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Stenographischer Bericht
28. Sitzung
Inhalt:
Begrüßung des Speakers des Repräsentan- Dr. Dagmar Enkelmann PDS/Linke Liste 2085 A
tenhauses von Malaysia und einer parla-
mentarischen Delegation 2061 A Arnulf Kriedner CDU/CSU 2085 B
Vera Wollenberger Bündnis 90/GRÜNE 2086 C
Erweiterung der Tagesordnung 2061 B
Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler 2091 A
Begrüßung der Vizepräsidentin des Natio-
nalrates der Republik Österreich . . . . 2068 B Wolfgang Roth SPD 2102 C
Dr. Otto Graf Lambsdorff FDP 2076 B Clemens Schwalbe CDU/CSU 2119C
Ingrid Matthäus-Maier SPD 2080 C Werner Schulz (Berlin) Bündnis 90/GRÜNE 2120A
Volker Jung (Düsseldorf) SPD 2123 B
Dr. Gregor Gysi PDS/Linke Liste 2081 D
Jürgen W. Möllemann, Bundesminister
Hans-Ulrich Köhler (Hainspitz) CDU/CSU 2084 D BMWi 2125A
II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991
2159B Anlage 2
Dr. Jürgen Rüttgers CDU/CSU
Zu Protokoll gegebene Rede zum Einzel-
Dr. Gregor Gysi PDS/Linke Liste 2160D
plan 30 — Geschäftsbereich des Bundesmi-
Uwe Lühr FDP 2161C nisters für Forschung und Technologie
(Drucksachen 12/524, 12/530)
Dr. Ulrich Briefs PDS/Linke Liste . . . 2162 B
Dr. Heinz Riesenhuber, Bundesminister
Hans-Jürgen Kronberg CDU/CSU . . . 2162C BMFT 2179* C
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Dieses Ziel, meine Damen und Herren, ist nur er- (Dr. Alfred Dregger [CDU/CSU]: Täuschen
reichbar, wenn wir die Fundamente, auf denen unsere Sie doch nicht! Sagen Sie selber die Wahr-
Republik steht, stärken, statt sie zu schwächen. Zu heit!)
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2063
Volker Rühe
größte Distanz zum Sozialismus hatte. Das waren hätten einen historischen Fehler gemacht, wenn wir
nicht Sie. Das waren wir, und das bleiben wir auch. Ihnen gefolgt wären.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ordneten der FDP) Wir haben Fehler gemacht. Aber nur durch uns sind
Sie haben damals von einem dritten Weg gespro- große, nicht wieder gutzumachende historische Feh-
chen. Es gibt bei Ihnen schon jetzt wieder Leute, die ler vermieden worden. Deswegen sage ich Ihnen:
sagen, es sei auch eine Chance, daß der reale Sozia- Meine Partei ist stolz darauf, in einer zentralen Frage
lismus gescheitert sei; denn jetzt könne man wieder der deutschen Politik nicht versagt, sondern die rich-
über die Utopie sprechen und sozusagen einen näch- tigen historischen, politischen Entscheidungen getrof-
sten Anlauf machen. Nein, Sie sind nicht gewählt wor- fen zu haben.
den, weil Sie in der damaligen Auseinandersetzung (Beifall bei der CDU/CSU — Ministerpräsi
die Distanz zum Sozialismus nicht glaubwürdig einge- dent Björn Engholm [Schleswig-Holstein]
halten haben. wird von Abg. Dr. Gregor Gysi [PDS/Linke
Liste] beglückwünscht — Zurufe von der
(Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der CDU/CSU: Oh!)
SPD: Hamburg!)
— Jetzt nimmt er schon die Glückwünsche von Herrn
— Ich kenne natürlich auch Hamburg. Aber jetzt re- Gysi entgegen. Ich dachte, diese Zeiten wären vor-
den wir doch über Ihre Behauptung, wir hätten uns bei.
den Wahlsieg erschlichen.
(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP —
(Beifall bei der SPD) Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sie können es
Deswegen sage ich Ihnen, warum wir diese histori- nicht lassen! — Dr. Hans-Jochen Vogel
schen Bundestagswahlen gewonnen haben. [SPD]: Sowas mieses!)
Volker Rühe
doch beschämend, wie Sie sich damals verhalten ha- Besonders überrascht hat mich die Bemerkung über
ben. das Buch von Konrad Seitz. Da ich das Buch selber
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gelesen habe und auch viel mit dem Verfasser gespro-
chen habe, freue ich mich zunächst einmal, daß Sie es
Im übrigen hat sich die Blauhelmdiskussion doch aus ansprechen. Daß aber ausgerechnet Sie uns Japan als
der Situation des Golfkrieges ergeben. Vorbild hier vorhalten, wo Sie ansonsten für die 35-
Herr Gansel, wir waren doch zusammen in Israel. Stunden-Woche und ähnliches eintreten, dazu kann
Deswegen ist es so beschämend, daß dazu kein Wort ich nur sagen: Sie haben ein weites Feld der Arbeit in
von Björn Engholm gekommen ist. Es kommt doch Ihrer Partei, um dort die Japaner als unser Vorbild
darauf an, konkrete Friedenspolitik zu machen. Das durchzusetzen.
heißt: Wie bekommt der Israeli in den Wohnungen (Beifall bei der CDU/CSU)
und Straßen von Tel Aviv seinen Frieden vor den
Scud-Raketen? Den bekommt man doch nicht durch Ich frage Sie: Wie stehen Sie zu dem Industrie-
Moralisieren und durch Schweigen; das wissen Sie standort Bundesrepublik in Europa? Wir wollen, daß
doch ganz genau. Es geht doch um konkrete Frie- durch die staatlichen Rahmenbedingungen deutsche
denspolitik. Unternehmen nicht schlechtergestellt sind als ihre
Konkurrenten in den europäischen Nachbarstaaten.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Deswegen, Herr Engholm, frage ich Sie ganz konkret:
Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Das ist Wie stehen Sie zu Plänen, die Wettbewerbsfähigkeit
doch unglaublich, was Sie da sagen! Sie lü unserer Industrie und damit auch die Arbeitsplätze in
gen schon wieder! Moralisch abqualifi Deutschland durch eine Reform der Unternehmens-
ziert!) besteuerung zu sichern? Auch dazu muß ein Wort
Lafontaine hat im vergangenen Jahr, unwiderspro- kommen, wenn Ihnen die Wettbewerbsfähigkeit am
chen von der Parteiführung, gefordert, daß die Bun- Herzen liegt.
deswehr auf 200 000 bis 230 000 Mann -verkleinert (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
wird. Sie haben auf Ihrem SPD-Parteitag jetzt sogar
beschlossen, langfristig alle Streitkräfte überflüssig zu Sie haben dann über das Asylproblem gesprochen.
machen. Herr Engholm, ich frage Sie: Stehen Sie zu Es gibt eine größere und wachsende Zahl von sozial-
einer Bundeswehr in einer Größenordnung von demokratischen Bürgermeistern, die begreifen, daß es
370 000 Mann? Stehen Sie zu dem Auftrag der Bun- mit dem Mißbrauch des Asylrechts so nicht weiterge-
deswehr, zu unseren Streitkräften? Auch dazu hätte hen kann. Aber auch dazu gibt es von Ihnen keine
ich mir ein Wort gewünscht. konkreten Angebote, sondern nur eine leere Formel:
Wir brauchten ein modernes Einwanderungsrecht.
(Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Nur wenn
es um Stationierung vor Ort geht, dann ja!) Nun frage ich Sie, Herr Engholm: Was meinen Sie
damit? Meinen Sie, daß wir Quoten einführen sollen
Wie sehen Sie die Rolle der NATO? und Ausländer nur quotiert in unser Land kommen
(Freimut Duve [SPD]: Ist das wirklich die sollen, oder sind Sie mit uns der Meinung, daß wir eine
Rede eines führenden CDU-Politikers?) Grundgesetzänderung brauchen, um den Asylmiß-
brauch abzuwenden und gemeinsam mit unseren eu-
In dem Beschluß, den Sie auf Ihrem Parteitag gefaßt ropäischen Nachbarn Standards zu schaffen?
haben, kommt die NATO nur im negativen Sinne vor.
Es wird der Abzug aller Ame ri kaner gefordert, und es (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
wird davor gewarnt, daß aus der NATO ein Bündnis ordneten der FDP)
Nord gegen Süd wird. Mit einer solchen Formel „modernes Einwanderungs-
Für uns bleibt die NATO die Grundlage unserer recht" — alles, was modern ist, ist ja gut — werden Sie
Sicherheit. Dort schaffen Ame ri kaner und Europäer nicht durchkommen. Sie müssen hier Farbe beken-
die gemeinsame Sicherheit, die wir auch in Zukunft nen, was Sie wirklich wollen.
brauchen. Es gibt kein Wort von Ihnen, wie Sie zu Ich finde, wir hätten auch ein Wort von Ihnen zur
dieser Nordatlantischen Verteidigungsgemeinschaft Verfassungsdiskussion gebraucht, denn hier gibt es
stehen. sehr weitreichende Vorstellungen in Ihrer Partei. Sie
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) haben sich zur Volksabstimmung in der Frage des
Regierungssitzes bekannt. Ich muß Ihnen sagen: Das
Wir wollen den raschen Aufbau in den neuen Bun-
ist eine Politik, die unser Land zutiefst spalten würde.
desländern. Sie haben es selbst angesprochen, daß
Deswegen unterstütze ich alle diejenigen, die sich um
wir wenig Zeit haben. Der Verkehrsminister hat un-
einen Konsens bemühen, damit es am 20. Juni hier in
konventionelle Wege vorgeschlagen,
diesem Raum eine befriedende Lösung gibt.
(Lachen bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —
damit schneller gebaut werden kann. Sie wissen, was Manfred Opel [SPD]: Sie stört das Volk offen-
das auch für Schleswig-Holstein bedeutet. Ich frage sichtlich!)
Sie ganz konkret, Herr Engholm: Wie stehen Sie zu
einem Beschleunigungsgesetz? Wie stehen Sie dazu, Wir müssen die Verfassung europatauglich machen.
daß wir bürokratische Hürden abschaffen müssen, um (Wolfgang Roth [SPD]: Ist die Schweiz zu-
schnell Fortschritte für unsere Mitbürger zu errei- tiefst gespalten?)
chen? — Wer uns mit der Schweiz vergleichen will — von der
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Größenordnung her — und wer im übrigen die Pro-
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Volker Rühe
blerne dort nicht sieht, der hat nicht begriffen, was wir neuen Bundesländern gibt, die sehr problemgeladen
uns aufladen würden, wenn wir plebiszitäre Elemente ist.
in unsere Verfassung einführten. Ich finde, wir müssen uns mit der Frage auseinan-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dersetzen, ob wirklich der Vergleich zwischen Dres-
den und Köln, Rostock und München überhaupt legi-
Wir haben eine gute Verfassung, eine Verfassung, tim ist. Wer heute solche Vergleiche anstellt, verbin-
die nach innen und außen Stabilität und Vertrauen det doch damit die Erwartung, daß bereits im Jahr 1
signalisiert. Deswegen auch die Frage an Sie: Wollen des wiede rvereinigten Deutschland die Spuren von
Sie eine ganz andere Verfassung? Wollen Sie dort z. B. 40 Jahren gescheitertem Sozialismus beseitigt sind.
Rechte hineinschreiben wie das Verfassungsrecht auf Eine solche Betrachtungsweise ist doch unrealistisch
Arbeit und andere, die nur ein Staat garantieren und für die politische Diskussion nicht brauchbar.
könnte, der auch wirklich über die Produktionsmittel
verfügt? Der richtige Vergleichsmaßstab für die Lage in den
neuen Ländern findet sich in der Gegenüberstellung
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Du lieber mit den anderen ehemals sozialistischen Staaten. Und
Gott, nein!) dann müssen Sie feststellen: Es gibt einen gewaltigen
Wer heute eine ganz neue Verfassung fordert, Fortschritt in Deutschland.
(Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: „Neue (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Republik" haben die gesagt!) Umfragen zeigen, daß die Hoffnung zunimmt. Der
der muß sich fragen lassen, ob er nicht in Wirklichkeit wirtschaftliche Strukturwandel ist in Gang gekom-
auch eine ganz neue Gesellschaftsordnung, einen men. Über 1 600 Bet riebe wurden bereits privatisiert.
ganz neuen Staat fordert. Das kann nicht unser Ziel Seit Anfang 1990 sind rund 350 000 Bet riebe, vor al-
sein. lem im Dienstleistungsbereich und im Handwerk, neu
entstanden, ferner 2 Millionen neue Beschäftigungs-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) verhältnisse im Zeitraum November 1989 bis zum
Die Wirtschafts- und Währungsunion ist vor weni- heutigen Tage. Allein in diesem Jahr 50 Milliarden
ger als einem Jahr in Kraft getreten. Die deutsche Ein- DM öffentliche Investitionen zur Modernisierung der
heit wurde vor acht Monaten vollzogen. Ich finde, es Infrastruktur. Ich meine, alle diese Zahlen stehen
ist wichtig, in dieser Situation den Menschen in den eben auch für eine Wende zum Besseren.
neuen Ländern auch Mut und Zuversicht zu vermit- Erstmals nehmen auch die Rentner an einem
teln, gegen Resignation und Zukunftsangst anzuge- System des dynamischen Fortschritts teil. Norbe rt
hen. Deshalb möchte ich ausdrücklich den sächsi- Blümhatesirvognpche:Iralb
schen Bischöfen danken, die in der Woche vor Pfing- von 12 Monaten sind die Renten im Schnitt um 66 %
sten gemeinsam festgestellt haben: gestiegen. Deswegen möchte ich angesichts der An-
Die bereits gewonnene Freiheit, die wachsende griffe, die auch vorgestern wieder gegen Norbert
Einheit und die demokratische Grundordnung Blüm gefahren worden sind, sagen: Wir sind dem Ar-
sind bei weitem wertvoller als der noch nicht er- beitsminister, der sich von der ersten Minute an mit
reichte wirtschaftliche Aufschwung. heißem Herzen für die Wiedervereinigung und auch
für die soziale Einheit in Deutschland eingesetzt
Ich finde, das sollte ein Satz sein, der von allen Par- hat,
teien in diesem Parlament mitgetragen wird.
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Wer hat denn
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie die Sozialunion gemacht?)
bei Abgeordneten der SPD)
für die großen Erfolge dankbar, die er hier bereits
Die Wiederherstellung der Einheit hat allen Deut- durchgesetzt hat, z. B. für die Rentner.
schen Vorteile gebracht. Unfreiheit, Unrecht und Tei-
lung wurden überwunden. Aber wir sollten — und wir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
sind dazu bereit — in der Diskussion, die wir führen, Die Sozialdemokraten — ob es ihnen gefällt oder
nicht den Fehler machen, je nach parteipolitischem nicht —
Standpunkt die Realität entweder in Rosarot oder in
(Freimut Duve [SPD]: Ihre Rede ist weit mehr
Tiefschwarz zu beschreiben, wobei sich das ohnehin
heiße Luft als Substanz!)
überkreuzt: die Roten schwarzmalen und die Schwar-
zen rosarot. Das ist nicht überzeugend. Probleme dür- müssen sich entscheiden: Wollen Sie an dem schwie-
fen nicht verniedlicht werden, aber Erfolge auch nicht rigen Aufbau in den neuen Bundesländern konstruk-
unterschlagen werden. tiv mitarbeiten, oder wollen Sie auf den Marktplätzen
die Krise schüren? Sie müssen sich entscheiden: Wol-
Wer von Kosten und Lasten redet, der sollte gerech-
len Sie Mut machen, oder wollen Sie miesmachen?
terweise auch von den Chancen und den Erträgen
Und Sie müssen sich auch entscheiden, ob Ihre Sym-
sprechen. Die Fakten, die es schon heute auf der Ha-
pathie dem Eierwerfer von Halle oder den Menschen
benseite einer Zwischenbilanz gibt, dürfen nicht un-
gehört, die anpacken und versuchen, die Wende zum
terschlagen werden.
Besseren in Deutschland wirklich herbeizuführen.
Später wird auf die sehr gute wirtschaftliche Situa-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
tion im Westen hingewiesen werden, auf den höch-
sten Beschäftigungsstand seit Kriegsende. Das ändert Es gibt in Ihren Reihen ganz interessante Vorgänge:
nichts daran, daß es eine tiefe Anpassungskrise in den Der Ministerpräsident von Brandenburg, Herr Stolpe,
2074 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991
Volker Rühe
hat sich auch in dieser Woche wieder lobend dahin auch nicht reibungslos zu bewältigen. Es gibt an den
geäußert, wie vernünftig die Politik für die Herstel- Universitäten der neuen Länder — übrigens nicht nur
lung der inneren Einheit Deutschlands sei, welche dort — sicherlich mehr als 10 000 Werke, in denen die
Fortschritte es gegeben habe und daß es nicht um Umwandlung einer „kapitalistischen" Wirtschaft in
zusätzliche Vorschläge gehe, sondern jetzt darauf an- eine sozialistische beschrieben wird. Aber weltweit
komme, die schon gemachten Vorschläge auch umzu- existiert — das ist meine Behauptung — nicht ein ein-
setzen. ziges wissenschaftliches Werk, das den umgekehrten
Weg beschreiben würde.
Auf Ihrem Parteitag hat er ganz anders geredet. Das
will ich ihm einmal einen Moment lang nicht vorwer- (Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: So ist
fen. Viel interessanter ist, was man sagen muß, um auf es!)
einem SPD-Parteitag gewählt zu werden. Das ist doch
das eigentlich Interessante daran. Wir alle betreten hier Neuland. Es wäre doch absurd,
daraus einen politischen Vorwurf zu konstruieren
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU so oder gar die Behauptung aufzustellen, man verfüge
wie bei Abgeordneten der FDP) über andere und neue Rezepte, die schneller und bes-
Es ist schon bestürzend, daß ein Mann, der zwölf Mo- ser zum Ziel führen würden, als wir uns das vorge-
nate — darauf beruht ja auch seine Popularität; ich nommen haben.
schätze ihn sehr, ich kenne ihn lange — die Wahrheit (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
gesagt hat, Herr Engholm, nämlich daß es Fortschritte
gibt, daß die Politik der Bundesregierung völlig richtig Der wirtschaftliche Aufbau in den neuen Ländern
ist — er hat mir wörtlich gesagt, als ich ihn besucht wird oft mit dem Aufbau in den 50er Jahren in der
habe: Die Lage ist weit besser als die Stimmung —, alten Bundesrepublik verglichen. Richtig an diesem
das Kreuz hat, zu Ihrem Parteitag gehen zu müssen Vergleich ist, daß der Aufschwung auch damals nicht
und sich dort wählen zu lassen. Und dort sagt er genau über Nacht gekommen ist. Es bedurfte damals mehre-
das Gegenteil dessen, was er sonst gesagt - hat. Das rer Jahre harter Arbeit, bis ein erster bescheidener
sagt nichts gegen Stolpe, aber das sagt alles gegen die Wohlstand erreicht worden war. Aber wie ungleich
Art der Diskussion in Ihrer Partei. Denn Stolpe ist sind doch die Rahmenbedingungen, unter denen sich
schnell wieder zu seinen alten Aussagen zurückge- der wirtschaftliche Umstrukturierungsprozeß heute
kehrt. vollzieht. Während der Marshallplan — es ist eine
ganz wichtige Zahl, die ich jetzt nenne, und die Älte-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — ren werden sich genau daran erinnern, und die Jün-
Freimut Duve [SPD]: Das war ein gewaltiger geren müssen das wissen — für jeden Einwohner im
rheto rischer Sieg, den Sie da gerade errun Westen Deutschlands seinerzeit 800 DM vorsah, sind
gen haben! — Dr. Herta Däubler-Gmelin es heute 6 100 DM pro Bürger in den neuen Bundes-
[SPD]: Salto mortale rückwärts!) ländern, die im Rahmen des Gemeinschaftswerkes
Ich denke aber, über einen Punkt sollte es zwischen Aufschwung Ost zur Verfügung gestellt werden. Ich
Demokraten keinen Dissens geben: Der Weg in finde, das ist ein historisch bedeutender Einsatz, der
Deutschlands gemeinsame Zukunft kann mit den Re- sich auch in dieser historischen Perspektive sehen las-
präsentanten des alten SED-Regimes nicht gelin- sen kann.
gen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Ing ri d Matthäus-Maier [SPD]: Das ist rich- Ich weiß natürlich, daß heute psychologisch eine
tig!) schwierigere Situation gegeben ist; denn damals ha-
Dem demokratischen Neubeginn muß auch eine per- ben alle bei Null angefangen. Es ging sozusagen allen
sonelle Erneuerung entsprechen, in einem Land gleich schlecht. Es ist ein psychologi-
sches Problem, das wir heute haben. Trotzdem sollten
(Zuruf von der SPD: Auch bei Ihnen!) wir, was diesen materiellen Einsatz der Solidarität
damit sich die Opfer von einst nicht ein zweites Mal angeht, auf diesen historischen Vergleich hinwei-
betrogen fühlen müssen. Wer sich im SED-Staat in sen.
führender Position schuldig gemacht hat, muß nach Ich kann keine neuen Vorschläge der Sozialdemo-
rechtsstaatlichen Grundsätzen zur Verantwortung ge- kraten entdecken. Herr Stolpe, vorhin zitiert, hat ge-
zogen werden. sagt: Jetzt sind wir dran, die politisch Verantwortli-
(Zustimmung bei der CDU/CSU) chen in den neuen Bundesländern. Was nützt es uns,
wenn wir noch mit weiteren Investitionsmitteln zuge-
Wir wollen keinen kurzen Prozeß; aber gutes Recht schüttet werden, wenn wir sie nicht umsetzen kön-
muß auch schnelles Recht sein. Es darf nicht der Ein- nen? — Das ist eine richtige Aussage.
druck entstehen, daß der Staat vor denen kapituliert,
die in der Vergangenheit vom Unrecht profitiert ha- Herr Engholm, in Ihrer Rede hat die Solidarität als
ben. Begri ff eine große Rolle gespielt. In der Tat ist es die
Pflicht zur Solidarität, die uns diese große finanzielle
(Ing ri d Matthäus-Maier [SPD]: Das ist rich Kraftanstrengung machen läßt: 90 Milliarden DM al-
tig!) lein in diesem Haushalt für die neuen Bundesländer.
Es ist wahr: Die Herstellung der inneren Einheit Aber wir müssen uns doch einmal mit der Frage be-
Deutschlands, also die Angleichung der Lebensver- schäftigen, warum wir materiell zu dieser ungeheuren
hältnisse, ist die entscheidende Aufgabe, an der wir Solidarität überhaupt in der Lage sind. Die Antwort
alle gemessen werden. Sie ist nicht kurzfristig und ist: nur weil wir eine richtige Wirtschafts- und Finanz-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2075
Volker Rühe
politik durchgeführt haben und damit überhaupt erst — Wenn es dann konkret wird, sehen wir mal wei-
die Voraussetzungen dafür geschaffen haben, daß wir ter.
teilen können.
Ansprüche an Leistungen des Staates, die in der
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) alten Bundesrepublik gut begründet und geboten wa-
ren, müssen unter den neuen Bedingungen der Ein-
Es ist richtig, daß wir teilen müssen; doch wir können heit überprüft und gegebenenfalls korrigiert werden,
heute nur teilen, weil wir ein Finanzvolumen erwirt- wenn neue Prioritäten notwendig sind.
schaftet haben durch die erfolgreiche Wirtschaftspoli-
tik hier im Westen in den vergangenen Jahren, das Das gilt für die Besitzstände aller sozialen Gruppen,
uns materiell zur Solidarität fähig gemacht hat. Herr Engholm, auch im Bereich von Steuervergünsti-
gungen und Subventionen. Ich halte es für nicht ver-
Was ich Ihnen sagen möchte, ist: Solidarität wäre tretbar, im geeinten Deutschland auf Dauer Einzel-
ein bloßes Wort, wenn Ihre Wirtschaftspolitik fortge- gruppen in den alten Ländern mit Beiträgen und Sub-
setzt worden wäre. Deswegen verwahre ich mich ge- ventionen zu privilegieren, die weit größer sind als die
gen das Wort von der Holzklasse, die wir auf Dauer in Mittel des Gemeinschaftswerks Aufschwung Ost.
Deutschland einrichten wollten. Es kommt nicht dar-
auf an, von Solidarität zu sprechen, sondern darauf, Ich glaube, daß alle gefordert sind zu zeigen, ob sie
eine erfolgreiche Wirtschafts- und Finanzpolitik zu wirklich bereit sind, die alten Ausgabenstrukturen zu
machen, damit wir in der Lage sind, zu teilen, damit überprüfen, oder ob sie eine Politik der verbalen Soli-
wir in der Lage sind, die Holzklasse zu beseitigen. Das darität mit den neuen Bundesländern betreiben und
ist die richtige Politik. im übrigen sagen: Aber bitte im Ruhrgebiet und an-
derswo im Westen nichts Neues. Mit dieser Formel
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) „Im Westen nichts Neues" werden wir es nicht schaf-
fen. Sie werden daran gemessen werden, inwieweit
Was wollen Sie denn verteilen? Es wird zu Recht Sie bereit sind, mit uns zusammen diesen Weg zu
davon gesprochen, daß man von West nach Ost um- gehen.
verteilen muß. Das ist ja auch Ihr großes Thema. Nur,
wenn es nichts gibt, wenn Sie keine Erfolge in der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wirtschaftspolitik haben wie 1982, könnten Sie gar Die Sozialdemokraten haben auf ihrem Bundespar-
nicht teilen. Das wollen wir unseren Mitbürgern sa- teitag gesagt, die Zeit sei reif für eine gemeinsame
gen. Die Voraussetzung für das Teilen ist, daß man in Rolle Europas auf der Bühne der Welt; jetzt müsse
der Wirtschaftspolitik Erfolg hat. Deswegen gehören Deutschland uneingeschränkt ja sagen zu Europa.
wirtschaftliche und soziale Kompetenz einer Regie-
rung in einen unlösbaren Zusammenhang. Nur in ei- Ich muß Ihnen sagen: Wer so redet, dann aber den
ner leistungsfähigen Wirtschaft kann soziale Gerech- europäischen Nachbarn die Solidarität verweigert
tigkeit garantiert werden. Diesen doppelten Kompe- und sagt „Wenn es einmal um die Existenzfrage der
tenznachweis sind die Sozialdemokraten schuldig ge- Europäer geht, dann macht ihr das bitte allein" , ist
blieben. europaunfähig. Das sind Sie in Wirklichkeit mit Ihren
Beschlüssen zur Außen- und Sicherheitspolitik.
Lassen Sie mich noch eine letzte Bemerkung zu die-
sem Thema machen. „Im Westen nichts Neues", (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Hans-Jo-
chen Vogel [SPD]: Sie können ja nicht mal
(Manfred Opel [SPD]: Bei Rühe auch einen Ausschuß auf die Beine bringen!)
nicht!)
Mich hat besonders eine Aussage von Herrn Lafon-
das ist ein berühmter Romantitel. Als Überschrift über taine auf Ihrem Bundesparteitag im Zusammenhang
das Buch unserer gemeinsamen Zukunft eignet sich mit der Diskussion über die neue weltpolitische Ver-
dieser Satz aber nicht. Ich meine das sehr ernst. Das ist antwortung des wiedervereinigten Deutschlands be-
ein Appell an alle, die aus dem Westen kommen. Des- stürzt. Lafontaine — das ist noch viel zuwenig beach-
halb ist es unsere Aufgabe, das Bewußtsein dafür zu tet worden — hat folgendes gesagt: Andere hätten
schaffen, daß das Gemeinsame in Deutschland eben Angst, zu Opfern zu werden; die Deutschen müßten
auch etwas Neues ist, daß dieses Neue auch neues Angst haben, wieder zum Täter zu werden.
Denken und Umlernen erforderlich macht.
Ich muß Ihnen als Vertreter einer mittleren Genera-
Angesichts der Dimension der Aufgaben, die zu tion, der sein gesamtes bisheriges politisches Leben
bewältigen sind, muß grundsätzlich geprüft werden, und seinen Einsatz der Stabilität dieser deutschen
zu welchen Konsequenzen die gegenwärtigen Mehr- Demokratie gewidmet hat, sagen: Es ist unglaublich,
belastungen der öffentlichen Haushalte führen müs- welches Mißtrauen gegenüber der neuen deutschen
sen. Eine höhere Verschuldung sowie eine weitere Demokratie, gegenüber uns Deutschen aus diesem
Belastung des Steuerzahlers können nicht in Betracht Satz spricht.
kommen, solange nicht alle Möglichkeiten von Ein-
sparungen und Umschichtungen auch ausgeschöpft (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
sind. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir sagen, daß Es ist unglaublich, daß Franzosen und Engländer
wir doch noch keine gemeinsame politische Tages- mehr Vertrauen zu dieser neuen deutschen Demo-
ordnung in Deutschland haben. Im geeinten Deutsch- kratie haben als Herr Lafontaine und die Sozialdemo-
land müssen die Maßstäbe für staatliche Ausgaben kratie, wenn sie hinnimmt, daß ein solcher Satz gesagt
neu gesetzt werden. wird.
(Manfred Opel [SPD]: Ja, macht das doch!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
2076 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991
Volker Rühe
Ich empfinde das auch als einen persönlichen An- schen Partei gehalten haben — ich hatte gestern zum
griff auf alle, die wirklich diese großartige Chance der zweitenmal Gelegenheit, Ihnen dazu meinen persön-
neuen deutschen Demokratie genutzt haben. Diejeni- lichen Glückwunsch auszusprechen — , hat sich vom
gen, die noch als Soldaten, als ganz junge Flakhelfer Stil her angenehm abgehoben von dem, was wir hier
in den Krieg mußten — meine Lehrer, die ich in den in der letzten Zeit von anderen sozialdemokratischen
50er Jahren hatte, waren in einer solchen Situation —, Ministerpräsidenten gehört haben.
haben uns alle dazu gebracht, politische Verantwor- Am Schluß Ihrer Rede haben Sie die Ziele für ein
tung zu übernehmen. Diesem Deutschland kann man Deutschland in etwa zehn Jahren formuliert. Herr
trauen. Man darf ihm nicht auf Dauer mißtrauen. Wir Engholm, wer wollte Ihnen da nicht zustimmen? In
haben ein Recht auf Vertrauen, auch ein Recht auf diesem Punkt ist nicht viel zu bestreiten. War es aber
Normalität. Das müssen die Sozialdemokraten begrei- nicht ein wenig so wie schon in Bremen? Wir haben
fen. uns sehr bemüht, auf das Konkrete, auf die Umset-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zung, auf die Markierung der Schritte auf dem Wege
Im übrigen gilt — Herr Lamers hat es vor kurzem zur Erreichung dieses Ziels zu hören. So sehr viel
gesagt — : Die Berufung auf die Schuld in der Vergan- haben Sie dazu aber auch heute wieder nicht gesagt.
genheit dispensiert nicht von der Verantwortung in Eine Volksabstimmung wird dazu nur wenig beitra-
der Gegenwart. Die Sehnsucht nach schuldfreiem gen. Im Gegenteil! Glauben Sie, daß eine Volksab-
Handeln darf nicht zur Flucht in die Scheinidylle füh- stimmung, die frühestens im nächsten Jahr stattfinden
ren. Schuldig werden kann auch, wer sich verwei- kann, zusammen mit einer Auseinandersetzung, die
gert. dem vorhergehen und an einen bitteren Wahlkampf
erinnern wird, zu mehr Toleranz und mehr — —
(Dr. Alfred Dregger [CDU/CSU]: Sehr rich
tig!) (Zuruf von der SPD: Warum eigentlich?)
Haben Sie noch die Bilder von den Leichen vor — Weil es so sein wird! Wir erleben die Diskussionen
Augen, die man in Kuwait in den Kühlschränken
- ge- doch heute schon. Machen wir die Augen vor dem zu,
funden hat? Wissen Sie noch, was mit denen gesche- was dann passieren wird? Wir erleben es doch jeden
hen war? Sind nicht auch diejenigen, die zugewartet Tag. Wie können Sie dann noch fragen, warum? Sind
und gesagt haben „Wir machen da nichts!" Täter, die Sie nur selten in Bonn oder selten im Parlament und
eine Mitschuld gegenüber diesen Opfern haben? Man nehmen an der Diskussion nicht teil? Ich glaube, das
kann auch durch Nichthandeln schuldig werden. Das kann für uns nicht sehr hilfreich sein.
ist doch wohl eindeutig.
Sie sind einigermaßen konkret geworden, als es um
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) die Länderfinanzen ging. Das ist Ihr gutes Recht als
Wer hat denn das Morden in den deutschen Konzen- Ministerpräsident. Ich werde darauf noch zurückkom-
trationslagern gestoppt? Doch wohl nicht Demon- men. Ich frage Sie aber, ob es auch Ihr gutes Recht im
stranten mit einer zutiefst moralischen Position in Lon- Hinblick auf den Einigungsprozeß in Deutschland ist.
don und New York, sondern Soldaten der Alliierten Sie haben interessanterweise das Buch von Konrad
haben das Morden in den Konzentrationslagern in Seitz zitiert und auf das japanische Beispiel hingewie-
Deutschland gestoppt und den Aufbau einer neuen sen. Meiner Ansicht nach kommen Sie damit aber elf
Demokratie in Deutschland ermöglicht. Sie aber wol- Jahre zu spät, wie Sie wissen. Das habe ich nämlich
len sich in einer Situation, in der es darum geht, inter- schon im Jahre 1980 unter lebhaftem Protest Ihrer Par-
nationales Recht wiederherzustellen, grundsätzlich teifreunde getan.
verweigern? Das ist doch nicht nachvollziehbar. (Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — CDU/CSU — Wolfgang Roth [SPD]: Indu-
Freimut Duve [SPD]: Wovon sprechen Sie ei- striepolitik haben Sie immer abgelehnt! MITI
gentlich?) haben Sie immer abgelehnt! Erzählen Sie
Im Augenblick haben Sie zwar Erfolge in den Län- doch keine Märchen!)
dern, aber ich glaube, daß das, was in Bremen zur — Das lehne ich auch heute noch ab, damit wir ganz
Wirtschafts- und Sozialpolitik, zur Außen- und Sicher- klar sind.
heitspolitik gesagt oder nicht gesagt worden ist, zeigt,
daß Sie noch einen sehr, sehr langen Weg zur Regie- (Wolfgang Roth [SPD]: Aber der Seitz fordert
rungsfähigkeit auf Bundesebene vor sich haben. Das es!)
ist auch gut so. — Ich habe ja nicht gesagt, daß ich die Vorschläge von
Vielen Dank. Herrn Seitz übernehme und unterstütze.
