darin Kontinuität bewiesen. Reparatur erhalten.
(Zuruf von der SPD: Wo ist denn Mölle (Beifall bei der SPD — Kurt J. Rossmanith
mann) [CDU/CSU]: Das gilt auch für die SPD!)

Er hat wirklich keine Gelegenheit außer acht gelas- Gestern war der Tag der Umwelt. Der Schutz der
sen, um seine Abneigung gegen den Verbraucher- Umwelt ist die Überlebensfrage der Menschheit.
schutz unter Beweis zu stellen. In den Koalitionsver- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist richtig,
einbarungen fand sich kein Wort zur Verbraucherpo- das wird nicht bestritten!)
litik.
Das ist uns allen bekannt. Umweltschutz und Ver-
(Zuruf von der FDP: Doch!) braucherschutz gehören untrennbar zusammen,
(Beifall bei der SPD — E rnst Hinsken [CDU/
Unser Antrag auf Errichtung eines Unterausschus-
ses „Verbraucherpolitik" wurde erst wochenlang ver- CSU]: Das ist zweierlei!)
schleppt und schließlich mit fadenscheinigen Begrün- und sie liegen im ureigensten Interesse der Wirtschaft.
dungen abgelehnt. Als Krönung kommt nun die Kür- Es ist Aufgabe der Wirtschaft, Produkte zu entwik-
zung der Haushaltsmittel. Auf einen Nenner gebracht keln, die diese Ansprüche erfüllen.
lautet die Devise des Verbraucherschutzes Marke Berücksichtigt werden muß der gesamte Lebens-
christlich-liberal: Kein Konzept, kein Verbraucher- weg einer Ware mit all seinen Auswirkungen auf an-
ausschuß, kein Geld. dere Bereiche bis hin zur Entsorgung. Es ist Aufgabe
Dabei sind vorbeugende Verbraucherschutzmaß- der Bundesregierung, hierfür die notwendigen Vor-
nahmen und eine umfassende Verbraucherpolitik schriften zu erlassen. Dabei müssen die marktwirt-
notwendiger denn je. In den fünf neuen Bundeslän- schaftlichen Instrumente genutzt werden: Verbrau-
-
dern ist eine umfassende Aufklärung dringend erf or- cherfreundliche Angebote müssen belohnt, verbrau-
derlich, um wenigstens den schlimmsten Auswüchsen cherschädliche Güter müssen verteuert werden.
der Marktwirtschaft à la Wildost zu begegnen. Le- (Rudi Walther [SPD]: Sehr gut!)
bensmittel und Trinkwasser sind mit Schadstoffen be-
lastet. Die Hersteller müssen die Verantwortung für die
Schäden übernehmen, die durch ihre Produkte verur-
(Zuruf von der CDU/CSU: Wo sie recht hat, sacht wurden und werden.
hat sie recht!) (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Dag
Auch bei Gebrauchsgegenständen werden Rückwir- mar Enkelmann [PDS/Linke Liste])
kungen auf Gesundheit und Umwelt immer deutli- Funktionierende Marktwirtschaft, funktionieren-
cher, seien es Putz- und Waschmittel, seien es Holz- der Wettbewerb sind ohne eine starke Nachfrageseite
schutzmittel, sei es Abfall. Die Industrialisierung der undenkbar. Wenn es Minister Möllemann mit der
Lebensmittelproduktion nimmt zu. Wir werden uns Marktwirtschaft ernst meint, muß er die Konsumenten
alle noch wundern, was nach dem 1. Januar 1993 auf und Konsumentinnen in die Lage versetzen, ihre
uns zukommt. Es werden immer mehr Zusatzstoffe in Marktwirtschaft, ihre Rolle als Marktgegengewicht im
den Lebensmitteln sein. Es wird neue Konservie- Rahmen des Wettbewerbs tatsächlich auszuschöp-
rungsmethoden und Produktionsverfahren geben; fen.
das geht bis hin zur Gentechnik. Von allen wissen wir
eigentlich überhaupt nicht, wie sie langfristig wirken (Beifall bei der SPD — Ing rid Matthäus
werden. Maier [SPD]: Das ist Ludwig Erhard! — Ge
genruf des Abg. Josef Grünbeck [FDP]: Jetzt
Verbraucherschutz bei Dienstleistungen ist ein haben Sie etwas von Wettbewerb gehört!
Fremdwort. Darauf habe ich gewartet!)
Große Sorgen bereitet die Ver- und Überschuldung Voraussetzung sind eine sichere Finanzierung und
wachsender Bevölkerungskreise, und kaum einer fin- eine angemessene Ausstattung der Verbraucherinsti-
det sich im Paragraphendschungel von Versiche- tutionen im Bund, in den Ländern sowie auf der inter-
rungsbedingungen und Bankkonditionen zurecht. nationalen Ebene. Es ist eben Aufgabe des Bundes,
Der europäische Binnenmarkt ist geradezu zum Sym- die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Veranke-
bol für die Mißachtung von Verbraucherinteressen rung des Verbraucherschutzes als Pflichtaufgabe mit
geworden. einer entsprechenden finanziellen Ausstattung zu
schaffen. Die Zeiten, in denen die Verbraucher und
Angesichts dieser Probleme ist die Streichung der die Verbraucherinnen mit dem letzten Krümel unter
Bundesmittel für die Verbraucherzentralen ein Schritt dem Tisch abgespeist werden, müssen endgültig pas-
in die falsche Richtung. Sie ist konzeptionslos, und sie sé sein.
ist verantwortungslos.
(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Li
(Beifall bei der SPD) ste)

Gebot der Stunde ist eine Stärkung des Verbraucher-


schutzes und eben die konsequente Durchsetzung
des Vorsorgegedankens. Entsprechend dem Motto Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wort dem
„Vorbeugen ist besser als Heilen" muß die Vermei Abgeordneten Hansjürgen Doss.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2135

Hansjürgen Doss (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kollegen, die Schlammschlacht kann nicht auf
Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Weil wir Dauer Maßstab der politischen Auseinandersetzung
nicht wollen, daß die Verbraucher wie die Krümel sein.
unter dem Tisch angesiedelt sind, haben wir uns nach (Beifall bei der CDU/CSU)
sorgfältiger Beratung entschlossen, daß wir keinen
Unterausschuß einrichten wollen, sondern daß Ver- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Doss, ge-
braucherpolitik Teil der Ausschußarbeit ist. Sie haben statten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten
jederzeit Gelegenheit, diese Themen zur Sprache zu Matthäus-Maier?
bringen, weil sie so wichtig sind. Das Umgekehrte ist
richtig. Hansjürgen Doss (CDU/CSU): Es ist mir eine große
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Freude.
Lieselott Blunck [SPD]: Deswegen kürzen
Sie auch die Mittel!) Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Herr Kollege, da es
Sie offensichtlich immer sehr trifft, wenn wir von Steu-
Wenn Sie erlauben, würde ich eine zweite Vorbe-
erlüge sprechen: Wollen Sie dann wenigstens die
merkung machen. Ich sage Ihnen, daß ich darüber
Meinung der Bürgerinnen und Bürger zur Kenntnis
betroffen bin, als „Steuerlügner" bezeichnet zu wer-
nehmen, die bei einer Infas-Umfrage vom letzten
den.
Samstag die Frage beantworten konnten: Ist der Vor-
(Volker Jung [Düsseldorf] [SPD]: Zu Recht!) wurf der Steuerlüge gerechtfertigt? Und die laut Infas
Ich weiß nicht, wie das mit Ihrem persönlichen Ehrge- zu 72 % mit Ja geantwortet haben?
fühl ist. — Herr Jung, Sie meinen „zu Recht" . — Das (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist eine Sug
macht mich betroffen. gestivfrage!)
Wollen Sie mir zweitens zustimmen, daß Ihre Bemer-
(Dr. Uwe Küster [SPD]: Gut so!)
- kung, Lügen habe etwas mit Wissen oder Nichtwissen
Bei einer so weitgehenden Aussage muß die Betrugs- zu tun, deswegen eine Ausflucht ist, weil kein Thema
absicht da sein. vor der Bundestagswahl so hin und her, vor und zu-
rück und nach rechts und nach links gewendet wurde
(Abg. Ing ri d Matthäus-Maier [SPD] und Abg.
wie dieses Thema, nachdem ich Sie ab September
Wolfgang Roth [SPD] melden sich zu einer
darauf aufmerksam gemacht hatte: Seien Sie vorsich-
Zwischenfrage)
tig; Sie laufen genau wie der Herr Bush in Amerika in
— Eine Sekunde Geduld. Ich kann mir vorstellen, daß eine Steuerlüge,
Sie das, was ich sage, aufregt. Es ist eben die Qualität (Zuruf von der CDU/CSU: Ist das eine Zwi
meiner Aussagen, die Sie dazu bringt. schenfrage?)
(Rudolf Bindig [SPD]: Wenn Sie die Unwahr so daß Sie sich nicht mit Nichtwissen herausreden
heit gesagt haben, waren Sie zu dumm!) können, sondern daß vielmehr festgestellt werden
Wenn Sie erlauben, möchte ich Ihnen das wirklich muß, daß bewußt so gehandelt wurde, — —
einmal sehr deutlich sagen. Frau Kollegin Blunck, es (Zuruf von der CDU/CSU: Fragezeichen!)
hat Ihnen wieder gefallen, zu sagen: Wir lügen. — Sie
haben das auch ununterbrochen auf den Lippen. Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, eine Zwi-
schenfrage, kein Redebeitrag!
(Beifall bei der SPD)
Jetzt möchte ich gern einmal fragen: Was ist dann das, Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Ja. — Finden Sie
was der Herr Jung hier von sich gegeben hat? Sie nicht auch, daß es nichts mit einer Schlammschlacht,
haben Wahlkämpfe bestritten, in denen Sie gesagt sondern mit Ehrlichkeit zu tun hat, hier zu sagen, daß
haben: Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie. — Sie einfach die Unwahrheit gesagt haben?
Sie haben sogar Zeiten vorgegeben. Dann stellt sich (Beifall bei der SPD)
der Herr Jung hier hin und sagt: Über die Dauer der
Nutzung der Kernenergie lassen wir mit uns reden.
Hansjürgen Doss (CDU/CSU) : Die Situation ist für
Das ist ehrenwert. Ich bin auch der Meinung, daß wir Sie durch diesen Beitrag nicht besser geworden.
uns gegenseitig zugestehen müssen, daß man ein biß-
chen schlauer wird. Dies gilt insbesondere in der Zeit (Lachen bei der SPD)
des revolutionären Prozesses, in der wir gegenwärtig Das ist der hilflose Versuch der Begründung einer Dif-
leben. Sie haben die Wahlen in Rheinland-Pfalz mit famierungskampagne.
der Diskriminierung der Union durch diesen Lügevor- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Also, hilflos
wurf gewonnen. Ich bin der Meinung, es muß jetzt bin ich nicht!)
endlich einmal Schluß sein damit. — Ich weiß nicht. — Diese Diffamierungskampagne
(Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von der hat allerdings gewirkt. Wenn ich so etwas mit einem
SPD) Kompliment versehen soll, so kann ich Ihnen bestäti-
gen, daß es Ihnen gelungen ist, daß 72 % der Bevöl-
Unsere Mitbürger wenden sich ob des Umgangs, den kerung der Auffassung sind, die Union habe vor der
wir miteinander pflegen, mit Schaudern ab. Wahl in einer ganz bestimmten Frage mit Absicht die
(Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Jürgen Rütt Unwahrheit gesagt, nämlich in der Frage: Brauchen
gers [CDU/CSU]: Die Lüge mit der Lüge muß wir eine Steuererhöhung oder nicht? Ich halte dies für
aufhören!) unangemessen.
2136 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Hansjürgen Doss
Vor dem Hintergrund der Aussage des Kollegen zuwenig öffentliche Mittel eingesetzt zu haben oder
Jung sage ich Ihnen noch einmal: Sie sind in Wahl- dann zuviel, wie Frau Matthäus-Maier beklagt hat.
kämpfe gezogen und haben gesagt, Sie würden aus Wegen dieser vordergründigen parteipolitischen Dis-
der Nutzung der Kernenergie aussteigen. Dann er- kussion wird unseren aufmerksam zuschauenden
klärt Herr Jung: Über die Dauer der Nutzung der Mitbürgern in den fünf neuen Bundesländern der Ein-
Kernenergie lassen wir mit uns reden. Damit haben druck vermittelt, als ob die schnelle Herbeiführung
Sie vor der Wahl etwas anderes gesagt als nach der vergleichbarer Lebensbedingungen lediglich mit
Wahl. Dann ist dies die Energie-Lüge. Wie um Him- staatlichem Handeln verbunden sei.
melswillen soll das weitergehen, wenn wir in dieser
Qualität miteinander umgehen! (Zuruf von der SPD)
— Aber selbstverständlich.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Vielleicht haben Sie neben der Diskriminierung des Dies verschleiert die eigentlichen Ursachen, ver-
politischen Gegners auch noch ein paar Argumente schweigt die zahlreichen Erfolge des beginnenden
vorzubringen, mit denen Sie Wahlkämpfe bestreiten Aufschwungs und lenkt von der Notwendigkeit pri-
können. Ich halte diese Art der Auseinandersetzung vatwirtschaftlichen Handelns ab. Wenn sich die Kol-
für ausgesprochen unappetitlich. legen in der Opposition darauf beschränken, die
schmerzhaften Einschnitte und die unvermeidbaren
(Beifall bei der CDU/CSU — Jutta Braband Härten des revolutionären Prozesses — und es ist ein
[PDS/Linke Liste]: Sehr interessant!) revolutionärer Prozeß — zu beklagen, muß man da-
— Ich habe altmodische Ehrbegriffe. Dies will ich hinter Methode vermuten.
gerne zugeben. Nehmen Sie endlich zur Kenntnis, daß es in den
Wir beraten heute den ersten gesamtdeutschen neuen Bundesländern auch zunehmend wirtschaftli-
Haushalt, der Grundlage und Voraussetzung für den chen Aufschwung gibt! Selbst ADN — die sind ja
wirtschaftlichen Aufschwung in den fünf- neuen Bun- nicht gerade CDU-nah — kam gestern nicht umhin,
desländern ist. Er ist Grundlage einer weiterhin soli- auf breite Investitionsschübe hinzuweisen. Ich nenne
den und sparsamen Finanzpolitik für Gesamtdeutsch- drei davon stellvertretend: Ein deutsch-italienisch-
land. Die wirtschaftlichen Voraussetzungen für den französisches Ölkonsortium investiert in Schwedt an
Aufschwung in der ehemaligen DDR durch die So- der Oder 1,5 Milliarden DM. Alle Unternehmensgrup-
ziale Marktwirtschaft sind nunmehr gegeben. Wir le- pen von Mannesmann sind in der Zwischenzeit in den
sen und hören immer öfter, daß die vorhandenen fünf neuen Bundesländern. Bosch beschäftigt dort in
Möglichkeiten, neue Betriebe zu gründen, alte zu- der Zwischenzeit rund 4 000 Mitarbeiter.
kunftsfähig zu machen und neue Arbeitsplätze zu Ein persönlicher Freund von mir, ein Mittelständler
schaffen, von Unternehmen und Unternehmern zu- von echtem Schrot und Korn, ein Bäckermeister, der
nehmend genutzt werden. Jetzt gilt es, über die bis- Zukunft hat — —
herigen Ansiedlungs- und Investitionserfolge hinaus
nationale wie internationale Unternehmen zu ermuti- (Zuruf von der SPD: Der Hinsken! — Heiter
gen, Arbeitsplätze zu schaffen, insbesondere aber die keit)
Menschen in den fünf neuen Bundesländern zu ermu- —Nicht der Hinsken. Den Hinsken brauchen wir hier:
tigen, sich selbständig zu machen. Der hält Sie in Schach.
(Zustimmung bei der CDU/CSU) (Erneute Heiterkeit)
Ein breiter wirtschaftlicher Mittelstand ist die Grund- Die Firma Griessen baut in Jena eine der modern-
lage für eine florierende Wirtschaft und für eine frei- sten Backwarenfabriken in ganz Europa.
heitliche Gesellschaftsordnung.
(Lieselott Blunck [SPD]: Aber das ist ein
Um die Freiheit zu zerstören, ist der Mittelstand in
Tropfen auf den heißen Stein!)
der ehemaligen DDR gezielt vernichtet worden. Kon-
sequenz waren die wirtschaftliche Stagnation auf dem — Frau Blunck, aber diese vielen Tropfen sind es.
Niveau der 50er Jahre, die Entmündigung der Bürger Nicht anders kann es gehen.
und die Unfreiheit. Dieser Bäckermeister hat sich bei mir gemeldet und
Die Lehre aus dem weltweiten Scheitern des Sozia- hat gesagt — Sie müssen sich das einmal überlegen — :
lismus ist: Es gibt keinen Ersatz für die Soziale Markt- Bei der dortigen Behörde, bei der er vorstellig gewor-
wirtschaft. Es gibt aber auch keinen Ersatz für die den sei, um eine Baugenehmigung zu erhalten, habe
Ehrlichkeit in der Beurteilung der Volkswirtschaft und man ihm gesagt, man brauche keine Wessis. Wir ha-
deren Ursachen beim Niedergang in den fünf neuen ben dann den zuständigen Kollegen gebeten. Er hat
Bundesländern, und es gibt keinen Ersatz für einen sich eingeschaltet und das in Ordnung gebracht. Aber
berechtigten Optimismus, der bekanntermaßen un- so ist das.
verzichtbar ist, der sozusagen Voraussetzung für un-
In Brandenburg hat sich ein mir bekannter Immobi-
ternehmerisches Handeln ist. lienmakler bemüht, eine Immobilie mit dem Hinter-
In dieser Situation lädt die SPD große Verantwor- grund zu erwerben, daß dort eine Versicherungsge-
tung auf ihre Schultern, indem sie — auch in dieser sellschaft Platz greifen sollte. Er hat gesagt, es ent-
Haushaltsdebatte — die Illusion verbreitet, daß vor stünden 90 Arbeitsplätze. Man hat ihn mit dem Hin-
allem staatliches Handeln die Probleme lösen könnte, weis abgewiesen, das seien viel zu wenig; man habe
indem sie die Bundesregierung diskreditiert, zu spät, eine Arbeitslosenquote von — ich weiß das nicht mehr
zu früh, zu schnell, zu zögerlich gehandelt zu haben, ganz genau — 12 %.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2137
Hansjörgen Doss
Meine Damen und Herren, da gibt es natürlich auch zu machen, brauchen wir jetzt Mutmacher statt Mies-
alte Seilschaften, Unverstand und sonstiges, gegen macher, Handwerker statt Mundwerker.
was da zu kämpfen ist, sowie vordergründige Vor- (Ing ri d Matthäus-Maier [SPD]: Vor allem
schläge. Ehrlichkeit!)
(Zuruf der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann Wenn die SPD schon keine hilfreichen Konzepte hat,
[PDS/Linke Liste]) dann sollte sie wenigstens aufhören, dem Sanitäts-
trupp in Sachen wirtschaftlicher Aufschwung fort-
— Daß ausgerechnet Sie meinen, hier Ihre Stimme während Knüppel zwischen die Beine zu werfen.
erheben zu müssen, wo wir über die Misere reden, die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Sie zu verantworten haben, finde ich schon berner-
kenswert. Ich bedanke mich, auch für Ihre lebhafte Kommen-
tierung meiner Ausführungen.
(Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste]: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ich spreche da, wo ich es für richtig halte!)
Was uns schmerzt, ist, daß Sie nicht mit uns zusam- Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Ausspra-
men die Verantwortung tragen, daß wir nämlich den che.
Menschen in den fünf neuen Bundesländern die Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den
Wahrheit sagen, daß das Aufdecken nicht mehr ren- Einzelplan 09, Geschäfsbereich des Bundesministers
tabler Arbeitsplätze und nicht mehr funktionieren- für Wirtschaft, in der Ausschußfassung? — Wer stimmt
der Betriebe sein muß und daß das ein schmerzhafter dagegen? — Enthaltungen? — Meine Damen und
Prozeß ist. Herren, der Einzelplan 09 ist mit großer Mehrheit an-
genommen.
(Widerspruch bei der SPD — Ingrid Mat
thäus-Maier [SPD]: Sie und Wahrheit! —
Weitere Zurufe von der SPD) - Ich rufe auf:
Einzelplan 16
— Ich weiß nicht, wenn das Ihr Niveau ist!
Geschäftsbereich des Bundesministers für Um-
Der evangelische Theologe Professor Helmut Thie- welt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
licke hat einmal gesagt: Um ein Haus zutreffend zu — Drucksachen 12/516, 12/530 —
beschreiben, darf man sich nicht ununterbrochen im Berichterstatter:
Keller aufhalten. — Ich möchte Sie auffordern: Kom- Abgeordnete Hans Georg Wagner
men Sie die Treppe hoch, gucken Sie einmal in die Michael von Schmude
Werkstatt! Sie funktioniert in großen Teilen schon. Ina Albowitz
Wir sind dabei, dieses Teildeutschland einzurichten.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
(Zuruf von der CDU/CSU: Aber dann wür die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Er-
den sie doch von ihren Vorurteilen befreit! hebt sich dagegen Widerspruch? — Das ist nicht der
Das geht doch nicht! — Gegenrufe von der Fall. Dann ist das so beschlossen.
SPD) Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Hans Georg
Wagner.
— So ist es. — Mit Defätismus und mit Ihrer unent-
wegten Schwarzmalerei, meine lieben Kollegen,
meine sehr verehrten Damen und Herren, nehmen Sie Hans Georg Wagner (SPD): Herr Präsident! Meine
den Menschen die Hoffnung und damit den Anreiz sehr verehrten Damen und Herren! Eigentlich ist es
zum Einsatz und zur Leistung. sehr schade, daß die — —

Unser Handeln setzt konsequent auf die Fortset-


zung des wirtschaftlichen Aufschwungs und deshalb Vizepräsident Hans Klein: Verzeihung, Herr Abge-
auf die Förderung und auf den Ausbau mittelständi- ordneter! — Ich hätte wohl der Form halber vorhin
scher Strukturen in den neuen Ländern. Das belegt noch sagen müssen: „Ich eröffne die Aussprache."
eindrucksvoll dieser Haushalt im Einzelplan 09, Das ist hiermit geschehen.
meine sehr verehrten Damen und Herren. Ich erspare
es Ihnen, daß ich jetzt alles vortrage, was an Segens- Hans Georg Wagner (SPD): Ich wiederhole das auch
reichem darin enthalten ist; denn das ist nachlesbar. gern: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist
Ich habe mich ja verführen lassen, mehr mit Ihnen zu eigentlich schade, daß wir den Haushalt des Bundes-
diskutieren. umweltministers nicht gestern diskutiert haben. Ge-
stern war nämlich der Tag der Umwelt.
Ich bin der Meinung, daß die erfolgreiche Politik der
Bundesregierung Hilfen erst möglich gemacht hat. (Beifall bei der SPD und der FDP — Ina Albo-
Wir werden die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft in witz [FDP]: Da haben Sie recht!)
den alten Ländern erhalten, und wir schaffen die Vor- Es hätte sich angeboten, eine Bilanz dessen zu ziehen,
aussetzungen für den Aufbau einer leistungsfähigen was Herr Töpfer in dem vergangenen Jahr bis zu die-
Wirtschaft in den neuen Ländern. Die ordnungspoliti- sem „Tag der Umwelt" alles versprochen, angekün-
schen Grundlagen und das Geld der vielfältigen För- digt und zugesagt hat, und dies dem Haushaltsent-
derungsmaßnahmen stehen zur Verfügung. Um dar- wurf 1991 gegenüberzustellen. Dann hätte sich sehr
aus einen dauerhaften wirtschaftlichen Aufschwung schnell ergeben, daß kein anderer Einzelplan hin-
2138 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Hans Georg Wagner


sichtlich des Anspruchs und der Wirklichkeit so weit aus „Figaros Hochzeit" herumtanzen. Da heißt es ja:
auseinanderklafft. Töpfer hier, Töpfer da, oben, unten, hinten und vorne,
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Jutta Bra- überall in der Welt. Nur dort, wo er gebraucht wird,
nämlich hier zur Lösung der Probleme, ist er meistens
band [PDS/Linke Liste])
nicht.
Die Tatsache, daß dieser Haushalt nur einen Ge-
samtanteil von 0,33 % am Gesamtbundeshaushalt (Zuruf von der CDU/CSU: Nun kommen Sie
darstellt und dies auch in den nächsten Jahren weiter- doch einmal zur Sache!)
hin so sein wird, bedeutet für mich dreierlei, erstens, Sie fuhren in die Golfregion. Er ist zurückgekom-
daß Herr Kohl seinerzeit dieses Ministe rium aus- men und hat festgestellt: Da brennen die Ölfelder,
schließlich aus Reklamegründen geschaffen hat, um was wir aus dem Fernsehen längst wußten. Aber er
der aufgeschreckten Bevölkerung nach Tschernobyl mußte sich vor Ort überzeugen. Nur, er war nicht in
entsprechend entgegenzukommen, Kuwait, sondern in einem Nachbarland. Genau das-
selbe ist in Brasilia geschehen. Was das Schönste ist:
(Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das glau
Jetzt, Herr Minister, waren Sie in Moskau und haben
ben Sie doch selber nicht!)
dort, wie ich gestern gelesen habe, die Sicherheitsbe-
aber keine Substanz dazugegeben hat, um aus dem denken der Franzosen und der deutschen Regierung
Ministerium das eine oder andere zu machen. gegenüber den Kernreaktoren der Sowjetunion dar-
Der zweite Punkt ist, daß man in Europa nach den gestellt.
Abwesenheitslisten des Herrn Töpfer hier und seinen (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Klaus
Reisen in alle Welt mittlerweile zur Kenntnis genom- W. Lippold [Offenbach] [CDU/CSU]: Ist das
men hat, daß wir ein Umweltministerium haben. falsch?)
(Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Finden Sie Herr Kollege Töpfer, dies ist lobenswert; denn wir
das eigentlich intelligent, was Sie da sa wissen ja alle, daß Tschernobyl immerhin in der So-
gen?) - wjetunion liegt. Aber Sie hätten genauso gut einmal
Der dritte Punkt ist, daß das Festhalten an den alten Ihren französischen Kollegen darauf ansprechen kön-
Ressortzuständigkeiten ihn gar nicht in die Lage ver- nen, wie die Sicherheitsrisiken bei den Kernreakto-
setzt, das umzusetzen, was er verkünden darf, weil die ren in Frankreich, etwa von Cattenom vor unserer
anderen Damen und Herren auf dem Geld sitzen und Haustüre, sind, Herr Minister.
es nicht herauslassen. (Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD) Dieser Tage war zu lesen, daß auch der Super-Phénix
Es ist schon schlimm, daß Herr Minister Töpfer stän- sicherheitsgefährdet ist. Diese Anlage liegt westlich
dig ankündigen darf. Für konkrete Ausführungen ist von uns. Bei Westwind ist der Bet ri eb mindestens ge-
er leider nicht zuständig. Jüngstes Beispiel ist die von nauso gefährlich wie Reaktoren in der Sowjetunion.
Herrn Blüm vorgelegte Asbestverordnung. Es gibt Ich habe gelesen, daß Sie wohl gestern erklärt ha-
eine ganze Se rie von Dingen, die andere Minister ben, daß Sie, was ja auch nicht verwerflich ist, in Bit-
machen dürfen. Aber der inhaltlich eigentlich zustän- terfeld gewesen sind. Heute hat hier ein Kollege schon
dige Umweltminister darf dies nicht. Er ist also, Herr einmal gesagt, der Bundeskanzler und der Außenmi-
Kollege, auf die Funktion eines reinen Ankündi- nister hätten sich in Bitterfeld ziemlich aus dem Fen-
gungsministers reduziert. Vor einiger Zeit hat eine ster gehängt, was eigentlich gesundheitsschädlich ist.
Zeitung ein sehr schönes Bild veröffentlicht, wo Herr Aber auch Sie waren gestern in Bitterfeld und haben
Töpfer vor Litfaßsäulen steht und selbst beklagt — das dort wieder Versprechungen gemacht, ohne einmal
wird ihm so in den Mund gelegt — : Viel zu wenig eine einzige konkrete Zahl zu nennen, wie Sie den
Klebeflächen und Litfaßsäulen — das ist mein Pro- Menschen in dieser Region tatsächlich helfen wollen.
blem bei den Ankündigungen. So ist es in der Tat. Das Ankündigen und Versprechen haben sie völlig
satt, Herr Minister Töpfer.
(Beifall bei der SPD)
Weil auch die Koalition dies erkannt hat, hat sie (Beifall bei der SPD)
unseren Antrag abgelehnt, der eine Reduzierung der Sie haben den Leuten so viel Hoffnung gemacht.
Mittel für Öffentlichkeitsarbeit des Bundesumwelt- Am 20. Februar 1991 wurde berichtet: Töpfer legt ein
ministers vorgesehen hat; denn in der Öffentlichkeits- Umweltprogramm für Ostdeutschland vor, 17 Milliar-
arbeit ist eine Aktion, eine Großflächenplakataktion, den aus Förder- und Kreditmitteln. Wenn man sich
geplant. Nun könnte ich als saarländischer Sozialde- den Haushalt ansieht, dann stellt man fest, daß das
mokrat natürlich sagen: Meine Damen und Herren, genau 400 Millionen DM im Jahre 1991 und 400 Mil-
warum nicht? Ich habe im Saarland ja zwei Großflä- lionen DM im Jahre 1992 sind. Jetzt frage ich Sie, Herr
chenaktionen des Herrn Töpfer erlebt. Nach jeder Minister Töpfer: Wie kommen Sie eigentlich zu diesen
Aktion hatte die CDU 5 % weniger und die SPD 5 horrenden, sicherlich begrüßenswerten Summen,
mehr. Wenn das bundesweit zu verteilen wäre, wäre wenn davon nirgendwo im Bundeshaushalt etwas
das eine auch von uns durchaus akzeptierte Öffent- wiederzufinden ist, zunächst einmal was die Größen-
lichkeitsarbeit. ordnung angeht. Deshalb sage ich: Sie sind auch in
dieser Frage nichts anderes als ein reiner Ankündi-
(Beifall bei der SPD)
gungsminister. Ich habe oftmals den Eindruck, Herr
Meine Damen und Herren, es drängt sich der Ein- Kollege Töpfer, daß Sie mittlerweile gemerkt haben,
druck auf, Herr Kollege Töpfer, daß Sie so wie Figaro daß die Koalition Sie, was Kompetenzzuordnung an-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2139

Hans Georg Wagner


geht, einfach hängen läßt. Wie anders sollte ich mir sion genannt worden, daß man Greifswald und Sten-
die mutige Kri tik an der verfehlten Strategie der CDU dal über neue Reaktoren wieder aufbereiten solle. Ich
erklären, die Sie neulich im Saarland geübt haben? meine, als jemand, der sich der deutschen Steinkohle
Sie haben gesagt, es müsse eine neue Strategie zur ja zumindest ein bißchen verbunden fühlen müßte,
Wiederherstellung der Glaubwürdigkeit der Ch ri st- aus bestimmten Gründen heraus, müßten Sie sich
lich Demokratischen Union gefunden werden. Das doch stärker gegen den weiteren Ausbau der Kern-
kann ja nur aus einer Frustration Ihrer Person entstan- energie wenden und sich für umweltfreundliche
den sein. Wenn sich ein Minister getraut — ich sage Steinkohlekraftwerke, aber vor allem für erneuerbare
das einmal echt saarländisch — , eine Äußerung dieser Energien und für Energieeinsparung einsetzen.
Art zu machen, seinem Kabinettschef ins Gesicht zu Mich bekümmert, daß es Ihnen nicht gelungen ist,
sagen, daß die Strategie falsch ist, ist das schon Mut Ihren Kollegen Riesenhuber etwa davon zu überzeu-
zum Risiko, zumindest in diesem Bereich. gen, daß man die Forschungsmittel für erneuerbare
Meine Damen und Herren, was die Energiepolitik Energien einmal kräftig anheben sollte,
und den Anteil für die Umwelt angeht, habe ich ja (Beifall bei der SPD)
eben schon einmal einen Punkt genannt, nämlich die
Sicherheit der Kernkraftwerke in Frankreich. Aber damit dabei auch wirklich etwas herauskommt. Für
auch ein anderer Aspekt ist zu bedenken. - Herr erneuerbare Energien ist im Haushalt von Herrn Rie-
Minister Töpfer, Sie haben von der CO2-Abgabe ge- senhuber die Summe von 288 Millionen DM vorgese-
sprochen. Sie ist noch nicht sichtbar, aber schon des hen. Für Kernenergie sind aber 1,3 Milliarden DM
öfteren verteilt worden. Die Frage ist: Warum sind Sie vorgesehen. Wie will dann die FDP — Herr Mölle-
nicht in der Lage, einmal konkret die Kosten der mann hat das eben vertreten — oder wie wollen an-
Kernenergie pro Kilowattstunde auszurechnen, die dere von Ihnen glaubwürdig darstellen, daß Sie wirk-
Kosten der Entsorgung, die Kosten der Entwicklung lich den Ausstieg aus der Kernenergie wollen, daß Sie
auf den Grundpreis der Kernenergie drauf zurechnen, umweltverträgliche Energien einsetzen wollen, wenn
um so einmal einen echten Vergleichspreis zur - Stein- diese Summen nicht umgetauscht werden und wenn
kohle zu bekommen? erneuerbare Energien nicht stärker gefördert werden
als die Kernenergie?
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall bei der SPD)
Sie wissen ja, daß jeder kleine Grubenschaden auf
den Kohlepreis draufgerechnet wird. Ich frage Sie: Wo Allein in Ihrem Haushalt, Herr Minister Töpfer, ste-
werden denn die Ölschäden an der Cote d'Azur, im hen 500 Millionen DM für diese Zwecke zur Verfü-
Mittelmeer oder in Kuwait oder sonstwo in der Welt gung, davon aber wiederum 395 Millionen DM für die
auf den Mineralölpreis draufgerechnet, um so auch Endlagerung radioaktiver Abfälle. Also auch dort
einmal Wettbewerbsgleichheit herzustellen? nichts, was erneuerbare Energien angeht, was den
Ausbau von Fernwärmeversorgungssystemen angeht,
(Beifall bei der SPD) was Energieeinsparungsmaßnahmen angeht und und
Dann, meine Damen und Herren, sieht unsere Kohle und. Alles das ist nicht zu finden. Sie begnügen sich
gar nicht so schlecht aus, wie das hier diskutiert mit dem, was man Ihnen als Zubrot im Bundeshaus-
wird. halt zuordnet.
Dabei ist auch zu berücksichtigen, daß es modern- Dabei ist es, was die Kernenergie angeht, noch viel
ste Kraftwerke auf der Basis der Kraft-Wärme-Kopp- dramatischer, als das allgemein dargestellt wird. Sie
lung geben kann, mit großen Umweltschutzmaßnah- wissen genausogut wie ich, daß nach einer Auskunft
men, bei denen die CO2-Belastung wesentlich gerin- des Bundesamts für Strahlenschutz bis zum Jahre
ger ist. 2000 170 000 m3 Atommüll bei uns lagern,
170 000 m3 verstrahltes Mate rial, wobei es weltweit
Von Ihnen, Herr Minister, habe ich bisher nichts noch nicht ein einziges als unbedenklich geltendes
zum Mineralöl gehört, obwohl Mineralöl an der CO2 Endlager für diese Dinge gibt. Da kann man doch
Produktion mit fast 50 % beteiligt ist. Das ist sehr hoch. nicht auch nur gedanklich für den weiteren Ausbau
Aber dabei redet niemand darüber, echte Kosten zu sein!
ermitteln und auch dort einmal zu einer Reduzierung
zu kommen, wie wir Sozialdemokraten das schon seit (Beifall bei der SPD)
Jahren fordern. Man muß vielmehr versuchen, sofort dieses Spiel zu
Sie — nicht Sie, Herr Minister — haben ja eine Mi- beenden, so schnell wie möglich die Energieversor-
neralölsteuer eingeführt, allerdings mit der falschen gung der Bevölkerung aus alternativen Energiearten
Richtung. Wir Sozialdemokraten wollen auch eine sicherzustellen.
stärkere Belastung der Energie und des Mineralöls, Ich frage Sie allen Ernstes: Wo bleibt Ihre ethische
aber mit dem Ziel, damit Umweltschutzinvestitionen Verantwortung auch für künftige Generationen? Es
zu finanzieren, darf doch nicht so sein, daß man den künftigen Gene-
rationen nur ein strahlendes Gefahrenpotential hin-
(Beifall bei der SPD) terläßt, sondern man muß auch für die künftigen Ge-
und nicht mit dem Ziel, den Haushalt zu konsolidie- nerationen heute Verantwortung tragen. Alles andere
ren, wie Sie sich das vorgenommen haben. wäre verantwortungslos.
Sie, Herr Minister, haben neulich in einer Fernseh- Die Organisation des Umweltschutzes bedarf mei-
sendung gesagt: Es gibt kein „Weiter so" in der Kern- ner Ansicht nach einer Konzentration in einem Res-
energie. — Trotzdem ist auch von Ihnen in der Diskus- sort, wenn das wirkungsvoll als Querschnittsaufgabe
2140 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Hans Georg Wagner


betrieben werden soll. Die Zersplitterung der Kompe- Koalition hat Ihnen, Herr Minister, das verweigert,
tenzen ist eine bewußte Irreführung der Öffentlich- was Sie eigentlich gewollt und öffentlich verkündet
keit. Man tut so, als würde die ganze Bundesregierung haben.
an nichts anderes denken als an die Umwelt, weil
(Peter Harry Carstensen [Nordstrand] [CDU/
jeder Minister ein bißchen damit zu tun hat. Aber die
CSU]: Quatsch! — Liselott Blunck [SPD]:
Konzentration und der wirkungsvolle Einsatz der Mit-
Nein, das stimmt!)
tel ist dadurch nicht zu erreichen.
— Das ist in der Tat so. Ich denke, an das Programm
Der Philosoph Hans Jonas hat uns alle ermahnt, zur Sanierung grenzüberschreitender Flüsse und zur
Bewußtsein für die Welt, in der wir leben, zu entwik- Rettung von Nord- und Ostsee haben Sie alles, was
keln. Das Prinzip Verantwortung gilt für die Wirt- Töpfer verkündet hat, abgeblockt. Es ist nun einmal
schaft, für Produzenten, für Konsumenten und für die so; die Drucksachen liegen vor.
Politiker.
Ein wesentlicher Teil der Verschmutzung von Nord-
Über zwei Jahrhunderte sind die Menschen mit der und Ostsee kommt bekanntlich über die Flüsse. Des-
Erde umgegangen, als gäbe es tausend Ersatzerden halb wäre es schon notwendig, daß der Bau von Klär-
irgenwo zu kaufen. Wir brauchen den Frieden mit der anlagen vorangetrieben würde. Aber auch da Fehlan-
Natur jetzt. Sonst beginnt die Natur, uns den Frieden zeige im Bundeshaushalt.
aufzukündigen. Sie hat damit schon begonnen, wenn
(Peter Harry Carstensen [Nordstrand] [CDU/
ich verschiedene Katastrophen in den letzten Jahren
CSU]: 800 Millionen für den Gewässerschutz
richtig einzuordnen versuche.
in der ehemaligen DDR, ist das nichts?)
Der Haushalt des Bundesumweltminister bietet Ich will jetzt nicht mehr über kleinräumige, auf das
keine Lösungsansätze für das Meistern der ökologi- Land bezogene Projekte diskutieren und auch nicht
schen Herausforderungen in allen deutschen Bundes- mehr auf die von der internationalen Kommission zwi-
ländern, auch in den neuen. Es nützt nichts, nur An- schen Frankreich und Deutschland vereinbarte Sanie-
kündigungen zu machen, sondern man muß auch ver- rung der Saar und der Mosel in Höhe von 50 Millionen
suchen, in konkrete Poli tik hineinzugehen; denn öko- DM eingehen. Denn das könnte so gedeutet werden,
logische Politik bedeutet umwelterhaltende ord- als wenn ich Sie als Neu-Saarländer in einer bestimm-
nungspolitische Regelungen und Gesetze sowie ten Art und Weise ansprechen wollte. Das will ich
marktkonforme Energiepreise unter Einrechnung der nicht tun. Ich weiß, Sie haben sich mit dem Programm
realen Umweltkosten des Energieverbrauchs. ohnehin nicht durchgesetzt, und will Ihre Schmerzen
Die Situation in den neuen Bundesländern ist äu- in diesem Bereich nicht noch verstärken.
ßerst betrüblich; Sie haben sich gestern in einem be- Die Bundesregierung hat viele internationale Zusa-
stimmten Gebiet selber davon überzeugen können. gen in vielen Konferenzen gegeben und sie bisher
Durch Altlasten und durch andauernde Umweltzer- nicht realisiert. Ich wäre sehr dankbar, wenn auch die
störungen sind viele Gebiete als Ansiedlungsstand- Koalition sich entschließen könnte, beim Haushalt
orte wenig attraktiv geworden und bedürfen der Sa- 1992 Anspruch und Wirklichkeit etwas einander an-
nierung. Das geht nicht von alleine. zunähern. Dann könnten wir alle, glaube ich, mit dem
saarländischen Bergmannsgruß sagen: Glückauf für
Wie einer Meldung von heute zu entnehmen ist,
die Natur.
kommt neu hinzu, daß jetzt auch zwei sehr große
radioaktiv verseuchte Seen entdeckt worden sind, die (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/
natürlich neue Probleme aufwerfen werden, auch bei GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/
der Finanzierung. Es wird dort von etwa 17 Milliarden Linke Liste)
für die Sanierung gesprochen.
Wer auch für die neuen Bundesländer etwas tun
will, der muß für eine schnelle und effektive Sanie- Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Abge-
rung der Umwelt und durch eine umweltverträgliche ordnete Michael von Schmude.
und leistungsfähige Verkehrsinfrastruktur für attrak-
tive Standortbedingungen sorgen. Das zentrale Ele-
ment vorsorgender Umweltpolitik ist die ökologische Michael von Schmude (CDU/CSU): Herr Präsident!
Erweiterung des Steuer- und Abgabesystems; ich Meine Damen und Herren! Ich habe von dem Kolle-
habe das eben am Beispiel der Mineralölsteuer schon gen Wagner eigentlich erwartet, daß er sich mit dem
einmal verdeutlicht. Haushalt des Bundesministers für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit sachlich auseinander-
Ich meine, daß der Energieverbrauch ein Umsteu- setzt
ern der Energiepolitik erfordert. Sie sind dazu nicht in
der Lage und wohl auch nicht bereit. (Zuruf von der SPD: Das hat er getan!)
Überfällig ist ein Programm zur Sanierung grenz- und nicht den untauglichen Versuch unternimmt, mit
überschreitender Flüsse zur Rettung von Nord- und einem Rundumschlag ins Leere über all das hinweg-
Ostsee. Ich erinnere mich daran, mit welcher Verve zugehen, was im Haushaltsausschuß bei den Beratun-
und mit welchem großen Engagement sich der Um- gen zwischen den Berichterstattern völlig unstrittig
weltminister hinstellte, als die Nordsee verschmutzt war.
war, und sagte, jetzt müsse sofort ein Nordsee-Pro- (Harald B. Schäfer [Offenburg] [FDP]: Er hat
gramm her, und all diese Dinge. Wir haben das in Herrn Töpfer als „Leere" bezeichnet! Das ist
Anträgen im Fachausschuß zusammengefaßt, und die ein starkes Stück!)
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2141

Michael von Schmude


Im Haushaltsausschuß haben die Sozialdemokraten Wir haben Konzepte erarbeitet und angefangen zu
drei Anträge — ganze drei Anträge! — zum Umwelt- handeln.
haushalt gestellt; das war es dann auch schon.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Völlig kon
Auf der Grundlage der von mir erwähnten Be-
zeptionslos, die SPD!)
standsaufnahme hat der Bundesumweltminister be-
— Aber natürlich. Die Begleitmusik sieht ein bißchen reits 1990 500 Millionen DM für über 600 Sofortmaß-
anders aus. Das ist auch kein Wunder; denn unsere nahmen in den neuen Ländern bereitgestellt und
Umweltpolitik, meine Damen und Herren, in den al- auch ausgezahlt. Damit wurden unmittelbare Gefah-
ten Bundesländern war erfolgreich und beispielhaft. ren für die Gesundheit der Bevölkerung, vor allem bei
der Trinkwasserversorgung, abgewendet. Diese Hilfe
(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) hat darüber hinaus etwa 50 000 Arbeitsplätze abgesi-
Jetzt stehen wir vor der Frage: Wie werden wir den chert bzw. neu geschaffen.
völlig neuen Herausforderungen der Umweltpolitik in (Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!)
den neuen Bundesländern gerecht? Es erweist sich als
nützlich, daß wir uns bereits seit Jahren um Gemein- Eine entscheidende Voraussetzung für die Verwirk-
schaftsprojekte mit der früheren DDR bemüht ha- lichung unserer umweltpolitischen Vorhaben ist de-
ben. ren Finanzierung. Herr Kollege Wagner, man macht
es sich zu einfach, wenn man hier nur die nackte Zahl
(Beifall des Abg. Peter Harry Carstensen des Umwelthaushalts nimmt und ins Verhältnis zum
[Nordstrand] [CDU/CSU]) Gesamtetat des Bundes setzt.
Die Bestandsaufnahme der Umweltsituation in den (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
neuen Bundesländern setzte bereits vor Verwirkli-
chung der deutschen Einheit ein. Das Ergebnis dieser Allein die direkt dem Geschäftsbereich des Bundes-
Inventur zeigt uns, mit welchen Dimensionen- wir es ministers für Umwelt zugeordneten Haushaltsmittel
bei dieser Hinterlassenschaft zu tun haben. wachsen in eine Größenordnung von 1,7 Milliarden
DM auf; darin enthalten ist auch das Gemeinschafts-
(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) werk Aufschwung Ost. Noch 1990 betrug der Etat
1,078 Milliarden DM. Der Anstieg beträgt 56 %. Ganz
Dennoch, sage ich, sind Panikmache oder hektischer besonders hervorzuheben ist der Anstieg der Mittel
Aktionismus nicht die richtigen Rezepte, und auch der
für den Umweltschutz in den übrigen Resso rt s. Den
von Herrn Engholm vielgepriesene Reiz der Langsam- Kommunen steht für Umweltinfrastrukturmaßnah-
keit wäre hier fehl am Platze. men ein großes Kreditprogramm zur Verfügung, ins-
(Liselott Blunck [SPD]: Das ist ein sehr ver gesamt 22 Milliarden DM. Die Gemeinschaftsaufgabe
kürztes Zitat, und Sie wissen das, Herr einschließlich der EG-Strukturmittel bringt noch ein-
Schmude!) mal 4 Milliarden DM, und aus der Gemeinschaftsauf-
gabe Agrarstruktur und Küstenschutz kommen noch
Die Folgen des verantwortungslosen Umgangs mit einmal 800 Millionen DM dazu.
der Natur lassen sich nicht von heute auf morgen
beseitigen. Kurzfristig gilt es Umweltschutzsofortmaßnahmen
in den Bereichen Trinkwasserversorgung, Abwasser-
(Liselott Blunck [SPD]: Man muß anfan entsorgung, Luftreinhaltung und Abfallbeseitigung
gen!) zu finanzieren.
Um so wichtiger ist jetzt die von Bundesumweltmi- In großer Einmütigkeit hat der Haushaltsausschuß
nister Klaus Töpfer vorgelegte Konzeption einer na- über den Regierungsentwurf hinaus durch Einspa-
tionalen Solidaritätsaktion ökologischer Aufbau. Wir rung an anderer Stelle weitere 12 Millionen DM für
wollen das Ziel, die Verwirklichung der Umweltein- das Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost bereitge-
heit, schnellstmöglich, aber in realistischen Teilschrit- stellt, so daß der Bundesumweltminister nun über ins-
ten erreichen. Dringender Handlungsbedarf ergibt gesamt 412 Millionen DM aus diesem Programm 1991
sich bei folgenden Maßnahmen: Sanierung von 196 verfügen kann.
der insgesamt 12 250 bisher festgestellten Altlastflä-
chen, Untersuchung der Verdachtsflächen aus dem Wir alle wissen aus der Erfahrung der letzten Mo-
militärischen Bereich der NVA und der Sowjettrup- nate, daß es mit der Bereitstellung von Geld allein
pen, im Elbeeinzugsgebiet Bau bzw. Sanierung von 35 nicht getan ist. Was nützt uns Termingeld auf Konten,
kommunalen und 24 industriellen Kläranlagen, im meine Damen und Herren! Jetzt gilt es, die Umset-
Ostseebereich und im Einzugsbereich von Oder und zung dieser Finanzmittel voranzutreiben. Gerade
Neiße Bau von 27 Kläranlagen, Neubau von 6 200 km auch im Umweltbereich kommt es darauf an,
und Sanierung von weiteren 5 000 km Hauptsammler, schnellstmöglich planerische Voraussetzungen zu
Altanlagensanierung bei 278 bisher erfaßten Groß- schaffen und personelle Hilfestellung zu gewährlei-
feuerungsanlagen und Sanierung von 6 735 luftver- sten. Dabei müssen wir auch die Kapazitäten in der
unreinigenden Anlagen entsprechend der TA Luft. Wirtschaft realistisch einschätzen. Dem zügigen Mit-
Dies alles, meine Damen und Herren, kann nicht so- telabfluß kommt nämlich auch aus arbeitsmarktpoliti-
fort in Ordnung gebracht werden. schen Gründen eine große Bedeutung zu. Hier ist es
vor allem die von der Bundesregierung beschlossene
(Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Aber Förderung der Umweltschutzsofortmaßnahmen, von
anfangen!) der eine belebende Wirkung auf den gewerblichen
2142 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Michael von Schmude


Mittelstand ausgeht, der sich im Osten Deutschlands interessante Vorschläge für eine bessere Zusammen-
neu gebildet hat. arbeit mit den sowjetischen Stellen unterbreitet.
Die langfristige Finanzierung von Sanierungsmaß- (Dr. Klaus-Dieter Feige [Bündnis 90/
nahmen in den neuen Bundesländern wird durch die GRÜNE]: Und was ist mit den amerikani
Einführung einer Abgabe auf Abfälle, wie sie von der schen? — Arnulf Kriedner [CDU/CSU] zu
Bundesregierung jetzt vorgesehen ist, mitgetragen; Abg. Dr. Klaus-Dieter Feige [Bündnis 90/
das gleiche gilt für den Einsatz des Aufkommens aus GRÜNE] gewandt: Die haben solche Sau-
der CO2-Abgabe. Hier dürften insgesamt etwa 10 Mil- ereien nicht hinterlassen!)
liarden DM Finanzmittel jährlich zur Verfügung ste- In der Tat, eine enge Zusammenarbeit ist dringend
hen. vonnöten. Es muß unter allen Umständen vermieden
Darüber hinaus kommt es darauf an, daß auch in werden, daß beim Truppenabzug nicht mehr benö-
Zukunft privates Kapital für den Umweltschutz mobi- tigte Materialien sozusagen in der freien Natur ent-
lisiert wird. sorgt werden.
(Beifall bei der CDU/CSU) Mit welcher Mentalität man an diese Dinge heran-
geht, wird schon erkennbar, wenn man die ersten von
Daß dies möglich ist, wissen wir inzwischen. So sind den Sowjets geräumten Kasernen sieht.
allein durch die TA Luft Investitionen in einer Größen-
ordnung von 35 Milliarden DM veranlaßt worden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Hier ist zwar fast alles besenrein übergeben worden.
(Monika Ganseforth [SPD]: „Arbeit und Um- Aber dafür ist auch alles, bis zum letzten Wasserhahn,
welt" ! ) bis zum letzten Klosettbecken, demontiert und ausge-
Der SPD-Kollege Schäfer hatte in diesem Zusam- schlachtet worden.
menhang Anfang Ap ril angekündigt, daß die Sozial- (Arnulf Kriedner [CDU/CSU]: So ist es!)
demokraten bei den Haushaltsberatungen - beantra-
gen wollten, zusätzliche Mittel für die Umweltsanie- Effektiver Umweltschutz, meine Damen und Her-
rung in Höhe von 5 Milliarden DM zur Verfügung zu ren, läßt sich nur verwirklichen, wenn auch in der
stellen. Bevölkerung ein breites Umweltbewußtsein vorhan-
den ist. Angesichts dieser Binsenwahrheit bleibt es
(Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Ist ge- völlig unverständlich, Herr Kollege Wagner, daß die
schehen!) SPD auch in diesem Jahr Mittelkürzung im Bereich
— Herr Kollege Schäfer, im Haushaltsausschuß ist ein der Aufklärung auf dem Gebiet des Umweltschutzes
solcher Antrag nicht gestellt worden. fordert.
(Peter Harry Carstensen [Nordstrand] [CDU/
(Peter Harry Carstensen [Nordstrand] [CDU/
CSU]: Das kann ja wohl nicht angehen!)
CSU]: Hört! Hört! — Harald B. Schäfer [Of
fenburg] [SPD]: Er ist abgeschmettert wor 1989 hatten wir in diesem Haushaltstitel 16,8 Millio-
den!) nen DM. Im Wahljahr 1990 fuhr die Bundesregierung
den Titel auf 11,9 Millionen DM herunter. Dafür hät-
Offensichtlich hat auch die SPD inzwischen erkannt, ten Sie sich bei der Bundesregierung eigentlich be-
daß für neue Ausgabenwünsche nicht nur Deckungs- danken müssen, daß im Wahljahr ein solcher Rück-
möglichkeiten erforderlich sind, sondern daß Haus- gang zu verzeichnen war. 1991 gehen wir nun auf
haltspläne zur Makulatur werden, wenn die Finanz- 19 Millionen DM, weil wir vor allen Dingen 3,1 Millio-
mittel in der Praxis gar nicht umgesetzt werden kön- nen DM für die neuen Bundesländer zur Verfügung
nen. stellen müssen. Dieses Geld ist angesichts des drin-
(Beifall bei der CDU/CSU) genden Informationsbedürfnisses in den neuen Län-
dern besonders gut angelegt. Insgesamt entfallen
Es ist nämlich absolut unmöglich, alle Altlastenflä- 42,5 % des Umwelthaushaltes auf die neuen Bundes-
chen sofort zu sanieren. Notwendig ist, daß die Unter- länder.
suchungen eingeleitet werden, daß dann eine P riori
-täenfolgbsimwrduaßetmFlächn Ich möchte zwei Maßnahmen hervorheben. Auf der
vorläufig gesichert werden. Das ist unser Konzept. kurz vor Rügen gelegenen Insel Vilm soll eine inter-
nationale Naturschutzakademie eingerichtet werden.
Das Verursacherprinzip, meine Damen und Herren, Dieses 100 ha große Kleinod unter den Naturschutz-
wird auch weiterhin Richtschnur unseres umweltpoli- gebieten wurde in der DDR vom Staatsratsvorsitzen-
tischen Handelns bleiben müssen. Für die Altlasten in den Honecker für p rivate Urlaubszwecke mißbraucht
den neuen Bundesländern hilft uns dieser Grundsatz und für Außenstehende hermetisch abgeriegelt. Wir
in der Praxis allerdings wenig. Ein schlimmes Beispiel machen jetzt aus dieser ehemaligen Bonzeninsel ein
dafür ist die umweltpolitische Konkursmasse der Wis- vorbildliches Naturschutzgebiet.
mut AG; die Sowjets haben uns dies hinterlassen. Hier
— wie in vielen anderen Fällen — ist der Staat gefor- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
dert, weil weder die noch existierenden Bet riebe noch Meine Damen und Herren, diese Rückwandlung dient
gar neue Erwerber oder Kaufinteressenten bereit sind, auch der politischen Hygiene, meine ich.
derartige Lasten zu tragen.
Ein weiterer wichtiger Aufgabenbereich umfaßt
Bezüglich der Altlastenbeseitigung auf sowjeti- den Gewässerschutz. Wir begrüßen die Bereitschaft
schem Militärgelände hat der Bundesumweltminister des Bundesministers für Umwelt, nach erfolgreichem
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2143