(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und (Wolfgang Roth [SPD]: Ja eben! Machen Sie
der FDP) doch keinen Eiertanz!)
Ich habe gesagt, daß ich auf das japanische Beispiel
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat der und die dort erwirtschafteten Ergebnisse schon vor elf
Abgeordnete Dr. Graf Lambsdorff. Jahren hingewiesen habe, und zwar unter lebhaftem
Streit, damals wohl auch schon mit Ihnen, Herr Roth,
Herr Berater Roth.
Dr. Ott o Graf Lambsdorff (FDP): Frau Präsidentin!
(Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU)
Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Herr
Engholm, die erste Rede, die Sie hier in Ihrer neuen Meine Damen und Herren, das, was Herr Engholm
Eigenschaft als Vorsitzender der Sozialdemokrati- heute gesagt hat, hat mich auch ein wenig an den Sil-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2077
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Völlig rich Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste): Frau Präsiden-
tig!) tin! Meine Damen und Herren! Da es jetzt um die
Politik der Bundesregierung im Ganzen geht, will ich
sonst kann und wird die Bundesbank die Zinsen nicht
mich zunächst zu einigen wenigen außenpolitischen
senken, Herr Pöhl hat das heute noch einmal ge-
Fragen äußern.
sagt.
Ich finde, daß sich die Außenpolitik der Bundesre-
(Wolfgang Roth [SPD]: So ist es!) gierung widersprüchlich vollzieht. Zum einen sucht
sie die Zusammenarbeit mit Osteuropa und auch und
Meine Damen und Herren, der Bundeshaushalt gerade mit der Sowjetunion. Dies ist wichtig für die
1992 steht unter besonderen Vorzeichen. Sein Volu- Stabilität in Europa und für den europäischen Eini-
men, seine Nettokreditaufnahme, die damit verbun- gungsprozeß. Zum anderen wird aber immer deutli-
denen Steuererhöhungen gäben normalerweise zu cher, daß der europäische Einigungsprozeß — struk-
gravierenden Bedenken Anlaß. Aber ich sage: norma- turell und wirtschaftlich — eigentlich nur die Europäi-
lerweise. Unsere öffentliche Verschuldung oder, ge- sche Gemeinschaft erfassen soll. Setzt sich diese Poli-
nauer gesagt, die Nettokreditaufnahme der öffentli- tik durch, wird sich die soziale und wirtschaft li che
chen Hände ist in diesem und im nächsten Jahr höher Spaltung Europas vertiefen und wird die Gefahr von
als die so oft beklagte und kritisierte Nettokreditauf- Eruptionen auf dem Kontinent zunehmen. Gefährlich
nahme der Vereinigten Staaten. Es muß allerdings ist auch ein Vorherrschaftsstreben in Europa, eine
hinzugefügt werden: Auch das private Sparaufkom- Rolle, die uns nicht gut zu Gesicht steht, die Mißtrauen
men zur Finanzierung ist deutlich höher als in den erzeugen muß. Die komplizierten europäischen Pro-
USA. zesse werden auch nicht dadurch erleichtert, daß ein
Realpolitiker wie Bundesbankpräsident Pöhl in eine
(Ing ri d Matthäus-Maier [SPD]: Wie hoch ist Situation getrieben wird, in der ihm nur noch der
sie denn?) Rücktritt bleibt.
2082 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991
Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste) : Ja, bitte. Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste): Ich weiß zwar
nicht genau, woher Sie kommen, aber aus der Sprache
Dr. Dagmar Enkelmann (PDS/Linke Liste): Herr entnehme ich einmal, daß Sie aus den alten Bundes-
Gysi, ist Ihnen bekannt, daß ein Rentner in einem ländern kommen.
Altenheim einen Betrag von 105 Mark von seiner (Arnulf Kriedner [CDU/CSU]: Ich komme
Rente bezahlen mußte und daß er ab Juli z. B. in Bran- aus Thüringen!)
denburg etwa 1 500 DM zahlen muß, die er von seiner
Rente, ganz gleich, wie hoch sie ist, nicht zahlen kann, — Aha, aus Thüringen.
so daß er einfach gezwungen ist, Sozialhilfe zu - bean- (Lachen bei der CDU/CSU)
tragen, und daß er das vorher nicht mußte? —Ich habe ja nur gefragt. — Dann kann ich nur sagen,
daß ich mich früher relativ viel in Pflegeheimen schon
Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste) : Das kann ich deshalb aufgehalten habe, weil ich des öfteren vom
erstens bestätigen. Aber ich füge zweitens hinzu, daß Gericht als Pfleger bestellt worden bin.
sozusagen die relative soziale Ausgrenzung eines
(Zuruf von der CDU/CSU: Als Zwangspfle
Großteils von Rentnerinnen und Rentnern, die es in
ger?)
gewisser Hinsicht schon in der früheren DDR gegeben
hat, jetzt noch verstärkt wird. Das ist eine Tatsache. Ich kenne die Zustände also einigermaßen. Ich ge-
hörte auch nicht zu denjenigen, die diese Zustände
(Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Un-
etwa besonders gewürdigt haben. Aber erwarten Sie
glaublich!)
deshalb von mir, daß ich dafür eintrete, daß es den
— Ja, ich finde es unglaublich, aber wahr ist es trotz- Leuten jetzt noch schlechter, zumindest nicht besser
dem. geht, was alle diese Punkte bet rifft?
Übrigens gehen Sie ja auch viel weiter. Die Zahlun-
(Beifall bei der PDS/Linke Liste — Zuruf von
gen vieler Bürgerinnen und Bürger für die freiwillige
der CDU/CSU: Unerhört!)
Zusatzrentenversicherung werden z. B. nicht mehr
voll angerechnet Genau das Gegenteil muß doch das Ziel unserer Poli-
tik sein.
(Zurufe von der CDU/CSU: Die kriegen doch
viel mehr als vorher! — Wieder eine Lüge!) Ich füge hinzu, daß das Sonderopfer für Beitrags-
und vieles andere mehr. Das alles wissen Sie auch. pflichtige in der Arbeitslosenversicherung — ich war
ja schon bei einem etwas anderen Thema — genauso
Ich frage Sie beim Thema Sozialpolitik: Muß es ei- abgelehnt werden muß. Wir fordern eine Arbeits-
gentlich z. B. bei Steuererhöhungen so bleiben, daß marktabgabe für Besserverdienende ab Monatsein-
immer auch die Bezieher niedriger Einkünfte zur kommen von 6 500 DM. Das heißt, auch die Bundes-
Kasse gebeten werden, obwohl für sie jede Reduzie- tagsabgeordneten würden davon erfaßt, und ich
rung von Einkünften ganz andere Auswirkungen ha- meine zu Recht. Dazu fordern wir Freigrenzen für die
ben muß Erhebung des Zuschlags zur Einkommensteuerschuld
(Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Die in Höhe von 50 000 DM jährlich für Alleinstehende
zahlen doch überhaupt nichts!) und 100 000 DM jährlich für Verheiratete.
als höhere Abgaben für Besserverdienende? Wir fordern, für den Aufbau im Osten einen Teil der
Gewinne zu verwenden, die durch den Konjunktur-
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Abgeordneter aufschwung im Westen dank der Einheit erzielt wor-
Gysi, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des den sind.
Abgeordneten Kriedner? (Dr. Wolfgang Weng [Gerungen] [FDP]: Was
meinen Sie denn, woher das Geld kommt?)
Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste): Ja. Gemeint sind eine Anleihe mit Zeichnungspflicht für
Banken, Versicherungen und Handelsketten sowie
Arnulf Kriedner (CDU/CSU): Herr Gysi, ich wollte eine Investitionshilfeabgabe für die gewerbliche
Sie fragen, ob Sie eventuell das, was Sie als Zustands- Wirtschaft der alten Bundesländer zugunsten von In-
beschreibung der früheren DDR hier anführen, mit vestitionshilfen in den neuen Bundesländern.
2086 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991
Vera Wollenberger
spiel für Abrüstung in Europa werden. Damit kann helme" — wird ausgenutzt, um der Durchsetzung na-
zugleich der schicksalhafte Übergangsprozeß in der tionaler Interessen künftig auch mit militärischen Mit-
Sowjetunion positiv beeinflußt werden. teln Nachdruck zu verleihen,
Leider setzt die Bundesregierung nach wie vor lie- (Arnulf Kriedner [CDU/CSU]: Das ist doch
ber auf militärische Kraftmeierei und notfalls auf Waf- Blödsinn, was Sie da erzählen!)
fenanwendung und ist dabei eine der treibenden
etwa beim Schutz deutscher Handelsschiffe auf Hoher
Kräfte innerhalb der NATO, eine schnelle Eingreif- See.
truppe für b risante Bedrohungen aufzubauen.
Das Spannende und Interessante an der jetzigen
Aus der Allianz hörte man im vergangenen Jahr, Etappe innerhalb dieser langen Diskussion um mehr
daß sie sich nun von der Konfrontation zur Koopera- außen- und sicherheitspolitische „Normalität" ist der
tion entwickeln wolle. Was aber beim letzten NATO Salto mortale, den Sie, Herr Bundeskanzler Kohl, nun
Gipfel beschlossen wurde, ist das genaue Gegenteil. vollführen müssen, nachdem Ihnen durch die Ent-
Es ging nicht um die Stärkung der politischen Funk- scheidung der SPD die Möglichkeit einer Grundge-
tion, sondern einzig und allein um eine Modernisie- setzänderung verbaut ist.
rung der militärischen Strukturen. Die angekündigte
Stärkung der politischen Rolle wurde bei diesem Tref- (Zuruf von der CDU/CSU: Wer sagt denn
fen reduziert auf die Bildung schnell verlegbarer Ein- das?)
greifverbände, die, wie US-Verteidigungsminister Ich möchte Sie hier deshalb an Ihre Erklärung vom
Cheney auf der Pressekonferenz ausführte, für jede 11. Juni 1987 erinnern, als einige westeuropäische
Krise vorbereitet sein müssen. Das ist kein politisches Staaten und die USA Kriegsschiffe in den Persisch
Signal zukünftiger Kooperation, das ist eine Drohge- Arabischen Golf schickten.
bärde.
(Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Stel
(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist unwahr, len Sie sich das einmal bildlich vor: der Kanz
Frau Wollenberger!) - ler und Salto mortale! — Heiterkeit bei der
Durch diesen Gipfel wurde nochmals mit Nach- CDU/CSU)
druck deutlich, daß sich die Bundesregierung — trotz Sie sagten damals:
einer radikal gewandelten sicherheitspolitischen
Lage in Europa — unisono mit ihren Verbündeten Ich habe im Vorfeld deutlich erklärt: Kriegs-
weiter auf Konfrontationskurs befindet, um den schiffe und Soldaten in den Golf zu entsenden ist
„neuen Risiken", wie die offizielle Sprachregelung indiskutabel. Unsere Verfassung verbietet das.
jetzt lautet, die man vor allen Dingen an der südlichen Mit dieser Position, die auch während der Golfkrise
Peripherie der NATO sieht, mutig entgegenzutre- von Mitgliedern der Bundesregierung ausdrücklich
ten. bestätigt wurde, haben Sie sich sehr deutlich festge-
Dabei ist die versuchte Tarnung in der Argumenta- legt.
tion schnell zu durchschauen. Die weiterhin als äu- Will man die Regelung künftiger Konflikte nicht
ßerst gefahrvoll an die Wand gemalten Bedrohungen den Supermächten überlassen, dann gibt es zur Stär-
dienen letztlich nur der Durchsetzung von Rüstungs- kung der Vereinten Na tionen keine Alternative. Al-
programmen, die gern als weltweite Wahrnehmung lerdings sind wir für eine bundesdeutsche Beteiligung
von Verantwortung verbrämt werden. Das ist der ei- an friedenserhaltenden Missionen der UNO nur dann,
gentliche Hintergrund für die momentan so hef tig ge- wenn es eine grundlegende Reform innerhalb der
führte Diskussion um einen Einsatz von Bundeswehr- Charta der Vereinten Na tionen gibt. Diese Reform ist
soldaten außerhalb des NATO-Vertragsgebiets. auch jenseits der dann daraus resultierenden Folgen
Fast 18 Jahre ist die Bundesrepublik Mitglied der für die Bundesrepublik Deutschland zwingend und
Vereinten Nationen, und seit dieser Zeit wird auch unbedingt erforderlich und bezieht sich in erster Linie
immer mal über einen bundesdeutschen Beitrag zu auf die Verfaßtheit des Weltsicherheitsrates.
den UN-Friedenstruppen diskutiert. Zur Zeit erleben Eine notwendige Voraussetzung für eine Beteili-
wir unter dieser Betrachtungsweise lediglich eine gung an UN- „peacekeeping opera tions" wäre dar-
neue Etappe auf dem Weg, die Bundeswehr für mili- über hinaus die völkerrechtlich verbindliche Zuord-
tärische Missionen außerhalb der Beschränkungen nung friedenserhaltender Maßnahmen der UNO zum
durch das Grundgesetz einzusetzen. Kapitel VI der Charta. Do rt müssen die Verfahrens-
Das Fatale an dieser Diskussion ist aber, daß es der modalitäten eindeutig und unmißverständlich präzi-
Bundesregierung bei der Änderung des Grundgeset- siert werden. Erst dann steht einem Einsatz von Ein-
zes keineswegs um die Stärkung der UNO und deren heiten der Bundeswehr für friedenserhaltende Maß-
friedenserhaltende Maßnahmen geht. Das war schon nahmen der Vereinten Na tionen aus unserer Sicht
zu ihren Oppositionszeiten — und ist es auch heute — nichts mehr im Weg. Ein weitergehender Einsatz der
nur schmückendes Beiwerk. Es ging von Anfang an Bundeswehr, z. B. im Rahmen einer westeuropäi-
darum, bundesdeutsche Soldaten zur Durchsetzung schen Eingreiftruppe der WEU oder EG oder im Rah-
nationaler Interessen — egal, unter welchem organi- men von Out-of-area-Einsätzen der NATO, ist für uns
satorischen Dach — weltweit einzusetzen. Die hohe völlig indiskutabel und wird deshalb entschieden ab-
Akzeptanz der bundesdeutschen Bevölkerung gegen- gelehnt.
über den unbestrittenen Leistungen der Vereinten Für unumgänglich halten wir dagegen die Auf-
Nationen — ich denke hier beispielsweise an die Ver- nahme neuer Grundrechte für Bürger in die Verf as
leihung des Friedensnobelpreises an die „Blau- sung. Dazu gehört das Recht aller Bürgerinnen und
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2089
Vera Wollenberger
Bürger auf eine soziale Grundsicherung, d. h. auf ein — Sie haben ja sonst immer so viele Worte für die
Mindesteinkommen und eine angemessene Woh- Opfer übrig, aber offenbar haben Sie kein Gehör da-
nung. Dazu gehören das Grundrecht auf informatio- für.
nelle Selbstbestimmung und seine verfahrensrechtli- (Zuruf von der CDU/CSU: Es lohnt nicht! —
che Absicherung durch den Anspruch aller Menschen Weitere Zurufe von der CDU/CSU)
auf Einsicht in die über sie erhobenen Daten. Dem
steht die Begehr li chkeit des Verfassungsschutzes (Vorsitz: Vizepräsident Dieter-Julius
nach weiterer und legalisierter Nutzung der Stasi- Cronenberg)
Opfer-Akten gegenüber. Die Bundesregierung hat seinerzeit das Honecker
Regime mit Milliardenkrediten unterstützt und damit
Überhaupt sind auch im Bereich des Ministeriums länger als nötig am Leben erhalten und damit indirekt
des Innern mehrere Grundsatzentscheidungen falsch zum Leiden der Opfer beigetragen.
getroffen worden. Insgesamt sind die Aufwendungen (Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Wenn
für innere Sicherheit erheblich gesteigert worden. man Ihnen zuhört, wird man sofort veranlaßt,
Das dürfte mit der Erwartung eines sozial heißen Ihnen zuzurufen, wie unverschämt Sie argu
Herbstes in Zusammenhang stehen. Oder, wie der mentieren!)
Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei vor ca. vier
Wochen sinngemäß sagte: Vorkehrungen für die Auf-
rechterhaltung der inneren Sicherheit bzw. gegen Un- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab-
ruhen sind zugleich Standortwerbung und Vorbedin- geordneter Pfeffermann, Sie haben zur Zeit nicht das
gung für die in den neuen Bundesländern benötigten Wort.
Investoren. Trotzdem sind die Aufwendungen für den (Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Aber
Ausbau der Bereitschaftspolizei in Deutschland durch Sie will doch, daß ich zuhöre!)
Bundesinteresse nicht mehr zu rechtfertigen und ver-
stoßen darüber hinaus gegen Finanz- und Zuständig-
-
Vera Wollenberger (Bündnis 90/GRÜNE): Wir hal-
keitsregelungen des Grundgesetzes. Wir haben des-
halb einen entsprechenden Änderungsantrag vorge- ten es deshalb aus Gründen der politisch-moralischen
legt. Hygiene und des verantwortlichen Umgangs mit den
Fehlern der Vergangenheit für unumgänglich not-
wendig, daß für die Entschädigung der Opfer ein
Mehr Geld und Personal wären dagegen nötig für Bleichhoher Beitrag zur Verfügung gestellt wird, wie
die schnelle Durchsicht, Aufarbeitung und öffentliche man ihn seinerzeit für das Honecker-Regime übrig
Darstellung der Stasi-Aktenbestände und die Offenle- hatte. Damit könnten alle berechtigten Erwartungen
gung der Stasi-Strukturen. der Opfer erfüllt werden.
Neben der Erhaltung des Friedens ist der Schutz der
Wir brauchen auch dringend unbürokratische Re- natürlichen Lebensgrundlagen eine Aufgabe von exi-
gelungen für die Anerkennung von Stasi-Opfern und stentieller Bedeutung. Wir treten deshalb dafür ein,
Geschädigten des DDR-Systems. Wir brauchen eine daß in der Verfassung die Verpflichtung aller staatli-
endgültige, bef ri edigende Regelung für die Entschä- chen Gewalt, die Umwelt als Lebensgrundlage zu-
digung dieser Opfer. Der immer wieder zitierte Aus- künftiger Generationen und die Natur um ihrer selbst
spruch des Justizministers Kinkel, es dürften keine willen zu schützen, festgeschrieben werden muß.
unerfüllbaren Hoffnungen geweckt werden, ist eine
erneute Demütigung für die betroffenen Menschen. Die Welt darf nicht länger nur Fabrikationsmaterial
für die Gewinnproduktion sein. Statt des gegenwärti-
gen Anthropozentrismus
Im Augenblick ist nicht einmal gewährleistet, daß
der gerichtlichen Festlegung, daß der Staatshaushalt (Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Da
die Kosten eines Rehabilitierungsverfahrens trägt, hat Ihnen der Professor wohl etwas Falsches
auch entsprochen wird. Aus eigener Erfahrung weiß hineingeschrieben!)
ich, daß es vorkommt, daß Rehabilitierungsverfahren brauchen wir jene Schöpfungsbezogenheit, wie sie im
aus eigener Tasche bezahlt werden mußten. Aber wie konziliaren Prozeß der Kirchen gefordert ist. Wir brau-
viele der Opfer, von denen es vielen materiell sehr chen eine verfahrensrechtliche Absicherung durch
schlecht geht, können sich das leisten? Klage- und Akteneinsichtsrecht für Umweltschutzver-
bände. Ein ökologischer Rat sollte gebildet werden
Nicht um behaupteten unerfüllbaren Erwartungen und bei der Gesetzgebung mitwirken. Bund, Länder
zu genügen, sondern um den schwer benachteiligten und Gemeinden sollten verpflichtet werden, die
Opfern des DDR-Regimes endlich zu fairen Lebens- Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen im Rah-
chancen zu verhelfen, sollte eine Grundsatzentschei- men des ökologisch Verträglichen zu fördern.
dung getroffen werden. Im Bereich der Umweltsanierung könnten Hundert-
tausende von Arbeitsplätzen in den nächsten Jahren
(Anhaltende Unruhe) geschaffen werden, um die schlimmsten Altlasten zu
beseitigen, um die Luftreinigung voranzutreiben und
um die Gewässersanierung zu bewältigen. Die paar
— Vielleicht können Sie wenigstens jetzt mal zuhö- Pilotprojekte des Herrn Töpfer machen den Kohl nicht
ren. fett. Es bringt mehr Umweltschutz und mehr sinnvolle
Arbeit bei gleichem Investitionsvolumen, wenn statt
(Zurufe von der CDU/CSU) auf Atomkraftwerke auf Energiesparen und emeuer-
2090 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991
Vera Wollenberger
bare Energiequellen gesetzt wird. Es ist umwelt- felder nur dadurch unterscheidet, daß sie weiß ist und
freundlicher und schafft mehr sinnvolle Arbeitsplätze, über Giftmüll liegt. Das wäre das Gegenteil eines blü-
wenn auf den Vorrang des Schienenverkehrs und auf henden Landes, wie es uns bei der Wahl versprochen
den Ausbau vorhandener Landstraßen gesetzt wird wurde. Wer möchte in einem Land mit solchen Per-
statt auf den arbeitskräftearmen Autobahnbau, den spektiven leben?
Herr Krause mit der Brechstange vorantreiben will. Tatsächlich nehmen die rechtsradikalen Tenden-
Es ist umweltfreundlicher und schafft mehr sinn- zen gerade in Thüringen, Sachsen und Sachsen-An-
volle Arbeit, wenn Lebensmittel naturnah angebaut halt zu. Täglich werden im vereinten Deutschland
und in kleinen Netzen vermarktet werden. Doch dazu Asylbewerber und Einwanderer von rechtsradikalen
bedarf es ausreichender Investitionshilfen für Agrar- Gruppen angegriffen. Die Fremdenfeindlichkeit ge-
betriebe. gen die Asylbewerber und Einwanderer hat derartige
Ausmaße angenommen, daß die Asylbewerber und
Es ist umweltfreundlicher und schafft sinnvolle Ar- Einwanderer um ihre Sicherheit fürchten müssen.
beitsplätze, Elektromobile zu bauen, statt auf die alten
Benzinkutschen zu setzen. Hierfür braucht man ge- Die Fluchtbewegungen in der Welt nehmen zu und
zielte Zukunftsinvestitionsprogramme. In solche Pro- werden auch Europa zunehmend erreichen. Die Ursa-
gramme sollten Bundesförderungsmittel investiert chen sind vielfältig. Doch Hauptursachen bleiben die
werden und nicht z. B. in Kaligruben, die für die Auf- Unterdrückung und Verfolgung von Menschen
nahme von Giftmüll vorbereitet werden sollen. — durch Haft, Folter und Morddrohung — aus politi-
schen, wirtschaftlichen und religiösen Gründen bis
Bei einem Hearing am vergangenen Wochenende hin zu Krieg und Bürgerkrieg. Und an allen Fluchtur-
in Thüringen wurde bekannt, daß bereits Bundesför- sachen ist die Bundesrepublik Deutschland als eines
dermittel in Millionenhöhe in Gruben geflossen sind, der bedeutendsten Industrieländer indirekt beteiligt.
obwohl die erforderlichen Planfeststellungsverfahren
noch gar nicht abgeschlossen waren. Bekanntlich ist In dieser Situation ist es erforderlich, durch radikale
die Giftmüllentsorgung fest in p rivater Hand. Von rechtliche Gleichstellung aller Bevölkerungsgruppen
den Gewinnen, die durch die geplante Giftmüllver- allen nationalistischen und rassistischen Bestrebun-
bringung in Kaligruben gemacht werden — bekannt- gen die politisch-juristische Legitimation zu entzie-
lich sind die Gewinnspannen solcher Firmen mit de- hen. Die Verweigerung demokratischer Grundrechte
nen des Drogenhandels vergleichbar —, werden die für einen Teil der Bevölkerung schadet der Demokra-
betreffenden Bundesländer, in denen sich die Gruben tie insgesamt. Der Ausschluß von fast 5 Millionen Ein-
befinden, keinen Pfennig zu sehen bekommen. wohnerinnen und Einwohnern vom Wahlrecht bedeu-
tet, daß unsere Parlamente nicht mehr repräsentativ
Es werden also Bundesfördermittel eingesetzt, um sind.
die private Gewinnmaximierung zu begünstigen. Un-
In einer neuen deutschen Verfassung müßten des-
ter Aufschwung Ost hatten wir uns etwas anderes vor-
halb alle Grundrechte, die bisher nur deutschen
gestellt.
Staatsangehörigen zustehen, allen Bürgerinnen und
Als ob das nicht schon Skandal genug wäre, stellte Bürgern gewährt werden, die seit mindestens fünf
sich auch noch heraus, daß sämtliche bekannten Gift- Jahren legal in Deutschland leben.
abfälle, außer radioaktiven, unterschiedslos eingela- Die sehr begrenzte Redezeit unserer Gruppe er-
gert werden sollen, obwohl sich nach Expertenmei- laubt es nicht, alle Probleme umfassend darzustel-
nung nur etwa ein halbes Dutzend für die Lagerung in len.
Salzstöcken eignen. Das Argument, mit dem bei der
Bevölkerung eine Akzeptanz für Giftmülleinlagerun- (Zurufe von der CDU/CSU)
gen erzielt werden soll, ist, daß Arbeitsplätze geschaf- Wer auf die Dramatik der Situation in den neuen Bun-
fen würden. In meiner Heimatstadt Sondershausen, desländern hinweist, begibt sich in Gefahr, der Mies-
wo über 1 000 Kalikumpel arbeitslos werden, wären macherei beschuldigt zu werden.
es genau 19 Arbeitsplätze pro Schicht. Das ist weniger
als der bekannte Tropfen auf den heißen Stein. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Mit
Recht!)
Gleichzeitig würden aber Hunderte potentieller Ar-
beitsplätze in der Tourismusbranche gar nicht erst Dabei ist es bei aller berechtigten Freude über Teiler-
entstehen können; denn wer will schon auf einer Gift- folge geboten, den Ernst der Lage zu erkennen.
müllkippe Urlaub machen, und wenn die Gegend Die Selbstmordrate ist auf dem Gebiet der ehemali-
noch so schön ist? gen DDR auf das Zehnfache gestiegen. Dafür ist die
Die Landschaft, von der ich gerade spreche und die ehemals hohe Zahl der Geburten unter die in der ehe-
durch Giftmülleinlagerungen bedroht ist, ist eine der maligen BRD gesunken. Diese Tatsachen sprechen
artenreichsten Deutschlands. Die Gipskarstgebiete eine eigene Sprache.
der Gegend erfüllen alle Kriterien eines UNO-Bio- Stellen Sie sich vor, Herr Bundeskanzler, Sie wären
sphärenreservats. Sie hätten deshalb gute Chancen, ein Ossi: Ihr Sparguthaben nach langjähriger Arbeit
in die UNO-Liste aufgenommen zu werden. wäre vor einem Jahr halbiert worden, Sie stünden nun
ohne Arbeitsplatz da, aber dafür müßten Sie einen
Leider sind sie durch die Begehrlichkeiten der Gips-
Wohngeldantrag stellen, um Ihre Miete noch bezah-
industrie bedroht, die sich die zweifelhaften Bergbau-
schutzgesetze der alten DDR zunutze machen will. len zu können.
Statt eines Biosphärenreservats würde dort dann eine Die Politik des Anschlusses, die Sie, Herr Bundes-
Tagebaulandschaft entstehen, die sich von der Bitter- kanzler, betrieben haben, ist gescheitert. Sie sollten
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2091
Vera Wollenberger
den Mut haben, sich dafür bei den Menschen im — Nein, ich bin da vorsichtiger. — Wenn ich sie so im
Osten zu entschuldigen. nachhinein lese, dann muß ich sagen, daß ich sie für
Ich danke Ihnen. genauso wenig geglückt halte wie Ihre heutige
Rede.
(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und der
PDS/Linke Liste sowie bei Abgeordneten der (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)
SPD) Herr Ministerpräsident, da Sie ja so gerne im Be-
reich der Literatur und der Philosophie Ausschau hal-
ten, hoffe ich für Sie zusammen mit meinem Lands-
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort mann Ernst Bloch nach dem „Prinzip Hoffnung" auf
hat der Bundeskanzler. gute Auftritte hier im Bundestag.
Was ich aber bedauere — das ist ein Anspruch, den
Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler: Herr Präsident! man an den neugewählten Parteivorsitzenden der
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte SPD stellen kann — , ist, daß Sie keine Antworten ge-
vorab eine Bemerkung an die Adresse meiner ge- geben haben,
schätzten Vorrednerin machen. Ich bin ja daran ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
wöhnt, für alles verantwortlich gemacht zu werden.
Ich bin nun aber wirklich nicht bereit, auch noch die und zwar auf die konkreten Fragen der Politik, und
Verantwortung für das Absinken der Geburtenrate in daß Sie eine Begründung Ihrer ganz persönlichen Po-
den neuen Bundesländern zu übernehmen, litik in den letzten Jahren unterlassen haben. Sie sind
ja schon seit Jahren an verantwortlicher Stelle in unse-
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und rer Bundesrepublik tätig. Ich habe von Ihnen z. B.
der FDP) nichts zum Thema Abrüstung gehört. Volker Rühe
zumal ich noch gar nicht weiß, wie Sie das — — und auch Graf Lambsdorff haben das mit Recht hier
(Anhaltende Heiterkeit und Beifall bei -der schon gerügt. Über viele Jahre hinweg hat die Sozial-
CDU/CSU und der FDP) demokratische Partei Deutschlands die Abrüstung zu
einem zentralen Thema ihrer Politik gemacht. Hier im
— Sehen Sie, es ist sehr typisch für Sie, gnädige Frau, Deutschen Bundestag haben wir nach meiner Wahl
daß Sie es nie abwarten können. zum Kanzler am 1. Oktober 1982 große Redeschlach-
(Erneute Heiterkeit und Beifall bei der CDU/ ten um den richtigen Weg gehabt. Als ich Ihnen da-
CSU und der FDP) mals zurief „Wir wollen Frieden schaffen mit weniger
Die deutsche Einheit ist am 3. Oktober 1990 vollendet Waffen", haben Sie uns mit einer schlimmen Hetze in
worden. Jetzt schreiben wir, wenn ich mich richtig bezug auf Kriegsgefahr und anderes überzogen.
erinnere, Anfang Juni. Wie kommen Sie da eigentlich Nun, meine Damen und Herren, wir haben Wort
auf die neun Monate? gehalten.
(Erneute Heiterkeit und Beifall bei der CDU/ (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU — Bei
CSU und der FDP) fall bei der FDP)
Sehen Sie, diese Äußerung war leider ziemlich symp- Sie sprechen so gerne von Wahrhaftigkeit. Das ist ein
tomatisch für das, was Sie insgesamt gesagt haben. Punkt, bei dem Sie uns die Antwort auf die Frage
(Beifall bei der CDU/CSU) schulden, warum Sie damals von Kriegsgefahr ge-
sprochen haben und damit billige Geschäfte bei den
Meine Damen und Herren, die Haushaltsdebatte
Wählern machen wollten.
und die Beratungen des Etats des Bundeskanzleram-
tes sind traditionell Grundlage für eine Generalaus- Es gehört zu diesem Bild — das will ich hinzufü-
sprache. Es ist die verständlichste Sache der Welt, daß gen — , daß Sie auch über die politischen Folgekosten
hier Kri tik geübt wird und Meinungen auseinander- dieser so überaus erfolgreichen Abrüstungspolitik, die
gehen. Es ist auch ganz selbstverständlich — ich uns jetzt zu schaffen machen, ein Wort hätten sagen
selbst habe diese Rolle über viele Jahre hinweg wahr- können. Ich muß das schon bemerkenswert finden,
genommen —, daß die Opposition K ritik übt. Die heu- was ich täglich in meiner Post zu lesen bekomme,
tige Haushaltsdebatte war aber Anlaß zu einem unge- nämlich wer sich jetzt alles über den Abzug der Ame-
wöhnlichen Einstand. Der gerade neu gewählte Vor- rikaner oder der Franzosen und den Abbau von Bun-
sitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutsch- deswehrstandorten bitter beschwert.
lands, Herr Ministerpräsident Engholm, hat hier ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
sprochen. Ich nehme zunächst einmal die Gelegenheit
wahr, Herr Ministerpräsident, Ihnen zu Ihrer Wahl zu Ich habe niemals „Ami go home" gerufen; ich habe
gratulieren. Da ich jetzt 18 Jahre Parteivorsitzender mich nicht an jener Verfemung unserer amerikani-
einer anderen großen Volkspartei bin, habe ich eine schen Freunde während des Vietnam-Kriegs und in
Vorstellung davon, was auf Sie zukommt. Deshalb der Zeit danach beteiligt. Es ist schon erstaunlich, wel-
gratuliere ich Ihnen um so herzlicher. che Widersprüche einem heute zugemutet werden,
wenn es um den Abzug oder den Abbau von Truppen
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) und die Probleme geht, die damit natürlich vor Ort
Als Sie sprachen — lassen Sie mich das ganz ent- entstehen.
spannt sagen —, habe ich mich an meine erste Rede Ich spreche ein zweites an. Ich behaupte, daß es in
nach meiner Wahl zum Parteivorsitzenden im Jahre den langen Jahren der Bundesrepublik — ich spreche
1973 erinnert. keinem meiner Vorgänger in irgendeiner Weise sei-
(Zuruf von der CDU/CSU: Die war besser!) nen Willen und seine Tatkraft ab — niemals bessere
2092 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991
Wolfgang Roth
desrepublik Deutschland angesichts der ökonomi- schätzung von gestern lautet: Wir brauchen keine
schen Probleme im Osten einen Bundeskanzler mit Steuererhöhung. Die Fehleinschätzung von heute
dem wirtschaftlichen Erfahrungshintergrund von Hel- lautet: Wir brauchen nur für ein Jahr eine — zudem
mut Schmidt und nicht einen Bundeskanzler Kohl ungerechte — Ergänzungsabgabe.
wünschen.
Nein! Wir Sozialdemokraten sagen: Wir brauchen
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) in den 90er Jahren aus Gründen der Solidarität mit
Umfragen in der Öffentlichkeit zeigen das ganz deut- dem Osten eine befristete Ergänzungsabgabe auf
lich. Im übrigen sind gerade Wähler und Anhänger lange Zeit.
der CDU/CSU und der FDP dieser Meinung. (Beifall bei der SPD)
Natürlich wollen Sie jetzt über die Probleme und In drei, vier Jahren ist das nicht anders.
Ihre Fehleinschätzungen stillschweigend zur Routine
übergehen. Das verstehe ich sogar. Wer läßt sich Man kann es auch so sagen: Aus der falschen Ana-
schon gern an Fehler erinnern? lyse setzt sich die Steuerlüge der Regierung Kohl fort.
Sie wird zur Dauerübung.
Leider ist das aus einem Grund nicht möglich: Irrtü-
mer und Fehleinschätzungen setzen sich immer noch (Dietri ch Austermann [CDU/CSU]: Kennen
fort. Besonders deutlich wird das bei der Vorausschau Sie noch die Lebenslüge?)
auf die wirtschaftliche Entwicklung im Osten sowie
bei der Finanzierung. Wir haben gestern das Ergebnis einer Umfrage von
Infas erfahren. Auf die Frage, ob der Vorwurf der
Der Bundeskanzler hat bis in die letzten Wochen Steuerlüge berechtigt sei, sagen 72 % der Bürger: Ja,
immer wieder gesagt, man brauche etwa drei bis vier so ist es. Wenn das die Meinung der Bürger ist, dann
Jahre, bis das Leistungsniveau im Osten demjenigen hören Sie auf, zu sagen, das sei sozialdemokratische
im Westen entspreche. Propaganda, sondern korrigieren Sie endlich Ihre Ein-
- heranzie-
Ich will gar nicht meine eigenen Analysen schätzung und Ihre Steuerpolitik! Gehen Sie mit den
hen, sondern die Analysen Ihres Parteifreundes in Bürgerinnen und Bürgern, insbesondere denen im
Sachsen, Professor Biedenkopf. Osten, fair um!
(Zuruf von der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Gerd
— Ich habe schon bei den Zwischenrufen gemerkt: Er Poppe [Bündnis 90/GRÜNE])
ist kein Freund, sondern nur ein Parteifreund von Ih- Wer soll das alles noch ernst nehmen?
nen.
(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Was
Professor Biedenkopf, der immerhin Ministerpräsi- Sie sagen?)
dent von Sachsen ist, sagt zu Recht: Da die neuen
Bundesländer 1992 — das ist jetzt schon absehbar — In der Steuerpolitik werden Tag für Tag neue Steuer-
nur 25 % des Leistungsniveaus des Westens haben vorschläge gemacht. Der Herr Möllemann hat einen
werden, brauche man bis zum Ende des Jahrtausends, neuen Vorschlag zur Vermögensteuer gemacht; er
also in den nächsten acht Jahren, jedes Jahr eine will jetzt halbieren. Andere wollen gleich zwei Punkte
durchschnittliche Wachstumsrate von 22 %. Mehrwertsteuererhöhung. Was die Ergänzungsab-
gabe betrifft, ist alles unklar.
(Dr. Willfried Penner [SPD]: Ein bißchen
viel!) Noch grotesker ist die Diskussion über den Subven-
tionsabbau. Als Sie an die Regierung kamen, hat fast
Darf ich Sie daran erinnern, daß selbst in der Auf- jeder der sich zu finanzwirtschaftlichen Fragen äu-
schwungphase zwischen 1950 und 1960 der Durch- ßerte gesagt: Das ist die Regierung des Subventions-
schnitt des Wirtschaftswachstums gerade bei 7 % lag; abbaus.
das höchste Wachstum betrug 12 % , das niedrigste
3,6 %. Aber seit 1982 ist keine wesentliche subventions-
Der Bundeskanzler zieht durch die Lande und ver- politische Maßnahme beschlossen worden, die diesen
Begriff rechtfertigt.
spricht den Ostdeutschen, in drei bis vier Jahren
werde das Leistungsvermögen etwa wie im Westen (Adolf Roth [Gießen] [CDU/CSU]: 14 Milliar
sein. Diese Fehleinschätzung ist nur noch mit der Be- den DM im letzten Jahr!)
hauptung vergleichbar, daß es im letzten Jahr ein
Wirtschaftswunder hätte geben müssen. Jetzt sagt der Herr Möllemann, er wolle zurücktre-
ten, wenn nicht 10 Milliarden DM erwirtschaftet wür-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten den. Gestern sagte er noch, er wolle einen Unterneh-
des Bündnis 90/GRÜNE) mer als Subventionsbeauftragten berufen, der Vor-
Diese Fehleinschätzung wird fortgesetzt. schläge machen solle. Jetzt geht es nicht nur um eine
Privatisierung von öffentlichen Einrichtungen, son-
Warum müssen wir das immer wieder wiederho- dern auch noch um eine Privatisierung der Politik. Ist
len? es nicht eine Schande, wenn eine Regierung sagt, sie
(Adolf Roth [Gießen] [CDU/CSU]: Ihr müßt brauche Unternehmensberater, um Subventionen ab-
gar nicht!) zubauen?
— Wir müssen das wiederholen, weil sich aus dieser (Beifall bei der SPD — Adolf Roth [Gießen]
Fehleinschätzung ständig die Fehleinschätzungen im [CDU/CSU]: Auch Sie nehmen doch Bera
Bereich der Finanzpolitik entwickeln. Die Fehlein ter!)
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2105
Wolfgang Roth
Meine Damen und Herren von der Regierung, ich Lassen Sie mich noch über ein besonderes Thema
empfehle, beim Subventionsabbau ganz genau dar- sprechen, das die neuen Bundesländer betrifft und mir
über nachzudeken, daß jede einzelne entscheidene auch bei meinen Begegnungen im Osten immer grö-
Maßnahme der Zustimmung des Bundesrates be- ßere Schwierigkeiten macht.
darf. Sie alle wissen, daß es beim Übergang von der ehe-
(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Eine maligen Ostmarkt zur D-Mark erhebliche Wirtschafts-
Drohung?) kriminalität gegeben hat. Wir reden zwar zur Zeit viel
Sie haben vorhin in Richtung Bundesratsbank gesagt, über Schalck-Golodkowski — das geschieht zu Recht;
Sie erwarteten eine kooperative Haltung. Das gilt ge- es wird darüber einen Untersuchungsausschuß ge-
rade beim Subventionsabbau. Wer über den Kahl- ben —; aber es gibt im Zusammenhang mit der Ein-
schlag für das Revier nachdenkt, wer den Bergbau führung der D-Mark noch sehr viele andere unge-
zerstören will, der wird in der SPD keine Gesprächs- sühnte Durchstechereien.
partner finden. (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Weiß Gott!)
(Beifall bei der SPD) Während wir an die Bürgerinnen und Bürger appel-
Wir sind aber bereit, über alle anderen Themen zu lieren, mit der Ergänzungsabgabe und mit der in zwei
sprechen, weil der derzeitige Umfang der Verschul- Jahren eintretenden Mehrwertsteuererhöhung zur so-
dung in der Bundesrepublik Deutschland nicht zu ak- liden Finanzierung der Integration der ehemaligen
zeptieren ist. DDR beizutragen, gibt es Leute, die auf Kosten der
Bürgerinnen und Bürger dort Tag für Tag an der frü-
Wenn ich alle Kredite des Jahres 1991 addiere, dann heren DDR verdienen. Das kann nicht so weiterge-
komme ich zu Kreditaufnahmen von etwa 200 Milliar- hen.
den DM.
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/
(Karl Stockhausen [CDU/CSU]: Das hat Frau GRÜNE — Siegfried Hornung [CDU/CSU]:
Matthäus-Maier schon gesagt!) - Traurig genug! — Zuruf von der CDU/CSU:
Es entfallen 149 Milliarden DM auf Bund, Länder und Da wird so mancher Sozialdemokrat dabei
Gemeinden direkt sowie auf den Fonds Deutsche Ein- sein!)
heit, ERP; 22 Milliarden DM auf die Treuhand; 7 Mil- Wir müssen sehen, daß für viele drüben der Ein-
liarden DM auf die Bahn; 15 Milliarden DM auf die
druck entstanden ist, hier gehe es nicht um Soziale
Post; 5 Milliarden DM auf den Kreditabwicklungs-
Marktwirtschaft, sondern um Geschäftemacherei und
fonds; 7 Milliarden DM auf die Ablösung von Krediten
Spekulantentum.
im Wohnungsbau. Das ergibt über 200 Milliarden
DM. Ich spreche über eine spezielle Branche. Ich meine
nicht die guten, vernünftigen Wirtschaftsprüfer und
Wir sind inzwischen bei nahezu 8 % Schulden, ge-
-berater. Aber das, was im Beratungswesen in den
messen am Bruttosozialprodukt. Diese Verschul-
neuen Bundesländern umherrennt und für teures
dungsrate ist höher als beispielsweise die Verschul-
Geld falsche Ratschläge gibt, ist unerträglich. Ich bitte
dungsrate von Herrn Reagan. Eine derartige Finanz-
auch die Verbände, dafür zu sorgen, daß das gestoppt
politik ist auf Dauer nicht machbar.
wird.
(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Für was?)
(Beifall bei der SPD und der FDP — Siegf ried
— Es geht nicht um die Frage: Für was? Stellen Sie Hornung [CDU/CSU]: Jawohl!)
sich einmal vor, wieviel Kurzarbeitergeld in der frühe-
ren DDR zur Zeit aus Schulden bezahlt wird! Das sind Tut die Bundesregierung hiergegen etwas? Ich
keine Investitionen, sondern konsumtive Ausgaben. habe bisher nichts gehört.
(Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Richtig! (Karl Deres [CDU/CSU]: Was soll sie denn
— Siegf ri ed Hornung [CDU/CSU]: Heißt machen?)
das: Sie wollen gar nichts bezahlen? — Wei Das muß sich schnell ändern. Wir dürfen es nicht zu-
terer Zuruf von der CDU/CSU: Wollen Sie lassen, daß der Start der Marktwirtschaft in den neuen
streichen? — Gegenruf des Abg. Dr. Hans Bundesländern in einem Sumpf von Schieberei ver-
Jochen Vogel [SPD]: Ist das primitiv!) sinkt.
— Ich bin ja der Auffassung, daß wir helfen müs- Wir müßten eine Sonderarbeitsgruppe der Ministe-
sen; rien in Bonn und der neuen Bundesländer schaffen,
(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Na die beispielsweise die Staatsanwaltschaften berät und
und? Wie denn?) auch typische Fallkonstruktionen veröffentlicht, da-
mit die Leute vor derartigen Aktionen gewarnt sind.
aber ich bin nicht der Auffassung, daß diese Finanz-
politik auf die Dauer fortgesetzt werden kann. In dem Zusammenhang ist auch die Wirtschaft ge-
fordert. Eine große Versicherungsgesellschaft kann
Deshalb schlagen wir vor, daß dieser Dialog be- nicht einfach wegsehen, wenn in ihrem Auftrag und
ginnt, für ihre Provision Dutzende, Hunderte von Schlep-
(Zuruf von der CDU/CSU: Nicht nur re pern durch die neuen Bundesländer fahren und die
den!) Leute zu Versicherungen überreden, die sie auf die
und zwar auch über die Frage einer Verbesserung der Dauer überhaupt nicht bezahlen können.
Steuerstruktur in der Bundesrepublik und einer bes- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Sehr
seren Finanzabdeckung. richtig!)
2106 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991
Wolfgang Roth
Ich fordere auch die deutsche Versicherungswirt- Sechster Punkt. Die Tatsache, daß eine Regelung
schaft auf, hier endlich für solide Verhältnisse zu sor- der ökologischen Altlasten bis heute fehlt, führt auch
gen. Das ist nicht nur eine staatliche Aufgabe. zu unterlassenen Investitionen im ökologischen Sek-
tor.
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/
GRÜNE sowie des Abg. Dr. Freiherr Wolf Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum
gang von Stetten [CDU/CSU] — Siegf ried Schluß sagen: Es gibt neue Vorschläge, es gibt zusätz-
Hornung [CDU/CSU]: Sehr gut!) liche Ideen. Es muß einen zusätzlichen Ideenwettbe-
werb in Richtung auf die neuen Bundesländer geben.
Lassen Sie mich einige Worte zu den Kaufhauskon- Gehen Sie endlich von Ihrem hohen Roß herunter!
zernen sagen. Ich weiß, da handelt es sich nicht um Gehen Sie in sorgfältige Gespräche mit Bundesrat und
Wirtschaftsk rimina li tät. Aber auch sie sind rechen- Opposition! Wir haben weitere Anregungen. Helfen
schaftspflichtig. Warum sind denn dieselben Güter im Sie mit, daß den Menschen im Osten geholfen wird!
Osten teurer als im Westen? Das darf doch nicht wahr
sein! Wir verlangen von den Bürgern Steuergelder zur (Beifall bei der SPD, dem Bündnis 90/
Finanzierung des Aufbaus im Osten und manche GRÜNE und der PDS/Linke Liste)
Kaufhauskonzerne nutzen die mangelhafte Wettbe-
werbssituation im Osten gnadenlos aus. Das muß auf-
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das Wort hat der
hören. Kollege Dietrich Austermann.
(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten
des Bündnisses 90/GRÜNE)
Dietrich Austermann (CDU/CSU) : Frau Präsidentin!
Ich fordere den Wirtschaftsminister auf, hiergegen zu- Meine Damen und Herren! Es ist, glaube ich, vernünf-
sammen mit dem Bundeskartellamt stärker vorzuge- tig und richtig, daß man nach den Ausführungen des
hen. Kollegen Roth noch ein paar klarstellende Bemerkun-
-
(Dr. Otto Graf Lambsdorff [FDP]: Was soll gen zu dem macht, was er gesagt hat, und ein paar
denn das Kartellamt dabei machen?) kurze Sätze anschließt.
Das zentrale Problem im Osten ist und bleibt die (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Er hat über
Arbeitslosigkeit. Das zentrale Problem ist die Gefahr, haupt nichts gesagt!)
daß wir im Dezember 3 Millionen Arbeitslose haben Es muß ganz deutlich unterstrichen werden, daß die
werden. Ich glaube nicht, daß das Instrumentarium SPD durch ihre Verzögerungshaltung im letzten Jahr
ausgereizt ist. die Voraussetzung für das, was in den neuen Bundes-
Wir machen heute erneut Vorschläge. Ich unter- ländern zu geschehen hat, gerade erschwert und nicht
breite Ihnen noch einmal sechs Punkte, weil sie in der erleichtert hat. Sie hat den Wahltermin verzögert, und
sie hat viele andere Dinge problematisiert.
von Regierung und Opposition gebildeten Arbeits-
gruppe nicht durchgesetzt werden konnten. (Beifall bei der CDU/CSU)
Erster Punkt. Massenentlassungen im Osten müs- Es muß auch festgestellt werden, daß Anlaß für Runde
sen ausgesetzt werden, und als Nachfolgeregelung Tische in auslaufenden Diktaturen ist, aber nicht in
zur Kurzarbeit Null müssen flächendeckend Beschäf- einer funktionierenden Demokratie.
tigungsgesellschaften gegründet werden. Es darf (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
eben nicht entlassen werden. Wenn das Angebot zur Zusammenarbeit besteht, soll
Zweiter Punkt. Bei öffentlichen Aufträgen in den es gerne genutzt werden. Auf Runde Tische ist man
neuen Bundesländern müssen 70 % der Wertschöp- aber nicht unbedingt angewiesen.
fung aus östlicher Leistungserstellung nachgewiesen Die Debatte um den Kanzleretat stellt immer auch
werden. Das ist übrigens ein Punkt, auf den gerade die Frage, ob und wie gut dieses Land geführt wird
Klaus Dohnanyi aus seiner Erfahrung heraus ständig und wie die Alternative aussähe. Dies muß man deut-
hinweist. lich herausstellen. Ich kann nur sagen: Nach der De-
Dritter Aspekt. Finanzielle Absatzhilfen für Indu- batte heute morgen sprechen viele, ja eigentlich alle
strieprodukte müssen fortgeführt werden, sie dürfen Indizien dafür, daß eine andere, beispielsweise SPD
nicht in diesem Jahr auslaufen, sonst gibt es unnötige geführte, Bundesregierung die Wiedervereinigung
Betriebsschließungen, die man verhindern kann. nicht so schnell herbeigeführt hätte und dies für alle
Bürger teurer geworden wäre. Dies zeigen auch die
Vierter Punkt. Es muß zusätzliche Stützungsmaß- Erklärungen über Subventionsabbau und Steuererhö-
nahmen für den Osthandel geben, und zwar nicht nur hungen, die Herrn Roth bei weitem noch nicht ausrei-
in Richtung Sowjetunion, sondern auch in Richtung chen. Ich möchte ganz deutlich sagen: Wer nach den
der kleineren Länder. Erfahrungen von 1982 heute an einen Regierungs-
Fünftens. Wir brauchen endlich eine vernünftige wechsel zur SPD denkt, ist entweder Masochist, oder
Entschuldungsregelung. Die Fall-zu-Fall-Regelung er leidet an retrograder Amnesie.
hat sich als schwerer Fehler erwiesen und hat zu wei- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
teren Betriebsstillegungen geführt, die man verhin-
Meine Damen und Herren, es besteht allerdings in
dern muß.
der Tat Bedarf und Notwendigkeit, über das, was bis-
(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Aber mit her eingeleitet worden ist und was wir miteinander
Nullwachstum kann man das nicht errei begonnen haben, zu informieren. Wer ein objektives
chen!) Bild hat, wird feststellen, daß die wirtschaftlichen Da-
Deutscher Bundestag -- 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2107
Die tr ich Austermann
ten in der Bundesrepublik so gut waren wie nie zuvor ses zu einer Meinung. Dies zeichnet nicht gerade Füh-
und daß sich auch in den östlichen Bundesländern die rung aus.
Zeichen der Besserung mehren. Selbst ADN ist nicht Diese Regierungskoalition, meine Damen und Her-
mehr in der Lage zu leugnen, daß sich einiges tut, daß ren, hat die Zwölfte Wahlperiode mit einem klaren
Großunternehmen zunehmend investieren, wie noch Programm begonnen. Wir könnten sicherlich ein
gestern in der „Neuen Zeit" gemeldet wurde. Stück weiter sein. Manches hätte — auch dadurch,
Meine Damen und Herren, es ist aber auch die daß die Opposition besser mitgemacht hätte — besser
Frage zu stellen, wie es mit dem Thema Steuerirrtum/ laufen können. Aber der Weg ist richtig. Heute kann
Steuerlüge/Steuerbetrug nun tatsächlich aussieht. man sagen: Das Schiff nimmt fahrt auf. Zum Kapitän
Wenn wir ein paar Zitate heranziehen, dann wird gibt es keine Alternative. — Die CDU/CSU stimmt
deutlich, daß die Sozialdemokraten selbst Fehlein- dem Kanzleretat zu.
schätzungen unterlegen sind. Dies gilt nicht nur für Herzlichen Dank.
Lafontaine mit der Äußerung, die DDR sei ein lunren- (Beifall bei der CDU/CSU)
des Industrieland gewesen, sondern auch für Herrn
Stolpe, der noch im Februar sagte: Es fehlen uns heute
aktuelle Bestandsaufnahmen. — Und Engholms Fi- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Damit schließe ich
nanzministerin schloß am 21. Feb ru ar 1991 an: Die die Aussprache zu Einzelplan 04.
neuen Bundesländer sollen erst einmal in den eigenen Wir kommen zur Abstimmung über diesen Einzel-
Taschen nachsehen, was drin ist. Man kann uns also plan in der Ausschußfassung. Die Fraktion der CDU/
nicht vorwerfen, wir hätten zu spät gehandelt. CSU verlangt namentliche Abstimmung. Ich eröffne
die Abstimmung. —
Helmut Schmidt hat kurz vor der Wahl gesagt, La-
Darf ich fragen, ob noch irgend jemand im Saal ist,
fontaine verliere zu Recht; Helmut Kohl habe innen-
der seine Stimme nicht hat abgeben können? — Das
politisch keine Fehler gemacht. Zu den Vorwürfen aus
ist nicht der Fall. Damit schließe ich die Abstimmung
seiner Partei hinsichtlich einer angeblichen Steuer-
- und bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu
lüge sagt er am 12. Ap ril dieses Jahres vor der Atlan-
beginnen.
tikbrücke, den Vorwurf der Steuerlüge an die Adresse
der Herren Kohl, Waigel und Lambsdorff habe er nicht Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird
geteilt. Karl Schiller sagt, er hätte genauso gehandelt später bekanntgegeben. *)
wie Herr Waigel und auch Widerstand geleistet gegen
übertriebene vorweggenommene Steuererhöhungen, Ich rufe nun auf:
so wie sie von der SPD immer wieder gefordert wür- Einzelplan 09
den.
Geschäftsbereich des Bundesministers für
Herr Engholm dagegen geht mit weinerlicher Wirtschaft
Stimme durch das Land Schleswig-Holstein und sagt, — Drucksachen 12/509, 12/530 —
er müsse wegen der Bonner Haushaltsmaßnahmen
Berichterstatter:
viele Dinge streichen. Hierzu ist festzustellen: Auch in
Abgeordnete Kurt J. Rossmanith
Schleswig-Holstein geht es zur Zeit wegen der guten
Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen)
Bundespolitik besser denn je.
Helmut Wieczorek (Duisburg)
(Beifall bei der CDU/CSU — Zustimmung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
des Abg. Dr. Otto Garf Lambsdorff [FDP] — die Aussprache zu diesem Einzelplan zwei Stunden
Unruhe bei der SPD) vorgesehen. — Dagegen gibt es keinen Widerspruch.
Dann ist dies so beschlossen.
Das Land erhält mehr Hilfestellung denn je. Alleine
die direkten Finanzhilfen auf der Grundlage des jetzt Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bür-
zu beschließenden Haushalts belaufen sich für dieses germeister des Landes Bremen, Klaus Wedemeier.
Jahr auf 2,5 Milliarden DM. Wenn es in Schleswig-
Holstein gut läuft, dann deshalb, weil der Bund nach Präsident des Senats Klaus Wedemeier (Bremen):
wie vor so massiv hilft und nicht etwa deshalb, weil Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
das Land eine hervorragende Regierung hat. Herren! Es mag manchem ungewöhnlich erscheinen,
daß sich ein sozialdemokratischer Ministerpräsident
In diesem Zusammenhang müßte man eigentlich
gegen die in Rede stehenden Vorschläge zum Sub-
die alternative Halbzeitbilanz der Jusos aus dem letz-
ventionsabbau ausspricht.
ten Jahr über Engholms Regierungszeit zitieren, in
der von Pleiten, Pech und Pannen als integralem Be- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Da
standteil der sozialdemokratischen Regierungspolitik haben wir keinen Zweifel, daß Sie das lobby
in Schleswig-Holstein die Rede ist. istisch tun werden!)
Aber es gibt Gründe dafür, sich gegen das auszuspre
Meine Damen und Herren, die Ergebnisse nach
chen, was der Bundeswirtschaftsminister derzeit vor
achteinhalb Jahren Regierungszeit in Bonn sind her-
schlägt, und zwar, wie Sie wissen, nicht nur bei uns.
vorragend; die Ergebnisse für die neuen Bundeslän-
der werden besser. Dies kann gar nicht oft genug (Ernst Kastning [SPD]: Es gibt auch Gründe
unterstrichen werden. Es gibt überhaupt keine Veran- dafür, daß er zuhören sollte!)
lassung, über andere, neue Regierungen nachzuden- — Dann würde er etwas lernen; das wäre schwierig.
ken. Bei wesentlichen Entscheidungen kam die SPD
immer erst nach Abschluß des Entscheidungsprozes- *) Ergebnis Seite 2111 A
2108 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991
Kurt J. Rossmanith
Ich glaube, dem brauchen wir nichts mehr hinzuzufü- schen Bauunternehmer bei den weiteren Bauab-
gen. schnitten einsetzen wird.
Der Haushalt des Bundesministers für Wirtschaft ist
Wir müssen angesichts dieser großen finanziellen
von den Folgekosten der deutschen Einheit gekenn-
Belastungen durch die deutsche Einheit natürlich
zeichnet. Sein Volumen hat sich mehr als verdoppelt
weiterhin eine strenge Ausgabendisziplin verfolgen.
und beläuft sich für das laufende Haushaltsjahr 1991
Deswegen konnten wir nicht allen Wünschen und al-
auf rund 14,5 Milliarden DM. Der Mehrbedarf ist, wie
len Anregungen in diesem Haushalt Rechnung tra-
gesagt, fast ausschließlich einigungsbedingt.
gen. Wir sind uns mit dem Sachverständigenrat und
Bei den Beratungen im Haushaltsausschuß hat es den wirtschaftswissenschaftlichen Instituten darin ei-
weitgehend Einvernehmen über die Ansätze dieses nig, daß ein Defizit in der derzeitigen Höhe nicht auf
Einzelplans gegeben. Ich möchte deshalb vor allem Dauer ohne Schaden für die gesamte Wirtschaft
meinen Berichterstatter-Kollegen von dieser Stelle durchgehalten werden kann. Nur muß ich hier wieder
aus noch einmal meinen Dank für die faire und sach- an die Kolleginnen und Kollegen der großen Opposi-
liche Zusammenarbeit aussprechen. tionspartei appellieren, der nichts anderes und nichts
Danken möchte ich aber auch den mit dem Haus- Besseres einfällt, als nach weiteren Steuererhöhun-
halt beschäftigten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gen zu rufen. Wir haben uns zum Ziel gesetzt — das ist
im Wirtschaftsministe rium und im Finanzministerium, sicherlich ein sehr schwieriges Unterfangen —,
die nicht nur eine umfangreiche und sehr gute Vorar-
(Ernst Waltemathe [SPD]: Wer ist denn jetzt
beit geleistet haben, sondern uns auch jede ihnen
mögliche Unterstützung haben zukommen lassen. „wir"?)
Lassen Sie mich deshalb nur ganz kurz und in Stich- durch Subventionskürzungen auch zu einer Konsoli-
punkten auf die Schwerpunkte der einigungsbeding- dierung des Haushaltes, Herr Kollege Waltemathe,
ten Ausgaben im Einzelplan des Bundesministers für beizutragen. Ich bin mir bewußt — wir machen diese
Wirtschaft eingehen, die sich auf mehr als 7 Milliar- Arbeit im Haushaltsausschuß ja schon lange ge-
den DM belaufen. nug — , daß Finanzhilfen und Steuernachlässe gestal-
tende Politik sind, bei deren Reduzierung aber natür-
Dabei handelt es sich u. a. um Maßnahmen zur För- lich nicht nach dem Sankt-Florians-Prinzip vorgegan-
derung des wirtschaftlichen Wiederaufbauprozesses.
gen werden darf. Deshalb halte ich, was Subventions-
Hierzu gehören die Investitionsförderung im Rahmen abbau anlagt, überhaupt nichts von der Rasenmäher-
der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regio-
methode, nach der alle Subventionen ohne Rücksicht
nalen Wirtschaftsstruktur" mit 2 Milliarden DM sowie
auf Zweck und Bedeutung einfach um einen bestimm-
die Förderung der mittelständischen Wirtschaft mit ten Prozentsatz gekürzt werden.
knapp 700 Millionen DM. Die Erfahrungen in den
alten Bundesländern haben ja gezeigt, daß gerade die (Beifall der Abg. Lieselott Blunck [SPD])
mittelständischen Betriebe entscheidend zum Struk-
turwandel und zur Schaffung neuer Arbeitsplätze bei- — Ich freue mich ja, Frau Kollegin, wenn wir hier einig
tragen können. Deshalb ist diese Schwerpunktverla- sind. Ich bin überzeugt, daß wir dann auch ein ent-
gerung in diesem Haushalt für diesen Bereich für mich sprechendes Ergebnis erzielen werden.
eine ganz wichtige und logische Konsequenz. Ich
glaube — und ich bin überzeugt, daß wir uns darin Ich bin der Meinung, daß die Finanzhilfen und
hier alle einig sind — , daß die Förderung der Grün- Steuervergünstigungen im einzelnen auf Notwendig-
dung selbständiger Existenzen in den neuen Bundes- keit und Höhe überprüft werden müssen. Nur so las-
ländern von uns allen nachhaltig begrüßt wird. sen sich sinnvolle und vertretbare Ergebnisse errei-
Große Bedeutung kommt sicherlich auch der Bera- chen. Staatliche Hilfen, meine sehr verehrten Damen
tung und Qualifizierung der Arbeitnehmer zu. Auch und Herren und werter Herr Minister Möllemann,
diese Mittel haben wir im Haushaltsausschuß noch sind natürlich auch keine Entscheidung parteipoliti-
entsprechend aufgestockt, ohne aber das Volumen scher Opportunität. Ich gehe durchaus mit Ihnen ei-
des Einzelplans insgesamt zu erhöhen. Wir haben es nig, daß die staatlichen Hilfen dort deutlich reduziert
durch Umschichtungen geschafft. Das sind für mich oder ganz gestrichen werden müssen, wo ein Abbau
Maßnahmen, die zwingend erforderlich sind. kranker und längst überholter Strukturen erreicht
werden kann, d. h. für mich Reduzierung und Abbau
Neben den Mitteln für diese Förderungsmaßnah- von Finanzhilfen und Steuervergünstigungen, die
men sind natürlich auch noch sonstige Folgekosten wirtschaftlich überflüssig sind, die veraltete Struktu-
der deutschen Einheit veranschlagt. Sie machen allein ren festigen und keinerlei Zukunftsperspektiven dar-
in diesem Jahr rund 4 Milliarden DM aus. Neben der stellen.
Aufarbeitung von Hinterlassenschaften der ehemali-
gen DDR — ich nenne hier nur die Rekultivierung der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Uranbergbaugebiete in Thüringen und Sachsen — der FDP)
umfassen diese Kosten auch die erste Rate für das
Wohnungsbauprogramm für die in ihre Heimat zu- Wir müssen aber dort Akzente setzen, wo es sich um
rückkehrenden sowjetischen Truppen. Die Durch- die Sicherung von Zukunftstechnologien und damit
führung dieses Programms hat in der letzten Zeit et- um zukunftssichere Arbeitsplätze handelt. Finanzhil-
was zu Irritation geführt. Ich hoffe, sehr geehrter Herr fen und steuerliche Erleichterungen sollten deshalb
Bundesminister Möllemann, daß sich die Bundesre- als Anschubfinanzierung wirken, zu Investitionen an-
gierung für eine angemessene Beteiligung der deut- regen, die für die Wirtschaft erforderlichen Zukunfts-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2115
Kurt J. Rossmanith
strukturen schaffen, und sie sollten natürlich nicht auf wort zu geben: für mich ein ganz klares Nein. Es han-
Dauer angelegt sein. delt sich hierbei nämlich nicht um eine Erhaltungs-
subvention zu Lasten von Wachstum und Beschäfti-
(Lieselott Blunck [SPD]: Das muß man Herrn gung, nicht um eine Beeinträchtigung der Leistungs-
Kiechle ins Stammbuch schreiben!) und Wettbewerbsfähigkeit.
— Auch das ist ein Thema, über das wir uns noch Deshalb beteiligt sich der Staat ganz bewußt am
werden unterhalten müssen: Was ist Subvention und Risiko neuer Entwicklungen, und zwar nicht nur in
was nicht? Verehrte Frau Kollegin Blunck, ich werde Form verlorener Zuschüsse, sondern auch in Form
gleich den Versuch machen, darauf eine Antwort zu bedingt rückzahlbarer Darlehen, insbesondere was
geben. Ich wäre dankbar, wenn wir diese Antwort die Luftfahrt anlangt, die im Erfolgsfall sogar eine
gemeinsam finden würden. unbefristete Rückzahlung erfordern.
Es wird soviel über Subventionen gesprochen. Je- Aus diesem Grunde müssen wir — davon bin ich
der meint, hier mitreden zu können und mitreden zu überzeugt, meine sehr verehrten Damen und Her-
müssen, ohne im Endeffekt überhaupt zu wissen, um ren — eine Ergänzung zur Förderung des Großflug-
was es sich bei einer Subvention handelt. zeugbaus vornehmen, um auch der mittelständischen
Luftfahrtindustrie bei uns in Deutschland den Zugang
Herr Bürgermeister Wedemeier hat aus seiner Sicht zum internationalen Markt zu erschließen.
mit Recht — ich darf Ihnen sagen: hier haben Sie die
Unterstützung des gesamten Deutschen Bundestages (Zustimmung des Abg. Dr. Hermann Schwö
von Nord bis Süd — einen Punkt herausgegriffen, rer [CDU/CSU])
nämlich den Werftenbereich. Ich weiß, daß es dabei Deutsche mittelständische Hersteller von Fluggeräten
um etwa 35 000 bis 37 000 Arbeitsplätze geht. Ich verfügen über innovative Ressourcen für technisch
habe — heute allerdings zum erstenmal, wie ich sa- moderne und ökologisch verträgliche Flugzeuge, so-
gen muß — dankbar vernommen, daß dabei auch süd- wohl was die Werkstoffe und die Aerodynamik als
deutsche, insbesondere bayerische Unternehmen be- auch den Antrieb bet rifft. Diese Chance, meine sehr
-
teiligt sind, was den Ausbau anlangt. verehrten Damen und Herren, darf nicht vertan wer-
den; zukunftstechnologisch hochstehende Arbeits-
Aber nicht dies war für uns der Anlaß, uns massiv plätze dürfen unserer Jugend nicht vorenthalten wer-
für eine Fortführung der Wettbewerbshilfe für die den. Ich weiß aus zahlreichen Diskussionen mit Fach-
Werften einzusetzen, und zwar von seiten der CDU/ leuten aus der Wirtschaft, daß diese Ansätze der staat-
CSU, der FDP und der SPD. Ich danke meinen nord- lichen Förderung nicht nur notwendig, sondern auch
deutschen Kolleginnen und Kollegen, die dabei die richtig sind und quasi als Eintrittsgeld für die Techno-
entsprechende Unterstützung und Hilfestellung ge- logie der Zukunft dienen. Das vorhandene Fluggerät
geben haben. Ich danke auch den Werften, die mir die — wir alle wissen das und spüren es mitunter selbst
Möglichkeit gegeben haben, mich vor Ort von der sehr schmerzhaft — ist zum überwiegenden Teil tech-
Notwendigkeit dieser Hilfe zu überzeugen. nisch überaltert und ökologisch nicht mehr zeitgemäß.