Michael von Schmude


Abschluß von MARPOL, dem Demonstrationsvorha- folgreich bleibt. Wir von der Union stimmen dem
ben der Schiffsentsorgung in den alten Bundeslän- Haushalt des Bundesumweltministers gerne zu.
dern, nun auch Mecklenburg-Vorpommern zu helfen, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
um Entsorgungsinfrastrukturen aufzubauen. Hilfen
für laufende Kosten, wie sie die SPD forde rt , wünscht
weder das Land Mecklenburg noch können wir es Vizepräsident Hans Klein: Frau Abgeordnete Jutta
vertreten; denn die Zuständigkeiten des Bundes für Braband, Sie haben das Wo rt.
laufende Kosten sind hier überhaupt nicht gegeben.
Mehr als die Hälfte der Verschmutzung von Nord- Jutta Braband (PDS/Linke Liste): Herr Präsident!
und Ostsee wird durch die Schadstoffzufuhr der Meine Damen und Herren! In dieser Haushaltsde-
Flüsse verursacht. Deswegen nehmen wir uns dieses batte wird eindringlich klargemacht, wie die politi-
Gebietes besonders an. Ich erwähne hier vor allem schen Auseinandersetzungen der letzten Monate, ins-
auch die Elbe-Sanierung. Die Elbe ist der schmutzig- besondere über Fragen von Abrüstung und Frieden,
ste Fluß in Deutschland und gehört auch zu den Fragen des kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen
schmutzigsten Flüssen in Europa. Kahlschlags im Osten dieses Landes und des Umwelt-
Die Forderung des saarländischen Ministerpräsi- schutzes in der gesamten Bundesrepublik, eben nicht
denten Lafontaine, in diesem Zusammenhang nun in einer anderen Verteilung des Haushalts, in einer
auch noch gleich Bundesmittel für die Saar-Mosel- grundsätzlich anderen Herangehensweise ihren Aus-
Sanierung bereitzustellen, so wie Sie sie wiederholen, druck finden. Nicht nur von mir, sondern auch von
Herr Kollege Wagner, entlarvt den Trittbrettfahrer. vielen anderen Kolleginnen und Kollegen der gesam-
Das sind absolut unerwünschte Nebeneffekte. Die ten Opposition wurde mehrmals darauf hingewiesen,
Abwasserbeseitigung fällt grundsätzlich in den Zu- daß es
ständigkeitsbereich der Länder. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Na, na, na, na!)
— hören Sie doch mal zu — , wenn diese unsere Welt
erhalten bleiben soll, nötig ist, von der bisher staatlich
Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege von
sanktionierten Wegwerf- und Verschwendungssucht
Schmude, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
radikal abzurücken und gemeinsam nach anderen
Wegen zu suchen.
Hans Georg Wagner (SPD): Herr Kollege von Daß diese Bundesregierung daran nicht interessiert
Schmude, darf ich Sie darauf aufmerksam machen, ist, belegt dieser Haushalt genau. Statt Arbeit wird
daß dies ein gemeinsamer Antrag der ehemaligen Arbeitslosigkeit finanziert, statt Abrüstung werden
CDU/FDP-Regierung aus Rheinland-Pfalz und des der Golfkrieg und der Aufbau der Bundeswehr im
Saarlandes im Bundesrat war und dort die einstim- Anschlußgebiet finanziert.
mige Zustimmung des Bundesrates gefunden hat und (Arnulf Kriedner [CDU/CSU]: Unerhört!)
daß dies auf dem Beschluß einer internationalen Kom-
Statt Müll zu vermeiden, wird die Müllflut des We-
mission beruht, wonach diese Mittel zur Verfügung zu
stens in den Osten exportiert.
stellen sind.
(Beifall bei der PDS/Linke Liste)
Statt das Sero-Altstoffsammelsystem zu subventionie-
Michael von Schmude (CDU/CSU): Die Bundesre- ren, werden Müllverbrennungsanlagen installiert.
gierung hat hier eine klare Kompetenz, und diese
Ich könnte diese Liste endlos fortsetzen, aber ich
haben wir abzugrenzen. Ich sage noch einmal, Herr
möchte an Hand des Haushaltsplans des Bundesmini-
Kollege Wagner, die Abwasserbeseitigung fällt aus-
schließlich in den Zuständigkeitsbereich der Länder. sters für Umwelt noch auf einige besonders eklatante
Wenn wir den neuen Bundesländern in dem Bereich Verletzungen hinweisen.
der Elbe-Sanierung und auch im Bereich der Werra- Bei näherem Hinsehen wird offensichtlich, daß viele
Entsalzung helfen, so tun wir das aus der Gesamtver- der beim BMU eingestellten Titel eigentlich in den
antwortung für den Wiederaufbau des Umweltschut- Bereich Forschung und Technologie gehören, beson-
zes in den neuen Bundesländern. Hier heißt es für die ders im Bereich Strahlenschutz und Reaktorsicher-
alten Bundesländer zu verzichten, um zu teilen. heit. Von den 181,9 Millionen DM für Forschungsmit-
tel im Umweltministerium sind allein 78,1 Millionen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) DM für Untersuchungen im Bereich Strahlenschutz
Allein das Saarland, meine Damen und Herren, erhält und Reaktorsicherheit vorgesehen.
jährlich 112 Millionen DM aus der Strukturhilfe, die (Peter Harry Carstensen [Nordstrand] [CDU/
auch für diese Zwecke verwendet werden könnte. CSU]: Das ist doch richtig und gut!)
Wenn man aber im Saarland andere Prioritäten setzt,
Die Intention der Bundesregierung ist verständlich:
dann darf man natürlich die Verantwortung für unter-
Einerseits wird der Haushalt des Bundesministers für
lassene Dinge nicht auf den Bund abwälzen.
Forschung und Technologie entlastet, andererseits
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wird der Eindruck erweckt, in diesem Jahr würden
Liebe Kolleginnen und Kollegen, für die Bewälti- besonders viele Mittel für den Umweltschutz zur Ver-
gung der gesamtdeutschen Zukunftsaufgabe Um- fügung gestellt.
weltschutz kommt es entscheidend darauf an, daß (Peter Harry Carstensen [Nordstrand] [CDU/
unsere Soziale Marktwirtschaft nach 9jähriger bei- CSU]: Sie wissen doch, wie das Ministe rium
spielloser Aufwärtsentwicklung auch in Zukunft er- heißt, oder nicht?)
2144 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Jutta Braband
Ich berücksichtige dabei sehr wohl, daß Atomgesetz der Wiederverwertung zugeführt wurden, ist zusam-
und Strahlenschutzverordnung dem BMU Aufgaben mengebrochen. Nach Ansicht der Bundesregierung
zum Schutz der Menschen vor radioaktiver Strahlung ist es unter marktwirtschaftlichen Rahmenbedingun-
zuschreiben. Dies begründet jedoch nicht den erheb- gen nicht funktionsfähig.
lichen Umfang der vorgesehenen Mittel für diesen Was unter marktwirtschaftlicher Eigenverantwor-
Bereich und schon gar nicht die Zielrichtung. Wer in tung herauskommt, zeigen aber die riesigen neuen
solchem Maße Mittel für die Atomtechnologie zur Müllhalden in der Landschaft der früheren DDR.
Verfügung stellt, setzt sich weder mit seinem eigenen Diese Müllhalden werden mit sehr viel Steuergeldern
Sicherheitsmärchen auseinander, noch stellt er sich saniert werden müssen.
der Tatsache, daß 70 % der Menschen in diesem Land
Atomkraftwerke nicht mehr wollen. Sehr viel billiger wäre es gewesen, das Sero-System
weiterhin finanziell zu unterstützen und schrittweise
Wenn schon Forschungsmittel beim BMU angesie- in ein modernes Recyclingsystem auf kommunaler
delt werden, dann mehr Mittel für die Erforschung Ebene und in kommunaler Hand umzubauen, was
und Entwicklung der regenera tiven Energie und de- nebenbei viele Arbeitsplätze sichern könnte.
ren Anwendung.
(Arnulf Kriedner [CDU/CSU]: Was glauben
(Peter Harry Carstensen [Nordstrand] [CDU/ Sie denn, was wir machen?)
CSU]: Wir können die auf Rügen nicht auf- Alles in allem sind wir der Auffassung, daß die hier
stellen, weil das Leitungsnetz nicht klappt!) genannten Bereiche nicht einfach nur zu kurz gekom-
Bei der wichtigen Frage der Entsorgung müssen men sind, sondern es sich hier um eine grundsätzlich
weit mehr als bisher die Großverdiener am Atomstrom andere Prioritätensetzung handelt.
zur Kasse gebeten werden, um auch hier Haushalts- Die PDS/Linke Liste lehnt mit diesem Haushaltsent-
mittel für zukunftsweisende Projekte im Energiebe- wurf auch diese Politik ab.
reich freizumachen, statt neue Atomkraftwerke in
Ich danke Ihnen.
Stendal und Greifswald zu bauen.
(Beifall bei der PDS/Linke Liste)
Für technische Hilfe zur Feststellung der Strahlen-
belastung im Raum Tschernobyl sollen 1,7 Millionen
DM bereitgestellt werden. Wir haben hier mehrmals Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat Frau Abge-
gehört, was für katastrophale Zustände dort herrschen ordnete Ina Albowitz.
und wie viele Menschen dort immer noch sterben oder
leiden. (Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Sie
haben neulich eine gute Rede gehalten!)
Angesichts der vom BUND nur für die Sanierung
der unmittelbar betroffenen Region veranschlagten
mindestens 30 Milliarden DM nehmen sich die Ina Albowitz (FDP): Ich werde mich bemühen, das
7,1 Millionen DM geradezu lächerlich aus. auch heute zu tun, Herr Kollege Schäfer. Ich hoffe,
Nun zu dem zweiten und genauso leidigen Thema, Ihren Anforderungen gerecht zu werden. Wir werden
das ebenso wie die Probleme mit der Atomenergie es ja sehen, wenn die Zeit um ist.
hausgemacht und nicht objektiv notwendig ist. Eine (Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Ich bin
wirklich ernst gemeinte ökologische Abfallpolitik gespannt!)
muß — ich sagte es schon an anderer Stelle — bei der — Der Kollege Wagner war in den letzten Wochen gar
Produktion von Abfall ansetzen und darf sich keines- nicht schlecht; aber heute hat er mich enttäuscht.
falls auf Nachsorgepolitik und moralische Appelle be-
schränken. Dies gilt für den Westen genauso wie für In einem hatte der Kollege Wagner freilich recht.
den Osten. Das muß ich zu Anfang sagen. Auch ich hätte den
Haushalt des Bundesministers für Umwelt, Natur-
Die DDR war ganz sicher kein ökologisches Muster- schutz und Reaktorsicherheit lieber gestern verab-
ländle. schiedet, weil damit sicher ein Stück seines Stellen-
(Zuruf von der CDU/CSU: In der Tat werts dokumentiert worden wäre. Dies kann man ja
nicht!) als Tip an den Ältestenrat für den Fall geben, daß
wieder einmal eine besondere Situation entsteht.
Aber den bestehenden Altlasten — hören Sie gut
zu — , deren Sanierung schwer genug ist, neue, durch (Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Haben
die westliche Produktionsweise mit ihrer Wegwerf- Sie keine Mitglieder im Ältestenrat?)
mentalität hervorgerufene, hinzuzufügen, ist einfach — Doch. Das ist mir aber erst später aufgefallen, Herr
absurd. Das werden Sie doch einsehen. Schäfer. Auch Sie haben ja nicht alles im Blick.
Das Pro-Kopf-Aufkommen von Hausmüll — dies (Dr. Uwe Küster [SPD]: Wir greifen das als
nur als Beispiel — lag 1988 in der DDR noch bei Anregung auf!)
180 kg im Jahr. Heute dürfte es sich dem Aufkommen — Ich sage ja: Als Anregung.
von 370 kg im Westen angenähert haben. Das ist ge-
nau die doppelte Menge. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Danke!)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
(Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste]: Herren! Eine wichtige Aufgabe des Bundesministeri-
Hört! Hört!) ums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Das Sero-Sammelsystem, durch das 1988 noch liegt eindeutig in der Bewältigung der Herausforde-
1,9 Millionen t Altstoffe pro Jahr erfaßt und zum Teil rungen, die durch die deutsche Einheit auftreten. Die
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2145
Ina Alb owitz
Schwerpunkte des Haushalts entsprechend zu setzen diente und jahrzehntelang streng abgeschottet war,
ist dringend notwendig. Wir dürfen nicht der Gefahr einer sinnvollen Nutzung zugeführt.
erliegen,. auf Grund der unmittelbar spürbaren Ich konnte mich vor wenigen Tagen selber vor Ort
Schwierigkeiten im wirtschaftlichen Einigungsprozeß davon überzeugen, daß hier ein guter Weg beschrit-
andere Probleme zu vernachlässigen. ten wird, Herr Minister, der den Naturschutzbelangen
Die ökologische Sanierung der ehemaligen DDR ist voll Rechnung trägt. Über das Konzept, das Sie, denke
sogar Voraussetzung für den wirtschaftlichen Auf- ich, vorlegen wollen, werden wir noch intensiv zu dis-
schwung. Dies hat das Aktionsprogramm „Ökologi- kutieren haben.
scher Aufbau" der Koalitionsfraktionen deutlich ge- Um eine Sofortmaßnahme bitte ich Sie dringend,
macht. Ob es darum geht, daß viele Flächen wegen nämlich die Sanierung der Kläranlage umgehend in
der Bodenvergiftungen für Industrieansiedlungen Ang ri ff zu nehmen. Ich denke, die Bundesrepublik
nicht zur Verfügung stehen, oder ob dringend benö- kann es sich nicht leisten, Mittel für eine solche Natur-
tigte Arbeitskräfte nicht zuletzt wegen der schlechten schutzakademie in ihren Haushalt einzustellen, wäh-
Umweltsituation den Zug in Richtung Westen bestei- rend gleichzeitig ungeklärte Abwässer in die Ostsee
gen — wenn ich die Zeitungen von gestern und heute eingeleitet werden. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn wir
richtig werte, liegen neue Zahlen vor — , immer tref- das sofort realisieren könnten.
fen die Wirkungen den wirtschaftlichen Aufholprozeß (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
der neuen Länder unmittelbar.
Ich habe natürlich eine interessante persönliche
Damit diese Verbesserungen so schnell wie möglich Frage. Ich würde schon gerne wissen, ob auch Herr
erfolgen, enthält das Gemeinschaftswerk „Auf- Gysi damals zu den Bevorzugten gehört hat.
schwung Ost" zahlreiche Umweltschutzsofortmaß-
(Arnulf Kriedner [CDU/CSU]: Oder Herr
nahmen. Diese verringern nicht nur die schlimmen
Modrow!)
akuten Gefährdungen der Gesundheit der Menschen,
vor allem der Kinder, sondern schaffen gleichzeitig
- — Herr Modrow mit Sicherheit. Aber so schön waren
schnelle und sinnvolle Beschäftigungsmöglichkei- die Häuser auch wieder nicht.
ten. (Dr. Dietmar Keller [PDS/Linke Liste]: Sie
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) haben ja keine Ahnung von dem, was Sie da
behaupten!)
Neben den 412 Millionen DM für das Umwelt- — Herr Keller, Sie waren da, nicht wahr? Zu Ihrem
schutzsofortprogramm aus dem Gemeinschaftswerk Ressort gehörte das.
stehen für 1991 u. a. zusätzliche Mittel aus verschie-
denen Kreditprogrammen, die wir aufgelegt haben, (Dr. Dietmar Keller [PDS/Linke Liste]: Sie
für Umweltschutzinvestitionen zur Verfügung. Aus haben keine Ahnung!)
diesen Krediten können hauptsächlich Wasserversor- — Ja; doch. Ich war da. Aber ich gehörte nicht dem
gungs- und Abwasserentsorgungsanlagen gefördert SED-Ministerrat an.
und kann die Finanzierung von zwingenden Deponie- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Dr.
sicherungsmaßnahmen und Projekten zum Schutz vor Dietmar Keller [PDS/Linke Liste]: Aber einer
gesundheitsgefährdenden Industrieanlagen sicherge- Blockpartei! — Dr. Ul ri ch B ri efs [PDS/Linke
stellt werden. Vorrang haben für uns dabei kommu- Liste]: In vorauseilendem Gehorsam! — Ar
nale Vorhaben mit hoher Beschäftigungswirkung. nulf Kriedner [CDU/CSU]: Herr B ri efs, Sie
Doch nicht nur diese Sonderprogramme zeigen, daß waren ja in Holland!)
der Schwerpunkt der Umweltschutzaufgaben in den — Jetzt ist es genug.
neuen Bundesländern liegt. Von den rund 1,7 Milliar-
den DM des Umwelthaushaltes kommen 42,5 % den
Umweltschutzaufgaben in den neuen Bundesländern Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, fahren Sie
zugute. So gibt es z. B. beim Naturschutz einen deut- fort.
lichen Ausgabenzuwachs zugunsten des Beitrittsge-
bietes. Der Umfang der Fördermittel für die Natur-
schutzgroßprojekte steigt von 25 Millionen auf Ina Albowitz (FDP): Einen deutlichen Zuwachs gibt
35 Millionen DM. es auch bei den Umweltforschungsmitteln. Sie stei-
gen um 13 Millionen DM auf 93,6 Millionen DM. Das
Besonders hervorheben möchte ich hierbei, daß auf
ist ein Zuwachs um gut 16 % . Diese Mittel sind vor-
der Insel Vilm vor Rügen eine internationale Natur-
rangig dazu bestimmt, Wege zur Lösung der großen
schutzakademie aufgebaut wird. Der Haushaltsaus-
Umweltprobleme in den neuen Ländern aufzuzeigen.
schuß hat hierfür für das Jahr 1991 insgesamt 2,7 Mil-
Hier muß der Staat vorangehen.
lionen DM und 35 Stellen bewil li gt.
Es kann aber nicht die Aufgabe des Staates sein,
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU auch alle zur ökologischen Sanierung erforderlichen
— Zuruf von der FDP: Außerordentlich posi Mittel aufzubringen. Dies würde die öffentlichen
tiv!) Haushalte völlig überfordern. Allein der Bau von Klär-
— Ich sage noch etwas dazu. Das Beste kommt noch: anlagen in den neuen Ländern kostet nach ersten
Ich war nämlich schon da. Schätzungen rund 50 Milliarden DM, wenn wir in den
neuen Ländern bei der Abwasserklärung denselben
Dadurch werden die Einrichtungen auf der Insel, Standard wie in den alten Ländern erreichen wollen.
die der früheren SED-Regierung als Ferienanlage Die Kosten für die aufwendige Sanierung der Kanali-
2146 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Ina Albowitz
sation, die noch weit höher liegen werden, sind bei Ich muß noch einen Punkt behandeln, bei dem bei
den 50 Milliarden DM nicht einmal eingerechnet. den Haushaltsberatungen kein Konsens mit der Op-
position bestand. Ich vermute, daran hat sich nichts
Um ähnlich hohe Kosten geht es bei der Abfallent- geändert. Herr Wagner hat das schon klargemacht.
sorgung im Beitrittsgebiet. Ca. 50 Deponien sind er-
forderlich, davon etwa 10 für Sonderabfälle. Jede die- Deutliche Meinungsunterschiede gab es bei den
ser Deponien kostet wiederum nach vorläufigen Haushaltsansätzen für die kerntechnische Sicherheit,
Schätzungen etwa 150 Millionen DM. Das ergibt eine Strahlenschutz und Entsorgung. Ihre Bedenken ge-
Finanzbedarf von weiteren rund 60 Milliarden DM hen dahin, Herr Kollege — wenn ich Sie richtig ver-
allein für den Bau von Deponien in den neuen Bun- standen habe; und ich glaube, das habe ich —, daß
desländern. durch diese Ausgaben eine Entscheidung für den
Ausstieg aus der Ke rnenergie immer schwieriger
Bei der Finanzierung dieser Aufgaben müssen wir wird. Doch ich will an dieser Stelle noch einmal darauf
im Osten den gleichen Weg wie in den westlichen hinweisen, daß diese Ausgaben notwendig sind, un-
Ländern gehen. Wir haben die Kohlekraftwerke ent abhängig davon, wie man zur f riedlichen Nutzung der
schwefelt und die Stickstoffemissionen erheblich re- Kernenergie steht.
duziert. Das hat rund 28 Milliarden DM gekostet. Die
öffentliche Hand hat dazu keinen Pfennig beigetra- Der Kenntnisstand des Umweltministeriums, Kolle-
gen. Diese Ausgaben wurden über höhere Strom- ginnen und Kollegen, darf bezüglich der kerntechni-
preise refinanziert, also von den Bürgern getragen. schen Sicherheit nicht hinter dem der beaufsichtigen-
den Landesbehörden und Betreiber zurückbleiben.
(Dr. Wolfgang Weng [Gerungen] [FDP]: Ver-
ursacherprinzip!) (Beifall bei der FDP und CDU/CSU)
Auch beim Bau von Kläranlagen oder Deponien in Sonst sind sachgerechte Entscheidungen des Bundes
den neuen Ländern muß die Finanzierung im Grund- in Zukunft unmöglich. Deshalb sind auch weiterhin
satz über die Gebühren erfolgen, die -jeder Bürger entsprechende Haushaltsansätze in diesem Bereich
nach dem Ausmaß seiner Nutzung zu zahlen hat. Da- notwendig.
bei sollten Finanzierungsmodelle den Vorrang haben,
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU —
bei denen die Anlagen in den ersten Jahren zins- und
Peter Harry Carstensen [Nordstrand] [CDU/
tilgungsfrei bleiben. Die zins- und tilgungsfreien
CSU] zu Abg. Harald B. Schäfer [Offenburg]
Jahre können später bei steigendem Einkommen der
[SPD] gewandt: Hören Sie mal zu!)
Bevölkerung mit höheren Abwasser- oder Müllab-
fuhrgebühren aufgefangen werden. Ähnliches haben Der Forschungsschwerpunkt beim Strahlenschutz
wir hier schon praktiziert. gilt den Folgen des Uranerzbergbaus in Sachsen und
Thüringen sowie der Frage, ob Radon in Wohnhäu-
Wir dürfen uns auch nicht scheuen, im Umwelt-
sern auftritt. Diese Forschungen kann doch niemand
schutz neue Wege zu gehen. Denn bei den ständig
ernstlich zurückschrauben wollen. Damit würde man
steigenden Herausforderungen, die auf uns zukom-
dem Bürger nur schaden.
men, sind keine alten Rezepte gefragt, sondern lau-
fend neue Ideen. Ein weiterer Ausgabepunkt aus den betreffenden
Haushaltstiteln: Das Umweltministerium führt Strah-
Wer hätte sich vor Jahren denken können, daß die
lenschutzmeßaktionen als humanitäre Hilfe in der So-
Entsorgung von Computerschrott einmal ein Problem
wjetunion durch. Insgesamt 100 000 Menschen wer-
werden könnte? Heute, wo die erste Generation der
den untersucht. Es soll herausgefunden werden, wie-
Home-Computer langsam ausrangiert wird, entste-
weit auch diese Menschen noch an den Folgen der
hen immer mehr Unternehmen, die solchen Schrott
Reaktorkatastrophe von Tschernobyl vor fünf Jahren
wiederverwerten und entsorgen.
leiden.
Im Gesamtkonzept der Bundesregierung zur Abfall- Lassen Sie mich zum Abschluß alle — ich habe das
politik ist die Rücknahme und Entsorgung von Elek schon bei der Einbringung des Haushalts gesagt —,
tronikschrott durch den Verkäufer vorgesehen. Die-
die die Höhe des Umwelthaushaltes von der Größe der
ser Produktbereich wird bestimmt nicht der letzte Ausgaben her als nicht angemessen bezeichnen, noch
bleiben, auf den die Kehrtwende in der Abfallpolitik einmal daran erinnern, daß der Bund in den meisten
in Richtung Abfallvermeidung und Abfallverwertung Bereichen des Umweltschutzes nur Gesetzgebungs-
ausgedehnt werden muß. Wir müssen ständig neu kompetenzen hat. Die Ausgaben für den Vollzug der
reagieren und neu mehr daran arbeiten. Gesetze schlagen sich daher in den Haushalten der
Flexibel reagieren müssen wir auch bei den unzäh- Länder und der Gemeinden nieder.
ligen internationalen Herausforderungen im Um- Zudem gilt gerade für den Haushalt des Bundesum-
weltschutzbereich. Dieses Reagieren wird leichter, weltministers vorrangig das Verursacherprinzip. Die
wenn man mit den anderen Nationen in ständigem Kosten der vorsorgenden Vermeidung von Umwelt-
Kontakt steht — insoweit ist Reisen wichtig für den belastungen und der Beseitigung von Umweltschäden
Umweltminister, Herr Wagner — , wenn es um die sind Grundsätzlich von den dafür Verantwortlichen zu
Probleme der Sauberhaltung von Flüssen, den Schutz tragen
der Ozonschicht oder anderes geht.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Die Bundesrepublik beteiligt sich inzwischen finan-
ziell und personell an zehn solcher internationaler und dürfen in Zukunft weniger denn je der Allge-
Sekretariate oder Arbeitsgemeinschaften. meinheit aufgebürdet werden.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2147

Ina Albowitz
Die FDP-Fraktion stimmt dem Haushalt des Bun- vor allem die CO2 verursachenden Wirtschaftszweige,
desumweltministers zu. nämlich den Energie- und den Verkehrssektor.
(Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Zu?) Ich spreche hier bewußt von einem Neuaufbau,
— Zu, Herr Schäfer! nicht von einer Ausstattung der neuen Länder mit
rückständigen Technologien, mögen sie auch, gemes-
Ich danke Ihnen.
sen an der alten DDR, modern erscheinen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Manchmal könnte man meinen, die Regierung
hätte davon etwas beg riffen. Da spricht also Herr
Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Abge- Staatssekretär Stroetmann bei einer Anhörung des
ordnete Klaus-Dieter Feige. BMU Mitte Mai davon, daß die Chancen für eine
nachhaltige Verbesserung der Energieversorgung in
den neuen Ländern nicht vorschnell aus der Hand
Dr. Klaus-Dieter Feige (Bündnis 90/GRÜNE): Herr gelegt werden sollen. Die Bundesregierung möchte
Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! deshalb, daß bei neuen Kraftwerken die derzeit effi-
Ich möchte jetzt nicht über die Insel Vilm reden. Ich zientesten Verfahren angewandt werden, und wi ll da-
finde das Projekt ganz gut. Aber ich weiß auch, daß es für die Technik der Blockheizkraftwerke nutzen. Die
besorgte Bürger gibt, die Angst haben, daß es viel- Kraft-Wärme-Koppelung soll auf breiter Front zur An-
leicht doch wieder ein Objekt für einige wenige bleibt. wendung kommen.
Die Insellage ist da. Wir werden das sehr aufmerksam
kontrollieren und beobachten. Ist dieselbe Bundesregierung, die durch den Strom-
vertrag mit den EVUs zentralistische und ineffiziente
(Peter Harry Carstensen [Nordstrand] [CDU/
Strukturen festgeschrieben und die die ostdeutschen
CSU]: Nur für Naturschützer! Ja, ja, ein gro
Kommunen ein zweites Mal enteignet hat, jetzt auf
ßes Problem!)
einem Wendekurs?
-
— Alles klar! Wunderbar! Vorhin ist in der Diskussion
gesagt worden, daß es jetzt für alle da ist und nicht Man verzeihe mir, wenn ich den Einfluß des Um-
mehr, wie früher, für Privilegierte. Wir wollen das weltministeriums doch als so gering einschätzen muß,
natürlich in irgendeiner Form konsequent durchbrin- daß außer heißer Luft unerfüllter Absichtserklärungen
gen. nichts übrig bleiben wird,
Aber ich wollte gar nicht über Vilm sprechen, son- (Dr. Ulrich Briefs [PDS/Linke Liste]: Sehr
dern ganz allgemein über den Haushalt. Das ist das richtig!)
Risiko, wenn man ein Thema aufgreift, das andere nur
anreißen. um so mehr, da Staatssekretär Stroetmann weiter ver-
Die Umweltpolitik der Regierung orientiert sich kündet, daß die Modernisierung und der Ausbau des
Schienenverkehrs sowie des öffentlichen Personen-
nach meiner Meinung immer noch an den Erkenntnis-
nahverkehrs die energetisch effizienteste und um-
sen der 70er Jahre. Nachsorgende Reparaturanwei-
weltverträglichste Alternative zum Individualverkehr
sungen, deren Vollzug immer komplizierter wird und
deren Grenznutzen zweifelhaft ist, charakterisieren seien. Dazu kommen wir ja nachher noch. Das alles ist
ja richtig. Aber warum weiß dann der Bundesver-
das blinde Herumtapsen in den Umweltangelegen-
kehrsminister nichts davon?
heiten.
Aber selbst beim nachsorgenden Umweltschutz Auch zur Energie haben Sie, Herr Stroetmann,
bleibt das Umweltministerium halbherzig und inkon- nichts Neues zu vermelden. Beim alten Grundsatz der
sequent. Das geht mittlerweile so weit, daß in Sachen Energiewirtschaft soll, wie schon seit langem über
Verpackungsverordnung ausgerechnet das Land grundlegende Veränderungen nachgedacht werden.
Bayern eine Position eingenommen hat, die weiter Einem Beschleunigungsgesetz für diesen Denkprozeß
geht als die des Bundesumweltministers. könnte ich begeistert zustimmen.
Spätestens seit wir Gewißheit über die drohende (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE sowie bei
Klimaveränderung haben, müßte doch allenthalben Abgeordneten der SPD und der PDS/Linke
klar geworden sein — Herr Kollege Schmidbauer Liste)
kann da sicher mit seinen Erfahrungen aus der En-
quete-Kommission Nachhilfe erteilen — , daß der Vielleicht setzen Sie sich einfach einmal mit den
nachsorgende Umweltschutz an seine Grenzen gesto- Anträgen der GRÜNEN zum Thema Energie aus der
ßen ist. 11. Wahlperiode auseinander. Ich glaube, einige tun
Wer vor diesem Hintergrund immer noch glaubt, es das sowieso schon heimlich. Das merkt man immer
genüge, als Klempner durch die Lande zu ziehen, ist wieder. Dort können Sie nämlich nachlesen, wie eine
nicht auf der Höhe der Zeit. Ein Umweltminister, der moderne Energieversorgung ohne Atomkraft mit ei-
von CO2-Reduzierung spricht, aber Wirtschafts-, ner erheblichen CO2-Minderung aussehen kann und
Energie- und Verkehrspolitik nicht entscheidend um- wie man dahin kommt.
gestaltet oder beeinflußt, wird bestenfalls als großer Das vereinte Deutschland hat die Chance, einen
Zampano in die Geschichte eingehen. neuen Geist in der Politik zu praktizieren, der die Her-
Dabei haben wir mit der deutschen Einigung eine ausforderungen des kommenden Jahrhunderts auf-
großartige Chance erhalten. Mitten in Europa existiert nimmt. Wir könnten eine Politik praktizieren, die die
eine Region, die in vielen Bereichen völlig neu aufge- Ökologie und vernetztes Denken zur Richtschnur ih-
baut werden kann und muß. Dieser Neuaufbau betrifft res Handelns macht.
2148 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Dr. Klaus-Dieter Feige


Die Angleichung der Lebensverhältnisse durch blo- schöne Gebiete; Sie werden sie selber schon gesehen
ßes Kopieren der alten Bundesrepublik in den neuen haben.
Ländern dagegen ist ein Schritt in die Vergangenheit.
(Zuruf von der CDU/CSU: In Thüringen
Ich glaube, darin stimmen wir überein.
auch!)
Mit einem klaren und modernen Konzept der Wirt- — Ich bitte vielmals um Entschuldigung, daß ich ge-
schaftsentwicklung könnten die ostdeutschen Länder rade das schöne Thüringen vergessen habe. Es gibt
zum Zugpferd beim Übergang Deutschlands ins dort also wunderbare Gebiete.
21. Jahrhundert werden. High-Tech-Indust rie und
hochqualifizierte Fachleute im Dienstleistungssektor, (Ina Albowitz [FDP]: In Sachsen und Sach
eine saubere Umwelt mit großem Kultur- und Freizeit- sen-Anhalt auch! — Peter Harry Carstensen
angebot, das ist die Alternative zur rückwärtsgewand- [Nordstrand] [CDU/CSU]: Aber auch in
ten Politik der Bundesregierung, die die neuen Länder Schleswig-Holstein! — Weitere Zurufe von
letztlich zum Armenhaus des geeinten Deutschlands der CDU/CSU: Bayern!)
degradiert. Das, was mangels effektiver Technik im Osten, ins-
(Arnulf Kriedner [CDU/CSU]: Das stimmt besondere in den genannten nördlichen Ländern, an
doch gar nicht!) naturnahen Wäldern und Mooren, Seen oder Flüssen
mit einer zum Teil für Europa einzigartigen Flora und
Die Sprachlosigkeit des Bundesumweltministers Fauna erhalten geblieben ist, ist ernsthaft bedroht.
(Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Wer ist Das, was im Westen längst als Frevel gilt, feiert
sprachlos?) angesichts falsch verstandenen Selbstverwaltungs-
— er kann dann ja etwas sagen — bezüglich der Wirt- bestrebens im Osten wahre Orgien. Die letzten Hoch-
schaftskonferenz des Kanzlers am Dienstag zeigt, wie moore werden mit westeuropäischer Effizienz in Wo-
wenig diese Regierung den Zusammenhang zwischen chen beseitigt. Früher waren dafür mangels moderner
Umwelt- und Wirtschaftspolitik begriffen
- hat. Technik Jahre notwendig. In der DDR erworbene Ab-
baukonzessionen für Hochmoore sind bleibendes
Die Unternehmensberatung McKinsey, sicher nicht Recht.
grün unterwandert, hat kürzlich, ganz im Einklang
mit unserer Position, betont, daß bei der Neugestal- Vielerorts versuchen rührige Bürgermeister, die ei-
tung der Infrastruktur in den neuen Ländern ein inno- genen Naturreichtümer zu vermarkten. Ich habe das
vativer Sprung in die nächste Generation erforderlich selber an Kranichbrutplätzen gesehen. Aus Sorge vor
ist. Die sind nicht grün, auch nicht hinter den Ohren. unstillbarer Sammelleidenschaft müssen Adlerhorste
McKinsey erklärt weiter: Dazu bedürfe es des Aus- rund um die Uhr bewacht werden.
baus der Telekommunikation, der Schaffung inte- (Peter Harry Carstensen [Nordstrand] [CDU/
grierter Straßen- und Schienensysteme im Fernver- CSU]: Bei uns auch!)
kehr und kundenfreundlicher Systeme des öffentli-
— Wir haben halt einige mehr. Das liegt daran, daß es
chen Personennahverkehrs. Bei den Energieproble-
Leute gibt, die auch schon vor der Wende darum ge-
men könne die Chance der Stunde Null zum Aufbau
kämpft haben. Das möchten wir nicht verlieren.
kleiner dezentraler Einheiten genutzt werden.
Doch was sind derartige Attacken gegen die Natur
Wenn Sie sich dazu durchringen, diesen zukunfts- im Vergleich zu den Großaktionen, die unter der
weisenden Weg einzuschlagen, können Sie unserer Tarnbezeichnung „Maßnahmegesetz" professionell
Unterstützung gewiß sein. in Angriff genommen werden? In diesem Sinn ist das
Aber die vielen Presseerklärungen des Bundesum- Jahr 1 nach der Wende im Hinblick auf den Verlust
weltministers geben wenig Anlaß zur Hoffnung auf von Naturreichtümern zum 41. Jahr der DDR gewor-
die notwendige politische Weichenstellung in dieser den.
Richtung. Solange das Umweltministerium den An- Ich denke z. B. an die geplante Autobahn von Lü-
schein erweckt, es verfüge über Milliardenbeträge beck nach Sczecin.
aus dem Programm Aufschwung Ost, am Ende aber
gerade eine dreistellige Millionensumme heraus- (Michael von Schmude [CDU/CSU]: Er meint
kommt, betreiben Sie Falschspielerei auf Kosten der wohl Stettin!)
Zukunft, — Stettin. Ich bitte um Entschuldigung, daß ich die
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) altertümliche ostdeutsche Bezeichnung verwendet
habe. Ich weiß nicht, wie man in Sczecin zur Zeit
ganz besonders auf Kosten der Menschen in den sagt.
neuen Ländern.
(Michael von Schmude [CDU/CSU]: Wir
Da tut sich ein weiterer Widerspruch auf: Einerseits sprechen hier noch Deutsch!)
werden also die Geldmittel aufgewandt. Es kommt
Geld, um die riesigen durch die Raubbaupolitik in der Nehmen wir doch nur einmal die Trasse. Sie werden
ehemaligen DDR verursachten Schäden zu beseiti- feststellen, daß es auf dieser Trasse Gebiete gibt, wo
gen. Das erkenne ich an. Auf der anderen Seite hat kein Durchschlupf ist und wo Sie in erheblichem Maß
schon im Sommer 1990 ein skandalöser Ausverkauf Naturschutzgebiete oder ähnliches zerstören müssen.
der verbliebenen Naturschätze begonnen. Es ist nicht Das ist für mich sehr deprimierend.
alles nur schlecht, was dort in den fünf neuen Ländern Auch für das ehemalige Ökosystem Elbauen ist mit
ist. Es gibt insbesondere im Norden, in Mecklenburg, dem Projekt einer Kanalisierung — damit meine ich
in Vorpommern und in Brandenburg, wahnsinnig nicht die Reinigung des schmutzigen Wassers der
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2149

Dr. Klaus-Dieter Feige


Elbe — meines Erachtens das Todesurteil gesprochen. keiten als nach einer derartig grundlosen Polemik zu
Diese Kanalisierung bet rifft aber auch Elbauen auf fragen. Auch das möchte ich ganz deutlich sagen.
niedersächsischem Gebiet. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Bislang gab es in Ostdeutschland keine National- Vielleicht wird Herr Kollege Wagner bis zu den näch-
parks. Die noch auf Anregung von Professor Succow sten Haushaltsberatungen merken, daß hier nicht der
begonnenen Projekte sind jetzt das Ziel der Pläne von Saarländische Landtag, sondern der Deutsche Bun-
Autobahnbauern und sollen sogar Truppenübungs- destag ist; das mag durchaus sein.
plätze oder Schießplätze der Bundeswehr beinhalten
oder beinhalten sie bereits. Selbst Europas bedeu- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —
tendster Kranichrastplatz bei Rügen ist dadurch be- Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Das
droht. war aber unerhört! Das war scheinheilig!)
Wann also, Herr Bundesminister, werden Sie als Wir sind sicherlich gerne bereit, uns an jeder Stelle
über saarländische Probleme zu unterhalten, aber hier
oberster Naturschützer dieses Landes Ihr Veto gegen
geht es im Augenblick darum, daß wir für das geeinte
derartige Pläne von Naturvernichtung einlegen?
Deutschland einen umweltpolitischen Neuansatz fin-
(Beifall bei der PDS/Linke Liste) den müssen, und darüber wollte ich heute vor dem
Gut, Sie werden sagen, daß Naturschutz im wesent- Hintergrund dieses Haushalts auch hier sprechen.
lichen Sache der Länder ist. Auch wenn mancher sagt, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Mecklenburg brauche kein Geld, frage ich: Wie sollen
sich die noch nicht hinreichend wettbewerbsfähigen
Länder wie Mecklenburg und Vorpommern ange- Vizepräsident Hans Klein: Herr Bundesminister, ge-
sichts der schier unüberwindbaren und sich weiter statten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten
verschärfenden sozialen und ökonomischen Situa- Wagner?
tionen im Osten diesen Naturschutz leisten können?
-
Bei allem Bedürfnis nach föderalen Strukturen auch Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister für Umwelt, Na-
in der ehemaligen DDR bedürfte es hier, Herr Töpfer, turschutz und Reaktorsicherheit: Aber sehr gerne.
Ihrer ungeteilten Aufmerksamkeit und Ihres „persön-
lichen" Schutzes. Hans Georg Wagner (SPD): Wenn der saarländische
Ich habe aber den Eindruck, daß das Urteil über das Landtag so uninteressant war, Herr Minister: Warum
Sein oder Nichtsein von Naturschutzgebieten nicht wollten Sie seinerzeit dann mit Gewalt hinein?
mehr von Ihrem Ministe rium beeinflußt werden (Peter Harry Carstensen [Nordstrand] [CDU/
kann. CSU]: Um die Kultur zu verbessern!)
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, verstehen
Sie die in Ostdeutschland verbliebenen Naturschön-
Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister für Umwelt, Na-
heiten und -kostbarkeiten auch als ein von allen Na-
turschutz und Reaktorsicherheit: Herr Abgeordneter
turfreunden im Osten schon lange verteidigtes Ge-
Wagner, ich frage Sie doch auch nicht, warum Sie mit
schenk an Deutschland, das nun auch unserer ge- aller Macht daraus weggegangen sind.
meinsamen Obhut bedarf.
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)
(Beifall im ganzen Hause)
Es geht also an allererster Stelle um den ökologi-
Um die Eupho ri e zu stoppen: Leider ist im Haushalt schen Aufbau. Dieser ökologische Aufbau ist eine So-
des Bundesumweltministers davon nichts zu erken- lidaritätsaktion, die wir nun wirklich gemeinsam mit
nen. Kommunen, mit Ländern und hier auf der Bundes-
Wir lehnen ihn deshalb als selber sanierungsbe- ebene in Angriff nehmen müssen, der Menschen we-
dürftig ab. gen, denn die Menschen in den neuen Bundesländern
Danke. haben mit ihrer Gesundheit den Raubbau in der ehe-
maligen SED-regierten DDR bezahlt, und auch der
(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, bei der
wirtschaftlichen Entwicklung dieser Länder wegen;
SPD und der PDS/Linke Liste)
beides gehört zusammen.
Dabei sind zwei Hauptrichtungen ganz sicher jetzt
Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wort dem schon deutlich. Auf der einen Seite ist es ganz unstrit-
Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reak- tig, daß sich die ökologische Situation, daß sich die
torsicherheit, Herrn Dr. Klaus Töpfer. Umweltbelastung in den fünf neuen Bundesländern
(Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Rede nachhaltig verbessert hat. Etwas anderes wäre auch
gewandt, aber sprachlos!) ganz überraschend, denn das, was wir auf der wirt-
schaftlichen Seite beklagen, ist natürlich ein Positi-
vum auf der ökologischen Sèite. Was ist in der Wi rt
Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister für Umwelt, Na- -schaftrukdemlignDRwefal-
turschutz und Reaktorsicherheit: Herr Präsident! len? Weggefallen sind die in ganz besonderer Weise
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Bereich ökologisch belastenden Bet riebe, weggefallen ist Es-
der Umweltschutzpolitik sollte man wie in kaum ei- penhain, weggefallen sind die Karbidöfen von Buna,
nem anderen Politikbereich auch in diesem Hohen weggefallen sind die entsprechenden Anlagen in Bit-
Hause darauf achten, die Polemik zurückzulassen. So terfeld und Leuna, weggefallen sind die entsprechen-
werde ich mich auch ungeachtet der Rede des Kolle- den Öfen und Anlagen in Mansfeld. Das heißt, es ist
gen Wagner heute bemühen, eher nach Gemeinsam- das weggefallen, was eine unglaubliche ökologische
2150 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Bundesminister Dr. Klaus Töpfer


Schweinerei gewesen ist und was die menschliche Wagner sagt uns später, wie hoch der Anteil im Saar-
Gesundheit in Frage gestellt hat. land ist.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Ein
schönes Eigentor! — Zurufe des Abg. Hans
Meine Damen und Herren, auch ich hätte mir ge- Georg Wagner [SPD])
wünscht, diesen Haushalt gestern zu diskutieren.
Aber ich muß Ihnen auch sagen: Es wäre gut gewe- — Jetzt sagt er schon „Saarländer" . Vorhin hat er es
sen, wenn der eine oder andere gestern am Tag der noch beim „Neu-Saarländer" belassen. Dies zeigt die
Umwelt mit auf dem Marktplatz in Bitterfeld gewesen Offenheit der SPD im Saarland gegenüber den Men-
wäre. schen, die dorthinkommen und daran mitarbeiten
wollen, das Land da herauszubringen. — Aber das ist
(Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Haben wieder eine andere Frage.
Sie jemand eingeladen?)
(Beifall bei der CDU/CSU)
—Ich habe mich dahin auch eingeladen, es kann sich
jeder miteinladen. Meine Damen und Herren, wir müssen also die In-
frastruktur verändern; denn in den neuen Bundeslän-
Auf diesem Marktplatz ist einer zu mir gekommen dern wird bisher nur zu 20 % über solche Kläranlagen
und hat gesagt: Ich wohne in einem kleinen Dorf auf geklärt. Ich sage dies ganz schlicht: In den wenigen
der anderen Seite von Bitterfeld, und ich habe in die- Monaten seit der deutschen Einheit werden in den
sem Jahr zum erstenmal wieder den Petersberg gese- neuen Bundesländern bereits mehr Kläranlagen ge-
hen. — Es ist nicht der Petersberg bei Bonn gemeint; baut, als in 40 Jahren SED-Regierung insgesamt exi-
jeder, der aus der ehemaligen DDR kommt, weiß was stiert haben.
der Petersberg ist. Es ist die höchste Erhebung auf
diesem Breitengrad bis hin zum Ural, nur wenige Me- (Beifall bei der CDU/CSU)
ter hoch. Er hat gesagt: Zum erstenmal war- nicht mehr
diese Dunstglocke über Bitterfeld. Ich habe war den Wenn man mich nun fragt, was ich denn in Bitter-
Arbeitsplatz verloren, aber es war richtig, daß ihr dies feld gemacht hätte — — Nebenbei: Man hat mir auch
hier zugemacht habt, denn das war der Gesundheit gesagt, ich sei ja wohl nicht zum erstenmal dort gewe-
der Menschen nicht mehr zumutbar. sen. Ich glaube, ich bin bereits zum siebten Mal in
Bitterfeld gewesen. Herr Wagner wird mir dies wieder
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) als falsche Reisetätigkeit ankreiden.
Wir haben Wismut zugemacht. Ich halte es für uner- (Zuruf von der CDU/CSU: Vielleicht nur des
träglich, die Ausgaben, die wir dafür aufbringen müs- halb, weil Sie ihn nicht mitgenommen ha
sen, um die Strahlenschäden, die die Wismut hinter- ben!)
lassen hat, hier als eine Sicherung der Atompolitik
und der Atomlobby vorgehalten zu bekommen. Eine der Reisen, die ich nach Bitterfeld gemacht habe,
war notwendig, weil wir dort den ersten Spatenstich
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — für eine Kläranlage gemacht haben, eine Kläranlage,
Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Wer die 250 Millionen DM kostet und die selbstverständ-
macht das denn?) lich mit 60 Millionen DM aus meinem Haushalt finan-
ziert wird. Jetzt sollten der Kollege Wagner und auch
— Die Dame von der PDS hat mir das vorhin gerade der etwas unruhig gewordene Kollege Schäfer zuhö-
gesagt. ren: In die Finanzierung einer solchen Kläranlage
rechnen wir, wie sich das gehört, das Verursacher-
(Harald B. Schäfer [SPD]: Dann ist es gut! Ich
prinzip mit ein. Wir gehen davon aus, daß zu dem
wollte nur, daß kein falscher Eindruck ent Zeitpunkt, zu dem die Kläranlage fertiggestellt ist und
steht!)
Abwasser dort gereinigt werden kann, die Einkom-
— Herr Abgeordneter Schäfer, nicht alles, was ich mensverhältnisse in den fünf neuen Bundesländern es
sage, ist für Sie bestimmt, sondern manchmal auch für zulassen, daß Abwassergebühren gezahlt werden.
jemand anderen. Dies ist nämlich gut und richtig, damit mit dem Wasser
sparsam umgegangen wird. Wenn weniger Abwasser
(Heiterkeit bei der CDU/CSU) anfällt, müssen schließlich auch weniger Gebühren
gezahlt werden.
Deswegen, meine Damen und Herren, will ich mich
damit nicht zufrieden geben. Ich sage dazu: Bei die- (Beifall bei der CDU/CSU)
sen Erfolgen des Umweltschutzes darf es nicht blei-
ben. Diese Entwicklung muß zur Schaffung sicherer In diese Kläranlage, Herr Kollege Wagner, sind
Arbeitsplätze führen. Aber man muß schon festhalten auch Mittel des kommunalen Kreditprogramms hin-
können, woraus denn diese unglaublichen Belastun- eingegangen. Auch Mittel aus dem ERP-Programm
gen, über die wir zu diskutieren haben, resultieren. wurden zur Verfügung gestellt, weil auch die Fab ri k
ihr Abwasser dorthin leiten wird. Wenn Sie diese Mit-
Als nächstes müssen wir dann natürlch eine ent- tel, die alle umweltbezogene Mittel sind, zusammen-
sprechende Umwelt-Infrastruktur aufbauen. Das ist rechnen, kommen Sie exakt auf 17 Milliarden DM.
wahr. Die Zahlen sind jedem bekannt. In den alten Deshalb lege ich Wert auf die Feststellung, daß wir
Bundesländern werden die Abwässer zu etwa 90 nichts ausgeben wollen, was wir nicht haben, sondern
biologisch bzw. voll biologisch geklärt. Der Kollege daß Sie dies auf die Mark genau nachrechnen können.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2151
Bundesminister Dr. Klaus Töpfer
Dies sind Mittel, die für die Umweltentlastung in den Ich bin gestern nicht nur in Bitterfeld gewesen, son-
neuen Bundesländern zur Verfügung stehen. dern bin etwa in das Gebiet — —
(Erneuter Zuruf des Abg. Harald B. Schäfer
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
[Offenburg] [SPD])
Meine Damen und Herren, es wäre auch gut, wenn — Es war das Siebte. Aber ich freue mich ja, daß der
wir alle der Meinung wären, wir sollten zur Schaffung Kollege Waltemathe, der uns ja so lange freundschaft-
dieser Infrastruktur auch privates Kapital mit heran- lich verbunden war, so aufmerksam zuhört, daß er das
ziehen. Wir sollten alle dieser Meinung sein. Es be- jedes Mal mitzählt. Mehr kann man ja kaum verlan-
steht international ein großes Interesse daran. Unsere gen.
Nachbarn in Großbritannien und in Frankreich wen-
den ohnehin für die Schaffung dieser Infrastruktur (Ernst Waltemathe [SPD]: Man muß hören,
was Sie Falsches erzählen!)
— etwa für eine Kläranlage — einen anderen Finan-
zierungsmechanismus an. Deshalb gibt es dort hoch- Ich war gerade bei dem nämlichen siebten Mal
erfahrene Unternehmen, die so etwas machen kön- nicht nur an dem Chemiestandort und auf dem Markt-
nen. Nebenbei: mit einem Sitz im Saarland. Ich hätte platz, sondern wir sind in die Tagebaugebiete der
es lieber gesehen, wenn sich der saarländische Wirt- Mibrag, also der Mitteldeutschen Braunkohle-AG,
schaftsminister darum bemüht hätte, im Saarland ein- hinausgefahren. Dort gibt es — auch das ist jedem, der
mal ein p rivates Finanzierungsmodell für eine Kläran- sich in den neuen Bundesländern etwas auskennt,
lage auszuprobieren. Statt dessen hat er B ri efe in die bestens bekannt — den alten Tagebau Goitsche, der
neuen Bundesländer geschrieben, genau dies solle direkt bis an die Grenze von Bitterfeld reicht. Das ist
man nicht tun. Umgekehrt wäre es besser gewesen. eine Mondlandschaft, eine reine Katastrophe. Was ist
Dann wäre den Menschen wirklich geholfen worden. mit dem Kollegen Blüm und Herrn Töpfer zusammen
Er hätte wirklich anders handeln sollen. Bis zur gemacht worden? — Wir haben bei der Mibrag einer
Stunde ist mir keine einzige Kläranlage bekannt, die Sanierungsgesellschaft mit 2 200 Beschäftigten und
mit einem p rivaten Finanzierungsmodell an der Saar einem Sachkostenanteil, der etwa zwischen 200 und
gebaut würde. Es reimt sich wirklich nicht zusammen, 250 % der Lohnkosten liegt, ermöglicht, um aus dieser
meine Damen und Herren, wenn Sie hierher kommen Mondlandschaft ein neues Naherholungsgebiet mit
und beklagen, daß wir das Saar-Mosel-Programm wunderbarem Wasser und Seenlandschaften zu ma-
nicht finanzieren, zu Hause aber keine Einfälle haben, chen.
wie privat verfügbares Kapital genutzt werden
könnte. (Beifall bei der CDU/CSU)
Das ist Umweltsanierung. Davon steht nicht eine
(Beifall bei der CDU/CSU — Ina Albowitz Mark in Töpfers Haushalt. Es ist aber eine hervorra-
[FDP]: So sind die Saarländer!) gende Sache, daß das gemacht wird, weil damit Ar-
beitsplätze geschaffen werden und weil damit ein
Deswegen haben wir noch einen zweiten Punkt, neues Image für diese Region begründet wird. Das ist
den Sie möglicherweise übersehen haben. Wie ist die der Punkt. Darum geht es.
Situation? — Wenn ich heute Altlasten sanieren will
— das sind meistens belastete Böden — , dann kann (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —
ich das sicherlich wohl kaum machen, ohne daß ent- Dr. Klaus W. Lippold [Offenbach] [CDU/
sprechende Entsorgungsanlagen vorhanden sind. Wir CSU]: Mitklatschen, Schäfer!)
können das nicht mit Hacke, Schaufel oder einem Das gibt es nicht nur bei der Mibrag, das finden Sie
Bagger sanieren. Das geht nicht. Denn das, was dort bei jedem der großen Chemiekonzerne. Das finden
an belastenden Stoffen — von Kohlenwasserstoffen Sie bei Mansfeld, bei der dortigen Kupferhütte; das
bis hin zu dem gesamten Zoo der Chemie — vorhan- finden Sie — in etwas veränderter Form — in der Wis-
den ist, ist damit nicht saniert. mut, und das finden Sie bei vielen anderen kleinen
Unternehmen. Ich halte das für richtig. Wir müssen
Die erforderlichen Anlagen gibt es aber nicht in den möglichst viele der Milliarden für Arbeitsbeschaf-
fünf neuen Bundesländern. Es gibt nicht eine Sonder- fungsmaßnahmen nutzen, damit Umwelt saniert und
mülldeponie, die den Namen verdient. Es gibt nicht neue Chancen, auch für arbeitende Menschen, gehal-
eine Untertagedeponie. Es gibt nicht eine Hochtem- ten werden. Das ist unser Ziel. Ich hoffe, daß wir uns
peraturverbrennungsanlage. Es gibt nicht ein einzi- darin einig sind, daß wir das ohne jede Beeinträchti-
ges Bodenentsorgungszentrum. gung zusammen vertreten.

Bei dieser Situation kann ich mir an Mitteln in den Ich möchte hinzufügen, daß wir bei dieser Maß-
Haushalt hereinholen, was immer möglich ist. Wir nahme wirklich Erfolg haben müssen. Denn wenn wir
werden nichts anderes machen können, als Sanie- das nicht erreichen, wie soll denn jemals eine Mög-
rungsgesellschaften zu gründen, die gegenwärtig lichkeit bestehen, die Probleme Mittel- und Osteuro-
schon viele Arbeitsplätze stellen, aber noch nicht den pas insgesamt zu bewältigen, wenn also wir das mit
letzten, ursächlichen Sanierungserfolg haben können. unserer Kapitalkraft und mit unserer technologischen
Genau das ist gemacht worden. Qualität nicht schaffen?
Wie wollen wir denn wirklich das schmutzige
(Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Wie schwarze Dreieck zwischen Polen, der CSFR und
viele Sanierungsgesellschaften? — Zuruf des Sachsen/Thüringen beseitigen? Wer ist denn einmal
Abg. Ernst Waltemathe [SPD]) im Erzgebirge gewesen und hat gesehen, daß dort nur
2152 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Bundesminister Dr. Klaus Töpfer


noch das Forsthaus steht, daß aber der Wald nicht meinsam mit Franzosen und anderen darum bemü-
mehr da ist? hen, den Sicherheitsstandard der Kernkraftwerke in
Mittel- und Osteuropa auch mit unserem Geld zu ver-
(Zurufe von der CDU/CSU: So ist es!)
bessern.
Wer ist denn da gewesen? Wenn wir dabei nicht wirk-
Ich hoffe, daß alle nur so notwendige Reisen ma-
lich vorankommen, werden wir das nie mit einer solch
chen, wie ich sie gerade jetzt mit meinen Mitarbeitern
grenzüberschreitenden Möglichkeit nutzen können.
nach Moskau gemacht habe. Das ist eine ganz zen-
Deswegen haben wir die gemeinsame Eib-Kom- trale Notwendigkeit.
mission eingesetzt. Deswegen sind wir dabei, genau
diese Zusammenarbeit weiterzuführen, damit es die Wenn wir von Energiepolitik sprechen — Herr Kol-
Möglichkeit gibt, grenzüberschreitend etwas zu un- lege Wagner, lassen Sie sich das bitte auch sagen —,
ternehmen. Das Erzgebirge hat es wirk lich verdient, dann sollten wir nun wirklich darum ringen, wie wir
einen energiepolitischen Konsens bekommen, und
daß wir da ein Stück weitergehen können.
nicht darum ringen, wie wir uns das eine oder andere
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) alte Tabu um die Ohren schlagen können, und nicht
Das ist die Öffnung zum Feld der Umweltaußenpo- weiterhin aufeinander losgehen, statt miteinander zu
litik, die wir brauchen. Umweltaußenpolitik ist so un- gehen.
glaublich wichtig, weil sie Friedenssicherungspolitik (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP))
ist. Was in den kommenden Jahren und Jahrzehnten
vor uns liegt, das ist nicht mehr die ideologische Aus- Haben Sie denn noch nicht gemerkt, daß das Motto,
einandersetzung, sondern es wird die Auseinander- das jetzt angesagt ist, Energiekonsens heißt und nicht
setzung um knappe Ressourcen, um knappe Roh- eine völlig unqualifizierte Streiterei ist? Ist das denn
stoffe, um knappe Möglichkeiten zur Verschmutzung nicht nachvollziehbar, meine Damen und Herren?
dieses Planeten Erde sein. Darum wird es gehen. Des- (Monika Ganseforth [SPD]: Ist das Konsens,
wegen müssen wir hier vorankommen. - Deswegen was Sie hier machen? — Weitere Zurufe von
müssen wir unsere Aufgaben für die Konferenz in Bra- der SPD)
silien vorbereiten.
Ich sage Ihnen hier ganz nachhaltig: Energiepoliti-
Deswegen bin ich natürlich dankbar dafür, daß wir scher Konsens heißt zunächst einmal zu fragen „Was
für diese beiden wichtigen Aufgabenfelder, für die machen wir denn gemeinsam?" und nicht zu fragen
Sanierung und die Entwicklung in den fünf neuen „Was machen wir nicht gemeinsam?". Wir alle sind
Bundesländern und für die internationalen Aufgaben, uns doch wohl einig darüber, daß wir die Energieeffi-
bis hinein in die Leitung des Ministeriums gut ausge- zienz zu erhöhen haben.
stattet sind. Es ist hervorragend, daß Herr Schmid-
bauer und Herr Wieczorek Parlamentarische Staatsse- (Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Sie tun
kretäre sind. doch nichts dafür! Das sind doch alles
Sprechblasen! Nicht eine konkrete Maß-
(Peter Harry Carstensen [Nordstrand] [CDU/ nahme! Nicht eine einzige Mark für erneuer
CSU]: Und auch gute Staatssekretäre sind!) bare Energie! Sprechblasen! — Gegenrufe
Das muß auch einmal gesagt werden, weil permanent von der CDU/CSU — Peter Harry Carstensen
der Eindruck entsteht, genau diese K ritik werde hier [Nordstrand] [CDU/CSU]: Unsinn!)
unwidersprochen aufgenommen. Ich möchte das mit — Herr Kollege Schäfer, ich bleibe dabei, daß ich lie-
allem Nachdruck gesagt haben. Es ist hervorragend, ber nach dem Konsens frage. Ich habe auch den Ein-
daß wir die Erfahrung aus der Enquete-Kommission druck, daß der eine oder andere, der heute hier schon
jetzt unmittelbar in der Arbeit dieses Ministeriums für Ihre Fraktion gesprochen hat, ebenfalls mehr an
nutzen können. Es ist auch hervorragend, daß wir die den Konsens gedacht hat, als das gerade vorhin hier
Erfahrung von Herrn Wieczorek aus Auerbach unmit- der Fall gewesen ist. Deshalb habe ich mir erlaubt,
telbar nutzen können. Ich wollte das nur einmal ge- darauf noch einmal hinzuweisen. Dieser Konsens ist
sagt haben; denn manchmal lese ich darüber be- für mich unumgänglich daran gebunden, daß wir fos-
stimmte Dinge. Deswegen war es eine gute Sache. sile Energieträger effizienter einsetzen, damit wirksa-
Meine Damen und Herren, abschließend komme mer umgehen. Sie wissen genau, daß diese Bundesre-
ich, und zwar gerade unter dem Gesichtspunkt der gierung den Beschluß gefaßt hat, den Ausstoß von
Umweltaußenpolitik, auf die Energiefrage zu spre- CO2 umd 25 % bis 30 % zu vermindern.
chen. Eines ist doch völlig klar, das international Ent- (Zuruf von der SPD: Das ist in Ordnung!)
scheidende ist: Wie gehen wir mit moderner Technik
um? Was irgendwo auf dieser Erde mit einer moder- Sie kennen unser Handlungsprogramm genau. Sie
nen Technik wie Kernenergie oder Gentechnik falsch wissen also auch, daß wir das nicht nur bei uns tun,
gemacht wird, schlägt nämlich mit Sicherheit auf alle sondern daß das international ist, und zwar bis hin zu
zurück. Deswegen muß ich schon ein Stück mehr fra- der Überzeugung der Franzosen. — Das ist energie-
gen als nur: Was machen wir in Greifswald und in politischer Konsens. Ich sage es noch einmal: Wir
Stendal? müssen diesen energiepolitischen Konsens europä-
isch haben.
Ich sage Ihnen ganz deutlich, die Schlagzeile wäre
besser gewesen, wenn wir gesagt hätten: Wir schalten Meine Damen und Herren, wer sich hier hinstellt
das eine oder andere Kernkraftwerk in der Bundesre- und die Franzosen völlig undifferenziert dahin ge-
publik Deutschland ab. — Wichtiger für die Sicherheit hend anklagt, sie würden nicht verantwortungsbe-
in Europa und weltweit ist es aber, daß wir uns ge- wußt mit Kernenergie umgehen, der wird doch wohl
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2153

Bundesminister Dr. Klaus Töpfer


in Europa keinen energiepolitischen Konsens erzielen reich der Umweltsanierung in den neuen Bundeslän-
können. Wie wollen Sie das denn wirklich machen? dern fehlt angeblich das Geld.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Was hier fehlt, Herr Minister, ist die Durchsetzungs-
Deswegen sind wir sehr der Überzeugung, daß wir zu kraft, den vielen Ankündigungen endlich auch Taten
diesem energiepolitischen Konsens sehr vieles beitra- folgen zu lassen.
gen können, bis hin zu der Tatsache, daß wir die-
(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und
se Sicherheitsfragen französischer Kernkraftwerke
dem Bündnis 90/GRÜNE)
schon längst mit den unseren verbunden, überprüft
und kontrolliert haben. Was hier fehlt, ist ein Konzept aus einem Guß für die
Lassen Sie mich ein letztes sagen. Daß wir Konsens Umweltpolitik der 90er Jahre. Was hier fehlt, ist der
suchen, ist nicht Ankündigung, sondern Realität. Ich Wille zur Wende in der Umweltpolitik.
freue mich darüber, möglicherweise auch der eine (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch Blöd
oder andere bei Ihnen, daß die Politik im Bereich der sinn!)
Abfälle, die ich vorgeschlagen habe, im Deutschen
Bundesrat mit den Stimmen von Nordrhein-Westfa- Sehen wir uns die Umweltsituation an, wie sie wirk-
len, des Saarlandes, von Bremen und von Branden- lich ist. Leider, so ist zu konstatieren, haben wir uns
burg akzeptiert worden ist. bei den Umweltmedien Luft, Boden und Wasser an
Katastrophenmeldungen mittlerweile gewöhnt. Es ist
Vizepräsident Hans Klein: Herr Bundesminister, die nicht ersichtlich, wie die Bundesregierung die not-
vereinbarte Redezeit ist abgelaufen. wendige Umkehr erreichen will. Ankündigungen, ge-
paart mit Untätigkeit — das ist Ihre Umweltpolitik.
Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister für Umwelt, Na- Im Naturschutzbereich fehlt nach wie vor das schon
turschutz und Reaktorsicherheit: Ich möchte das nur lange angekündigte Naturschutzgesetz. Aus Angst
-
ganz deutlich gesagt haben. Ich freue mich darüber, vor der Landwirtschaftslobby und mangelnder Durch-
daß dieser Konsens möglich war. Ich werde weiterhin setzungskraft gegenüber dem Finanzminister wird
alles tun, um diese Konsensmöglichkeit weiterzufüh- dieses Vorhaben ständig auf die lange Bank gescho-
ren: im Bereich der Umweltsanierung im Rahmen der ben.
deutschen Einheit, im Rahmen der Energiepolitik, die (Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Leider
wir gemeinsam in Europa gestalten müssen, und mit wahr!)
Blick auf alle Folgewirkungen der modernen Indu-
striegesellschaft, die wir zum Wohle einer Zukunft in Sie, Herr Minister, werden nicht als Retter bedrohter
diesem Lande gemeinsam gestalten sollten. Arten in die Annalen eingehen. Oder hat man von
Ich danke Ihnen sehr herzlich. Ihnen den vehementen Protest vernommen, als im
Einigungsvertrag festgelegt wurde, daß in den neuen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bundesländern Autobahnen auch in Naturschutzge-
bieten gebaut werden dürfen?
Vizepräsident Hans Klein: Frau Abgeordnete Ma-
rion Caspers-Merk, Sie haben das Wort. (Arnulf Kriedner [CDU/CSU]: Wo steht denn
das? Erzählen Sie doch nicht solchen Blöd
sinn!)
Marion Caspers-Merk (SPD) : Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Herr Minister, wenn einer eine — Dann kennen Sie den Einigungsvertrag nicht.
Reise tut, dann kann er viel erzählen, dann kann man (Arnulf Kriedner [CDU/CSU]: Sie offensicht
sogar eine Haushaltsrede mit diesen Reiseeindrücken lich nicht! Wir kennen ihn!)
bestreiten.
(Hans-Werner Müller [Wadern] [CDU/CSU]: Im Bereich des Grund- und Trinkwassers hat sich
Das war gekonnt!) die Belastung mit Nitraten, Pestiziden und anderen
chemischen Stoffen dramatisch zugespitzt. Auf die
Wir haben gemerkt, daß hier keine Konzepte in der Belastung des Trinkwassers in den neuen Bundeslän-
Umweltpolitik für die Zukunft vorliegen. dern wurde elegant durch die vorläufige Außerkraft-
(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und setzung der bestehenden Trinkwasserverordnung
dem Bündnis 90/GRÜNE) reagiert.
Der zweite Satz zu Ihren Ausführungen. Sie haben Im Verkehrsbereich steht uns der Verkehrskollaps
sehr viel über die Umweltaußenpolitik gesprochen, des motorisierten Indidvidualverkehrs unmittelbar
offensichtlich weil Sie in der Umweltinnenpolitik so bevor. Sie, Herr Minister, nutzen die Erhöhung der
wenig Greifbares vorzuweisen haben. Mineralölsteuer nicht zu Lenkungszwecken, um auch
(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und andere Verkehrsmittel zu fördern, sondern lassen zu,
dem Bündnis 90/GRÜNE) daß sie als reines Mittel der Haushaltssanierung ein-
Zu der konkreten Haushaltssituation haben Sie re- gesetzt wird.
lativ wenig Ausführungen gemacht. Ich vermute, weil Die Luftqualität insgesamt hat sich nicht zuletzt
die Dimension des Umwelthaushaltes von 1,3 Milliar- durch die Zunahme des Individualverkehrs ver-
den DM zeigt, was dieser Regierung die Umweltpoli- schlechtert.
tik wirklich wert ist. Da werden gleichzeitig für Wehr-
forschung und Wehrtechnik gut 2,9 Milliarden DM (Arnulf Kriedner [CDU/CSU]: Das stimmt gar
ausgegeben, und für dringende Maßnahmen im Be- nicht!)
2154 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Marion Caspers-Merk
Gerade in den Sommermonaten können wir einen Bötsch [CDU/CSU]: Das nehmen Sie sofort
Ozonteppich über Europa beobachten. Ozonalarm in zurück!)
vielen Städten und die Empfehlung an die betroffenen Das Ganze ist um so peinlicher, als Sie bereits jetzt
Eltern, ihre Kinder zu Hause zu halten, sind kein Kon- denen, die mit Recht das Engagement des Bundes in
zept gegen den Sommersmog. Sie, Herr Minister, le- dieser Frage erwarten, Versprechungen machen. Dies
gen halbherzige Konzepte zur Sperrung der Innen- nenne ich eine Politik der ungedeckten Schecks. Eine
städte vor, ohne eine aktive Verkehrsvermeidungs- Abgabe, deren Höhe noch nicht endgültig feststeht,
politik zu unterstützen. bei der noch nicht einmal klar ist, wann die Gelder
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) daraus in welcher Höhe überhaupt zur Verfügung ste-
hen, wird bereits an jeden, der Geld braucht, verteilt:
In der Schweiz gibt es schon lange Luftreinhalte- Die neuen Bundesländer sollen etwas erhalten. Die
plane. Telefonieren Sie doch einmal mit den Eidge- alten Bundesländer sollen etwas erhalten. Bei der
nossen und informieren Sie sich darüber, wie die so jüngsten Sondersitzung des Sport- und Umweltaus-
etwas machen! Ich komme aus einer Grenzregion, in schusses wurde gar angekündigt, daß die Sanierung
der ich sehen muß, daß beispielsweise in Weil am der dioxinbelasteten Flächen auch mit Hilfe dieser
Rhein Bundesjugendspiele veranstaltet werden, wäh- Abgabe mitfinanziert werden könnte.
rend in Basel Ozonalarm herrscht und die Kinder zu Der Umweltminister verspricht also Gelder, die er
Hause gehalten werden müssen. noch gar nicht hat, für Flächen, die er noch gar nicht
Sie, Herr Minister, kündigen vollmundig an, daß bei alle kennt, mit einer Belastung des Bodens, die er noch
der Bekämpfung der Verpackungsflut von Ihrem Mi- nicht einmal ahnt.
niste rium sogar über Stoffverbote, Verpackungsabga- (Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Jetzt ge
ben und das generelle Verbot der Einwegverpackun- hen Sie aber entschieden zu weit! — Arnulf
gen nachgedacht wird. Und das faktische Ergebnis? Kriedner [CDU/CSU]: Aber Sie wissen es
— Ihre Verpackungsverordnung scheitert im ersten schon!)
Anlauf, mußte im Bundesrat nachgebessert - werden
— Wir haben den vollen Umfang dieser Belastung
und wird sich nach allem, was man jetzt weiß, als
auch nicht erkannt, aber wir haben dafür Gelder im
untauglich erweisen, die Verpackungsflut einzudäm-
Haushalt gefordert.
men; denn Sie haben von vornherein der Verpak-
kungsindustrie das Schlupfloch des dualen Entsor- (Beifall bei der SPD)
gungssystems gelassen.
Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, gestatten
Ein grüner Punkt soll Verpackungsverwertung und
Sie eine Zwischenfrage?
damit für die Augen der Verbraucher Umweltfreund-
lichkeit signalisieren. Aber wem wollen Sie eigentlich
erklären, daß die Glasmilchflasche keinen grünen Marion Caspers-Merk (SPD): Nein, ich bin sofort
Punkt erhält, dafür aber die Milcheinwegkartonage? fertig.
So kann man Umwelterziehung nicht begreifen, Kol- (Arnulf Kriedner [CDU/CSU]: Das charakte
leginnen und Kollegen! risiert Sie aber! — Zuruf von der CDU/CSU:
Lesen Sie ruhig weiter!)
(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und
dem Bündnis 90/GRÜNE) Ich habe nur noch zwei Minuten, und aus diesem
Grunde möchte ich im Zusammenhang vortragen.
Ein weiteres Beispiel Ihrer verfehlten Umweltpolitik
ist die Altlastensanierung. Allein in den neuen Län- Vizepräsident Hans Klein: Verzeihung, Frau Kolle-
dern sind bis heute — diese Zahl wurde bereits ge- gin! Die Zeit würde Ihnen nicht angerechnet.
nannt — mehr als 12 500 Verdachtsflächen entdeckt
worden. Unser Antrag zur Erhöhung des Ansatzes für
Marion Caspers-Merk (SPD): Ich möchte im Zusam-
die Finanzierung der Altlastensanierung wurde abge-
menhang vortragen.
schmettert.
In den alten Bundesländern kommen zu den be- Vizepräsident Hans Klein: Bitte sehr.
kannten unzähligen Flächen laufend neue Altlasten
(Zuruf von der CDU/CSU: Natürlich!)
hinzu. Denken wir nur an die etwa 650 bekannten
dioxinbelasteten Flächen mit der Kupferschlacke Kie-
selrot, oder denken wir, wie jetzt bekannt wurde, an Marion Caspers-Merk (SPD) : Demgegenüber ha-
die auf uns zukommenden Altlasten auf den Stand- ben die Sozialdemokraten Konzepte vorgelegt, die
orten der sowjetischen und amerikanischen Streit- eine Umkehr in der Umweltpolitik fordern. Kernstück
kräfte. Hier fehlt ein bundesweites einheitliches Altla- des ökologischen Umbaus der Industriegesellschaft
stensanierungs- und -finanzierungskonzept. Der ist eine Kombination aus gesetzlichen Vorgaben und
Bund steht hierbei in der Verantwortung. marktwirtschaftlichen Instrumenten. Wir wollen, daß
der, der die Umwelt benutzt und dabei schädigt, be-
Sie haben zur Finanzierung der Altlastensanierung zahlt. Wir wollen, daß der, der die Umwelt bewahrt,
ein Abfallabgabengesetz vorgeschlagen und für März belohnt wird.
1991 angekündigt. Vorgelegt ist dieser Gesetzentwurf
Kernstück unserer umweltpolitischen Leitlinien
bislang noch nicht. Also auch hier wieder viel ange-
sind Lenkungsabgaben und Steuern, die diesen Na-
kündigt, wenig gehalten. men wirklich verdienen. Gleichzeitig wollen wir die
(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Umweltsanierung in den neuen Ländern auf unserem
dem Bündnis 90/GRÜNE — Dr. Wolfgang hohen Niveau. Zweierlei Maß bei den Umweltstan-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2155

Marion Caspers-Merk
dards darf es in einem vereinten Deutschland nicht in der Bundesrepublik Deutschland verschlechtern.
geben. Es gibt einen Landesumweltminister, der deutlich da-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten von gesprochen hat, daß durch die Umweltpolitik in
der PDS/Linke Liste) diesem Lande die Situation an Rhein und Ruhr besser
geworden ist, daß es weniger Krankheiten gibt und
Vielen unserer Vorschläge sind Sie nach einer An- daß die Menschen gesünder leben. Dieser Minister ist
standsfrist bislang gefolgt. Die Sozialdemokratisie- kein Mitglied der CDU; er ist ein SPD-Minister.
rung der Regierungspolitik findet zwar statt, aber lei-
der erst, wenn man unseren Gesetzesvorschlägen die Wann stimmen Sie sich endlich einmal mit denen
Zähne gezogen hat. Herr Töpfer, Sie gebrauchen un- ab, die fachlich ihr Ressort beherrschen — wie Ihr
sere Begriffe, aber Sie benutzen Sie für andere In- Umweltminister in Nordrhein-Westfalen — , statt die-
halte, sen Unfug zu erzählen, wie Sie ihn hier verzapfen?
Das ist doch der Sachverhalt.
(Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Gott
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
sei Dank!)
Dann müssen Sie auch die Katastrophenmeldun-
und Sie lassen vor allem Ihren Ankündigungen keine
gen, von denen Sie hier reden wollen, deutlich ma-
Taten folgen.
chen. Sie haben etwas zur Verpackungsverordnung
(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten gesagt. Sie werden in Ihren eigenen Bundesländern,
der PDS/Linke Liste) in Hamburg und im Saarland, mit der Flut der Verpak-
Meine Erfahrungen als Parlamentsneuling mit Ih- kungen nicht fertig. Wir haben das Problem ange-
rem Ministe rium lassen nur den Schluß zu, daß dieses packt. Wir haben das System geschaffen, mit dem wir
Ministerium im Umgang mit den Parlamentariern mit dieser Verpackungsflut fertigwerden.
Defizite aufweist. Da werden Presseerklärungen ver- Ihre Länderminister haben, weil sie keine andere
teilt, notwendige Ausschußunterlagen sind aber un- Lösungsmöglichkeit für die sozialdemokratisch re-
vollständig und nicht rechtzeitig vorhanden. B riefe gierten Länder sehen, dieser Verpackungsverord-
-
von Abgeordneten mit drängenden Fragen der Bürger nung zugestimmt. Wann endlich lernt diese SPD-Bun-
werden gar nicht oder erst mit monatelanger Verspä- destagsfraktion etwas vom Sachverstand ihrer Mini-
tung beantwortet. Wer aus einem Ministe rium eine ster?
Werbeagentur macht, hat vermutlich kein Interesse (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
daran, daß die blumigen Ankündigungen auch umge-
setzt werden. Es wäre angebracht, daß Sie sich einmal in internen
Kolloquien äußern, bevor Sie sich hier hinstellen und
(Beifall bei der SPD) etwas sagen, was nicht Sache ist. Das muß ganz deut-
(V o r s i t z: Vizepräsident Dieter-Julius Cro lich gesagt werden.
nenberg) Ein letzter Punkt: zur Perspektivlosigkeit. Wir ha-
Ich komme zum Schluß: ben das Bundes-Immissionschutzgesetz novelliert.
(Hans-Werner Müller [Wadern] [CDU/CSU]: Wir haben durch die Chemiepolitik die Anlagen si-
Es wird wirklich Zeit!) cherer gemacht. Weiterhin haben wir durch die Um-
weltaußenpolitik dieses Umweltministers in Verbin-
Wir fordern den Ausstieg aus der Perspektivlosigkeit dung mit dem Bundeskanzler dazu beigetragen, daß
Ihrer Umweltpolitik und den Einstieg in eine Offen- wir endlich gemeinsam mit der EG und der Welt Ant-
sive für die Umwelt. Ihre Politik, Herr Töpfer, strahlt worten auf die globalen Probleme in Sachen Treib-
diese Perspektivlosigkeit aus. Sie wird zum umwelt- hauseffekt suchen und finden.
politischen Sicherheitsrisiko und gehört entweder zur
Wiederaufbereitung in die Opposition oder in ein si- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
cheres Endlager.
Vielen Dank. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr
Dr. Lippold, Ihr Engagement ist kein hinreichender
(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Grund, die Zeit für eine Kurzintervention deutlich zu
dem Bündnis 90/GRÜNE) überschreiten. Ich bitte Sie, zum Schluß zu kom-
men.
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Zu einer
Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Dr. Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (CDU/CSU): Ich
Lippold das Wort. werde dann schließen.
Ich bedanke mich.
Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (CDU/CSU): Herr (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Ich hätte lieber eine Zwischenintervention gehabt, Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort
damit man die vielen Unklarheiten, Mißverständnisse hat der Abgeordnete Klinkert.
und Falschaussagen direkt richtigstellen kann, die
sich so anhäufen, daß man sie im Rahmen einer Kurz-
intervention ansonsten nicht ausräumen kann. Ulrich Klinkert (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Der ursprüngliche Haushalt des
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) BMU von 1,3 Milliarden DM wurde auf Grund des
Punkt eins: Die Kollegin hat von fortlaufenden Ka- dringenden Handlungsbedarfes zur ökologischen Sa-
tastrophenmeldungen gesprochen, die die Situation nierung der neuen Bundesländer um jeweils 400 Mil-
2156 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Ulrich Klinkert
lionen DM für 1991 und 1992 aufgestockt. Dabei ha- Monat eine Exkursion nach Sachsen und nach Bran-
ben diese Mittel lediglich auslösenden und lenkenden denburg. Ein wesentlicher Bestandteil dieser Reise
Charakter für weitere Investitionen mit wesentlich hö- war die Besichtigung von ehemaligen und noch akti-
heren Dimensionen auch im Umweltbereich. Wenn ven sowjetischen Militäreinrichtungen. Deswegen
Herr Wagner hier den Anteil von 0,33 % am Gesamt- begrüßen wir die Aussage der Bundesregierung, zu-
haushalt minutiös ausrechnet, dann zeigt er damit, nächst 70 Millionen DM für die Erkundung und Erf as-
daß er sicherlich mit seinem Taschenrechner umge- sung der Altlasten auf den Liegenschaften der sowje-
hen kann, tischen Streitkräfte zur Verfügung zu stellen. Beson-
(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) ders begrüßenswert ist dabei die Tatsache, daß diese
Aufträge im wesentlichen an ostdeutsche Firmen ver-
aber weniger die Rolle eines Ministeriums begreift; geben werden, weil dadurch auch arbeitsmarktpoliti-
denn es ist nicht mehr die Rolle eines Ministeriums, sche Effekte erreicht werden.
wirtschaftslenkendes Organ zu sein. Das hatten wir im
Sozialismus der DDR. Ich weiß allerdings nicht, wie Wir konnten uns auf dieser Exkursion davon über-
dies im Saarland gehandhabt wird. zeugen, daß die von der Bundesregierung installierten
beschäftigungspolitischen Maßnahmen gerade auch
(Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Kein für den Umweltbereich zunehmend aufgegriffen wur-
Unterschied! — Hans Georg Wagner [SPD]: den. 10 000 Arbeitnehmer sind in der Zwischenzeit für
Erfolgreich!) die reine Umweltsanierung über Arbeitsbeschaf-
Vielleicht liegt es auch daran, daß so viele Finanzaus- fungsmaßnahmen eingesetzt. Wenn man die heutige
gleichsmittel der Gesamtbundesrepublik ins Saarland Meldung der Bundesanstalt für Arbeit nimmt, daß die
flossen und weiterhin fließen. Arbeitslosigkeit im Monat Mai nicht angestiegen ist,
kann man das, glaube ich, als einen sehr wirkungsvol-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —
len Erfolg auch des Programms zur ökologischen Sa-
Hans Georg Wagner [SPD]: Auch Quatsch!
nierung der neuen Bundesländer ansehen.
Wieder falsch!)
Der Gipfel der Unsachlichkeit, glaube ich, war die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Kri tik daran, daß der Bundesumweltminister in ein
ökologisches Krisengebiet gefahren ist, denn einer- Im Lausitzer Braunkohlenrevier wurde uns ein ähn-
seits wurde kritisiert, daß Herr Töpfer dorthin fuhr, liches Modell vorgestellt, wie es Minister Töpfer hier
für das mitteldeutsche Braunkohlenrevier beschrie-
(Zuruf von der SPD: Ist doch gar nicht ben hat. Auch in der Lausitz können in den nächsten
wahr!) Wochen und Monaten 3 000 bis 4 000 Arbeitnehmer,
andererseits wurde nichts darüber gesagt, daß bei- die sonst überwiegend in die Arbeitslosigkeit geraten
spielsweise auch SPD-Abgeordnete dorthin gefahren wären, über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zur
sind. Damit wir uns nicht mißverstehen: Wir als CDU/ ökologischen Sanierung eingesetzt werden. Alles das
CSU-Fraktion begrüßen beide Aktivitäten. Wir haben sind Maßnahmen, die im Haushalt des BMU natürlich
durch beide Aktivitäten sehr nützliche und sachliche nichts zu suchen haben, sondern die über andere
Hinweise zum realen Zustand am Golf erhalten. Töpfe finanziert werden können.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Die wichtigsten Prioritäten, die jetzt gesetzt wer-
Monika Ganseforth [SPD]: Er war aber gar den, können aus den positiven Erfahrungen des ver-
nicht in Kuwait!) gangenen Jahres resultieren, da die 500 Millionen
Herr Wagner, vielleicht darf ich auf noch einen DM Fördermittel, die zur Einzelprojektförderung ein-
Punkt zurückkommen: Ich gebe zu, daß es für einen gesetzt wurden, dort Erfolge auf wirtschaftlichem und
Neubundesbürger, wie ich einer bin, schwierig ist, beschäftigungspolitischem Gebiet erzielt haben. In
alle Feinheiten der Marktwirtschaft zu kennen und zu diesem Jahr soll diese Praxis fortgeführt werden und
erkennen. Aber das Verwirrspiel, das Sie hier mit Zah- vorrangig bei Wasserversorgungs-, bei Abwasserent-
len, Gesetzen und Gesetzmäßigkeiten der Marktwirt- sorgungsanlagen, bei Deponiesicherungsanlagen so-
schaft vorgeführt haben, grenzt doch an Unsachlich- wie bei Maßnahmen zur Abwehr von Gesundheitsge-
keit; denn wenn Sie hier die vorgesehene Mischfinan- fährdungen zur Anwendung kommen.
zierung der 17 Milliarden DM für die ökologische Lassen Sie mich hier noch auf den Einwurf von Frau
Sanierung der neuen Bundesländer den 400 Millio- Braband zurückkommen, daß die Müllawine der
nen DM für Einzelprojekt- und Anschubfinanzierung Wohlstandsgesellschaft jetzt auch auf die fünf neuen
gegenüberstellen, dann zeugt das, glaube ich, davon, Länder überschwappt. Wir sind uns sicherlich darüber
daß Sie die Unterlagen zum Projekt der ökologischen einig, daß das Überschwappen der Müllawine nicht
Sanierung nicht einmal gelesen haben — das wenig- erstrebenswert ist. Aber ich kann hier für die Bevöl-
stens sollte man erwarten — , denn die Finanzierungs- kerung der DDR feststellen, daß sie mit dem Vollzug
quellen dieses Projekts sind sehr deutlich aufge- der deutschen Einheit nicht warten wollte, bis das
zeigt. Müllproblem in der Bundesrepublik (alt) gelöst
(Hans Georg Wagner [SPD]: Ich habe das wurde.
auch gelesen! Sie sollten Zeitung lesen!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Die Arbeitsgruppe Umwelt, Naturschutz und Reak-
torsicherheit der CDU/CSU-Fraktion unternahm, um Das ist jetzt ein gesamtdeutsches Problem, und wir
sich ein eigenes Bild vom ökologischen Zustand der werden es mit dieser CDU/CSU-Regierung in den
neuen Bundesländer zu verschaffen, im vergangenen nächsten Monaten lösen können.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2157

Ulrich Klinkert
Meine Damen und Herren, der Haushalt des Bun- Wenn wir diese Fragen so formulieren, dann sind
desministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi- das nicht reine Spekulationen. Ich mußte bereits am
cherheit ist auf die an sich gesetzgeberisch lenkende Runden Tisch erfahren, daß die Geheimnisse des
Wirkung des BMU abgestimmt und wird das Pro- KoKo-Bereichs von der damaligen DDR-Regierung
gramm „Aufschwung Ost" wesentlich nach vorn be- streng gehütet wurden. Die von uns immer wieder
fördern. angemahnten Informationen kamen nicht oder spät
Vielen Dank. und nur sehr unvollständig.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Bundesregierung hat diese Tradition der Her-
ren Krenz, Modrow und de Maizière bruchlos fortge-
führt. Von den Vernehmungen Schalcks beim BND im
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine Frühjahr 1990 haben die Bundestagsbegeordneten
Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Aus- bisher nichts erfahren dürfen, obwohl Schalck erst
sprache. jüngst wieder gegenüber der „FAZ" erklärt hat, er
Wir kommen zur Abstimmung. Wer dem Einzel- habe dort umfassend ausgepackt.
plan 16 — Geschäftsbereich des Bundesministers für Wie konnte es passieren, daß ausgerechnet enge
Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit — in der Schalck-Vertraute wie Traudl Lisowski, Jochen
Ausschußfassung zustimmt, den bitte ich um das Steyer und Dieter Uhlig bis in die jüngste Zeit hinein
Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Dann ist mit der Abwicklung wesentlicher Teile des KoKo-Im-
dieser Einzelplan mit den Stimmen der Koalitionsfrak- periums betraut waren? Warum hat das Bundesfi-
tionen angenommen. nanzministerium den Bundestag bisher noch nicht
über den Stand dieser Abwicklung unterrichtet? Tref-
fen Meldungen des „Spiegel" und anderer Zeitungen
Ich rufe nunmehr die Zusatztagesordnungs-
zu, daß der BND Schalck zugesichert hat, für seine
punkte 1 und 2 auf:
Kooperationsbereitschaft wesentliche Teile seines
ZP1 Beratung des Antrags der Gruppe BÜND- - Auslandsvermögens unangetastet zu lassen?
NIS 90/DIE GRÜNEN Meine Damen und Herren, Sie sehen, es ist ein
Einsetzung eines Untersuchungsausschusses äußerst brisanter Stoff. Wir fordern Stimmrecht in die-
— Drucksache 12/629 — sem Untersuchungsausschuß. Wir fordern Rederecht,
ZP2 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD das uns mehr als zwei oder drei Minuten pro Sitzung
einräumt. Wir erwarten, daß der Ausschußvorsitzende
Einsetzung eines Untersuchungsausschusses so großzügig verfährt, daß auch über die Verabredung
— Drucksache 12/654 — im Ältestenrat hinaus etwas mehr Spielraum für un-
Zum Antrag der Fraktion der SPD liegen ein Ände- sere Mitwirkung möglich wird.
rungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP, Ich hoffe, daß die Regierungsfraktionen wirklich —
und zwar auf Drucksache 12/662, und ein Änderungs- wie sie es beteuern — die Aufklärung wollen und
antrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf Drucksache nicht wie beim U-Boot-Ausschuß sofort wieder anfan-
12/686 vor. gen, die Ausschußarbeit mit tausend juristischen Fi-
Die interfraktionelle Vereinbarung lautet: Debat- nessen und Geschäftsordnungstricks zu belasten.
tenzeit eine halbe Stunde. Ist das Haus damit einver- Ich danke Ihnen.
standen? — Das ist offensichtlich der Fall.
(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE)
Dann kann ich die Aussprache eröffnen. Zunächst
einmal hat die Abgeordnete Frau Köppe das Wort.
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort
hat der Abgeordnete Dr. Struck.
Ingrid Köppe (Bündnis 90/GRÜNE): Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Die heutige Einsetzung
des Schalck-Untersuchungsausschusses ist, meinen Dr. Peter Struck (SPD) : Herr Präsident! Meine sehr
wir, ein Erfolg für das Bündnis 90/DIE GRÜNEN. verehrten Damen und Herren! Wenn in der letzten
Denn seit wir in den Bundestag eingezogen sind, war Zeit über die Bewältigung der Vergangenheit in der
dies eine unserer wichtigsten Forderungen. Und wir ehemaligen DDR und über die schlimmen Taten der
haben eigentlich nicht verstanden, warum die SPD- führenden Mitglieder der SED und der damaligen
Fraktion so lange gezögert hat. Schließlich hat Herr Regierung gesprochen wurde, hat der Name Schalck-
Vogel die Aufklärung des Schalck-Golodkowski- Golodkowski in der Regel eine besondere Rolle ge-
Skandals bereits im Bundestagswahlkampf verspro- spielt. Die SPD-Bundestagsfraktion stellt heute den
chen. Antrag, einen Untersuchungsausschuß zu dem Kom-
plex „Kommerzielle Koordinierung — Schalck-Golod-
Worin besteht dieser Skandal? Was muß der von uns kowski" einzusetzen. Meine Damen und Herren, ich
heute beantragte Untersuchungsausschuß dringend glaube, daß wir damit ein deutliches Signal für die
aufklären? Erfreulicherweise hat die SPD in ihrem Menschen in der ehemaligen DDR geben, daß diese
Antrag Kernpunkte unseres Antrags übernommen, Vergangenheit aufgearbeitet werden soll.
und das sind die Fragen: Was hat die Bundesregie-
rung unternommen, um die KoKo-Milliarden sicher- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Jür
zustellen und für den Aufbau der ostdeutschen Länder gen Rüttgers [CDU/CSU])
zur Verfügung zu stellen? Hat die Bundesregierung Um allen Mißverständnissen vorzubeugen, möchte
Herrn Schalck Straffreiheit oder sonstige Vergünsti- ich hier für meine Fraktion erklären, daß wir im Ge-
gungen zugesagt? gensatz zu manchem anderen Untersuchungsaus-
2158 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Dr. Peter Struck


schuß, der in den vergangenen Legislaturperioden tä- recht der Gruppenstatus gilt. Sie haben diese Rege-
tig gewesen ist, die Arbeit dieses Untersuchungsaus- lung akzeptiert.
schusses nicht vordringlich unter dem Gesichtspunkt Ich will das jetzt in eine etwas einfachere Sprache
sehen, die Regierung vorzuführen oder der Regierung übersetzen. Sie sollen genauso wie jede andere Frak-
ein Versagen auf einem bestimmten Gebiet vorzuwer- tion in diesem Untersuchungsausschuß die Möglich-
fen. Vielmehr glaube ich, daß unser Appell an die keit haben, Beweisanträge zu stellen, Zeugenverneh-
anderen Fraktionen dieses Hauses, die sich an diesem mungen durchzuführen, Akten anzufordern und Ak-
Untersuchungsausschuß beteiligen werden, gemein- ten einzusehen, weil ich glaube — ich denke, auch da
sam den Komplex Kommerzielle Koordinierung auf- spreche ich für alle anderen Abgeordneten —, daß
zuarbeiten, auf fruchtbaren Boden fallen wird. Ich er- gerade die Vertreter vom Bündnis 90 eine besondere
hoffe sehr auch die Mitarbeit der Regierungsfraktio- Verpflichtung, ein besonderes Recht haben, hier tätig
nen in diesem Untersuchungsausschuß. zu werden.
(Peter Harry Carstensen [Nordstrand] [CDU/ (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der
CSU]: Da kannst du aber sicher sein!) FDP)
Es wird eine schwierige Arbeit werden, dieses dun- In diesem Zusammenhang sei ein Wort an die PDS/
kle Kapitel aufzuarbeiten; denn der Komplex Kom- Linke Liste gerichtet. Ich würde es schon für sehr
merzielle Koordinierung und sein Leiter haben im Re- eigenartig halten, meine sehr verehrten Damen und
gierungssystem und im Partei- und Staatssystem der Herren, wenn der Vorsitzende der Rechtsnachfolgerin
ehemaligen DDR eine sehr dubiose Rolle gespielt. der SED, Herr Kollege Gysi, Mitglied dieses Untersu-
Wenn man sich die öffentlichen Äußerungen von chungsausschusses würde.
Herrn Schalck-Golodkowski in den vergangenen
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der
Monaten ansieht und anhört, die bezeichnenderweise
FDP — Zuruf von der FDP: Das wäre das
offensichtlich erst zu verzeichnen waren, als diejeni-
allerletzte!)
gen, die ihn in den Medien zu befragen hatten, dafür
auch ein Honorar angeboten haben, dann kommt man Ich denke, daß man damit den Bock zum Gärtner
zu der Auffassung, daß es eine schlimme Parallele zur machte. Sie sollten sich das sehr ernsthaft überle-
Bewältigung der Vergangenheit der Nazizeit gibt. gen.
Auch er zieht sich zurück auf den Sp ru ch, er habe nur Ich kann mir sehr gut vorstellen, daß Sie, Herr Kol-
seine Pflicht getan. lege Gysi, weil Sie nun Vorsitzender der Rechtsnach-
Ich erkläre hier — ohne dem Untersuchungsergeb- folgerin der SED sind, auch in die Verlegenheit kom-
nis vorgreifen zu wollen — : Er hat nicht für diesen men werden, als Zeuge vor diesem Untersuchungs-
Staat oder für die Menschen dieses Staates seine ausschuß aussagen zu müssen. Dann wäre es schon
Pflicht getan, sondern er hat etwas getan, was nur den besser, Sie würden nur dann in den Untersuchungs-
Mächtigen dieses Staates diente, ohne Rücksicht auf ausschuß kommen und nicht vorher schon darin sit-
die Interessen der Bevölkerung der ehemaligen DDR. zen.
Das war seine Tätigkeit. Ich denke, das wird auch die- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der
ser Untersuchungsausschuß hervorbringen können. FDP)
Diejenigen, die diesem Untersuchungsausschuß an- Der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte: Wir
gehören, werden eine schwere Arbeit vor sich haben, werden natürlich — Frau Kollegin Köppe hat das an-
wenn Sie berücksichtigen, daß — den Äußerungen gesprochen — auch die Tätigkeit der Kommerziellen
der ermittelnden Staatsanwaltschaft in Berlin zu- Koordinierung im Zusammenhang mit dem Vorfeld
folge — dem Untersuchungsausschuß wohl 2 000 der Währungsunion zu untersuchen haben; denn es
Leitz-Ordner mit ungeordnetem Aktenmaterial zur ist wohl unbestreitbar, daß gerade im Vorfeld der
Verfügung gestellt werden müssen. Es wäre auch eine Währungsunion, in dem Augenblick, in dem klar war,
Illusion anzunehmen, meine sehr verehrten Damen daß die D-Mark Währungsmittel in der damaligen
und Herren, daß dieser Ausschuß schnell zum Ende DDR werden würde, eine Menge kriminelle oder na-
kommt. Es wäre wünschenswert, daß dieser Ausschuß hezu kriminelle Aktivitäten auch und gerade von Mit-
schnell zum Ende kommt. Aber ich sage hier einmal gliedern oder Mitarbeitern der Kommerziellen Koor-
ganz deutlich: Gründlichkeit und Wahrhaftigkeit ge- dinierung allein mit dem Ziel getätigt worden sind,
hen bei der Untersuchung vor Schnelligkeit. Geld und harte Devisen, die damals vorhanden wa-
ren, zu verschleiern und auf irgendwelche Auslands-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) konten und in andere Verstecke zu verschieben. Auch
Deshalb wird es eine schwere Arbeit für die elf Mit- das wird ein wesentlicher Punkt der Arbeit dieses
glieder dieses Untersuchungsausschusses werden. Untersuchungsausschusses sein. Wir wollen auch das
Thema Wirtschafts- und Währungskriminalität in
Ich greife jetzt den Beitrag von Frau Kollegin Köppe diesem Untersuchungsausschuß ganz energisch un-
auf. Wir haben uns mit den anderen Fraktionen im tersuchen.
Ältestenrat heute mittag noch darauf verständigt, daß
wir — ich denke, ich spreche auch für den Kollegen (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Rüttgers — Ihnen als Vertretern des Bündnisses 90, Ich komme jetzt auf den Antrag der PDS/Linke Liste
die Sie mit einem Mitglied in diesem Untersuchungs- zurück, der hier als Änderungsantrag zu unserem An-
ausschuß tätig werden wollen, die Rechte einräumen trag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses
wollen, die alle anderen Mitglieder dieses Ausschus- vorliegt. Hierzu erkläre ich für meine Fraktion, daß
ses haben — bis auf die Tatsache, daß beim Stimm- wir diesen Antrag ablehnen werden. Abgesehen von
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2159

Dr. Peter Struck


Ihrer politischen Vergangenheit sage ich: Es ent- clique. Wer weiß, vielleicht existierten Teile des Impe-
spricht nicht den Beschlüssen, die wir in diesem Haus riums KoKo auch über den 3. Oktober 1990 hinaus
gefaßt haben, daß Sie volles Stimmrecht in diesem versteckt und/oder als Versorger der PDS. Die KoKo
Ausschuß haben sollen. Deshalb lehnen wir Ihren An- war meiner Einschätzung nach keine Entartung des
trag ab. DDR-Sozialismus, keine verbrecherische Entgleisung
Zu dem Antrag der Kollegen aus der CDU/CSU einzelner, sondern eine folgerichtige Erscheinung des
Fraktion erkläre ich: Wir haben überhaupt keine Pro- Systems. Wo sozialistische Mißwirtschaft, Devisen-
bleme, diesem Änderungsantrag zuzustimmen und knappheit und Gütermangel zwangsläufig und
den Untersuchungsauftrag entsprechend zu erwei- systembedingt sind, da entsteht der Zwang, die Wohl-
tern, weil wir, Herr Kollege Rüttgers, überhaupt keine fahrt der Nomenklatura auf Umwegen zu finanzieren.
Sorge haben, daß auch die Zeit vor der Regierungs- Der Auftrag der KoKo lautete kurz gefaßt: Opium für
übernahme durch die jetzige Koalition, die leider das Volk und P rivilegien für die Führung.
schon solange andauert, Die Menschen in den neuen Ländern haben unter
(Heiterkeit bei der CDU/CSU) dem SED-Regime gelitten. Sie verlangen jetzt Aufklä-
untersucht wird. rung und Rechenschaft auch über die dunklen Ma-
chenschaften der KoKo.
(Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: P rima!)
Wir haben überhaupt keine Sorge, auch den Zeit- (Beifall bei der CDU/CSU)
raum, in dem Sozialdemokraten oder Liberale Mit- Ich glaube, wir alle können die Ungeduld dieser
glieder einer Bundesregierung waren — ich denke an Menschen verstehen. Wir verstehen den Zo rn der
Graf Lambsdorff, der ja einmal Wirtschaftsminister Menschen, wenn sie auch nur den Eindruck haben,
war und der auch Gespräche mit Vertretern der SED daß diese Aufarbeitung zu langsam geschieht. Ich
oder Herrn Schalck-Golodkowski geführt hat —, in persönlich halte es durchaus für eine Provokation, daß
die Untersuchung einzubeziehen. der Leiter dieses Bereichs, Schalck-Golodkowski, in
- einer der schönsten Gegenden Deutschlands ein
Dieser Untersuchungsausschuß ist — ich sage das
zum Abschluß noch einmal — kein klassischer Unter- scheinbar geruhsames Leben führt, hin und wieder
suchungsausschuß nach dem Motto: Ich haue deine unterbrochen durch hochbezahlte Fernsehauftritte
Regierung, und du verteidigst meine Regierung, und Interviews.
(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) Wir wissen, die zuständige Staatsanwaltschaft in
sondern es ist ein Untersuchungsausschuß, der die Berlin hat gegen Schalck-Golodkowski eine Vielzahl
Aufgabe hat, den berechtigten Wünschen und Be- von Ermittlungsverfahren eingeleitet. Sie hat große
schwernissen der Menschen in der ehemaligen DDR Mengen von Akten beschlagnahmen lassen. Die
so Rechnung zu tragen, daß wir sagen können: Hier Staatsanwaltschaft ist also dabei, die Frage der Straf-
haben wir einen guten Beitrag zur Vergangenheitsbe- barkeit derjenigen Personen zu klären, die im Bereich
wältigung geleistet. KoKo Verantwortung getragen haben.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Wir haben uns in diesem Hause schon einmal damit
FDP) beschäftigt; es wäre gut, wenn diese Aufarbeitung
schneller ginge, als es der Fall zu sein scheint. Gerade
deshalb glaube ich, daß dieser Untersuchungsaus-
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort schuß auch einen Sinn hat. Wir als CDU/CSU-Frak-
hat der Abgeordnete Dr. Rüttgers. tion werden deshalb dem Antrag der SPD-Fraktion
auf Einsetzung dieses Untersuchungsausschusses zu-
Dr. Jürgen Rüttgers (CDU/CSU): Herr Präsident! stimmen, obwohl wir den Antrag, Herr Kollege Struck,
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben in einigen Details für mangelhaft halten. Deshalb ha-
in diesen Tagen der Haushaltsdebatte viel von Zu- ben wir einen Ergänzungsantrag vorgelegt, mit dem
kunftsgestaltung im wiedervereinigten Deutschland wir vermeiden wollen, daß es bei der praktischen Ar-
gesprochen. Ich glaube, wir alle haben dabei gespürt, beit des Ausschusses Probleme gibt.
daß es dabei auch immer um die Bewältigung der Ver- Daß der Antrag der PDS abgelehnt werden muß, ist
gangenheit in der ehemaligen DDR geht. Zu dieser klar. Es ist wieder einmal typisch, daß es sich hierbei
Vergangenheit gehört auch ein besonders sumpfiges mehr oder weniger um eine Geschäftsordnungsfrage
Gelände in der sozialistischen Kommandowirtschaft, zur Erlangung von mehr Rechten handelt.
nämlich der Arbeitsbereich Kommerzielle Koordi-
nierung. Nach allem, was wir bisher darüber wissen, Wenn wir dem Antrag des Bündnisses 90 sogleich
war hier eine Beschaffungsmafia im Auftrag der SED nicht zustimmen werden, dann hat das — das will ich
am Werk, so etwas wie eine schnelle Eingreiftruppe, ausdrücklich sagen — nichts mit dem Inhalt des An-
die an keine Regeln gebunden war, nicht einmal an trags zu tun, sondern — Sie, Frau Kollegin Köppe,
die Regeln der Planwirtschaft, nicht an die Gesetze haben schon darauf hingewiesen — schlichtweg mit
der DDR und nicht an das internationale Recht. Das dem Ablauf des Verfahrens hinsichtlich der Erarbei-
war so etwas wie eine Gesellschaft ohne Haftung, tung der Anträge. Ihr Antrag ist ja im Einsetzungsan-
aber mit unbeschränkter Vollmacht. trag und im Ergänzungsantrag inhaltlich erfaßt, so daß
insofern keine Schwierigkeiten entstehen können.
Der Zweck der Organisation „Schalck" war die Ver-
sorgung der SED, der Staatssicherheit, vermutlich Die CDU/CSU-Fraktion hat gestern verlangt, daß
auch der DKP und ihres Umfelds. Ihr Auftrag war die die Arbeit des Untersuchungsausschusses sofort be-
Sicherung vor allem der P ri vilegien der Führungs ginnt. Wir wünschen, daß die konstituierende Sitzung
2160 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Dr. Jürgen Rüttgers


und die erste Beratungssitzung noch in dieser Woche, Vermögen heute zum Teil in den Händen der PDS und
also morgen, stattfinden. ihrer Treuhänder befindet.
Wir werden morgen vorschlagen, daß für die über- (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Es hat
nächste Woche Frau Justizsenatorin Limbach aus sich vermehrt! — Dr. Barbara Höll [PDS/
Berlin sowie der Vorsitzende der Unabhängigen Kom- Linke Liste]: CDU!)
mission, Professor Papier, eingeladen wird. Wir wol- Der Arbeitsbereich Kommerzielle Koordinierung
len mit ihnen besprechen, wie der Untersuchungsaus- hatte sich nicht nur nach außen hin weitgehend abge-
schuß arbeiten kann, ohne die Staatsanwaltschaft und schottet, sondern auch intern. Jeder weiß, es gab dort
die Unabhängige Kommission zu behindern; daran keine Transparenz. Deshalb — da stimme ich dem
haben wir sicherlich kein Interesse. Kollegen Struck zu — wird unsere Arbeit mühsam,
langwierig und zeitraubend sein, und wir werden si-
Wir wollen nach diesem Gespräch einen Aktenbei- cherlich eine Vielzahl von Zeugen hören müssen.
ziehungsbeschluß herbeiführen, damit sich die Aus- KoKo soll nach den Berichten rund 3 500 Mitarbei-
schußmitglieder dann während der Sommerpause in ter gehabt haben. Ich würde es begrüßen, wenn diese
diesen umfangreichen Aktenberg einarbeiten kön- ehemaligen Mitarbeiter bereit wären, unsere Arbeit
nen. zu unterstützen. Sie könnten uns die Arbeit sicherlich
dadurch erleichtern, daß sie sich an uns wenden und
Die ersten Zeugenvernehmungen sollten — so un-
einen persönlichen Beitrag zur Aufklärung leisten. Ir-
ser Vorschlag — auf dieser Grundlage unmittelbar
gendwann werden wir ohnehin feststellen, wer dabei
danach, nämlich im September, stattfinden.
war und wer informiert war.
(Dr. Peter Struck [SPD]: Einverstanden!) Weil wir uns im Ausschuß auf die Sacharbeit kon-
zentrieren, verzichte ich auch darauf, heute hier die
Zu einer solchen Arbeit gehört übrigens auch, daß Namen derjenigen Personen aufzuzählen, die nach
die etwa erforderlich werdende Aufklärung - im Be- unserer Auffassung demnächst Zeugen vor dem Aus-
reich der Administration der alten Bundesrepublik schuß sein sollen. Die Herren Stoph, Krenz, Mittag,
Deutschland nicht auf die letzten Jahre beschränkt Mielke und Modrow werden sicherlich zu diesem
bleibt. Ich freue mich, daß Herr Kollege Struck auch Kreis gehören.
damit keine Schwierigkeiten gehabt hat. Dann Ich bin nach der Erklärung des Kollegen Struck
scheint es mehr oder weniger ein Versehen gewesen sicher, daß in diesem Ausschuß Koalition und SPD an
zu sein, daß die Begrenzung zufällig auf das Jahr 1983 einem Strang ziehen, ebenso wie das Bündnis 90.
fiel. Deshalb möchte ich vielleicht als unsere gemeinsame
Ich glaube, wenn wir das Ziel so definieren, Herr Auffassung feststellen: In diesem Ausschuß geht es
Struck — da stimme ich Ihnen zu — , wie Sie es ge- um eine Aufarbeitung Ost und nicht um einen Gra-
macht haben, dann ist für solche parteipolitisch moti- benkampf West.
vierten Fristsetzungen kein Raum bei der Arbeit die- Wir sind zu einer guten Zusammenarbeit bereit. Es
ses Ausschusses. wird viel Arbeit geben. Aber ich glaube, sie wird sich
lohnen.
Soweit wir wissen, wurde der Bereich KoKo 1972 Vielen Dank.
gegründet. Wir werden sicherlich auch danach fragen
müssen, ob und gegebenenfalls welche Zusammen- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
hänge im deusch-deutschen Verhältnis in jener Zeit bei Abgeordneten der SPD)
mit diesem Bereich bestanden haben. Ich glaube, daß
uns die ehemaligen Leiter der Ständigen Vertretung Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort
in Ost-Berlin, Gaus und Bölling, die sich ja auch lite- hat der Abgeordnete Dr. Gysi.
rarisch zu diesem Thema geäußert haben, interes-
sante Auskünfte zu diesem Komplex geben können. (Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Jetzt
Sie haben ja auch Herrn Schalck-Golodkowski bei machen wir den Bock zum Gärtner!)
ihrer Arbeit, wie ich lesen kann, sehr gut kennenge-
lernt. Die Memoiren von Günter Gaus erzählen jeden- Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste): Herr Präsident!
falls von einer Vielzahl konspirativ anmutender Tref- Meine Damen und Herren! Die PDS/Linke Liste hat
fen. sofort nach den ersten öffentlichen Äußerungen er-
klärt, daß wir für die Einsetzung des Untersuchungs-
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, uns interessie-
ausschusses sind. Wir können sowohl dem Antrag von
ren die Arbeitsweise des Bereichs KoKo und die Ver-
Bündnis 90/GRÜNE als auch dem SPD-Antrag zu-
bindungen zur SED und zum Ministe ri um für Staats-
stimmen. Natürlich sind wir dafür, daß die beiden
sicherheit; uns interessieren aber auch die Verbin-
Gruppen im Hause auch stimmberechtigt sind. Im-
dungen zur PDS und zur DKP. Wir wollen wissen, was
merhin sind es die, die in erster Linie im Osten Deut-
dort erwirtschaftet wurde, wie es erwirtschaftet wurde
schlands — spezifisch dort, würde ich sagen — ge-
und was mit den Erträgen geschah. Weiterhin interes-
wählt worden sind.
siert uns, was aus den vermutlich mehreren hundert
Unternehmen und Unternehmensbeteiligungen ge- Ich füge hinzu, daß bei den Sachfragen, die da erör-
worden ist und wer heute darüber verfügt. tert worden sind, mir eine nicht deutlich genug er-
scheint. Aber ich hoffe, daß es dennoch Gegenstand
Konkret heißt dies: Wir werden dem hin und wieder der Untersuchung sein kann. Es geht nämlich um fol-
geäußerten Verdacht nachgehen, daß sich das KoKo gende Frage: Für Devisenbeschaffung muß man ja
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2161

Dr. Gregor Gysi


etwas hergeben. Was ist eigentlich aus der DDR da- Uwe Lühr (FDP): Herr Präsident! Meine sehr verehr-
mals alles herausgegangen, um diese Devisen zu be- ten Damen und Herren! Gestatten Sie bitte, daß ich in
schaffen? In welchem Verhältnis stand das zu diesen einer etwas ungewöhnlichen Art und Weise heute mit
Devisen? Das ist eine Frage, die Bürgerinnen und Bür- meinem Redebeitrag beginne. Seit dieser Woche be-
ger der ehemaligen DDR sehr bewegt. ginne ich an Horoskope zu glauben. Ich will das gleich
(Zuruf von der CDU/CSU: Häftlinge!) erläutern. Mit der Genehmigung des Präsidenten
möchte ich drei Sätze aus dem „Stern" dieser Woche
Ich glaube, daß in großem Umfang Kulturgegen- zitieren, die meine und indirekt die Zukunft des Un-
stände, Antiquitäten und vieles andere eher ver- tersuchungsausschusses Schalck-Golodkowski ange-
schleudert worden sind, als daß es sozusagen — — hen. Da heißt es unter meinem Sternzeichen Fische —
(Zurufe von der CDU/CSU: Häftlinge! — ich zitiere:
Menschen! ) Sie sollen Ihr Tätigkeitsgebiet erweitern. Das ist
— Da stehen die Zahlen einigermaßen fest, weil Sie eine zweischneidige Sache. Denn die Mehrarbeit
wissen, was Sie gezahlt haben. Aber bei den anderen wird sich kaum lohnen.
Sachen ist das völlig offen. Deshalb, meine ich, müßte (Heiterkeit)
das geklärt werden.
Die erste Voraussage ist bereits eingetroffen. Ich
Ein zweiter Gesichtspunkt. Sie haben hier etwas habe erfahren, daß ich diesem Ausschuß angehören
zum Osten gesagt. Ich füge hinzu: Es gab keinen an- werde.
deren Bereich in der DDR, der so perfekt, so gut und so
Wir als FDP haben von Anbeginn aus unserer Skep-
umfassend mit dem Westen zusammengearbeitet hat
sis gegenüber der Eignung dieses parlamentarischen
wie der Bereich Kommerzielle Koordinierung — das
Instruments zur Aufklärung staatlich organisierten
sollten Sie dabei allerdings nicht vergessen — , und
Betrugs am größten Teil der Bevölkerung der ehema-
zwar sowohl mit allen wirtschaftlichen als auch in
ligen DDR kein Hehl gemacht. Auch sehen wir die
allen politischen Spitzen.
Gefahr, daß über den Sumpf von Devisenmanipulatio-
(Rudolf Bindig [SPD]: Wollen Sie uns angst nen die wirklich schwerwiegenden Verbrechen wie
machen?) Mauermorde, Totschlag und Erpressung und anderes
— Nein, ganz im Gegenteil, ich halte es nur für auf- mehr ins Abseits des Interesses geraten können. Da
klärungsbedürftig. die SPD aber auf ihrem legitimen Recht bestanden
hat, wollen wir uns um so mehr bemühen, die Arbeit
Ich will ein drittes sagen. Wenn Sie mich persönlich des Ausschusses zum Erfolg zu führen.
angehen, Herr Struck, und wenn auch Sie sich natür-
lich nicht beherrschen können, so sind Sie da ziemlich Das ist eine zweischneidige Sache, stand in dem
auf dem Holzpfad. Das werden Sie auch feststellen. Horoskop. Ja, der Ausschuß hat die Chance, ein Stück
Sie können da alles aufklären. deutscher Geschichte aufzuarbeiten. Er hat die
Chance, zum Rechtsfrieden in den neuen Bundeslän-
Ich ergänze, daß die Treuhandanstalt in der letzten dern und in ganz Deutschland beizutragen. Es gibt
Sitzung der Parteienkommission dazu erklärt hat, daß aber auch eine Gefahr, daß er aus vordergründigen
alles so ist, wie ich es dargestellt habe: daß ab Dezem- parteipolitischen Erwägungen zu taktischen Ausein-
ber 1989 dieser ganze Bereich ausschließlich vom andersetzungen mißbraucht wird, die insgesamt zur
Staat und dann von der Treuhandanstalt selbst ver- Bestätigung gehätschelter Vorurteile gegenüber der
waltet worden ist. Politik und den Politikern in unserer Bevölkerung bei-
Übrigens, diese Effekt-GmbH, die zunächst durch die trägt.
Treuhandanstalt mit Treuhand-Verträgen gehalten Wir hoffen, daß die Absicht der SPD, den Untersu-
wurde, wo sie jetzt selber eingestiegen ist, das alles chungsauftrag auf den Zeitraum nach 1983 zu be-
unterstand einer Abteilung in der Treuhand, die bis schränken, nicht ein erstes Anzeichen für diese Ten-
zur Wahl der neuen Präsidentin durch diese selbst denz ist. Herr Dr. Struck hat mir diese Sorge soeben
geleitet wurde. Einige Dinge könnten also schon klar genommen. Ich habe das sehr dankbar zur Kenntnis
sein, wenn man sich erkundigt hätte. genommen. Die zeitliche Begrenzung des Untersu-
Wir haben gegen die Aufklärung nichts einzuwen- chungsauftrages darf es nicht geben. Wir haben einen
den. Im Gegenteil, ich finde es wichtig für die ehema- eigenen Antrag mit dem Ziel der Erweiterung des
ligen Bürgerinnen und Bürger der DDR. Ich lege aber Auftrags des Untersuchungsausschusses einge-
auch Wert darauf, daß wir stimmberechtigt daran be- bracht.
teiligt sind. Es wird sich für einen Schlag gegen die Die voraussichtliche Teilnahme von Herrn Gysi als
PDS wirklich nicht als besonders inhaltsreich erwei- Mitglied in diesem Ausschuß läßt leider schon jetzt
sen. Aber für die Aufklärung der Geschichte der DDR Inszenierungen erwarten, deren zynischer Reiz fast
und auch für die Aufklärung der Geschichte der Be- nicht zu überbieten sein wird. Das hat er hier übrigens
ziehungen zwischen der DDR und der Bundesrepu- soeben auch gezeigt. Die Bemühungen der PDS, ihren
blik halte ich diesen Untersuchungsausschuß für sehr Zusatzantrag hier durchzubringen, lehnt die FDP mit
wichtig. aller Entschiedenheit ab.
(Beifall bei der PDS/Linke Liste) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Meine Damen und Herren, wir wollen uns ernsthaft
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort bemühen, ein Stück der unheilvollen Vernetzung von
hat der Abgeordnete Lühr. Stasi, KoKo, Schalck-Golodkowski, von der persönli-
2162 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Uwe Lühr
chen Verstrickung und von ihrem Wirken auch in den Ich habe mir einmal etwas überlegt. — Ich meine,
alten Bundesländern ans Licht zu bringen. Die Zeu- als relativ entfernter Westvertreter, der in der Fraktion
gen, die wir einvernehmen werden, sollten ihre Pflicht der PDS/Linke Liste tätig ist, kann ich das relativ lok-
zur wahrheitsgemäßen Aussage weniger als Bürde ker betrachten. — Ich will einmal auf folgendes hin-
denn als Chance zur Mitwirkung an der Aufarbeitung weisen: Ich könnte mir eine Effektivierung der Arbeit
einer Phase deutscher Geschichte verstehen, in der in dieses speziellen Ausschusses sehr gut vorstellen.
vielen, vielen Einzelfällen mit staatlicher Gewalt das — Einen Antrag kann man ja jetzt schlecht stellen. Es
persönliche Schicksal in einer Weise bestimmt wurde, wäre schön, wenn man in der Zukunft einen Antrag
die bei Bürgern in den alten Bundesländern nur mit vielleicht auch mündlich und auch kurzfristig einbrin-
Bestürzung zur Kenntnis genommen werden kann. gen könnte. — Ich will daher jetzt nur einfach die
Gerade auch das Wissen um das große Interesse der Empfehlung abgeben, daß in diesen Ausschuß vor
Bevölkerung in den neuen Bundesländern hält uns allen Dingen Vertreter der früheren Blockparteien,
dazu an, den Auftrag des Ausschusses mit aller also Vertreter der Demokratischen Bauernpartei und
Gründlichkeit auszuführen. Aber — das möchte ich der Ost-CDU, der LDPD und der NDPD, entsandt wer-
mit aller Entschlossenheit sagen — der Ausschuß ist den, denn diese Parteien haben selbstverständlich,
kein Tribunal. Wie die Staatsanwaltschaft Berlin wer- wie für jedermann und jedefrau ersichtlich, eine au-
den wir das Verfahren nach streng rechtsstaatlichen ßerordentlich fundierte Erfahrung mit den Strukturen
Grundsätzen betreiben. Das Grundgesetz schreibt der Kommerziellen Koordinierung. Sie kennen sich
uns das so vor. Deswegen haben wir aus den neuen mit dem ganzen Stil aus; Sie haben zum Teil selbst
Bundesländern ja auch die Freiheit und Rechtsstaat- davon profitiert. Ich empfehle dringend, im Sinne ei-
lichkeit des Grundgesetzes gewählt. ner Effektivierung dieses Ausschusses, an dem wir
alle ein Interesse haben müssen, so zu verfahren.
Irgendwelchen Rachegelüsten zu frönen könnte
zwar verständlich sein, das wird es aber — das versi-
chere ich hier — mit der FDP im Untersuchungsaus- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort
schuß nicht geben. Unsere Arbeit darf auch nicht dazu für eine Kurzintervention hat Herr Abgeordneter
führen, daß die Ergebnisse der staatsanwaltschaftli- Kronberg.
chen Ermittlungen gefährdet werden. Wir wollen die
Interessen der Staatsanwaltschaft wahren helfen und Heinz-Jürgen Kronberg (CDU/CSU): Herr Dr.
werden uns deshalb, wie Herr Rüttgers soeben schon B ri efs, vielleicht beruhigt es Sie, wenn ich Ihnen sage,
gesagt hat, umgehend mit Frau Limbach und Herrn daß ein ehemaliger Vertreter des Demokratischen
Professor Papier verständigen, um die Untersuchun- Aufbruchs und damit ein Vertreter einer ehemaligen
gen zu koordinieren. DDR-Partei im Ausschuß vertreten ist.
Die FDP-Bundestagsfraktion unterstützt den Antrag (Beifall bei der CDU/CSU)
der SPD auf Einsetzung des Untersuchungsausschus-
ses. Dem Antrag des Bündnisses 90/GRÜNE können Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich hoffe,
wir aus diesem Grunde nicht zusätzlich zustimmen. wir können nun wirklich zur Abstimmung kommen.
Wir tragen die Einsetzung des Untersuchungsaus- Ich lasse zunächst über den Änderungsantrag der
schusses in der Hoffnung mit, daß der dritte Satz des Gruppe PDS/Linke Liste, der Ihnen auf Drucksache
von mir eingangs erwähnten Horoskops nicht eintref- 12/686 vorliegt, abstimmen. Wer diesem Änderungs-
fen wird, in dem es hieß: „Denn die Mehrarbeit lohnt antrag der PDS/Linke Liste zuzustimmen gedenkt,
kaum. " den bitte ich um das Handzeichen. — Wer ist dage-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gen? — Stimmenthaltungen? — Dann ist dieser An-
der CDU/CSU) trag mit den Stimmen der SPD, der CDU/CSU und der
FDP abgelehnt.
Ich lasse nunmehr über den Änderungsantrag der
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Zu einer Fraktionen der CDU/CSU und der FDP abstimmen,
Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten B ri efs der Ihnen auf Drucksache 12/662 vorliegt. Wer diesem
das Wort. Änderungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich
(Unruhe) um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? —
Stimmenthaltungen? — Dann ist dieser Änderungs-
antrag bei einigen Stimmenthaltungen aus der
Dr. Ulrich Briefs (PDS/Linke Liste): Danke für das Gruppe PDS/Linke Liste angenommen worden.
Raunen. — Ich finde das ja ganz spannend. Da kommt Wir kommen jetzt zum Antrag der Fraktion der SPD
ja mal wieder was hoch. Wir haben das ja vor einigen auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses mit
Jahren schon einmal durchexerziert, so beim F li ck- der Änderung, die Sie gerade beschlossen haben. Wer
Ausschuß. stimmt diesem Antrag zu? — Wer stimmt dagegen? —
Dazu fällt mir folgendes ein: Wenn der Flick-Aus- Stimmenthaltungen? — Dieser Antrag ist bei einigen
schuß nur mit Vertretern von Parteien und politischen Stimmenthaltungen aus den Gruppen PDS/Linke Li-
Organisationen besetzt worden wäre, die sozusagen ste und Bündnis 90/GRÜNE angenommen worden.
nicht im Verfahren betroffen gewesen wären, dann Ich frage nun die Abgeordneten der Gruppe Bünd-
hätte er ausschließlich mit Vertretern der GRÜNEN nis 90/GRÜNE, ob sie, nachdem der Untersuchungs-
besetzt werden müssen. Das will ich nur einmal zu ausschuß eingesetzt ist, noch Wert darauf legen, daß
bedenken geben, was die Behandlung der PDS be- über ihren Antrag abgestimmt wird. — Das ist der
trifft. Fall.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2163