Sie alle wissen, daß der Haushaltsausschuß und da- Hoher Ersatzbedarf erwartet deshalb innovative und
mit auch meine Person in dieser Frage mit Herrn Möl- wirtschaftliche Fluggeräte. Hier müssen wir unseren
lemann gewisse Schwierigkeiten haben oder hatten. Beitrag leisten. Wir sollten bereits jetzt, Herr Bundes-
Aber einen Vorwurf, Herr Bürgermeister Wedemeier, minister Möllemann, Vorsorge für den Haushalt 1992
darf ich auf ihm nicht sitzenlassen: daß er nicht das treffen. Ich und alle in diesem Parlament sind diesbe-
Gespräch gesucht habe. Ich weiß, daß er mehrere züglich gern zur Mitarbeit bereit, damit wir bei dieser
Gespräche geführt hat und daß er weitere Gespräche Zukunftstechnologie nicht vom internationalen Wett-
mit der Schiffbauindustrie führen wird. Das möchte bewerb abgekoppelt werden und sie nicht nur den
ich hier auch einmal erwähnen. Vereinigten Staaten, den Japanern oder den Franzo-
sen, die jetzt verstärkt auf diesen Markt drängen,
Ich möchte noch zwei weitere Bereiche, was den überlassen, sondern daß wir diese Zukunftstechnolo-
Subventionsabbau anlangt, exemplarisch erwähnen, gie selbst gestalten. Wir sollten dafür Sorge tragen,
und zwar zum einen das Eigenkapitalhilfeprogramm. daß unsere jungen Menschen, die heute in dieser
Hier ist beabsichtigt, für die bisherigen Bundesländer Technologie arbeiten, die heute das Studium aufneh-
das Eigenkapitalhilfeprogramm mit Ablauf dieses men und die heute ihren Ausbildungsplatz in diesem
Jahres auslaufen zu lassen. Ich glaube, meine verehr- Bereich suchen, diese zukunftstechnischen Berufe
ten Kolleginnen und Kollegen, verehrter Herr Bun- auch hier in Deutschland vorfinden und nicht ins Aus-
desminister, auch darüber müssen wir uns noch ein- land abwandern müssen.
mal nachdrücklich unterhalten. Ich sehe in diesem
Ich bedanke mich.
Eigenkapitalhilfeprogramm eine wesentliche Stütze
unseres wirtschaftlichen Erfolgs und des Auf- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
schwungs.
Ich möchte ganz kurz exemplarisch auch die allge- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das Wort hat der
meine Luftfahrt ansprechen. Ich möchte an uns alle Kollege Wolfgang Weng.
— das habe ich schon angedeutet, verehrte Frau Kol-
legin Blunck — , die Frage richten, ob denn bei dieser Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (FDP): Frau Präsi-
Zukunftstechnologie — seien es die Werften oder die dentin! Meine Damen und Herren! Wahrscheinlich ist
allgemeine Luftfahrt — eine staatliche Förderung der der Öffentlichkeit bisher gar nicht bewußt gewesen,
Entwicklungskosten eine Subvention im üblichen daß im Einzelplan des Wirtschaftsministers eine große
Sinne darstellt. Ich weigere mich nicht, Ihnen die Ant- Menge von Subventionen etatisiert sind. Ohne jetzt
2116 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991
Bernd Henn
eines demokratischen Sozialismus, über alle diese sche Einheit geht. Diese Kosten können von denen
Dinge werden wir streiten können, hier und sicher aufgebracht werden, die über Vermögen verfügen,
auch andernorts. die an der Einheit verdient haben und immer noch an
ihr verdienen.
In diese Diskussion gehört aber dann auch das
Thema der humanen und sozialen Kosten unserer (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Die PDS! Das
kapitalistischen Ellenbogengesellschaft. Dazu gehört gestohlene Geld soll sie mal zurückgeben!
dann auch die Frage, warum in unserer ach so effi- Dem Volk gestohlenes Geld!)
zienten Wirtschaft die Gesellschaft Millionen Sozial- — Herr Hinsken, inzwischen sollten Sie es beg ri ffen
hilfeempfänger zu versorgen hat. 31,6 Milliarden DM haben: Kümmern Sie sich um Schalck-Golodkowski;
waren es 1990. Dazu gehört weiter die Frage, warum da ist noch einiges zu holen. Lassen Sie den nicht
in dieser ach so effizienten Wirtschaft weitere Millio- immer ungeschoren.
nen Menschen in nicht geschützten Arbeitsverhältnis- (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Das war
sen leben — Stichworte: Zeitverträge, Leiharbeit, doch Ihr Erfüllungsgehilfe!)
Teilzeitarbeit unter der Sozialversicherungsgrenze
usw. — und warum immer noch fast zwei Millionen Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Menschen in Westdeutschland arbeitslos sind. Die Treuhand-Verkäufe sollen 400 000 Arbeitsplätze in
alte BRD war und ist ebensowenig ein Arbeiterpara- der ehemaligen DDR gesichert haben; so Herr
dies, wie es die DDR war. Dr. Waigel hier gestern in der Debatte und der Bun-
deskanzler in der Wirtschaftskonferenz. An der sozia-
Dies alles wird Thema sein, weil es auf die Dauer len Katastrophe ändert das nichts. Die Treuhand-Un-
unerträglich ist, daß die berechtigten Ansprüche der ternehmen werden bis zum Jahresende ihre Beleg-
westdeutschen Arbeiter und Angestellten wegen der schaftszahl laut Treuhand-Be richt von 2,8 Millionen
Vereinigung unter die Räder kommen. auf 1,4 Millionen halbieren; fast 500 000 Kündigun-
Man kann viel darüber reden, daß die Maschinen gen werden den Arbeitern und Angestellten noch bis
und Anlagen in der ehemaligen DDR auf- Verschleiß Ende Juni zugehen. Da nützen auch die gebetsmüh-
gefahren und vor allem die menschlichen Ressourcen lenartigen Verweise auf 40 Jahre Sozialismus nichts
fehlgeleitet wurden. Das haben die Arbeiter und An- mehr.
gestellten und viele Betriebsleiter drüben sehr wohl Der Weg zum schrittweisen Umbau der DDR-Wirt-
beklagt, ohne daß sie daran etwas ändern konnten. schaft auf Weltmarkterfordernisse stand 1990 offen. Er
ist bewußt nicht gegangen worden, und zwar nicht,
Aber man muß auch wieder darüber reden, daß in weil angeblich das Tor zur Einheit nur kurze Zeit offen
unserer kapitalistischen Ellenbogengesellschaft viele stand. Wenn man die Position von Gorbatschow im
Menschen im Arbeitsprozeß physisch und psychisch Hinblick auf den Weltwirtschaftsgipfel beurteilt, kann
auf Verschleiß gefahren werden und daß in den Fabri- man nun wirklich nicht zu diesem Urteil kommen. Das
ken und Verwaltungen täglich mehr Menschen, die ist also Legendenbildung.
gesundheitlich angeschlagen sind, arbeiten, als
gleichzeitig Menschen wegen einer ärztlich attestier- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]:
ten Krankheit nicht arbeiten. Deshalb werden wir die- Diese Ihre Bemerkung ist nicht nur eine Un
sen törichten Schwätzern, welche die Lohnfortzah- verschämtheit, sondern sie ist auch eine
lung im Krankheitsfall angreifen, auch jeglichen ent- Frechheit! — Ernst Hinsken [CDU/CSU]:
schiedenen Widerstand entgegensetzen. Die Effizienz Und obendrein dumm!)
unserer westdeutschen Wirtschaft hatte und hat eben — Das mag Ihr Urteil sein. Ich denke, daß die Chancen
auch ihren menschlichen Preis. für die deutsche Einheit, einen anderen Weg zu ge-
Die Arbeiter und Angestellten haben den westdeut- hen, im Jahre 1990 gegeben waren.
schen Unternehmen im Jahre 1990 ein neugebildetes Die wahren Gründe dürften an anderer Stelle lie-
Geldvermögen von 187 Milliarden DM erarbeitet. Die gen. Der Kollege Roth hat ja hier heute schon ange-
liquiden Mittel wuchsen damit auf mehr als 1,5 Billio- deutet, wer an der Einheit verdient. Ich denke, daß
nen DM an. 680 Milliarden DM sind bei in- und aus- insbesondere auch die Handelskonzerne diesen Weg
ländischen Firmen auf Terminkonten angelegt, die und diesen Prozeß der Einheit wollten, denn sie ver-
mehr als 30 Milliarden DM an Zinsen im Jahr bringen; dienen heute insbesondere an dem Anschluß der
so der Be richt der Deutschen Bundesbank im Mai DDR. Sie wissen auch, daß die Handelskonzerne zwi-
1991. schen Rostock und Suhl den ostdeutschen Bürgern
höhere Preise abnehmen als den Bürgern im Westen,
Wenn der Herr Bundesminister Dr. Waigel hier ge- daß sie also klotzig daran verdienen. Das ist der ei-
stern darauf verwiesen hat, daß durch die Treuhand gentliche Skandal.
Verkäufe 60 Milliarden DM Investitionen in der ehe-
maligen DDR mobilisiert werden konnten, die sich (Zustimmung bei der PDS/Linke Liste)
allerdings auf einige Jahre verteilen dürften, dann
muß man hinzufügen, daß in Westdeutschland allein
1990 ein Wert von über 300 Milliarden DM erreicht Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege
wurde und daß die Unternehmen sozusagen aus dem Henn, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Stand in der Lage wären, den doppelten Betrag, also Hinsken?
über 600 Milliarden DM, anzulegen. Weil das so ist,
werden wir von der Partei des Demokratischen Sozia-
lismus nicht das Hohelied vom Teilen anstimmen, Bernd Henn (PDS/Linke Liste): Ich denke, das wird
wenn es um die Finanzierung der Kosten für die deut- nicht auf meine Redezeit angerechnet.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2119
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Ja. gemacht haben, das sollten Sie einmal an
sprechen!)
Ernst Hinsken (CDU/CSU) : Ich möchte nur fragen, — Es geht darum, was Sie mit der Politik jetzt dort
ob Sie in der Lage sind, ein Beispiel für das anzufüh- anrichten! — Es gäbe durchaus Möglichkeiten, die
ren, was Sie soeben gesagt haben, nämlich daß die Chemie in Sachsen-Anhalt und in Sachsen zu erhal-
Produkte in der ehemaligen DDR seitens der Handels- ten und zu stärken. Sogar Ihr eigener Bundesver-
ketten teurer abgesetzt werden als bei uns. kehrsminister hat Vorschläge gemacht, denen wir zu-
stimmen könnten. Er hat vorgeschlagen, diese Che-
mieunternehmen vorübergehend zu einem Verbund
Bernd Henn (PDS/Linke Liste): Ich beziehe mich unter staatlicher Verantwortung zusammenzuführen,
— Herr Hinsken, Sie haben das gestern sicher auch um diese Unternehmen dort mit entsprechender Un-
nachlesen können — auf eine von der Stiftung Waren- terstützung in produktionstechnischer Hinsicht wie-
test durchgeführte Untersuchung. der wettbewerbsfähig zu machen, wie das nach dem
(Dr. Ulrich B riefs [PDS/Linke Liste]: Hört! Krieg mit Wolfsburg und Salzgitter geschehen ist.
Hört! — Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Es ist ja
zumindest interessant, wenn der Kommunist Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege
so eine Zeitung liest!) Henn, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir
sind der Auffassung, daß ohne eine neue Weichenstel- Bernd Henn (PDS/Linke Liste): Bitte!
lung in der Wirtschaftspolitik die sozialen Folgelasten
des bisherigen Crashkurses dauerhaft den sprich- Clemens Schwalbe (CDU/CSU): Herr Kollege, ich
wörtlich kleinen Mann im Westen wie im Osten bela- möchte Sie fragen, wann Sie das letzte Mal in der
sten werden. Vielen wird es schlechter gehen, weni- Region Buna/Leuna waren.
gen besser. -
Natürlich werden sich die Arbeitslosenquoten in Bernd Henn (PDS/Linke Liste): Am Sonntag.
Ost und West durch entsprechende Abwanderung
nach und nach angleichen. Die Arbeitslosigkeit wird Clemens Schwalbe (CDU/CSU): Das ist nämlich
eines Tages sicher auch zum Stillstand kommen, weil mein Wahlkreis, und ich habe dort von Ihnen noch
immer mehr Frauen aus dem Leistungsbezug heraus- nichts gehört.
fallen werden und an den sogenannten Kochtopf, in
die stille Reserve zurückgedrängt werden. Ich bin ge- Bernd Henn (PDS/Linke Liste): Ich habe auch nicht
spannt, ob Sie dann auch noch von verdeckter Ar- unbedingt den Kontakt zu Ihnen gesucht, das muß ich
beitslosigkeit reden werden, denn wir im Westen hat- zugeben. Vielleicht sollten wir uns beim nächsten Mal
ten auch millionenfach verdeckte Arbeitslosigkeit, verabreden. Ich bin sehr häufig da; das läßt sich
d. h. all die resignierten Arbeitslosen, die sich nicht durchaus regeln.
mehr haben registrieren lassen.
Ich meine also, daß es entsprechende Möglichkei-
Ich meine, eine Perspektive ist nur möglich, wenn in ten gäbe. Dazu bedarf es eines industriepolitischen
die strukturbestimmenden Industriezweige der Ex- Konzepts. Für den Chemieverbund müssen natürlich
DDR schneller und umfangreicher Investitionen ge- bestimmte Voraussetzungen geschaffen werden. Es
lenkt werden. Dazu bedarf es einer Industriepolitik, wäre beispielsweise eine Erdöltrasse erforderlich, um
von der wirklich noch unklar ist, ob diese Regierung leichtes Erdöl in dem Bereich zu haben. Es gibt schon
sie zu betreiben bereit ist. Ich will das angesichts der eine Trasse, die vom Ruhrgebiet bis Kassel projektiert
knappen Redezeit am Beispiel der Chemie kurz zu ist. Das müßte fortgeführt werden, damit do rt auf
beschreiben versuchen. Äthylenbasis weiterhin kostengünstig produziert wer-
(Jochen Borchert [CDU/CSU]: Das ist ein un den kann. Das sind natürlich Voraussetzungen, die zu
tauglicher Versuch!) schaffen sind. Aber wenn man diese Region nicht wei-
Das Chemiedreieck Halle-Merseburg-Bitterfeld- ter verkommen lassen will, als das vorher schon ge-
Leipzig ist zum Wallfahrtsort der Politiker geworden. schehen ist, dann muß man dies tun.
Dem Herrn Bundesaußenminister nehme ich noch ab, Im Chemiedreieck Halle-Merseburg-Leipzig-Bit-
daß er persönlich ein großes Interesse an dieser Re- terfeld haben sich der Bundeskanzler und der Bun-
gion hat. Der Kanzler hat sich dort im Wahlkampf und desaußenminister weit aus dem Fenster gelehnt. Ge-
auch danach geäußert. Die Fakten sehen so aus, daß messen an den Erwartungen, die sie geweckt haben,
von den ehemals 108 000 in den vier Großkombinaten sind sie eigentlich schon abgestürzt. Ohne eine wirt-
Bitterfeld, Wolfen, Leuna und Buna Beschäftigten am schaftspolitische Kurskorrektur werden die Menschen
Ende ganze 13 000 bis 20 000 — die Zahlen schwan- dort sehr bald in einer Situation sein, die sie erkennen
ken, je nachdem, wer sich dazu äußert — übrigblei- läßt, daß sie im Wahlkampf mißbraucht und belogen
ben werden. Das ist für diese Region nun wahrlich worden sind. Dann allerdings wird das Chemiedrei-
keine Perspektive. Der Bundeskanzler hat bei seinen eck so etwas wie das Bermuda-Dreieck für diejenigen
jüngsten Besuchen in Buna und Bitterfeld Zusagen werden können, die mehr versprochen haben, als sie
gemacht, aber er hat keine Zahlen genannt. Die Men- zu halten bereit sind.
schen sind wirklich ratlos, wie es mit ihnen weiterge- (Beifall bei der PDS/Linke Liste)
hen wird.
(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Daß Sie Vizepräsident Renate Schmidt: Als nächstes hat der
diese Region zu einem ökologischen Inferno Kollege Werner Schulz das Wort.
2120 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991
Werner Schulz (Berlin) (Bündnis 90/GRÜNE): Frau überschreiten wird, weiß heute keiner genau zu sa-
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Umbruch gen.
von der sozialistischen Mißwirtschaft zu einer funktio-
nierenden Marktwirtschaft reißt tiefere Wunden als Wohlgemerkt: Dies sind die Aussichten, trotz Fonds
jeder bisher bekannte Strukturwandel innerhalb ei- Deutscher Einheit, trotz Investitionsbeihilfen, trotz
nes Wirtschaftssystems. Das krisenhafte Ungleichge- Verbesserung der finanziellen Ausstattung der neuen
wicht zwischen alten und neuen Bundesländern Bundesländer, trotz Gemeinschaftswerk Aufschwung
droht, sich noch weiter zu verschärfen. Ost. Es erweist sich mit jedem Tag mehr, daß der Bun-
desregierung der Prozeß, den sie vor einem Jahr mit
Momentan stellt sich die wirtschaftliche Situation der abrupten Einführung der D-Mark in der ehemali-
im vereinten Deutschland wie folgt dar: Während die gen DDR in Gang gebracht hat, außer Kontrolle gera-
Produktion in den westlichen Bundesländern auf ho- ten ist.
hem Niveau weitgehend stabil ist, setzt sich der Nie-
dergang von Wettbewerbsfähigkeit und Produktion in Das Beitrittsgebiet befindet sich jetzt folgerichtig in
Ostdeutschland fort. Wenn einige Auguren in den In- der typischen Situation eines Entwicklungslandes,
stituten nunmehr den Aufschwung in Sicht sehen, degradiert zum Absatzmarkt, eigener Erwerbsmög-
dann bedeutet das nur, daß die wirtschaftliche Aktivi- lichkeiten beraubt. Der Absatz ist dort, Produktion
tät bald ganz unten angekommen sein wird. und Gewinn hier. Die D-Mark fließt in den Westen
und muß mit der Kreditpumpe durch öffentliche Fi-
(Zuruf von der CDU/CSU: Sie ist unten!) nanztransfers zurückgepumpt werden.
Andere Prognosen hantieren die Talwanderung auf
(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Lesen Sie
mindestens fünf bis zehn magere Jahre.
bitte meine Rede nach! Sie waren nicht
Nur der Kanzler ist in seinem Zweckoptimismus da!)
nicht zu beirren. Mit schon fast Autosuggestionskraft
und an solche grenzender Beharrlichkeit meint er So entstehen die ins Uferlose wachsenden Kosten der
samt seiner Partei, in den nächsten drei bis vier Jahren Deutschen Einheit, die noch immer nicht genau zu
über den Berg zu sein. An die Steuerillusion schließt beziffern sind und die uns sicher in den nächsten
sich der wiederholte Schwindel von der Lebensver- Haushaltsjahren beschäftigen werden.
besserung an. Der Kanzler sollte sich besser von den Die schockartige Währungsunion hat der ostdeut-
wirt schaftlichen Problemen als von Eierwerfern aus schen Wirtschaft jede Zeit zur Verarbeitung der neuen
der Rese rv e locken lassen. Und natürlich ist nicht er Situation vorenthalten. Die Politiker hätten damals
für den Rückgang der Geburtenrate verantwortlich. anstatt auf die umjubelten Marktplätze wohl eher in
Diese Potenz hätte ihm wohl gar keiner zugetraut, die verschlissenen Betriebe gehen sollen, um sich ein
glaube ich. tatsächliches Bild zu machen, das sie nicht gehabt zu
(Heiterkeit bei der SPD — Ernst Hinsken haben meinen. Denn Neuorientierungen brauchen
[CDU/CSU]: Ihnen aber auch nicht!) Zeit. Deswegen vollzieht sich die Anpassung jetzt als
Zusammenbruch.
Es ist wohl mehr seine Politik, die Existenzunsicher-
heit hervorruft. Wir brauchen keinen August den Star- In dieser Situation ist die Wirtschaftspolitik nicht in
ken, wir brauchen aber auch keinen Sitzriesen. der Lage, Prozesse zu gestalten, Entwicklungen vor-
herzusehen und Richtungen zu weisen. Heute vermag
(Beifall bei der SPD)
die Politik kaum mehr zu tun, als das Schlimmste zu
Ich glaube, wir brauchen einen Kanzler, der sich nicht verhindern: Entlassungen zeitlich zu strecken, Auf-
mit der Alimentierung des Ostens begnügt, sondern fangbecken für Erwerbslose zu schaffen, die Nach-
Mut faßt, dem nationalen Kapital an den patriotischen frage künstlich zu stützen; dies alles mit hohem finan-
Kragen zu gehen. Mit Appellen zur Investition ist das ziellen Aufwand und mit Methoden, die vor Jahren
Ganze nicht getan. noch als indiskutabel gegolten hätten.
Während das Preisniveau im Westen moderat an- Diese Regierung hat lange Zeit aus marktideologi-
steigt, ist die Teuerung für die Menschen in den neuen scher Borniertheit heraus auf eine wirksame Einfluß-
Bundesländern zum Teil schmerzhaft spürbar. Wäh- nahme auf das wirtschaftliche Geschehen in Ost-
rend schließlich die Beschäftigungsrate in West- deutschland verzichtet. Sie hat die Treuhandanstalt
deutschland weiter steigt, tut sich auf dem ostdeut- mit unzureichender Orientierung für ihre schwere
schen Arbeitsmarkt ein Abgrund auf. Die „Wirt- Aufgabe allein gelassen. Sie hat die Möglichkeiten
schaftswoche" rechnet, daß zum Ende dieses Jahres einer wirkungsvollen Arbeitsmarktpolitik bei weitem
von den ursprünglich 9,5 Millionen Erwerbstätigen in nicht ausgeschöpft. Sie ist mit veralteten strukturpoli-
Ostdeutschland nur noch etwa 4 Millionen übrig blei- tischen Konzepten an den Aufbau der neuen Bundes-
ben werden. länder herangegangen und hat es versäumt, dafür zu
Nach wie vor wandern Spezialisten und junge Fach- sorgen, daß die ostdeutschen Unternehmen in dem
arbeiter — das stärkste Kapital der ostdeutschen Bun- schwierigen Umstrukturierungsprozeß faire Markt-
desländer — in den Westen. Die Flucht heißt neuer- chancen erhalten und nicht von der westlichen Kon-
dings „Binnenwanderung" und nimmt den wohl kurrenz erdrückt werden.
stärksten Investitionsanreiz mit. Auf der anderen Seite hat sie aber den im Hand-
Wann sich die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt streich geschlossenen Energievertrag zwischen west-
umkehren wird, wann also die Zahl der neugeschaf- deutschen Energiemultis und der damaligen DDR
fenen Arbeitsplätze die der abgebauten erstmals nach Kräften gefördert und so die Möglichkeiten zum
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2121
Werner Schulz (Berlin)
Aufbau eigenständiger, dezentraler Energieversor- wiederholt werden. Ich nenne hier die verfehlte, un-
gungssysteme weitergehend blockiert. differenzierte Wachstumsorientierung, den viel zu ho-
hen Anteil der direkten Förderung von Unternehmen
Zu all diesen Fragen haben wir in die vor einigen
im Vergleich zur Infrastrukturförderung sowie den
Wochen im Sande verlaufenen Arbeitsgruppenge-
Mangel an Förderung von regionaler Forschung, Ent-
spräche zwischen Opposition und Regierung unsere
wicklung, Technologie- und Know-how-Transfer.
konkreten Vorschläge und Forderungen eingebracht,
zu denen wir nach wie vor auf begründete Antworten Der fast völlige Verzicht der Bundesregierung auf
der Regierung warten. eine Wirtschaftsstrukturplanung und die mangelnde
Abstimmung der Förderinstrumente tragen darüber
Die Treuhand hat, wie vor wenigen Tagen dem hinaus zum Versagen der Regionalförderung in struk-
„Handelsblatt" zu entnehmen war, Entlassungen in turschwachen Gebieten bei:
Millionenhöhe für die kommenden eineinhalb Jahre Wir halten eine Neukonzipierung der regionalen
angekündigt. Wenn Sie diese Ankündigungen wahr Wirtschaftsförderung im Hinblick auf die Probleme in
macht, steht der Verlust des größten Teils der Arbeits- den ostdeutschen Ländern für ganz besonders dring-
plätze in den Treuhand-Unternehmen zu befürchten. lich. Eine Schlüsselrolle kann hierbei der Aufbau von
Von ursprünglich vier Millionen Beschäftigten wer- regionalen Entwicklungszentren spielen, die als
den zum Schluß vielleicht eine Million Beschäftigte Dienstleistungszentren vielfältige Aufgaben beim
übrigbleiben. Dies darf so nicht hingenommen wer- Entstehen einer eigenständigen und dauerhaften re-
den. Wir brauchen den Staat als Impulsgeber, nicht als gionalen Wirtschaft wahrnehmen. Diese Zentren sol-
Nachtwächter oder als Feuerwehr. len in gemeinsamer Trägerschaft von Wirtschaft, Ge-
(Dr. Ulrich Briefs [PDS/Linke Liste]: Das hät werkschaften, Umweltverbänden, Arbeitsverwaltung
ten Sie vor den Wahlen sagen sollen! — Ge und Gebietskörperschaften entstehen. Nicht als Su-
genruf von der FDP: Jetzt haben Sie sich aber perb ehörden, sondern als Dienstleistungsangebot
widersprochen!) und Vorleistung für örtliche und im Aufbau befindli-
- che Unternehmen sollen sie sich u. a. der Erarbeitung
Die Treuhand muß den klaren gesetzlichen Auftrag regionaler Entwicklungskonzeptionen und ökologi-
bekommen, die ihr anvertrauten Unternehmen zu sa- scher Sanierungsprogramme, dem Technologietrans-
nieren, wenn diese nicht sofort unter Erhaltung ihrer fer, der Beratung und der Erleichterung bei Existenz-
Substanz privatisiert werden können und wenn auf gründungen, der Vermittlung von Informationen und
mittlere Sicht Rentabilität zu erwarten ist. Hierzu ge- der Bereitstellung wirtschaftsnaher Dienstleistungen
hört die konsequente Altlastensanierung und die sowie der überbetrieblichen Weiterbildung widmen.
ökologische Modernisierung der Unternehmen. Notwendig ist darüber hinaus eine Mittelaufstok-
Hierzu gehört ebenfalls eine intensivere Verzahnung kung sowie eine Neugewichtung bei der Gemein-
der Arbeit der Treuhandanstalt mit staatlicher Regio- schaftsaufgabe Verbesserung der regionalen Wirt-
nal- und Strukturpolitik. Die Treuhandanstalt braucht
schaftsstruktur. Die Mittel der Gemeinschaftsaufgabe
angemessene finanzielle Mittel, um notwendige Ent- müssen künftig vorwiegend der umweltverträglichen
schuldungen durchzuführen und die Sanierungsauf-
Infrastrukturförderung, insbesondere dem Aufbau re-
gaben erfüllen zu können. Frau Breuel hat jüngst dar-
gionaler Entwicklungszentren zugute kommen.
auf hingewiesen, daß noch erhebliche zusätzliche For-
derungen auf den Bund zukommen werden.
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege
Die vielfältigen finanziellen Ansprüche an das Schulz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kolle-
Treuhandvermögen müssen neu bewertet werden. gen Hinsken.
Vorrang gebührt eindeutig der Sanierungsaufgabe
und den damit unmittelbar zusammenhängenden Werner Schulz (Berlin) (Bündnis 90/GRÜNE): Ja.
Aufgaben.
Von Belastungen wie Haushaltssanierung, Entschä- Ernst Hinsken (CDU/CSU): Herr Kollege Schulz, ich
digungszahlungen sowie von den Altschulden der pflichte Ihnen bei, wenn Sie sagen: Damit Schwung
Treuhandunternehmen und sachfremden Zinslasten hereinkommt, brauchen wir in Zukunft mehr Mittel,
muß die Treuhandanstalt gänzlich freigestellt werden. und deshalb sollen die Mittel für die Verbesserung der
Die Länder müssen einen deutlich verbesserten Ein- regionalen Wirtschaftsstruktur aufgestockt werden.
fluß auf die Arbeit der Treuhandanstalt bekommen. In Meine Frage aber an Sie diesbezüglich: Meinen Sie
Fragen von weiterreichender Bedeutung — insbeson- nicht auch — wie ich — , daß die Aufgaben, die Sie
dere Betriebsstillegungen — muß die Treuhandan- einer neuen Institution zuführen wollen, auch von den
stalt Einvernehmen mit den Ländern herstellen. Industrie- und Handelskammern und den Hand-
werkskammern bewältigt werden können, die dafür
In einem wichtigen Punkt stimmen wir im übrigen prädestiniert sind, eben dieser Aufgabenstellung ge-
mit Herrn Möllemann überein: Entsprechend ihrer recht zu werden?
Aufgabenstellung sollte die Treuhandanstalt der
Fach- und Rechtsaufsicht des Bundeswirtschaftsmini-
Werner Schulz (Berlin) (Bündnis 90/GRÜNE): Es
sters unterstellt werden.
geht vor allen Dingen um eine Umverteilung der Mit-
Die traditionellen Förderinstrumente der Regional- tel, nicht nur um einseitige Aufstockung. Im Grunde
politik haben schon in den alten Bundesländern nicht genommen geht es darum, daß diese Investitionssprit-
zu einem wirksamen Abbau des Entwicklungsgefälles zen nicht allein in die Bet riebe gehen, die momentan
geführt. Die Systemfehler der bisherigen Regional- aufgefangen werden können, sondern daß man in
förderung dürfen in den neuen Bundesländern nicht Regionen geht, wo momentan noch keine Indust ri e-
2122 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991
(Wolfgang Roth [SPD]: Genau dazu hätte ich (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist leider
eine Frage!) wahr!)
— Bitte schön, Herr Roth. Das Problem ist, daß wir von seiten des Staates, des
öffentlichen Dienstes, nicht mit dem besten Beispiel
vorangegangen sind. Aber ich möchte doch von dieser
Stelle aus — bei vollem Respekt für die Tarifautono-
mie — an die Tarifvertragsparteien appellieren, künf-
Wolfgang Roth (SPD): Sie haben zum Bergbau, zu tige Abschlüsse weniger aus der Retrospektive heraus
den Werften — das wird bei uns sicherlich unter- zu tätigen, d. h. im Blick auf möglicherweise ganz
schiedlich bewertet — immer Vorschläge zum Sub- günstiges Wachstum in der Vergangenheit, sondern
ventionsabbau gemacht. Sie wissen, daß wir in der auch im Auge zu haben, wie der Gestaltungsraum in
Landwirtschaft ein Regime haben mit Preisfestsetzun- der voraussichtlichen Entwicklung des kommenden
gen, Mengenregulierung, das unmarktwirtschaftli- oder gar der nächsten zwei Jahre sein wird. Daß wir
cher gar nicht sein könnte. Mich wundert eigentlich, sonst Mittel verfrühstücken, die wir dann nicht für
warum der für Ordnungspolitik zuständige Minister Investitionen zur Verfügung haben, ist unbest ritten.
auch im Hinblick auf GATT nie Vorschläge zu einem Wir sind im Rahmen des Dialogs „Aufschwung Ost" in
veränderten Agrarsystem gemacht hat. Warum haben einem Gespräch mit Arbeitgebern und Arbeitneh-
Sie das eigentlich unterlassen, wo Sie sonst wirklich in mern und haben uns verabredet, darüber in der näch-
jedes Fettnäpfchen treten? sten Runde in einer internen Unterredung zu spre-
(Heiterkeit bei der SPD) chen. Ich finde es gut, daß dieses Gespräch möglich
ist, und hoffe, daß es zu einem guten Ergebnis
kommt.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Jürgen W. Möllemann, Bundesminister für Wirt-
Die vierte Voraussetzung für das Andauern unserer
schaft: Hätten Sie diese Frage, die bis dahin ja noch günstigen wirtschaftlichen Entwicklung und das Ein-
mein Interesse gefunden hatte, nicht mit dieser klei- setzen derselben in den neuen Ländern ist ein erst-
nen Nickeligkeit am Ende versehen, hätte es mir auch
klassiges Ausbildungssystem. Es ist sehr wichtig, daß
Spaß gemacht, sie zu beantworten. es uns über die Jahre gelungen ist, mit dem System
(Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Jetzt unserer dualen Berufsausbildung ein System zu ent-
machen Sie es unwillig?) wickeln, das weltweit bewundert wird, Nachahmer
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2127
Bundesminister Jürgen W. Möllemann
findet und das jetzt auf die neuen Länder übertragen haben wir dieses Programm beschlossen, das — mit
wird. Am Anfang macht das allerdings erhebliche staatlichen Hilfen — vorsieht, auch in überbetriebli-
Schwierigkeiten: von der Ausstattung der Unterneh- chen und außerbetrieblichen Ausbildungsstätten
mungen, vom Übertragen der Ausbildungsordnun- Ausbildungsplätze zu schaffen. Es ist richtig und
gen, von dem Nichtvorhandensein einer großen Zahl bleibt in jedem Fall richtig: besser eine Ausbildung
von Handwerksbetrieben und Handwerksmeistern — und sei es auch in überbetrieblicher oder in außer
her. In den westlichen Bundesländern werden etwa betrieblicher Form — als keine Ausbildung. Deswe-
36 % der Lehrlinge in Handwerksbetrieben ausgebil- gen stellen wir diese Mittel dafür zur Verfügung.
det, in den neuen Ländern geht das derzeit nur bei
(Beifall bei der FDP)
ungefähr 6 %. Hier muß durch partnerschaftliche Hilfe
zwischen den Kammern, aber auch durch staatliche Ich kann Ihre Befürchtung zwar nicht völlig ausräu-
Unterstützung — ein solches Programm hat das Kabi- men, aber wir tun, was wir können.
nett vorgelegt und verabschiedet — dafür Sorge ge-
(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Aber gewisse
tragen werden, daß jeder junge Mensch, der das will,
Voraussetzungen muß ein Meister schon er
auch in den neuen Ländern zum 1. September die
füllen, um überhaupt ausbilden zu kön
Chance bekommt, wieder eine Lehrstelle zu haben.
nen!)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
— Das ist klar.