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg


Dann lasse ich über den Antrag der Gruppe Bünd- Sieht man sich die bisher erkennbaren Konturen an,
nis 90/GRÜNE abstimmen, der Ihnen auf Drucksache die Bundesminister Krause dem staunenden Publi-
12/629 vorliegt. Wer stimmt diesem Antrag zu? — Wer kum darbietet, so kann man zukunftsweisende Kon-
stimmt dagegen? — Dieser Antrag ist mit den Sti zepte allerdings nicht entdecken,
men der CDU/CSU, der SPD und der FDP abge-
lehnt. (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/
GRÜNE)

Ich rufe nunmehr auf: sondern eher ein Zurück in die 60er Jahre: Vorrang für
den Straßenbau, Abbau von Mitwirkungsrechten der
Einzelplan 12 Bürger im Planungsrecht, Beseitigung oder Vergam-
Geschäftsbereich des Bundesministers für melung von Schienenwegen in den fünf neuen Län-
Verkehr dern, Bildung eines neuen Schattenhaushalts — mög-
— Drucksachen 12/512, 12/530 — licherweise jedenfalls — durch Leasing-Verfahren,
das den Staat teuer zu stehen kommen wird und künf-
Berichterstatter: tige Generationen mit Steuererhöhungen belasten
Abgeordnete Ernst Waltemathe könnte, Aushebelung der parlamentarischen Rechte
Wilfried Bohlsen bei der Feststellung der Straßenbauprioritäten,
Werner Zywietz
Der Ältestenrat schlägt eine Beratungszeit von einer (Ekkehard G ries [FDP]: Das ist alles wirklich
Stunde vor. — Das Haus hat nichts dagegen einzu- falsch!)
wenden, so daß ich das als beschlossen feststellen und
die Aussprache eröffnen darf. — Herr Gries, hören Sie weiter zu —, Abschied von
den maritimen Interessen einer großen Handelsna-
Ich erteile dem Abgeordneten Waltemathe das tion.
Wort.
m-- Also — die einen mögen es erhoffen, die anderen
werden es befürchten — : Nicht jeder Krause-Ge-
Ernst Waltemathe (SPD): Vielen Dank, Herr Präsi- danke ergibt schon eine glatte Lösung.
dent! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir
haben einen neuen Verkehrsminister. (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/
(Beifall bei der CDU/CSU) GRÜNE)
Wir haben neue Herausforderungen in Gesamtdeut- Der heute zu beratende offizielle Verkehrshaushalt
schland. Wir werden ein neues, ein wachsendes Eu- und der Teil des Gemeinschaftswerks Aufschwung
ropa haben. Wir haben also p rima Voraussetzungen Ost, der sich auf Verkehrsbauten bezieht, ergeben
für wirkliche Verkehrspolitik. — je nachdem, wie man rechnet — ein Volumen von
In der alten Bundesrepublik war es ja prächtig. In etwa 37 bis 40 Milliarden DM, von denen etwa die
den Aufbaujahren nach 1945 haben wir in der alten Hälfte Investitionsmittel sind. Das sind einerseits ge-
Bundesrepublik manchmal sehr hechelnd versucht, waltige Summen, die der öffentlich-parlamentari-
dem wachsenden Pkw- und Lkw-Verkehr gerecht zu schen Kontrolle unterliegen müssen, andererseits sind
werden, die autogerechte Stadt wurde geplant, „freie es Beträge, bei denen sich der Streit um die konkrete
Fahrt für freie Bürger" , zunehmender Gütertransport Verwendung lohnt, denn falsche Prioritätensetzun-
über Autobahn und Fernstraße, Zurückdrängung von gen werden die Zukunft negativ beeinflussen. Wer zu
Schiene und Wasserweg. Die Wohltaten dieser freien früh die Weichen falsch stellt, wird in diesem Fall vom
Mobilität wurden mit Landschaftszerstörung, mit Im- Leben bestraft werden.
mobilität durch immer mehr Staus, durch große Un- Ich komme zum Straßenbau; ich mache das nur in
fallhäufigkeit und mit Streß erkauft. Stichworten. Es gibt gar keine Zweifel und auch kei-
Dies sage ich nun nicht, um Schwarzmalerei zu be- nen Streit darüber, daß Straßen instandgesetzt, an-
treiben, sondern um etwas von den Erfahrungen zu dere ausgebaut und wieder andere neugebaut wer-
vermitteln. Es ist vielleicht gerade 20 Jahre her, daß den müssen. Es gibt auch keinen Streit darüber, daß in
wir in der alten Republik von unserer Aufbauwut, in den fünf neuen Ländern großer Nachholbedarf be-
der wir manches nicht bedacht haben, abgelassen steht, um zur Verkehrssicherheit und, soweit das geht,
haben und im Planungsrecht und in der Umweltvor- zum verbesserten Personen- und Gütertransport ei-
sorge vorsichtiger geworden sind. nen Beitrag zu leisten. Auch eine Nordautobahn zwi-
(Zuruf von der SPD: Gottlob!) schen Elbe und Oder mag in Betracht kommen. Aber
dies heißt doch auch, daß die Planungen so vorzuneh-
Sollen also die Übertreibungen, die wir einmal als men sind, daß über Alternativen in der Trassenfüh-
Fehler erkannt haben, jetzt fortgesetzt werden? Ist der rung, über Umweltverträglichkeit, über Bürgermit-
Beitritt der ehemaligen DDR zugleich ein Freibrief für
wirkung nicht bulldozerhaft hinweggerollt wird.
Fehlerübertragungen, oder ergreifen wir die Chance,
durch mehr Miteinander der Verkehrsträger zu politi- (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Li
schen Vorgaben und Rahmenbedingungen zu kom- ste)
men, indem jedes Verkehrsmittel seine spezifischen
Vorteile ausspielen kann, ohne die spezifischen Planung, meine Damen und Herren, ist doch kein
Nachteile zu vermehren? Das bedeutet unter anderem obrigkeitsstaatlicher, kein autoritärer Vorgang hinter
eine verstärkte Anstrengung, durch entsprechende verschlossenen Türen. Gegen das Abwerfen von bü-
Infrastruktur kombinierte Verkehre zu ermöglichen. rokratischem Ballast haben wir nichts einzuwenden,
2164 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Ernst Waltemathe
wohl aber gegen Vorwände, Bürgerrechte zu ampu- samt und der Küstenschiffahrt insbesondere für den
tieren und Umweltvorsorge als Luxus anzusehen. Transport von Gütern. Aus dem Bundeshaushalt wird
nicht erkennbar, ob der sonst so kopfgesteuerte Bun-
(Ekkehard G ries [FDP]: Wer will das
desminister für Verkehr seewärtige Wasserwege
denn?)
überhaupt im Kopf hat. Im Etat hat er sie jedenfalls
Zweitens die Schiene: Vordergründig werden Sie nicht.
vermutlich erneut darauf verweisen, daß sich von den (Beifall bei der SPD)
17 Projekten zur deutschen Einheit allein neun auf
Schienenwege, weitere sieben auf Straßen und ein Viertens der Luftverkehr: Vermißt wird hier ein
Projekt auf die Binnenschiffahrt beziehen. Tatsache Konzept für den innerdeutschen und für den innereu-
bleibt aber, daß ein Konzept zur Herstellung der Wett- ropäischen Luftverkehr und dessen Einpassung in
bewerbsfähigkeit der Eisenbahnen weder vorliegt eine Gesamtkonzeption. Jedermann weiß, daß der
noch beabsichtigt ist. Die Bahnen sollen ihren Fahr- Luftraum überlastet ist und künftig noch mehr überla-
weg nach wie vor erwirtschaften. Seit wann zahlen stet sein wird und andere Verkehrsträger, richtig ein-
eigentlich Binnenschiffahrt für Flüsse und Kanäle und gesetzt, den internen Verkehr künftig besser bewälti-
Lkw und Pkw voll für Autobahnen und Fernstra- gen werden. Insoweit sind etwaige Absichten, neue
ßen? Großflughäfen zu planen, sowohl von Anzahl als auch
vom Standort her und unter Umweltgesichtspunkten
(Beifall bei der SPD) in ein Gesamtkonzept Luftverkehr einzupassen. Dar-
über sind wir uns aber wohl auch einig.
Wie sollen erhebliche Defizite bei Bundesbahn und
Reichsbahn vermieden werden, wenn Bau, Unterhal- Meine Damen und Herren, dieser Bundesverkehrs-
tung und Sicherung ihrer Fahrwege betriebswirt- minister hätte einen guten Start haben können,
schaftliche Kosten sind, während bei anderen Ver- (Jochen Borchert [CDU/CSU]: Er hatte einen
kehrsträgern der Wert und die Kosten ihrer spezifi- guten Start!)
schen Fahrwege in der Bilanz nicht auftauchen, in die
Preise nicht eingehen, sondern als volkswirtschaftli- wenn er sich so an die Arbeit gemacht hätte, daß wirk-
che Kosten unberücksichtigt bleiben? lich ein Neubeginn der gesamten Verkehrspolitik er-
kennbar würde und die einzelnen Maßnahmen in ein
Der Haushaltsausschuß mußte in diesem Jahr eine Zukunftsprojekt hineinpassen würden. Aber leider
Ermächtigung aussprechen — der Bundestag wird es fällt Herr Krause zurück in die Hauruck-Politik des
heute tun —, damit die Bundesbahn selbst zusätzliche kurzfristigen Aktivismus und duldet keine Kritik.
Kredite in Höhe von 1,5 Milliarden DM aufnehmen (Beifall bei der SPD — Jochen Borchert
kann. Das bedeutet aber gleichzeitig, daß ihre Schul- [CDU/CSU]: Das stimmt doch nicht!)
den- und Zinslast erhöht wird. Und die Reichsbahn, in
die Marktwirtschaft überführt, wird demnächst be- Just an dem Tag — ich bin sofort fertig, Herr Präsi-
reits bei vier Milliarden DM eigenen Schulden lan- dent —, als wir im Haushaltsausschuß den Personal-
den. etat beraten haben, nämlich am 23. Mai, konnten wir
der Zeitung entnehmen, daß der Abteilungsleiter für
Drittens Wasserwege: Daß Bundesminister Krause Straßenbau, Stoll, und der Abteilungsleiter für Stra-
aus einem Küstenland kommt, sollte man nicht vermu- ßenverkehr, Dr. Nau, geschaßt wurden. Sie waren
ten. Die See- und Küstenschiffahrt kommt bei ihm wohl einerseits mit den von Herrn Krause vorgeschla-
überhaupt nicht vor. Bei den Maßnahmen zur Erhal- genen Promille-Regelungen im Straßenverkehrsrecht
tung der deutschen Flagge in der deutschen Seeschif- und andererseits mit dem planungsrechtlichen Kahl-
fahrt fiel ihm nur eine absolute Null-Lösung ein, ob- schlag beim Straßenbau nicht einverstanden.
wohl das Bundeskabinett noch im Juli des letzten Jah-
Private Planungsgesellschaften, p rivate Trassenfi-
res für die alte Bundesrepublik eine Reederhilfe von
nanzierung auf Leasing-Basis, Maßnahmen- und Be-
120 Millionen DM zur Verfügung gestellt bzw. im
Haushaltsplanentwurf veranschlagt hatte. Minde- schleunigungsgesetze — dies alles weckt unser Miß-
trauen in die Regierungskunst des amtierenden Bun-
stens weitere 20 Millionen DM müssen für das Bei-
trittsgebiet hinzugerechnet werden. Herr Krause hat deskabinetts und veranlaßt uns, den Etat des Bundes-
verkehrsministers abzulehnen.
beide Beträge zusammengezählt, ist auf null Mark
gekommen, die Koalition hat sich an ihre eigenen (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/
Zusagen gegenüber den Reedern nicht gehalten und GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/
statt 140 Millionen DM, die es, richtig gerechnet, hät- Linke Liste)
ten sein müssen, nur 80 Millionen DM bewilligt.
Die Opposition hat — auch gegenüber den Ree-
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort
dern — klargemacht, daß sie keine Dauersubventio-
hat der Abgeordnete Bohlsen.
nen will. Wir wollen in zwei Schritten die Seeschif-
fahrtshilfe vollständig abbauen, für 1991 die zuge-
sagte Summe und für 1992 noch einmal die Hälfte
Wilfried Bohlsen (CDU/CSU): Herr Präsident!
davon zur Verfügung stellen. Damit könnte sich die
Reederschaft in ihren betriebswirtschaftlichen Kalku- Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der Ver-
lationen darauf einstellen, daß der Subventionsabbau kehrsetat steht, so meine ich, vor der größten Heraus-
1993 vollzogen sein würde. forderung seit der Nachkriegzeit. Wir haben im Ver-
kehrsbereich den höchsten Investitionsbedarf. Eine
Zu einem Verkehrskonzept gehört allerdings auch Klausurtagung der Arbeitsgruppe Verkehr der CDU/
die Definition der Aufgaben der Seeschiffahrt insge- CSU-Fraktion hat gerade noch einmal deutlich ge-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2165
Wilfried Bohlsen
macht, welch erheblicher Bedarf bis zum Jahre 2000 Hier baue ich die Brücke zum Subventionsabbau.
ansteht. Ich will den Bundeswirtschaftsminister nachdrücklich
Durch die Teilung bedingt ist der Ausbau der Ost- unterstützen, wenn er sagt: Wir müssen an die Sachen
West-Verbindung beiderseits vernachlässigt worden. herangehen. Wir haben das ja im Haushaltsausschuß
Da nicht alles sofort finanziert werden kann, denkt mit diesem Beschluß schon eingebracht.
man natürlich auch über Leasing-Modelle nach. (Beifall bei der CDU/CSU)
Aber die Verfahren beim Bau von Verkehrseinrich- Ich will noch einmal deutlich machen — das sage
tungen müßten beschleunigt werden. Hier spreche ich auch als Vorsitzender des Gesprächskreises Küste
ich den Kollegen Waltemathe an: Wir alle wissen, wie unserer Fraktion — , daß wir auch im Bereich der
groß und wie schnell gebaut werden müßte. Leider Schiffbauförderung ähnliche Wege gegangen sind.
versagt sich die SPD-Fraktion hier eine Möglichkeit. Wenn wir einige Jahre zurückdenken, nämlich an die
Ich bitte hier aber um eine Zusammenarbeit — gerade große K ri se, wo wir den Schiffbau bis zu 20 % geför-
das ist das Ansinnen des Ministers —, damit wir zu dert haben, sehen wir heute eine Herabstufung auf
einer schnellen Umsetzung kommen. Ich bitte um die 16 %, auf 14 %, auf 12,5 %, auf nunmehr 9,5 % Förde-
Unterstützung all derer, die Verantwortung tragen: rung. Wir sehen deutlich die Kurve nach unten, und
Wir müssen schnell umsetzen können, um Verkehrs- zwar mit dem Hinweis an das Gewerbe, weiter nach
engpässe zu beseitigen. unten fahren zu wollen. Das ist der Weg, den wir
gegangen sind und den wir weiterhin gehen sollten.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Lassen Sie mich jetzt zwei Maßnahmen ansprechen,
40 Jahre Kommunismus hinterlassen uns Fernstra- die wir im Binnenschiffahrtsbereich zusätzlich hin-
ßen in den neuen Bundesländern in einem schlechten eingenommen haben. Einmal ist es die Mosel und zum
Zustand, wenig ausgebaute Binnenwasserstraßen anderen ist es die Ems-Vertiefung, für die wir beide
und eine sanierungsbedürftige Reichsbahn. Mit die- einen Ansatz eingebracht haben. Hierzu weise ich
sem Erbe müssen wir jetzt leben. noch einmal auf eine Problematik hin, die wir deutlich
Ich will die Zahlen noch einmal kurz in Erinnerung sehen.
rufen; denn 35,5 Milliarden DM sind doch immerhin (Ernst Waltemathe [SPD]: Herr Krause hatte
ein Volumen in unserem Haushalt, das deutlich das nicht im Entwurf!)
macht, wie die Schwerpunkte, wie die Prioritäten ge- — Ja, aber wir haben es d rin. Ich wollte es nur noch
setzt werden. Wenn Sie dann noch Einzelplan 60 mit einmal deutlich machen. Insofern sind wir einigen
dem Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost hinzuden- Wünschen der Regionen auch sehr deutlich nachge-
ken, wird deutlich, welches Volumen hier angesetzt kommen.
wird.
Die Beratungen im Haushaltsausschuß haben dazu Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab-
geführt, daß wir einige, aber doch wesentliche Verän- geordneter, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zuzu-
derungen gegenüber dem Regierungsentwurf vorge- lassen?
nommen haben. Lassen Sie mich auf einige wenige
eingehen. Ich beginne bei dem, was Kollege Walte-
Wilfried Bohlsen (CDU/CSU) : Natürlich. Das ist ein
mathe auch schon angesprochen hat, nämlich bei den
Finanzbeiträgen. Kollege aus dem Haushaltsausschuß.
Zunächst waren in dem neuen Regierungsentwurf
Helmut Wieczorek (Duisburg) (SPD): Herr Kollege
keine Ansätze getätigt. Wir meinten, daß dies — da
Bohlsen, der Präsident hat mich sehr lange übersehen,
waren wir uns auch mit den Berichterstattern der an-
so daß Sie nicht mehr bei dem Thema sind, das ich
deren Fraktionen einig — zu reparieren sei. Ich darf es
ansprechen möchte. Ich wollte Sie eigentlich nur fra-
als einen großen Erfolg verbuchen, daß es gelungen
gen, ob Sie nicht glauben, daß die Subventionsgabe
ist, von einer Null-Summe wieder auf einen Ansatz zu
an die deutsche Seeschiffahrt und an die deutschen
kommen. Das war sehr wichtig und hätte bei den See-
Werften eigentlich mustergültig ist — wenn man
schiffahrtsunternehmen sicherlich sonst zu negativen
überhaupt von mustergültigen Subventionen reden
Auswirkungen sowohl bei der Beschäftigung wie
kann — und daß wir ihr damit ermöglicht haben, die
auch bei der Ausbildung der Seeleute führen können.
Anpassung ihrer Kapazitäten und ihrer Belegschaft in
Es mußte also die vollständige Streichung verhindert
so weicher Form vorzunehmen, wie es eben geht. Fer-
werden.
ner möchte ich Sie fragen, ob Sie glauben, daß dieser
Wenn es uns nunmehr im Haushalt 1991 mit 80 Mil- Anpassungsvorgang schon zu Ende ist.
lionen DM und im Folgejahr durch Verpflichtungser-
mächtigungen in Höhe von 50 Millionen DM gelun- Wilfried Bohlsen (CDU/CSU): Ich sage Ihnen nicht,
gen ist, die Ansätze entsprechend einzubringen, so daß der Anpassungsvorgang zu Ende ist. Wir können
haben wir doch dem Gewerbe signalisiert, daß für die diesen Subventionsabbau nicht allein auf nationaler
dann folgenden Jahre weitere Beträge nicht fließen Ebene betreiben. Sie werden mir zugeben, daß dies
sollen. Das haben wir vorher deutlich gesagt; darauf nur im internationalen Verbund geht; denn diese
kann sich das Gewerbe einstellen. Werftbetriebe und Seeschiffahrtsbetriebe stehen in
Hier sehen wir auch noch einmal die Zusammen- einer direkten Konkurrenz zu europäischen Partnern.
hänge eines Subventionsabbaus: im letzten Jahr fast Ich möchte Ihre Frage daher mit der Bitte an den Bun-
noch 140 Millionen DM, in diesem Jahr runter auf deswirtschaftsminister verbinden, auf die europäi-
80 Millionen DM und im Folgejahr runter auf 50 Mil- schen Nachbarn dahin gehend einzuwirken, daß die-
lionen DM. Wir sehen hier einen deutlichen Abbau. ser Subventionsabb au überall gleichermaßen ge-
2166 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Wilfried Bohlsen
schieht. Nur wenn das möglich ist, können wir später den alten Bundesländern vor zehn oder 20 Jahren ge-
auch einmal auf Null fahren. sündigt, indem viel Baumbestand geopfert wurde.
(Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Das (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem
verbindet sich genau mit unserer Mei- Bündnis 90/GRÜNE)
nung!) Ich bitte nachdrücklich darum, daß sich die Fehler, die
bei uns gemacht worden sind, dort nicht wiederholen.
Ich hatte eben noch einmal auf die Ems-Vertiefung
Mein dringender Appell: Erhalten Sie die schönen
hingewiesen. Ich möchte dazu noch ganz deutlich sa-
Alleen in den neuen Bundesländern.
gen — das richte ich auch an die Kollegen aus Nieder-
sachsen — , daß es hierbei keinen Konsens mit der nie- (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD
dersächischen Landesregierung gibt. Dies will ich und dem Bündnis 90/GRÜNE)
noch einmal deutlich machen. Die Redezeit erlaubt es Im Bereich der Luftfahrt — auch hier eine Haus-
mir nicht, noch einmal zu vertiefen, was der Kanzler- haltsveränderung gegenüber dem Regierungsent-
amtsminister Seiters anläßlich der Eröffnung der Jan- wurf — wi ll ich ansprechen, daß die Gewinne aus den
Berghaus-Brücke in Leer dazu gesagt hat. Er hat dort Beteiligungen um 55 Millionen DM zurückgeführt
noch einmal deutlich gemacht, daß es dann, wenn das werden mußten, da seitens der Lufthansa auf G ru nd
Land Niedersachsen nicht bereit ist, diese Maßnahme der bekannten zurückliegenden internationalen Zu-
in dem Umfang, in dem es der Bund möchte, zu tra- sammenhänge keine Dividende an die Aktionäre ge-
gen, nicht zum Vollzug kommen wird. zahlt wurde. Für 1991 werden nach dem Verlauf der
Ich bitte also die niedersächsischen SPD-Kollegen, ersten Monate auch die großen Luftverkehrsgesell-
insbesondere die im Haushaltsausschuß, die diesen schaften weiter mit sehr schwierigen Marktverhältnis-
Beschluß mitgetragen haben, auf die rot-grüne Lan- sen kämpfen müssen.
desregierung in Niedersachsen einzuwirken mit dem Bezogen auf den Luftraum Berlin sind eine bessere
Ziel, daß diese ihren Ems-Kurs doch ein wenig verän- Koordinierung und eine bessere Nutzung der vorhan-
dert. So, wie er jetzt ist, führt er in eine Richtung, bei denen Kapazitäten der Verkehrsflughäfen dringend
der Arbeitsplätze an der Küste vernichtet werden. notwendig. Dies soll über eine Holdinggesellschaft
erreicht werden. Gesellschafter sind hier neben Berlin
Ein wesentlicher Punkt — jetzt komme ich zum und dem Land Brandenburg auch der Bund mit einem
Fernstraßenbau — war bei unseren Beratungen eben Anteil von 26 %.
dieser Bezug. Auf der Ausgabenseite sehen wir natür-
lich, daß vieles abzudecken ist. Wir bekommen nach Lassen Sie mich an dieser Stelle noch einmal das
dem Regierungsentwurf Finanzierungsschwierigkei- Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz ansprechen;
ten in den alten Bundesländern dadurch, daß wir denn auch hier gab es einige Änderungen. Die Mittel
1 Milliarde DM von den Altländern in die Neuländer nach dem Gesetz zur Verbesserung der Verhältnisse
umlenken. in den Gemeinden wurden ja durch die Einigungsver-
tragsgesetze bereits im Jahre 1990 von 2,6 Milliarden
Zunächst hat der Haushaltsausschuß auch hier ein- DM um 680 Millionen DM für die Neuländer auf ins-
vernehmlich den bisher vorgesehenen Haushaltsver- gesamt 3,28 Milliarden DM erhöht.
merk neu gefaßt — hierauf möchte ich deutlich hin-
weisen —, so daß die Haushaltsmittel, die im Jahre Durch das Haushaltsbegleitgesetz sollen in den fünf
neuen Bundesländern die Maßnahmen im Rahmen
1991 in den neuen Bundesländern nicht benötigt wer-
des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes auf
den, auf dem Gebiet der Altländer eingesetzt werden
Fördersätze in Höhe von 100 % angehoben werden.
können, dort aber in den Folgejahren nicht eingespart
werden müssen. Ich weise auch darauf hin, daß im Das heißt, die neuen Bundesländer brauchen keine
Komplementärmittel einzubringen. Ausgenommen
Einzelplan 12 — das ist der Bereich des Bundesfern-
straßenbaus — und im Einzelplan 60 — hier verweise haben wir hier lediglich die Bezuschussung der Omni-
busse in dieser Höhe.
ich noch einmal auf das Gemeinschaftswerk Auf-
schwung Ost — weitere Verpflichtungsermächtigun- Mir verbleiben noch einige Minuten, um zur Reichs-
gen von je 500 Millionen DM ausgebracht sind. Mit bahn und Bundesbahn einige Worte zu sagen,
diesen Verpflichtungsermächtigungen von insgesamt
(Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: ICE!)
1 Milliarde DM wird es möglich, Haushaltsmittel in
einer Größenordnung von 500 Millionen DM von den — Ich werde ihn gleich mit einfangen, verehrter Herr
Neuländern auf die Altländer umzuschichten, ohne Kollege.
daß wir die Höhe des Vergabevolumens in irgendei-
ner Weise schmälern. (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Das ist
Zum Bundesfernstraßenbau möchte ich noch auf die nicht schwer, der steht ja immer!)
Schaffung einer haushaltsrechtlichen Voraussetzung Hierzu haben die Koalitionsfraktionen einen Ent-
hinweisen, mit der bei der beschleunigten Verwirkli- schließungsantrag eingebracht, wonach zur Zusam-
chung von Straßenbauprojekten in den neuen Län- menlegung der beiden deutschen Bahnen bis zum
dern ganz neue Wege beschritten werden. Ich nenne Sommer ein verbindliches Konzept vorzulegen ist. Die
hier die Bildung der Planungsgesellschaften. Da der Bundesregierung soll die Fusion so beschleunigt in
Minister in dieser Runde ist, möchte ich in diesem Ang ri ff nehmen, daß der Aufbau von unnötigen Dop-
Zusammenhang eine Bitte aussprechen: Wenn man pelfunktionen vermieden wird und der optimale Ein-
durch die schöne Landschaft der neuen Bundesländer satz der Mittel für die Infrastruktur, aber auch für das
fährt, sieht man wunderschöne Alleen. Wir haben in rollende Mate ri al bei der Bahn sichergestellt ist. Wir
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2167

Wilfried Bohlsen
bitten Sie, Herr Bundesminister, in diesem Entschlie- Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, wird dem Ver-
ßungsantrag auch um Unterstützung bei der Durch- kehrshaushalt in der vorgeschlagenen Form selbst-
führung dieser Zusammensetzung. verständlich unsere Zustimmung geben.
(Jochen Borchert [CDU/CSU]: Sehr gut!) Ich darf mich bei dem Herrn Minister und seinen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Hauses recht
Lassen Sie mich auch den Punkt der Jugendarbeits- herzlich für die Zusammenarbeit bedanken. In diesen
losigkeit ansprechen. Hier haben wir mit Blick auf die Dank schließe ich auch den Dank für die gute Zusam-
Reichsbahn einen sehr wesentlichen Beschluß gefaßt. menarbeit mit den anderen Berichterstattern mit
Um der Jugendarbeitslosigkeit in den neuen Ländern ein.
zu begegnen, sind der Reichsbahn weitere Mittel be-
Vielen Dank.
reitgestellt worden, um über die schon vorgesehenen
2 200 Auszubildenden hinaus weitere 500 auszubil- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
den, d. h. über den Bedarf hinaus. Hier schaffen wir
Möglichkeiten, um der hohen Jugendarbeitslosigkeit Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort
in den neuen Bundesländern abzuhelfen. hatderAbgonD.Fi
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Da wir die Reichsbahn angesprochen haben und Dr. Klaus-Dieter Feige (Bündnis 90/GRÜNE): Herr
Sie, verehrter Herr Kollege, mir gerade das Stichwort Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
für die Bundesbahn geliefert haben, will ich doch dar- Wenn jemand behaupten würde, daß der von Bundes-
auf eingehen. Daß wir bei der Bundesbahn Sorgen minister Krause vorgelegte Entwurf eines Beschleuni-
haben, verhehle ich nicht. Das ist uns aus den langen gungsgesetzes bzw. die Überlegung für ein Maßnah-
Beratungen bekannt. Aber dennoch will ich auf den megesetz direkt aus der Feder der westdeutschen
Fahrplanwechsel hinweisen, der am letzten Sonntag Autolobby geflossen sei, so könnte ich dem nur
stattgefunden hat. Ich will sagen: Das Hochgeschwin- schwerlich widersprechen.
-
digkeitszeitalter der Bundesbahn hat begonnen. (Zuruf von der FDP: Was für ein Quatsch!)
(Karl Diller [SPD]: Und wie!) Diese Gesetzesvorhaben platzen nun genau in die
Pause zwischen der ersten und zweiten Lesung des
Sicherlich hat er noch einige Anfangsschwierigkeiten.
Haushaltes. Man erkennt die Zusammenhänge und ist
Die Türen gehen nicht immer wunschgemäß zu oder verstimmt.
auf. Aber ich glaube, das läßt sich beheben.
Es muß schon einiges passieren, um einen Mecklen-
Ich will zumindest sagen: Der Intercity-Express ist burger aus der Ruhe zu bringen. Aber irgendwann ist
auf die Strecke gegangen. es einmal soweit. Die geplanten Gesetzesvorhaben
(Dr. Nils Diederich [Berlin] [SPD]: Zur zum Verkehrswegeaufbau in dieser Form stellen eine
Strecke gebracht!) offene Kriegserklärung an Natur und Umwelt sowie
an eine demokratische und bürgernahe Verkehrspoli-
Damit ist für die Deutsche Bundesbahn ein jahrzehn- tik dar.
telanger Traum in Erfüllung gegangen. Zum Start ih-
rer Superzüge — jetzt sollten Sie sich daran erinnern, (Beifall bei der PDS/Linke Liste — Eduard
was an Investitionsmitteln geflossen ist — haben wir Oswald [CDU/CSU]: Sie haben keine Zeile
immerhin 15 Milliarden DM in die Strecken inve- gelesen! — Zuruf von der FDP: Der liest den
stiert. grünen Quatsch ab!)
— Ich habe das in Ruhe gelesen, ausführlich.
(Dr. Nils Diederich [Berlin] [SPD]: Jetzt fah
ren die Züge nicht einmal! Nicht einmal das Mit diesen Gesetzen aus dem Verkehrsministerium
Klo funktioniert!) sollen dreißig Jahre Fortschritt im Umwelt- und Pla-
nungsrecht der alten Bundesländer zurückgedreht
Eine schöne Zeile aus der heutigen Tagespresse werden. Für diesen Fortschritt, für diese Rechte haben
war die: „Schnell und bequem direkt aus der City in im Herbst 1989 Seite an Seite mit mir auch Christde-
das Zentrum des Ziels. " Das ist die Deutsche Bundes- mokraten gestritten.
bahn.
(Zuruf von der FDP: Das ist doch gelogen!)
(Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Nils Diede Die GRÜNEN und die Bürger-und-Bürgerinnen-Be-
rich [Berlin] [SPD]: Und bleibt auf der wegung in den neuen und alten Bundesländern wer-
Strecke! — Helmut Wieczorek [SPD]: den diese Rolle rückwärts in die 50er Jahre nicht mit-
Schnell, sicher und leer!) machen. So habe ich auch die Sozialdemokraten ver-
Lassen Sie mich, meine verehrten Kolleginnen und standen.
Kollegen, zum Schluß kommen. Mit meinen Ausfüh- Wir lehnen die vorliegenden Gesetzesvorhaben
rungen, so glaube ich, habe ich deutlich gemacht, daß entschieden ab. Gerade gegenüber den Bürgerinnen
die Bundesregierung den Verkehrshaushalt insge- und Bürgern in den neuen Bundesländern hat die
samt gesehen richtig dotiert und aufgabengerecht er- Politik nämlich eine besondere Verantwortung. Dort
stellt hat. Die von uns vorgenommenen Anpassungen gibt es bisher kaum Erfahrungen mit Planfeststel-
und Änderungen zeigen aber auch, daß wir — damit lungsverfahren und öffentlicher Beteiligung an der
meine ich das gesamte Parlament — unsere Funktion Gestaltung des Lebensumfeldes. Die umfassende Si-
als Legislative sehr ernst genommen haben. Die An- cherung der Beteiligung aller Betroffenen muß des-
passungen beinhalten auch eine Weichenstellung für halb Anliegen aller Parteien, Fraktionen und Ministe-
die Ausgabenpolitik der nächsten Jahre. rien sein. Das ist ein Rechtsstaat.
2168 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Dr. Klaus-Dieter Feige


Wir sind nicht gegen die Beschleunigung oder ge- werden. Wer sich nur ein bißchen mit dieser Proble-
gen neue Straßen oder gegen sinnvolle Projekte, aber matik beschäftigt hat, weiß, daß der Ausbau von Au-
es darf einfach nicht sein, daß ein zentralistischer Po- tobahnen zwischen den Zentren des Westens und den
litstil aus der früheren DDR durch den jetzigen Ver- ostdeutschen Bundesländern mitnichten zu einem
kehrsminister Krause in Bonn fortgesetzt wird. Aufschwung im Osten führen wird, sondern nur die
Absatzbedingungen für Westproduktionen verbes-
(Beifall bei der PDS/Linke Liste — Zurufe
sert. Genau das Gegenteil von Dr. Krauses Behaup-
von der CDU/CSU: Das ist unerhört! — Un-
tungen wird dann eintreten.
glaublich! — Unverschämtheit!)
— Das ist eine Forderung. — Oft genug sind die Na- (Zuruf des Abg. Arnulf Kriedner [CDU/
tur- und Umweltfreunde in der DDR vor 1989 einfach CSU])
nur ausgelacht oder als Narren bezeichnet worden. — Auch Sie wohnen doch auch da; Sie werden das
Dieses Spiel soll jetzt weitergehen. schon selber noch erleben.
(Zuruf von der FDP: Spiel?) Nun höre ich immer wieder die Worte des Bundes-
Die zeitgleiche Vorlage einer Gesetzesinitiative aus verkehrsministers, er sei für den vorrangigen Ausbau
Bayern im Bundesrat signalisiert zudem: Es geht gar des Schienenverkehrs und des öffentlichen Perso-
nicht um die Beseitigung der Mängel der Infrastruktur nennahverkehrs. Es bleibt die Frage, warum dann so
in Ostdeutschland, sondern um das Niederwalzen des wenig geschieht. Die heutige Rechtslage hindert doch
Planungsrechts, um Demokratieabbau bei Genehmi- niemanden, die Reichsbahn zu modernisieren, kon-
gungsverfahren überhaupt. kurrenzfähig und attraktiv zu machen. Sie hätten
längst beginnen können.
(Beifall bei der PDS/Linke Liste und bei Ab
geordneten der SPD — Widerspruch bei der (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Der
CDU/CSU) spricht zum Haushalt und hat nicht einmal
- den Haushalt gelesen! Sonst würde er nicht
— Genau darum geht es. Das sind die ersten Wege, einen solchen Unsinn verzapfen!)
die vorbereitet werden.
Die Praxis sieht jedoch ganz anders aus. Das Schie-
Unter Angleichung der Lebensverhältnisse wird of-
nennetz der Deutschen Reichsbahn soll, getreu dem
fenbar der Tausch westlicher Konsumpraxis gegen
unsäglichen Vorbild der Bundesbahn, auf weniger als
die stalinistische Rechtspraxis der ehemaligen DDR die Hälfte geschrumpft werden. Im Osten gibt es das
verstanden. dichteste Schienennetz in ganz Europa. Eisenbahn in
(Lachen bei der CDU/CSU) der Fläche soll es nicht mehr geben, sondern nur noch
Diese Rechnung haben Sie allerdings ohne die Men- Fernverbindungen. 60 000 Reichsbahner werden
schen in diesem Land gemacht. noch in diesem Jahr ihren Arbeitsplatz verlieren.
Immerhin ist die Regierung dabei, in Windeseile Auch der Fahrplanabbau hat inzwischen begon-
eine neue Vorreiterrolle in der EG zu übernehmen, nen. Bei der Sichtung der Verbindungen von Rostock
nämlich Spitzenreiter bei Verstößen gegen Umwelt- nach Berlin — auch dort haben wir ab und zu Bundes-
richtlinien zu sein. Die Umweltverträglichkeitsprü- tagssitzungen — ist mir das sehr bewußt geworden.
fung, vor nicht allzu langer Zeit vom Kollegen Töpfer Von zwei Zügen frühmorgens blieb einer. Akzeptiert,
als der Königsweg der Umweltpolitik gepriesen, soll wenn der Bedarf nicht da ist. Aber daß dieser Zug
zwar formal beibehalten, praktisch aber abgeschafft wesentlich länger braucht und so spät losfährt, daß
werden, noch bevor sie überhaupt erprobt worden ist. Bundestagssitzungen, wenn ich sie mit dem Zug
Vor allem das unbestrittene Herzstück der UVP, die rechtzeitig erreichen will, erst um 11 Uhr beginnen
frühzeitige Öffentlichkeitsbeteiligung, wird mit ei- können, erscheint mir insgesamt und auch für viele,
nem Federstrich beiseite gefegt. die in Berlin zu tun haben werden, einfach unvorstell-
bar.
Und der Umweltminister? Er schweigt nicht nur
— was schlimm genug wäre — , er nimmt nicht nur Die Vorbereitungen zur Planung für die Nordauto-
billigend in Kauf, nein, er selbst betreibt an vorderster bahn nach Szczecin dagegen konnten nicht schnell
Front den Abbau des Umwelt- und Naturschutzes. genug begonnen werden. Für diese Planungsvorbe-
Dem Bundesumweltminister gebührt die zweifelhafte reitungen — man höre und staune — begannen die
Ehre, diese skandalösen, undemokratischen und wohl ersten Erkundungsmaßnahmen bereits im August
auch verfassungswidrigen Gesetzesvorhaben als er- vergangenen Jahres, also noch in DDR-Zeiten. Das ist
ster öffentlich gefordert zu haben. der Unterschied zwischen Sonntagsreden und Pra-
xis.
Meine Damen und Herren, von den allgemeinen
Verwaltungsvorschriften nach § 20 des UVP-Geset- Dabei könnte eine konsequente Bahnpolitik in Ost
zes, die für die Behörden den Ablauf des Verfahrens und West auch eine effektive Möglichkeit für die För-
festlegen sollen, ist dagegen seit langem nichts mehr derung der Wirtschaftsentwicklung in den neuen
zu hören, obwohl sie seit Ende vergangenen Jahres Ländern darstellen.
unterschriftsreif vorliegen. Während die Kapazität der Automobilkonzerne
Der Wirtschaftsaufschwung muß als weiteres West allemal ausreicht, um den Osten mit zu versor-
Scheinargument für die Beschleunigungs- und Maß- gen, besteht für den Bau von Reisezugwagen, Diesel-
nahmegesetze herhalten. „Straßenbau schafft Ar- triebwagen und Lokomotiven auch im Westen ein
beitsplätze" — nach diesem Motto aus den 30er Jah- Engpaß. Die Produktion solcher Güter in den neuen
ren soll die Wirtschaft Ostdeutschlands angekurbelt Ländern und ein umfassendes Sanierungskonzept für
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2169

Dr. Klaus-Dieter Feige


die Schienen bzw. die Betriebsleittechnik würden ren gab es in der Bundesrepublik keinerlei Verkehrs-
tatsächlich dauerhafte Arbeitsplätze schaffen. Hier wegeplanung, kein verkehrspolitisches Konzept, son-
müßte der Bund technologische, finanzielle und admi- dern lediglich ein planloses und beliebiges Nebenein-
nistrative Hilfestellung leisten. ander.
Die Beschleunigungs- und Maßnahmegesetze kön- (Ekkehard Gries [FDP]: Aus Dummerstorf
nen im übrigen nicht einmal ihren selbstgesteckten kommen Sie!)
Ansprüchen, nämlich Vorhaben schneller zu verwirk- — Da gibt es sehr kluge Leute; Sie werden staunen.
lichen, genügen. Es müßte doch bekannt sein, daß Ich weiß nicht, woher Sie kommen.
Zeitverluste während der Voruntersuchungen in einer
(Ekkehard G ries [FDP]: Jedenfalls nicht aus
Größenordnung von 60 bis 70 %, beim Raumord-
Dummerstorf!)
nungsverfahren bei 50 %, im eigentlichen Genehmi-
gungsverfahren bzw. bei gerichtlichen Auseinander- — Ich genieße das. Auch über meinen Namen, meine
setzungen aber jeweils nur bei 20 % liegen. Damen und Herren Kollegen, sind längst alle Witze
gemacht worden, als das das einen Mecklenburger
Zeitverzögerungen entstehen in erster Linie durch aus der Ruhe bringt.
ineffizientes Verwaltungshandeln, durch systemlose
Parallelplanung und durch eine Administra tion, für Die sogenannte Verkehrspolitik der Bundesregie-
die vielerorts die Beg riffe Umwelt- und Naturschutz rung beschränkt sich auf ein einfaches Strickmuster:
Fremdworte sind. Es ist gerade dem mühevollen En- mehr Autos, mehr Staus, mehr Straßen, noch mehr
gagement vieler Bürgerinnen und Bürger zu verdan- Autos, und die nächsten Kollapse und der Totalstau
ken, daß schlampige Planungen noch rechtzeitig kor- sind vorbereitet.
rigiert werden konnten. Diesen Menschen gebührt Die Folgen dieser Politik, aber auch die Alternati-
unser Respekt und unsere Anerkennung. ven waren vor einigen Tagen in einer beispielhaften
Sendung im ZDF zu sehen. Ich befürchte allerdings,
(Ekkehard G ries [FDP]: Woher wissen Sie daß der Bundesverkehrsminister auch daraus keine
denn das?) -
Lehren ziehen wird
— Ich habe es selber mitgemacht. Alles in allem erinnert der besserwisserische Füh-
Wer Verfahren tatsächlich beschleunigen will, muß rungsstil im Verkehrsministerium an eine außer Kon-
die Öffentlichkeit frühzeitiger beteiligen und die trolle geratene Dampfwalze. Erstes Opfer wurde
Rechte der Bürgerinnen und Bürger sowie der Um- — wie im „Spiegel" zu lesen war, und ich habe es
weltverbände stärken. Das sind Erfahrungen aus dem auch heute noch einmal gehört — der Leiter der Ab-
Frühjahr 1990. Da funktionierte das mit Christdemo- teilung Straßenbau in seinem Hause, der in den ver-
kraten zusammen. gangenen Monaten rechtliche Bedenken gegen die
Beschleunigungs- und Maßnahmengesetze vorgetra-
Ihr Vorhaben erinnert mich daran, daß man nicht gen hatte. Er monierte u. a. Qualitätsmängel durch zu
etwa den Sand aus dem Getriebe eines Zuges heraus- große Hast, warnte vor freihändiger Vergabe von Mil-
nehmen will, sondern einfach nur die Notbremse ab- liarden-Aufträgen und beschwor die Gefahr von Mau-
bauen möchte. Oder bezüglich der Beschleunigungs- scheleien. Doch für den Bundesminister waren das
gesetze: daß bei dichtem Nebel auf der Strecke jetzt nur Mäkeleien eines pingeligen und bedächtigen Be-
130 km/h zur Mindestgeschwindigkeit gemacht wer- amten. Folge: Versetzung in den einstweiligen Ruhe-
den soll. stand.
Wer die Öffentlichkeit als lästig abtut, muß sich dem Wie stark Dr. Krause noch in den Kategorien einer
Verdacht aussetzen, daß es ihm nicht um eine Verbes- vergangenen Zeit denkt, zeigt die Antwort auf die
serung der Lebensverhältnisse, sondern schlicht und Frage, was denn sei, wenn Ostbürgermeister und
ergreifend um eine Verbesserung der Absatzverhält- -landräte gegen Straßentrassen protestierten und de-
nisse der Automobilkonzerne geht. „Ich fahre gern monstrierten. Originalton von Dr. Krause laut „Spie-
Auto" — mit diesem Werbespruch aus der Zentrale gel"-Information: „Dann ist das Sache der Polizei."
eines großen westdeutschen Automobilkonzerns auf Ich glaube, nichts zeigt deutlicher, daß dieser Minister
den Lippen will uns unser autofanatischer Minister der Verantwortung seines Amtes nicht gewachsen
geradewegs in den kollektiven Verkehrskollaps trei- ist.
ben.
Schönen Dank.
(Widerspruch bei der CDU/CSU und der (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
FDP)
Kaum haben die Menschen in den neuen Ländern ihre
politischen Fesseln abgeworfen, da will uns Herr Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort
Krause in Autos einsperren, auf das wir im Stau Gele- hatderAbgonZywitz.
genheit haben, über unsere neugewonnene Mobilität
nachzudenken.
Werner Zywietz (FDP): Herr Präsident! Meine Da-
(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE — Dirk Fi men und Herren! Die Stimmung scheint gut zu sein.
scher [Hamburg] [CDU/CSU]: Sie sind ein Der letzte Redebeitrag hat — allerdings in unange-
Scherzkeks!) nehmer Weise — auch dazu beigetragen, muß ich sa-
Aber es ist ja nicht allein der jetzige Bundesver- gen.
kehrsminister, der das Verkehrsdebakel zu verant- Sie haben, Herr Kollege, viel und schnell gelesen
worten hat — siehe Ruhrgebiet. In den letzten 30 Jah- und wenig ausgesagt. Das war Ihr gutes Recht. Aber
2170 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Werner Zywietz
ich stelle fest: Gut ist, daß Sie keine Verantwortung zu den soll. 50 % der Mittel dieses Etats müssen in Inve-
tragen haben; stitionen umgesetzt werden.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Theo Magin [CDU/CSU]: So ist es!)
Darin liegt doch die Chance dieses Etats. Das muß
denn mit diesem ideologisierten Zerrbild vor Augen
gemanagt, das muß zueinandergebracht, da muß ge-
und angesichts dieser Unwahrheiten, Ihrem Umgang
plant werden. Wir können diesen neuen Herausforde-
mit Zahlen, die Sie offensichtlich nicht in eine logische
rungen und Problemen nicht mit der Methode — viel-
Reihe und damit zu richtigen Schlußfolgerungen brin-
leicht sogar mit der luxuriösen Methode — , nach der
gen konnten, müssen Sie weit weg von jeder ver-
wir hier in der Altbundesrepublik vorgegangen sind,
kehrspolitischen Verantwortung gehalten werden.
begegnen. Das ist doch wohl das erste Gebot der
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Stunde! Da sollten wir uns nicht diffamieren, wie Sie
Dr. Nils Diederich [Berlin] [SPD]: Herr Kol es getan haben.
lege Zywietz, fahren Sie denn nun gern In verschiedenen Zeitungen ist, wie ich gelesen
Auto?) habe, nicht von einem Beschleunigungsgesetz, son-
dern von einem Ermächtigungsgesetz geschrieben
Faktum ist doch eins. Die deutsche Einheit hat viel
worden. An dieser Stelle hört bei mir alle Toleranz
verändert. Wir haben uns vorgenommen, in dieser
auf.
Legislaturperiode insbesondere die Lebensverhält-
nisse der Bürger in den neuen Bundesländern zu ver- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
bessern. Dieser Verkehrsetat wird dem voll gerecht. Dem, der so dumm ist, daß er nicht weiß, was ein
Die Ausweitung des Volumens dieses Etats von rund Ermächtigungsgesetz ist, oder so dummdreist ist, ein
24 Milliarden DM auf 36 Milliarden DM ist typisch. Er Beschleunigungsgesetz damit zu vergleichen, muß
ist gekennzeichnet durch eine breit angelegte Ak- man ganz klar entgegentreten.
zentverlagerung von West-Maßnahmen — wenn ich
- darf — auf
das noch so in dem alten Vokabular sagen Wir wollen beschleunigen; das ist richtig, das muß
Ost-Maßnahmen. Die Gewichtung der Verkehrsträ- sein. Das kann man durch Fristenverkürzung machen,
ger untereinander zeigt doch keinen Straßen- oder ohne daß man um elementare Rechte gebracht wird.
Autofetischismus, sondern Straße, Bahn, Luftverkehr Das kann man durch bessere Organisa tion, durch
und Wasserstraße finden sich in diesem Einzelplan mehr Mitteleinsatz für ein schnelleres Planen machen.
wieder. Sie scheinen ihn gar nicht angeschaut zu ha- Und das kann man auch machen, obwohl das ein sen-
ben, weil Sie nur Ihre Vorurteile absondern wollten. sibler Bereich ist. Wenn Bürger nicht mehr unmittel-
bar zu Wort kommen können
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Ernst Waltemathe [SPD]: Aha, schöne Libe
Wir bemühen uns insbesondere, daß für die Bürger, rale!)
die durch ihren politischen Mut Reisefreiheit erlangt — nicht „aha" — , dann sind wir als Parlament da. Was
haben, auch die Reiserealitäten, die Wege, auf denen sind wir denn? Gewählt von den Bürgern für die Bür-
sie zueinander kommen können, besser werden. ger.
(Dr. Wolfgang Weng [Gerungen] [FDP]: Er (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
klären Sie mal GRÜNEN die Farbe!)
Dann müssen wir uns an die eigene Brust klopfen und
Das ist der Duktus des Verkehrsetats. Dieser Duktus unsere Verantwortung hier verstärkt wahrnehmen.
ist auch Ausdruck der Erkenntnis, daß nur über eine Ich möchte nicht, daß nur die Exekutive handelt, son-
gute Verkehrsinfrastruktur auch ein wi rtschaftlicher dern wenn es einzelne Maßnahmen gibt, die wir für
Aufschwung und damit bessere Lebensverhältnisse richtig befinden, dann müssen wir als Demokraten
hergestellt werden können. — egal, in welcher Partei — genug Courage haben,
uns um die Projekte bekümmern und eine größere
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Verantwortung als in der Vergangenheit auf uns neh-
men. Nur das kann die Konsequenz dieses ganzen
Genau deswegen die geldliche Ausweitung dieses
Vorgehens sein.
Etats.
Der Sinn dieser ganzen Angelegenheit liegt da rin,
Fangen wir doch nicht an, jetzt das Bemühen um daß wir unseren Mitbürgern schneller helfen wollen,
eine Beschleunigung, die vonnöten ist, wenn wir die daß wir die realen, offensichtlich nicht hinreichenden
Lebensverhältnisse zum Positiven verändern wollen, Zustände schneller verbessern hellen. Das ist eine
so zu diskriminieren. Ich gebe zu: Man kann auch Gratwanderung. Aber der Mut, schneller voranzu-
über das Ziel hinausschießen. Die Gefahr mag beste- kommen, effektiver zu sein, ist zu begrüßen. Dabei
hen. Aber wir im Deutschen Bundestag sind alle er- haben wir die anderen, nega tiven Aspekte mit im
wachsen und verantwortungsbewußt genug, um das Auge und werden sie schon zu verhindern wissen.
zu verhindern.
Ein Wort nur noch zur Bahn; denn die Zeit, die
Der Kernpunkt ist doch: Wir können doch nicht zwei einem hier in diesen Debatten in diesem kleinen, sym-
Tage lang Debatten führen, in denen wir sagen, ins- pathischen Kreis unter Ausschluß einer größeren Of-
besondere in den neuen Bundesländern müßten in fentlichkeit verbleibt, ist sehr knapp bemessen. Man
dieser Legislaturperiode die realen Lebensverhält- kann über den Verkehrsetat von 36 Milliarden DM
nisse verändert werden, und dann Geld einsetzen, nicht sprechen, ohne ein paar Anmerkungen zur Bahn
ohne daß wir wissen, wie dieses Ziel umgesetzt wer- — zur Bundesbahn und zur Reichsbahn, hoffentlich
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2171