Dazu müssen auch finanzielle Mittel des Staates ein-
gesetzt werden. Ich appelliere nachdrücklich an alle Der nächste Punkt — damit komme ich dann schritt-
im Wirtschaftsprozeß Tätigen, an die Unternehmun- weise an das heran, was die Herren Wedemeier, Jung
gen wie auch an die Gewerkschaften, mitzuhelfen, und andere angesprochen haben — : Die fünfte we-
daß dieses Ausbildungsziel erreicht wird. sentliche Voraussetzung für ein Andauern der wirt-
schaftlichen Prosperität sind gesunde Staatsfinanzen.
Dabei gibt es einen Punkt.
Meine Damen und Herren, wir sind in der Situation,
(Abg. Stephan Hilsberg [SPD] meldet sich- zu daß wir durch die Einheit, durch das, was wir bislang
einer Zwischenfrage) getan haben, und durch das, was wir demnächst
— Herr Kollege, ich möchte den Gedanken noch — das weiß hier ja wohl jeder — für die Reformstaaten
gerne abschließen — , den der Bundeskanzler heute in Mittel- und Osteuropa werden tun müssen, sowie
morgen in einer Nebenbemerkung angedeutet hat, durch die 17 Milliarden DM für den Golfkrieg zusätz-
den ich hier einmal aufgreifen will. Es gibt zwar nicht liche finanzielle Aufwendungen finanzieren müssen,
die große Zahl von Handwerksmeistern unserer Prä- für die wir zum Teil die Steuern erhöht haben. Das war
gung. Es gibt aber eine große Zahl von Industriemei- mit einem massiven Vertrauensverlust für die Regie-
stern. Ich finde es sehr wichtig, daß jetzt nicht klein- rungskoalition verbunden, weil wir das nicht ange-
kariert und ängstlich über die Details aller Bestim- kündigt hatten.
mungen zur Anerkennung des Handwerksberufs im (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Herr Kollege,
Westen argumentiert wird, sondern daß man einer „ist verbunden" ! )
großen Zahl von Industriemeistern die Möglichkeit
gibt, sich in die Handwerksrolle einzutragen, sich als — War und ist.
Handwerksmeister niederzulassen und eine eigene (Zuruf von der SPD: Und bleibt!)
Existenz aufzubauen.
— Ich täusche mich darüber überhaupt nicht hinweg.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
Wir haben trotzdem so entschieden, weil wir es für
bei Abgeordneten der SPD)
notwendig erachteten, diese zusätzliche Kraftanstren-
Bitte schön. gung zu finanzieren. Aber wir haben in dem Beschluß
der Koalition, in dem die Steuererhöhungen festge-
Stephan Hilsberg (SPD) : Herr Bundesminister, sind legt wurden — am selben Tag, am 23. Februar, in
Sie tatsächlich der Meinung, daß sich das Ausbil- Punkt 7 —, auch gesagt — ich zitiere —:
dungsplatzdefizit von ca. 100 000 Stellen noch in ei- Die Koalitionsparteien bilden eine Arbeitsgruppe
nem Zeitraum von drei Monaten tatsächlich abbauen mit dem Auftrag, zusätzlich zu dem beschlosse-
läßt, und sind Sie nicht auch — zweitens — der Mei- nen Abbau von Steuervergünstigungen und Fi-
nung, daß man dann für eine Übergangszeit nicht nanzhilfen Einsparungen in Höhe von weiteren
hundertprozentig nur das duale Ausbildungssystem ca. 4 Milliarden DM zu erzielen. Dadurch soll sich
befördern darf, sondern nach anderen Lösungsmög- ab 1992 ein Subventionsabbauvolumen von
lichkeiten suchen muß? 10 Milliarden DM ergeben.
Um diesen Beschluß geht es, also nicht um einen Be-
Jürgen W. Möllemann, Bundesminister für Wirt- schluß des Bundeswirtschaftsministers, sondern der
schaft: Solche Prognosen sind immer gewagt. Die Er- Koalition.
fahrung haben wir in der Zeit der geburtenstarken
(Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Tritt
Jahrgänge und des Lehrstellenmangels hier auch ge-
die Koalition zurück, wenn es nicht
macht: daß die Zahl derer, die noch einen Ausbil-
klappt?)
dungsplatz gesucht haben, bis kurz vor September/
Oktober deutlich höher war. Aber ich kann nicht aus- — Herr Kollege Schäfer, es geht um einen Beschluß
schließen, daß Ihre Befürchtung eintritt, daß eine be- der Koalition, und sie wird diesen Beschluß auch um-
stimmte Quote von jungen Menschen auf dem regu- setzen. — Beauftragt worden sind mit der Erarbeitung
lären Weg keinen Ausbildungsplatz findet. Deswegen der entsprechenden Vorschläge zwei Gruppen, eine
2128 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991
Lieselott Blunck
denke, dafür wäre eigentlich die Entschuldigung Herrn Huber aus Passau oder von Herrn Bergmann
dringend erforderlich. aus Erfurt.
(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Herr Schmitz
— Zuruf von der CDU/CSU: Na, na! — Hans aus Köln!)
Peter Schmitz [Baesweiler] [CDU/CSU]: Eine Das Gebaren von Banken und Versicherungen ist un-
echt billige Tour!) ser aller Problem und eben grenzenlos. — Sie wollen
Ich will aber zur Verbraucherpolitik reden. Auch eine Frage stellen.
dort wird der König Kunde sehr mies von Ihnen be-
handelt. Im Wirtschaftsministe ri um sitzt er nicht ein- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Rossmanith,
mal am Katzentisch. Beim Landwirtschaftsministe- bitte.
rium wird er für eine verfehlte Agrarpolitik verant-
wortlich gemacht.
Lieselott Blunck (SPD): Ich hoffe, daß das nicht auf
(Zurufe von der CDU/CSU: Na, na!) meine Redezeit angerechnet wird.
Der Umweltminister benutzt ihn als Schutzschild, um
von eigener Tatenlosigkeit abzulenken. Ich nenne da Vizepräsident Hans Klein: Natürlich nicht.
nur das Stichwort „Abfallinfarkt" oder „Entsorgungs-
infarkt". Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU) : Frau Kollegin
Öffentliche Anbieter wie die Post oder die Bahn Blunck, ich darf Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist, daß
kennen den Kunden nur dann, wenn es darum geht, eine Vereinbarung mit den Bundesländern besagt,
ihm sehr unfreundlich in die Tasche zu langen. Der daß mit Ablauf dieses Jahres die Beiträge des Bundes
Postminister spielt heute morgen im Rundfunk Ver- für die Verbraucherschutzverbände auslaufen, und
braucherpolitik und Datenschutz gegeneinander aus. daß der Haushaltsausschuß und gerade die von Ihnen
Ich sage auch nichts Neues, wenn ich die öffentlichen so sehr gescholtenen Koalitionsfraktionen, um den
-
Anbieter wirklich anprangere, weil sie etwa beim Ge- Verbraucherschutzverbänden und den Ländern eine
stalten eines Fahrplans nicht an den Verbraucher, an Hilfe zu geben und die Mittel nicht so abrupt abzu-
den Kunden, an die Kundin denken. schneiden, für die nächsten Jahre dennoch ein Aus-
Ich kann beliebig fortfahren mit Versicherungen, laufen dieses Modells mit 80, 60, 40 und 20 % bereits
mit Banken, — beim Ignorieren der Wünsche ist jeder im Haushalt 1991 festgeschrieben haben?
vorn. Aber wenn es an das Kassieren geht, dann sind (Ina Albowitz [FDP]: Woher soll die Dame
alle da. Nur wenn es um die Verbraucherrechte geht, das denn wissen?)
z. B. um Information, um Vertretung und Beratung,
ziehen alle den Schwanz ein.
Lieselott Blunck (SPD): Genau dagegen verwahre
(Beifall bei der SPD) ich mich, denn es ist unsinnig, daß Sie die Verbrau-
Der Haushalt 1991 ist ein verbraucherpolitisches cherpolitik nicht weiter ausbauen und mehr Geld da-
Armutszeugnis. Klägliche 0,00015 % oder ein Sieben- für in die Hand nehmen. Statt dessen bauen Sie die
tausendstel des Bundesetats ist der Bundesregierung entsprechenden Mittel ab. Damit kann man mitnich-
der Verbraucherschutz wert oder — so müßte ich es ten einverstanden sein.
wohl besser sagen — unwert. Aber auch dieses Tröpf- (Beifall bei der SPD)
chen ist der christlich-liberalen Koalition offensicht- Herr Rossmanith, ab und zu zuhören ist auch eine
lich zuviel. So sollen ab 1992 die Bundesmittel für die ganz schöne Sache.
Verbraucherzentralen noch erheblich gekürzt wer-
den. Vorgeschoben werden verfassungsrechtliche (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Nein! Ich
Gründe. Verbraucherzentralen beraten angeblich nur hätte Sie ja nur fragen wollen, ob — — ! )
individuell und regional begrenzt. Der Wirtschaftsmi-
nister kramt dazu eine völlig veraltete Stellungnahme Vizepräsident Hans Klein: Moment, Herr Kollege. —
aus dem Jahre 1976 hervor. Seine Argumente halten Wenn Sie eine weitere Zusatzfrage stellen wollen,
einer Überprüfung überhaupt nicht stand. dann müssen wir die Kollegin fragen, ob sie bereit ist,
(Zustimmung bei der SPD) sie zu beantworten.
Die Beratung der Verbraucherzentralen, die Schwer-
punktaktionen bis hin zur Verbandsklage und die Lieselott Blunck (SPD): Aber nicht, wenn mir hier
Gesetzgebung auf Bundes- und auf EG-Ebene spre- noch eine Minute verlorengeht.
chen dagegen. Ich will auch ein Beispiel dafür anfüh-
ren. Vizepräsident Hans Klein: Nein, nein. — Ansonsten
können Sie als Fragesteller keinen Kommentar abge-
ben. Wollen Sie noch eine Frage stellen? — Frau Kol-
Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, gestatten legin, sind Sie bereit, die Frage zu beantworten?
Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Rossmanith?
Lieselott Blunck (SPD) : Ja.
Lieselott Blunck (SPD): Ich darf diesen Satz noch zu
Ende bringen; dann gerne. Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU) : Herr Präsident und
Beispielsweise Hormone im Fleisch sind nicht nur Frau Kollegin, ich bedanke mich ausdrücklich. — Ich
das Problem von Herrn oder Frau Jensen aus Pinne darf Sie fragen, ob Ihnen des weiteren bekannt ist, daß
berg, sondern genauso das Anliegen von Frau oder der Verbraucherschutz Aufgabe der Länder ist und
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2133
Kurt J. Rossmanith
daß sich der Bund bisher nur — ich möchte fast sa- Wir machen einmal eine gemeinsame Lese
gen — auf freiwilliger Basis daran beteiligt hat. stunde im Keller!)
(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Verfassungsge
richtsurteil!)
Lieselott Blunck (SPD) : Das ist eine gute Idee.
Lieselott Blunck (SPD): Dies sollte er nicht nur wei-
Viele Verbraucher und Verbraucherinnen, vor al-
terhin freiwillig machen, sondern er sollte endlich er- lem in den fünf neuen Bundesländern, sind von der
kennen, daß es seine Aufgabe ist. In der Ernährungs- sogenannten Sozialen Marktwirtschaft bitter ent-
beratung erkennt er dies ja auch an. täuscht. Verbraucherpolitik könnte helfen, die So-
(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Dann müs ziale Marktwirtschaft glaubwürdiger zu machen.
sen Sie die Verfassung ändern!) Aber dazu bräuchten wir eben eine andere, eine vor-
— Nein, ich muß nicht die Verfassung ändern, son- sorgende, eine aktive Verbraucherpolitik. Das ist eine
dern Sie dürfen die Gründe nicht gerade so herholen, gesamtwirtschaftliche Aufgabe. Dazu muß der Bund
wie es Ihnen paßt, sondern Sie müssen bitte schön ein einmal ordentlich Geld in die Hand nehmen, anstatt
bißchen nach Recht und Ordnung verfahren. sich aus fadenscheinigen Gründen des Rotstiftes zu
(Beifall bei der SPD) bedienen.
Ich lobe mir die Mitglieder des Wirtschaftsausschus- (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Aber an
ses, die insgesamt dem kw-Vermerk, dem Vermerk: fangs haben Sie kritisiert, daß wir zuviel Geld
künftig wegfallend, nicht zugestimmt haben, und ausgeben!)
zwar im Gegensatz zu den Haushältern — es tut mir Ich möchte noch einmal die Zahlen nennen, damit
leid, Herr Rossmanith, denn Sie sind sonst so ein ange- das klar wird: Im Wirtschaftshaushalt geht es um
nehmer Mensch —, 14,5 Milliarden DM, und wir streiten uns im Augen-
(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP) blick um 9,7 Millionen DM. Wir streiten uns also um
- zwei gutplazierte Lottogewinne, und dies zum Scha-
die, wie Sie, die Notwendigkeit der Verbraucherbera-
tung erst gar nicht richtig erkannt haben. den vieler Millionen Bürgerinnen und Bürger in den
neuen und den alten Ländern.
Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, es gibt ein (Beifall bei der SPD — Ernst Hinsken [CDU/
weiteres Begehren nach einer Zwischenfrage des Kol- CSU]: Das sind aber hohe Gewinne, Frau
legen Hinsken. Kollegin! — Zuruf von der CDU/CSU: Einen
solchen Lottogewinn hätte ich gerne!)
Ernst Hinsken (CDU/CSU): Frau Kollegin Blunck, Im übrigen — ich gehe noch einmal auf Ihre Argu-
ist Ihnen bekannt, daß es ein diesbezügliches Urteil mentation ein — zweifelt der Wirtschaftsminister bei
des Bundesverfassungsgerichts gibt, wonach das, was der Existenzgründungsberatung nicht an der alleini-
Verbraucherschutzverbände leisten und was finanzi- gen Bundeskompetenz.
ell zu unterstützen ist, und zwar staatlicherseits, eine
reine Aufgabe der Länder und nicht des Bundes ist? (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Aha!)
Man holt sich eben die Begründungen he rv or, die man
Lieselott Blunck (SPD): Sie müßten dieses Gerichts- gerade gut gebrauchen kann.
urteil bitte noch einmal genau nachlesen. Es ist nicht (Zustimmung der Abg. Ing rid Matthäus-
im Hinblick auf Verbraucherberatung ausgesprochen Maier [SPD] — Zuruf von der SPD: Richtig
worden. Ich werde es Ihnen gerne zuschicken. Dann widerlich!)
erkennen Sie, daß es zwei völlig verschiedene Paar
Schuhe sind und daß es mitnichten die Bundesfinan- Das Lavieren macht u. a. deutlich: Es sind eben
zierung der Verbraucherzentralen berührt. nicht die hehren verfassungsrechtlichen Grundsätze,
die der Bundesregierung die Hände binden; es fehlt in
Herr Hinsken, nun habe ich Sie gerade so gelobt.
diesem Zusammenhang vielmehr schlicht der politi-
Warum machen Sie diesen Schlenker? Er zeigt doch
sche Wille.
nur, daß Ihnen dieses Gerichtsurteil nicht in allen Ein-
zelheiten bekannt ist. (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Leider! —
(Beifall bei der SPD — Ernst Hinsken [CDU/ Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist zu billig,
CSU]: Ich bin ja gefragt worden! — Herr Prä Frau Kollegin!)
sident, da ich gefragt worden bin, sei mir So reiht sich denn die Kürzung der Bundesmittel
gestattet, eine Antwort zu geben!) auch nahtlos in die bisherige verbraucherpolitische
Untätigkeit der Kohl-Regierung ein. Gesetzliche Re-
Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Hinsken, gelungen zum Verbraucherschutz beschränkten sich
selbst wenn die Antwort in Frageform gekleidet ist, schon in den letzten Jahren auf die unvermeidbare
beginnt damit kein Dialog. Wenn Sie eine weitere Umsetzung von EG-Vorhaben. Dabei wurden nicht
Zwischenfrage stellen und die Antwort vielleicht in einmal vorhandene Spielräume zugunsten der Ver-
die Frage einbauen wollen, dann muß die Kollegin braucher genutzt. In nur allzu schlechter Erinnerung
Blunck zustimmen. sind uns das Verbraucherkreditgesetz, die Novellie-
(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Ich möchte nur rung des Versicherungsrechtes und die Produkthaf-
feststellen, daß ich davon ausgehen muß, daß tung. Auf eigene verbraucherpolitische Initiativen
die Frau Kollegin Blunck das Urteil nicht wartet man bei dieser Regierung vergeblich.
richtig gelesen hat! — Rudolf Bindig [SPD]: (Zuruf von der SPD: Wohl wahr!)
2134 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991
Lieselott Blunck
Auch in der neuen Legislaturperiode hat Minister dung von Schaden Vorrang vor der nachträglichen
Möllemann darin Kontinuität bewiesen. Reparatur erhalten.
(Zuruf von der SPD: Wo ist denn Mölle (Beifall bei der SPD — Kurt J. Rossmanith
mann) [CDU/CSU]: Das gilt auch für die SPD!)
Er hat wirklich keine Gelegenheit außer acht gelas- Gestern war der Tag der Umwelt. Der Schutz der
sen, um seine Abneigung gegen den Verbraucher- Umwelt ist die Überlebensfrage der Menschheit.
schutz unter Beweis zu stellen. In den Koalitionsver- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist richtig,
einbarungen fand sich kein Wort zur Verbraucherpo- das wird nicht bestritten!)
litik.
Das ist uns allen bekannt. Umweltschutz und Ver-
(Zuruf von der FDP: Doch!) braucherschutz gehören untrennbar zusammen,
(Beifall bei der SPD — E rnst Hinsken [CDU/
Unser Antrag auf Errichtung eines Unterausschus-
ses „Verbraucherpolitik" wurde erst wochenlang ver- CSU]: Das ist zweierlei!)
schleppt und schließlich mit fadenscheinigen Begrün- und sie liegen im ureigensten Interesse der Wirtschaft.
dungen abgelehnt. Als Krönung kommt nun die Kür- Es ist Aufgabe der Wirtschaft, Produkte zu entwik-
zung der Haushaltsmittel. Auf einen Nenner gebracht keln, die diese Ansprüche erfüllen.
lautet die Devise des Verbraucherschutzes Marke Berücksichtigt werden muß der gesamte Lebens-
christlich-liberal: Kein Konzept, kein Verbraucher- weg einer Ware mit all seinen Auswirkungen auf an-
ausschuß, kein Geld. dere Bereiche bis hin zur Entsorgung. Es ist Aufgabe
Dabei sind vorbeugende Verbraucherschutzmaß- der Bundesregierung, hierfür die notwendigen Vor-
nahmen und eine umfassende Verbraucherpolitik schriften zu erlassen. Dabei müssen die marktwirt-
notwendiger denn je. In den fünf neuen Bundeslän- schaftlichen Instrumente genutzt werden: Verbrau-
-
dern ist eine umfassende Aufklärung dringend erf or- cherfreundliche Angebote müssen belohnt, verbrau-
derlich, um wenigstens den schlimmsten Auswüchsen cherschädliche Güter müssen verteuert werden.
der Marktwirtschaft à la Wildost zu begegnen. Le- (Rudi Walther [SPD]: Sehr gut!)
bensmittel und Trinkwasser sind mit Schadstoffen be-
lastet. Die Hersteller müssen die Verantwortung für die
Schäden übernehmen, die durch ihre Produkte verur-
(Zuruf von der CDU/CSU: Wo sie recht hat, sacht wurden und werden.
hat sie recht!) (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Dag
Auch bei Gebrauchsgegenständen werden Rückwir- mar Enkelmann [PDS/Linke Liste])
kungen auf Gesundheit und Umwelt immer deutli- Funktionierende Marktwirtschaft, funktionieren-
cher, seien es Putz- und Waschmittel, seien es Holz- der Wettbewerb sind ohne eine starke Nachfrageseite
schutzmittel, sei es Abfall. Die Industrialisierung der undenkbar. Wenn es Minister Möllemann mit der
Lebensmittelproduktion nimmt zu. Wir werden uns Marktwirtschaft ernst meint, muß er die Konsumenten
alle noch wundern, was nach dem 1. Januar 1993 auf und Konsumentinnen in die Lage versetzen, ihre
uns zukommt. Es werden immer mehr Zusatzstoffe in Marktwirtschaft, ihre Rolle als Marktgegengewicht im
den Lebensmitteln sein. Es wird neue Konservie- Rahmen des Wettbewerbs tatsächlich auszuschöp-
rungsmethoden und Produktionsverfahren geben; fen.
das geht bis hin zur Gentechnik. Von allen wissen wir
eigentlich überhaupt nicht, wie sie langfristig wirken (Beifall bei der SPD — Ing rid Matthäus
werden. Maier [SPD]: Das ist Ludwig Erhard! — Ge
genruf des Abg. Josef Grünbeck [FDP]: Jetzt
Verbraucherschutz bei Dienstleistungen ist ein haben Sie etwas von Wettbewerb gehört!
Fremdwort. Darauf habe ich gewartet!)
Große Sorgen bereitet die Ver- und Überschuldung Voraussetzung sind eine sichere Finanzierung und
wachsender Bevölkerungskreise, und kaum einer fin- eine angemessene Ausstattung der Verbraucherinsti-
det sich im Paragraphendschungel von Versiche- tutionen im Bund, in den Ländern sowie auf der inter-
rungsbedingungen und Bankkonditionen zurecht. nationalen Ebene. Es ist eben Aufgabe des Bundes,
Der europäische Binnenmarkt ist geradezu zum Sym- die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Veranke-
bol für die Mißachtung von Verbraucherinteressen rung des Verbraucherschutzes als Pflichtaufgabe mit
geworden. einer entsprechenden finanziellen Ausstattung zu
schaffen. Die Zeiten, in denen die Verbraucher und
Angesichts dieser Probleme ist die Streichung der die Verbraucherinnen mit dem letzten Krümel unter
Bundesmittel für die Verbraucherzentralen ein Schritt dem Tisch abgespeist werden, müssen endgültig pas-
in die falsche Richtung. Sie ist konzeptionslos, und sie sé sein.
ist verantwortungslos.
(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Li
(Beifall bei der SPD) ste)
Hansjürgen Doss (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kollegen, die Schlammschlacht kann nicht auf
Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Weil wir Dauer Maßstab der politischen Auseinandersetzung
nicht wollen, daß die Verbraucher wie die Krümel sein.
unter dem Tisch angesiedelt sind, haben wir uns nach (Beifall bei der CDU/CSU)
sorgfältiger Beratung entschlossen, daß wir keinen
Unterausschuß einrichten wollen, sondern daß Ver- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Doss, ge-
braucherpolitik Teil der Ausschußarbeit ist. Sie haben statten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten
jederzeit Gelegenheit, diese Themen zur Sprache zu Matthäus-Maier?
bringen, weil sie so wichtig sind. Das Umgekehrte ist
richtig. Hansjürgen Doss (CDU/CSU): Es ist mir eine große
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Freude.
Lieselott Blunck [SPD]: Deswegen kürzen
Sie auch die Mittel!) Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Herr Kollege, da es
Sie offensichtlich immer sehr trifft, wenn wir von Steu-
Wenn Sie erlauben, würde ich eine zweite Vorbe-
erlüge sprechen: Wollen Sie dann wenigstens die
merkung machen. Ich sage Ihnen, daß ich darüber
Meinung der Bürgerinnen und Bürger zur Kenntnis
betroffen bin, als „Steuerlügner" bezeichnet zu wer-
nehmen, die bei einer Infas-Umfrage vom letzten
den.
Samstag die Frage beantworten konnten: Ist der Vor-
(Volker Jung [Düsseldorf] [SPD]: Zu Recht!) wurf der Steuerlüge gerechtfertigt? Und die laut Infas
Ich weiß nicht, wie das mit Ihrem persönlichen Ehrge- zu 72 % mit Ja geantwortet haben?
fühl ist. — Herr Jung, Sie meinen „zu Recht" . — Das (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist eine Sug
macht mich betroffen. gestivfrage!)
Wollen Sie mir zweitens zustimmen, daß Ihre Bemer-
(Dr. Uwe Küster [SPD]: Gut so!)
- kung, Lügen habe etwas mit Wissen oder Nichtwissen
Bei einer so weitgehenden Aussage muß die Betrugs- zu tun, deswegen eine Ausflucht ist, weil kein Thema
absicht da sein. vor der Bundestagswahl so hin und her, vor und zu-
rück und nach rechts und nach links gewendet wurde
(Abg. Ing ri d Matthäus-Maier [SPD] und Abg.
wie dieses Thema, nachdem ich Sie ab September
Wolfgang Roth [SPD] melden sich zu einer
darauf aufmerksam gemacht hatte: Seien Sie vorsich-
Zwischenfrage)
tig; Sie laufen genau wie der Herr Bush in Amerika in
— Eine Sekunde Geduld. Ich kann mir vorstellen, daß eine Steuerlüge,
Sie das, was ich sage, aufregt. Es ist eben die Qualität (Zuruf von der CDU/CSU: Ist das eine Zwi
meiner Aussagen, die Sie dazu bringt. schenfrage?)
(Rudolf Bindig [SPD]: Wenn Sie die Unwahr so daß Sie sich nicht mit Nichtwissen herausreden
heit gesagt haben, waren Sie zu dumm!) können, sondern daß vielmehr festgestellt werden
Wenn Sie erlauben, möchte ich Ihnen das wirklich muß, daß bewußt so gehandelt wurde, — —
einmal sehr deutlich sagen. Frau Kollegin Blunck, es (Zuruf von der CDU/CSU: Fragezeichen!)
hat Ihnen wieder gefallen, zu sagen: Wir lügen. — Sie
haben das auch ununterbrochen auf den Lippen. Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, eine Zwi-
schenfrage, kein Redebeitrag!
(Beifall bei der SPD)
Jetzt möchte ich gern einmal fragen: Was ist dann das, Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Ja. — Finden Sie
was der Herr Jung hier von sich gegeben hat? Sie nicht auch, daß es nichts mit einer Schlammschlacht,
haben Wahlkämpfe bestritten, in denen Sie gesagt sondern mit Ehrlichkeit zu tun hat, hier zu sagen, daß
haben: Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie. — Sie einfach die Unwahrheit gesagt haben?
Sie haben sogar Zeiten vorgegeben. Dann stellt sich (Beifall bei der SPD)
der Herr Jung hier hin und sagt: Über die Dauer der
Nutzung der Kernenergie lassen wir mit uns reden.
Hansjürgen Doss (CDU/CSU) : Die Situation ist für
Das ist ehrenwert. Ich bin auch der Meinung, daß wir Sie durch diesen Beitrag nicht besser geworden.
uns gegenseitig zugestehen müssen, daß man ein biß-
chen schlauer wird. Dies gilt insbesondere in der Zeit (Lachen bei der SPD)
des revolutionären Prozesses, in der wir gegenwärtig Das ist der hilflose Versuch der Begründung einer Dif-
leben. Sie haben die Wahlen in Rheinland-Pfalz mit famierungskampagne.
der Diskriminierung der Union durch diesen Lügevor- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Also, hilflos
wurf gewonnen. Ich bin der Meinung, es muß jetzt bin ich nicht!)
endlich einmal Schluß sein damit. — Ich weiß nicht. — Diese Diffamierungskampagne
(Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von der hat allerdings gewirkt. Wenn ich so etwas mit einem
SPD) Kompliment versehen soll, so kann ich Ihnen bestäti-
gen, daß es Ihnen gelungen ist, daß 72 % der Bevöl-
Unsere Mitbürger wenden sich ob des Umgangs, den kerung der Auffassung sind, die Union habe vor der
wir miteinander pflegen, mit Schaudern ab. Wahl in einer ganz bestimmten Frage mit Absicht die
(Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Jürgen Rütt Unwahrheit gesagt, nämlich in der Frage: Brauchen
gers [CDU/CSU]: Die Lüge mit der Lüge muß wir eine Steuererhöhung oder nicht? Ich halte dies für
aufhören!) unangemessen.
2136 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991
Hansjürgen Doss
Vor dem Hintergrund der Aussage des Kollegen zuwenig öffentliche Mittel eingesetzt zu haben oder
Jung sage ich Ihnen noch einmal: Sie sind in Wahl- dann zuviel, wie Frau Matthäus-Maier beklagt hat.
kämpfe gezogen und haben gesagt, Sie würden aus Wegen dieser vordergründigen parteipolitischen Dis-
der Nutzung der Kernenergie aussteigen. Dann er- kussion wird unseren aufmerksam zuschauenden
klärt Herr Jung: Über die Dauer der Nutzung der Mitbürgern in den fünf neuen Bundesländern der Ein-
Kernenergie lassen wir mit uns reden. Damit haben druck vermittelt, als ob die schnelle Herbeiführung
Sie vor der Wahl etwas anderes gesagt als nach der vergleichbarer Lebensbedingungen lediglich mit
Wahl. Dann ist dies die Energie-Lüge. Wie um Him- staatlichem Handeln verbunden sei.
melswillen soll das weitergehen, wenn wir in dieser
Qualität miteinander umgehen! (Zuruf von der SPD)
— Aber selbstverständlich.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Vielleicht haben Sie neben der Diskriminierung des Dies verschleiert die eigentlichen Ursachen, ver-
politischen Gegners auch noch ein paar Argumente schweigt die zahlreichen Erfolge des beginnenden
vorzubringen, mit denen Sie Wahlkämpfe bestreiten Aufschwungs und lenkt von der Notwendigkeit pri-
können. Ich halte diese Art der Auseinandersetzung vatwirtschaftlichen Handelns ab. Wenn sich die Kol-
für ausgesprochen unappetitlich. legen in der Opposition darauf beschränken, die
schmerzhaften Einschnitte und die unvermeidbaren
(Beifall bei der CDU/CSU — Jutta Braband Härten des revolutionären Prozesses — und es ist ein
[PDS/Linke Liste]: Sehr interessant!) revolutionärer Prozeß — zu beklagen, muß man da-
— Ich habe altmodische Ehrbegriffe. Dies will ich hinter Methode vermuten.
gerne zugeben. Nehmen Sie endlich zur Kenntnis, daß es in den
Wir beraten heute den ersten gesamtdeutschen neuen Bundesländern auch zunehmend wirtschaftli-
Haushalt, der Grundlage und Voraussetzung für den chen Aufschwung gibt! Selbst ADN — die sind ja
wirtschaftlichen Aufschwung in den fünf- neuen Bun- nicht gerade CDU-nah — kam gestern nicht umhin,
desländern ist. Er ist Grundlage einer weiterhin soli- auf breite Investitionsschübe hinzuweisen. Ich nenne
den und sparsamen Finanzpolitik für Gesamtdeutsch- drei davon stellvertretend: Ein deutsch-italienisch-
land. Die wirtschaftlichen Voraussetzungen für den französisches Ölkonsortium investiert in Schwedt an
Aufschwung in der ehemaligen DDR durch die So- der Oder 1,5 Milliarden DM. Alle Unternehmensgrup-
ziale Marktwirtschaft sind nunmehr gegeben. Wir le- pen von Mannesmann sind in der Zwischenzeit in den
sen und hören immer öfter, daß die vorhandenen fünf neuen Bundesländern. Bosch beschäftigt dort in
Möglichkeiten, neue Betriebe zu gründen, alte zu- der Zwischenzeit rund 4 000 Mitarbeiter.
kunftsfähig zu machen und neue Arbeitsplätze zu Ein persönlicher Freund von mir, ein Mittelständler
schaffen, von Unternehmen und Unternehmern zu- von echtem Schrot und Korn, ein Bäckermeister, der
nehmend genutzt werden. Jetzt gilt es, über die bis- Zukunft hat — —
herigen Ansiedlungs- und Investitionserfolge hinaus
nationale wie internationale Unternehmen zu ermuti- (Zuruf von der SPD: Der Hinsken! — Heiter
gen, Arbeitsplätze zu schaffen, insbesondere aber die keit)
Menschen in den fünf neuen Bundesländern zu ermu- —Nicht der Hinsken. Den Hinsken brauchen wir hier:
tigen, sich selbständig zu machen. Der hält Sie in Schach.
(Zustimmung bei der CDU/CSU) (Erneute Heiterkeit)
Ein breiter wirtschaftlicher Mittelstand ist die Grund- Die Firma Griessen baut in Jena eine der modern-
lage für eine florierende Wirtschaft und für eine frei- sten Backwarenfabriken in ganz Europa.
heitliche Gesellschaftsordnung.
(Lieselott Blunck [SPD]: Aber das ist ein
Um die Freiheit zu zerstören, ist der Mittelstand in
Tropfen auf den heißen Stein!)
der ehemaligen DDR gezielt vernichtet worden. Kon-
sequenz waren die wirtschaftliche Stagnation auf dem — Frau Blunck, aber diese vielen Tropfen sind es.
Niveau der 50er Jahre, die Entmündigung der Bürger Nicht anders kann es gehen.
und die Unfreiheit. Dieser Bäckermeister hat sich bei mir gemeldet und
Die Lehre aus dem weltweiten Scheitern des Sozia- hat gesagt — Sie müssen sich das einmal überlegen — :
lismus ist: Es gibt keinen Ersatz für die Soziale Markt- Bei der dortigen Behörde, bei der er vorstellig gewor-
wirtschaft. Es gibt aber auch keinen Ersatz für die den sei, um eine Baugenehmigung zu erhalten, habe
Ehrlichkeit in der Beurteilung der Volkswirtschaft und man ihm gesagt, man brauche keine Wessis. Wir ha-
deren Ursachen beim Niedergang in den fünf neuen ben dann den zuständigen Kollegen gebeten. Er hat
Bundesländern, und es gibt keinen Ersatz für einen sich eingeschaltet und das in Ordnung gebracht. Aber
berechtigten Optimismus, der bekanntermaßen un- so ist das.
verzichtbar ist, der sozusagen Voraussetzung für un-
In Brandenburg hat sich ein mir bekannter Immobi-
ternehmerisches Handeln ist. lienmakler bemüht, eine Immobilie mit dem Hinter-
In dieser Situation lädt die SPD große Verantwor- grund zu erwerben, daß dort eine Versicherungsge-
tung auf ihre Schultern, indem sie — auch in dieser sellschaft Platz greifen sollte. Er hat gesagt, es ent-
Haushaltsdebatte — die Illusion verbreitet, daß vor stünden 90 Arbeitsplätze. Man hat ihn mit dem Hin-
allem staatliches Handeln die Probleme lösen könnte, weis abgewiesen, das seien viel zu wenig; man habe
indem sie die Bundesregierung diskreditiert, zu spät, eine Arbeitslosenquote von — ich weiß das nicht mehr
zu früh, zu schnell, zu zögerlich gehandelt zu haben, ganz genau — 12 %.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2137
Hansjörgen Doss
Meine Damen und Herren, da gibt es natürlich auch zu machen, brauchen wir jetzt Mutmacher statt Mies-
alte Seilschaften, Unverstand und sonstiges, gegen macher, Handwerker statt Mundwerker.
was da zu kämpfen ist, sowie vordergründige Vor- (Ing ri d Matthäus-Maier [SPD]: Vor allem
schläge. Ehrlichkeit!)
(Zuruf der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann Wenn die SPD schon keine hilfreichen Konzepte hat,
[PDS/Linke Liste]) dann sollte sie wenigstens aufhören, dem Sanitäts-
trupp in Sachen wirtschaftlicher Aufschwung fort-
— Daß ausgerechnet Sie meinen, hier Ihre Stimme während Knüppel zwischen die Beine zu werfen.
erheben zu müssen, wo wir über die Misere reden, die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Sie zu verantworten haben, finde ich schon berner-
kenswert. Ich bedanke mich, auch für Ihre lebhafte Kommen-
tierung meiner Ausführungen.
(Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste]: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ich spreche da, wo ich es für richtig halte!)
Was uns schmerzt, ist, daß Sie nicht mit uns zusam- Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Ausspra-
men die Verantwortung tragen, daß wir nämlich den che.
Menschen in den fünf neuen Bundesländern die Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den
Wahrheit sagen, daß das Aufdecken nicht mehr ren- Einzelplan 09, Geschäfsbereich des Bundesministers
tabler Arbeitsplätze und nicht mehr funktionieren- für Wirtschaft, in der Ausschußfassung? — Wer stimmt
der Betriebe sein muß und daß das ein schmerzhafter dagegen? — Enthaltungen? — Meine Damen und
Prozeß ist. Herren, der Einzelplan 09 ist mit großer Mehrheit an-
genommen.
(Widerspruch bei der SPD — Ingrid Mat
thäus-Maier [SPD]: Sie und Wahrheit! —
Weitere Zurufe von der SPD) - Ich rufe auf:
Einzelplan 16
— Ich weiß nicht, wenn das Ihr Niveau ist!
Geschäftsbereich des Bundesministers für Um-
Der evangelische Theologe Professor Helmut Thie- welt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
licke hat einmal gesagt: Um ein Haus zutreffend zu — Drucksachen 12/516, 12/530 —
beschreiben, darf man sich nicht ununterbrochen im Berichterstatter:
Keller aufhalten. — Ich möchte Sie auffordern: Kom- Abgeordnete Hans Georg Wagner
men Sie die Treppe hoch, gucken Sie einmal in die Michael von Schmude
Werkstatt! Sie funktioniert in großen Teilen schon. Ina Albowitz
Wir sind dabei, dieses Teildeutschland einzurichten.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
(Zuruf von der CDU/CSU: Aber dann wür die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Er-
den sie doch von ihren Vorurteilen befreit! hebt sich dagegen Widerspruch? — Das ist nicht der
Das geht doch nicht! — Gegenrufe von der Fall. Dann ist das so beschlossen.
SPD) Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Hans Georg
Wagner.
— So ist es. — Mit Defätismus und mit Ihrer unent-
wegten Schwarzmalerei, meine lieben Kollegen,
meine sehr verehrten Damen und Herren, nehmen Sie Hans Georg Wagner (SPD): Herr Präsident! Meine
den Menschen die Hoffnung und damit den Anreiz sehr verehrten Damen und Herren! Eigentlich ist es
zum Einsatz und zur Leistung. sehr schade, daß die — —
Jutta Braband
Ich berücksichtige dabei sehr wohl, daß Atomgesetz der Wiederverwertung zugeführt wurden, ist zusam-
und Strahlenschutzverordnung dem BMU Aufgaben mengebrochen. Nach Ansicht der Bundesregierung
zum Schutz der Menschen vor radioaktiver Strahlung ist es unter marktwirtschaftlichen Rahmenbedingun-
zuschreiben. Dies begründet jedoch nicht den erheb- gen nicht funktionsfähig.
lichen Umfang der vorgesehenen Mittel für diesen Was unter marktwirtschaftlicher Eigenverantwor-
Bereich und schon gar nicht die Zielrichtung. Wer in tung herauskommt, zeigen aber die riesigen neuen
solchem Maße Mittel für die Atomtechnologie zur Müllhalden in der Landschaft der früheren DDR.
Verfügung stellt, setzt sich weder mit seinem eigenen Diese Müllhalden werden mit sehr viel Steuergeldern
Sicherheitsmärchen auseinander, noch stellt er sich saniert werden müssen.
der Tatsache, daß 70 % der Menschen in diesem Land
Atomkraftwerke nicht mehr wollen. Sehr viel billiger wäre es gewesen, das Sero-System
weiterhin finanziell zu unterstützen und schrittweise
Wenn schon Forschungsmittel beim BMU angesie- in ein modernes Recyclingsystem auf kommunaler
delt werden, dann mehr Mittel für die Erforschung Ebene und in kommunaler Hand umzubauen, was
und Entwicklung der regenera tiven Energie und de- nebenbei viele Arbeitsplätze sichern könnte.
ren Anwendung.
(Arnulf Kriedner [CDU/CSU]: Was glauben
(Peter Harry Carstensen [Nordstrand] [CDU/ Sie denn, was wir machen?)
CSU]: Wir können die auf Rügen nicht auf- Alles in allem sind wir der Auffassung, daß die hier
stellen, weil das Leitungsnetz nicht klappt!) genannten Bereiche nicht einfach nur zu kurz gekom-
Bei der wichtigen Frage der Entsorgung müssen men sind, sondern es sich hier um eine grundsätzlich
weit mehr als bisher die Großverdiener am Atomstrom andere Prioritätensetzung handelt.
zur Kasse gebeten werden, um auch hier Haushalts- Die PDS/Linke Liste lehnt mit diesem Haushaltsent-
mittel für zukunftsweisende Projekte im Energiebe- wurf auch diese Politik ab.
reich freizumachen, statt neue Atomkraftwerke in
Ich danke Ihnen.
Stendal und Greifswald zu bauen.
(Beifall bei der PDS/Linke Liste)
Für technische Hilfe zur Feststellung der Strahlen-
belastung im Raum Tschernobyl sollen 1,7 Millionen
DM bereitgestellt werden. Wir haben hier mehrmals Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat Frau Abge-
gehört, was für katastrophale Zustände dort herrschen ordnete Ina Albowitz.
und wie viele Menschen dort immer noch sterben oder
leiden. (Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Sie
haben neulich eine gute Rede gehalten!)
Angesichts der vom BUND nur für die Sanierung
der unmittelbar betroffenen Region veranschlagten
mindestens 30 Milliarden DM nehmen sich die Ina Albowitz (FDP): Ich werde mich bemühen, das
7,1 Millionen DM geradezu lächerlich aus. auch heute zu tun, Herr Kollege Schäfer. Ich hoffe,
Nun zu dem zweiten und genauso leidigen Thema, Ihren Anforderungen gerecht zu werden. Wir werden
das ebenso wie die Probleme mit der Atomenergie es ja sehen, wenn die Zeit um ist.
hausgemacht und nicht objektiv notwendig ist. Eine (Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Ich bin
wirklich ernst gemeinte ökologische Abfallpolitik gespannt!)
muß — ich sagte es schon an anderer Stelle — bei der — Der Kollege Wagner war in den letzten Wochen gar
Produktion von Abfall ansetzen und darf sich keines- nicht schlecht; aber heute hat er mich enttäuscht.
falls auf Nachsorgepolitik und moralische Appelle be-
schränken. Dies gilt für den Westen genauso wie für In einem hatte der Kollege Wagner freilich recht.
den Osten. Das muß ich zu Anfang sagen. Auch ich hätte den
Haushalt des Bundesministers für Umwelt, Natur-
Die DDR war ganz sicher kein ökologisches Muster- schutz und Reaktorsicherheit lieber gestern verab-
ländle. schiedet, weil damit sicher ein Stück seines Stellen-
(Zuruf von der CDU/CSU: In der Tat werts dokumentiert worden wäre. Dies kann man ja
nicht!) als Tip an den Ältestenrat für den Fall geben, daß
wieder einmal eine besondere Situation entsteht.
Aber den bestehenden Altlasten — hören Sie gut
zu — , deren Sanierung schwer genug ist, neue, durch (Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Haben
die westliche Produktionsweise mit ihrer Wegwerf- Sie keine Mitglieder im Ältestenrat?)
mentalität hervorgerufene, hinzuzufügen, ist einfach — Doch. Das ist mir aber erst später aufgefallen, Herr
absurd. Das werden Sie doch einsehen. Schäfer. Auch Sie haben ja nicht alles im Blick.
Das Pro-Kopf-Aufkommen von Hausmüll — dies (Dr. Uwe Küster [SPD]: Wir greifen das als
nur als Beispiel — lag 1988 in der DDR noch bei Anregung auf!)
180 kg im Jahr. Heute dürfte es sich dem Aufkommen — Ich sage ja: Als Anregung.
von 370 kg im Westen angenähert haben. Das ist ge-
nau die doppelte Menge. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Danke!)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
(Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste]: Herren! Eine wichtige Aufgabe des Bundesministeri-
Hört! Hört!) ums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Das Sero-Sammelsystem, durch das 1988 noch liegt eindeutig in der Bewältigung der Herausforde-
1,9 Millionen t Altstoffe pro Jahr erfaßt und zum Teil rungen, die durch die deutsche Einheit auftreten. Die
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2145
Ina Alb owitz
Schwerpunkte des Haushalts entsprechend zu setzen diente und jahrzehntelang streng abgeschottet war,
ist dringend notwendig. Wir dürfen nicht der Gefahr einer sinnvollen Nutzung zugeführt.
erliegen,. auf Grund der unmittelbar spürbaren Ich konnte mich vor wenigen Tagen selber vor Ort
Schwierigkeiten im wirtschaftlichen Einigungsprozeß davon überzeugen, daß hier ein guter Weg beschrit-
andere Probleme zu vernachlässigen. ten wird, Herr Minister, der den Naturschutzbelangen
Die ökologische Sanierung der ehemaligen DDR ist voll Rechnung trägt. Über das Konzept, das Sie, denke
sogar Voraussetzung für den wirtschaftlichen Auf- ich, vorlegen wollen, werden wir noch intensiv zu dis-
schwung. Dies hat das Aktionsprogramm „Ökologi- kutieren haben.
scher Aufbau" der Koalitionsfraktionen deutlich ge- Um eine Sofortmaßnahme bitte ich Sie dringend,
macht. Ob es darum geht, daß viele Flächen wegen nämlich die Sanierung der Kläranlage umgehend in
der Bodenvergiftungen für Industrieansiedlungen Ang ri ff zu nehmen. Ich denke, die Bundesrepublik
nicht zur Verfügung stehen, oder ob dringend benö- kann es sich nicht leisten, Mittel für eine solche Natur-
tigte Arbeitskräfte nicht zuletzt wegen der schlechten schutzakademie in ihren Haushalt einzustellen, wäh-
Umweltsituation den Zug in Richtung Westen bestei- rend gleichzeitig ungeklärte Abwässer in die Ostsee
gen — wenn ich die Zeitungen von gestern und heute eingeleitet werden. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn wir
richtig werte, liegen neue Zahlen vor — , immer tref- das sofort realisieren könnten.
fen die Wirkungen den wirtschaftlichen Aufholprozeß (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
der neuen Länder unmittelbar.
Ich habe natürlich eine interessante persönliche
Damit diese Verbesserungen so schnell wie möglich Frage. Ich würde schon gerne wissen, ob auch Herr
erfolgen, enthält das Gemeinschaftswerk „Auf- Gysi damals zu den Bevorzugten gehört hat.
schwung Ost" zahlreiche Umweltschutzsofortmaß-
(Arnulf Kriedner [CDU/CSU]: Oder Herr
nahmen. Diese verringern nicht nur die schlimmen
Modrow!)
akuten Gefährdungen der Gesundheit der Menschen,
vor allem der Kinder, sondern schaffen gleichzeitig
- — Herr Modrow mit Sicherheit. Aber so schön waren
schnelle und sinnvolle Beschäftigungsmöglichkei- die Häuser auch wieder nicht.
ten. (Dr. Dietmar Keller [PDS/Linke Liste]: Sie
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) haben ja keine Ahnung von dem, was Sie da
behaupten!)
Neben den 412 Millionen DM für das Umwelt- — Herr Keller, Sie waren da, nicht wahr? Zu Ihrem
schutzsofortprogramm aus dem Gemeinschaftswerk Ressort gehörte das.
stehen für 1991 u. a. zusätzliche Mittel aus verschie-
denen Kreditprogrammen, die wir aufgelegt haben, (Dr. Dietmar Keller [PDS/Linke Liste]: Sie
für Umweltschutzinvestitionen zur Verfügung. Aus haben keine Ahnung!)
diesen Krediten können hauptsächlich Wasserversor- — Ja; doch. Ich war da. Aber ich gehörte nicht dem
gungs- und Abwasserentsorgungsanlagen gefördert SED-Ministerrat an.
und kann die Finanzierung von zwingenden Deponie- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Dr.
sicherungsmaßnahmen und Projekten zum Schutz vor Dietmar Keller [PDS/Linke Liste]: Aber einer
gesundheitsgefährdenden Industrieanlagen sicherge- Blockpartei! — Dr. Ul ri ch B ri efs [PDS/Linke
stellt werden. Vorrang haben für uns dabei kommu- Liste]: In vorauseilendem Gehorsam! — Ar
nale Vorhaben mit hoher Beschäftigungswirkung. nulf Kriedner [CDU/CSU]: Herr B ri efs, Sie
Doch nicht nur diese Sonderprogramme zeigen, daß waren ja in Holland!)
der Schwerpunkt der Umweltschutzaufgaben in den — Jetzt ist es genug.
neuen Bundesländern liegt. Von den rund 1,7 Milliar-
den DM des Umwelthaushaltes kommen 42,5 % den
Umweltschutzaufgaben in den neuen Bundesländern Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, fahren Sie
zugute. So gibt es z. B. beim Naturschutz einen deut- fort.
lichen Ausgabenzuwachs zugunsten des Beitrittsge-
bietes. Der Umfang der Fördermittel für die Natur-
schutzgroßprojekte steigt von 25 Millionen auf Ina Albowitz (FDP): Einen deutlichen Zuwachs gibt
35 Millionen DM. es auch bei den Umweltforschungsmitteln. Sie stei-
gen um 13 Millionen DM auf 93,6 Millionen DM. Das
Besonders hervorheben möchte ich hierbei, daß auf
ist ein Zuwachs um gut 16 % . Diese Mittel sind vor-
der Insel Vilm vor Rügen eine internationale Natur-
rangig dazu bestimmt, Wege zur Lösung der großen
schutzakademie aufgebaut wird. Der Haushaltsaus-
Umweltprobleme in den neuen Ländern aufzuzeigen.
schuß hat hierfür für das Jahr 1991 insgesamt 2,7 Mil-
Hier muß der Staat vorangehen.
lionen DM und 35 Stellen bewil li gt.
Es kann aber nicht die Aufgabe des Staates sein,
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU auch alle zur ökologischen Sanierung erforderlichen
— Zuruf von der FDP: Außerordentlich posi Mittel aufzubringen. Dies würde die öffentlichen
tiv!) Haushalte völlig überfordern. Allein der Bau von Klär-
— Ich sage noch etwas dazu. Das Beste kommt noch: anlagen in den neuen Ländern kostet nach ersten
Ich war nämlich schon da. Schätzungen rund 50 Milliarden DM, wenn wir in den
neuen Ländern bei der Abwasserklärung denselben
Dadurch werden die Einrichtungen auf der Insel, Standard wie in den alten Ländern erreichen wollen.
die der früheren SED-Regierung als Ferienanlage Die Kosten für die aufwendige Sanierung der Kanali-
2146 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991
Ina Albowitz
sation, die noch weit höher liegen werden, sind bei Ich muß noch einen Punkt behandeln, bei dem bei
den 50 Milliarden DM nicht einmal eingerechnet. den Haushaltsberatungen kein Konsens mit der Op-
position bestand. Ich vermute, daran hat sich nichts
Um ähnlich hohe Kosten geht es bei der Abfallent- geändert. Herr Wagner hat das schon klargemacht.
sorgung im Beitrittsgebiet. Ca. 50 Deponien sind er-
forderlich, davon etwa 10 für Sonderabfälle. Jede die- Deutliche Meinungsunterschiede gab es bei den
ser Deponien kostet wiederum nach vorläufigen Haushaltsansätzen für die kerntechnische Sicherheit,
Schätzungen etwa 150 Millionen DM. Das ergibt eine Strahlenschutz und Entsorgung. Ihre Bedenken ge-
Finanzbedarf von weiteren rund 60 Milliarden DM hen dahin, Herr Kollege — wenn ich Sie richtig ver-
allein für den Bau von Deponien in den neuen Bun- standen habe; und ich glaube, das habe ich —, daß
desländern. durch diese Ausgaben eine Entscheidung für den
Ausstieg aus der Ke rnenergie immer schwieriger
Bei der Finanzierung dieser Aufgaben müssen wir wird. Doch ich will an dieser Stelle noch einmal darauf
im Osten den gleichen Weg wie in den westlichen hinweisen, daß diese Ausgaben notwendig sind, un-
Ländern gehen. Wir haben die Kohlekraftwerke ent abhängig davon, wie man zur f riedlichen Nutzung der
schwefelt und die Stickstoffemissionen erheblich re- Kernenergie steht.
duziert. Das hat rund 28 Milliarden DM gekostet. Die
öffentliche Hand hat dazu keinen Pfennig beigetra- Der Kenntnisstand des Umweltministeriums, Kolle-
gen. Diese Ausgaben wurden über höhere Strom- ginnen und Kollegen, darf bezüglich der kerntechni-
preise refinanziert, also von den Bürgern getragen. schen Sicherheit nicht hinter dem der beaufsichtigen-
den Landesbehörden und Betreiber zurückbleiben.
(Dr. Wolfgang Weng [Gerungen] [FDP]: Ver-
ursacherprinzip!) (Beifall bei der FDP und CDU/CSU)
Auch beim Bau von Kläranlagen oder Deponien in Sonst sind sachgerechte Entscheidungen des Bundes
den neuen Ländern muß die Finanzierung im Grund- in Zukunft unmöglich. Deshalb sind auch weiterhin
satz über die Gebühren erfolgen, die -jeder Bürger entsprechende Haushaltsansätze in diesem Bereich
nach dem Ausmaß seiner Nutzung zu zahlen hat. Da- notwendig.
bei sollten Finanzierungsmodelle den Vorrang haben,
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU —
bei denen die Anlagen in den ersten Jahren zins- und
Peter Harry Carstensen [Nordstrand] [CDU/
tilgungsfrei bleiben. Die zins- und tilgungsfreien
CSU] zu Abg. Harald B. Schäfer [Offenburg]
Jahre können später bei steigendem Einkommen der
[SPD] gewandt: Hören Sie mal zu!)
Bevölkerung mit höheren Abwasser- oder Müllab-
fuhrgebühren aufgefangen werden. Ähnliches haben Der Forschungsschwerpunkt beim Strahlenschutz
wir hier schon praktiziert. gilt den Folgen des Uranerzbergbaus in Sachsen und
Thüringen sowie der Frage, ob Radon in Wohnhäu-
Wir dürfen uns auch nicht scheuen, im Umwelt-
sern auftritt. Diese Forschungen kann doch niemand
schutz neue Wege zu gehen. Denn bei den ständig
ernstlich zurückschrauben wollen. Damit würde man
steigenden Herausforderungen, die auf uns zukom-
dem Bürger nur schaden.
men, sind keine alten Rezepte gefragt, sondern lau-
fend neue Ideen. Ein weiterer Ausgabepunkt aus den betreffenden
Haushaltstiteln: Das Umweltministerium führt Strah-
Wer hätte sich vor Jahren denken können, daß die
lenschutzmeßaktionen als humanitäre Hilfe in der So-
Entsorgung von Computerschrott einmal ein Problem
wjetunion durch. Insgesamt 100 000 Menschen wer-
werden könnte? Heute, wo die erste Generation der
den untersucht. Es soll herausgefunden werden, wie-
Home-Computer langsam ausrangiert wird, entste-
weit auch diese Menschen noch an den Folgen der
hen immer mehr Unternehmen, die solchen Schrott
Reaktorkatastrophe von Tschernobyl vor fünf Jahren
wiederverwerten und entsorgen.
leiden.
Im Gesamtkonzept der Bundesregierung zur Abfall- Lassen Sie mich zum Abschluß alle — ich habe das
politik ist die Rücknahme und Entsorgung von Elek schon bei der Einbringung des Haushalts gesagt —,
tronikschrott durch den Verkäufer vorgesehen. Die-
die die Höhe des Umwelthaushaltes von der Größe der
ser Produktbereich wird bestimmt nicht der letzte Ausgaben her als nicht angemessen bezeichnen, noch
bleiben, auf den die Kehrtwende in der Abfallpolitik einmal daran erinnern, daß der Bund in den meisten
in Richtung Abfallvermeidung und Abfallverwertung Bereichen des Umweltschutzes nur Gesetzgebungs-
ausgedehnt werden muß. Wir müssen ständig neu kompetenzen hat. Die Ausgaben für den Vollzug der
reagieren und neu mehr daran arbeiten. Gesetze schlagen sich daher in den Haushalten der
Flexibel reagieren müssen wir auch bei den unzäh- Länder und der Gemeinden nieder.
ligen internationalen Herausforderungen im Um- Zudem gilt gerade für den Haushalt des Bundesum-
weltschutzbereich. Dieses Reagieren wird leichter, weltministers vorrangig das Verursacherprinzip. Die
wenn man mit den anderen Nationen in ständigem Kosten der vorsorgenden Vermeidung von Umwelt-
Kontakt steht — insoweit ist Reisen wichtig für den belastungen und der Beseitigung von Umweltschäden
Umweltminister, Herr Wagner — , wenn es um die sind Grundsätzlich von den dafür Verantwortlichen zu
Probleme der Sauberhaltung von Flüssen, den Schutz tragen
der Ozonschicht oder anderes geht.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Die Bundesrepublik beteiligt sich inzwischen finan-
ziell und personell an zehn solcher internationaler und dürfen in Zukunft weniger denn je der Allge-
Sekretariate oder Arbeitsgemeinschaften. meinheit aufgebürdet werden.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2147
Ina Albowitz
Die FDP-Fraktion stimmt dem Haushalt des Bun- vor allem die CO2 verursachenden Wirtschaftszweige,
desumweltministers zu. nämlich den Energie- und den Verkehrssektor.
(Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Zu?) Ich spreche hier bewußt von einem Neuaufbau,
— Zu, Herr Schäfer! nicht von einer Ausstattung der neuen Länder mit
rückständigen Technologien, mögen sie auch, gemes-
Ich danke Ihnen.
sen an der alten DDR, modern erscheinen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Manchmal könnte man meinen, die Regierung
hätte davon etwas beg riffen. Da spricht also Herr
Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Abge- Staatssekretär Stroetmann bei einer Anhörung des
ordnete Klaus-Dieter Feige. BMU Mitte Mai davon, daß die Chancen für eine
nachhaltige Verbesserung der Energieversorgung in
den neuen Ländern nicht vorschnell aus der Hand
Dr. Klaus-Dieter Feige (Bündnis 90/GRÜNE): Herr gelegt werden sollen. Die Bundesregierung möchte
Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! deshalb, daß bei neuen Kraftwerken die derzeit effi-
Ich möchte jetzt nicht über die Insel Vilm reden. Ich zientesten Verfahren angewandt werden, und wi ll da-
finde das Projekt ganz gut. Aber ich weiß auch, daß es für die Technik der Blockheizkraftwerke nutzen. Die
besorgte Bürger gibt, die Angst haben, daß es viel- Kraft-Wärme-Koppelung soll auf breiter Front zur An-
leicht doch wieder ein Objekt für einige wenige bleibt. wendung kommen.
Die Insellage ist da. Wir werden das sehr aufmerksam
kontrollieren und beobachten. Ist dieselbe Bundesregierung, die durch den Strom-
vertrag mit den EVUs zentralistische und ineffiziente
(Peter Harry Carstensen [Nordstrand] [CDU/
Strukturen festgeschrieben und die die ostdeutschen
CSU]: Nur für Naturschützer! Ja, ja, ein gro
Kommunen ein zweites Mal enteignet hat, jetzt auf
ßes Problem!)
einem Wendekurs?
-
— Alles klar! Wunderbar! Vorhin ist in der Diskussion
gesagt worden, daß es jetzt für alle da ist und nicht Man verzeihe mir, wenn ich den Einfluß des Um-
mehr, wie früher, für Privilegierte. Wir wollen das weltministeriums doch als so gering einschätzen muß,
natürlich in irgendeiner Form konsequent durchbrin- daß außer heißer Luft unerfüllter Absichtserklärungen
gen. nichts übrig bleiben wird,
Aber ich wollte gar nicht über Vilm sprechen, son- (Dr. Ulrich Briefs [PDS/Linke Liste]: Sehr
dern ganz allgemein über den Haushalt. Das ist das richtig!)
Risiko, wenn man ein Thema aufgreift, das andere nur
anreißen. um so mehr, da Staatssekretär Stroetmann weiter ver-
Die Umweltpolitik der Regierung orientiert sich kündet, daß die Modernisierung und der Ausbau des
Schienenverkehrs sowie des öffentlichen Personen-
nach meiner Meinung immer noch an den Erkenntnis-
nahverkehrs die energetisch effizienteste und um-
sen der 70er Jahre. Nachsorgende Reparaturanwei-
weltverträglichste Alternative zum Individualverkehr
sungen, deren Vollzug immer komplizierter wird und
deren Grenznutzen zweifelhaft ist, charakterisieren seien. Dazu kommen wir ja nachher noch. Das alles ist
ja richtig. Aber warum weiß dann der Bundesver-
das blinde Herumtapsen in den Umweltangelegen-
kehrsminister nichts davon?
heiten.
Aber selbst beim nachsorgenden Umweltschutz Auch zur Energie haben Sie, Herr Stroetmann,
bleibt das Umweltministerium halbherzig und inkon- nichts Neues zu vermelden. Beim alten Grundsatz der
sequent. Das geht mittlerweile so weit, daß in Sachen Energiewirtschaft soll, wie schon seit langem über
Verpackungsverordnung ausgerechnet das Land grundlegende Veränderungen nachgedacht werden.
Bayern eine Position eingenommen hat, die weiter Einem Beschleunigungsgesetz für diesen Denkprozeß
geht als die des Bundesumweltministers. könnte ich begeistert zustimmen.
Spätestens seit wir Gewißheit über die drohende (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE sowie bei
Klimaveränderung haben, müßte doch allenthalben Abgeordneten der SPD und der PDS/Linke
klar geworden sein — Herr Kollege Schmidbauer Liste)
kann da sicher mit seinen Erfahrungen aus der En-
quete-Kommission Nachhilfe erteilen — , daß der Vielleicht setzen Sie sich einfach einmal mit den
nachsorgende Umweltschutz an seine Grenzen gesto- Anträgen der GRÜNEN zum Thema Energie aus der
ßen ist. 11. Wahlperiode auseinander. Ich glaube, einige tun
Wer vor diesem Hintergrund immer noch glaubt, es das sowieso schon heimlich. Das merkt man immer
genüge, als Klempner durch die Lande zu ziehen, ist wieder. Dort können Sie nämlich nachlesen, wie eine
nicht auf der Höhe der Zeit. Ein Umweltminister, der moderne Energieversorgung ohne Atomkraft mit ei-
von CO2-Reduzierung spricht, aber Wirtschafts-, ner erheblichen CO2-Minderung aussehen kann und
Energie- und Verkehrspolitik nicht entscheidend um- wie man dahin kommt.
gestaltet oder beeinflußt, wird bestenfalls als großer Das vereinte Deutschland hat die Chance, einen
Zampano in die Geschichte eingehen. neuen Geist in der Politik zu praktizieren, der die Her-
Dabei haben wir mit der deutschen Einigung eine ausforderungen des kommenden Jahrhunderts auf-
großartige Chance erhalten. Mitten in Europa existiert nimmt. Wir könnten eine Politik praktizieren, die die
eine Region, die in vielen Bereichen völlig neu aufge- Ökologie und vernetztes Denken zur Richtschnur ih-
baut werden kann und muß. Dieser Neuaufbau betrifft res Handelns macht.
2148 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991
Bei dieser Situation kann ich mir an Mitteln in den Ich möchte hinzufügen, daß wir bei dieser Maß-
Haushalt hereinholen, was immer möglich ist. Wir nahme wirklich Erfolg haben müssen. Denn wenn wir
werden nichts anderes machen können, als Sanie- das nicht erreichen, wie soll denn jemals eine Mög-
rungsgesellschaften zu gründen, die gegenwärtig lichkeit bestehen, die Probleme Mittel- und Osteuro-
schon viele Arbeitsplätze stellen, aber noch nicht den pas insgesamt zu bewältigen, wenn also wir das mit
letzten, ursächlichen Sanierungserfolg haben können. unserer Kapitalkraft und mit unserer technologischen
Genau das ist gemacht worden. Qualität nicht schaffen?
Wie wollen wir denn wirklich das schmutzige
(Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Wie schwarze Dreieck zwischen Polen, der CSFR und
viele Sanierungsgesellschaften? — Zuruf des Sachsen/Thüringen beseitigen? Wer ist denn einmal
Abg. Ernst Waltemathe [SPD]) im Erzgebirge gewesen und hat gesehen, daß dort nur
2152 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991
Marion Caspers-Merk
Gerade in den Sommermonaten können wir einen Bötsch [CDU/CSU]: Das nehmen Sie sofort
Ozonteppich über Europa beobachten. Ozonalarm in zurück!)
vielen Städten und die Empfehlung an die betroffenen Das Ganze ist um so peinlicher, als Sie bereits jetzt
Eltern, ihre Kinder zu Hause zu halten, sind kein Kon- denen, die mit Recht das Engagement des Bundes in
zept gegen den Sommersmog. Sie, Herr Minister, le- dieser Frage erwarten, Versprechungen machen. Dies
gen halbherzige Konzepte zur Sperrung der Innen- nenne ich eine Politik der ungedeckten Schecks. Eine
städte vor, ohne eine aktive Verkehrsvermeidungs- Abgabe, deren Höhe noch nicht endgültig feststeht,
politik zu unterstützen. bei der noch nicht einmal klar ist, wann die Gelder
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) daraus in welcher Höhe überhaupt zur Verfügung ste-
hen, wird bereits an jeden, der Geld braucht, verteilt:
In der Schweiz gibt es schon lange Luftreinhalte- Die neuen Bundesländer sollen etwas erhalten. Die
plane. Telefonieren Sie doch einmal mit den Eidge- alten Bundesländer sollen etwas erhalten. Bei der
nossen und informieren Sie sich darüber, wie die so jüngsten Sondersitzung des Sport- und Umweltaus-
etwas machen! Ich komme aus einer Grenzregion, in schusses wurde gar angekündigt, daß die Sanierung
der ich sehen muß, daß beispielsweise in Weil am der dioxinbelasteten Flächen auch mit Hilfe dieser
Rhein Bundesjugendspiele veranstaltet werden, wäh- Abgabe mitfinanziert werden könnte.
rend in Basel Ozonalarm herrscht und die Kinder zu Der Umweltminister verspricht also Gelder, die er
Hause gehalten werden müssen. noch gar nicht hat, für Flächen, die er noch gar nicht
Sie, Herr Minister, kündigen vollmundig an, daß bei alle kennt, mit einer Belastung des Bodens, die er noch
der Bekämpfung der Verpackungsflut von Ihrem Mi- nicht einmal ahnt.
niste rium sogar über Stoffverbote, Verpackungsabga- (Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Jetzt ge
ben und das generelle Verbot der Einwegverpackun- hen Sie aber entschieden zu weit! — Arnulf
gen nachgedacht wird. Und das faktische Ergebnis? Kriedner [CDU/CSU]: Aber Sie wissen es
— Ihre Verpackungsverordnung scheitert im ersten schon!)
Anlauf, mußte im Bundesrat nachgebessert - werden
— Wir haben den vollen Umfang dieser Belastung
und wird sich nach allem, was man jetzt weiß, als
auch nicht erkannt, aber wir haben dafür Gelder im
untauglich erweisen, die Verpackungsflut einzudäm-
Haushalt gefordert.
men; denn Sie haben von vornherein der Verpak-
kungsindustrie das Schlupfloch des dualen Entsor- (Beifall bei der SPD)
gungssystems gelassen.
Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, gestatten
Ein grüner Punkt soll Verpackungsverwertung und
Sie eine Zwischenfrage?
damit für die Augen der Verbraucher Umweltfreund-
lichkeit signalisieren. Aber wem wollen Sie eigentlich
erklären, daß die Glasmilchflasche keinen grünen Marion Caspers-Merk (SPD): Nein, ich bin sofort
Punkt erhält, dafür aber die Milcheinwegkartonage? fertig.