Werner Zywietz
bald zu einer einheitlichen Bahn — zu machen; denn Eine gutgemeinte Kooperation sollten wir nicht so,
20 Milliarden DM von 36 Milliarden DM sind eben ein sondern mit besserem gegenseitigem Respekt anfan-
Riesenhappen. gen. Dann wird es gelingen, daß die Vorhaben der
Bahnstrukturreform — für die FDP war der Kollege
Ich habe mich, um das einmal voranzustellen, über Kohn ja hier lange Zeit treibende Kraft — —
die ICE-Aktivitäten gefreut, die hier erwähnt worden
sind. Aber es gab auch warnende Stimmen. Wir haben (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
jetzt einen neuen Präsidenten, einen Manager aus der
sogenannten freien Wirtschaft, bei der Deutschen Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab-
Bundesbahn, und wir haben einen hervorragenden geordneter Zywietz, erfreulicherweise benutzen Sie
Aufsichtsratsvorsitzenden, einen Ex-Minister, einen das Pult nicht als Lesepult, sondern als Rednerpult.
erfahrenen Politiker bei der Reichsbahn; alles — auch Wenn Sie sich schon der freien Rede bedienen, dürfte
von der Couleur her betrachtet — wunderbare Vor- es Ihnen auch nicht allzu schwer fallen, zeitgemäß
aussetzungen dafür, daß die Zahlen angesichts dieses zum Schluß zu kommen.
versammelten Expertentums in Zukunft nicht mehr so
rot, sondern hoffentlich bald schwärzer oder ganz (Heiterkeit)
schwarz geschrieben werden.
Werner Zywietz (FDP) : Herr Präsident, diesen listig-
(Heiterkeit und Beifall bei der FDP)
sympathischen Hinweis habe ich hier schon einmal
Wir wollen jedenfalls die Unterstützung dafür ge- erlebt;
ben. Nur sage ich auch: Bei allem Vertrauensvorschuß (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Vor zwei
hinsichtlich der Qualität und der Vorgehensweise, Stunden!)
den ich gerade dem Präsidenten Dürr entgegen- aber wir werden es schon machen, Herr Präsident.
bringe, ist mir schon aufgefallen, daß da irgend etwas
noch nicht ganz in der inneren Balance zu sein (Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der
scheint, wenn ich so lese: Wenn die Bahn eine Be- CDU/CSU)
hörde bleibt, bin ich der falsche Mann. — Nun gut, wir Und was mir an Sachausführungen heute nicht ge-
wollen dem Herrn Präsidenten ja helfen. Aber ich lingt, werde ich bei anderer Gelegenheit anzubringen
hoffe, er ist nicht zwangsverpflichtet worden, sondern versuchen.
hat freiwillig einen Vertrag geschlossen. Er muß ja Wir sind guter Dinge und unterstützen all die Mini-
wissen, wo er sich beworben und einen Vertrag ge- ster, Aufsichtsräte und Präsidenten, die guten Willens
schlossen hat. Aber wir wollen ihn in seinem Bemühen sind, die Defizitwerte der Bahn abzubauen. Man soll
unterstützen, daß die Bundesbahn und auch die das Bemühen beginnen, solange das noch in Form der
Reichsbahn unternehmerischer werden. Das wollen Behörde möglich ist. Aber unsere Vorstellungen sind
wir, aber nicht nur in der Kalkulation, sondern auch unternehmerischer Art, die breiten Raum für Wettbe-
real, mit den Strecken und mit dem Bet rieb, so daß werb geben.
Wettbewerb herrschen und man auch teilprivatisieren
Ein letztes Wort — nichts zum „Maritimen Thema",
kann, wenn es denn sinnvoll ist.
obwohl mich das als Norddeutscher reizen würde. Das
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten haben die Kollegen schon hervorragend ausgeführt.
der CDU/CSU) Ich wollte abschließend — Herr Präsident, wenn Sie
mir so tolerant entgegenkommen und mir das gewäh-
Das ist doch die Schlußfolgerung aus dieser Vorge- ren — nun noch etwas zum Stichwort Luftfahrt sagen.
hensweise, die wir aus der Sicht der FDP für richtig Zwei Dinge müssen in diesem Bereich forciert wer-
halten. den: das eine ist die Flugsicherung — —
Aber wenn der Herr Präsident sagt, bei einer Be- (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Leg
hörde sei er der falsche Mann: Erst einmal ist er ja doch ein Papier auf die Lampe!)
noch bei einer Behörde. Aber auch da kann man, — Heute hat jemand gesagt, er halte die Hand drü-
wenn ich es richtig verstehe, ökonomische Prinzipien ber,
besser in Ansatz bringen, d. h. Ziele mit geringstmög- (Heiterkeit)
lichem Mitteleinsatz erreichen oder mit vorhandenen
womit ich beweise, daß ich hier im Plenum war. Denn
Mitteln das bestmögliche Ergebnis erzielen. Mit die-
ich habe es gehört.
sem ökonomischen Prinzip möge er es bitte ernst neh-
men, auch solange es noch eine Behörde ist. Dabei, (Zuruf von der FDP: Aber im Fernsehen!)
daß das ein Unternehmen wird, wollen wir ihm hel- Ich schenke mir das alles, Herr Präsident. Nur einen
fen. letzten Satz
Regelrecht geärgert — das sage ich von dieser (Zuruf von der CDU/CSU: Zwei Dinge ...!)
Stelle aus — hat mich ein Spruch wie: Die Eisenbahn —nein, nicht zur Sache — : Ich begrüße den Schwung
darf nicht das Spielzeug der Politiker bleiben. Nun, des neuen Ministers, hoffe aber, daß dieser Schwung
ich bin kein Weißmacher und meine, daß auch in dem auch zu einem beidseitigen fairen vertrauensvollen
politischen Bereich Fehler gemacht worden sind. Aber Dialog zwischen den Verantwortungsträgern im Ver-
das Wissen oder Nichtwissen ist zwischen Wirtschaft- kehrsbereich — ob im Fachausschuß oder im Haus-
lern und Politikern nicht so verteilt, daß die einen alles haltsausschuß — ausgestaltet wird. Denn nur dann
wissen und richtig machen und die anderen alles wird es gelingen, die großen Aufgaben im Verkehrs-
dumme Personen sind. bereich, die uns insbesondere durch die deutsche Ein-
2172 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Werner Zywietz
heit auferlegt worden sind, zufriedenstellend zu lösen. — Ich rede ja davon, daß da investiert werden muß.
In diesem Sinne und mit dieser Erwartung stimmen Das sollten Sie doch gehört haben.
wir dem Einzelplan gerne zu. Was wir brauchen, sind eben keine sechs- und acht-
Vielen Dank. spurigen Autobahnneubauten, sondern Investitionen
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) in die Sanierung des öffentlichen Nah- und Fernver-
kehrs in der Fläche.
Wir brauchen keine Hochgeschwindigkeitszüge für
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort Abgeordnete und Geschäftsreisende, die zwischen
hat die Abgeordnete Frau Braband. den Metropolen nur so hin- und herrasen, sondern
(Zuruf von der FDP: Auch jetzt wird es unter eine vernünftige und umweltfreundliche Verkehrs-
haltsam!) politik für die Bevölkerung in der Fläche.
(Ekkehard G ri es [FDP]: Dann sanieren Sie
Jutta Braband (PDS/Linke Liste) : Herr Präsident!
einmal Ihre Umwelt!)
Meine Damen und Herren! Auch Verkehrspolitik ist Daß die Reichsbahn auf Verschleiß gefahren wurde,
Umweltpolitik. Das wird hier immer vernachlässigt. meine Herren, ändert nichts an der Tatsache, daß die
Der Kollege Zywietz hat etwas sehr anschaulich dar- ehemalige DDR eines der bestausgebauten Schienen-
gestellt; aber er hat nur von der Ökonomie geredet. netze der Welt besitzt,
Deswegen werde ich jetzt den anderen Part einbrin- (Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP
gen. — Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Das ist ja
Ich denke, daß — gerade weil es sich auch um Um- aus!)
weltpolitik handelt — die Entscheidung über jede
und zwar in der Fläche.
Mark die ausgegeben wird, doppelt überlegt sein
muß. Durch falsche Entscheidungen wird gerade hier (Zuruf von der CDU/CSU: Da lacht ja der
ein erheblicher ökologischer, sozialer und - politischer Honecker!)
Schaden ange richtet. Ich habe bereits gesagt, daß es nötig ist, dort zu
In dem Zusammenhang ist das sogenannte Ver- investieren, weil das Streckennetz beschädigt ist.
kehrswegebeschleunigungsgesetz völlig inakzepta- Warum gucken Sie nicht, daß es sich um ein weit ver-
bel. Mit diesem Gesetz sollen unter dem Vorwand not- zweigtes Netz in der Fläche handelt?
wendiger Investitionen im Verkehrssektor der FNL
(Ekkehard Gries [FDP]: Ja, völlig verrottet!)
demokratische Rechte der Öffentlichkeit und beson-
ders die der Betroffenen eingeschränkt werden. Wir — Ja natürlich, aber es ist viel schneller zu reparieren,
haben das vom Kollegen Feige bereits sehr anschau- als neue Straßen zu bauen. Das wissen Sie selber.
lich berichtet bekommen. — Zumindest wären das strukturell doch gute Voraus-
setzungen für eine andere Art von Verkehrspolitik.
(Ekkehard G ri es [FDP]: Aber falsch!)
Ich denke, daß sich das Verkehrswegebeschleuni- (Ekkehard G ri es [FDP]: Alles Gerede!)
gungsgesetz auf diese Weise ziemlich schnell als ein Die „Wirtschaftswoche" vom Februar 1990 schreibt,
„Entdemokratisierungsbeschleunigungsgesetz" er- daß die Deutsche Reichsbahn — vielfach als Sanie-
weisen wird, und zwar für das gesamte Land. Ich finde rungsfall verschrien — zu den leistungsfähigsten Un-
auch, daß derjenige, der sich über 40 Jahre Komman- ternehmen der DDR gehörte. Mit 60 Milliarden Ton-
dowirtschaft in der DDR ereifert und dann selbst Pla- nenkilometern
nungsdiktatur fordert, gedanklich der Politbürokratie
(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Wie ist
der früheren DDR sehr viel nähersteht, als ihm bewußt
das mit den Postkutschen!)
ist.
Zur notwendigen Sanierung im Verkehrsbereich — hören Sie doch einmal zu — erreichte sie bei halb
des Anschlußgebiets kann ganz klar gesagt werden: so großem Schienennetz die Gütertransportleistung
Am schnellsten und am preisgünstigsten kann eine der Bundesrepublik.
qualitative Verbesserung des Fernverkehrs auf der (Zuruf von der CDU/CSU: Deswegen ist die
Schiene erreicht werden — und eben nicht auf der Wirtschaft auch zusammengebrochen!)
Straße. Denn das Schienennetz ist bereits vorhanden Sie wollen nicht nur die Arbeitsplätze der Reichs-
und muß nur repariert werden. Da fallen dann immer- bahn abbauen, sondern Sie sind nicht einmal bereit,
hin auch die leidigen Planfeststellungsverfahren dort so zu investieren, daß wirklich für die Zukunuft
weg. eine andere Situation im Verkehrsbereich möglich
Es ist ebenfalls erwiesen, daß bei einer zügigen ist.
Durchführung entsprechender Investitionen in vor-
handene Strecken die Durchschnittsgeschwindigkeit (Ekkehard Gries [FDP]: Das ist unverschämt
falsch!)
in kurzer Zeit um 30 bis 40 % erhöht werden kann, also
Intercity-Niveau erreichen könnte. Ich finde, daß der, der sich in der Verkehrspolitik
(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist alles erst ausschließlich auf die Ökonomie beruft, sehr deutlich
seit der Einheit möglich!) zeigt, wessen Interessen er hier vertritt. Derjenige
macht klar, daß ihm die Interessen der Autoindustrie
— Ja eben! Aber warum verschenken Sie diese weit wichtiger sind als die Bewahrung der natürlichen
Chance? Lebensgrundlagen und die Verbesserung der Lebens-
(Weitere Zurufe von der CDU/CSU) qualität für alle Menschen.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2173
Jutta Braband
Die PDS/Linke Liste lehnt deshalb den Haushalts- Bundesländern wohl sehen lassen kann und mit dem
plan im Bereich des Bundesministers für Verkehr wir beweisen werden, daß es vorangeht.
ab.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Ekkehard G ries [FDP]: Sie kommen ja nicht
einmal in den Verkehrsausschuß!) Wichtigste Maxime bei allen Investitionen ist der Aus-
bau eines umweltgerechten Verkehrssystems, d. h.
insbesondere die Förderung des Schienenverkehrs.
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort
Auch das können wir an Hand von Zahlen nachwei-
sen. Wir setzen rund 20 Milliarden DM ein. Das ist ein
hat der Bundesminister für Verkehr, Herr Krause.
Anteil am Haushalt von 56 %. Ich kann nicht erken-
nen, daß hier etwa nur die Autolobby ihre Spielchen
treibt. Das ist eine Unterstellung, die ich in keiner
Dr. Günther Krause, Bundesminister für Verkehr: Weise akzeptieren kann. Von diesem Betrag erhalten
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und die Deutsche Reichsbahn und die Deutsche Bundes-
Herren! Herr Dr. Feige, gleich zu Beginn: Auch ich bahn einen erheblichen Anteil an Investitionsmitteln.
stamme aus Mecklenburg, und auch Sie können mich Es ist natürlich auch richtig, daß, um die Aufgaben bei
nicht aus der Ruhe bringen. der Deutschen Reichsbahn zu leisten, auch Mittel von
(Jutta Braband [PDS/Linke Liste]: Um so un der Deutschen Bundesbahn umgeschichtet worden
-verständlicher!) sind.
In der Verkehrspolitik stehen wir im geeinten Um die Bahn wettbewerbsfähiger und attraktiver zu
Deutschland vor großen Herausforderungen, und ich gestalten, ist es notwendig, auch Schnellbahnverbin-
denke, es ist zu Recht dargestellt worden, daß wir in dungen zu realisieren. Ich als Techniker meine fest-
der Verkehrspolitik einiges zur Veränderung beitra- stellen zu dürfen, daß es zu Beginn eines neuen Zeit-
gen müssen. alters ganz normal ist, daß Kinderkrankheiten auftre-
- ten. Ich bin erschreckt über die Polemik in der Öffent-
Ich denke, daß in dem Verkehrsetat der Nachweis
erbracht worden ist, daß das Zeitalter der Verände- lichkeit und darüber, daß, wenn nach einigen Tagen
rung auch in der Verkehrspolitik bereits begonnen nicht alles hundertprozentig funktioniert, gleich ein
hat. Aufschrei losgelassen wird. Ich bin sicher, daß auf
Grund der Zusammenarbeit zwischen den Menschen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
und auf Grund des Bemühens der Menschen bei der
Der Haushalt ist mit einer Steigerung von mehr als Bahn, ein neues und besseres Zeitalter in der Bahn
20 % nicht nur um den Anteil der ehemaligen DDR durchzusetzen, nach einigen Wochen die Vorausset-
reicher geworden, sondern es gibt einen echten Zu- zungen für kontinuierliche Abläufe geschaffen sein
wachs. Ein leistungsfähiges Verkehrswegenetz ist werden.
Voraussetzung dafür, daß Deutschland nicht nur
rechtlich, sondern auch tatsächlich eins wird und für In den neuen Bundesländern — diese Zahl scheint
den europäischen Binnenmarkt gewappnet ist. mir ganz wichtig zu sein — setzen wir allein in diesem
Jahr 3,8 Milliarden DM an Investitionsmitteln aus
Dr. Feige, Sie haben natürlich in Ihrer Rede verges- dem Haushaltsansatz und 200 Millionen DM aus dem
sen, zu erwähnen, daß beispielsweise von Köln nach Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost ein. Ich habe die
Stralsund mittlerweile ein IC fährt. Das war zur DDR genauen Zahlen heraussuchen lassen: Im Jahre 1989
Zeit nicht üblich. Ich meine, man sollte sich den Fahr- waren es 1,24 Milliarden Ostmark. Unser größtes Pro-
plan genau ansehen und zuerst die Vorteile und die blem bei der Bahn besteht derzeit da rin, den Struktur-
Nachteile ordentlich abwägen; wandel zu realisieren und das vorhandene Gleisnetz
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zu sanieren. Wir brauchen beschleunigende Metho-
denn wir erweisen unseren Reichsbahnern und den den. Nur mit dem Reparieren — die eben genannten
Bundesbahnern keinen guten Dienst, wenn wir ge- 30 % Zuwachs — lassen sich bei Langsamfahrstrek-
rade in der jetzt so komplizierten Situation der unter- ken, die Geschwindigkeiten von nur 40 km/h zulas-
schiedlichen technischen Voraussetzungen — und die sen und die es bei den Fernverbindungen heute noch
macht die Fahrplangestaltung so kompliziert — nur zuhauf gibt, keine Intercity-Geschwindigkeiten erzie-
immer Kritik an den Menschen, die bei den Bahnen len. Sie müßten häufiger mit der Deutschen Reichs-
arbeiten, leisten, aber nicht bemüht sind, grundsätz- bahn fahren, um ein entsprechendes Verständnis ent-
lich die politischen Weichen richtig zu stellen. Das wickeln zu können. Das ist das Entscheidende.
haben wir von der Koalition in diesem Haushalt nach- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
gewiesen. bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall bei der CDU/CSU) Wir müssen darauf verweisen — ich habe das an
Für die neuen Länder hat die Bundesregierung vor dieser Stelle schon des öfteren getan — , daß im Vor-
allem die Mittel für Investitionen in die Verkehrsin- griff auf den gesamtdeutschen Verkehrswegeplan,
frastruktur deutlich auf mehr als 8 Milliarden DM er- über den wir gemeinsam voraussichtlich im Frühjahr
höht. Zum Vergleich — ich meine, das ist die Aus- 1992 entscheiden werden, 17 Projekte „Deutsche Ein-
gangsbasis, über die wir uns unterhalten müssen — : heit" ausgesucht worden sind. Ich kann nicht erken-
Im Jahre 1989 wurden in der ehemaligen DDR 2 Mil- nen, daß nicht gerade die Auswahl dieser 17 Projekte
liarden Ostmark investiert. Jetzt sind es statt 2 Milli- eine gezielte verkehrspolitische Entscheidung gewe-
arden Ostmark 8 Milliarden DM. Das ist doch ein Zu- sen ist. Beispiel: Wir wollen die Kreuzung des Mittel-
wachs, der sich in der ehemaligen DDR, in den neuen landkanals mit dem Oder-Havel-Kanal durch eine
2174 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Bundesminister Dr. Günther Krause


Trogbrücke deshalb auf der Basis von Investitions- wer dazwischenrufen darf! — Weitere Zu
maßnahmegesetzen planen, damit wir den Anteil der rufe von der SPD)
Binnenschiffahrt am gesamten Transportwesen von Ich bitte Sie jetzt, meine Herren, ruhig zu sein.
derzeit 3 % auf 20 % erhöhen können, wie er in der
Herr Minister, Sie haben das Wo rt.
Altbundesrepublik üblich ist. Das ist aktive Umwelt-
politik. Damit sich die Massengütertransporte nicht (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Es
auf die Straße verirren, müssen wir schnell sein und liegt doch auch am Redner, ob das Parlament
müssen — da gebe ich Ihnen recht — in außerge- ruhig ist oder nicht!)
wöhnlichen Situationen dann auch die Verantwor- — Herr Abgeordneter Wieczorek, ich bitte Sie nun,
tung dieses Parlaments benutzen, um die richtigen ruhig zu sein.
Entscheidungen zum richtigen Zeitpunkt zu treffen. (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Wozu?
Deshalb haben wir die Mehrheit in diesem Parlament. Ein Minister muß doch wohl auch bei Unruhe
Ich glaube, wir entscheiden dann auch für die Bevöl- reden können!)
kerung.
Herr Minister, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage
(Zuruf von der SPD) zu beantworten?
— Warten Sie doch erst einmal ab, wie es ist, wenn wir
bewiesen haben, daß wir nicht mit unserer Verhinde- Dr. Günther Krause, Bundesminister für Verkehr:
rungspolitik zur deutschen Einheit, sondern mit der
Jawohl.
Politik der Förderung der deutschen Einheit auch der
Bevölkerung in vielen Städten der bisherigen DDR
viele Verkehrsbelastungen nehmen können. Ernst Kastning (SPD) : Da ich respektvoll zur Kennt-
Wir werden deshalb auch daran festhalten, die Pla- nis nehme, daß ich in einer Sitzung den Herrn Präsi-
nungsbeschleunigung zu realisieren. Wir wollen den denten nicht befragen darf und kann — ich will das
Planungszeitraum auf drei bis fünf Jahre auch nicht — , frage ich Sie, Herr Minister: Können Sie
- verkürzen. sich denn angesichts der Unruhe hier vorstellen, daß
Jeder, der darüber diskutiert, zu welchen Lasten wir
investieren wollen, sollte das Bürgergespräch in Wis- das Sprichwort „Wie man in den Wald hineinruft, so
mar oder in Halle oder in Dresden bitte vor Ort führen schallt es heraus" auch heute noch gilt?
und sich dann davon überzeugen, wie Bürger belastet (Beifall bei der SPD)
werden. Die Belastung der Menschen akzeptieren
Sie, die Entlastung der Menschen wollen Sie jedoch Dr. Günther Krause, Bundesminister für Verkehr:
nicht. Das zeigt sich daran, daß Sie unerträglich lange Wenn, dann habe ich hier an diesem Rednerpult höch-
Planungszeiträume verordnen wollen.
stens den Schall zu vertreten, aber nicht den Wald.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP (Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Herr
— Ernst Waltemathe [SPD]: Wer will das Minister, das heißt, Sie sollen boshafter wer-
nicht? Das ist eine Unverschämtheit!) den!)
Wir sind nicht gewählt worden, um bürokratisch an
diesen Verordnungen festzuhalten. Deswegen wer-
den auch Investitionsmaßnahmegesetze notwendig Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Mi-
werden, und wir werden diese demnächst hier vorle- nister, ich bitte Sie, jetzt fortzufahren, und mache noch
gen. einmal darauf aufmerksam, daß Zwischenrufe das
Salz in der Suppe einer Debatte sein können, aber daß
(Ernst Waltemathe [SPD]: Alles von oben Sie es auch nicht übertreiben dürfen.
verordnet!)
Herr Minister, Sie haben das Wort.
Der rote Faden in der Verkehrspolitik wird sich da-
durch auszeichnen, daß wir zwischen Ost und West
Verbindungen realisieren müssen, die West- und Dr. Günther Krause, Bundesminister für Verkehr:
Osteuropa zukünftig verknüpfen werden. Daher wird Wir werden uns deshalb vor allem im Zusammenhang
es wichtig sein, daß wir gemeinsam darüber nachden- mit der europäischen Einigung, also mit dem Termin
ken, ob wir Transportketten aufbauen. 1. Januar 1993, noch weitaus mehr Gedanken machen
müssen, um integrierte Verkehrssysteme zu schaffen
(Ernst Waltemathe [SPD]: Da war ja der See und kombinierte Verkehre einzusetzen. Wichtiger
bohm super! — Weitere Zurufe von der Markstein hin zu dieser Entwicklung muß es sein, in
SPD) den Harmonisierungsverhandlungen im Rahmen der
— Es ist angenehm, den Herren zuzuhören; es ist EG weiterzukommen. Es muß uns gelingen, die Struk-
wirklich sehr angenehm. Das ist Ihre Form der Höf- turreform der Bahn zu beginnen, um mehr Markt auch
lichkeit. bei der Bahn zu sichern. Denn nur im Wettbewerb und
nicht in den Dirigismen sehen wir den Erfolg und auch
die Möglichkeit, umweltverträglichere Verkehre bes-
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich würde ser zu organisieren.
bitten, die Zwischenrufe nicht zu übertreiben. Mit einem ganzheitlichen Lösungsansatz, mit einem
(Ernst Waltemathe [SPD]: Er kann uns doch integrierten Verkehrssystem, können wir den Anfor-
nicht dauernd beleidigen! — Helmut Wie- derungen der Wachstumsbranche Verkehr gerecht
czorek [Duisburg] [SPD]: Entschuldigung, werden. Es wäre ungewöhnlich, wenn man nicht dar-
wir dürfen hier zwischenrufen, soviel wir auf hinwiese, daß diese Wachstumsbranche Verkehr
wollen! Es bestimmt doch nicht der Redner, natürlich besteht.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2175
Bundesminister Dr. Günther Krause
Wir dürfen aber die Verkehrsträger, die uns schein- auch die richtigen verkehrspolitischen Weichen für
bar nur Nachteile, aber trotzdem auch Vorteile brin- die Öffnung Europas nach Osten stellen. Last, not
gen können, auch nicht verteufeln, sondern sollten least wissen wir zumindest, daß Verkehrspolitik im-
hier gemeinsam eine Verkehrspolitik gestalten, die mer zugleich auch Umweltpolitik ist, das heißt also
die Minimierung der Nachteile a ll er Verkehrsträger eine Politik der CO2-Reduktion, der Lärmminderung,
zum Inhalt hat. der Schadstoffminimierung ingesamt.
Mit dem Verkehrshaushalt 1991 legen wir den Der gravierende Fehler des vorliegenden Haus-
Grundstein für den wirtschaft lichen Aufschwung in haltsentwurfs liegt da rin, daß angesichts dieser wich-
den neuen Bundesländern und für den kontinuierli- tigen Aufgaben die investiven Schwerpunkte falsch
chen Weiterbau eines umweltgerechten und lei- gesetzt sind.
stungsfähigen Verkehrsnetzes auch in den alten Bun- (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/
desländern. GRÜNE)
Ich möchte hier im besonderen die gute Zusammen- Unsere Straßen sind so überlastet, daß der Verkehr an
arbeit mit allen Kollegen und mit allen Berichterstat- sich selbst erstickt. Es gilt daher, die Effektivität des
tern im Haushaltsausschuß erwähnen. Wir haben alle vorhandenen Straßennetzes schnell bedeutend zu
Fragen in einer freundschaftlichen Atmosphäre klä- verbessern. In den neuen Bundesländern müssen wir
ren können. Ich möchte mich auch bei den Kollegen deshalb ganz eindeutig der Sanierung und dem Aus-
Verkehrspolitikern des Verkehrsausschusses über bau vorhandener Verkehrswege Priorität einräumen
alle Parteigrenzen hinweg bedanken. Ich hoffe auch und nicht, wie die Koalition es vorsieht, dem Neubau
weiter auf eine gute und konstruktive Zusammenar- von Straßen. Herr Minister, versprechen Sie doch
beit. keine Neubauten in ferner Zukunft, sondern stopfen
Danke schön. Sie lieber so schnell wie möglich die Löcher in ost-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP deutschen Straßen.
— Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Sie
- (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/
müssen noch lernfähig werden! Viel üben!) GRÜNE)
Bauen Sie an drängenden Engpässen Ortsumgehun
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort gen zur Entlastung der Bevölkerung, und das sofort.
hat die Abgeordnete Frau Dr. Wetzel. Sanieren Sie die Langsamfahrstrecken der Reichs-
bahn, statt die Strecken stillzulegen und damit das
engmaschige Netz des umweltfreundlichsten Ver-
Dr. Margrit Wetzel (SPD): Herr Präsident, meine kehrsmittels endgültig zu ruinieren.
Damen und Herren! Was lange währt, wird end lich
gut, sollte man angesichts der langen Vorbereitungs- (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/
zeit dieses Haushalts meinen. Aber um so erschrek- GRÜNE — Unruhe)
kender ist es, wie wenig dieser erste gesamtdeutsche — Ich kann lauter sprechen, die brauchen nicht ruhig
Verkehrshaushalt den Zielsetzungen moderner, inno- zu sein.
vativer Verkehrspolitik gerecht wird. Der Minister lenkt — zugegeben: unglaublich ge-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schickt — von der haushaltspolitischen Realität feh-
der PDS/Linke Liste) lender und falsch eingeplanter Mittel ab und ver-
spricht Maßnahmen und angebliche Beschleuni-
Wir haben die Verantwortung für die Leistungsfä-
gungsgesetze,
higkeit unserer Verkehrswege. Das gilt ganz beson-
ders für die Bahn, die nicht mit schönen Sonntagsre- (Zuruf von der CDU/CSU: Sie kennen doch
den und Mittelkürzungen — bei der Deutschen Bun- den Verkehrshaushalt überhaupt nicht. Ich
desbahn immerhin eine Milliarden DM — zu retten habe Sie nicht ein einziges Mal im Ausschuß
ist, sondern nur mit konsequenten Investitionen für gesehen!)
den schnellstmöglichen Ausbau ihrer Kapazitäten. die ihm de facto einen Zeitaufschub gewähren, weil er
(Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ dadurch einen Verfassungsstreit heraufbeschwört.
CSU: Genau das!)
Wir haben außerdem die Verantwortung dafür, daß Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Frau
die Menschen in den neuen Bundesländern möglichst Dr. Wetzel, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zu be-
schnell würdige Lebensverhältnisse erreichen. antworten?
(Zuruf von der SPD: Sehr gut!)
Dazu gehören sichere Arbeitsplätze und wirtschaftli- Dr. Margrit Wetzel (SPD): Im Moment nicht. In An-
cher Aufschwung, und beides ist ohne sinnvolle Infra- betracht der Zeit, da die Kollegen aus dem nächsten
struktur nicht zu haben. Ausschuß auch schon warten.
(Zuruf von der CDU/CSU: Deshalb Maßnah- (Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/
men beschleunigen! — Weitere Zurufe von CSU)
der CDU/CSU)
Liebe Kolleginnen und Kollegen aus den neuen
— Dazu komme ich. Keine Angst! Ländern, wir brauchen für die Verkehrsinfrastruktur
Wir haben außerdem verkehrspolitische Pflichten keine neuen Gesetze, sondern konsequente Finanzie-
gegenüber den Partnern des europäischen Binnen- rung der geplanten Maßnahmen. Es ist nicht der Miß-
markts. Ich betone sehr bewußt: Wir müssen jetzt brauch demokratischer Rechte durch unsere Bürger,
2176 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Dr. Margrit Wetzel


der die schnelle Realisierung von Verkehrswegen ver- stitionsschwerpunkt. Ausbau der Kapazitäten, nicht
hindert, deren Abbau ist angesagt.
(Beifall bei der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie
sondern es ist die mangelhafte Bereitstellung von Fi- beim Bündnis 90/GRÜNE)
nanzmitteln durch parlamentarische Mehrheiten. Ge-
nau das belegt wiederum der uns vorliegende Haus- Konzeptionslosigkeit und Fahrlässigkeit werden
zum Markenzeichen dieses Minsters.
haltsentwurf.
(Beifall bei der SPD — Lebhafte Zurufe von (Lachen bei der CDU/CSU und der FDP —
der CDU/CSU) Jochen Borchert [CDU/CSU]: Von wem re
— Jetzt bin ich dran. Sie können später etwas sa- den Sie denn? Reden Sie über Ihren Landes
gen. minister? — Weitere Zurufe von der CDU/
CSU)
(Beifall bei der SPD — Zurufe von der SPD)
Die Bedeutung kombinierter Verkehre gerade auch
für die Häfen ist ihm offensichtlich nicht klar. Für die
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine ostdeutschen Häfen gilt es besonders, die miserable
Herren, Sie haben mir eben zu Recht zugestimmt, als Hinterlanderschließung und die Schienenanbindung
ich gebeten habe, auf dieser Seite des Hauses entspre- für die Anforderungen der internationalen Arbeitstei-
chende Ruhe herzustellen. Ich wäre Ihnen dankbar, lung und die Handelsbeziehungen zwischen den
wenn Sie sich ebenso verhalten würden, wie Sie es skandinavischen Ländern und Osteuropa fitzuma-
eben gewünscht hätten. chen. Aber wer sein verkehrspolitisches Schiff ohne
Nun, Frau Abgeordnete, fahren Sie fort. Ausguck und, glaube ich, auch ohne Steuermann
durch den Verkehrsinfarkt lenkt, muß sich über poli-
tische Schlagseiten nicht wundern.
Dr. Margrit Wetzel (SPD) : Der Güterverkehr
- auf der
Straße wird in seinem ungezügelten Anwachsen zum (Beifall bei der SPD und beim Bünd
größten verkehrlichen Störfaktor für Menschen und nis 90/GRÜNE sowie bei Abgeordneten der
Umwelt. Wer ihn aber als Störfaktor in der Verkehrs- PDS/Linke Liste)
politik behandeln will, springt auf den falschen Zug;
denn sektorales Denken ist endgültig passé. Nur die Der beabsichtigte Aus- und Neubau der Verkehrs-
Nutzung all er Systeme, aller Vorteile und die optimale verbindungen in den neuen Ländern orientiert sich
Verknüpfung der Vorteile der verschiedenen Ver- vorwiegend in Ost-West-Richtung. Der Versorgungs-
kehrsträger führt zu sinnvollen Verkehrskonzepten, verkehr aus dem Westen, die hohe Zahl der Berufs-
führt zur Vermeidung überflüssiger Verkehre und zur pendler werden aber in dem gleichen Maße abneh-
Verlagerung möglichst vieler Transporte auf umwelt- men, in dem Ober- und Mittelzentren in den fünf
freundliche Systeme. Deshalb ist uns der Ausbau des neuen Ländern ihre eigene Wirtschaftsgrundlage auf-
kombinierten Verkehrs — Huckepackverkehr, Rol- bauen können.
lende Landstraße usw. — , aber auch der Schnittstel- (Zuruf von der SPD: Sehr richtig!)
len verschiedener Verkehrsträger besonders wichtig.
Ganze 20 Millionen DM — das ist noch nicht einmal Um seriöse Planungen zu entwickeln und um den
der berühmte Tropfen auf den heißen Stein — stellt dauerhaften zukünftigen Veränderungen gerecht
die Regierungskoalition dafür bereit. werden zu können, müssen wir deshalb auch den Er-
Die Deutsche Bundesbahn verzeichnet derzeit Zu- halt gewachsener Nord-Süd und Nord-Ost-Verbin-
wächse von 40 % im kombinierten Ladungsverkehr; dungen strukturell, planungsrechtlich und finanziell
ein deutliches Signal, daß hier dringend mehr und sichern.
nicht weniger investiert werden muß. Der Verkehrshaushalt wird diesen Aufgaben in kei-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ner Weise gerecht, noch weniger der Lebensqualität
der PDS/Linke Liste) der Menschen und der Umwelt. Verkehrspolitik für,
Ihr Minister dümpelt über die 1 500 Langsamfahr- nicht gegen Menschen und Mitwelt machen heißt,
strecken der Deutschen Reichsbahn und träumt von Verkehr, wo immer möglich, zu vermeiden und auf
schnellen Wagen. Er verspricht gleichzeitig dem ver- umweltverträgliche Verkehrsmittel zu verlagern,
ladenden Gewerbe den zügigen Bau und Ausbau von (Beifall bei der SPD und beim Bünd
Terminals für den kombinierten Verkehr. Wie er das nis 90/GRÜNE sowie bei Abgeordneten der
aber mit lächerlichen 20 Alibi-Millionen machen will, PDS/Linke Liste)
sagt er nicht dazu. Seine Versprechungen legt er ver-
mutlich unter der Rub rik ab: Versprechen kann man heißt, die Schiene und den öffentlichen Personenver-
sich ja mal. kehr, auch den schienengebundenen Personennah-
Wer heute nicht in die Zukunft investiert, nicht Eng- verkehr attraktiv, wettbewerbsfähig und leistungsfä-
pässe beseitigt, nicht länderübergreifende Verkehrs- hig zu machen.
konzepte mit Prioritäten für den kombinierten Ver- Die katastrophalen Mängel und Defizite in diesen
kehr entwickelt und umsetzt, der stellt sich selbst und Bereichen sind Folgen einer völlig verfehlten Finanz-
unseren europäischen Nachbarn ein Bein. Weil die politik des Bundes, die sich in diesem Haushalt fort-
Schiene das Rückgrat deutscher und europäischer schreibt.
Verkehrspolitik werden muß, brauchen wir hier nicht
die Kürzung der Mittel, sondern den absoluten Inve- (Zuruf von der SPD: Sehr wahr!)
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2177

Dr. Margrit Wetzel


Wir fordern eine drastische Erhöhung der Investitio- Ich rufe auf:
nen zur Kapazitätsausweitung von Bundesbahn und Einzelplan 25
Reichsbahn. Geschäftsbereich des Bundesministers für
(Zuruf von der SPD: Sehr gut!) Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Wir wollen die deutliche Anhebung, letztlich die Auf- — Drucksachen 12/526, 12/530 —
hebung der Plafondierung im Gemeindeverkehrsfi- Berichterstatter:
nanzierungsgesetz und eine Umschichtung der Mittel Abgeordnete Dr. Conrad
zugunsten des öffentlichen Personennahverkehrs Schroeder (Freiburg)
und nicht, wie vorgesehen, zugunsten des kommuna- Carl-Ludwig Thiele,
len Straßenbaus. Dr. Nils Diederich (Berlin)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wir kommen zur Abstimmung über den Einzel-
der PDS/Linke Liste) plan 25. Wer diesem Einzelplan in der Ausschußfas-
Die Fusion von Bundesbahn und Reichsbahn hätte sung zustimmen will, den bitte ich um das Handzei-
schon längst vollzogen sein müssen. Wir brauchen ein chen. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Der
gemeinsames, europäisch orientiertes Bahnkonzept, Einzelplan 25 ist damit angenommen.
am besten gestern und nicht erst übermorgen.
(Beifall bei der SPD) Ich rufe auf:
Die Bahn darf sich nicht aus der Fläche zurückziehen, Einzelplan 13
nur weil die völlig fehlkonzipierten Bahnleitlinien von Geschäftsbereich des Bundesministers für Post
1983 immer noch Gültigkeit haben. Betriebswirt- und Telekommunikation
schaftliches Kalkül kann keine gemeinwirtschaftli- — Drucksachen 12/513, 12/530 —
chen Leistungen erbringen. Den Streckenstillegun-
gen und Substanzverkäufen der Bahn, ihrer so- schäd- Berichterstatter:
lichen und unverständlichen Reduzierung auf ein Abgeordnete Manfred Kolbe
Kernnetz kann nur politisch ein Ende gesetzt werden. Rudi Walther
Die Verantwortung für die Defizite der Bahn — finan- Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den
ziell und strukturell — , für die roten Zahlen und für Einzelplan 13 in der Ausschußfassung? — Gegen-
die fehlenden Kapazitäten liegen einzig und allein in probe! — Stimmenthaltungen? — Der Einzelplan 13
diesem Hohen Hause. ist damit angenommen.
(Zustimmung bei der SPD)
Ich rufe auf:
Meine Damen und Herren, mit uns gibt es keine
Verkehrspolitik auf den alten Gleisen mehr. Deshalb Einzelplan 23
lehnen wir den Verkehrsetat des Haushaltsentwurfs Geschäftsbereich des Bundesministers für
ab. wirtschaftliche Zusammenarbeit
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. — Drucksachen 12/525, 12/530 —
(Beifall bei der SPD und beim Bünd Berichterstatter:
nis 90/GRÜNE sowie bei Abgeordneten der Abgeordnete Helmut Esters
PDS/Linke Liste) Dr. Ch ri stian Neuling
Werner Zywietz
Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Die Aussprache Einzelplan 23 in der Ausschußfassung? — Gegenstim-
zum Einzelplan 12 ist damit geschlossen. men? — Stimmenthaltungen? — Damit ist der Einzel-
Wir kommen nun zur Abstimmung. Wer stimmt für plan 23 angenommen.
den Einzelplan 12 — Geschäftsbereich des Bundesmi-
nisters für Verkehr — in der Ausschußfassung? — Ge- Ich rufe nun auf:
genstimmen? — Stimmenthaltungen? — Der Einzel-
plan 12 ist damit angenommen. Haushaltsgesetz 1991
Wir kommen nun zu den Beratungen der Einzel- — Drucksachen 12/531, 12/532 —
pläne 25, 13 und 23. — Ich bitte Sie, noch einen Mo- Berichterstatter:
ment sitzen zu bleiben. — Die Kolleginnen und Kolle- Abgeordnete Jochen Borchert
gen, die dafür als Rednerinnen und Redner vorgese- Adolf Roth (Gießen)
hen waren, haben sich dankenswerterweise bereit er- Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen)
klärt, ihre Reden zu Protokoll zu geben. Darf ich fra- Helmut Wieczorek (Duisburg)
gen, ob damit Einverständnis besteht? — Das ist der Helmut Esters
Fall. Ich darf mich bei den Kollegen und Kolleginnen Eine Aussprache darüber ist nicht vorgesehen.
dafür herzlich bedanken.') Dies ist insbesondere im Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung.
Interesse unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Ich rufe auf die §§ 1 bis 32, den Gesamtplan sowie
die den ganzen Tag haben durcharbeiten müssen, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung.
und natürlich auch in Ihrem Interesse. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen
(Beifall) wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer
stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Die auf-
*) Anlagen 3, 4 und 5 gerufenen Vorschriften sind damit angenommen.
2178 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Vizepräsidentin Renate Schmidt


Die Fraktion der CDU/CSU hat beantragt, die in den Berichterstatter:
Beschlußempfehlungen des Haushaltsausschusses Abgeordnete Jochen Borche rt
auf Drucksache 12/531 unter II aufgeführte Entschlie- Dr.WolfgangWeng(Gerlingen),
ßung gemäß § 82 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung an Helmut Wieczorek (Duisburg)
den Haushaltsausschuß zurückzuüberweisen. Wer Eine Aussprache darüber ist nicht vorgesehen.
stimmt für diesen Antrag? — Wer stimmt dagegen? —
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluß-
Enthaltungen? — Der Antrag ist damit angenom-
empfehlung des Haushaltsausschusses auf Drucksa-
men.
che 12/533. Der Ausschuß empfiehlt, von der Unter-
Damit ist die zweite Beratung des Entwurfs eines richtung durch die Bundesregierung Kenntnis zu neh-
Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushalts men. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des
für das Haushaltsjahr 1991 abgeschlossen. Haushaltsausschusses? — Gegenprobe! — Enthaltun-
gen? — Die Beschlußempfehlung ist damit angenom-
men.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt II auf: Wir sind damit, liebe Kollegen und Kolleginnen, am
Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Wir bedan-
Beratung der Beschlußempfehlung des Haus- ken uns bei allen, die dabei mitgeholfen haben.
haltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Unter-
richtung durch die Bundesregierung Ich berufe die nächste Sitzung für den 7. Juni 1991,
9 Uhr ein.
Der Finanzplan des Bundes 1990 bis 1994 Guten Abend. — Die Sitzung ist geschlossen.
— Drucksachen 12/101, 12/494, 12/533 — (Schluß der Sitzung: 20.11 Uhr)
Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode - 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2179*

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 entschuldigt bis


Abgeordnete(r)
einschließlich
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Vogel (Ennepetal), CDU/CSU 06.06. 91 * *
entschuldigt bis Friedrich
Abgeordnete(r)
einschließlich Wetzel, Kersten CDU/CSU 06.06.91
Adler, Brigitte SPD 06. 06. 91 Dr. Wieczorek, Norbert SPD 06.06.91
Antretter, Robert SPD 06.06.91 ** Wimmer (Neuss), Willy CDU/CSU 06.06.91
Blunck, Lieselott SPD 06.06.91 * *
* für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm-
Böhm (Melsungen), CDU/CSU 06.06.91 * lung des Europarates
Wilfried ** für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union
Büchler (Hof), Hans SPD 06.06.91 * *
Bühler (Bruchsal), Klaus CDU/CSU 06.06.91 * *
Conradi, Peter SPD 06.06.91
Anlage 2
Dr. Eckardt, Peter SPD 06.06.91
Falk, Ilse CDU/CSU 06.06.91 Zu Protokoll gegebene Rede
Dr. Feldmann, Olaf FDP 06.06.91 ** zum Einzelplan 30 - Geschäftsbereich
Genscher, Hans-Diet rich FDP 06.06.91 des Bundesministers für Forschung
Göttsching, Martin CDU/CSU 06.06.91 und Technologie -
Haack (Extertal), SPD 06.06.91 - Drucksachen 12/524, 12/530 - *)
Karl-Hermann
Haschke CDU/CSU 06.06.91 Dr. Heinz Riesenhuber, Bundesminister für For-
(Großhennersdorf), schung und Technologie: Der Forschungshaushalt
Gottfried 1991 ist ein Haushalt in Zeiten des Umbruchs. Es ist
Dr. Herkenrath, Adolf CDU/CSU 06.06.91 ein knapper Haushalt. Aber die Notwendigkeiten sind
Irmer, Ulrich FDP 06.06.91 abgedeckt. Der institutionelle Bereich ist durchfinan-
Kittelmann, Peter CDU/CSU 06.06.91 * * ziert: Nach Art. 38 des Einigungsvertrags werden
Dr. Lippold (Offenbach), CDU/CSU 06.06.91 Bund und Länder 1991 900 Millionen DM allein schon
Klaus W. für die Übergangsfinanzierung der Institute der ehe-
Lummer, Heinrich CDU/CSU 06. 06.91 * * maligen Akademie der Wissenschaften aufbringen.
CDU/CSU 06. 06.91 * * Dies entspricht mehr als einem Viertel der institutio-
Maaß (Wilhelmshaven),
nellen Förderung der außeruniversitären Forschung
Erich
der alten Bundesländer im Geschäftsbereich des Bun-
Dr. Mahlo, Dietrich CDU/CSU 06.06.91
desministeriums für Forschung und Technologie.
Marten, Günter CDU/CSU 06.06.91 * *
Dr. Merkel, CDU/CSU 06.06.91 Wir nutzen dieses Jahr. Wir bauen eine Forschungs-
Angela Dorothea landschaft in den neuen Bundesländern auf, die in
06.06.91 ihrer Vielfalt der Forschung entspricht, die in den al-
Dr. Meyer (Ulm), Jürgen SPD
ten Bundesländern gewachsen ist. In ganz Deutsch-
Dr. Meyer zu Bentrup, CDU/CSU 06.06.91 * *
land brauchen wir die bestmögliche Forschung, die
Reinhard
wir aufbauen können.
Dr. Müller, Günther CDU/CSU 06.06.91 * *
Müller (Düsseldorf), SPD 06.06.91 Wir haben dem Wissenschaftsrat zu danken: Er ar-
Michael beitet schneller, als er selbst es für möglich gehalten
SPD 06.06.91 hatte. Im Juli werden voraussichtlich für alle Institute
Pfuhl, Albert
der ehemaligen Akademie der Wissenschaften Emp-
Dr. Probst, Albert CDU/CSU 06.06.91 * *
fehlungen vorliegen. Wir schätzen heute, daß mehr als
Reddemann, Gerhard CDU/CSU 06.06.91 * * die Hälfte der Wissenschaftler der ehemaligen Akade-
Reimann, Manfred SPD 06.06.91 * * mie der Wissenschaften auch künftig in der Wissen-
Reuschenbach, Peter W. SPD 06.06.91 schaft arbeiten können.
Dr. Riedl (München), CDU/CSU 06.06.91
Das Profil der Einrichtungen in den neuen Bundes-
Erich
ländern wird anders sein als bisher bei uns: Die Fraun-
Dr. Scheer, Hermann SPD 06.06. 91 ** hofer-Gesellschaft wird in 9 Instituten und 10 Außen-
von Schmude, Michael CDU/CSU 06.06.91* * stellen über 900 Mitarbeiter haben. Sie schlägt die
Dr. Schöfberger, Rudolf SPD 06.06.91 Brücke zwischen Wissenschaft und Unternehmen.
Schreiner, Ottmar SPD 06.06.91 Wir erwarten uns von ihr einen starken und dauerhaf-
Schüßler, Gerhard FDP 06.06.91 ten Antrieb für technisch geprägte Unternehmen.
Schulte (Hameln), SPD 06.06.91 Die Max-Planck-Gesellschaft hat bisher 13 Arbeits-
Brigitte gruppen an Universitäten in den neuen Ländern ge-
Seesing, Heinrich CDU/CSU 06.06.91 gründet. Weitere Max-Planck-Institute und Arbeits-
Singer, Johannes SPD 06.06.91 gruppen in den neuen Ländern sind geplant. - Zahl-
Dr. Soell, Hartmut SPD 06.06.91 * * reiche Institute der Blauen Liste werden entstehen.
Steiner, Heinz-Alfred SPD 06.06.91 * *
Terborg, Margitta SPD 06.06.91 * * *) Vgl. 27. Sitzung, Seite 2035 C
2180* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

— Bis zu 2 000 Wissenschaftler werden ihren Platz Dies geschieht in einer Zeit, wo die Mittel für die
wieder an Hochschulen finden, wenn wir wollen, daß wissenschaftlichen Institute in den alten Ländern
Wissenschaft an den Universitäten wieder ihre alte nicht wachsen. Mit Projektmitteln werden wir spar-
Stärke findet. sam umgehen, bei Max-Planck-Gesellschaft, bei
Fraunhofer-Gesellschaft, bei den Großforschungsein-
Wir helfen den neuen Ländern in der schwierigen richtungen und auch bei den Universitäten. Gegen-
Übergangsphase. Im Verantwortungsbereich des For- über 1982 hatten wir unsere Mittel in den Universitä-
schungsministers sind je für 1992 und 1993 fast ten weit mehr als verdoppelt. Aber wir können natür-
200 Millionen DM vorgesehen. Das Geld erleichtert lich eine manchmal knappe Grundfinanzierung durch
den neuen Ländern die Übergangszeit: Wir müssen die Länder nicht ersetzen. Einen Teil dieser Mittel
unbedingt vermeiden, daß wir wegen kurzfristiger fis- werden wir an den Hochschulen der neuen Bundes-
kalischer Probleme langfristig die falschen Strukturen länder ausgeben.
anlegen.
Wer nicht einen neuen Arbeitsplatz in der Wissen- Besonders dankbar bin ich für die Bereitschaft der
schaft findet, hat unsere volle Unterstützung. Eine Großforschungseinrichtungen, solidarisch mit der
besondere Form der ABM habe ich mit dem Kollegen Wissenschaft in den neuen Ländern Lasten zu tragen.
Blüm vorbereitet: Auch Forschungsgruppen können Mit etwa 2,3 Milliarden DM im Jahr haben sie einen
nach einer gedanklichen Sekunde der Arbeitslosig- hohen Anteil an unserem Haushalt. Viele dieser Ein-
keit für zusätzliche Arbeiten im öffentlichen Interesse richtungen haben in den vergangenen Jahren ihr Pro-
auf zwei Jahre finanziert werden. Wir helfen bei der fil gewandelt: etwa Abbau der Kerntechnik und Auf-
Gründung von Unternehmen, Handwerksbetrieben bau von Umweltforschung. Ihr Haushalt wird in den
— oder Technikunternehmen — aus den alten Institu- nächsten Jahren nicht wachsen können. Diese
ten. Mit der TREUHAND haben wir Projektunterstüt- schwierige Situation kann nur erfolgreich gestaltet
zung und eine Strategie für die Forschungs-GmbH's werden, wenn wir sie nutzen, um möglicherweise
vereinbart, die Möglichkeiten nutzt, besonders auch noch vorhandene Schwachstellen zu beseitigen. Wir
zur Kooperation mit westlichen Unternehmen. Wir werden alle Instrumente prüfen, den Großforschungs-
sind zuversichtlich, daß bei allen Schwierigkeiten einrichtungen hierfür ein hohes Maß an Beweglich-
eine kraftvolle institutionelle Forschung entsteht. keit und Gestaltungsmöglichkeit zu geben.

Wir fördern mit Projektmitteln. Bis zu 600 Millionen So prägen die Aufgaben der deutschen Einheit un-
DM haben wir in 1991 vorgesehen. Dies ist mehr als seren Haushalt. Hier liegt in der Arbeit in diesen Mo-
unser gesamter Aufwuchs an Projektmitteln. Dies ist naten das größte Gewicht. Dabei hat sich die Koope-
zusätzlich die Umsteuerung eines erheblichen Teils ration mit den Wirtschaftsministern und den Wissen-
der Projektmittel, die wir für die alten Bundesländer schaftsministern der neuen Bundesländer freund-
vorgesehen hatten, in die neuen Bundesländer. schaftlich und in gemeinsamer Verantwortung gut
entwickelt. Aber ebenso wichtig ist mir die Zusam-
Ein wichtiges haushaltstechnisches Instrument ist menarbeit mit den Kollegen im Parlament: Der For-
dabei für uns eine begrenzte globale Minderausgabe. schungsausschuß und der Bundestag hatte noch nie so
Dies ist schwierig. Jeder spricht von der Bereitschaft viele Naturwissenschaftler und Techniker wie heute,
zum Teilen. Ich bin dankbar für alle, die uns hierbei und ich bin sicher, daß dies gut ist für die Qualität
tatkräftig unterstützten. unserer gemeinsamen Politik!
15 Technologiezentren haben wir mit den neuen
Bundesländern gegründet. Bei weiteren beraten und Die deutsche Einheit ist die übergeordnete Auf-
unterstützen wir. Die ersten jungen Unternehmen gabe; aber wir haben unsere Schwerpunkte weiterge-
sind gegründet, über ein breites Spektrum von der führt und das Profil unserer Forschungspolitik ver-
Soft-Ware-Entwicklung bis zur Umwelttechnik. Wir stärkt, wie wir sie seit 1982 angelegt haben.
setzen die Erfahrung der letzten Jahre in den alten
Der Anteil der Zuwendungen an die großen Unter-
Ländern ein. Ich freue mich und ich respektiere sehr,
nehmen ist weiter gefallen. Sie leisten eine großartige
daß Gemeinden und Hochschulen, Unternehmen und
Fachhochschulen, Berater aus den alten Ländern und Forschung. Aber die Zahl der Projekte, bei denen sie
die Partnerschaft des Staates brauchen, ist begrenzt.
verantwortlichen neuen Ländern gemeinsam denen
helfen, die mutig starten. Wo es allerdings notwendig ist, da arbeiten wir gerne
zusammen: bei JESSI, dem größten Eureka-Projekt,
Das deutsche Forschungsnetz ist ausgebreitet. Da- um Europas unabhängige Position auf den Weltmärk-
tenbankanschlüsse sind überall vorhanden. Techno- ten für Chips zu erhalten, bei PROMETHEUS, zur
logieberatung der Kammern wird aufgebaut. Demon- Sicherheit des Straßenverkehrs oder beim Hochauflö-
strationszentren für neue Techniken entstehen. Am senden Fernsehen, wo neue Formen entstehen und
eindrucksvollsten aber ist, wie die Zahl derer wächst, vom Staat mitzugestalten sind, und — in ganz anderer
die die Erfahrung von 40 Jahren Sozialismus über- Weise etwa bei Weltraumtechnik, wo wir Aufträge für
wunden haben und den Mut zur Initiative und Krea- Geräte erteilen, die wir brauchen, bis hin zu Umwelt-
tivität finden. Diese Arbeit gelingt nur in einer guten beobachtungs-Satelliten, zur Technik für die Raum-
Partnerschaft zwischen Politik und Wissenschaft. Ich station oder für die Grundlagenforschung. Das Ziel
danke den großen Wissenschaftsorganisationen, ich solcher Aufträge ist natürlich nie der Spin-Off. Gerade
danke diesen engagierten Wissenschaftlern für die wenn der Spin-Off begrenzt ist, wird deutlich, daß wir
Bereitschaft, selbst in den neuen Ländern zu arbeiten, nicht für Marktpositionen von Unternehmen fördern,
aber auch Wissenschaftler aus den neuen Ländern auf sondern Geräte bestellen, die wir zur Erfüllung unse-
Zeit in ihre Institute einzuladen. rer Ziele brauchen.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2181

Die Förderung von kleinen und mittleren Unterneh- des Ostens; das waren die Bürger der neuen Bundes-
men hingegen halten wir auf einem hohen Niveau. länder. Und zwischen beiden war eine fast undurch-
Für jede selbst aufgewandte Forschungsmark be- dringliche Grenze. Nun sind wir beisammen in einem
kommt ein großes Unternehmen heute statistisch etwa Land, und wir sind die Mitte Europas, eines Europas,
3 Pfennige staatlichen Zuschuß, ein KMU etwa das wir mitgestalten können.
8 Pfennige, denn wir wollen einen starken Mittel-
Wissenschaft, die unser Verständnis der Welt erwei-
stand, der Technik beherrscht.
tert, Wissenschaft, die Technik und Wohlstand und
Verstärkt haben wir weiter die Bereiche, in denen Problemlösungen zugrundelegt; solche Wissenschaft
der Staat unmittelbar Verantwortung trägt. Ökologi- wird auch in einzigartiger Weise das Verständnis der
sche Forschung wächst um 10,6 % weit überproportio- Menschen füreinander fördern, wenn wir im Wissen
nal; Umwelttechnik um 28,5 % noch stärker; Klimafor- um gemeinsame Verantwortung sie als Partner su-
schung um 37,6 % ! Bei erneuerbaren Energien haben chen und finden.
wir mit 318 Millionen DM einen internationalen Spit-
zenwert. In allen diesen Bereichen trägt der Staat Ver-
antwortung für eine verletzliche Welt, und wir wollen
mit Wissenschaft und Technik die Voraussetzungen
schaffen, daß wir dieser Verantwortung immer mehr
gerecht werden. Anlage 3
Dies heißt auch, daß wir Projekte entwickeln, die Zu Protokoll gegebene Reden
verschiedene Techniken zusammenführen bis zur zu Einzelplan 25 — Geschäftsbereich
Problemlösung: — Wir optimieren verschiedene Ver- des Bundesministers für Raumordnung,
fahren zur Verwertung von Gülle. — Wir lernen, wie Bauwesen und Städtebau —
wir ökologisch belastete kleine Flüsse sanieren. — Wir — Drucksachen 12/526, 12/530 —
führen eine wachsende Vielzahl von Verfahren zur
Sanierung von Altlasten im Boden zusammen. — Wir
erproben Chinaschilf oder Raps als nachwachsende Dr. Conrad Schroeder (Freiburg) (CDU/CSU): Der
Rohstoffe und Energieträger, und wir freuen uns über Haushalt des Ministeriums für Raumordnung, Bauwe-
die wachsende gute Partnerschaft zwischen Wissen- sen und Städtebau trägt entscheidend mit dazu bei,
schaft, Industrie und Landwirtschaft. — Wir starten daß die schwierigen Probleme in den Bereichen Woh-
Breitenversuche mit tausenden von Anlagen zur Son- nen, Mieten und der Erneuerung der Bausubstanz in
nenenergie und zur Windenergie. Das Ziel ist, daß den neuen Bundesländern zügig und wirksam ange-
nicht nur einzelne Probleme definiert, sondern Lösun- packt, gleichzeitig aber auch die Wohnungsengpässe
gen so überzeugend demonstriert werden, daß sie sich in den alten Bundesländern weiter beseitigt werden
durchsetzen. können. Der Finanzrahmen des Haushaltsplans zum
Der Forschungshaushalt ist knapp, und die näch- Einzelplan 25 weist eine beachtliche Steigerung ge-
sten Jahre werden schwierig sein. Aber die Strategie genüber dem Jahr 1990 von fast 29 % aus und beträgt
stimmt, und die Partnerschaft zwischen Wissenschaft, jetzt immerhin in den Ausgaben rund 8,2 Milliarden
Wirtschaft und Staat, die sich in den vergangenen DM. Damit steht ein beachtliches Finanzvolumen zur
Jahren so außerordentlich erfolgreich entwickelt hat, Verfügung, das zielsicher eingesetzt die wichtigen
wird sich auch in einer schwierigen Zeit bewähren. wohnungsbaupolitischen Aktivitäten in den alten und
Dabei werden wir immer wieder auch im Parlament den neuen Bundesländern finanziell absichert. Die
über den richtigen Weg zu streiten haben. SPD, die hier höhere Wohnungsbaumittel fordert, soll
dafür Sorge tragen, daß in den Bundesländern und
Aber aus den Diskussionen der letzten Monate sehe Gemeinden, in denen sie die Verantwortung trägt, mit
ich einiges an Sorgen über das Volumen unseres For- eigenen Initiativen mehr zum Abbau des Wohnungs-
schungshaushalts. Ich sehe aber weniges an grund- defizits getan wird. Der Wohnungsbau und die Besei-
sätzlicher Kritik an unserer Strategie. Dies liegt viel- tigung von Engpässen gehört nämlich nach dem Woh-
leicht daran, daß dies im guten Stil des Forschungs- nungsgesetz nicht in die alleinige Zuständigkeit des
ausschusses bei aller grundsätzlichen Spannung im- Bundes, sondern ist eine Gemeinschaftsaufgabe von
mer wieder gemeinsam gestaltet ist. Bund, Ländern und Gemeinden.
So lassen Sie uns gemeinsam die Probleme der Die Regierungskoalition hat bereits 1989 ein breites
kommenden Jahre lösen. Wir lösen sie in unserem wohnungsbaupolitisches Paket für die alten Bundes-
Land, aber wir werden nicht vergessen, daß Deutsch- länder verabschiedet mit dem Ziel, von 1990 bis 1992
land ein Teil Europas wird, daß Deutschland sein Wis- 1 Million neue Wohnungen zu bauen. Der Erfolg des
sen und seine Gestaltungskraft in Europa einbringen hervorragenden Wohnungsbauprogramms der Bun-
muß. Dies gilt für die großen Programme und Institute desregierung und der Koalition ist bereits jetzt in den
der Grundlagenforschung, dies gilt für Weltraumtech- alten Bundesländern deutlich sichtbar. Im Jahr 1990
nik und dies gilt für EUREKA. Dies gilt für die Pro- wurden 257 000 neue Wohnungen fertiggestellt. Ein
gramme der Europäischen Gemeinschaft. noch deutlich kräftiger Zuwachs ist für dieses Jahr
Dies gilt aber auch für unser Verhältnis zu den Staa- 1991 zu erwarten. Die Zahl der neu genehmigten
ten Ost-Europas, die zurückkehren in die Gemein- Wohnungen lag nämlich im Jahr 1990 bei rund
schaft der freien Völker. Auch dies ist ein Teil unserer 387 000. Für 1991 kann daher bis zum Jahresende mit
Wirklichkeit: — Die einen Deutschen standen bisher einem Ergebnis von deutlich mehr als 300 000 neuen
am äußersten Osten des Westens; das waren wir. — Wohnungen gerechnet werden. Nach dem Stand der
Die anderen Deutschen standen am äußersten Westen Wohnungsbaugenehmigungen in diesem Jahr wird es
2182* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

auch im Jahre 1992 mit neuen Wohnungen verstärkt Auch in den neuen Bundesländern soll mit den Fi-
weitergehen. nanzhilfen des Bundes alles daran gesetzt werden, vor
allen Dingen Eigentumsmaßnahmen in besonderer
Wir sind auf dem richtigen Weg, wenn für die Jahre
Weise zu fördern. Nur mit Hilfe vieler privater Initia-
1991 und 1992 in den alten Bundesländern mehr als
tiven sind schnelle Erfolge zu erzielen.
700 000 Wohnungen neu hinzukommen. Wer kriti-
siert, daß noch nicht alle Engpässe beseitigt sind, Außer den Finanzhilfen für den sozialen Woh-
sollte nicht vergessen, daß allein seit der letzten nungsbau stellt der Bund auch im Jahre 1991 be-
Volks- und Wohnungsstättenzählung im Jahre 1987 trächtliche Mittel in den alten und den neuen Bundes-
die Einwohnerzahl in den alten Bundesländern um ländern für Maßnahmen der Stadterneuerung zur
rund 2,4 Millionen Bürgerinnen und Bürger gewach- Verfügung. In den neuen Bundesländern stehen in
sen ist. Der Trend zu immer größeren Wohnungen und diesem Jahr und im Jahre 1992 Finanzhilfen in Höhe
zu Einpersonenhaushalten hält weiter unvermindert von je 630 Millionen DM für Investitionen in den Städ-
an. Deshalb konnte die Schere zwischen Wohnungs- ten und Gemeinden zur Verfügung. Zusammen mit
angebot und Wohnungsnachfrage ungeachtet der den Komplementärmitteln von Ländern und Gemein-
spürbaren Steigerung des Neubauvolumens noch den beträgt das Finanzvolumen in den neuen Bundes-
nicht geschlossen werden. Es liegt völlig daneben, ländern für die Stadterneuerung über 1,5 Milliarden
wenn die SPD behauptet, im Wohnungsbau sei nichts DM pro Jahr. Mit den Finanzhilfen für die Städtebau-
gelaufen. förderung können vordringliche Maßnahmen zur Bo-
Die kontinuierliche Fortsetzung der wohnungspoli- denordnung, der Erwerb von Grundstücken, die Her-
tischen Vorhaben erfordert ein Zusammenwirken von stellung und Änderung von Erschließungsanlagen so-
Bund, Ländern und Gemeinden, insbesondere auch wie Baumaßnahmen bewerkstelligt werden.
die Mobilisierung von Bauland. Durch den Abbau von
In den alten Bundesländern wurde K ritik laut, daß
Truppenstandorten der Bundeswehr und die Reduzie-
die Stadterneuerungsmittel in diesen Ländern gegen-
rung der alliierten Stationierungsstreitkräfte ist zu-
über dem Vorjahr von 660 Millionen auf 330 Millio-
sätzliches Bauland frei geworden. Meine Fraktion un-
nen reduziert wurden. Ich weiß, daß noch viele Bür-
terstützt nachdrücklich, daß durch den Truppenabbau
germeister aus diesem Topf ihre Gemeinden verschö-
freiwerdende Grundstücke und Gebäude vorrangig
nern wollen, halte es jedoch für vertretbar, daß ein
für den sozialen Wohnungsbau genutzt werden. Ich
solidarischer Beitrag der alten Bundesländer für die
hoffe, Sie haben gestern bei der Rede des Herrn Bun-
neuen Bundesländer geleistet wird. Manche Stadter-
desfinanzministers sicher gut zugehört, der hier mit-
neuerungsmaßnahme in den alten Bundesländern
geteilt hat, daß künftig freigegebene Militärgrund-
kann auch noch ein Jahr gestreckt werden. Bösartige
stücke mit einem Preisabschlag von 30 % für Zwecke
Kritik meint sogar, längst werde hier auch viel unnüt-
des sozialen Wohnungsbaus und des studentischen
zer „Schnickschnack" finanziert. Aber diesen Vor-
Wohnungsbaus an die Gemeinden abgegeben wer-
wurf will ich so allgemein nicht stehen lassen.
den. Das ist eine ganz großartige Nachricht, für die ich
hier noch einmal dem Bundesfinanzminister den Damit keine Mark an Bundeshilfen für den sozialen
Dank meiner Fraktion sagen möchte. Die Gemeinden Wohnungsbau oder Stadterneuerungsmaßnahmen
werden hierdurch in der Lage sein, den sozialen Woh- am Jahresende 1991 verfällt, weil möglicherweise we-
nungsb au weiter anzukurbeln. Die Grundstücksver- gen eines zu geringen Planungsvorlaufs in den neuen
gabe mit 2 % Erbbauzins bleibt daneben bestehen. Bundesländern noch nicht alles verbaut werden kann,
Die Verpflichtung der Länder, die für den sozialen wird bei den entsprechenden Titeln des Einzel-
Wohnungsbau zugeteilten Bundeshilfen vorrangig im plans 25 festgelegt, daß mit Zustimmung des Bundes-
sogenannten dritten Förderweg, also im Wege einer finanzministers Mittel, die in den neuen Bundeslän-
Vereinbarung einzusetzen, ist der sachgerechte Weg, dern nicht abgerufen werden konnten, auch für den
um mit dem vorhandenen Geld eine größtmögliche sozialen Wohnungsbau oder Stadterneuerungsmaß-
Breitenwirkung zu erzielen. nahmen in den alten Bundesländern abgerufen wer-
den können. Damit wird, ähnlich wie beim Straßen-
Nach der abgeschlossenen Verwaltungsvereinba- bau, eine optimale Ausnutzung der zur Verfügung
rung zwischen dem Bund und den neuen Ländern stehenden Bundeshilfen erreicht, ohne daß die neuen
stellt der Bund allein den neuen Ländern rund Bundesländer dadurch benachteiligt werden.
1,35 Milliarden DM an Finanzhilfen für den Woh-
nungsbau zur Verfügung. Anders als in den alten Neben zusätzlichen städtebaulichen Denkmal-
Bundesländern können die Finanzhilfen für den sozia- schutzmaßnahmen in den neuen Bundesländern im
len Wohnungsbau auch für Maßnahmen der Moderni- Rahmen des Gemeinschaftswerks Aufschwung Ost
sierung und der Instandsetzung eingesetzt werden. werden aus dem Einzelplan 25 städtebauliche Mo-
Das ist angesichts des teilweise verheerenden Zustan- dellvorhaben mit Hilfe des Bundes in den Städten
des der Bausubstanz in den neuen Bundesländern Brandenburg, Halberstadt, Meißen, Stralsund und
auch richtig und notwendig, um einen schnellen Auf- Weimar sowie in acht Dörfern der neuen Bundeslän-
schwung zu erreichen. Mit den zur Verfügung stehen- der durchgeführt. Mit diesen Maßnahmen, die rasch
den Mitteln kann unverzüglich begonnen werden, umgesetzt werden, wird in den Modellstädten und
bauliche Mängel an Dächern und Fassaden zu besei- -dörfern ein sichtbares Zeichen gesetzt, wie es in eini-
tigen, Maßnahmen der Modernisierung von Hei- gen Jahren überall in den neuen Bundesländern aus-
zungsanla gen und Sanitäreinrichtungen vorzuneh- sehen kann und soll. Die Wirkung der Vorhaben in
men und mit energiesparender Wärmedämmung zu den Modellstädten und -gemeinden reicht weit über
beginnen. den unmittelbaren Kreis hinaus.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2183*

Mit einem neuen Modellvorhaben soll auch ein Bei- Meine Fraktion wird dem Einzelplan 25 zustimmen,
trag zum Schutz des „ungeborenen Lebens" erfolgen. und ich empfehle diese Zustimmung auch den übri-
Die Berichterstatter zum Einzelplan 25 haben bean- gen Fraktionen dieses Hohen Hauses.
tragt, zusätzliche Bundesmittel bereitzustellen, um
Modellwohnungen für alleinstehende und alleiner- Dr. Nils Diederich (Berlin) (SPD): Die deutsche Ein-
ziehende Frauen zu bauen. Diesem Antrag wurde ein- heit hat einen historisch einmaligen Vorgang auch im
hellig im Haushaltsausschuß gefolgt. Wir wollen es Bereich der Wohnungspolitik bewirkt: Wir müssen
bei der Diskussion um den Schutz des ungeborenen innerhalb kurzer Zeit in den neuen Ländern von einer
Lebens nicht bei Worten belassen, sondern auch mit zentralen Wohnungsverwaltung auf eine marktorien-
Taten helfen. tierte Wohnungswirtschaft umstellen.
Das Wohngeld ist ein weiterer Schwerpunkt im Ein- Für Sozialdemokraten ist Wohnung keine Ware
zelplan 25. Das Wohngeld ist seit vielen Jahren zur sondern ein soziales Gut. Das Grundbedürfnis Woh-
Abfederung der Mietbelastungen in den alten Bun- nen muß in unseren Breitengraden bestimmten Min-
desländern eine wertvolle und unverzichtbare Hilfe deststandards und Ansprüchen genügen. Die Min-
für Millionen von Haushalten. In der Zwischenzeit destansprüche sind in den alten Bundesländern mit
übersteigt der Haushaltsansatz die 3 Milliarden wachsendem Wohlstand gestiegen. Von den ca.
Grenze. Eine behutsame Anhebung der Mieten in den 7 Millionen Wohnungen in den neuen Bundesländern
neuen Bundesländern, die bisher noch auf dem Stand trägt aber nur ein geringer Anteil diesen Ansprüchen
des Jahres 1936 eingefroren waren, muß begleitet Rechnung.
werden von der gleichzeitigen Einführung eines Es reicht also nicht hin, auf die Statistik zu verwei-
Wohngeldes. Die Mieter haben die „Vorteile " des bil- sen, daß mit den 7 Mil li onen Wohnungen die ca.
ligen Wohnens mit einem teilweise menschenunwür- 6,6 Millionen Haushalte in den neuen Ländern doch
digen Zustand der Wohnungen bezahlt. Dies muß und ohne weiteres befriedigt werden könnten. Immerhin
wird sich ändern. Die Anhebung der Mieten muß
- aber sind 37 % der Wohnungen in den neuen Ländern vor
zeitgleich durch die Einführung eines flächendecken- 1919 errichtet; in den alten Bundesländern beträgt
den Wohngeldsystems begleitet werden. Die entspre- dieser Anteil nur noch 19 %. Wer den Wohnungsbe-
chenden Mittel sind in den Bundeshaushalt einge- stand in Ostdeutschland kennt, weiß, daß sicherlich
stellt. Mit einem pauschalierten System von Voraus- ein Fünftel dieser Wohnungen nicht mehr sanierungs-
zahlungen auf das endgültige Wohngeld soll sicher- fähig und eigentlich nicht mehr bewohnbar ist. Wer
gestellt werden, daß die Mieter in den neuen Bundes- die Bauten in Großplattenbauweise kennt — ich kann
ländern bei Anhebung der Mieten zeitgleich in den Sie Ihnen in meinem Wahlkreis vorführen — , wird mir
Genuß der Wohngeldzahlungen gelangen. Außerdem zustimmen, daß das ökonomischste und vielleicht
wird in den neuen Bundesländern durch die Berück- auch menschenfreundlichste Verfahren wäre, viele
sichtigung der Heiz- und Warmwasserkosten beim dieser Bauten so bald wie möglich niederzulegen und
Wohngeld eine zusätzliche Hilfe gegeben. die Flächen mit modernen Ansprüchen genügenden
und in das städtebauliche Umfeld sinnvoll eingefüg-
Bei den Beratungen im Haushaltsausschuß wurden ten Wohnungen neu zu bebauen.
auch zusätzliche Mittel bereitgestellt, um mit einem Wir erkennen an, daß die Bundesregierung erhebli-
Ausbildungsprogramm und einer breit gefächerten che quantitative Anstrengungen unternimmt, um auf
Unterrichtung der Bürgerinnen und Bürger in den die vorhandenen Probleme zu antworten. Nur, Quan-
neuen Bundesländern ein Informationsdefizit über tität allein reicht nicht hin. Was fehlt, ist eine klare
das neue Miet- und Wohngeldrecht schnell abzu- Konzeption für den Wiederaufbau in Ostdeutsch-
bauen. Insgesamt ist damit der Etat des Bauministeri- land.
ums ebenfalls ein wesentlicher Beitrag für einen kon-
tinuierlichen Aufschwung in den neuen Bundeslän- Die Bundesregierung vertraut auf den Markt. Nur,
dern. wenn es keinen Markt gibt, kann er auch seine se-
gensreiche Wirkung nicht entfalten. In Ostdeutsch-
Zu den ganz schwierigen und brisanten Aufgaben land muß ein funktionierender den sozialen Anforde-
des Bundesbauministeriums und hier speziell der rungen gerecht werdender Wohnungsmarkt erst her-
Bundesbaudirektion gehört die Planung und Realisie- gestellt werden. Und dies kann nicht nur mit An-
rung der Bundestagsbauten. Die Fertigstellung des schubfinanzierungen und Übergangsregelungen ge-
Plenarsaals in Bonn und vorsorgliche Maßnahmen des schehen. Bei der Größe der Aufgabe kann es der
Grunderwerbs und Hochbaumaßnahmen im Umfeld Markt allein nicht schaffen. Es gibt noch keinen
des Reichstages in Berlin sind finanziell abgesichert. marktfähigen Wohnungsbestand; auch deshalb, weil
Nach den endgültigen Abstimmungen über Regie die Eigentumsverhältnisse immer noch nicht endgül-
rungs- und Parlamentssitz werden sich möglicher- tig geklärt sind.
weise hier alsbald Veränderungen ergeben, die im Lassen wir uns nicht täuschen: Seit der Öffnung der
Haushaltsplan 1992 Berücksichtigung finden müs- Mauer sind Hunderttausende aus den neuen Ländern
sen. in die alten Länder abgewandert und haben dort das
Arbeitskräftepotential und damit die Leistungsfähig-
Ich bedanke mich abschließend bei Frau Ministerin keit verstärkt. Ostdeutschland, in dem einmal fast
Adam-Schwaetzer sowie bei allen Bediensteten des 20 Millionen Menschen gelebt haben, hat im Lauf der
Bundesbauministeriums und auch meinen Berichter- letzten Jahrzehnte zwischen 3 und 4 Millionen Ein-
statterkollegen im Haushaltsausschuß für eine gute wohner verloren. Nun könnte man meinen, daß dies
Zusammenarbeit. die Situation entspannt; das Gegenteil ist der Fall.
2184 " Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Es wird in den neuen Ländern einen schnellen Auf- tion hat hier noch keinen Ansatz. Die alten Instru-
schwung und eine Zukunftsperspektive nur geben, mente sind verbraucht.
wenn es gelingt, das Ausbluten aufzuhalten und
Der Abzugsbetrag von der Steuerschuld bei selbst-
junge Menschen zu motivieren, in die neuen Länder
genutztem Eigentum ist ein alter sozialdemokrati-
zu gehen, um am Aufbau mitzuwirken. Zwei Voraus-
scher Vorschlag, den wir bereits 1986 in die parlamen-
setzungen sind notwendig. Das eine ist die Schaffung
tarische Beratung eingebracht haben. Dieser Vor-
hinreichender Arbeitsplätze. Das zweite ist das Ange-
schlag hat den Vorteil, daß bei geringen Einkommen,
bot an bezahlbaren Wohnungen, die dem Qualitäts-
bei denen eine Steuerschuld nicht entsteht, das Fi-
stand entsprechen, den wir in den alten Ländern er-
nanzamt mit einem Zuschuß wirksam in die Eigen-
reicht haben. Dies erfordert massiven Wohnungsbau,
tumsbildung eingeschaltet wird. Wir bieten an, wir
den wir nur über ein öffentliches Förderprogramm
fordern Sie auf, mit uns gemeinsam ein neues Konzept
erreichen. Die Bundesregierung ist untätig und wartet
zu erarbeiten.
auf den Markt. Ich fordere die Koalitionsparteien auf,
zusammen mit Sozialdemokraten ein Nationales Auf- Jede Wohnungspolitik bedarf der sozialen Absiche-
bauprogramm für den sozialen Wohnungsbestand zu rung. Was bedeutet dies für die neuen Länder?
entwickeln. 1. Mieter und Eigentümer brauchen Sicherheit und
Die Bundesregierung setzt vorwiegend auf die Pri- Schutz vor willkürlicher Kündigung.
vatisierung des kommunalen Wohnungsbestandes.
2. Die Wohnungen müssen bezahlbar sein.
Die Privatisierung von Altbauwohnungen ist aber mit
Problemen belastet. Der Althausbestand wird sicher 3. Der Wohnungsbestand, die Wohnungen müssen
weitgehend von den Alteigentümern beansprucht schrittweise an den Qualitätsstandard der westlichen
werden und steht daher für eine Privatisierung nicht Bundesländer herangeführt werden.
zur Verfügung. Die Gebäude in Großplattenbauweise
Die Anhebung der Mieten ist ein erster notwendiger
sind von wirklich schlechter Qualität und haben einen
Schritt. Die Begleitung durch das Wohngeld bietet die
-
großen Sanierungsbedarf. Sie zu privatisieren könnte
soziale Komponente, die verhindert, daß die Mieter
einem Betrug an den Käufern nahekommen. Wenn
überfordert werden. Es ist auf lange Zeit ein Woh-
man in den Preisen zu stark nachgibt und die Woh-
nungsbestand notwendig, der der Sozialbindung un-
nungen sogar zu einem symbolischen Preis abgibt,
terliegt, der einkommensschwachen Haushalten —
behalten die Kommunen die alten Schulden und sind
insbesondere mit Kindern — bezahlbaren Wohnraum
auf lange Zeit weniger handlungsfähig. Wer als Be-
auf Dauer zur Verfügung stellt. Und wenn ich von dem
wohner eine solche Wohnung kauft, geht möglicher-
hohen Anteil sanierungsbedürftigen Wohnraumbe-
weise ein großes Risiko ein, weil er schon bald von
standes ausgehe, so ist neben der Rekonstruktion alter
großen Instandhaltungs- und Modernisierungskosten
Wohnungssubstanz massiver Neubau in den neuen
eingeholt wird, wobei die meisten Käufer nicht beden-
Ländern notwendig.
ken, daß sie ja auch für die Gesamtsubstanz des Hau-
ses, Dächer, Außenmauern, Treppenhäuser usw., mit- Wir müssen also die Förderung des sozialen und des
verantwortlich sind. Ich glaube kaum, daß jemand in frei finanzierten Wohnungsbaus auch für die neuen
der Lage ist, zuverlässig die tatsächlichen Kosten zu Länder vorantreiben. Dazu ist es notwendig, das För-
schätzen. Deshalb bleibt für uns klar: Die Privatisie- dersystem zu überprüfen. Was wir dort brauchen
rung ist nicht ausgeschlossen, aber sie heilt nicht den ist:
defekten Wohnungsbestand. — Stetigkeit zur Auslastung der Bauwirtschaft;
Wir müssen also auf den Neubau neben der Moder-
—systematische Angleichung der Wohnungsqualität,
nisierung setzen. Eigentumsbildung in den neuen
die mit steigenden Einkommen auch in den neuen
Ländern ist dabei eine der zentralen Aufgaben. Wir
Ländern nachgefragt werden wird;
Sozialdemokraten denken dabei allerdings nicht
daran, nach Manier freier Marktwirtschaft akkumu- — eine Übersichtlichkeit für Mieter und Eigentü-
liertem Kapital eine besonders günstige Zuwachsrate mer;
zu verschaffen. Wir wollen, daß abhängig Beschäf-
— die Beachtung der Komponenten des Städtebaus
tigte, die bisher über Eigentum nicht verfügten, in die
und des Wohnumfeldes.
Lage versetzt werden, solches zu bilden. Und dies
geschieht am besten bei selbstgenutztem Wohneigen Ein Problem, das mir Sorgen bereitet, ist der Zu-
turn. Nur ein geringer Anteil der DDR-Bevölkerung stand der Energienutzung im Wohnungsbaubestand.
lebte in Eigenheimen. Hier liegt ein gewaltiges Poten- Es genügt nicht, durch die Ergänzung der Wohngeld-
tial für die wirtschaftliche Entwicklung. Wir Sozialde- regelungen einen Teil der Bet riebskosten abzufan-
mokraten fordern daher die Bundesregierung auf, mit gen. Wir benötigen Programme, die eine radikale Re-
uns gemeinsam eine massive Förderung der Eigen- duzierung der Energiekosten zum Ziel haben.
tumsbildung zu beginnen. Wer sich mit den Beheizungskosten der Verwal-
Wir benötigen eine Konzeption für die grundle- tungsgebäude, die der Bund in Berlin geerbt hat, be-
gende Umgestaltung der steuerlichen Förderung. faßt, kommt zu dem Schluß, daß eine Reinvestition in
Denn wir müssen davon ausgehen, daß die Mehrzahl die Modernisierung der Heizungsanlagen sich inner-
der Bewohner der neuen Länder über Eigenkapital halb weniger Jahre aus den ersparten Kosten amorti-
noch nicht verfügen kann. Uns kommt es auf einen siert. Insofern kann man auf das Funktionieren des
möglichst effizienten Einsatz finanzieller Mittel für Marktes vertrauen. Ich halte es dennoch für notwen-
breite Bevölkerungsschichten an, um den Erwerb dig, daß gerade für den Bereich des Wohnungsbaus
oder Bau von Eigenheimen zu ermöglichen. Die Koali- massiv die Modernisierung gefördert wird, und zwar
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2185*

so, daß nicht sämtliche Modernisierungskosten beim werden muß. Um so mehr freut es uns, daß der Bun-
Mieter als Mieterhöhung ankommen. Das würde un- desminister der Finanzen in seiner gestrigen Anspra-
ser Ziel, die Mietsteigerungen für die Mieter erträg- che den Forderungen der Opposition entgegenge-
lich zu machen, unterlaufen. kommen ist und angekündigt hat, daß er für Maßnah-
men des sozialen Wohnungsbaus in den alten Bundes-
Dies gilt insbesondere für die Bauten in Großplat- ländern bislang militärisch genutztes Gebiet preis-
tenbauweise, die so schlecht isoliert sind und die in werter abgeben will. Wir begrüßen, daß die Bundes-
ihren Heizungen so unglaublich unwirtschaft lich sind, regierung Lernfähigkeit an diesem Punkt bewiesen
daß ich Ihnen Beispiele vorführen kann, in denen ein hat, und würden uns wünschen, daß es auch anderswo
Abriß der Häuser und Neubau allemal billiger ist als so ginge.
die Sanierung. Gerade deshalb müssen wir auch dar-
auf achten, daß diese Wohnungen eben nicht in Mie- Die Bauwirtschaft war immer der Motor für die wirt-
tereigentum überführt werden mit der fatalen Konse- schaftliche Entwicklung. Dies war nach dem Kriege in
quenz, daß die Mieter sich in wenigen Jahren an ih- Westdeutschland so, dies wird gleichermaßen für die
rem Eigentum zu Tode zahlen. neuen Länder gelten. Investitionen in Wohnungsneu-
bau heißt also auch die Schaffung industrieller Kapa-
Wir freuen uns, daß der Haushaltsausschuß auf Vor- zitäten und damit die Schaffung von Arbeitsplätzen.
schlag der Bundesregierung noch in der Bereinigung Sozialer Wohnungsbau und Bau von selbstgenutztem
die Verpflichtungsrahmen für den experimentellen Wohnungseigentum wird der Treibstoff für den Motor
Wohnungs- und Städtebau aufgestockt hat. Es war Bauwirtschaft sein.
von Anfang an die K ri tik der Opposition, daß der Ver-
pflichtungsrahmen zu schmal sei. Immerhin lag der im Wir würden allerdings schlecht wirtschaften, wenn
Regierungsentwurf vorgesehene Rahmen in Höhe wir die Hilfe so verstünden, daß Kapazitäten aus dem
von 15 Millionen DM um 10 Millionen DM unter dem Westen in den Osten verlagert werden. Eine Auswei-
schon bescheidenen Betrag, der im vergangenen Jahr tung der bauwirtschaftlichen Kapazität unter Erhal-
allein für die alten Bundesländer vorgesehen war. tung dessen, was in den alten Ländern besteht, ist
notwendig und beinhaltet die Forderung, daß auch in
Experimenteller Wohnungsbau heißt die Chance den alten Bundesländern die Bauwirtschaft hinrei-
für Architekten, Bauingenieure und Städtebauer sich chend mit staatlichen Förderungsprogrammen be-
selbst an neuen Aufgaben zu erproben. Und wenn schäftigt wird. Der Bedarf ist hinreichend vorhan-
man daran denkt, daß der Großteil der Architekten in den.
Ostdeutschland im wesentlichen Plattenmontagein-
genieure gewesen sind, dann erkennt man, wie not-
wendig es ist, ihnen dort auch die Möglichkeit zu Carl-Ludwig Thiele (FDP): Zunächst möchte ich
geben, sich an den neuen Aufgaben zu erproben. Wir mich bei meinen Mitberichterstattern Dr. Schroeder
brauchen in der Tat neue Konzepte — die auch die und Dr. Diederich für die angenehme Zusammenar-
Wiederbelebung alter Erfahrungen im Westen sein beit sowie bei den Mitarbeitern des Ministeriums für
können — , um die gewaltigen Aufgaben der Rekon- die geleistete Arbeit bedanken. Sehr geehrter Herr
struktion der wunderschönen Städte und Dörfer in Dr. Schroeder, ich habe in der leider nur kurzen Zeit
Ostdeutschland zu bewältigen. unserer Zusammenarbeit Ihre Art, komplizierte und
schwierige Probleme liebevoll mit Humor darzustel-
Die schwierige wohnliche und städtebauliche Si- len, schätzen gelernt. Ich persönlich bedauere Ihr
tuation in den neuen Bundesländern macht einen er- Ausscheiden aus dem Deutschen Bundestag und
höhten Bedarf für die Forschung in diesem Aufgaben- wünsche Ihnen für Ihr neues Amt als Regierungsprä-
bereich notwendig. Wir freuen uns daher, daß die sident von Freiburg viel Erfolg.
Bundesregierung die Kritik der Opposition letztlich
auch gegen den hinhaltenden Widerstand der Koali- In den neuen Bundesländern stehen wir vor den
tionsparteien hat durchsetzen können. Trümmern einer gescheiterten sozialistischen Woh-
nungsbaupolitik. Wie sehr wurde auch in der alten
Der Bundesregierung sind mit der Vereinigung rie- Bundesrepublik von sozialistischen Träumern die
sige Bestände an Flächen und zahllose Gebäude zu- niedrige, da herabsubventionierte, Miete gelobt!
gefallen. Die Bundesregierung muß sie verantwortlich
im Rahmen der Bundeshaushaltsordnung schnellst- Die Ergebnisse sind jetzt für jedermann zu besichti-
möglich verwerten. Die zur Verfügungstellung von gen, und sie sind entsetzlich. Wenn die Miete nicht
Grundstücken am Markt durch die Bundesregierung einmal dafür reicht, die Warmkosten einer Wohnung
kann sicherlich ein erheblicher Beitrag zur Belebung zu decken, dann ist auch kein Geld für Renovierungen
der Bautätigkeit sein. und Investitionen vorhanden. Folge davon ist unter
anderem, daß die Heizkosten sich auf 3 bis 5 DM pro
Die Koalition hat den Antrag der Sozialdemokraten Quadratmeter belaufen. Man muß sich einmal vorstel-
im Haushaltsausschuß, aufgelassene Liegenschaften len, daß die Bürger der ehemaligen DDR einen der
der Bundeswehr bzw. der alliierten Streitkräfte in höchsten Energieverbräuche pro Kopf hatten. Gleich-
strukturschwachen Regionen, also in ganz Deutsch- wohl hatten sie bei weitem nicht den Komfort, den die
land, für den sozialen Wohnungsbau, für soziale Ein- Bürger in den alten Bundesländern durch Einsatz mo-
richtungen und für Indust rie- und Gewerbeflächen derner Technik, wie Thermostatventile, moderne Hei-
unter Berücksichtigung der dauernden finanziellen zungsanlagen sowie Wärmeisolierungen genießen
Leistungsfähigkeit der Erwerber mit einer erhebli- können.
chen Ermäßigung zur Verfügung zu stellen, abge-
lehnt. Wir hatten angekündigt, daß hierüber ange- Die Hauptaufgabe dieses Ministeriums liegt in den
sichts des Strukturwandels noch einmal gesprochen neuen Bundesländern. Deshalb haben wir erhebliche
2186* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Mittel für Maßnahmen in den neuen Bundesländern Schwaetzer, dieses Amt übernommen und gleich mit
bereitgestellt. Der Etatansatz ist um ein Viertel gestie- großem Engagement an die Arbeit gegangen sind.
gen. Hinzu kommen noch die 1,1 Milliarden DM, die Gehen Sie weiter auf Ihrem Weg — wir werden Sie
in diesem Jahr aus dem Gemeinschaftswerk Auf- unterstützen!
schwung Ost für den Bereich des Wohnungs- und
Städtebaus zur Verfügung stehen. Damit wird eine Hans-Wilhelm Pesch (CDU/CSU): Die Vorstellun-
solide Basis dafür geschaffen, daß der Bund seiner
gen der Baupolitiker in diesem Hause sind oft nicht
sozialen Verantwortung für die Wohnungsversorgung
deckungsgleich mit den Vorstellungen der Finanz-
und eine Verbesserung der Wohnsituation in den bzw. Haushaltspolitiker. Ich möchte aber vorweg das
neuen Bundesländern nachkommen kann. sagen, was ich schon im März dieses Jahres an glei-
Im Bereich des Wohnungsbaus gibt es erhebliche cher Stelle gesagt habe, daß wir, was den Einzelplan
Veränderungen für die Bürger in den neuen Bundes- 25 angeht, uns in einer außergewöhnlichen Situation
ländern. Es muß aber Verständnis für die Regelungen befinden, die wohl niemand in diesem Hause bestrei-
geschaffen werden, die jetzt in den neuen Bundeslän- ten kann, und daß dieser vorliegende Haushalt eine
dern eingeführt werden. Deshalb haben wir die Mittel möglichst schnelle Angleichung der Verhältnisse der
für Öffentlichkeitsarbeit drastisch erhöht. neuen Bundesländer an die Gegebenheiten der alten
Bundesländer möglich macht. Ich möchte feststellen,
Was wir auch brauchen, ist eine breite Eigentums-
daß die Ansätze im vorliegenden Einzelplan 25 den
bildung, besonders in den neuen Bundesländern.
Zielvorstellungen, jährlich rund 300 000 neue Woh-
Dazu werden zum Beispiel die Privatisierungszu-
nungen zu errichten, insoweit Rechnung tragen, wenn
schüsse beitragen, für die in diesem Jahr 200 Millio-
denn die Kapazitäten in der Bauindustrie im geforder-
nen DM im Rahmen des Gemeinschaftswerks Auf-
ten Umfange überhaupt noch vorhanden sind bzw.
schwung Ost zur Verfügung gestellt werden. Wich-
bürokratische Genehmigungsverfahren diesen Ziel-
tige andere wohnungspolitische Maßnahmen zur För-
vorstellungen nicht hinderlich im Wege stehen, wie
derung des p rivaten Wohnungsbaus wie die steuerli-
manche Erkenntnisse in den letzten Monaten über-
chen Anreize und Zinsverbilligungsprogramme kom-
deutlich gezeigt haben. Diese Feststellung darf ich
men ebenfalls in diesem Haushalt zum Ausdruck.
hier mit Fug und Recht vortragen, wenn man aus dem
Wesentlicher Bestandteil des Konzepts „Vorrang im April vorgelegten Geschäftsbericht der Bundes-
für p rivaten Wohnungsbau" ist das Wohngeld. Es bil- bank zitieren darf, der klar sagt: „Mit der Expansion
det einen gewichtigen Posten im Haushalt des der Nachfrage vermochte die Bauproduktion freilich
BMBau. Mit den beiden Wohngeldnovellen von 1990 wiederum nicht Schritt zu halten. "
hat die Bundesregierung auf die Mietentwicklung
Ich will nicht verkennen, meine sehr verehrten Da-
reagiert und entsprechende Anpassungen des Wohn-
men und Herren, daß dem Wohnungssuchenden mit
geldes vorgenommen. Für die neuen Bundesländer
Statistiken und dem Aufzeigen von Bauanträgen bzw.
haben wir ein Sonderwohngeld zum 1. Oktober 1991
Baugenehmigungen so lange nicht geholfen ist, bis er
eingeführt, das den dringend notwendigen Abbau der
sein Wohnungsproblem gelöst hat. Das bedarf also —
Mietenreglementierung und damit der Bewirtschaf-
und das möchte ich hier besonders feststellen — wei-
tungssubventionen sozial abfedern wird. Für dieses
terer haushaltspolitischer Anstrengungen, und das
Wohngeld wird der Bund im nächsten Jahr 1,5 Milli-
gilt weit über diesen Etat '91 hinaus, um Angebot und
arden DM bereitstellen.
Nachfrage auf dem Wohnungsmarkt in ein für alle
Bedauerlicherweise haben die Länder ein früheres Seiten erträgliches Maß zu bringen. Ich darf hier fest-
Inkrafttreten der Mietenverordnung und damit einen stellen, daß der Verpflichtungsrahmen im sozialen
früheren Subventionsabbau verhindert. Sie, die Kom- Wohnungsbau auf 2,76 Milliarden DM gesteigert
munen und die Bürger der neuen Bundesländer, sind wurde, dabei aber nicht zu übersehen ist, daß der
es jetzt, die hieraus die Konsequenzen tragen müssen, Anteil der alten Bundesländer auf 1,76 Milliarden DM
da die erhöhten Mieteinnahmen erst später für Reno- zurückgeführt wurde. Das ist haushaltspolitisch ver-
vierungsarbeiten zur Verfügung stehen. ständlich, kann die Wohnungsbaupolitiker aber si-
cherlich nicht zufriedenstellen, da sich die Probleme
Die Wohnungspolitik ist einer der Bereiche, den die
in den alten Bundesländern gegenüber 1990 nicht
Bürger besonders aufmerksam beobachten. Denn
verringert haben, sondern sich in den Ballungsräu-
hiervon ist jeder betroffen. Die Bürger werden uns
men sogar noch verstärkt darstellen. Hier muß es in
daran messen, ob wir unser Ziel einer hohen Woh-
Zukunft unser ganzes Bemühen sein, für die alten
nungsbautätigkeit zum Abbau der Wohnungsmarkt-
Bundesländer zumindestens die alten Ansätze von
engpässe erreichen.
rund 2 Milliarden DM zu erreichen. Das gleiche gilt
Die Entwicklung in den ersten drei Monaten des übrigens auch für die Städtebauförderung, wenn auch
Jahres 1991 bestätigt, daß wir auf dem richtigen Weg hier die Möglichkeit des Rückfließens von in den
im Wohnungsbau sind. Dieses Ziel werden wir auch neuen Bundesländern nicht in Anspruch genomme-
bei den in Kürze anstehenden Überlegungen für das nen Städtebauförderungsmitteln den alten Bundes-
Haushaltsjahr 1992 im Auge haben. ländern die Chance eröffnet, so manche wichtige, fer-
tig geplante oder schon in Ang riff genommene Städ-
Meine Rede habe ich mit persönlichen Worten be-
gonnen und möchte auch damit enden: Das Amt eines tebauförderungsmaßnahme dann auch zu Ende füh-
ren zu können.
Wohnungsbauministers direkt nach der Erlangung
der deutschen Einheit zu bekleiden, ist angesichts der Sie sehen, meine Damen und Herren — und ich sage
vor uns allen stehenden Probleme ein gewaltiger Auf- dies hier ganz klar —, ich stelle mich nicht auf die
trag. Ich freue mich, daß Sie, Frau Dr. Adam- Seite derjenigen, die in den Ausschüssen oder auch
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2187*

heute hier in dieser Debatte Mehrausgaben in Milli- nungspolitischen Situation fehl am Platze. Hiervon
ardenhöhe fordern, sich gleichzeitig eminent gegen sollte man die Finger lassen. Die breite Öffentlichkeit
eine hohe Staatsverschuldung wenden und Steuerer- denkt bei Subventionabbau an alles mögliche, aber
höhungen von sich weisen. Im Gegensatz zu den oft sicherlich erst zuletzt an den Wohnungsbau. Es gibt
übertriebenen finanziellen Anforderungen der Woh- fürwahr lohnendere und sinnvollere Ziele, Subventio-
nungspolitiker der SPD, die ja, wenn meine Informa- nen abzubauen, als gerade in diesem Bereich. Wenn
tionen richtig sind, im Haushaltsausschuß selbst von wir also breitere Streuung des p rivaten Eigentums
ihren eigenen Vertretern nicht aufrechterhalten wur- wollen — und das ist nach wie vor unser Wille — dann
den, sind unsere Forderungen für die zukünftigen müssen wir, gerade für die Einkommensschwächeren,
Haushalte maßvoll, der Lage und den wirklichen Be- die finanziellen Anreize im Wohnungsbau erhalten
dürfnissen angepaßt und gefährden in keiner Weise oder sie dort schaffen, wo sie noch nicht vorhanden
die Stabilität der zukünftigen Haushalte. Die CDU/ sind. Diese Überlegungen werden sicherlich bei so
CSU-Fraktion orientiert sich hier nicht an Utopien, manchem Ordnungspolitiker wenig Anklang oder gar
nicht an von vornherein zum Scheitern verurteilten Unverständnis finden, aber sie sind trotzdem notwen-
finanzpolitischen Vorstellungen, sondern versucht dig und in ihrer Zielsetzung, was die Bewältigung der
nüchtern und realistisch das eben Machbare auf den anstehenden wohnungspolitischen Probleme angeht,
Weg zu bringen. richtig. Die sozialpolitischen Komponenten müssen
gestärkt werden bzw. gestärkt bleiben, einerseits im
In diesem Zusammenhang möchte ich einige Mah- sozialen Wohnungsbau und andererseits beim Wohn-
nungen denjenigen mit auf den Weg geben, die dabei geld, wobei das Wohngeld als Subjektförderung die
sind, den Subventionswald zu durchforsten, und da- sozial gerechteste Leistung ist, weil es nicht statisch
bei auch sicherlich die direkten oder indirekten För- ist, sondern sich flexibel den jeweiligen Bedürfnissen
derungen beim Wohnungsbau ins Auge gefaßt haben. anpaßt.
Ich kann nur warnen.
Ich bin hier nur auf einige wenige, aber in meinen
Alle Umfragen der letzten Wochen zeigen,- daß der Augen sehr gewichtige Probleme eingegangen und
Wohnungsbau und die damit verbundenen Probleme darf zum Schluß sagen, daß wir bereit sind, konse-
bei der Bevölkerung an erster Stelle rangieren. Es sind quent den von der CDU/CSU als richtig erkannten
inzwischen nicht mehr die bisher allgemein gängigen Weg — Baupolitik mit Augenmaß, mit dem Blick für
Subventionsthemen wie Kohle, Landwirtschaft oder das Machbare — weiterzugehen. Wir stimmen dem
die Fragen der Arbeitslosigkeit schlechthin, die die Einzelplan 25 zu.
Bürger unseres Landes bewegen, sondern die Frage:
Wie geht es im Wohnungsbau weiter? Die Antwort
kann nur lauten, daß für die CDU/CSU die Maxime Gabriele Iwersen (SPD): Als der Eiserne Vorhang so
auch weiterhin gilt, neben der Förderung des sozialen viel Rost angesetzt hatte, daß er löchrig wurde, setzte
Wohnungsbaues die breitestmögliche Streuung des schlagartig eine Völkerwanderung von Ost nach West
privaten Eigentums zu erreichen. Die hier in letzter ein, die wohl ein wesentliches Kennzeichen des letz-
Zeit unleugbar errungenen Erfolge, was sowohl die ten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts bleiben wird.
Baugenehmigungen wie die Fertigstellung von Woh-
Da überwiegend Menschen zu uns ziehen, denen
nungen angeht, nähern sich unseren Zielvorstellun-
wir schon seit 40 Jahren versichert haben, daß sie zu
gen, dürfen uns aber keinesfalls in unseren Anstren-
uns gehören, mußte die Antwort in einer verstärkten
gungen erlahmen lassen, noch mehr unterstützend
Wohnungsbautätigkeit liegen, um zumindest die rela-
einzugreifen, um der immer noch riesigen Nachfrage
tiv bescheidenen Ansprüche der Neubürger befriedi-
nach Wohnraum nachzukommen. gen zu können. Dazu kommt der Wohnraumbedarf,
Die Erweiterung des § 10e von bisher 300 000 DM der auf veränderte Lebensverhältnisse der Alt-Bun-
auf jetzt 330 000 DM abschreibungsfähige Bausumme desbürger zurückzuführen ist:
bei Eigenheimen oder Eigentumswohnungen oder die Nach einer 40jährigen langsamen Wachstumspe-
Erhöhung des sogenannten Baukindergeldes auf riode war der statistische Durchschnitts-Wohnraum-
1 000 DM je Kind sind positive Zeichen und Schritte in bedarf der Bundesbürger von 14 qm pro Person auf
die richtige Richtung. Die mögliche Kappung der Ein- 36 qm pro Person gestiegen. Als die Einkommen sich
kommensobergrenzen, wodurch sehr einkommens- in den 80er Jahren nicht mehr wesentlich erhöhten,
starke Eigenheimbauer nicht mehr in den Genuß des ließ vorübergehend die Nachfrage nach größeren
§ 10 e kommen, könnte man als Baupolitiker leichter Wohnungen nach. Der Anstieg der Pro-Kopf-Fläche
mittragen, wenn man wüßte, daß die dadurch einge- kam zum Stillstand. Deshalb schien auch die allge-
sparten Mittel den einkommensschwachen Bauwilli- meine Nachfrage nach Wohnungen nicht mehr so ak-
gen in irgendeiner Form wieder zugute kommen wür- tuell zu sein.
den. Wir brauchen ein neues besseres Förderkonzept.
Das würde sicher den Eigenheimbau bzw. den Erwerb Die Regierung Kohl erklärte den Wohnungsmarkt
von Eigentumswohnungen beleben und hätte neben für gesättigt und beschloß, die Fürsorge des Staates
der sozialpolitischen Komponente noch den woh- bei der Wohnraumbeschaffung für Einkommens-
nungsbaupolitischen Effekt der Schaffung von zusätz- schwache und junge Familien praktisch einzustel-
lichen Wohnungen, weil ja viele Tausende, die ihr len.
Eigenheim bzw. ihre Eigentumswohnung beziehen,
Hier lag bereits ein Kardinalfehler dieser Bundesre-
eine Wohnung freimachen.
gierung. Sie erzeugte durch konsequenten Rück-
Gedankenspielereien beim Subventionsabbau im schritt der Förderung des Sozialen Wohnungsbaus ab
Wohnungsbau sind in der augenblicklichen woh 1983 einen kontinuierlich wachsenden Fehlbestand
2188* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

an Wohneinheiten, denn sie konnte nicht verhindern, Wohneinheiten in drei Jahren zu schaffen, nicht annä-
daß sich die Zahl der Haushalte vergrößerte: Immer hernd erreicht werden kann.
mehr junge Menschen, die für sich „Eigene Vier
Wände" verlangen, geschiedene Ehen, alleinerzie- Besonders alarmierend ist der Rückgang von Ein-
familienhausneubauten: Mit 127 212 Wohnungen
hende Mütter oder Väter, alte Menschen, die dank
ambulanter Pflege allein in ihren relativ großen Woh- wurden 1990 bereits 10 % weniger genehmigt als im
Jahr zuvor, und nur 93 549 wurden wirklich gebaut.
nungen bleiben, auf der einen Seite und ein jährlicher
Auch bei den zur Selbstnutzung gebauten Eigentums-
Verlust von 60 000 bis 80 000 Wohneinheiten des Alt-
wohnungen konnte 1990 nur eine Zahl von 40 000
baub estands durch Abbruch, Zusammenlegung und
Wohneinheiten fertiggestellt werden. Das sind 30 %
Umnutzung auf der anderen Seite führten noch vor
weniger als 1989.
dem Beginn der neuen Wanderungsbewegung zu ei-
nem von der Regierung völlig falsch eingeschätzten Wenn das große Potential der p rivaten Bauherren,
Wohnungsbedarf. die für die Selbstnutzung bauen wollen, aktiviert wer-
den soll, dann muß der § 10e des Einkommensteuer-
Bundesbauminister Oscar Schneider hat in seiner
gesetzes endlich umgewandelt werden, wie es die
Prognose des Jahres 1988 von einem Bedarf von
SPD fordert, damit die Fördersumme einkommens-
200 000 bis 220 000 Wohneinheiten gesprochen.
unabhängig von der Steuerschuld abgezogen werden
Seine Nachfolgerin, Frau Hasselfeldt, hoffte, mit dem
kann. Nur dadurch werden untere und mittlere Ein-
Doppelten, also ca. 400 000 Wohneinheiten, auskom-
kommensgruppen wirksam gefördert.
men zu können.
Das Ergebnis war nicht nur ein ständig wachsendes Offensichtlich kann sich aber die FDP, die immer
einen anderen Klientel im Auge hat — als gerade die
Defizit an Wohnungen, sondern auch ein Abbau von
Einkommensschwachen —, damit nicht anfreunden,
200 000 Arbeitsplätzen im Bauhauptgewerbe der al-
obwohl dieser Vorschlag nicht nur von der SPD, son-
ten Bundesrepublik.
dern auch von den Bausparkassen, dem Verband der
Denn die Prognosen der Regierung sind Signale für Deutschen Volksheimstätten und sogar von Teilen der
die Bauwirtschaft, ob es sich lohnt, weiter auszubilden CDU-Fraktion gutgeheißen wird.
und Betriebe über Durststrecken hinwegzuretten. Die
In diesem Punkt setzt die SPD auf die Dialogfähig-
falsche Bedarfsschätzung in den 80er Jahren hat da-
keit der Kolleginnen und Kollegen im Bauausschuß,
bei genausoviel negativen Einfluß auf die Bau- und
damit eines Tages doch noch eine wirksame Hilfe für
Wohnungswirtschaft ausgeübt wie die mageren Zah-
bauwillige Familien zustande kommt.
len der mittelfristigen Bau- und Investitionstätigkeit
oder die Beerdigung 1. Klasse für den Sozialen Woh- Schließlich steht der Förderung auch ein erhebli-
nungsbau. ches Kapital gegenüber, das bei konsequenter Förde-
rung des Wohneigentums für die unteren Einkom-
Heute stehen wir vor einem Wohnungsfehlbestand
mensgruppen zum Abbau des Wohnungsfehlbestan-
von mindestens 1 Million Wohneinheiten. Schätzun-
des beitragen kann.
gen des Bonner Städtebauministeriums sehen einen
Bedarf von 1,5 Millionen und das Göttinger Institut für Unsere Kritik fasse ich so zusammen:
Immobilienforschung spricht sogar von 1,7 Millionen
Erstens. Die vorgesehenen Mittel für den Sozialen
Wohneinheiten, die auf dem Gebiet der alten Bundes-
Wohnungsbau in Höhe von 1,76 Milliarden für die
republik fehlen. Dazu kommt ein Fehlbestand von
alten Länder plus 40 Millionen für die neuen Länder
800 000 bis 1 Million Wohnungen in den neuen Län-
sind nicht ausreichend. Auch die ursprünglich vorge-
dern.
sehenen 2,2 Milliarden für den Westen reichen nicht
Dem steht aber leider eine für den Bedarf der näch- aus. Die SPD bleibt bei ihrer Forderung, die Bundes-
sten Jahre gar nicht ausreichend leistungsfähige Bau- finanzhilfe für den Sozialen Wohnungsbau auf
wirtschaft gegenüber. 4,5 Milliarden zu erhöhen.
Die Kapazitätsausweitung und die verstärkte Quali- Das ist kein hinausgeworfenes Geld, sondern Geld,
fizierung der Bauwirtschaft im Osten erscheinen das direkt in Arbeit umgesetzt werden kann. Es ist
wichtigstes Gebot der Stunde zu sein, wenn die Bau- besser angelegt als in der Finanzierung von Arbeits-
wirtschaft ihre Funktion als volkswirtschaftlicher Mo- losigkeit.
tor in der neuen Bundesrepublik erfüllen will.
Zweitens. Die schwerpunktmäßige Wohnungsbau-
Betrachten wir erst die jüngsten Fertigstellungszah- förderung über den sogenannten dritten Weg führt zu
len, dann wird erst recht klar, daß die Regierung nicht einer zu kurzen Preisbindung der Wohnungen, so daß
einmal annähernd die selbstgesteckten Ziele erreicht diese schon nach wenigen Jahren nicht mehr denjeni-
hat, nämlich die Fertigstellung von 1 Million Wohn- gen zugute kommen werden, die sich ohne öffentliche
einheiten in den drei Jahren von 1990 bis 1992. Hilfe nicht mit Wohnraum versorgen können. Das ist
für Sozialdemokraten der falsche Weg.
Während 1989 238 617 Wohneinheiten fertig wur-
den, konnten für 1990 zwar 386 648 Baugenehmigun- Drittens. Ohne Änderung des § 10e erscheint eine
gen vorgezeigt werden, aber nur 256 738 Wohnungen Neubelebung des Eigenheimbaus unmöglich. In den
wurden wirklich fertig, und davon müßten mindestens neuen Ländern wird diese Förderung ohnehin keinen
60 000 Abbruch- und Umwandlungswohnungen ab- Erfolg haben, weil die geringen Einkommen keinen
gezogen werden. Spielraum für Abschreibung lassen.
Diese Zahl zeigt, daß das wohnungsbaupolitische Die von der FDP vorgeschlagene Abschaffung der
Ziel der Regierung, nämlich 1 Million zusätzliche steuerlichen Wohneigentumsförderung für Bezieher
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2189'

von Einkommen über 120 000 bzw. 240 000 DM zu 1992 werden 613,4 Millionen in diesem Karree hier
streichen ist kein Beitrag zur Wohnungsbaupolitik, verbaut: Läuft das alles unter dem Slogan: „Teilung
sondern ein weiterer Angriff auf die kleinen Baufir- durch Teilen überwinden"?
men, die auf Eigenheimbau spezialisiert waren. Die Es gibt auch Kolleginnen und Kollegen, die hervor-
SPD kann das nicht mitmachen. heben, daß jede D-Mark nur einmal ausgegeben wer-
Das Ziel sozialdemokratischer Wohnungsbaupolitik den kann. Das stimmt vermutlich, denn die am Rhein
ist: Vergrößerung des Wohnungsbestands mit bezahl- verbauten Millionen werden weder Görlitz noch Ost-
baren Mieten bei gleichzeitiger Rettung der Städte. Berlin erreichen.
Also: Kein Wohnungsbau ohne vernünftig geplan- Aber zurück zu den großzügig bemessenen
ten Städtebau! Kein plötzlicher Rückschritt bei der 180 Millionen für den städtebaulichen Denkmal-
Städtebauförderung für die alten Länder! Und für die schutz in den fünf neuen Ländern.
neuen Länder kein Entzug der zum Jahresende noch Diese Summe können Sie z. B. der Stadt Görlitz
nicht gebundenen Städtebaufördermittel, falls Pla- allein zur Verfügung stellen, und es wäre bestimmt
nung und Antragsverfahren noch nicht abgeschlossen keine übertriebene Hilfe bei der Rettung dieser f anta-
sind, sondern besser eine Übertragung dieser Haus- stischen alten Stadt, die genauso wie Halberstadt oder
haltsmittel auf das kommende Jahr! Stralsund — um nur einige der um die Wiedergewin-
Jetzt ein Wort zum Thema „Städtebaulicher Denk- nung ihrer historischen Identität kämpfenden Städte
malschutz" in den neuen Ländern: zu nennen — auf die Hilfe des Bundes angewiesen ist,
um zu retten, was fast schon nicht mehr zu retten
Bei der Erneuerung der Städte und Dörfer, der bela- ist.
steten Umwelt, der Gewerbestruktur und des Woh-
nungsbestands der letzten 30 Jahre nimmt die Ret- Die hier zur Verfügung gestellten Mittel genügen
tung der historischen Bausubstanz eine herausra- weder zur Rettung auch nur einer einzigen histori-
gende Rolle ein. Während die Neubaugebiete im schen Altstadt, noch können sie eine neue Perspektive
Osten und im Westen geeignet sind, die Trennung für die vielen Menschen eröffnen, die gebraucht wer-
und die unterschiedliche kulturelle Entwicklung der den, um Rekonstruktion oder Sanierung der vom end-
beiden deutschen Staaten zu dokumentieren, wird die gültigen Verfall bedrohten Bauwerke auszuführen.
Wiederherstellung der historischen Städte und Dörfer Während zur Zeit noch eifersüchtig darauf geachtet
die gemeinsame Herkunft, den zusammenhängenden wird, daß kein Auftrag aus der jeweiligen Region ab-
Kulturraum sichtbar machen, denn das Bild der Städte gezogen wird, haben die ersten Baudezernenten und
ist ein Spiegelbild der Gesellschaft, die in diesen Städ- Stadt- oder Landeskonservatoren bereits erkannt: Das
ten lebt bzw. diese einmal gestaltet hat. Problem wird im Fachkräftemangel liegen.
Für die Bewohner in den neuen Ländern wird das Und diesen behebt man am besten, indem der Staat
ein wesentlicher Gesichtspunkt, vielleicht auch eine sich zu einem zuverlässigen Vertragspartner auf
Hilfe sein auf ihrer Suche nach einer neuen Identität lange Sicht macht; so zuverlässig, daß jedem klar
als Bundesbürger, denn die D-Mark allein stellt keine wird: Dieser Staat hat sich das Ziel gesetzt, das kultu-
gesellschaftliche Einheit her. relle Erbe der vergangenen Jahrhunderte zu erhalten;
und das ist eine Daueraufgabe.
Aber die im Haushalt vorgesehenen 80 Millionen
für einen Zeitraum von fünf Jahren sind ein trauriges So etwas muß aber auch in einem Bundeshaushalts-
Beispiel einer Hilfe, die nicht einmal ein Tropfen auf plan zum Ausdruck kommen. Sonst entsteht der Ein-
den heißen Stein ist. Ohne die 100 Millionen, die zu- druck: Diese Kurzzeitprogramme sind nur auf den
sätzlich aus dem Programm „Aufschwung Ost" dazu- Zeitraum von einer Wahl zur nächsten angelegt.
kommen, bräuchte man gar nicht an den Entwurf ei- Dieses zur Schau gestellte Engagement genügt
nes bundeseinheitlichen Bauschildes zu denken: nicht, um darauf neue Existenzen aufzubauen. Es
„Hier baut die Bundesrepublik Deutschland..". führt höchstens zur Preistreiberei, weil für einen kur-
180 Millionen, das hört sich großartig, geradezu zen Zeitraum Angebot und Nachfrage den Markt re-
großzügig an. Aber zum Vergleich bitte ich Sie, das geln, ohne die Kapazität zu erhöhen.
Kapitel „Hochbaumaßnahmen im Raum Bonn" zu be- Das ist es, was ich mir wünsche: ein gesundes Bau-
trachten. handwerk, eine gesunde Bauwirtschaft, die die not-
Ich greife nur ein Beispiel heraus, weil die Zahl wendigen Bauleistungen erbringen kann, die dieser
gerade so gut paßt: Für 1991 sind nur für die Baustel- Staat, diese Gesellschaft braucht, um zeitgemäß leben
len in der unmittelbaren Umgebung des Wasserwerks und arbeiten zu können in Städten, die nicht zu einer
zwischen Dahlmannstraße, Görresstraße, Strese- Gefahr für die Umwelt, für die Gesundheit ihrer Be-
mannufer und Kurt-Schumacher-Straße 180 Millio- wohner werden, in Städten, die wir mit gutem Gewis-
nen veranschlagt, allerdings nur als eine Jahresrate sen nachfolgenden Generationen überlassen kön-
aus einem Investitionsvolumen von 994 Millionen für nen.
neun Jahre. Diesen Ansprüchen wird der vorgelegte Einzel-
Interessant ist, daß die 180 Millionen in diesem plan 25 leider nicht gerecht. Die SPD wird ihn deshalb
Haushaltsjahr eigentlich nur den Ausdruck „An- ablehnen.
schubfinanzierung" verdienen, denn der weitaus
größte Brocken aus diesem Gesamtprogramm „Bau- Dr. Ilja Seife rt (PDS/Linke Liste): Im Verfassungs-
maßnahmen für den Deutschen Bundestag" wird erst entwurf des Kuratoriums für einen demokratisch ver-
im nächsten Jahr benötigt. faßten Bund Deutscher Länder wird ein Artikel 13 a
2190* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

vorgeschlagen, in dem das Recht auf Wohnung ver- neue Wohnung! Niemand darf zum Kauf seiner Woh-
brieft werden soll. Wohl wissend, daß einige Abgeord- nung um den Preis unbezahlbarer Schulden gedrängt
nete dieses Hohen Hauses mit feiner Ironie das Recht oder gar genötigt werden.
auf Wohnraum mit dem Recht auf Sonnenschein
gleichsetzen, ist die PDS/Linke Liste unbedingt dafür, Mehr öffentliche Mittel für den Wohnungsbau und
dieses Menschenrecht als Staatszielbestimmung fest- für die Förderung menschenwürdigen Wohnens für
zuschreiben. Sie wissen aus der mehr als 40jährigen die einkommensschwächeren Schichten stehen an-
Geschichte der BRD selbst sehr gut, daß die Markt- geblich wegen der komplizierten Haushaltslage des
wirtschaft allein ein menschenwürdiges Wohnen für Bundes nicht zur Verfügung. Ich frage Sie, wie es
alle nicht zu leisten vermag. dann sein kann, daß Besitzer und Makler die Gewinne
aus der Preisexplosion auf dem Grundstücksmarkt der
ehemaligen DDR in Milliardenhöhe einstreichen,
Obdachlosigkeit in den alten Bundesländern und ohne dafür Leistungen erbracht zu haben. Wir schla-
das Mißverhältnis von anspruchsberechtigten Haus- gen vor, daß die Bundesregierung beauftragt wird, ein
halten und verfügbaren Sozialwohnungen resultieren Gesetz einzubringen, damit diese Gewinne hoch ver-
eben nicht aus der Existenz der DDR, sondern aus der steuert werden und der öffentlichen Hand zur Ge-
kapitalorientierten Politik der jetzigen Regierungs- währleistung des Rechts auf Wohnraum für alle zur
koalition. Verfügung stehen. Das wäre endlich mal eine Steuer,
die nicht dem kleinen Mann in die Tasche greift oder
Die Menschen in den neuen Bundesländern leiden als Investitionshemmnis wirkt, sondern große finan-
gegenwärtig nicht nur unter den Folgen einer verfehl- zielle Mittel für den Aufbau in Ost und West frei-
ten Wohnungsbau- und Mietpolitik der DDR, sondern setzt.
auch unter fehlenden Konzepten für eine sozial ver-
trägliche Mietentwicklung und für Fortschritte beim
sozialen Wohnungsbau der Bundesregierung. Ob- Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer, Bundesministerin
wohl zweifellos viel zu tun ist, werden doch
- in der Tat für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau: Der
gegenwärtig weniger Wohnungen neu gebaut oder Haushalt 1991 des Bundesbauministeriums ist ein Re-
modernisiert als in DDR-Zeiten. Viel zu geringe Mittel kordhaushalt: Die Ausgaben steigen um über ein
des Bundes, ungeklärte Eigentumsverhältnisse und Viertel auf 8,1 Milliarden DM. Hinzu kommen noch
die bundesdeutsche Bürokratie hemmen trotz der ge- die 1,1 Milliarden DM, die in diesem Jahr aus dem
genteiligen Beteuerungen der Bundesregierung ei- Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost für den Bereich
nen wirklichen Aufschwung. des Wohnungs- und Städtebaus zur Verfügung ste-
hen.
Übrigens werde ich den Eindruck nicht los, daß sich Diese Zahlen sind Ausweis eines anhaltend hohen
Herr Möllemann bei seinen Verhandlungen zur Nach- und weiter steigenden Engagements des Bundes zur
besserung der Verträge zum Wohnungsbau in der Verbesserung der Wohn- und Lebenssituation in den
Sowjetunion mehr um das Wohl der Bauriesen der Alt Städten und Gemeinden ganz Deutschlands.
BRD als um das Überleben der Bauwirtschaft in den
neuen Bundesländern sorgt. Überall in unserem Land sind große wohnungs- und
städtebauliche Aufgaben zu bewältigen. Dabei gibt es
große Unterschiede in der Ausgangssituation. Schon
Im Haushaltsentwurf sind weniger als 2 % der Aus- das optische Erscheinungsbild der Städte zeigt: Im
gaben des Bundes für den Geschäftsbereich Raum- Osten gibt es enorm viel zu tun, enorm viel nachzuho-
ordnung, Bauwesen und Städtebau vorgesehen. Sind len und wieder aufzubauen, was im wahrsten Sinne
Sie, Frau Adam-Schwaetzer, tatsächlich der Meinung, des Wortes systematisch zerstört worden ist. Deshalb
daß Sie mit diesem Etat einen wirklichen Beitrag zur halte ich es nach wie vor für richtig, wenn wir jetzt —
Bekämpfung der Wohnungsnot leisten können?
zum Beispiel im Bereich des Städtebaus — einen stär-
keren Akzent in den neuen Ländern setzen. Wenn wir
Der Hinweis auf die Verantwortung der Länder und da nämlich als Bund nicht helfen, kann vieles, was
Kommunen ist angesichts ihrer finanziellen Lage we- nötig ist, einfach nicht in Gang kommen. Und deshalb
nig hilfreich. Wir sind dafür, daß bedeutend mehr öf- fällt unsere finanzielle Hilfe dort auch so massiv
fentliche Mittel für den sozialen Wohnungsbau, für aus.
Stadtsanierung und Infrastruktur in den neuen Bun-
desländern zur Verfügung gestellt werden, ohne daß Aber auch im Westen hilft der Bund, wo er kann.
in den alten Bundesländern auch nur eine einzige Viel ist hier bereits erreicht worden — aber viel ist
Sozialwohnung weniger gebaut wird. Der Auffassung noch zu tun. 1990 sind mit 257 000 Wohnungen knapp
der SPD stimme ich zu, daß statt einer Umschichtung 8 % mehr Wohnungen fertiggestellt worden — zu we-
der Mittel eine kräftige Aufstockung vonnöten ist. nig, wie auch ich finde, um bereits spürbare Entla-
stung zu bringen. Die Aussichten sind jedoch gut:
387 000 Genehmigungen in 1990 sind zwar noch keine
Aber auch zu den Prioritäten im Einsatz der Mittel
möchte ich Widerspruch einlegen. Das betrifft vor al- fertigen Wohnungen. Aber fast alle werden es, und
lem die Förderung der Privatisierung kommunaler die Perspektiven zeigen, daß es mit der Wohnungs-
Wohnungen, wobei der Erlös nicht den Kommunen bautätigkeit allein für das alte Bundesgebiet wieder in
Richtung auf die Marke von 400 000 Einheiten zu-
zur Sanierung des Wohnungsbestandes zugute kom-
geht.
men soll, sondern für die Bezahlung dubioser Alt-
schulden zu verwenden ist. Durch diese Art von Woh- Wenn es heute nicht schneller geht, weil die Bau-
nungseigentumsförderung entsteht keine einzige wirtschaft mit ihren Kapazitäten nicht alles aus dem
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2191 '