So kann man Umwelterziehung nicht begreifen, Kol- (Arnulf Kriedner [CDU/CSU]: Das charakte
leginnen und Kollegen! risiert Sie aber! — Zuruf von der CDU/CSU:
Lesen Sie ruhig weiter!)
(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und
dem Bündnis 90/GRÜNE) Ich habe nur noch zwei Minuten, und aus diesem
Grunde möchte ich im Zusammenhang vortragen.
Ein weiteres Beispiel Ihrer verfehlten Umweltpolitik
ist die Altlastensanierung. Allein in den neuen Län- Vizepräsident Hans Klein: Verzeihung, Frau Kolle-
dern sind bis heute — diese Zahl wurde bereits ge- gin! Die Zeit würde Ihnen nicht angerechnet.
nannt — mehr als 12 500 Verdachtsflächen entdeckt
worden. Unser Antrag zur Erhöhung des Ansatzes für
Marion Caspers-Merk (SPD): Ich möchte im Zusam-
die Finanzierung der Altlastensanierung wurde abge-
menhang vortragen.
schmettert.
In den alten Bundesländern kommen zu den be- Vizepräsident Hans Klein: Bitte sehr.
kannten unzähligen Flächen laufend neue Altlasten
(Zuruf von der CDU/CSU: Natürlich!)
hinzu. Denken wir nur an die etwa 650 bekannten
dioxinbelasteten Flächen mit der Kupferschlacke Kie-
selrot, oder denken wir, wie jetzt bekannt wurde, an Marion Caspers-Merk (SPD) : Demgegenüber ha-
die auf uns zukommenden Altlasten auf den Stand- ben die Sozialdemokraten Konzepte vorgelegt, die
orten der sowjetischen und amerikanischen Streit- eine Umkehr in der Umweltpolitik fordern. Kernstück
kräfte. Hier fehlt ein bundesweites einheitliches Altla- des ökologischen Umbaus der Industriegesellschaft
stensanierungs- und -finanzierungskonzept. Der ist eine Kombination aus gesetzlichen Vorgaben und
Bund steht hierbei in der Verantwortung. marktwirtschaftlichen Instrumenten. Wir wollen, daß
der, der die Umwelt benutzt und dabei schädigt, be-
Sie haben zur Finanzierung der Altlastensanierung zahlt. Wir wollen, daß der, der die Umwelt bewahrt,
ein Abfallabgabengesetz vorgeschlagen und für März belohnt wird.
1991 angekündigt. Vorgelegt ist dieser Gesetzentwurf
Kernstück unserer umweltpolitischen Leitlinien
bislang noch nicht. Also auch hier wieder viel ange-
sind Lenkungsabgaben und Steuern, die diesen Na-
kündigt, wenig gehalten. men wirklich verdienen. Gleichzeitig wollen wir die
(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Umweltsanierung in den neuen Ländern auf unserem
dem Bündnis 90/GRÜNE — Dr. Wolfgang hohen Niveau. Zweierlei Maß bei den Umweltstan-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2155
Marion Caspers-Merk
dards darf es in einem vereinten Deutschland nicht in der Bundesrepublik Deutschland verschlechtern.
geben. Es gibt einen Landesumweltminister, der deutlich da-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten von gesprochen hat, daß durch die Umweltpolitik in
der PDS/Linke Liste) diesem Lande die Situation an Rhein und Ruhr besser
geworden ist, daß es weniger Krankheiten gibt und
Vielen unserer Vorschläge sind Sie nach einer An- daß die Menschen gesünder leben. Dieser Minister ist
standsfrist bislang gefolgt. Die Sozialdemokratisie- kein Mitglied der CDU; er ist ein SPD-Minister.
rung der Regierungspolitik findet zwar statt, aber lei-
der erst, wenn man unseren Gesetzesvorschlägen die Wann stimmen Sie sich endlich einmal mit denen
Zähne gezogen hat. Herr Töpfer, Sie gebrauchen un- ab, die fachlich ihr Ressort beherrschen — wie Ihr
sere Begriffe, aber Sie benutzen Sie für andere In- Umweltminister in Nordrhein-Westfalen — , statt die-
halte, sen Unfug zu erzählen, wie Sie ihn hier verzapfen?
Das ist doch der Sachverhalt.
(Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Gott
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
sei Dank!)
Dann müssen Sie auch die Katastrophenmeldun-
und Sie lassen vor allem Ihren Ankündigungen keine
gen, von denen Sie hier reden wollen, deutlich ma-
Taten folgen.
chen. Sie haben etwas zur Verpackungsverordnung
(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten gesagt. Sie werden in Ihren eigenen Bundesländern,
der PDS/Linke Liste) in Hamburg und im Saarland, mit der Flut der Verpak-
Meine Erfahrungen als Parlamentsneuling mit Ih- kungen nicht fertig. Wir haben das Problem ange-
rem Ministe rium lassen nur den Schluß zu, daß dieses packt. Wir haben das System geschaffen, mit dem wir
Ministerium im Umgang mit den Parlamentariern mit dieser Verpackungsflut fertigwerden.
Defizite aufweist. Da werden Presseerklärungen ver- Ihre Länderminister haben, weil sie keine andere
teilt, notwendige Ausschußunterlagen sind aber un- Lösungsmöglichkeit für die sozialdemokratisch re-
vollständig und nicht rechtzeitig vorhanden. B riefe gierten Länder sehen, dieser Verpackungsverord-
-
von Abgeordneten mit drängenden Fragen der Bürger nung zugestimmt. Wann endlich lernt diese SPD-Bun-
werden gar nicht oder erst mit monatelanger Verspä- destagsfraktion etwas vom Sachverstand ihrer Mini-
tung beantwortet. Wer aus einem Ministe rium eine ster?
Werbeagentur macht, hat vermutlich kein Interesse (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
daran, daß die blumigen Ankündigungen auch umge-
setzt werden. Es wäre angebracht, daß Sie sich einmal in internen
Kolloquien äußern, bevor Sie sich hier hinstellen und
(Beifall bei der SPD) etwas sagen, was nicht Sache ist. Das muß ganz deut-
(V o r s i t z: Vizepräsident Dieter-Julius Cro lich gesagt werden.
nenberg) Ein letzter Punkt: zur Perspektivlosigkeit. Wir ha-
Ich komme zum Schluß: ben das Bundes-Immissionschutzgesetz novelliert.
(Hans-Werner Müller [Wadern] [CDU/CSU]: Wir haben durch die Chemiepolitik die Anlagen si-
Es wird wirklich Zeit!) cherer gemacht. Weiterhin haben wir durch die Um-
weltaußenpolitik dieses Umweltministers in Verbin-
Wir fordern den Ausstieg aus der Perspektivlosigkeit dung mit dem Bundeskanzler dazu beigetragen, daß
Ihrer Umweltpolitik und den Einstieg in eine Offen- wir endlich gemeinsam mit der EG und der Welt Ant-
sive für die Umwelt. Ihre Politik, Herr Töpfer, strahlt worten auf die globalen Probleme in Sachen Treib-
diese Perspektivlosigkeit aus. Sie wird zum umwelt- hauseffekt suchen und finden.
politischen Sicherheitsrisiko und gehört entweder zur
Wiederaufbereitung in die Opposition oder in ein si- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
cheres Endlager.
Vielen Dank. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr
Dr. Lippold, Ihr Engagement ist kein hinreichender
(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Grund, die Zeit für eine Kurzintervention deutlich zu
dem Bündnis 90/GRÜNE) überschreiten. Ich bitte Sie, zum Schluß zu kom-
men.
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Zu einer
Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Dr. Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (CDU/CSU): Ich
Lippold das Wort. werde dann schließen.
Ich bedanke mich.
Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (CDU/CSU): Herr (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Ich hätte lieber eine Zwischenintervention gehabt, Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort
damit man die vielen Unklarheiten, Mißverständnisse hat der Abgeordnete Klinkert.
und Falschaussagen direkt richtigstellen kann, die
sich so anhäufen, daß man sie im Rahmen einer Kurz-
intervention ansonsten nicht ausräumen kann. Ulrich Klinkert (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Der ursprüngliche Haushalt des
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) BMU von 1,3 Milliarden DM wurde auf Grund des
Punkt eins: Die Kollegin hat von fortlaufenden Ka- dringenden Handlungsbedarfes zur ökologischen Sa-
tastrophenmeldungen gesprochen, die die Situation nierung der neuen Bundesländer um jeweils 400 Mil-
2156 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991
Ulrich Klinkert
lionen DM für 1991 und 1992 aufgestockt. Dabei ha- Monat eine Exkursion nach Sachsen und nach Bran-
ben diese Mittel lediglich auslösenden und lenkenden denburg. Ein wesentlicher Bestandteil dieser Reise
Charakter für weitere Investitionen mit wesentlich hö- war die Besichtigung von ehemaligen und noch akti-
heren Dimensionen auch im Umweltbereich. Wenn ven sowjetischen Militäreinrichtungen. Deswegen
Herr Wagner hier den Anteil von 0,33 % am Gesamt- begrüßen wir die Aussage der Bundesregierung, zu-
haushalt minutiös ausrechnet, dann zeigt er damit, nächst 70 Millionen DM für die Erkundung und Erf as-
daß er sicherlich mit seinem Taschenrechner umge- sung der Altlasten auf den Liegenschaften der sowje-
hen kann, tischen Streitkräfte zur Verfügung zu stellen. Beson-
(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) ders begrüßenswert ist dabei die Tatsache, daß diese
Aufträge im wesentlichen an ostdeutsche Firmen ver-
aber weniger die Rolle eines Ministeriums begreift; geben werden, weil dadurch auch arbeitsmarktpoliti-
denn es ist nicht mehr die Rolle eines Ministeriums, sche Effekte erreicht werden.
wirtschaftslenkendes Organ zu sein. Das hatten wir im
Sozialismus der DDR. Ich weiß allerdings nicht, wie Wir konnten uns auf dieser Exkursion davon über-
dies im Saarland gehandhabt wird. zeugen, daß die von der Bundesregierung installierten
beschäftigungspolitischen Maßnahmen gerade auch
(Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Kein für den Umweltbereich zunehmend aufgegriffen wur-
Unterschied! — Hans Georg Wagner [SPD]: den. 10 000 Arbeitnehmer sind in der Zwischenzeit für
Erfolgreich!) die reine Umweltsanierung über Arbeitsbeschaf-
Vielleicht liegt es auch daran, daß so viele Finanzaus- fungsmaßnahmen eingesetzt. Wenn man die heutige
gleichsmittel der Gesamtbundesrepublik ins Saarland Meldung der Bundesanstalt für Arbeit nimmt, daß die
flossen und weiterhin fließen. Arbeitslosigkeit im Monat Mai nicht angestiegen ist,
kann man das, glaube ich, als einen sehr wirkungsvol-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —
len Erfolg auch des Programms zur ökologischen Sa-
Hans Georg Wagner [SPD]: Auch Quatsch!
nierung der neuen Bundesländer ansehen.
Wieder falsch!)
Der Gipfel der Unsachlichkeit, glaube ich, war die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Kri tik daran, daß der Bundesumweltminister in ein
ökologisches Krisengebiet gefahren ist, denn einer- Im Lausitzer Braunkohlenrevier wurde uns ein ähn-
seits wurde kritisiert, daß Herr Töpfer dorthin fuhr, liches Modell vorgestellt, wie es Minister Töpfer hier
für das mitteldeutsche Braunkohlenrevier beschrie-
(Zuruf von der SPD: Ist doch gar nicht ben hat. Auch in der Lausitz können in den nächsten
wahr!) Wochen und Monaten 3 000 bis 4 000 Arbeitnehmer,
andererseits wurde nichts darüber gesagt, daß bei- die sonst überwiegend in die Arbeitslosigkeit geraten
spielsweise auch SPD-Abgeordnete dorthin gefahren wären, über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zur
sind. Damit wir uns nicht mißverstehen: Wir als CDU/ ökologischen Sanierung eingesetzt werden. Alles das
CSU-Fraktion begrüßen beide Aktivitäten. Wir haben sind Maßnahmen, die im Haushalt des BMU natürlich
durch beide Aktivitäten sehr nützliche und sachliche nichts zu suchen haben, sondern die über andere
Hinweise zum realen Zustand am Golf erhalten. Töpfe finanziert werden können.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Die wichtigsten Prioritäten, die jetzt gesetzt wer-
Monika Ganseforth [SPD]: Er war aber gar den, können aus den positiven Erfahrungen des ver-
nicht in Kuwait!) gangenen Jahres resultieren, da die 500 Millionen
Herr Wagner, vielleicht darf ich auf noch einen DM Fördermittel, die zur Einzelprojektförderung ein-
Punkt zurückkommen: Ich gebe zu, daß es für einen gesetzt wurden, dort Erfolge auf wirtschaftlichem und
Neubundesbürger, wie ich einer bin, schwierig ist, beschäftigungspolitischem Gebiet erzielt haben. In
alle Feinheiten der Marktwirtschaft zu kennen und zu diesem Jahr soll diese Praxis fortgeführt werden und
erkennen. Aber das Verwirrspiel, das Sie hier mit Zah- vorrangig bei Wasserversorgungs-, bei Abwasserent-
len, Gesetzen und Gesetzmäßigkeiten der Marktwirt- sorgungsanlagen, bei Deponiesicherungsanlagen so-
schaft vorgeführt haben, grenzt doch an Unsachlich- wie bei Maßnahmen zur Abwehr von Gesundheitsge-
keit; denn wenn Sie hier die vorgesehene Mischfinan- fährdungen zur Anwendung kommen.
zierung der 17 Milliarden DM für die ökologische Lassen Sie mich hier noch auf den Einwurf von Frau
Sanierung der neuen Bundesländer den 400 Millio- Braband zurückkommen, daß die Müllawine der
nen DM für Einzelprojekt- und Anschubfinanzierung Wohlstandsgesellschaft jetzt auch auf die fünf neuen
gegenüberstellen, dann zeugt das, glaube ich, davon, Länder überschwappt. Wir sind uns sicherlich darüber
daß Sie die Unterlagen zum Projekt der ökologischen einig, daß das Überschwappen der Müllawine nicht
Sanierung nicht einmal gelesen haben — das wenig- erstrebenswert ist. Aber ich kann hier für die Bevöl-
stens sollte man erwarten — , denn die Finanzierungs- kerung der DDR feststellen, daß sie mit dem Vollzug
quellen dieses Projekts sind sehr deutlich aufge- der deutschen Einheit nicht warten wollte, bis das
zeigt. Müllproblem in der Bundesrepublik (alt) gelöst
(Hans Georg Wagner [SPD]: Ich habe das wurde.
auch gelesen! Sie sollten Zeitung lesen!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Die Arbeitsgruppe Umwelt, Naturschutz und Reak-
torsicherheit der CDU/CSU-Fraktion unternahm, um Das ist jetzt ein gesamtdeutsches Problem, und wir
sich ein eigenes Bild vom ökologischen Zustand der werden es mit dieser CDU/CSU-Regierung in den
neuen Bundesländer zu verschaffen, im vergangenen nächsten Monaten lösen können.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2157
Ulrich Klinkert
Meine Damen und Herren, der Haushalt des Bun- Wenn wir diese Fragen so formulieren, dann sind
desministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi- das nicht reine Spekulationen. Ich mußte bereits am
cherheit ist auf die an sich gesetzgeberisch lenkende Runden Tisch erfahren, daß die Geheimnisse des
Wirkung des BMU abgestimmt und wird das Pro- KoKo-Bereichs von der damaligen DDR-Regierung
gramm „Aufschwung Ost" wesentlich nach vorn be- streng gehütet wurden. Die von uns immer wieder
fördern. angemahnten Informationen kamen nicht oder spät
Vielen Dank. und nur sehr unvollständig.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Bundesregierung hat diese Tradition der Her-
ren Krenz, Modrow und de Maizière bruchlos fortge-
führt. Von den Vernehmungen Schalcks beim BND im
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine Frühjahr 1990 haben die Bundestagsbegeordneten
Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Aus- bisher nichts erfahren dürfen, obwohl Schalck erst
sprache. jüngst wieder gegenüber der „FAZ" erklärt hat, er
Wir kommen zur Abstimmung. Wer dem Einzel- habe dort umfassend ausgepackt.
plan 16 — Geschäftsbereich des Bundesministers für Wie konnte es passieren, daß ausgerechnet enge
Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit — in der Schalck-Vertraute wie Traudl Lisowski, Jochen
Ausschußfassung zustimmt, den bitte ich um das Steyer und Dieter Uhlig bis in die jüngste Zeit hinein
Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Dann ist mit der Abwicklung wesentlicher Teile des KoKo-Im-
dieser Einzelplan mit den Stimmen der Koalitionsfrak- periums betraut waren? Warum hat das Bundesfi-
tionen angenommen. nanzministerium den Bundestag bisher noch nicht
über den Stand dieser Abwicklung unterrichtet? Tref-
fen Meldungen des „Spiegel" und anderer Zeitungen
Ich rufe nunmehr die Zusatztagesordnungs-
zu, daß der BND Schalck zugesichert hat, für seine
punkte 1 und 2 auf:
Kooperationsbereitschaft wesentliche Teile seines
ZP1 Beratung des Antrags der Gruppe BÜND- - Auslandsvermögens unangetastet zu lassen?
NIS 90/DIE GRÜNEN Meine Damen und Herren, Sie sehen, es ist ein
Einsetzung eines Untersuchungsausschusses äußerst brisanter Stoff. Wir fordern Stimmrecht in die-
— Drucksache 12/629 — sem Untersuchungsausschuß. Wir fordern Rederecht,
ZP2 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD das uns mehr als zwei oder drei Minuten pro Sitzung
einräumt. Wir erwarten, daß der Ausschußvorsitzende
Einsetzung eines Untersuchungsausschusses so großzügig verfährt, daß auch über die Verabredung
— Drucksache 12/654 — im Ältestenrat hinaus etwas mehr Spielraum für un-
Zum Antrag der Fraktion der SPD liegen ein Ände- sere Mitwirkung möglich wird.
rungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP, Ich hoffe, daß die Regierungsfraktionen wirklich —
und zwar auf Drucksache 12/662, und ein Änderungs- wie sie es beteuern — die Aufklärung wollen und
antrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf Drucksache nicht wie beim U-Boot-Ausschuß sofort wieder anfan-
12/686 vor. gen, die Ausschußarbeit mit tausend juristischen Fi-
Die interfraktionelle Vereinbarung lautet: Debat- nessen und Geschäftsordnungstricks zu belasten.
tenzeit eine halbe Stunde. Ist das Haus damit einver- Ich danke Ihnen.
standen? — Das ist offensichtlich der Fall.
(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE)
Dann kann ich die Aussprache eröffnen. Zunächst
einmal hat die Abgeordnete Frau Köppe das Wort.
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort
hat der Abgeordnete Dr. Struck.
Ingrid Köppe (Bündnis 90/GRÜNE): Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Die heutige Einsetzung
des Schalck-Untersuchungsausschusses ist, meinen Dr. Peter Struck (SPD) : Herr Präsident! Meine sehr
wir, ein Erfolg für das Bündnis 90/DIE GRÜNEN. verehrten Damen und Herren! Wenn in der letzten
Denn seit wir in den Bundestag eingezogen sind, war Zeit über die Bewältigung der Vergangenheit in der
dies eine unserer wichtigsten Forderungen. Und wir ehemaligen DDR und über die schlimmen Taten der
haben eigentlich nicht verstanden, warum die SPD- führenden Mitglieder der SED und der damaligen
Fraktion so lange gezögert hat. Schließlich hat Herr Regierung gesprochen wurde, hat der Name Schalck-
Vogel die Aufklärung des Schalck-Golodkowski- Golodkowski in der Regel eine besondere Rolle ge-
Skandals bereits im Bundestagswahlkampf verspro- spielt. Die SPD-Bundestagsfraktion stellt heute den
chen. Antrag, einen Untersuchungsausschuß zu dem Kom-
plex „Kommerzielle Koordinierung — Schalck-Golod-
Worin besteht dieser Skandal? Was muß der von uns kowski" einzusetzen. Meine Damen und Herren, ich
heute beantragte Untersuchungsausschuß dringend glaube, daß wir damit ein deutliches Signal für die
aufklären? Erfreulicherweise hat die SPD in ihrem Menschen in der ehemaligen DDR geben, daß diese
Antrag Kernpunkte unseres Antrags übernommen, Vergangenheit aufgearbeitet werden soll.
und das sind die Fragen: Was hat die Bundesregie-
rung unternommen, um die KoKo-Milliarden sicher- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Jür
zustellen und für den Aufbau der ostdeutschen Länder gen Rüttgers [CDU/CSU])
zur Verfügung zu stellen? Hat die Bundesregierung Um allen Mißverständnissen vorzubeugen, möchte
Herrn Schalck Straffreiheit oder sonstige Vergünsti- ich hier für meine Fraktion erklären, daß wir im Ge-
gungen zugesagt? gensatz zu manchem anderen Untersuchungsaus-
2158 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991
Uwe Lühr
chen Verstrickung und von ihrem Wirken auch in den Ich habe mir einmal etwas überlegt. — Ich meine,
alten Bundesländern ans Licht zu bringen. Die Zeu- als relativ entfernter Westvertreter, der in der Fraktion
gen, die wir einvernehmen werden, sollten ihre Pflicht der PDS/Linke Liste tätig ist, kann ich das relativ lok-
zur wahrheitsgemäßen Aussage weniger als Bürde ker betrachten. — Ich will einmal auf folgendes hin-
denn als Chance zur Mitwirkung an der Aufarbeitung weisen: Ich könnte mir eine Effektivierung der Arbeit
einer Phase deutscher Geschichte verstehen, in der in dieses speziellen Ausschusses sehr gut vorstellen.
vielen, vielen Einzelfällen mit staatlicher Gewalt das — Einen Antrag kann man ja jetzt schlecht stellen. Es
persönliche Schicksal in einer Weise bestimmt wurde, wäre schön, wenn man in der Zukunft einen Antrag
die bei Bürgern in den alten Bundesländern nur mit vielleicht auch mündlich und auch kurzfristig einbrin-
Bestürzung zur Kenntnis genommen werden kann. gen könnte. — Ich will daher jetzt nur einfach die
Gerade auch das Wissen um das große Interesse der Empfehlung abgeben, daß in diesen Ausschuß vor
Bevölkerung in den neuen Bundesländern hält uns allen Dingen Vertreter der früheren Blockparteien,
dazu an, den Auftrag des Ausschusses mit aller also Vertreter der Demokratischen Bauernpartei und
Gründlichkeit auszuführen. Aber — das möchte ich der Ost-CDU, der LDPD und der NDPD, entsandt wer-
mit aller Entschlossenheit sagen — der Ausschuß ist den, denn diese Parteien haben selbstverständlich,
kein Tribunal. Wie die Staatsanwaltschaft Berlin wer- wie für jedermann und jedefrau ersichtlich, eine au-
den wir das Verfahren nach streng rechtsstaatlichen ßerordentlich fundierte Erfahrung mit den Strukturen
Grundsätzen betreiben. Das Grundgesetz schreibt der Kommerziellen Koordinierung. Sie kennen sich
uns das so vor. Deswegen haben wir aus den neuen mit dem ganzen Stil aus; Sie haben zum Teil selbst
Bundesländern ja auch die Freiheit und Rechtsstaat- davon profitiert. Ich empfehle dringend, im Sinne ei-
lichkeit des Grundgesetzes gewählt. ner Effektivierung dieses Ausschusses, an dem wir
alle ein Interesse haben müssen, so zu verfahren.
Irgendwelchen Rachegelüsten zu frönen könnte
zwar verständlich sein, das wird es aber — das versi-
chere ich hier — mit der FDP im Untersuchungsaus- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort
schuß nicht geben. Unsere Arbeit darf auch nicht dazu für eine Kurzintervention hat Herr Abgeordneter
führen, daß die Ergebnisse der staatsanwaltschaftli- Kronberg.
chen Ermittlungen gefährdet werden. Wir wollen die
Interessen der Staatsanwaltschaft wahren helfen und Heinz-Jürgen Kronberg (CDU/CSU): Herr Dr.
werden uns deshalb, wie Herr Rüttgers soeben schon B ri efs, vielleicht beruhigt es Sie, wenn ich Ihnen sage,
gesagt hat, umgehend mit Frau Limbach und Herrn daß ein ehemaliger Vertreter des Demokratischen
Professor Papier verständigen, um die Untersuchun- Aufbruchs und damit ein Vertreter einer ehemaligen
gen zu koordinieren. DDR-Partei im Ausschuß vertreten ist.
Die FDP-Bundestagsfraktion unterstützt den Antrag (Beifall bei der CDU/CSU)
der SPD auf Einsetzung des Untersuchungsausschus-
ses. Dem Antrag des Bündnisses 90/GRÜNE können Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich hoffe,
wir aus diesem Grunde nicht zusätzlich zustimmen. wir können nun wirklich zur Abstimmung kommen.
Wir tragen die Einsetzung des Untersuchungsaus- Ich lasse zunächst über den Änderungsantrag der
schusses in der Hoffnung mit, daß der dritte Satz des Gruppe PDS/Linke Liste, der Ihnen auf Drucksache
von mir eingangs erwähnten Horoskops nicht eintref- 12/686 vorliegt, abstimmen. Wer diesem Änderungs-
fen wird, in dem es hieß: „Denn die Mehrarbeit lohnt antrag der PDS/Linke Liste zuzustimmen gedenkt,
kaum. " den bitte ich um das Handzeichen. — Wer ist dage-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gen? — Stimmenthaltungen? — Dann ist dieser An-
der CDU/CSU) trag mit den Stimmen der SPD, der CDU/CSU und der
FDP abgelehnt.
Ich lasse nunmehr über den Änderungsantrag der
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Zu einer Fraktionen der CDU/CSU und der FDP abstimmen,
Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten B ri efs der Ihnen auf Drucksache 12/662 vorliegt. Wer diesem
das Wort. Änderungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich
(Unruhe) um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? —
Stimmenthaltungen? — Dann ist dieser Änderungs-
antrag bei einigen Stimmenthaltungen aus der
Dr. Ulrich Briefs (PDS/Linke Liste): Danke für das Gruppe PDS/Linke Liste angenommen worden.
Raunen. — Ich finde das ja ganz spannend. Da kommt Wir kommen jetzt zum Antrag der Fraktion der SPD
ja mal wieder was hoch. Wir haben das ja vor einigen auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses mit
Jahren schon einmal durchexerziert, so beim F li ck- der Änderung, die Sie gerade beschlossen haben. Wer
Ausschuß. stimmt diesem Antrag zu? — Wer stimmt dagegen? —
Dazu fällt mir folgendes ein: Wenn der Flick-Aus- Stimmenthaltungen? — Dieser Antrag ist bei einigen
schuß nur mit Vertretern von Parteien und politischen Stimmenthaltungen aus den Gruppen PDS/Linke Li-
Organisationen besetzt worden wäre, die sozusagen ste und Bündnis 90/GRÜNE angenommen worden.
nicht im Verfahren betroffen gewesen wären, dann Ich frage nun die Abgeordneten der Gruppe Bünd-
hätte er ausschließlich mit Vertretern der GRÜNEN nis 90/GRÜNE, ob sie, nachdem der Untersuchungs-
besetzt werden müssen. Das will ich nur einmal zu ausschuß eingesetzt ist, noch Wert darauf legen, daß
bedenken geben, was die Behandlung der PDS be- über ihren Antrag abgestimmt wird. — Das ist der
trifft. Fall.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2163
Ich rufe nunmehr auf: sondern eher ein Zurück in die 60er Jahre: Vorrang für
den Straßenbau, Abbau von Mitwirkungsrechten der
Einzelplan 12 Bürger im Planungsrecht, Beseitigung oder Vergam-
Geschäftsbereich des Bundesministers für melung von Schienenwegen in den fünf neuen Län-
Verkehr dern, Bildung eines neuen Schattenhaushalts — mög-
— Drucksachen 12/512, 12/530 — licherweise jedenfalls — durch Leasing-Verfahren,
das den Staat teuer zu stehen kommen wird und künf-
Berichterstatter: tige Generationen mit Steuererhöhungen belasten
Abgeordnete Ernst Waltemathe könnte, Aushebelung der parlamentarischen Rechte
Wilfried Bohlsen bei der Feststellung der Straßenbauprioritäten,
Werner Zywietz
Der Ältestenrat schlägt eine Beratungszeit von einer (Ekkehard G ries [FDP]: Das ist alles wirklich
Stunde vor. — Das Haus hat nichts dagegen einzu- falsch!)
wenden, so daß ich das als beschlossen feststellen und
die Aussprache eröffnen darf. — Herr Gries, hören Sie weiter zu —, Abschied von
den maritimen Interessen einer großen Handelsna-
Ich erteile dem Abgeordneten Waltemathe das tion.
Wort.
m-- Also — die einen mögen es erhoffen, die anderen
werden es befürchten — : Nicht jeder Krause-Ge-
Ernst Waltemathe (SPD): Vielen Dank, Herr Präsi- danke ergibt schon eine glatte Lösung.
dent! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir
haben einen neuen Verkehrsminister. (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/
(Beifall bei der CDU/CSU) GRÜNE)
Wir haben neue Herausforderungen in Gesamtdeut- Der heute zu beratende offizielle Verkehrshaushalt
schland. Wir werden ein neues, ein wachsendes Eu- und der Teil des Gemeinschaftswerks Aufschwung
ropa haben. Wir haben also p rima Voraussetzungen Ost, der sich auf Verkehrsbauten bezieht, ergeben
für wirkliche Verkehrspolitik. — je nachdem, wie man rechnet — ein Volumen von
In der alten Bundesrepublik war es ja prächtig. In etwa 37 bis 40 Milliarden DM, von denen etwa die
den Aufbaujahren nach 1945 haben wir in der alten Hälfte Investitionsmittel sind. Das sind einerseits ge-
Bundesrepublik manchmal sehr hechelnd versucht, waltige Summen, die der öffentlich-parlamentari-
dem wachsenden Pkw- und Lkw-Verkehr gerecht zu schen Kontrolle unterliegen müssen, andererseits sind
werden, die autogerechte Stadt wurde geplant, „freie es Beträge, bei denen sich der Streit um die konkrete
Fahrt für freie Bürger" , zunehmender Gütertransport Verwendung lohnt, denn falsche Prioritätensetzun-
über Autobahn und Fernstraße, Zurückdrängung von gen werden die Zukunft negativ beeinflussen. Wer zu
Schiene und Wasserweg. Die Wohltaten dieser freien früh die Weichen falsch stellt, wird in diesem Fall vom
Mobilität wurden mit Landschaftszerstörung, mit Im- Leben bestraft werden.
mobilität durch immer mehr Staus, durch große Un- Ich komme zum Straßenbau; ich mache das nur in
fallhäufigkeit und mit Streß erkauft. Stichworten. Es gibt gar keine Zweifel und auch kei-
Dies sage ich nun nicht, um Schwarzmalerei zu be- nen Streit darüber, daß Straßen instandgesetzt, an-
treiben, sondern um etwas von den Erfahrungen zu dere ausgebaut und wieder andere neugebaut wer-
vermitteln. Es ist vielleicht gerade 20 Jahre her, daß den müssen. Es gibt auch keinen Streit darüber, daß in
wir in der alten Republik von unserer Aufbauwut, in den fünf neuen Ländern großer Nachholbedarf be-
der wir manches nicht bedacht haben, abgelassen steht, um zur Verkehrssicherheit und, soweit das geht,
haben und im Planungsrecht und in der Umweltvor- zum verbesserten Personen- und Gütertransport ei-
sorge vorsichtiger geworden sind. nen Beitrag zu leisten. Auch eine Nordautobahn zwi-
(Zuruf von der SPD: Gottlob!) schen Elbe und Oder mag in Betracht kommen. Aber
dies heißt doch auch, daß die Planungen so vorzuneh-
Sollen also die Übertreibungen, die wir einmal als men sind, daß über Alternativen in der Trassenfüh-
Fehler erkannt haben, jetzt fortgesetzt werden? Ist der rung, über Umweltverträglichkeit, über Bürgermit-
Beitritt der ehemaligen DDR zugleich ein Freibrief für
wirkung nicht bulldozerhaft hinweggerollt wird.
Fehlerübertragungen, oder ergreifen wir die Chance,
durch mehr Miteinander der Verkehrsträger zu politi- (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Li
schen Vorgaben und Rahmenbedingungen zu kom- ste)
men, indem jedes Verkehrsmittel seine spezifischen
Vorteile ausspielen kann, ohne die spezifischen Planung, meine Damen und Herren, ist doch kein
Nachteile zu vermehren? Das bedeutet unter anderem obrigkeitsstaatlicher, kein autoritärer Vorgang hinter
eine verstärkte Anstrengung, durch entsprechende verschlossenen Türen. Gegen das Abwerfen von bü-
Infrastruktur kombinierte Verkehre zu ermöglichen. rokratischem Ballast haben wir nichts einzuwenden,
2164 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991
Ernst Waltemathe
wohl aber gegen Vorwände, Bürgerrechte zu ampu- samt und der Küstenschiffahrt insbesondere für den
tieren und Umweltvorsorge als Luxus anzusehen. Transport von Gütern. Aus dem Bundeshaushalt wird
nicht erkennbar, ob der sonst so kopfgesteuerte Bun-
(Ekkehard G ries [FDP]: Wer will das
desminister für Verkehr seewärtige Wasserwege
denn?)
überhaupt im Kopf hat. Im Etat hat er sie jedenfalls
Zweitens die Schiene: Vordergründig werden Sie nicht.
vermutlich erneut darauf verweisen, daß sich von den (Beifall bei der SPD)
17 Projekten zur deutschen Einheit allein neun auf
Schienenwege, weitere sieben auf Straßen und ein Viertens der Luftverkehr: Vermißt wird hier ein
Projekt auf die Binnenschiffahrt beziehen. Tatsache Konzept für den innerdeutschen und für den innereu-
bleibt aber, daß ein Konzept zur Herstellung der Wett- ropäischen Luftverkehr und dessen Einpassung in
bewerbsfähigkeit der Eisenbahnen weder vorliegt eine Gesamtkonzeption. Jedermann weiß, daß der
noch beabsichtigt ist. Die Bahnen sollen ihren Fahr- Luftraum überlastet ist und künftig noch mehr überla-
weg nach wie vor erwirtschaften. Seit wann zahlen stet sein wird und andere Verkehrsträger, richtig ein-
eigentlich Binnenschiffahrt für Flüsse und Kanäle und gesetzt, den internen Verkehr künftig besser bewälti-
Lkw und Pkw voll für Autobahnen und Fernstra- gen werden. Insoweit sind etwaige Absichten, neue
ßen? Großflughäfen zu planen, sowohl von Anzahl als auch
vom Standort her und unter Umweltgesichtspunkten
(Beifall bei der SPD) in ein Gesamtkonzept Luftverkehr einzupassen. Dar-
über sind wir uns aber wohl auch einig.