Stand schafft, so hilft zusätzliche Programmhektik gar des Wohngeldes besteht, trifft tagtäglich im Bundes-
nichts — im Gegenteil: Die Wohnungsbaupolitik muß bauministerium ein unverändert gewaltiger Zustrom
mittelfristig ausgerichtet sein. Andernfalls würde sie von über 1 000 Eingaben aus den neuen Ländern
sehr schnell in einer Sackgasse landen. Das heißt auf ein.
der anderen Seite zugleich: eine Einschränkung von
Förderanreizen im Wohnungsbau können wir über- Die Bürger wollen wissen, wo sie finanzielle Unter-
haupt nicht brauchen. Das sage ich ganz bewußt mit stützung für Modernisierungs- und Sanierungsmaß-
Blick auf die Situation im Eigenheimbereich. Die För- nahmen erhalten können; sie wollen Klarheit über die
derung von Wohneigentum ist kein Subventionsstein- künftigen Mietenregelungen und wollen wissen, wel-
bruch. Gefragt ist vielmehr eine Lösung, wie wir die che soziale Absicherung sie erhalten. Und Städte und
Wohneigentumsförderung effizienter gestalten kön- Gemeinden fragen nach Städtebaufördermitteln und
nen. Dies bereiten wir vor. bitten um Unterstützung in bauordnungs- und bau
planungsrechtlichen Fragen.
Unsere Politik zur Verbesserung der Wohnungs-
situation in ganz Deutschland ist unauflöslich ver- Die weitaus meisten Schreiben machen deutlich,
knüpft mit einer wirksamen Politik der sozialen Siche- daß der Wille zum Neubeginn vorhanden ist. Aber
rung. Die Bundesmittel für den sozialen Wohnungs- hohe Informationsdefizite bremsen hier noch den
bau werden auf insgesamt 2,76 Milliarden DM aufge- dringend erforderlichen Erneuerungsprozeß. Hier ist
stockt und mit Hilfe des dritten Förderweges effizien- enorm viel Aufwand und Arbeit erforderlich — ein
ter eingesetzt. Aufwand, der von manchem heute immer noch unter-
Zusammen mit den Landes- und Kommunalmitteln schätzt wird.
können damit im Westen erneut rund 100 000 Bewilli-
gungen erteilt und im Osten etwa 30 bis 40 000 Woh- Das Bundesbauministerium hilft, wo es nur kann —
nungen modernisiert und neu gebaut werden. in Bonn, in Berlin und vor Ort. Die Beamten des Bau-
- ministeriums arbeiten mit bewundernswertem Ein-
Außerdem steigern wir unsere Leistungen beim satz, aber sie sind kaum noch in der Lage, den riesigen
Wohngeld erheblich. Im Haushalt 1991 spiegelt sich Arbeitsanfall zu bewältigen. In der gesamten Abtei-
noch nicht in voller Breite wider, was wir im Wohngeld lung Wohnungswesen in Bonn stehen derzeit nur
für die neuen Bundesländer tun. Erst 1992 schlägt die rund 50 Mitarbeiter zur Verfügung für die Mithilfe bei
Neuregelung voll durch. Im kommenden Jahr werden der Bewältigung einer gesamtstaatlichen Aufgabe,
dann Bund und Länder im Beitrittsgebiet insgesamt die in ihrer Dimension durchaus mit den Herausforde-
3 Milliarden DM an Wohngeldleistungen bereithalten rungen des Wiederaufbaus vergleichbar ist. Und da-
— eine gewaltige Summe. bei ist mir eines ganz wichtig: Stereotype, standardi-
sierte Hilfestellungen helfen nicht weiter. Sie werden
Ungleich gewaltiger ist aber der Subventionsabbau, den persönlichen Umständen des Einzelfalls nicht ge-
den wir damit überhaupt erst ermöglichen. Rein rech- recht und können zu Verbitterung, Ablehnung und
nerisch wird die neue Wohngeldregelung und die sozialem Unf ri eden führen.
Mietenreform einen Subventionsabbau bei Mieten
und Heizenergie von insgesamt über 10 Milliarden Ich bedauere es deshalb sehr, daß der Haushalts-
DM jährlich möglich machen. ausschuß dieser enormen Arbeitsbelastung nicht
Rechnung getragen hat. Dies um so mehr, als das Auf-
Diese Entscheidungen sind notwendige Schritte auf gabenspektrum des Bauministeriums auch durch das
dem Weg zu wirtschaftlich vernünftigen und sozial- Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost deutlich zuge-
verträglichen Grundlagen in der Wohnungswirtschaft nommen hat und nicht zuletzt auch mit der Setzung
der neuen Bundesländer. Aber das alleine reicht na- neuen Rechts und seiner Anwendung in den neuen
türlich nicht aus. Deshalb bieten wir für den östlichen Ländern einen erheblichen Beitrag für die weitere
Teil des Bundesgebiets eine Fülle spezifischer Hilfen Entwicklung der neuen Länder leistet. Ich erinnere
an, z. B. KfW-Programm, Modernisierungszuschüsse, nur an die Mietrechtsverordnungen und an die zahl-
Privatisierungshilfen, steuerliche Sonderregelungen. reichen Einführungserlasse, Musterverwaltungsvor-
schriften, Entscheidungshilfen und andere Hand-
Trotz dieses großen Straußes von Maßnahmen kann
reichungen zur Anwendungserleichterung des
sich der Wohnungsbestand natürlich noch nicht von
heute auf morgen um 20 Jahre verjüngen. Aber wir neuen Rechts durch die neuen Verwaltungen. Wir
nutzen alle vernünftigen Ansätze für einen überzeu- strecken uns nach der Decke und leisten, was wir
können.
genden und schwungvollen Neubeginn.
Ein Problem dabei ist sicherlich, daß die vom Bund Aber dieser Zustand kann auf Dauer so nicht blei-
bereitgestellten Fördermittel noch nicht unverzüglich ben. Der Wohnungs- und Städtebau ist für die innere
überall dorthin gelangen, wo sie in sichtbarer Weise in Einheit Deutschlands, für die wirtschaftliche Entwick-
eine Verbesserung der Wohn- und Lebensbedingun- lung der neuen Länder und für den sozialen Frieden in
gen in den neuen Ländern umgesetzt werden können. unserem Land von ganz zentraler, eminent wichtiger
Zum anderen besteht in den neuen Ländern auf allen Bedeutung. Er ist d i e innenpolitische Herausforde-
Gebieten des Wohnungs- und Städtebaus ein un- rung der Gegenwart. Ich bitte deshalb dieses Hohe
glaublich hoher Beratungs- und Informationsbedarf. Haus ebenso wie meine Ressortkollegen um jede nur
denkbare Unterstützung bei den umfangreichen und
Obgleich in der Zwischenzeit Klarheit über die großen Aufgaben des Wohnungs- und Städtebaus im
mietrechtlichen Änderungen und die Ausgestaltung geeinten Deutschland.
2192 * Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Anlage 4 Ablieferungsregelung des § 63 Abs. 1 Postverfas-


sungsgesetz in 1994 und 1995 Mehrablieferungen von
Zu Protokoll gegebene Reden lediglich 4 Milliarden DM, die aber bereits vorschuß-
zu Einzelplan 13 — Geschäftsbereich des weise in 1991 und 1992 mit jeweils 2 Milliarden DM
Bundesministers für geleistet werden. Ab 1996 gilt dann auch für die Deut-
Post und Telekommunikation — sche Bundespost Telekom die normale Unterneh-
— Drucksachen 12/513, 12/530 — mensbesteuerung. Gegenüber dem ursprünglichen
Gesetzentwurf muß die Deutsche Bundespost Tele-
Manfred Kolbe (CDU/CSU): Dieser erste gesamt- kom somit 4 Milliarden DM weniger an den Bundes-
deutsche Bundeshaushalt 1991, den wir hier beraten, haushalt abführen und kann diese in den neuen Län-
steht im Zeichen der Wiedervereinigung Deutsch- dern investieren.
lands. Insbesondere die Beschlüsse der Konferenz des Außerdem hat der Haushaltsausschuß nahezu ein-
Bundeskanzlers mit den Ministerpräsidenten vom stimmig das Bundesministerium für Post und Tele-
28. Februar 1991 waren ein bedeutender Schritt auf kommunikation gebeten, die Standortentscheidung
dem Weg zur inneren Einheit Deutschlands. Ich erin- für das neu aufzubauende Bundesamt für Post und
nere an drei Hauptpunkte: Telekommunikation zu überprüfen und insbesondere
Auf der Einnahmenseite verzichtete der Bund zu- einen Standort in den neuen Ländern in die Überle-
gunsten der Ost-Länder auf seinen 15 %igen Anteil gungen einzubeziehen.
am Fonds „Deutsche Einheit" von 5,25 Milliarden DM
in 1991. Dem Bundesamt obliegen die Hoheitsaufgaben hin-
sichtlich der Wahrnehmung der Funkfrequenzverwal-
Auf der Ausgabenseite legte der Bund das Gemein- tung, der Erteilung von Funkgenehmigungen, der
schaftswerk Aufschwung Ost mit einem Gesamtvolu- Funkkontrolle, der Funkentstörung sowie der Ab-
men von 12 Milliarden DM auf. Insbesondere das nahme drahtgebundener Fernmeldeanlagen. Außer-
5 Milliarden DM-Sofortprogramm zur Unterstützung dem hat das Bundesamt die Aufgaben staatlicher
kommunaler Investitionen erwies sich als Renner mit Normsetzung sowie staatlicher oder autonomer Kon-
hoher Beschäftigungswirkung. trolle auf dem Gebiet der Arbeitssicherheit und Ergo-
Außerhalb des Bundeshaushaltes haben die Länder nomie wahrzunehmen.
die unselige umsatzsteuerliche Teilung Deutschlands
Das Bundesamt befindet sich erst noch im Aufbau.
beendet.
Von 418 Planstellen waren erst 251 besetzt. Das Ge-
Sehr geehrter Herr Bundesminister der Finanzen, bäude muß noch errichtet werden, bis jetzt ist noch
als Abgeordneter aus Sachsen möchte ich diese haus- nicht mal ein Grundstück gefunden.
haltspolitischen Maßnahmen zugunsten der neuen
Länder ausdrücklich anerkennen. Für 1991 sind damit Allgemein darf ich zur Frage der Verlagerung von
die Finanzen der neuen Länder und Kommunen im Bundeshörden in die neuen Länder sagen: Von 176
wesentlichen gesichert. zentralen Bundesbehörden befindet sich derzeit keine
einzige in den neuen Ländern außerhalb Berlins. Dies
Haushalte sind in Zahlen gegossene Politik. Dieser kann nicht so bleiben, wenn die östlichen Länder
Bundeshaushalt zeigt, daß es die Koalition ernst meint
gleichberechtigt am staatlichen Leben in Deutschland
mit der Angleichung der Lebensverhältnisse. Wir
teilhaben sollen. Die Reaktion des in concreto betrof-
überwinden die Teilung durch Teilen, auch wenn dies
fenen örtlichen Abgeordneten mir gegenüber hat mir
mal unpopulär ist. So wären die Steuererhöhungen
vom März dieses Jahres ohne die Leistungen für die aber auch klar gemacht, daß Behördenverlagerungen
deutsche Einheit nicht erforderlich gewesen. Ich be- eine schwierige Angelegenheiten sind, zumal natür-
danke mich bei den Koalitionskollegen im Westen lich auch die Interessen der dort Beschäftigten ange-
dafür, daß Sie sie beschlossen haben und dadurch viel messen zu berücksichtigen sind.
Unbill in Kauf genommen haben. Was also liegt näher, als zumindest eine noch neu
Nun zum Einzelplan 13, Post und Telekommunika- aufzubauende zentrale Bundesbehörde im Osten
tion. Die Haushaltsberatungen verliefen in der übli- Deutschlands anzusiedeln und somit einen ersten
chen sachlichen Atmosphäre. Gestört wurden sie le- kleinen Schritt in die richtige Richtung zu tun? Hierfür
diglich von meinem Sohn Fabian, der sich nicht, wie bitte ich Sie ganz herzlich um Ihre weitere Unterstüt-
geplant, an die sitzungsfreie Woche hielt, sondern zung.
verspätet in der Nacht vor der Berichterstattung im Lassen Sie mich zum Schluß noch einen kurzen
Ausschuß zur Welt kam. Der Herr Vorsitzende Rudi Blick auf die Jahre 1992 bis 1994 werfen, zumal ja
Walther mußte daher als Mitberichterstatter selbst die auch am 10. Juli 1991 der Regierungsentwurf des
Last der Berichterstattung übernehmen, wofür ich ihm
Bundeshaushalts 1992 vom Kabinett verabschiedet
hiermit noch einmal ganz herzlich danke.
werden wird. Sehr geehrter Herr Finanzminister, es
Als einzige wesentliche Änderung während der Be- geht nicht darum, einfach mehr Geld zu fordern, son-
ratungen sieht Art. 3 des Haushaltsbegleitgesetzes dern es geht darum, eine bestimmte voraussichtliche
eine Verminderung der Ablieferung der Deutschen Einnahmenentwicklung im Osten rechtzeitig zu be-
Bundespost Telekom an den Bund gemäß § 63 Post- rücksichtigen.
verfassungsgesetz vor. Am 18. April 1991 verständig-
ten sich der Post- und Finanzminister darauf, daß die Nach bisher unbest rittenen präzisen Zahlen des
ursprünglich geplante Zusatzablieferung der Deut- Sächsischen Staatsministers der Finanzen Professor
schen Bundespost Telekom in Höhe von 8 Milliarden Milbradt verschlechtert sich die finanzielle Lage der
DM in den Jahren 1991 bis 1995 entfällt. Im Gegenzug Ost-Länder von 1992 bis 1994 deutlich, da die Einnah-
ergibt eine Streckung des Auslaufens der bisherigen men aus dem degressiv gestalteten Fonds „Deutsche
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2193*

Einheit" von 29,8 Milliarden DM in 1991 auf 8,5 Mil- einem Überschuß überhaupt nicht mehr, wahrschein-
liarden DM in 1994 zurückgehen werden, während lich sogar mit roten Zahlen gerechnet werden muß.
ein gleichzeitiger entsprechender Anstieg der Steuer-
Die Nettokreditaufnahme der Telekom für 1991
einnahmen der Ost-Länder leider unwahrscheinlich
liegt nach geltendem Wirtschaftsplan bei 13,892 Mil-
ist. Dies führt auch auf der Grundlage der neuen Steu-
liarden DM. Damit muß die Verschuldung des Unter-
erschätzungen vom 16. Mai 1991 dazu, daß die Pro-
nehmens als kaum noch vertretbar angesehen wer-
Kopf-Einnahmen der Ost-Länder von 3 831 DM in
den.
1991 auf voraussichtlich 3 000 DM in 1994 zurückge-
hen werden. Zum Vergleich: Im gleichen Zeitraum Dabei wird durchaus nicht verkannt, daß gerade die
werden die Pro-Kopf-Einnahmen der West-Länder Telekom in den neuen Bundesländern besonderen
von voraussichtlich 4 603 DM in 1991 auf 5 584 DM in und geradezu extremen Anforderungen ausgesetzt
1994 ansteigen. Somit wird sich die Differenz der Pro- ist. Aber: Damit kann nicht gerechtfertigt werden, daß
Kopf-Einnahmen zwischen Ost- und West-Ländern der Eigenkapitalanteil der Telekom das gesetzliche
von 772 DM in 1991 auf 2 584 DM in 1994 erhöhen. In Limit von 33 % bereits in diesem Jahr unterschreiten
Prozentzahlen ausgedrückt: Der Anteil der Pro-Kopf- wird und sich gefährlich dem 20 %-Bereich nähert.
Einnahmen der Ost-Länder im Verhältnis zu denen
Mit dieser Beschreibung übernimmt die SPD durch-
der West-Länder verringert sich von 83 % in 1991 auf aus nicht die Sonthofener Strategien der CSU. Denn in
nur noch 53 % in 1994. Diese nach dem derzeitigen der letzten Debatte über die Bundespost im Berliner
Kenntnisstand wahrscheinliche Entwicklung führt bis Reichstag war es der Postminister selbst, der wörtlich
1994 zu einer wachsenden Finanzkrise im Osten. die „dramatische Veränderung der finanziellen Lage
Zur Jahreswende 1994/1995 würden aber auch die der Telekom" beschrieb — bezogen auf die zusätzli-
West-Länder zum Opfer dieser drohenden Einnahme- chen Personalkosten von 500 Millionen DM aufgrund
verschlechterung im Osten, da dann der gesamtdeut- der Einkommensanpassung zwischen Ost und West.
sche Länderfinanzausgleich in Kraft tritt. Auf einen Zu fragen ist allerdings, ob diese dramatische Ver-
Schlag müßten die West-Länder dann Transferlei- änderung so unvorhersehbar war. Hat die Bundesre-
stungen in Höhe zwischen 30 und 40 Milliarden DM
gierung die notwendige Einkommensentwicklung in
jährlich erbringen. Dies wäre bei der Haushaltstruktur den alten und neuen Bundesländern wirklich so falsch
der West-Länder mit drastischen Einschnitten verbun-
eingeschätzt? Zu fragen ist auch, ob eine solche nicht
den, die politisch schwer durchsetzbar wären. nur die Bundespost betreffende Entwicklung dramati-
Meines Erachtens ist der allmähliche Einstieg in sche Folgen haben muß. Und schließlich: Wie blind
den gesamtdeutschen Länderfinanzausgleich bereits muß eigentlich der Finanzminister sein, der trotz die-
ab 1992 der einzige Ausweg aus dieser für Ost und ser dramatischen Entwicklung der Bundespost eine
West drohenden finanzpolitischen Entwicklung. Er zusätzliche Abgabe von 4 Milliarden DM durchsetzt.
trägt auch der Tatsache Rechnung, daß der Bund bis-
Diesbezüglich ist allerdings kritisch festzustellen,
her in weit höherem Maße als die alten Länder finan- daß sich wohl kein Postminister, welcher Fraktion er
ziell den Erfordernissen der deutschen Einheit Rech-
auch angehört, den finanziellen Begehrlichkeiten, die
nung getragen hat. sich aus Haushaltszwängen scheinbar ergeben, ent-
Zurück zum Posthaushalt! Ich bitte Sie, dem Ent- ziehen kann und entziehen konnte. Also ist die politi-
wurf des Einzelplans 13 in der Ausschußfassung zuzu- sche Abhängigkeit der Unternehmen der Bundespost
stimmen. systembedingt und gerade deshalb existenzgefähr-
dend.
Arne Börnsen (Ritterhude) (SPD): Eine Behandlung Damit wird der amtierende Postminister allerdings
allein des Einzelplans 13, also des Haushalts des Mini- nicht aus der Verantwortung entlassen, im Gegenteil:
steriums für Post und Telekommunikation, im Plenum Im Verborgenen, nämlich unter dem Mantel der regu-
des Deutschen Bundestages wäre durchaus reizvoll, lierenden und fachspezifischen Einflußnahme, trägt
denn die Neugründung vielfältiger Behörden und der Postminister heftig zur finanziellen Destabilisie-
Ämter, die damit verbundene Aufblähung des Ver- rung der Bundespost bei. Der Versuch, dies verständ-
waltungsapparates, mehr noch aber die übertriebene lich zu machen, setzt Vereinfachungen voraus, aber es
Personalausstattung des Ministeriums und das damit sei damit auch die Erwartung ausgedrückt, daß der
verbundene Hineinregieren in Unternehmensbe- Minister eine klärende Stellungnahme abgibt.
lange, würde allein eine Debatte rechtfertigen. Aber
So enthalten die vom Minister vorgelegten Eck-
damit würde die eigentliche politische Dimension der
punktepapiere zum Netz- und Telephondienstmono-
Entwicklung bei der Bundespost verkannt werden.
pol Bestimmungen, die in Verbindung mit dem Ent-
Diese Dimension ist nicht aus dem Bundeshaushalt
wurf zur neuen Telekommunikationsverordnung die
ersichtlich, sondern aus den Wirtschaftsplänen der
unverzichtbaren Monopole der Telekom aushöhlen
Unternehmen der Bundespost.
und verwässsern. Damit wird p rivaten Unternehmen
Die Telekom führt nach geltenden Wirtschaftsplä- Tür und Tor geöffnet, und die finanzielle Leistungsfä-
nen 1,3 Milliarden DM an die gelbe Post und 0,39 Mil- higkeit der Telekom wird in besorgniserregender
liarden DM an die Postbank ab. Danach verbleibt ihr Weise untergraben. Darauf hat auch die Unterneh-
ein Jahresüberschuß von 671 Millionen DM. Dieser mensleitung der Telekom den Minister in unmißver-
Überschuß ist angesichts einer Investitionssumme von ständlicher Weise aufmerksam gemacht und darauf
29 Milliarden DM um mindestens das Zehnfache zu hingewiesen, „daß sie nicht mehr in der Lage sein
niedrig. Erschwerend kommt hinzu, daß nach heuti- wird, ihre gesetzlichen Aufgaben zu erfüllen, die In-
gem Kenntnisstand in den kommenden Jahren mit frastrukturdienste zu sichern und der Entwicklung
2194* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

anzupassen", wenn der Postminister sich mit seinen stellung von Willkürmaßnahmen des Postministers
Vorstellungen durchsetzt. unabhängig zu machen.
Es muß sich der Verdacht aufdrängen, daß Minister Damit dürfen und werden sozialdemokratische
Schwarz-Schilling der zumindest als Geburtshelfer Grundsätze — wie Daseinsvorsorge, Infrastrukturauf-
des Poststrukturgesetzes bezeichnet werden kann, trag, Rechte der Beschäftigten — nicht in Frage ge-
sich jetzt als heimlicher Totengräber der Unterneh- stellt. Im Gegenteil, sie sollen gesichert und weiter-
men der Bundespost betätigt. entwickelt werden.
Heimlicher Totengräber deshalb, weil der Minister Lösungsansätze dieser Art bedürfen ohne Zweifel
und sein unglückselig großes Ministe ri um nichts un- einer außerordentlich sorgfältigen Diskussion, die die
versucht lassen, um die Wettbewerbsposition der Te- gesamte Palette möglicher Handlungsfelder ein-
lekom den p rivaten Konkurrenten gegenüber zu ver- schließen muß. Im Gegensatz zum Ausgrenzen der
schlechtern, mit dem Ziel, die Telekom systematisch Beschäftigten bei der Diskussion des Poststrukturge-
aus dem Markt zu drängen. Bei einer solchen selbst setzes muß diese Diskussion gemeinsam auch mit den
herbeigeführten Entwicklung kann der Ruf nach Pri- Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bundespost
vatisierung nicht verwundern — denn die Öffentlich- und ihren gewählten Vertretern in der Deutschen
keit erfährt täglich, daß die Bundespost scheinbar dem Postgewerkschaft geführt werden.
Wettbewerb nicht gewachsen ist.
Die SPD will im Gegensatz dazu eine wirtschaftlich Dr. Ulrich Briefs (PDS/Linke Liste): Wie jedes Jahr
und konzeptionell starke Post, die ihrem Auftrag der so ist auch dieses Jahr die Debatte über den Haus-
Daseinsvorsorge gerecht wird, die in der Lage ist, ih- haltsplan des Bundesministeriums für Post und Tele-
ren Infrastrukturauftrag zu erfüllen und zu finanzie- kommunikation eigentlich eine Farce. Eine Farce,
ren, also auch über eine finanziell gesunde Basis ver- weil nicht etwa über die wirtschaftlichen Aktivitäten
fügt. der Postunternehmen im Parlament beraten wird, son-
-
Im Gegensatz dazu gibt die zu befürchtende Fort- dern nur über die Sach- und Personalausgaben des
führung der gegenwärtigen finanziellen Entwicklung, Bundesministeriums für Post und Telekommunika-
insbesondere bei der Telekom, die vom Minister tion, der Bundesdruckerei, des Zentralamtes für Zu-
selbst als dramatisch bezeichnet wird, Anlaß zu tief- lassungen im Fernmeldewesen und des Bundesamtes
greifender Besorgnis. für Post und Telekommunikation.
Für uns Sozialdemokraten stellt sich damit die Über die Milliardenumsätze und -investitionen,
Frage, ob wir diese Entwicklung mit scharfer Kritik, über eine halbe Million Arbeitsplätze in den drei Post-
aber ohne Hoffnung auf Besserung begleiten oder ob unternehmen POSTDIENST, POSTBANK und TELE-
wir selbst Initiativen zur Schadensbegrenzung ergrei- KOM wird in den Vorständen und Aufsichtsräten der
fen wollen, ja, aus der politischen Verpflichtung für Unternehmen und unter speziellen Aspekten im Infra-
eine gesicherte Zukunft der Postunternehmen ergrei- strukturrat beraten und entschieden. De facto heißt
fen müssen. das: Wie in der Wirtschaft können die Vorstände der
Postunternehmen ihr Geschäft mit aus politischer und
Klar ist aber: Die willkürlichen und nach seinem
eigenen Poststrukturgesetz gar nicht zulässigen Ein- gesellschaftlicher Sicht unzureichender Kontrolle
durch andere und insbesondere durch demokratisch
griffe des Postministers in Entscheidungskompeten-
nicht transparente Instanzen betreiben. Im Infrastruk-
zen der Unternehmensvorstände und der Aufsichts-
turrat sind zudem die kleineren Fraktionen im Bun-
räte sind unerträglich. Die auch von uns befürwortete
Unabhängigkeit der Postunternehmen von sachfrem- destag sowieso nicht vertreten.
den politischen Einflußnahmen ist z. Zt. eine reine Es bleibt also nach wie vor eine politische Aufgabe
Fiktion. allererster Ordnung, zu erreichen, daß die Pläne, die
Auch ist — neben anderen offenen Fragen — die Tätigkeiten, die wirtschaftlichen Ergebnisse, die
Einbindung der Unternehmen in den öffentlichen Arbeitsmarkteffekte, die Arbeitsplatzauswirkungen
Dienst mit all seinen Widersprüchen zur unternehme- und die sonstigen gesellschaftlichen Folgen wie die
rischen Zielsetzung ein ungelöstes Problem. Gefährdung des Datenschutzes im Zuge des Ausbaus
der Telekommunikationsinfrastruktur im Parlament
Um die Abhängigkeit der Postunternehmen von der beraten und entschieden werden.
politischen Einflußnahme zu beenden, läge die eine
Lösungsvariante in der Forderung nach Auflösung des Die politische Organisation des Post- und des Tele-
Postministeriums. Allerdings wird dann der Finanzmi- kommunikationsbereichs ist, so betrachtet, ein Relikt
nister um so größere Begehrlichkeiten entwickeln und eines autoritär-hoheitlichen Staatsverständnisses. Die
die Postunternehmen noch schneller in den Ruin trei- Regelungen sind alles andere als bürgerfreundlich
ben. oder bürgernah.
Eine andere Va ri ante, der wir uns trotz aller grund- Dieser Mangel an Transparenz und Kontrollmög-
sätzlichen Vorbehalte angesichts der nicht in Zweifel lichkeiten ist um so bedenklicher, als Dienstleistun-
zu ziehenden ernsten Situation der Postunternehmen, gen der Postunternehmen in erheblichem Maße zur
also aus Gründen der Schadensbegrenzung, stellen Grundvorsorge des Staates für seine Bürgerinnen und
müssen, ist die Diskussion über eine Änderung des Bürger zu rechnen sind. Insbesondere der Ausbau der
Art. 87 des Grundgesetzes — Sondervermögen des Telekommunikationsinfrastruktur in Zukunft bringt
Bundes — mit dem Ziel, die Postunternehmen vor al- zudem zahlreiche Gefährdungen für die Menschen in
lem auch im Interesse ihrer öffentlichen Aufgaben den Betrieben und in der Gesellschaft insgesamt.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2195 '

Die „Informatisierung" oder „Telematisierung" der Behebung der Beschäftigungskatastrophe im Osten


Betri ebe und der Gesellschaft wird die Beschäfti- zustande kommen.
gungsprobleme insgesamt verschärfen, wird die Mög-
lichkeiten zur Ausübung qualifizierter Tätigkeiten er-
heblich — bei weitem nicht in allen Fällen positiv —
Werner Zywietz (FDP): Aus der Sicht der Staatsfi-
nanzen ist dies ein geliebter Haushalt. Er weist weit
verändern. Die „Informatisierung" ist insbesondere
mehr Einnahmen als Ausgaben aus, Einnahmen in der
mit der Gefahr des weiteren Marsches in den „Über-
Größenordnung von fast 9 Milliarden DM, Ausgaben
wachungsstaat" bzw. in die „gläserne Arbeit" ver-
insbesondere für Personal, Sachausgaben und klei-
bunden. Minutiöse Kontrolle von Verhalten und Lei-
nere Investitionen von etwas über 500 Millionen
stung im Betrieb, von Tätigkeiten und Bewegungen in
der Gesellschaft werden möglich. DM.

Mit dem ISDN-System der Zukunft, so befürchten Dies mag auf den ersten Blick verwirrend erschei-
etwa Drogen- und AIDS-Beratungsstellen, wird die nen, ist aber ein Ausdruck der Tatsache, daß sich das
Anonymität der oder des Ratsuchenden nicht mehr traditionelle Postbild und die Poststrukturen ein gutes
gewährleistet werden können. Stück weg von Bundespost in unternehmerische
Strukturen hinentwickelt hat. Es wird jetzt auch im
Der Rationalisierungs- und Leistungsdruck in den Sprachgebrauch schon von der Briefpost, der Bank-
Betri eben, die Beeinträchtigung von Mitbestim- post und der Telekom-Post gesprochen, und das
mungsmöglichkeiten werden in diesem Zusammen- macht deutlich, daß eine Aufteilung und eine Verselb-
hang ebenfalls zunehmen. Zentrale Entscheidungen ständigung mit mehr, aber nicht ausreichenden Ma-
großer internationaler Konzerne werden noch bedeut- nagement-Verantwortlichkeiten realisiert werden
samer, als sie jetzt schon sind. Die „Telematisierung" konnte.
schafft zudem viele neue Umweltprobleme wie zum
Beispiel die Beseitigung des Computer- oder auch des Insofern spiegelt dieser Etat mir das wider, was den
Telefonschrotts. Vor allem wird aber dadurch auch Postminister als Konzernherrn eigentlich als Chef der
das Zwangswachstum der kapitalistischen Wirtschaft Konzern-Holding-Post zahlenmäßig berührt. Die we-
weiter angeheizt, jenes Wachstum, das uns jetzt schon sentlichen ökonomischen Daten spiegeln sich in den
in die Nähe der Gefahr der restlosen Umweltzerstö- drei Postunternehmen wider, spiegeln sich in deren
rung gebracht hat. Ein Wachstum, das übrigens ge- Wirtschaftsplänen mit Umsatzzahlen, Aufwandsposi-
rade wegen der faszinierenden „neuen Techniken" tionen, Ergebnissen, mit Anmerkungen zu den Inve-
ein Wachstum ohne große Arbeitsplatzzuwächse ist. stitionen und dem Kreditbedarf und dessen Finanzie-
rung.
Alles das verlangt nicht nach weniger, sondern nach
mehr Transparenz, Kontrolle und Intervention in die- Hier möchte ich für die FDP feststellen, daß wir
sem Prozeß. Die fehlende parlamentarische Kontrolle generell den Weg der Dezentralisierung, der Verselb-
der Postunternehmen und die zunehmende „ Verbe- ständigung, der Öffnung zu mehr Markt für richtig
triebswirtschaftlichung " des Post- und Telekommuni- halten. Aber dieser Weg der marktwirtschaftlichen
kationswesens stellen sich dieser Notwendigkeit ent- Öffnung muß noch intensiver beschritten werden. Wir
gegen. Wir werden in der Zukunft auch um die Bedin- meinen, daß insbesondere im Bereich Telekom dafür
gungen einer ausreichenden öffentlichen Transpa- noch erhebliche Möglichkeiten gegeben sind.
renz und Kontrolle dieses immer wichtiger werdenden Liebe Kolleginnen und Kollegen, neben der Verän-
Teils der modernen Industriegesellschaft kämpfen derung der Bundespost, angedeutet durch das Stich-
müssen. wort „von der Behörde zum Konzern" , müssen wir
Noch zwei Anmerkungen zur Situation in den östli- auch im Rahmen dieser Haushaltsberatung festhalten,
chen Bundesländern: Erstens. Ich habe Hinweise dar- daß der Postminister in seiner Gesamtfunktion ange-
auf bekommen, daß wegen des enormen Zeitdrucks sprochen und herausgefordert ist, die Post- und Tele-
beim Aufbau und Ausbau des Telefonnetzes in der kom-Dienste in den fünf neuen Bundesländern der
früheren DDR Aufträge aus Termineinhaltungsgrün- früheren DDR bedarfsgerecht auszubauen. Dies ist
den an westliche statt an östliche Betriebe vergeben nach meiner Auffassung derzeit die zentrale Aufgabe
werden. Das Bundesministerium für Post und Tele- der Post. Es ist das Ziel dieser Legislaturperiode nach
kommunikation wird aufgefordert, darauf hinzuwir- dem Glücksfall der deutschen Einheit, nach dem er-
ken, daß die Modalitäten der Planung und Ausfüh- folgten politischen Rohbau des deutschen Einheits-
rung von Aufträgen so geändert werden, daß Bet riebe hauses, jetzt für den Ausbau zu sorgen.
in den östlichen Bundesländern vorrangig bei der Auch in dieser Debatte ist deutlich geworden: Den
Vergabe der Aufträge berücksichtigt werden kön- meisten Bürgern ist es aus eigenem Erleben klar, wo
nen. die Haupthindernisse für den wirtschaftlichen Auf-
Zweitens. Wir fordern die Bundesregierung auf, schwung in den fünf neuen Bundesländern liegen.
durch zügigen weiteren Ausbau der Telekommunika- Man hat vor Augen, daß die Verkehrssituation
tionsinfrastruktur in den neuen Bundesländern unter schwierig ist. Man hat vor Augen, daß die Regelung
Berücksichtigung des zuvor Gesagten Arbeits- und der Eigentumsfragen eine ökonomische Bremse dar-
Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen. Eine syste- stellt. Man hat vor Augen, daß viele Produktionsberei-
matische Strukturplanung auf regionaler Ebene muß che nicht wettbewerbsfähig sind. Man hat aber auch
insbesondere ergänzend dafür sorgen, daß weitere vor Augen, wie schwierig es ist, miteinander per Tele-
expansive ökonomische Effekte — im Baugewerbe, fon und Telefax umzugehen. Dieser Engpaß, sehr ver-
in nachrichtentechnischen Zulieferungssektoren, bei ehrter Herr Minister, muß noch schneller als bislang
anwendungsbezogenen Aktivitäten usw., usf. — zur beseitigt werden. Ohne funktionierende Telekommu-
2196' Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

nikation ist kein vernünftiger wirtschaftlicher Aufbau Niemand konnte ernsthaft erwarten, daß ein solch
möglich. Hier müssen sich alle Verantwortlichen noch anspruchsvolles Ziel von heute auf morgen und ohne
stärker ins Zeug legen. Machen Sie die Ausbaukon- alle Schwierigkeiten zu verwirklichen ist.
zepte verständlich und gehen Sie stärker dezentral
Lassen Sie mich die entscheidenden Punkte der
und marktwirtschaftlich vor!
Postreform kurz in Ihr Gedächtnis zurückrufen. Die
Es ist eben nur eine Behelfslösung, aber kein ehren- Schwerpunkte unserer konkreten Arbeit sind daraus
voller Dauerzustand, wenn Schweriner nur mit Ham- abzuleiten.
burger Rufnummern schnell erreichbar sind. Sie ha-
Mit dem Poststrukturgesetz wurden drei Entschei-
ben Anspruch auf ihre eigene Vorwahlnummer. Auch
dungen getroffen, die das Wesen der Postreform aus-
ist es nicht gut, wenn sich beispielsweise im Umfeld
machen:
von Berlin zu gewissen Abendstunden Autokarawa-
nen auf den Weg zu den Telefonen im alten West- Erstens. Die Funktionen des Schiedsrichters und
Berlin aufmachen, um sicher telefonieren zu können. der Mitspieler auf den Märkten des Post- und Fern-
Da es sich bei der Verbesserung des Telekommunika- meldewesens wurden organisatorisch getrennt: Die
tionswesens vom Grunde her um eine rentierliche betrieblichen und unternehmerischen Aufgaben wer-
Angelegenheit handelt, kann auch Privatkapital ein- den von den Unternehmen Postdienst, Postbank und
gesetzt werden, um schneller eine bedarfsgerechte Telekom der Deutschen Bundespost wahrgenommen.
Kommunikationsstruktur aufzubauen, die ja letztend- Für die politisch-hoheitlichen Aufgaben ist der Bun-
lich auch vom Benutzer bezahlt wird. desminister für Post und Telekommunikation mit sei-
nen nachgeordneten Behörden zuständig. Die Logik
Aber gerade die Bewältigung dieser besonderen
dieser Rollenteilung spiegelt sich auch im hier zu be-
aktuellen Situation macht deutlich, daß der Weg zu
handelnden Einzelplan 13 wider: Die Finanzen der
mehr marktwirtschaftlichen Strukturen, weg von Mo-
Deutschen Bundespost sind wie schon früher als Son-
nopolbereichen, weiterhin zur ökonomischen Vorge-
dervermögen des Bundes nicht Gegenstand dieser
hensweise, zur härteren Überprüfung von defizitären
Beratungen, dagegen ist heute über den Haushalt
Bereichen weiterhin beschritten werden muß.
bezüglich des hoheitlichen Aufgabenbereichs zu be-
Wir meinen, sehr verehrter Herr Minister, die Mittel finden.
und Möglichkeiten sind Ihnen gegeben, und Sie ha-
Zweitens. Zur Sicherstellung der Infrastrukturauf-
ben sicherlich im Parlament, wo erforderlich, einen
gaben im Bereich Post und Telekommunikation wur-
Kooperationspartner, wenn für diese Aufgabenbewäl-
den das Briefdienst-, das Netz- und das Telefondienst-
tigung entscheidende Hindernisse und Mängel gege-
monopol beibehalten; alle anderen Dienste und alle
ben sein sollten. Die Gegenerwartung allerdings ist,
Telekommunikationsendgeräte unterliegen nunmehr
daß es für einige Zeit absolute Chefsache sein muß,
dem Wettbewerb, an dem sich auch die Deutsche
die Mängel in den fünf neuen Bundesländern zielstre-
Bundespost beteiligen kann.
big abzuarbeiten, um damit einen ebenso zwingen-
den wie zentralen Mangel zu beseitigen, der uns bis- Drittens. Darüber hinaus besteht für den Postmini-
her gehindert hat, möglichst rasch die Lebensverhält- ster die Möglichkeit, durch die Erteilung von Lizenzen
nisse in den alten und neuen Bundesländern anzu- auch in den verbleibenden Monopolbereichen des
gleichen. Aber gerade dies ist nötig, dies ist die zen- Fernmeldewesens den Marktzutritt p rivater Unter-
trale Aufgabe dieser Legislaturperiode. Wir werden nehmer zuzulassen, sofern das Monopol insbesondere
Sie gerne und mit Nachdruck bei der Bewältigung hinsichtlich seiner ökonomischen Zielsetzung nicht
dieser Aufgabe unterstützen. ausgehöhlt wird. Der Postminister macht von diesem
Recht insbesondere dort Gebrauch, wo durch Wettbe-
Dr. Christian Schwarz-Schilling, Bundesminister
werb die Förderung innovativer Entwicklungen zu
erwarten ist, so beim Mobilfunk und beim Satelliten-
für Post und Telekommunikation: Fast auf den Tag
funk.
genau heute vor zwei Jahren ist das Poststrukturge-
setz am 8. Juni 1989 verkündet worden. Mit der Ände- Insgesamt gesehen hat die Postreform in einem ent-
rung der Organisationsform und der ordnungspoliti- scheidenden Sektor der Volkswirtschaft die Voraus-
schen Neukonzeption sind die Voraussetzungen dafür setzungen dafür geschaffen, daß sich durch mehr
geschaffen worden, daß die Deutsche Bundespost den Wettbewerb Tatkraft, Ideen und Kapital p rivater Un-
Herausforderungen der kommenden Jahre und Jahr- ternehmen entfalten können ; gleichzeitig wurden die
zehnte gut gewachsen sein wird. Diese Neustruktu- Unternehmen der Deutschen Bundespost im Rahmen
rierung des Post- und Fernmeldewesens in der Bun- des verfassungsrechtlich Möglichen von politischen
desrepublik fügt sich dabei in eine Reformbewegung Einflüssen befreit. Natürlich müssen im Einzelfall po-
ein, die andere wichtige Industrieländer bereits Jahre litische und unternehmerische Interessen miteinander
vorher umgesetzt haben. Sie steht dabei im Einklang in Ausgleich gebracht werden. Dazu sieht das Post-
mit den Bestrebungen der Europäischen Gemein- verfassungsgesetz ausgewogene Mechanismen vor;
schaft zur Schaffung liberalisierter Märkte in diesem diese sind notwendig, aber auch ausreichend. Bemer-
Wirtschaftssektor. kenswert ist, daß mancher, der sie heute kritisiert, sie
vor zwei Jahren für nicht weitgehend genug hielt.
Daß eine Reform der Deutschen Bundespost not-
wendig war, hatten bereits die Regierungen Brandt Bereits jetzt kann ich feststellen, daß sich die Umset-
zung der Postreform im wesentlichen bewährt hat.
und Schmidt erkannt, sie scheiterten jedoch an der
Problematik. Wir standen deshalb vor der Aufgabe, Nicht zuletzt unsere vielfältigen und schwierigen
den überfälligen Umstrukturierungsprozeß auf vielen Aufgaben in den neuen Bundesländern machen deut-
Gebieten praktisch gleichzeitig in Gang zu setzen. lich, wie wichtig effizient arbeitende Unternehmens-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2197*

führungen heute sind. Dort gilt es, so schnell wie mög- Auf diese Weise wird eine optimale Verbindung von
lich eine moderne, leistungsfähige Post und Telekom- Infrastrukturauftrag und p ri vater Initiative erreicht.
munikationsinfrastruktur herzustellen, die unabding-
Öffentliche Unternehmen mit Monopolrechten dür-
bare Voraussetzung für ein aktives Wirtschaftsleben
fen ihre Tarife nur zur Deckung der angefallenen Ko-
ist. Der zügige Aufbau ist — da Grundlage für weitere
sten zuzüglich eines Gewinns in angemessener Höhe
Investitionen der gesamten Wirtschaft — bereits voll
ansetzen. Auf Grund dieser Rechtslage in Verbindung
im Gange. Er sichert und schafft somit neue Arbeits-
mit dem Ziel wirtschaft li cher Selbständigkeit der drei
plätze in den neuen Bundesländern, insbesondere im
Postunternehmen wird im Laufe der nächsten Jahre
Handwerk und in mittelständischen Unternehmen.
die Höhe der Ausgleichsfinanzierungen zwischen den
Allein 1991 werden ca. 7 Milliarden DM in die Tele- einzelnen Diensten und den Unternehmen der Deut-
kommunikationsinfrastruktur im Beitrittsgebiet inve- schen Bundespost auf ein möglichst niedriges Maß
stiert. Die Arbeiten zur Realisierung der Aufbaupro- herunterzuführen sein.
gramme 1991 verlaufen planmäßig, und die Ziele des
Programms „Telekom 2000" einschließlich des „ Turn- Weiterhin werde ich mein Augenmerk darauf rich-
Key-Zusatzprogramms " für 1991 werden erreicht. Es ten, daß im Bereich der Monopolbereiche der Deut-
freut mich, an dieser Stelle darauf hinweisen zu kön- schen Bundespost Telekom eine Politik betrieben
nen, daß die DBP Telekom derzeit mit Abstand größter wird, die dem Grundsatz der Chancengleichheit aller
Investor in den neuen Ländern ist. Wettbewerber auf dem Telekommunikationsmarkt
Rechnung trägt. Dies gilt besonders für die Tarifge-
Die Verbesserung der Telefonversorgung in den staltung der Deutschen Bundespost Telekom im Mo-
neuen Bundesländern bedingt auch Tarifmaßnah- nopolsektor.
men. Am 1. Juli dieses Jahres wird deshalb ein Ta rif-
harmonisierungspaket der DBP Telekom in Kraft tre- Sowohl mit Blick auf die Funktion des Bundes als
ten, wodurch die wesentlichsten Gebührenunter- Eigentümer der Deutschen Bundespost, die durch den
schiede zwischen den westlichen und östlichen Tele- Bundesminister für Post und Telekommunikation
fondienstleistungen abgebaut werden. Weitere An- wahrzunehmen ist, als auch im Wege der Beaufsichti-
passungsschritte werden mit dem zunehmenden Aus- gung der Monopolbereiche hat das BMPT dafür Sorge
bau der Infrastruktur erfolgen können. zu tragen, daß der staatliche Infrastrukturauftrag
durch die Unternehmen der Deutschen Bundespost
Lassen Sie mich nun zu einigen Schwerpunkten erfüllt wird. Ich darf in diesem Zusammenhang darauf
meiner Politik kommen. Zunächst sind in einer Viel- hinweisen, daß die Unternehmen der Deutschen Bun-
zahl ausgewogener Einzelschritte Abgrenzungsfra- despost auch dort Pflichten gegenüber der Öffentlich-
gen hinsichtlich der Monopoltätigkeit der Deutschen keit zu erfüllen haben, wo sie im Wettbewerb arbei-
Bundespost Telekom zu klären und für alle verbind- ten.
lich festzulegen. Dabei ist für mich von Bedeutung,
daß in diesem Prozeß eine möglichst große Zahl be- Das BMPT ist gerade mit der Frage der Pflichtlei-
troffener Institutionen zu Wort kommt. Monopolab- stungen der Unternehmen der DBP befaßt. Dabei wird
grenzung bedeutet für mich keinesfalls eine Arbeit sichergestellt, daß der weitere Ausbau der Infrastruk-
alleine in den Stuben des Ministeriums. Es ist viel- tur in Deutschland, insbesondere in den neuen Bun-
mehr meine Intention, die Regulierungstätigkeit auf desländern, zügig voranschreitet, daß eine leistungs-
diesem Feld in möglichst hohem Maße der Öffentlich- fähige und flächendeckende Versorgung mit einem
keit gegenüber transparent zu machen, um damit vielfältigen Dienstleistungsangebot erreicht wird, daß
auch eine hohe Akzeptanz der gewonnenen Erkennt- die Kontrahierungspflicht bestehen bleibt und die Lei-
nisse zu gewährleisten. Mit der bisherigen Arbeit auf stungen der Deutschen Bundespost einen Qualitäts-
diesem Gebiet haben wir bereits ein breites und posi- standard aufweisen, der dem hohen Stand unserer
tives Echo der angesprochenen Öffentlichkeit errei- Volkswirtschaft entspricht.
chen können. Die Unternehmen der DBP werden zum 1. Juli 1991
Um alle Möglichkeiten moderner Kommunikations- ihre Rechtsbeziehungen zum Kunden vom öffentli-
technik zu erkunden, benötigen wir den Wettbewerb chen Recht auf das Privatrecht umstellen. Die von den
als Entdeckungsverfahren. Ausgehend von diesem Unternehmen erarbeiteten „Allgemeinen Geschäfts-
Gedanken habe ich im Mobil- und Satellitenfunk bedingungen" (AGBs) treten zu diesem Zeitpunkt in
durch entsprechende Lizenzierungspolitik die Tätig- Kraft. Damit wird ein wesentliches Anliegen der Post-
keit p ri vater Unternehmen ermöglicht und ich bin da- reform umgesetzt. Die Unternehmen treten ihren Nut-
bei, diesen lizenzierten Bereich noch weiter auszu- zern nicht mehr hoheitlich, sondern als gleichberech-
dehnen. Auf diese Weise werden technisches Spezial- tigte Partner im Rechtsverkehr gegenüber.
wissen für die Telekommunikation und internationale
Insbesondere wegen der verbliebenen Monopol-
Erfahrungen gewonnen, die nötig sind, um Deutsch-
rechte kann jedoch — nicht zuletzt im Interesse der
land auf diesem Sektor in einer weltweiten Spitzen-
Verbraucher — auf gewisse, von der Bundesregie-
stellung zu halten.
rung festgelegte Spielregeln nicht verzichtet werden.
Wir haben gleichzeitig darauf geachtet, daß trotz Diese Aufgaben erfüllen die Rahmenverordnungen
Hereinnahme p ri vater Initiativen die Erfüllung infra- für die Inanspruchnahme der Dienstleistungen im
struktureller Pflichten garantiert bleibt. In den ent- Post- und Telekommunikationsbereich. Diese werden
sprechenden Vereinbarungen mit den Lizenzneh- derzeit im Infrastrukturrat beim Bundesminister für
mern wurde insbesondere auf Flächendeckung, Kon- Post und Telekommunikation behandelt und nach
trahierungspflicht, Diskriminierungsverbot und Ein- dessen Beschlußfassung der Bundesregierung zur Zu-
haltung eines hohen Qualitätsstandards Wert gelegt. stimmung zugeleitet werden.
2198' Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Ebenso sind die bereichsspezifischen Datenschutz- Meine Damen und Herren, gemessen am Gesamt-
verordnungen für die Unternehmen Telekom, Post- umfang des vorgelegten Haushalts geht es beim Bun-
dienst und Postbank, die die Bundesregierung gemäß desminister für Post und Telekommunikation um ver-
§ 30 Abs. 2 Post-VerfG erläßt, fertiggestellt und wer- gleichsweise geringe Beträge. Bekanntlich kann aber
den Ende Juni nach Beschlußfassung verkündet. oftmals mit kleinem Aufwand große Wirkung erzielt
werden. Nicht zuletzt im Hinblick auf den angestreb-
Die Deutsche Bundespost ist nicht nur mittelbar ten Aufschwung in den neuen Bundesländern enthält
über ihre infrastrukturelle Funktion sowie als Investor dieser Einzelplan wichtige Weichenstellungen. Ich
ein wichtiger Motor des wirtschaftlichen Fortschritts, bitte dafür um Ihre Zustimmung.
sie trägt auch ganz direkt dazu bei, die Schwierigkei-
ten zu bewältigen, die mit einem wirtschaftlichen
Wandlungsprozeß — wie im Beitrittsgebiet notwen-
dig — verbunden sind. In diesem Zusammenhang
darf ich darauf hinweisen, daß die Unternehmen der
DBP nahezu das gesamte Personal der Deutschen Post Anlage 5
übernommen haben.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Ausbildungsplatzinitiative sieht vor, daß durch
zu Einzelplan 23 — Geschäftsbereich des
den Bund in diesem Jahr in den neuen Ländern 10 000
Bundesministers für
Ausbildungsplätze angeboten werden. Die Unterneh-
wirtschaftliche Zusammenarbeit —
men der DBP stellen insgesamt rund 3 100 Ausbil-
— Drucksachen 12/525, 12/530 —
dungsmöglichkeiten für junge Leute zur Verfügung.
Die Deutsche Bundespost Telekom ist daran mit 1 500,
der Postdienst mit 1 325 und die Postbank mit minde- Dr. Christian Neuling (CDU/CSU): Nach der nahezu
stens 300 Plätzen beteiligt. Außerdem haben die Un- völligen Überwindung des Ost-West-Konfliktes wird
ternehmen seinerzeit dafür Sorge getragen,
- daß alle die Entwicklungspolitik angesichts der globalen Pro-
bestehenden Ausbildungsverhältnisse bei der Deut- bleme wie Umwelt- und Ressourcenschutz, Armuts-
schen Post übernommen werden konnten. Damit lei- bekämpfung, Lösung der Verschuldungsprobleme,
sten die Unternehmen der Deutschen Bundespost ins- Überbevölkerung und Klimaschutz eine der großen
gesamt einen wichtigen beschäftigungspolitischen Herausforderungen in den 90er Jahren sein. Dieser
Beitrag. Herausforderung können wir wirksam nur durch eine
zukunftsorientierte Entwicklungspolitik mit neuer
Bei der Umsetzung vieler Aufgaben spielen die dem Schwerpunktsetzung und Ausgestaltung der Instru-
Bundesminister für Post und Telekommunikation mente begegnen. Hierzu gehören neben stärkerer re-
nachgeordneten Behörden zukünftig eine wichtige gionaler wie sektoraler Konzentration bei der Mittel-
Rolle. Das Zentralamt für Zulassungen im Fernmelde- vergabe auch der flexiblere Einsatz unserer Förde-
wesen in Saarbrücken nimmt die hoheitlichen Zulas- rungsinstrumente. Somit steht die Entwicklungspoli-
sungsaufgaben für Fernmeldeeinrichtungen und tik in den 90er Jahren vor völlig neuen Weichenstel-
Funkanlagen wahr. Gegenüber der Deutschen Bun- lungen.
despost Telekom besteht nach der Postreform eine
konsequente organisatorische Trennung. Für das Ent- Den Stellenwert der Entwicklungspolitik für die
stehen vieler neuer Dienste und neuer Endeinrichtun- Bundesregierung eines nunmehr geeinten Deutsch-
gen und durch die Weiterentwicklung des Gemeinsa- lands hat Bundeskanzler Helmut Kohl bereits in seiner
men Marktes der EG ist die Arbeit des Zentralamtes Regierungserklärung am 30. Januar des Jahres unter-
für Zulassungen im Fernmeldewesen von wachsender strichen, indem er ausführte: „Wir stehen zu unserer
Bedeutung. Das Zentralamt hat in Halle und in Kol Verantwortung für die Menschen in der Dritten Welt.
berg bei Berlin zwei Außenstellen im Beitrittsgebiet Das heißt konkret: Wir werden als vereintes Deutsch-
eingerichtet. Insgesamt hat es etwa 200 Kräfte. land unsere Entwicklungshilfe auch in Zukunft stei-
gern."
Dem neu errichteten Bundesamt für Post und Tele-
kommunikation obliegen die Hoheitsaufgaben hin- Mit einem Plafond von 7,96 Milliarden DM (ein-
sichtlich der Wahrnehmung der Funkfrequenzverwal- schließlich 200 Millionen Rückflüsse) ergibt sich ge-
tung, der Erteilung von Funkgenehmigungen, der genüber dem Haushalt 1990 eine Steigerung von
Funkkontrolle, der Funkentstörung sowie der Ab- 7,9 %. Erstmalig wurden im Rahmen der Berichterstat-
nahme drahtgebundener Fernmeldeanlagen. Diese tergespräche die Rückflüsse im Titel 186 01 brutto
Aufgaben wurden früher von den Fernmeldeämtern — d. h. in voller Höhe — veranschlagt bei gleichzeiti-
wahrgenommen. Das Bundesamt hat 55 Außenstellen ger entsprechender Anhebung der Mittel für die
in Deutschland, und zwar 43 in den alten, 12 in den Finanzielle Zusammenarbeit (Titel 866 01) um
neuen Bundesländern; insgesamt werden mehr als 200 Millionen auf 2,6 Milliarden. Ein wesentlicher
3 000 Bedienstete beim Bundesamt beschäftigt sein, Teil des Zuwachses — ca. 425 Millionen DM — entfal-
die im wesentlichen von der Deutschen Bundespost len auf den multilateralen Bereich, insbesondere er-
oder Deutschen Post übernommen werden. höhte Abrufe bei IDA und dem EEF. Im bilateralen
Bereich entfallen 110 Millionen DM unmittelbar auf
Die Gesamtausgaben des Einzelplans 13 betragen die Fortführung von Entwicklungsmaßnahmen der
etwa 500 Millionen DM, davon sind etwa 100 Millio- ehemaligen DDR, im wesentlichen in der Aus- und
nen DM durch die Deutsche Einigung bedingt; diese Fortbildung, der bilateralen Technischen Zusammen-
Kosten werden sich aber im eingeschwungenen Zu- arbeit (TZ) und beim Deutschen Entwicklungsdienst
stand in den nächsten Jahren wieder verringern. (DED).
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2199*

Geeignete Rahmenbedingungen sind für eine ef- eine erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung in den
fektive Entwicklungspolitik unabdingbar. Die Erfah- Ländern selbst gewährleisten. Als Beispiel möchte ich
rungen in den Staaten Ostmitteleuropas bestätigen hier die augenblickliche Entwicklung Angolas anfüh-
erneut, daß nur eine marktwirtschaftlich ausgerich- ren — nach 25 Jahren Bürgerkrieg soll nun endlich
tete Wirtschaftsordnung mit sozialer und ökologischer eine pluralistische Demokratie und soziale Marktwirt-
Verantwortungsbereitschaft den notwendigen Hin- schaft das zerstörte Land wieder aufblühen lassen. Für
tergrund für eine erfolgreiche Entwicklung gewähr- das kommende Jahr sind sogar freie Wahlen ge-
leistet. Dies wiederum setzt eine demokratische und plant.
rechtsstaatliche Ordnung voraus. Unsere Entwick-
Angola war das ausgeprägte Beispiel für die soge-
lungszusammenarbeit muß diesen Aspekt in Zukunft
nannten „Stellvertreterkriege", die ohne Beteiligung
noch stärker berücksichtigen und auf die Schaffung
anderer Mächte so nicht hätten durchgeführt werden
dieser Rahmenbedingungen hinwirken.
können. So schickte zum Beispiel Kuba Söldner, und
Die Industriestaaten müssen sich verpflichten, die die DDR versorgte den Sicherheitsapparat mit Stasi-
notwendigen weltwirtschaftlichen Bedingungen zu Leuten.
schaffen, damit ein Wirtschaftswachstum — insbeson-
Die bisherige Erfahrung hat gezeigt, daß viele Kre-
dere für die Länder der Dritten Welt — möglich ist.
ditprogramme kleine und mittlere Unternehmen
Der Abbau von Handelshemmnissen — bei industriel-
kaum erreichen, weil sie über zentrale staatliche Insti-
len und landwirtschaftlichen Produkten — und Sub-
tutionen abgewickelt werden. Eine sinnvolle Lösung
ventionen ist eines der vorrangigsten Ziele, um inter-
kann deshalb nur sein, die Privatwirtschaft in Ent-
nationalen Wettbewerb zu ermöglichen und damit
wicklungsländern über privatwirtschaftliche Struktu-
Wirtschaftswachstum auch in den Entwicklungslän-
ren zu entwickeln, während der Staat bei der Schaf-
dern zuzulassen. Je mehr wir dem Süden die Chance
fung geeigneter wirtschaftspolitischer und rechtlicher
eröffnen, durch Handel Einnahmen und Arbeitsplätze
Rahmenbedingungen unterstützt wird.
zu schaffen, desto weniger sind die Länder auf Ent-
wicklungshilfe angewiesen. - Drittens. Wesentliche Voraussetzung für die Men-
schen in der Dritten Welt, ihre Lebensverhältnisse ei-
Zu den Schwerpunkten:
genverantwortlich zu gestalten, ist eine angemessene
Erstens. Entwicklungsländer können nach Jahren Bildung breiter Bevölkerungsschichten. Mehr Wissen
erfolgreicher wirtschaftlicher Zusammenarbeit mit ei- schafft Sicherheit und Selbstvertrauen im Umgang mit
gener Anstrengung wirtschaftliche Kräfte im eigenen neuen Herausforderungen, aber auch die Bereit-
Land stärken, andere weiter fortgeschrittene Länder, schaft, sich korrupten Regierungen zu widersetzen.
die wir als Schwellenländer bezeichnen, so z. B. Süd-
Grundbildung insbesondere ist das Potential für die
korea, Singapur und Kenia, um nur einige zu nennen,
Zukunftschancen einer Gesellschaft. Die Beiträge der
verdeutlichen dies ebenfalls.
Bildungshilfe sind somit vorrangig zu überprüfen,
Dies sind noch Ausnahmefälle, die durch geeignete wiederum mit dem Ziel, eigene Ressourcen der Län-
politische, wirtschaftliche und soziokulturelle Rah- der zu entwickeln. Denn die Grundbildungsversor-
menbedingungen für Selbsthilfe zum Regelfall wer- gung gehört zu den ureigensten Aufgaben der Ent-
den können. Zwei Kategorien sind hier zu unterschei- wicklungsländer selbst. Aus- und Fortbildung zählte
den: innenpolitische, d. h. in der Verantwortung eines zu den Schwerpunkten der Entwicklungshilfe der
jeden Entwicklungslandes selbst liegende Rahmen- ehemaligen DDR. Wie andere Projekte auch, werden
bedingungen (Beachtung der Menschenrechte, De- nach sorgfältiger Prüfung, sinnvolle Vorhaben der frü-
mokratieverständnis der Regierung, marktwirtschaft- heren DDR fortgeführt.
liche Ordnung, Rechtssicherheit) und weltweite, d. h.
Viertens. Erstmals veranschlagt wurden im Einzel-
nur durch das internationale Zusammenwirken der
plan 23 Ausgaben im Zusammenhang mit internatio-
Geber- und Empfängerländer zu beeinflussende Be-
nalen Vereinbarungen zum weltweiten Umwelt-
dingungen (wie offene Märkte, Wettbewerbsmöglich-
schutz. Die Mittel sind vorgesehen für die Beteiligung
keiten, aber auch zielgerichtete Ausgaben).
Deutschlands an der bei der Weltbank einzurichten-
Bei nicht wenigen Ländern wurde wegen bedenkli- den Globalen Umweltfazilität, die aus einem globalen
cher, entwicklungshinderlicher Rahmenbedingungen Umwelt-Treuhandfonds und einem Ozonschicht
von der Veranschlagung insbesondere finanzieller Treuhandfonds bestehen soll. (VE multilaterale Hilfe:
Hilfen (FZ) ganz abgesehen (z. B. Sudan, Somalia). 242,7 Millionen DM).
Zur angestrebten stärkeren Selbsthilfeorientierung Die Entwicklungs- und Industrieländer haben eine
der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit soll vor gemeinsame Verantwortung für die Umwelt. Begrü-
allem auch die Einbeziehung der Nichtregierungsor- ßenswert ist in diesem Zusammenhang das Pilotpro-
ganisationen und Selbsthilfegruppen beitragen. Ein jekt zur Erhaltung der brasilianischen Tropenwälder,
breit diskutiertes und anerkanntes sektorübergreifen- für das der Bundeskanzler auf dem Weltwirtschafts-
des Konzept des BMZ liegt vor, ebenfalls konkrete gipfel in Houston im Juli 1990 250 Millionen DM zu-
Erfahrungen und insbesondere Kooperationsange- gesagt hat.
bote von Partnern in Entwicklungsländern.
Auch über Schuldenerlasse läßt sich eine aktive
Zweitens. Gerade die Erfahrungen in den osteuro- Beteiligung der Entwicklungsländer am Umwelt-
päischen Staaten bestätigen erneut, daß nur eine schutz erreichen. Verfahren wurde so bei Schuldener-
marktwirtschaftlich ausgerichtete Wirtschaftsord- lassen an Kenia, Zaire und Äthiopien in Höhe von ins-
nung mit sozialem und ökologischem Verantwor- gesamt 1,5 Milliarden DM. Viele Projekte im land-
tungsbewußtsein den notwendigen Hintergrund für wirtschaftlichen und industriellen Bereich werden
2200* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

schon mit Umweltschutzkomponenten versehen. Alle Helmut Esters (SPD): Wenn wir ganz am Ende der
mit bundesdeutschen Mitteln geförderten Projekte zweiten Lesung den Einzelplan 23 beraten und verab-
unterliegen einer Umweltverträglichkeitsprüfung. schieden — mit kargen 7,9 Milliarden DM bei einem
Nur wenn auch die Entwicklungsländer dem Umwelt- Gesamthaushalt von 410 Milliarden DM — , dann muß
schutz einen höheren Stellenwert im eigenen Land jedem aufgehen, wie wenig das reiche Indust rieland
einräumen, kann globale Umweltschutzpolitik erfolg- Bundesrepublik Deutschland im Grunde für die not-
reich sein. leidenden Menschen in den Ländern der Zweiten und
Dritten Welt übrig hat. Wir wissen doch, welchen rie-
Zu den Konsequenzen für die zukünftige Entwick- sigen Finanzbedarf wir allein brauchen, um die Le-
lungspolitik: bensverhältnisse von nur 15 Millionen Menschen in
den neuen Bundesländern zu verbessern. In den Ent-
Erstens. Rückbesinnung auf die eigentliche Be- wicklungsländern kämpfen dagegen 4 Milliarden
zeichnung des Ministeriums: Bundesministerium für Menschen um das tägliche Überleben.
wirtschaftliche Zusammenarbeit und eben nicht für
Entwicklungshilfe. Zusammenarbeit bedeutet die Be- Ich weiß sehr wohl, daß unsere Entwicklungshilfe
rücksichtigung der Interessen beider Partner, bedeu- nur eine Randgröße im Nord-Süd-Ausgleich ist. Viel
tet eine einige Verzahnung bzw. Zusammenarbeit bei wichtiger sind Fragen der Marktöffnung und Han-
der Abstimmung über gemeinsame Ziele und Maß- delsliberalisierung, einer vernünftigen Agrarpolitik,
nahmen wie auch bei der Umsetzung dieser beschlos- gerechter Rohstoffpreise und einer wirksamen Ent-
senen Maßnahmen. schuldungsstrategie. Glücklicherweise haben die
Umwälzungen in Osteuropa auch in vielen Ländern
Zweitens. Wir müssen uns zunehmend von dem lei- der Dritten Welt — wenn auch noch nicht in allen —
der immer noch praktizierten Prinzip von mehr oder Veränderungen in Richtung auf mehr Demokratie,
weniger festen Länderquoten verabschieden. Partner, Beachtung der Menschenrechte und Abkehr von der
die aus eigener Kraft Reformbestrebungen hin zu ei- zentralen Verwaltungswirtschaft gebracht. Diese Pro-
ner demokratischen Gesellschaftsordnung verbunden zesse müssen durch unsere Entwicklungspolitik kräf-
mit einem marktwirtschaftlich orientierten Wirt- tig — und nicht halbherzig — unterstützt werden.
schaftssystem müssen in Zukunft stärker unterstützt
Nötig ist, daß wir zugunsten der reformbereiten
werden.
Länder vom bisherigen Quotensystem bei der Auftei-
Drittens. Zukünftig müssen wir außerdem die An- lung unserer Finanzierungshilfen abrücken. Die Er-
gemessenheit von Rüstungsausgaben der Entwick- fahrungen, die wir täglich beim Einigungsprozeß im
lungsländer bei unserer Entscheidung über wirt- eigenen Lande und in der Zusammenarbeit mit Osteu-
schaftliche Zusammenarbeit berücksichtigen. ropa machen, lassen neue Instrumente staatlicher In-
Staatenübergreifend muß sichergestellt werden, daß terventionspolitik entstehen, die wir auch in einer
Despoten, die Menschenrechte mit Füßen treten, vom Reihe von Ländern der Dritten Welt — nicht in allen —
Westen nicht Entwicklungshilfe kassieren, um im zum Einsatz bringen können. Die wichtigste Lehre
Osten Waffen einzukaufen. daraus heißt: Wer die Demokratie schaffen und eine
sozial verpflichtete Marktwirtschaft einführen will,
Die Ost-West-Entspannung erleichtert dies natür- der braucht vor allem eine möglichst effiziente Staats-
lich entscheidend — durch die Auflösung der politi- verwaltung.
schen und militärischen Machtblöcke ist zahlreichen
Der neue Minister hat uns seine Bereitschaft zur
Entwicklungsländern die Möglichkeit genommen
Zusammenarbeit erklärt. Wir haben das dankbar zur
worden, Ost und West gegeneinander auszuspielen
Kenntnis genommen; denn in der Entwicklungspolitik
indem man einfach androhte, in das „andere Lager"
hat die Zusammenarbeit von Regierung und Parla-
zu wechseln, um so mehr Geld zu erhalten.
ment eine gute Tradition. Sie ist jedoch keine Ein-
Viertens. Ein letzter Punkt, der die Entwicklung in bahnstraße. Sie ist von der Opposition auch nicht zum
der Dritten Welt behindert, ist die enorm hohe Schul- Nulltarif zu haben.
denlast. Wechselkursschwankungen und Schulden- Sozialdemokratische Minister haben die entwick-
rückführungen sind die Hauptursachen für diese nach lungspolitische Konzeption der Bundesregierung bis
wie vor kritische Situation. 1990 lag die Gesamtver- heute nachhaltig geprägt. Solange Sie, Herr Minister
schuldung der Entwicklungsländer bei ca. 2 200 Mil- Spranger, an deren Politik und Erfahrungen anknüp-
liarden DM. Die Bundesregierung hat den am wenig- fen, bleiben Sie auf sicherem Boden. Die beiden Vor-
sten entwickelten Ländern (Least Developed gänger des neuen Ministers haben zu lange auf die
Countries) sämtliche Schulden erlassen — in einer Entscheidung des Kanzlers gewartet, der Entwick-
Größenordnung von jetzt rund 9 Milliarden DM. lungspolitik den ihr gebührenden Rang im Rahmen
der Gesamtpolitik der Bundesregierung einzuräu-
Weitere Schuldenerlasse müssen an klare Bedin-
men.
gungen geknüpft werden, die Anpassungs- und Re-
formprozesse und die Durchführung von Umwelt- Anders als Willy Brandt und Helmut Schmidt hat
schutzmaßnahmen in den Entwicklungsländern selbst der gegenwärtige Kanzler in der Dritten Welt keinen
garantieren. Jedoch verbirgt sich hier eine erhebliche Namen. Seine Ankündigungen zur Erhöhung der
Problematik, da Schuldenerlasse nicht motivierend deutschen Entwicklungshilfe sind ohne Folgen ge-
auf die Länder wirken, die ihrerseits ihren Verpflich- blieben. Ich erinnere an das diesem Hause wiederholt
tungen pünktlich nachkommen. Eine Abstimmung gegebene Kanzlerversprechen, die Rückflüsse aus der
auf internationaler Ebene zwischen Geber- und Emp- Kapitalhilfe wieder für Entwicklungsaufgaben zur
fängerländern ist daher unerläßlich. Verfügung zu stellen. Wie dieses Thema seit 1985 von
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2201'

Regierung und Koalition behandelt worden ist, gehört sen der Expertenlobby — die Geschäftspolitik unserer
nicht zu den Ruhmestaten deutscher Politik. Durchführungsorganisation ändern.
Hier drängt sich förmlich der Verdacht auf, die Re- Die im BMZ vorhandene Bereitschaft, hier tätig zu
gierung sei nur deshalb untätig geblieben, weil die werden, haben wir — wenn auch noch nicht übermä-
Initiativen ursprünglich aus dem Parlament gekom- ßig deutlich — vernommen. Sylvia Espinoza aus Boli-
men sind. Wenn Sie es, meine Damen und Herren von vien, die erste ausländische Projektassistentin, die auf
der Koalition, mit der entwicklungspolitischen Zu- parlamentarische Initiative von der GTZ eingestellt
sammenarbeit ernst meinen, dann erwarten wir bis worden ist, darf keine Alibifrau bleiben.
zum Herbst für die Haushaltsberatungen 1992 solide
Finanzierungsvorschläge, wie unsere Entwicklungs- Vor wenigen Tagen hat sich in Äthiopien ein über-
politik gesetzlich abgesichert werden kann. raschender Umsturz vollzogen, von dem wir alle hof-
fen, daß er dem Land einen dauerhaften Frieden und
Dieser Vorschlag knüpft an Traditionen der 70er eine demokratische Entwicklung beschert. Dazu kann
Jahre an, in denen das Parlament seine Mitverantwor- vor allem ein entwicklungspolitischer Neuanfang im
tung für die Dritte Welt besonders ernst genommen Zeichen der „Personellen Zusammenarbeit" beitra-
hat. Einige von Ihnen werden sich an den Weltwirt- gen. Hier können wir Ernst machen mit einer Ent-
schaftsgipfel von Venedig im Jahre 1977 erinnern. Auf wicklungshilfe, die den Menschen in den Mittelpunkt
Vorschlag des Haushaltsausschusses hat das Parla- stellt.
ment seinerzeit einstimmig die Finanzierung eines
Süd-Europa-Programms in Millionenhöhe gefordert. In der Bundesrepublik Deutschland leben allein
Dadurch wurde der spätere EG-Beitritt von Spanien, 16 000 Flüchtlinge aus Äthiopien und E ritrea. Sie wer-
Portugal und Griechenland vorbereitet, von Ländern den beim Aufbau des kriegszerstörten Landes drin-
also, die sich damals im Übergang zur Demokratie gend gebraucht. Die in jüngster Zeit auf Initiative des
befanden. Am Erfolg dieser parlamentarischen Initia- Haushaltsausschusses geschaffenen Instrumente der
tive besteht heute kein Zweifel. Damals mußte sich Subjektförderung, wie z. B. bef ri stete Gehaltszu-
der Finanzminister vor dem Parlament den besseren schüsse oder Existenzgründungszuschüsse, müssen
Argumenten eines mutigen Entwicklungshilfemini- zur Förderung der Rückkehr dieser Flüchtlinge einge-
sters, der unvergessenen Ma rie Schlei, beugen. Im setzt werden. Das „Fachkräfteprogramm Afghani-
Blick auf Polen und andere osteuropäische Beitritts- stan", ebenfalls auf parlamentarische Initiative ent-
kandidaten erscheint es heute dringend nötig, solche standen, hat hier entscheidende Vorarbeiten gelei-
stet.
parlamentarischen Gestaltungsmöglichkeiten erneut
in Erinnerung zu rufen. Schließlich: Warum sollten wir beim Wiederaufbau
Minister Spranger hat seine Aufgabe mit drei Äthiopiens keinen einheimischen Freiwilligendienst
Schlagworten definiert: Armutsbekämpfung, Umwelt unterstützen, der die bei uns ausgebildeten Flücht-
und Bildung. Dagegen haben wir nichts einzuwen- linge in Programmen der Grundbildung oder Basisge-
den. Doch mit rund 160 Millionen DM, also knapp sundheit beschäftigt? Soweit das Entwicklungshelfer-
2,5 % des Einzelplans 23, die 1991 weltweit für Bil- gesetz heute noch solchen Einsätzen entgegensteht,
dungsobjekte zur Verfügung stehen, läßt sich keine kann es novelliert werden. Für eine derartige Öffnung
Schwerpunktbildung begründen. Erst wenn klar for- der Entwicklungsdienste wird sich mit Sicherheit eine
mulierte, von den betroffenen Ländern auch ernsthaft breite parlamentarische Mehrheit finden.
gewollte Bildungsprogramme vorliegen, können wir Lassen Sie mich am Beispiel der Wasserversorgung
uns über die dafür notwendige Verpflichtungser- in Entwicklungsländer verdeutlichen, wie ernst die
mächtigung unterhalten. Lage ist. Die Cholera-Epidemien in Lateinamerika
Nennen Sie uns konkrete Länder, Herr Minister. und großen Teilen im südlichen Afrika waren vorher-
Dann werden wir Sie dabei unterstützen, erste Pilot- sehbar. Ihre Ursachen waren ausschließlich die seit
programme der Grundbildung in Gang zu bringen, langem bekannten Mängel bei der Trinkwasserver-
deren Inlandskosten wir notfalls über Zeiträume von sorgung und der Abwasserentsorgung. Diese Mängel
15 Jahren übernehmen müssen. Solche Programme lassen sich beheben, wenn wir die Menschen in den
müssen nicht unbedingt nach deutschen Kriterien ge- Entwicklungsländern mit wirksamen Techniken der
plant werden. Ausschlaggebend ist vielmehr, daß sie Wasseraufbereitung vertraut machen würden. Das
den Bedürfnissen und Möglichkeiten der Partner ent- Wissen um diese Techniken liegt in Deutschland vor
sprechen. allem bei kommunalen Versorgungseinrichtungen.
Mir sind zahlreiche Stadtwerke bekannt, die an der
Dazu gehört vor allem, daß unsere Partner auch per- Übernahme solcher Aufgaben interessiert sind. Bis-
sonell an der Durchführung solcher Programme betei- lang ist es jedoch nicht gelungen, eine solche Zusam-
ligt werden. Mit der Beschäftigung einheimischer menarbeit — vor allem mit der Weltbank — zu orga-
Fachkräfte im Rahmen der von uns finanzierten Pro- nisieren. Ich erneuere meinen Appell an die Regie-
jekte muß endlich Ernst gemacht werden. Die Glaub- rung, hier für Abhilfe zu sorgen.
würdigkeit unserer Bildungsoffensive wird entschei-
dend davon abhängen, wie intelligent wir mit dem Wir können uns auf keine Wohlstandsinsel zurück-
bereits ausgebildeten Humankapital der Entwick- ziehen. Was wir brauchen, ist mehr Solidarität mit den
lungsländer umgehen. Statt für teures Geld deutsche Ländern der Dritten Welt. Was wir erkennen müssen,
Experten und Entwicklungshelfer in die Entwick- ist, daß uns für den Aufbau einer solidarischen Welt
lungsländer zu schicken, die den dort vorhandenen nur noch wenig Zeit bleibt.
einheimischen Kräften Arbeit wegnehmen, müssen Lassen Sie mich deshalb ein deutliches Wort an alle
wir — auch gegen geschickt kaschierte Eigeninteres- richten, die durch die Ankündigung, die Armutsbe-
2202* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

kämpfung durch Selbsthilfe zu einem Schwerpunkt markt wird zu keiner Abschottung von den Ländern
unserer Entwicklungspolitik zu machen, zutiefst ver- der Dritten Welt und anderen Nachbarn führen. Dies
unsichert worden sind. Der Interessenausgleich mit wären die falschen Schlußfolgerungen aus den welt-
der Dritten Welt wird uns nur gelingen, wenn wir dort weiten Herausforderungen. Glaubwürdige Nord-
genügend Arbeitsplätze schaffen. Diese Arbeitsplätze Süd-Politik verlangt die Bereitschaft zur Übernahme
brauchen wir, um den Bedarf von 4 Milliarden Men- ungeteilter Verantwortung und Solidarität, verant-
schen auf dieser Welt in kaufkräftige Nachfrage zu wortliches Handeln national und international! Auch
verwandeln. bei uns bedarf es dazu der Fortsetzung des notwendi-
gen Strukturwandels. Die Bemühungen von Bundes-
Dies bedeutet, daß die Industrialisierung der Dritten
wirtschaftsminister Jürgen W. Möllemann im Bereich
Welt ebenso unvermeidlich ist, wie wir sie als selbst-
des Subventionsabbaus sind in diesem Zusammen-
verständliche Grundlage unseres Wohlstands für uns
hang daher ausdrücklich zu unterstützen. Die Bun-
reklamieren. Natürlich muß solch eine Entwickung
desrepublik Deutschland wird sich weiterhin für eine
die Begrenztheit der natürlichen Ressourcen dieser kontinuierliche Zusammenarbeit mit der Dritten Welt
Erde im Auge behalten. Aber es macht keinen Sinn, einsetzen. Wir nehmen die Verantwortung in einem
sich vor diesem schwierigen Balanceakt zu drücken
besonderen Sinne der Wiedervereinigung an. Die
und den Entwicklungsländern statt dessen Beschei-
deutsche Verantwortung ist größer geworden. Dieser
denheit zu predigen. Wer eine so verstandene inter-
Haushalt macht es schon in einem Bereich deutlich:
nationale Solidarität will, der kommt nicht umhin, den Wir treten für die Leistungen, die bislang von der frü-
Entwicklungslände rn auch den Zugang zur modernen heren DDR getätigt wurden, alles in allem ein, aller-
Technologie zu öffnen, der muß zugeben, daß ohne dings nicht in unkri tischer Weise. Ich will es bildlich
moderne Kommunikationsmittel und ein leistungsfä- verdeutlichen.
higes Transportwesen die vor uns liegenden Aufga-
ben ebenso wenig zu meistern sind wie ohne eine gute Wenn früher die SED Versprechungen besonders
staatliche Verwaltung und ein selbstbewußtes Unter- politisch motivierter Art gegeben hat, so fällt das jetzt
nehmertum. - in die Verantwortlichkeit der Nachfolgeorganisation
PDS mit ihrem nicht kleinen Vermögen. Das ist nicht
Nur wenn wir die Armut in diesem Sinne überwin-
den, haben wir im Wettlauf mit der Zeit noch eine so ohne weiteres eine Aufgabe, die jetzt vom deut-
schen Steuerzahler automatisch zu übernehmen ist.
Chance.
Auf einen Teil der Faktendarlegung von meinen Vor-
rednern möchte ich nicht wiederholend eingehen. Ich
WernerZywietz (FDP): Dieser erste gesamtdeutsche möchte an dieser Stelle nur hervorheben, daß ein er-
Bundeshaushalt ist Ausdruck des historischen Wan- freulich breiter Konsens in den Haushaltsberatungen
dels, der sich mit der Überwindung der West-Ost- über die Strukturierung und Dotierung dieses Einzel-
Konfrontation, der Wiederherstellung der Deutschen plans zwischen FDP, CDU/CSU und SPD vorhanden
Einheit und der gewachsenen Verantwortung des ver- ist. Ich halte es für sehr erfreulich, daß es bei der
einigten Deutschlands in der Welt verbindet. Trotz Dritte-Welt-Politik, dieser besonderen Form einer äu-
gewaltiger einigungsbedingter Ausgaben im Inter- ßeren Politik, wenn ich so sagen darf, breite Überein-
esse einheitlicher Lebensverhältnisse in ganz stimmung gibt. Auch dies ist eine Form, durch ge-
Deutschland sowie erheblicher Belastungen durch meinsame Politik eine hohe Effizienz zu erreichen. An
den Golfkonflikt und zur Unterstützung des Reform- dieser Stelle möchte ich hinzufügen, daß der Bundes-
prozesses in Mittel- und Osteuropa ist beim Entwick- minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit Carl
lungshilfe-Etat 1991 ein guter Zuwachs zu verzeich- Dieter Spranger sich in sehr kurzer Zeit in die Materie
nen. Mit einem Volumen von fast 8 Milliarden DM dieses Hauses hineingefunden hat und mit Umsicht
steigt der Einzelplan 23 gegenüber dem Vorjahr um diesen Konsens von seiner Seite fördert. Dafür meinen
ca. 8 %, bereinigt um die Aufwendungen im Rahmen herzlichen Dank von seiten der FDP. Es ist gut, zwi-
der Golfsonderhilfe. Selbst unter Einbeziehung der schen der deutschen Entwicklungspolitik und der
1990 von der ehemaligen DDR gewährten Leistungen deutschen Außenpolitik Kongruenz und nicht Kon-
an Entwicklungsländer liegt der erste gesamtdeut- kurrenz festzustellen.
sche Entwicklungshilfeetat noch um drei Prozent über
Hilfe für die Dritte Welt ist nicht nur eine Frage des
der Gesamtsumme aller deutschen Entwicklungshil-
Volumens, sondern insbesondere der Effizienz. Dies
feleistungen des Vorjahres.
ist um so wichtiger, weil die Probleme, die zu Recht
Dies sind beachtliche Leistungen nicht nur in die- auch von seiten der SPD festgestellt wurden, geblie-
sem Jahr. Sie werden von unserem Staat seit Jahr- ben, vielleicht sogar gesteigert worden sind. Darum ist
zehnten erbracht. Dies ist, man muß es so sagen, leider aus Sicht der FDP der methodische Ansatz besonders
auch nach wie vor nötig. Denn die Probleme Bevölke- wichtig. Überwindung elementarer Lebensnot kann
rungswachstum, Armut und Unwissenheit sowie eine nur gelingen, wenn viel private Initiative entfacht und
zunehmende Gefährdung der Umwelt bestehen leider in Mitzieheffekte fortentwickelt werden kann. Dazu
in allzu vielen Teilen unserer einen und gemeinsamen ist eine sozial und ökologisch orientierte Marktwirt-
Welt fort. Darum ist eine wirksame Entwicklungszu- schaft das beste Instrument. Gerade angesichts der
sammenarbeit, die auf Eigenverantwortung, aber Entwicklungen in vielen Ländern wird deutlich, daß
auch auf Solidarität und Partnerschaft gegründet sein ein sozialistisch orientiertes System nicht in der Lage
muß, im Rahmen einer Weltinnenpolitik dringender ist, die erforderlichen Bedürfnisse der Menschen zu
denn je. Dazu bekennen wir ausdrücklich: Das ver- befriedigen. Darum haben wir mit Bedacht darauf ge-
einte Deutschland zieht sich nicht auf sich selbst zu- achtet, daß im Rahmen der Möglichkeiten alles, was
rück, und der bald bestehende Europäische Binnen Marktwirtschaft fördert, was menschliche Motivation
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2203'

fördert, was zu Mitwirkungs- und Mitzieheffekten Einzelpunkte akzeptabel. Die Art und Weise jedoch,
führt, Unterstützung aus diesem Haushalt erfährt. in der sie verknüpft und zueinander in Beziehung
gesetzt werden, offenbart tiefe Widersprüche.
Im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit wer-
den darüber hinaus die Bemühungen beim internatio- Der erste Widerspruch besteht zwischen Anspruch
nalen Umweltschutz eine noch bedeutendere Rolle und realen finanziellen Möglichkeiten dieser Kon-
spielen. Die auch auf Initiative der Bundesregierung zepte. Knappe 8 Milliarden DM nehmen sich nicht nur
vor kurzem geschaffene globale Umweltfazilität der neben einem Verteidigungshaushalt von mehr als
Weltbank stellt einen wichtigen Schritt auf dem Wege 52 Milliarden DM geradezu jämmerlich aus.
zur Schaffung einer Weltklima-Konvention dar. Zu
diesem neuen Finanzierungsinstrument trägt die Bun- Auch die gutwilligsten „Hochrechnungen", die mit
desrepublik Deutschland allein rund 266 Millionen einer nominalen Steigerung von 7,8 % argumentieren
DM bei. Die Bundesrepublik Deutschland leistet da- (die bei Berücksichtigung der hinzukommenden Ent-
mit, neben ihrer internationalen Vorreiterrolle im Be- wicklungshilfe der ehemaligen DDR auf etwa 3 % zu-
reich des Tropenwaldschutzes und einem Maßnah- sammenschrumpft), können nicht darüber hinweg-
menprogramm mit einem jährlichen Volumen von täuschen, daß nur 0,39 % des BSP für einen Bereich
300 Millionen DM, einen entscheidenden Beitrag zum zur Verfügung gestellt werden, der nach Aussagen
globalen Umweltschutz. der verantwortlichen Politiker in den Rang einer
„Weltinnenpolitik" erhoben werden muß. Damit liegt
Ich möchte allerdings anmerken, daß mit Blick auf der neue Entwicklungshilfeetat unter dem 1989 er-
den Volksmund, der da sagt: „Unglück schläft nicht" reichten Anteil am BSP von 0,41 % und ist weit davon
— und leider erreignet es sich auch global allzu häu- entfernt, sich den magischen, von der UNO für das
fig, wie die jüngsten Naturkatastrophen deutlich ma- Jahr 2000 vorgegebenen 0,7 % auch nur zu nähern.
chen — , hier zu Recht unbürokratisch und sofort hu-
manitäre Hilfe erfolgen muß. Es kann aber nicht sein, Während die skandinavischen Länder bereits 1989
daß diese Maßnahmen zu Lasten der finanziellen Zu- durchschnittlich 0,89 % ihres BSP für Entwicklungs-
sammenarbeit gehen und auch deren Strukturierung hilfe freistellten (Norwegen sogar 1,04 %), ist das in
somit erschweren. Hier müssen die entwicklungspoli- Umfang und Verantwortung gewachsene Deutsch-
tischen Instrumente neu überprüft werden. land nach Ende der Blockkonfrontation und Auflö-
Ein Weiteres, was bei der letzten Haushaltsdebatte sung des Warschauer Vertrages nicht in der Lage,
noch mehr als Eventualmöglichkeit angesprochen zumindest ähnliche Aufwendungen zu tätigen. Nie-
wurde. Die Veränderungen politischer und markt- mand spricht mehr von der gemeinsamen Beschluß-
wirtschaftlicher Art in den Staaten Mitteleuropas, hat empfehlung der Ausschüsse für wi rt schaftliche Zu-
sich erfreulicherweise weiterentwickelt. Hier wollen sammenarbeit der Volkskammer und des 11. Deut-
wir nicht abseits stehen. Hier müssen wir helfen auch schen Bundestages, bis 1995 die 0,7 %-Grenze in der
mit den Mitteln dieses Etats. Denn die ökonomische Bundesrepublik Deutschland zu erreichen.
und damit auch politische Entwicklung in unseren Angesichts derartiger Unterbewertung erscheint es
unmittelbaren östlichen Nachbarstaaten ist auch nachgerade müßig, die Verteilung der genannten
wichtig für unser aller Wohlergehen. Darum begrüßen Mittel detailliert zu bewerten.
wir die vorgesehenen Möglichkeiten, auch in Osteu-
ropa aus den Mitteln dieses Etats mitzuhelfen. So, wie sich die Situation jetzt darstellt, gehen so-
wohl die deutsche Wiedervereinigung als auch der
Die deutsche Entwicklungspolitik basiert auf einem
Aufbau in Osteuropa sowie der Drang Deutschlands
in sich geschlossenen politischen Gesamtkonzept, das
nach politischer Vormachtstellung und militärischer
von unserer gemeinsamen Verantwortung für eine
Einbeziehung sehr wohl zu Lasten der „Zwei-Drittel-
menschliche Entwicklung in allen Teilen der Welt ge-
Welt" . Das ist ein weiteres nicht eingehaltenes Wahl-
tragen wird. Der heute zur Beratung anstehende Ein-
versprechen, diesmal im internationalen Maßstab.
zelplan 23 leistet hierzu einen wichtigen Beitrag. Die
FDP-Bundestagsfraktion stimmt diesem Einzelplan zu Es erweist sich als recht aufschlußreich, auch die
und erwartet, daß Carl-Dieter Spranger und sein Haus Widersprüche zwischen Konzeption und praktischer
die für 1991 bereitgestellten Mittel und Verpflich- Umsetzung hinsichtlich der eingangs aufgeführten
tungsermächtigungen wirksam zur Bewältigung der Rahmenbedingungen zu analysieren und so zu einem
ökonomischen und ökologischen Herausforderungen substantiellen Kritikpunkt zu kommen.
in der Dritten Welt einsetzen. Hierbei haben Sie, Herr
Minister, und die Mitarbeiter im Geschäftsbereich Ih- Einhaltung der Menschenrechte und Demokratisie-
res Hauses auch weiterhin unsere volle Unterstüt- rung der Gesellschaft sind wichtige Kriterien der Ent-
zung, wenn es darum geht, die bestehenden Probleme wicklungshilfe. An der Objektivität ihrer Bewertung
in der Dritten Welt mit mehr Privatinitiative und öko- und Auslegung durch die Bundesregierung bestehen
logischem Augenmaß zu überwinden. jedoch meines Erachtens berechtigte Zweifel.
Die entwickelten Länder des Nordens, die mit ihrer
Dr. Ursula Fischer (PDS/Linke Liste): Das Thema ressourcenverschwendenden Produktions- und Le-
dieser Debatte ist der Etat des Bundesministers für bensweise die aktuellen Probleme dieser einen Welt
wirtschaftliche Zusammenarbeit. Es hat in den ver- originär verschuldet haben, maßen sich jetzt an, kraft
gangenen Wochen und Monaten sehr viele Ausagen ihres wirtschaftlichen und daraus resultierenden poli-
über die entwicklungspolitischen Konzeptionen des tischen und militärischen Machtpotentials mehr als
neuen Ministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit zwei Dritteln der Welt zu diktieren, was Entwicklung
gegeben. Diese Schwerpunkte und Kriterien sind als ist und wie man sie macht. Das ist nicht nur ungerecht
2204 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

und kurzsichtig, sondern zeugt auch von ungeheurer Lage und Bedrohungen der Zwei-D ri ttel-Welt „objek
Heuchelei. tiv" zu beruteilen und so auch das lohnende Rüstungs-
geschäft im Rahmen der Entwicklungspolitik zu in-
Der hochentwickelte Norden (bei all seiner inneren strumentalisieren, mehr noch ihre praktische Anwen-
Differenziertheit) ist nämlich dabei, durch massiven
dung lassen vermuten, daß eher die letztere Ausdeu-
Protektionismus, Internationalisierung seiner Struktu-
tung der Realität nahekommt.
ren und Institutionen und einen unverhohlenen Ab-
schottungskurs die von ihm verursachten internatio- Ich möchte an dieser Stelle nicht über den Offenba-
nalen Abhängigkeiten und Unrechtsverhältnisse zu rungseid des Staatssekretärs Lengl polemisieren, der
verewigen und wenn möglich auszubauen. sicherlich unfreiwillig oder doch zumindest zu einem
Gleichzeitig werden die Entwicklungsländer (und taktisch unklugen Zeitpunkte hat erkennen lassen, in
übrigens auch Osteuropa) mittels massiven ökonomi- welcher Weise Demokratie und Menschenrechte
schen und zunehmend auch militärischen Drucks an- durch das Ministerium für wirtschaftliche Zusammen-
gehalten, sich den Verwertungserfordernissen des in- arbeit und diese Bundesregierung interpretiert wer-
ternationalen Kapitals anzupassen, und sei es auch den sollen; oder fragen, warum Länder wie China,
um den Preis der Selbstzerstörung. Türkei, Isreal oder Pakistan Mittelzusagen von jeweils
über 100 Millionen DM im Rahmen der FZ erhalten
Die Folgen solcher Entwicklungsstrategien sind be- haben, obwohl die Menschensrechtssitutation gerade
kannt, berechenbar und einkalkuliert im weltweiten auch in diesen Ländern seit Jahren durch internatio-
Geschäft des Kapitals, obwohl immer mehr Stimmen nale Organisationen massiv kritisiert wird; oder
vor der selbstmörderischen Irrationalität der laufen- warum Nicaragua von jeglicher offizieller Entwick-
den Prozesse warnen, die unsere Welt ökologisch lungszusammenarbeit ausgenommen war und sich
nicht durchstehen wird. Aber es geht in der bundes- jetzt unter vergleichsweise miserablen Bedingungen
deutschen Entwicklungspolitik (so gut es engagierte der Roßkur von Strukturanpassungen unterwerfen
Entwicklungspolitiker auch meinen), letztendlich muß, die Gesundheits- und Bildungswesen um Jahr-
-
nicht um Problemlösung, sondern um Konfliktverwal- zehnte zurückwerfen und den größten Teil der Bevöl-
tung und Krisenmanagement. kerung an den Rand des Existenzminimums drücken;
Soziale Abfederung von Strukturanpassung wird oder Kuba .. .
nicht „erfunden" , weil ärmste und arme Bevölke- Die PDS/Linke Liste im Bundestag sieht die Ent-
rungsschichten an den Rand der Existenzmöglichkeit wicklungspolitik dieser Bundesregierung als ein wei-
gedrängt werden, sondern aus Sorge um die Funk- ters Mittel, politische Konformität weltweit durch In-
tionsfähigkeit der internationalen Finanzmärkte. Die strumentalisierung wirtschaftlicher Überlegenheit
als Folge von Verelendung im Zuge der Strukturan- durchzusetzen bzw. zu honorieren. Menschenrechte
passung auftretende politische Instabilität in Ländern und Demokratie verkommen zu leeren Worten, ver-
der „Dritten Welt" , die erschossenen Demonstranten gleichbar mit der Pervertierung des Beg riffes Völker-
und verhungernden Kinder sind für multinationale recht während des Golfkrieges.
Konzerne nur insofern beunruhigend, als sie geschäft-
liche Unwägbarkeiten verursachen. Deutschland hat auch auf dem zentralen und zu-
Das Argument für die „Bekämpfung" von Flücht- nehmend wichtigen Gebiet der Entwicklungszusam-
lingsströmen ist nicht das Elend und menschenunwür- menareit gehalten, was es im Zuge seiner Entwick-
dige Dasein der Betroffenen, sondern die den Europä- lung zu einem europäischen Machtzentrum ange-
ern eindringlich suggerierte Notwendigkeit des droht hat.
Selbstschutzes. Daß diese Argumentation nicht der
Entwicklung von Toleranz unter den Menschen, son-
Carl-Dieter Spranger, Bundesminister für wirt-
dern einer Abschottungsmentalität und einem noch
schaftliche Zusammenarbeit: Bundeskanzler Kohl hat
größeren Eurozentrismus dient, liegt auf der Hand.
in seiner Regierungserklärung vom 30. Januar 1991 in
Daß Angst die Bereitschaft zur Gewalt erhöht, ist
eindrucksvollen Worten ausführlich die große Bedeu-
ebenfalls kein Geheimnis und genausowenig zufäl-
tung der Entwicklungspolitik für Deutschland darge-
lig. stellt. Der Bundeskanzler betonte ausdrücklich, daß
Ein anderer Aspekt. Der Herr Staatssekretär Repnik wir uns nicht nur auf die Aufgaben in unserem Land
charakterisiert die Bedeutung der Entwicklungspoli- und Europa konzentrieren dürfen, sondern daß unsere
tik mit dem Beg ri ff „Weltinnenpolitik". Meint dieser Verantwortung nach der Wiedervereinigung vor al-
Begri ff die notwendige Demokratisierung der interna- lem gegenüber den Entwicklungsländern gewachsen
tionalen Beziehungen im Sinne einer gleichberechtig- ist. Die globalen Herausforderungen — er nannte vor
ten Partizipation aller Länder an den Regulierungs- allem Armut, Umweltzerstörung, aber auch die Ver-
prozessen, den Verteilungs- und Austauschverhält- schuldung und die Bevölkerungsexplosion in der Drit-
nissen bei gleichzeitigem generellen Schuldenerlaß ten Welt — verlangten eine intensivere internationale
und zeitlich befri steten Schonzeiten z. B. für LDC Zusammenarbeit.
Länder? Oder steht dieser Beg riff eher für das gene-
relle und uneingeschränkte Recht der Ersten Welt, auf Bundeskanzler Kohl erklärte, zuletzt am 20. Mai in
dieser einen Erde nach eigenem Ermessen schalten Washington:
und walten zu können? Wir müssen deshalb auch in Zukunft eine Entwick-
Die Kriterien für Rahmenbedingungen der Ent- lungspolitik fortsetzen, die den Ärmsten und
wicklungshilfe, zumal die jetzt explizit aufgenom- Schwächsten tatkräftig zur Seite steht — und die
mene Berechtigung der Geberländer, militärische ihnen vor allem hilft, sich selbst zu helfen.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2205'

Diese Äußerungen belegen, welchen hohen Stellen- Die Bundesregierung hat mit dem Etat 1991 die
wert die Bundesregierung der Entwicklungspolitik haushaltsmäßigen Konsequenzen aus ihren Zusagen
beimißt und beimessen wird. gezogen, die deutschen Beiträge für den Europäi-
Entwicklungshilfe lebt vom Verständnis der Men- schen Entwicklungsfonds und für die neunte Wieder-
schen füreinander und von unserer gemeinsamen auffüllung der Mittel für die Internationale Entwick-
Verantwortung für eine menschliche Entwicklung in lungsorganisation (IDA) deutlich zu erhöhen. Beide
allen Teilen der Welt. Bedürftigen Menschen zu hel- Fonds werden maßgeblich von uns mitfinanziert und
fen und für eine würdige Zukunft weltweit zu arbeiten unterstützen, wie Sie wissen, in erster Linie die ärm-
ist uns eine selbstverständliche humanitäre Verpflich- sten Länder in der Dritten Welt.
tung. Erstmals im Haushalt veranschlagt werden Mittel
für multilaterale Hilfen beim weltweiten Umwelt-
Zugleich gilt: Entwicklungspolitik ist partnerschaft-
schutz, die über die maßgeblich durch deutsche Initia-
liche Zusammenarbeit im gegenseitigen Interesse, sie
tive ins Leben gerufene Globale Umweltfazilität der
ist internationale Friedenspolitik. Entwicklungspolitik
Weltbank bereitgestellt werden. Für die multilaterale
trägt dazu bei, für alle Menschen in Nord und Süd die
Zusammenarbeit steht damit 1991 insgesamt fast ein
überlebenswichtigen natürlichen Lebensgrundlagen
D rittel unserer Ausgaben zur Verfügung, das sind
zu erhalten, und sie fördert die soziale und wirtschaft-
rund 2,54 Milliarden DM.
liche Entwicklung in der Dritten Welt.
Die Rolle der multilateralen Organisationen ge-
In den ersten Monaten im neuen Amt ging es mir winnt angesichts der globalen entwicklungspoliti-
zunächst darum, ein entwicklungspolitisches Schwer-
schen Herausforderungen weiterhin an Bedeutung.
punktprogramm für die kommenden Jahre zu erarbei- Dennoch lassen Sie mich eines deutlich machen: Die
ten. Zur Vorbereitung dieses Programmes habe ich unverzichtbare Säule unserer Entwicklungszusam-
eine Vielzahl von Gesprächen geführt, mit Bundes- menarbeit bleibt auch zukünftig die bilaterale Hilfe.
tagsabgeordneten aller Fraktionen und mit Vertretern Die bilaterale Hilfe muß gerade angesichts der ge-
der Parteien, mit ausländischen Repräsentanten und schilderten Befürchtungen unserer Partnerländer ihre
Botschaftern aus der Dritten Welt, mit Ministerkolle- politische Bedeutung als Ausdruck und Markenzei-
gen aus anderen Gebernationen und mit zahlreichen
chen der gestiegenen Verantwortung behalten, die
Experten. Gesprochen habe ich auch intensiv mit Ver- das vereinigte Deutschland weltweit zu übernehmen
tretern von Kirchen und Nicht-Regierungsorganisa- bereit ist.
tionen sowie der deutschen Wirtschaft.
Gut 110 Millionen DM des Zuwachses des Einzel-
Die Zustimmung, die meine Arbeit dabei erfahren plans 23 dienen dazu, Entwicklungshilfemaßnahmen
hat, hat mich darin bestärkt, daß der politische Stel- der ehemaligen DDR unmittelbar weiterzuführen, im
lenwert der Entwicklungspolitik zunehmen wird. Der wesentlichen in der Aus- und Fortbildung, der bilate-
Grundkonsens in unserem Land über die Notwendig- ralen Technischen Zusammenarbeit und beim Deut-
keit eines Ausgleichs zwischen Nord und Süd bietet schen Entwicklungsdienst. Dazu gehören auch Mittel
eine notwendige und tragfähige Grundlage für die für die Wiedereingliederung der ausländischen Ar-
deutsche Entwicklungspolitik. Diesen Konsens zu er- beitnehmer in der DDR, die in ihre Heimatländer zu-
halten, zu festigen und weiter auszubauen habe ich rückkehren. Das bet rifft in erster Linie Vietnamesen
mir zur Aufgabe gemacht. und Mosambiquaner.
Die Wiedervereinigung Deutschlands ist auch in Auch die Mittel für die Arbeit der nichtstaatlichen
den Ländern der Dritten Welt vielfach begrüßt wor- Träger, insbesondere der Kirchen und der politischen
den. Davon konnte ich mich vielfach überzeugen. Sie Stiftungen, werden um 32 Millionen DM erhöht. Ins-
war aber auch von der Sorge begleitet, daß Deutsch- gesamt stellen wir für beide Kirchen Mittel in Höhe
land sich in Zukunft stärker darauf konzentrieren von 290 Millionen DM bereit. Damit haben wir in un-
wird, seine eigenen politischen und wirtschaftlichen serem Haushaltsentwurf 1991 deutliche Akzente ge-
Probleme zu lösen. Mittlerweile konnte ich deutlich setzt.
machen: Diese Sorgen sind unbegründet.
Für die bilaterale Finanzielle und Technische Zu-
Der Haushaltsentwurf für den Einzelplan 23 für das sammenarbeit haben wir im Finanzjahr 1991 knapp
Haushaltsjahr 1991 belegt: Auch in diesem Jahr wol- die Hälfte der Ausgaben, also 3,77 Milliarden DM,
len wir, ungeachtet der angespannten Finanzlage, un- sowie Verpflichtungsermächtigungen in Höhe von
sere Mittel für die Dritte Welt weiter steigern. Weder 4,1 Milliarden DM vorgesehen. Wir hatten uns dabei
die Finanzierung von Einheit und Wiederaufbau im an der mittelfristigen Finanzplanung zu orientieren.
Osten Deutschlands noch die zusätzlichen Anforde- Viele Entwicklungsländer nehmen die ihnen zuge-
rungen, die durch den Golfkrieg entstanden sind, ge- sagten Mittel erheblich schneller in Anspruch als noch
hen zu Lasten der Entwicklungshilfe. vor wenigen Jahren. Dies und der verstärkte Abfluß
Der Haushaltsentwurf ist die Bestätigung der An- unserer multilateralen Mittel in den nächsten Jahren
kündigungen des Bundeskanzlers in seiner Regie- führen dazu, daß wir die Höhe unserer Verpflich-
rungserklärung. Mit 7,96 Milliarden DM Volumen er- tungsermächtigungen leicht zurücknehmen mußten.
gibt sich für den Einzelplan 23 gegenüber 1990 ein Das ist kein Signal für eine Kürzung der deutschen
Zuwachs von fast 600 Millionen DM. Dies entspricht Entwicklungshilfe. Denn entscheidend sind nicht die
einer Steigerung gegenüber dem Vorjahr von 7,9 %. veranschlagten Verpflichtungsermächtigungen, son-
Mit rund 425 Millionen DM entfällt ein wesentlicher dern der tatsächliche Transfer von Mitteln in unsere
Teil der zusätzlichen Mittel auf den multilateralen Partnerländer. Und dieser wird durch die gestiegenen
Bereich. Ausgabenansätze erhöht.
2206' Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991

Bei der regionalen Verteilung unserer Hilfszusagen Staatssekretär Lengl hielt sich vom 25. Mai bis zum
liegen, wie in den Vorjahren, Afrika und Asien an vor- 1. Juni in China auf, um Regierungsverhandlungen
derster Stelle. Die Anteile für diese beiden Kontinente vorzubereiten. Es wurde besprochen, vorrangig Pro-
bewegen sich seit Jahren um jeweils rund 40 % Für jekte in den genannten Bereichen zu unterstützen. Er
die Opfer der verheerenden Flutkatastrophe in Bang- hat in seinen Gesprächen mit dem chinesischen Mini-
ladesch stellen wir in diesem Jahr 30 Mi llionen DM als sterpräsidenten Li Peng und anderen Regierungsver-
Soforthilfe für den Wiederaufbau zur Verfügung. tretern die eindeutige Haltung der Bundesregierung
Katastrophen und die Schwierigkeiten der Staaten und ihre Verurteilung der Ereignisse am Platz des
der Dritten Welt, mit deren Folgen fertigzuwerden, Himmlischen Friedens am 3. und 4. Juni 1989 deutlich
neben zu. Wir brauchen daher auch zukünftig ausrei- gemacht. Wie nachdrücklich Staatssekretär Lengl für
chend Mittel, um flexibel in akuter Not helfen zu kön- die Einhaltung der Menschenrechte und die Freilas-
nen. Dennoch dürfen wir nicht die künftigen Perspek- sung von Inhaftierten eingetreten ist, zeigt eine Nach-
tiven aus dem Auge verlieren und vergessen, daß vor richt aus China, die mich soeben erreicht hat und die
allem die längerfristig wirksame Entwicklungszusam- ich mit Freude an Sie weitergebe. Die Botschaft in
menarbeit notwendig ist. Peking teilt mit, daß die Justizbehörden gestern be-
schlossen haben, zwei chinesische Katholiken aus der
Die deutsche Entwicklungspoliltik konzentriert sich Haft zu entlassen. Nach letzter Auskunft der Botschaft
auf wichtige Schlüsselbereiche : Armutsbekämpfung, befinden sie sich auf freiem Fuß.
Umwelt- und Ressourcenschutz, Bildung, Familien-
planung, Gesundheit, Förderung privatwirtschaftli- Es kann also keine Rede davon sein, daß Staatsse-
cher Initiativen, und, wo relavant, Drogenbekämp- kretär Lengl zu irgendeinem Zeitpunkt die politische
fung, werden noch mehr als bisher im Zentrum unse- Situation in China oder die Menschenrechtsverletzun-
rer entwicklungspolitischen Aktivitäten stehen. gen beschönigt oder gar gebilligt hat.
Hier möchte ich nur einige wenige Zahlen heraus- Sie können sicher sein, meine Damen und Herren,
stellen: Auf den Bereich der Grundbedürfnisbefriedi- daß ich wie in der Vergangenheit auch zukünftig dem
gung, ein Teilindikator für die Armutsbekämpfung, Thema Menschenrechte entscheidende Bedeutung in
werden 1991 rund 49 % (Soll 1990: 45 %; Ist 1989 der Entwicklungszusammenarbeit zumessen werde
33,8 %) unserer Zusagen im Rahmen der Finanziellen und daß ich dafür eintrete, gleiche Maßstäbe und glei-
und Technischen Zusammenarbeit entfallen. che Konsequenzen gegenüber allen entsprechenden
Der Umwelt- und Ressourcenschutz wird einen An- Regierungen geltend zu machen.
teil von 20 % haben. Der Tropenwaldschutz, für den Die Vergabe deutscher Hilfe wird sich auch weiter-
wir mehr als 300 Millionen DM bereitstellen, wird da- hin daran orientieren, inwieweit die Regierungen der
bei im Mittelpunkt stehen. Entwicklungsländer eine Politik verfolgen, die dem
Auf die Projekte im Bereich der selbsthilfeorientier- Wohle der Menschen dient. Hilfe zur Selbsthilfe be-
ten Armutsbekämpfung entfallen erstmals 10 % unse- deutet eben auch: Wo der Staat die Entfaltung der
rer Zusagen in der FZ und der TZ. Eigeninitiative unterdrückt, kann finanzielle Hilfe von
außen wenig bewirken.
Mit 17 % unserer Mittel in der Technischen Zusam-
menarbeit fördern wir Bildungsmaßnahmen. Dazu ge- Deshalb unterstreicht die Regierungserklärung be-
hören insbesondere die Grundbildung sowie die be- sonders die Bedeutung der unternehmerischen Initia-
rufliche Aus- und Fortbildung. tive als Motor der wirtschaftlichen Entwicklung auch
Lassen Sie mich gerade angesichts der vorgesehe- in der Dritten Welt. Eine marktwirtschaftlich ausge-
nen erheblichen Haushaltssteigerungen unterstrei- richtete Wirtschaftsordnung mit sozialer und ökologi-
chen: Auch in Zukunft werden wir unsere Entwick- scher Verantwortungsbereitschaft des einzelnen ist
lungshilfe nicht in Fässer ohne Boden geben. auch dort das geeignete Fundament für eine nachhal-
tige Entwicklung.
Erfolgreiche Armutsbekämpfung, dauerhafte Ent-
wicklung und Freiraum für privatwirtschaftliche Wir prüfen daher neue Wege, wie wir die produkti-
Initiativen, Teilhabe aller Bevölkerungsgruppen an ven Kräfte der Armen über privatwirtschaftliche
politischen Entscheidungen, Rechtsstaatlichkeit, Strukturen noch effizienter fördern können. Meine
Rechtssicherheit und nicht zuletzt Achtung der Men- Damen und Herren, die wirksame Bekämpfung der
schenrechte bedingen einander. Armut und ihrer Ursachen ebenso wie die Bewälti-
gung der neuen globalen entwicklungspoltischen
Was unsere Zusammenarbeit mit China angeht, so Herausforderungen der neunziger Jahre — ich nenne
halten wir uns strikt an den Beschluß des Deutschen als Stichwort nur die globale Umweltproblematik —
Bundestages vom 30. Oktober 1990. Wir müssen zur verlangen uns auch in den nächsten Jahren weitere,
Kenntnis nehmen, daß in China Hunderte Millionen gemeinsame Anstrengungen ab. Mein herzlicher
Menschen unterhalb der Armutsgrenze leben. Wenn Dank gilt daher dem Haushaltsausschuß, insbeson-
wir Entwicklungshilfeprojekte vorbereiten wollen, so dere den Berichterstattern, und dem AwZ für eine
müssen sie zur Armutsbekämpfung bzw. zum Schutz gute Zusammenarbeit. Damit verbinde ich die Hoff-
der Umwelt oder zur Reform der chinesischen Wirt- nung, daß wir auch in Zukunft einen breiten Konsens
schaft beitragen. für die eine Politik finden, die für die Menschen in der
Zu der Diskussion um den Besuch von Staatssekre- Dritten Welt und auch in unserem Land von großer
tär Lengl möchte ich kurz folgendes anmerken. Bedeutung ist.

Das könnte Ihnen auch gefallen