Wie sollen erhebliche Defizite bei Bundesbahn und
Reichsbahn vermieden werden, wenn Bau, Unterhal- Meine Damen und Herren, dieser Bundesverkehrs-
tung und Sicherung ihrer Fahrwege betriebswirt- minister hätte einen guten Start haben können,
schaftliche Kosten sind, während bei anderen Ver- (Jochen Borchert [CDU/CSU]: Er hatte einen
kehrsträgern der Wert und die Kosten ihrer spezifi- guten Start!)
schen Fahrwege in der Bilanz nicht auftauchen, in die
Preise nicht eingehen, sondern als volkswirtschaftli- wenn er sich so an die Arbeit gemacht hätte, daß wirk-
che Kosten unberücksichtigt bleiben? lich ein Neubeginn der gesamten Verkehrspolitik er-
kennbar würde und die einzelnen Maßnahmen in ein
Der Haushaltsausschuß mußte in diesem Jahr eine Zukunftsprojekt hineinpassen würden. Aber leider
Ermächtigung aussprechen — der Bundestag wird es fällt Herr Krause zurück in die Hauruck-Politik des
heute tun —, damit die Bundesbahn selbst zusätzliche kurzfristigen Aktivismus und duldet keine Kritik.
Kredite in Höhe von 1,5 Milliarden DM aufnehmen (Beifall bei der SPD — Jochen Borchert
kann. Das bedeutet aber gleichzeitig, daß ihre Schul- [CDU/CSU]: Das stimmt doch nicht!)
den- und Zinslast erhöht wird. Und die Reichsbahn, in
die Marktwirtschaft überführt, wird demnächst be- Just an dem Tag — ich bin sofort fertig, Herr Präsi-
reits bei vier Milliarden DM eigenen Schulden lan- dent —, als wir im Haushaltsausschuß den Personal-
den. etat beraten haben, nämlich am 23. Mai, konnten wir
der Zeitung entnehmen, daß der Abteilungsleiter für
Drittens Wasserwege: Daß Bundesminister Krause Straßenbau, Stoll, und der Abteilungsleiter für Stra-
aus einem Küstenland kommt, sollte man nicht vermu- ßenverkehr, Dr. Nau, geschaßt wurden. Sie waren
ten. Die See- und Küstenschiffahrt kommt bei ihm wohl einerseits mit den von Herrn Krause vorgeschla-
überhaupt nicht vor. Bei den Maßnahmen zur Erhal- genen Promille-Regelungen im Straßenverkehrsrecht
tung der deutschen Flagge in der deutschen Seeschif- und andererseits mit dem planungsrechtlichen Kahl-
fahrt fiel ihm nur eine absolute Null-Lösung ein, ob- schlag beim Straßenbau nicht einverstanden.
wohl das Bundeskabinett noch im Juli des letzten Jah-
Private Planungsgesellschaften, p rivate Trassenfi-
res für die alte Bundesrepublik eine Reederhilfe von
nanzierung auf Leasing-Basis, Maßnahmen- und Be-
120 Millionen DM zur Verfügung gestellt bzw. im
Haushaltsplanentwurf veranschlagt hatte. Minde- schleunigungsgesetze — dies alles weckt unser Miß-
trauen in die Regierungskunst des amtierenden Bun-
stens weitere 20 Millionen DM müssen für das Bei-
trittsgebiet hinzugerechnet werden. Herr Krause hat deskabinetts und veranlaßt uns, den Etat des Bundes-
verkehrsministers abzulehnen.
beide Beträge zusammengezählt, ist auf null Mark
gekommen, die Koalition hat sich an ihre eigenen (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/
Zusagen gegenüber den Reedern nicht gehalten und GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/
statt 140 Millionen DM, die es, richtig gerechnet, hät- Linke Liste)
ten sein müssen, nur 80 Millionen DM bewilligt.
Die Opposition hat — auch gegenüber den Ree-
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort
dern — klargemacht, daß sie keine Dauersubventio-
hat der Abgeordnete Bohlsen.
nen will. Wir wollen in zwei Schritten die Seeschif-
fahrtshilfe vollständig abbauen, für 1991 die zuge-
sagte Summe und für 1992 noch einmal die Hälfte
Wilfried Bohlsen (CDU/CSU): Herr Präsident!
davon zur Verfügung stellen. Damit könnte sich die
Reederschaft in ihren betriebswirtschaftlichen Kalku- Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der Ver-
lationen darauf einstellen, daß der Subventionsabbau kehrsetat steht, so meine ich, vor der größten Heraus-
1993 vollzogen sein würde. forderung seit der Nachkriegzeit. Wir haben im Ver-
kehrsbereich den höchsten Investitionsbedarf. Eine
Zu einem Verkehrskonzept gehört allerdings auch Klausurtagung der Arbeitsgruppe Verkehr der CDU/
die Definition der Aufgaben der Seeschiffahrt insge- CSU-Fraktion hat gerade noch einmal deutlich ge-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2165
Wilfried Bohlsen
macht, welch erheblicher Bedarf bis zum Jahre 2000 Hier baue ich die Brücke zum Subventionsabbau.
ansteht. Ich will den Bundeswirtschaftsminister nachdrücklich
Durch die Teilung bedingt ist der Ausbau der Ost- unterstützen, wenn er sagt: Wir müssen an die Sachen
West-Verbindung beiderseits vernachlässigt worden. herangehen. Wir haben das ja im Haushaltsausschuß
Da nicht alles sofort finanziert werden kann, denkt mit diesem Beschluß schon eingebracht.
man natürlich auch über Leasing-Modelle nach. (Beifall bei der CDU/CSU)
Aber die Verfahren beim Bau von Verkehrseinrich- Ich will noch einmal deutlich machen — das sage
tungen müßten beschleunigt werden. Hier spreche ich auch als Vorsitzender des Gesprächskreises Küste
ich den Kollegen Waltemathe an: Wir alle wissen, wie unserer Fraktion — , daß wir auch im Bereich der
groß und wie schnell gebaut werden müßte. Leider Schiffbauförderung ähnliche Wege gegangen sind.
versagt sich die SPD-Fraktion hier eine Möglichkeit. Wenn wir einige Jahre zurückdenken, nämlich an die
Ich bitte hier aber um eine Zusammenarbeit — gerade große K ri se, wo wir den Schiffbau bis zu 20 % geför-
das ist das Ansinnen des Ministers —, damit wir zu dert haben, sehen wir heute eine Herabstufung auf
einer schnellen Umsetzung kommen. Ich bitte um die 16 %, auf 14 %, auf 12,5 %, auf nunmehr 9,5 % Förde-
Unterstützung all derer, die Verantwortung tragen: rung. Wir sehen deutlich die Kurve nach unten, und
Wir müssen schnell umsetzen können, um Verkehrs- zwar mit dem Hinweis an das Gewerbe, weiter nach
engpässe zu beseitigen. unten fahren zu wollen. Das ist der Weg, den wir
gegangen sind und den wir weiterhin gehen sollten.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Lassen Sie mich jetzt zwei Maßnahmen ansprechen,
40 Jahre Kommunismus hinterlassen uns Fernstra- die wir im Binnenschiffahrtsbereich zusätzlich hin-
ßen in den neuen Bundesländern in einem schlechten eingenommen haben. Einmal ist es die Mosel und zum
Zustand, wenig ausgebaute Binnenwasserstraßen anderen ist es die Ems-Vertiefung, für die wir beide
und eine sanierungsbedürftige Reichsbahn. Mit die- einen Ansatz eingebracht haben. Hierzu weise ich
sem Erbe müssen wir jetzt leben. noch einmal auf eine Problematik hin, die wir deutlich
Ich will die Zahlen noch einmal kurz in Erinnerung sehen.
rufen; denn 35,5 Milliarden DM sind doch immerhin (Ernst Waltemathe [SPD]: Herr Krause hatte
ein Volumen in unserem Haushalt, das deutlich das nicht im Entwurf!)
macht, wie die Schwerpunkte, wie die Prioritäten ge- — Ja, aber wir haben es d rin. Ich wollte es nur noch
setzt werden. Wenn Sie dann noch Einzelplan 60 mit einmal deutlich machen. Insofern sind wir einigen
dem Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost hinzuden- Wünschen der Regionen auch sehr deutlich nachge-
ken, wird deutlich, welches Volumen hier angesetzt kommen.
wird.
Die Beratungen im Haushaltsausschuß haben dazu Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab-
geführt, daß wir einige, aber doch wesentliche Verän- geordneter, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zuzu-
derungen gegenüber dem Regierungsentwurf vorge- lassen?
nommen haben. Lassen Sie mich auf einige wenige
eingehen. Ich beginne bei dem, was Kollege Walte-
Wilfried Bohlsen (CDU/CSU) : Natürlich. Das ist ein
mathe auch schon angesprochen hat, nämlich bei den
Finanzbeiträgen. Kollege aus dem Haushaltsausschuß.
Zunächst waren in dem neuen Regierungsentwurf
Helmut Wieczorek (Duisburg) (SPD): Herr Kollege
keine Ansätze getätigt. Wir meinten, daß dies — da
Bohlsen, der Präsident hat mich sehr lange übersehen,
waren wir uns auch mit den Berichterstattern der an-
so daß Sie nicht mehr bei dem Thema sind, das ich
deren Fraktionen einig — zu reparieren sei. Ich darf es
ansprechen möchte. Ich wollte Sie eigentlich nur fra-
als einen großen Erfolg verbuchen, daß es gelungen
gen, ob Sie nicht glauben, daß die Subventionsgabe
ist, von einer Null-Summe wieder auf einen Ansatz zu
an die deutsche Seeschiffahrt und an die deutschen
kommen. Das war sehr wichtig und hätte bei den See-
Werften eigentlich mustergültig ist — wenn man
schiffahrtsunternehmen sicherlich sonst zu negativen
überhaupt von mustergültigen Subventionen reden
Auswirkungen sowohl bei der Beschäftigung wie
kann — und daß wir ihr damit ermöglicht haben, die
auch bei der Ausbildung der Seeleute führen können.
Anpassung ihrer Kapazitäten und ihrer Belegschaft in
Es mußte also die vollständige Streichung verhindert
so weicher Form vorzunehmen, wie es eben geht. Fer-
werden.
ner möchte ich Sie fragen, ob Sie glauben, daß dieser
Wenn es uns nunmehr im Haushalt 1991 mit 80 Mil- Anpassungsvorgang schon zu Ende ist.
lionen DM und im Folgejahr durch Verpflichtungser-
mächtigungen in Höhe von 50 Millionen DM gelun- Wilfried Bohlsen (CDU/CSU): Ich sage Ihnen nicht,
gen ist, die Ansätze entsprechend einzubringen, so daß der Anpassungsvorgang zu Ende ist. Wir können
haben wir doch dem Gewerbe signalisiert, daß für die diesen Subventionsabbau nicht allein auf nationaler
dann folgenden Jahre weitere Beträge nicht fließen Ebene betreiben. Sie werden mir zugeben, daß dies
sollen. Das haben wir vorher deutlich gesagt; darauf nur im internationalen Verbund geht; denn diese
kann sich das Gewerbe einstellen. Werftbetriebe und Seeschiffahrtsbetriebe stehen in
Hier sehen wir auch noch einmal die Zusammen- einer direkten Konkurrenz zu europäischen Partnern.
hänge eines Subventionsabbaus: im letzten Jahr fast Ich möchte Ihre Frage daher mit der Bitte an den Bun-
noch 140 Millionen DM, in diesem Jahr runter auf deswirtschaftsminister verbinden, auf die europäi-
80 Millionen DM und im Folgejahr runter auf 50 Mil- schen Nachbarn dahin gehend einzuwirken, daß die-
lionen DM. Wir sehen hier einen deutlichen Abbau. ser Subventionsabb au überall gleichermaßen ge-
2166 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991
Wilfried Bohlsen
schieht. Nur wenn das möglich ist, können wir später den alten Bundesländern vor zehn oder 20 Jahren ge-
auch einmal auf Null fahren. sündigt, indem viel Baumbestand geopfert wurde.
(Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Das (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem
verbindet sich genau mit unserer Mei- Bündnis 90/GRÜNE)
nung!) Ich bitte nachdrücklich darum, daß sich die Fehler, die
bei uns gemacht worden sind, dort nicht wiederholen.
Ich hatte eben noch einmal auf die Ems-Vertiefung
Mein dringender Appell: Erhalten Sie die schönen
hingewiesen. Ich möchte dazu noch ganz deutlich sa-
Alleen in den neuen Bundesländern.
gen — das richte ich auch an die Kollegen aus Nieder-
sachsen — , daß es hierbei keinen Konsens mit der nie- (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD
dersächischen Landesregierung gibt. Dies will ich und dem Bündnis 90/GRÜNE)
noch einmal deutlich machen. Die Redezeit erlaubt es Im Bereich der Luftfahrt — auch hier eine Haus-
mir nicht, noch einmal zu vertiefen, was der Kanzler- haltsveränderung gegenüber dem Regierungsent-
amtsminister Seiters anläßlich der Eröffnung der Jan- wurf — wi ll ich ansprechen, daß die Gewinne aus den
Berghaus-Brücke in Leer dazu gesagt hat. Er hat dort Beteiligungen um 55 Millionen DM zurückgeführt
noch einmal deutlich gemacht, daß es dann, wenn das werden mußten, da seitens der Lufthansa auf G ru nd
Land Niedersachsen nicht bereit ist, diese Maßnahme der bekannten zurückliegenden internationalen Zu-
in dem Umfang, in dem es der Bund möchte, zu tra- sammenhänge keine Dividende an die Aktionäre ge-
gen, nicht zum Vollzug kommen wird. zahlt wurde. Für 1991 werden nach dem Verlauf der
Ich bitte also die niedersächsischen SPD-Kollegen, ersten Monate auch die großen Luftverkehrsgesell-
insbesondere die im Haushaltsausschuß, die diesen schaften weiter mit sehr schwierigen Marktverhältnis-
Beschluß mitgetragen haben, auf die rot-grüne Lan- sen kämpfen müssen.
desregierung in Niedersachsen einzuwirken mit dem Bezogen auf den Luftraum Berlin sind eine bessere
Ziel, daß diese ihren Ems-Kurs doch ein wenig verän- Koordinierung und eine bessere Nutzung der vorhan-
dert. So, wie er jetzt ist, führt er in eine Richtung, bei denen Kapazitäten der Verkehrsflughäfen dringend
der Arbeitsplätze an der Küste vernichtet werden. notwendig. Dies soll über eine Holdinggesellschaft
erreicht werden. Gesellschafter sind hier neben Berlin
Ein wesentlicher Punkt — jetzt komme ich zum und dem Land Brandenburg auch der Bund mit einem
Fernstraßenbau — war bei unseren Beratungen eben Anteil von 26 %.
dieser Bezug. Auf der Ausgabenseite sehen wir natür-
lich, daß vieles abzudecken ist. Wir bekommen nach Lassen Sie mich an dieser Stelle noch einmal das
dem Regierungsentwurf Finanzierungsschwierigkei- Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz ansprechen;
ten in den alten Bundesländern dadurch, daß wir denn auch hier gab es einige Änderungen. Die Mittel
1 Milliarde DM von den Altländern in die Neuländer nach dem Gesetz zur Verbesserung der Verhältnisse
umlenken. in den Gemeinden wurden ja durch die Einigungsver-
tragsgesetze bereits im Jahre 1990 von 2,6 Milliarden
Zunächst hat der Haushaltsausschuß auch hier ein- DM um 680 Millionen DM für die Neuländer auf ins-
vernehmlich den bisher vorgesehenen Haushaltsver- gesamt 3,28 Milliarden DM erhöht.
merk neu gefaßt — hierauf möchte ich deutlich hin-
weisen —, so daß die Haushaltsmittel, die im Jahre Durch das Haushaltsbegleitgesetz sollen in den fünf
neuen Bundesländern die Maßnahmen im Rahmen
1991 in den neuen Bundesländern nicht benötigt wer-
des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes auf
den, auf dem Gebiet der Altländer eingesetzt werden
Fördersätze in Höhe von 100 % angehoben werden.
können, dort aber in den Folgejahren nicht eingespart
werden müssen. Ich weise auch darauf hin, daß im Das heißt, die neuen Bundesländer brauchen keine
Komplementärmittel einzubringen. Ausgenommen
Einzelplan 12 — das ist der Bereich des Bundesfern-
straßenbaus — und im Einzelplan 60 — hier verweise haben wir hier lediglich die Bezuschussung der Omni-
busse in dieser Höhe.
ich noch einmal auf das Gemeinschaftswerk Auf-
schwung Ost — weitere Verpflichtungsermächtigun- Mir verbleiben noch einige Minuten, um zur Reichs-
gen von je 500 Millionen DM ausgebracht sind. Mit bahn und Bundesbahn einige Worte zu sagen,
diesen Verpflichtungsermächtigungen von insgesamt
(Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: ICE!)
1 Milliarde DM wird es möglich, Haushaltsmittel in
einer Größenordnung von 500 Millionen DM von den — Ich werde ihn gleich mit einfangen, verehrter Herr
Neuländern auf die Altländer umzuschichten, ohne Kollege.
daß wir die Höhe des Vergabevolumens in irgendei-
ner Weise schmälern. (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Das ist
Zum Bundesfernstraßenbau möchte ich noch auf die nicht schwer, der steht ja immer!)
Schaffung einer haushaltsrechtlichen Voraussetzung Hierzu haben die Koalitionsfraktionen einen Ent-
hinweisen, mit der bei der beschleunigten Verwirkli- schließungsantrag eingebracht, wonach zur Zusam-
chung von Straßenbauprojekten in den neuen Län- menlegung der beiden deutschen Bahnen bis zum
dern ganz neue Wege beschritten werden. Ich nenne Sommer ein verbindliches Konzept vorzulegen ist. Die
hier die Bildung der Planungsgesellschaften. Da der Bundesregierung soll die Fusion so beschleunigt in
Minister in dieser Runde ist, möchte ich in diesem Ang ri ff nehmen, daß der Aufbau von unnötigen Dop-
Zusammenhang eine Bitte aussprechen: Wenn man pelfunktionen vermieden wird und der optimale Ein-
durch die schöne Landschaft der neuen Bundesländer satz der Mittel für die Infrastruktur, aber auch für das
fährt, sieht man wunderschöne Alleen. Wir haben in rollende Mate ri al bei der Bahn sichergestellt ist. Wir
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2167
Wilfried Bohlsen
bitten Sie, Herr Bundesminister, in diesem Entschlie- Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, wird dem Ver-
ßungsantrag auch um Unterstützung bei der Durch- kehrshaushalt in der vorgeschlagenen Form selbst-
führung dieser Zusammensetzung. verständlich unsere Zustimmung geben.
(Jochen Borchert [CDU/CSU]: Sehr gut!) Ich darf mich bei dem Herrn Minister und seinen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Hauses recht
Lassen Sie mich auch den Punkt der Jugendarbeits- herzlich für die Zusammenarbeit bedanken. In diesen
losigkeit ansprechen. Hier haben wir mit Blick auf die Dank schließe ich auch den Dank für die gute Zusam-
Reichsbahn einen sehr wesentlichen Beschluß gefaßt. menarbeit mit den anderen Berichterstattern mit
Um der Jugendarbeitslosigkeit in den neuen Ländern ein.
zu begegnen, sind der Reichsbahn weitere Mittel be-
Vielen Dank.
reitgestellt worden, um über die schon vorgesehenen
2 200 Auszubildenden hinaus weitere 500 auszubil- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
den, d. h. über den Bedarf hinaus. Hier schaffen wir
Möglichkeiten, um der hohen Jugendarbeitslosigkeit Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort
in den neuen Bundesländern abzuhelfen. hatderAbgonD.Fi
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Da wir die Reichsbahn angesprochen haben und Dr. Klaus-Dieter Feige (Bündnis 90/GRÜNE): Herr
Sie, verehrter Herr Kollege, mir gerade das Stichwort Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
für die Bundesbahn geliefert haben, will ich doch dar- Wenn jemand behaupten würde, daß der von Bundes-
auf eingehen. Daß wir bei der Bundesbahn Sorgen minister Krause vorgelegte Entwurf eines Beschleuni-
haben, verhehle ich nicht. Das ist uns aus den langen gungsgesetzes bzw. die Überlegung für ein Maßnah-
Beratungen bekannt. Aber dennoch will ich auf den megesetz direkt aus der Feder der westdeutschen
Fahrplanwechsel hinweisen, der am letzten Sonntag Autolobby geflossen sei, so könnte ich dem nur
stattgefunden hat. Ich will sagen: Das Hochgeschwin- schwerlich widersprechen.
-
digkeitszeitalter der Bundesbahn hat begonnen. (Zuruf von der FDP: Was für ein Quatsch!)
(Karl Diller [SPD]: Und wie!) Diese Gesetzesvorhaben platzen nun genau in die
Pause zwischen der ersten und zweiten Lesung des
Sicherlich hat er noch einige Anfangsschwierigkeiten.
Haushaltes. Man erkennt die Zusammenhänge und ist
Die Türen gehen nicht immer wunschgemäß zu oder verstimmt.
auf. Aber ich glaube, das läßt sich beheben.
Es muß schon einiges passieren, um einen Mecklen-
Ich will zumindest sagen: Der Intercity-Express ist burger aus der Ruhe zu bringen. Aber irgendwann ist
auf die Strecke gegangen. es einmal soweit. Die geplanten Gesetzesvorhaben
(Dr. Nils Diederich [Berlin] [SPD]: Zur zum Verkehrswegeaufbau in dieser Form stellen eine
Strecke gebracht!) offene Kriegserklärung an Natur und Umwelt sowie
an eine demokratische und bürgernahe Verkehrspoli-
Damit ist für die Deutsche Bundesbahn ein jahrzehn- tik dar.
telanger Traum in Erfüllung gegangen. Zum Start ih-
rer Superzüge — jetzt sollten Sie sich daran erinnern, (Beifall bei der PDS/Linke Liste — Eduard
was an Investitionsmitteln geflossen ist — haben wir Oswald [CDU/CSU]: Sie haben keine Zeile
immerhin 15 Milliarden DM in die Strecken inve- gelesen! — Zuruf von der FDP: Der liest den
stiert. grünen Quatsch ab!)
— Ich habe das in Ruhe gelesen, ausführlich.
(Dr. Nils Diederich [Berlin] [SPD]: Jetzt fah
ren die Züge nicht einmal! Nicht einmal das Mit diesen Gesetzen aus dem Verkehrsministerium
Klo funktioniert!) sollen dreißig Jahre Fortschritt im Umwelt- und Pla-
nungsrecht der alten Bundesländer zurückgedreht
Eine schöne Zeile aus der heutigen Tagespresse werden. Für diesen Fortschritt, für diese Rechte haben
war die: „Schnell und bequem direkt aus der City in im Herbst 1989 Seite an Seite mit mir auch Christde-
das Zentrum des Ziels. " Das ist die Deutsche Bundes- mokraten gestritten.
bahn.
(Zuruf von der FDP: Das ist doch gelogen!)
(Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Nils Diede Die GRÜNEN und die Bürger-und-Bürgerinnen-Be-
rich [Berlin] [SPD]: Und bleibt auf der wegung in den neuen und alten Bundesländern wer-
Strecke! — Helmut Wieczorek [SPD]: den diese Rolle rückwärts in die 50er Jahre nicht mit-
Schnell, sicher und leer!) machen. So habe ich auch die Sozialdemokraten ver-
Lassen Sie mich, meine verehrten Kolleginnen und standen.
Kollegen, zum Schluß kommen. Mit meinen Ausfüh- Wir lehnen die vorliegenden Gesetzesvorhaben
rungen, so glaube ich, habe ich deutlich gemacht, daß entschieden ab. Gerade gegenüber den Bürgerinnen
die Bundesregierung den Verkehrshaushalt insge- und Bürgern in den neuen Bundesländern hat die
samt gesehen richtig dotiert und aufgabengerecht er- Politik nämlich eine besondere Verantwortung. Dort
stellt hat. Die von uns vorgenommenen Anpassungen gibt es bisher kaum Erfahrungen mit Planfeststel-
und Änderungen zeigen aber auch, daß wir — damit lungsverfahren und öffentlicher Beteiligung an der
meine ich das gesamte Parlament — unsere Funktion Gestaltung des Lebensumfeldes. Die umfassende Si-
als Legislative sehr ernst genommen haben. Die An- cherung der Beteiligung aller Betroffenen muß des-
passungen beinhalten auch eine Weichenstellung für halb Anliegen aller Parteien, Fraktionen und Ministe-
die Ausgabenpolitik der nächsten Jahre. rien sein. Das ist ein Rechtsstaat.
2168 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991
Werner Zywietz
ich stelle fest: Gut ist, daß Sie keine Verantwortung zu den soll. 50 % der Mittel dieses Etats müssen in Inve-
tragen haben; stitionen umgesetzt werden.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Theo Magin [CDU/CSU]: So ist es!)
Darin liegt doch die Chance dieses Etats. Das muß
denn mit diesem ideologisierten Zerrbild vor Augen
gemanagt, das muß zueinandergebracht, da muß ge-
und angesichts dieser Unwahrheiten, Ihrem Umgang
plant werden. Wir können diesen neuen Herausforde-
mit Zahlen, die Sie offensichtlich nicht in eine logische
rungen und Problemen nicht mit der Methode — viel-
Reihe und damit zu richtigen Schlußfolgerungen brin-
leicht sogar mit der luxuriösen Methode — , nach der
gen konnten, müssen Sie weit weg von jeder ver-
wir hier in der Altbundesrepublik vorgegangen sind,
kehrspolitischen Verantwortung gehalten werden.
begegnen. Das ist doch wohl das erste Gebot der
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Stunde! Da sollten wir uns nicht diffamieren, wie Sie
Dr. Nils Diederich [Berlin] [SPD]: Herr Kol es getan haben.
lege Zywietz, fahren Sie denn nun gern In verschiedenen Zeitungen ist, wie ich gelesen
Auto?) habe, nicht von einem Beschleunigungsgesetz, son-
dern von einem Ermächtigungsgesetz geschrieben
Faktum ist doch eins. Die deutsche Einheit hat viel
worden. An dieser Stelle hört bei mir alle Toleranz
verändert. Wir haben uns vorgenommen, in dieser
auf.
Legislaturperiode insbesondere die Lebensverhält-
nisse der Bürger in den neuen Bundesländern zu ver- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
bessern. Dieser Verkehrsetat wird dem voll gerecht. Dem, der so dumm ist, daß er nicht weiß, was ein
Die Ausweitung des Volumens dieses Etats von rund Ermächtigungsgesetz ist, oder so dummdreist ist, ein
24 Milliarden DM auf 36 Milliarden DM ist typisch. Er Beschleunigungsgesetz damit zu vergleichen, muß
ist gekennzeichnet durch eine breit angelegte Ak- man ganz klar entgegentreten.
zentverlagerung von West-Maßnahmen — wenn ich
- darf — auf
das noch so in dem alten Vokabular sagen Wir wollen beschleunigen; das ist richtig, das muß
Ost-Maßnahmen. Die Gewichtung der Verkehrsträ- sein. Das kann man durch Fristenverkürzung machen,
ger untereinander zeigt doch keinen Straßen- oder ohne daß man um elementare Rechte gebracht wird.
Autofetischismus, sondern Straße, Bahn, Luftverkehr Das kann man durch bessere Organisa tion, durch
und Wasserstraße finden sich in diesem Einzelplan mehr Mitteleinsatz für ein schnelleres Planen machen.
wieder. Sie scheinen ihn gar nicht angeschaut zu ha- Und das kann man auch machen, obwohl das ein sen-
ben, weil Sie nur Ihre Vorurteile absondern wollten. sibler Bereich ist. Wenn Bürger nicht mehr unmittel-
bar zu Wort kommen können
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Ernst Waltemathe [SPD]: Aha, schöne Libe
Wir bemühen uns insbesondere, daß für die Bürger, rale!)
die durch ihren politischen Mut Reisefreiheit erlangt — nicht „aha" — , dann sind wir als Parlament da. Was
haben, auch die Reiserealitäten, die Wege, auf denen sind wir denn? Gewählt von den Bürgern für die Bür-
sie zueinander kommen können, besser werden. ger.
(Dr. Wolfgang Weng [Gerungen] [FDP]: Er (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
klären Sie mal GRÜNEN die Farbe!)
Dann müssen wir uns an die eigene Brust klopfen und
Das ist der Duktus des Verkehrsetats. Dieser Duktus unsere Verantwortung hier verstärkt wahrnehmen.
ist auch Ausdruck der Erkenntnis, daß nur über eine Ich möchte nicht, daß nur die Exekutive handelt, son-
gute Verkehrsinfrastruktur auch ein wi rtschaftlicher dern wenn es einzelne Maßnahmen gibt, die wir für
Aufschwung und damit bessere Lebensverhältnisse richtig befinden, dann müssen wir als Demokraten
hergestellt werden können. — egal, in welcher Partei — genug Courage haben,
uns um die Projekte bekümmern und eine größere
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Verantwortung als in der Vergangenheit auf uns neh-
men. Nur das kann die Konsequenz dieses ganzen
Genau deswegen die geldliche Ausweitung dieses
Vorgehens sein.
Etats.
Der Sinn dieser ganzen Angelegenheit liegt da rin,
Fangen wir doch nicht an, jetzt das Bemühen um daß wir unseren Mitbürgern schneller helfen wollen,
eine Beschleunigung, die vonnöten ist, wenn wir die daß wir die realen, offensichtlich nicht hinreichenden
Lebensverhältnisse zum Positiven verändern wollen, Zustände schneller verbessern hellen. Das ist eine
so zu diskriminieren. Ich gebe zu: Man kann auch Gratwanderung. Aber der Mut, schneller voranzu-
über das Ziel hinausschießen. Die Gefahr mag beste- kommen, effektiver zu sein, ist zu begrüßen. Dabei
hen. Aber wir im Deutschen Bundestag sind alle er- haben wir die anderen, nega tiven Aspekte mit im
wachsen und verantwortungsbewußt genug, um das Auge und werden sie schon zu verhindern wissen.
zu verhindern.
Ein Wort nur noch zur Bahn; denn die Zeit, die
Der Kernpunkt ist doch: Wir können doch nicht zwei einem hier in diesen Debatten in diesem kleinen, sym-
Tage lang Debatten führen, in denen wir sagen, ins- pathischen Kreis unter Ausschluß einer größeren Of-
besondere in den neuen Bundesländern müßten in fentlichkeit verbleibt, ist sehr knapp bemessen. Man
dieser Legislaturperiode die realen Lebensverhält- kann über den Verkehrsetat von 36 Milliarden DM
nisse verändert werden, und dann Geld einsetzen, nicht sprechen, ohne ein paar Anmerkungen zur Bahn
ohne daß wir wissen, wie dieses Ziel umgesetzt wer- — zur Bundesbahn und zur Reichsbahn, hoffentlich
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2171
Werner Zywietz
bald zu einer einheitlichen Bahn — zu machen; denn Eine gutgemeinte Kooperation sollten wir nicht so,
20 Milliarden DM von 36 Milliarden DM sind eben ein sondern mit besserem gegenseitigem Respekt anfan-
Riesenhappen. gen. Dann wird es gelingen, daß die Vorhaben der
Bahnstrukturreform — für die FDP war der Kollege
Ich habe mich, um das einmal voranzustellen, über Kohn ja hier lange Zeit treibende Kraft — —
die ICE-Aktivitäten gefreut, die hier erwähnt worden
sind. Aber es gab auch warnende Stimmen. Wir haben (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
jetzt einen neuen Präsidenten, einen Manager aus der
sogenannten freien Wirtschaft, bei der Deutschen Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab-
Bundesbahn, und wir haben einen hervorragenden geordneter Zywietz, erfreulicherweise benutzen Sie
Aufsichtsratsvorsitzenden, einen Ex-Minister, einen das Pult nicht als Lesepult, sondern als Rednerpult.
erfahrenen Politiker bei der Reichsbahn; alles — auch Wenn Sie sich schon der freien Rede bedienen, dürfte
von der Couleur her betrachtet — wunderbare Vor- es Ihnen auch nicht allzu schwer fallen, zeitgemäß
aussetzungen dafür, daß die Zahlen angesichts dieses zum Schluß zu kommen.
versammelten Expertentums in Zukunft nicht mehr so
rot, sondern hoffentlich bald schwärzer oder ganz (Heiterkeit)
schwarz geschrieben werden.
Werner Zywietz (FDP) : Herr Präsident, diesen listig-
(Heiterkeit und Beifall bei der FDP)
sympathischen Hinweis habe ich hier schon einmal
Wir wollen jedenfalls die Unterstützung dafür ge- erlebt;
ben. Nur sage ich auch: Bei allem Vertrauensvorschuß (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Vor zwei
hinsichtlich der Qualität und der Vorgehensweise, Stunden!)
den ich gerade dem Präsidenten Dürr entgegen- aber wir werden es schon machen, Herr Präsident.
bringe, ist mir schon aufgefallen, daß da irgend etwas
noch nicht ganz in der inneren Balance zu sein (Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der
scheint, wenn ich so lese: Wenn die Bahn eine Be- CDU/CSU)
hörde bleibt, bin ich der falsche Mann. — Nun gut, wir Und was mir an Sachausführungen heute nicht ge-
wollen dem Herrn Präsidenten ja helfen. Aber ich lingt, werde ich bei anderer Gelegenheit anzubringen
hoffe, er ist nicht zwangsverpflichtet worden, sondern versuchen.
hat freiwillig einen Vertrag geschlossen. Er muß ja Wir sind guter Dinge und unterstützen all die Mini-
wissen, wo er sich beworben und einen Vertrag ge- ster, Aufsichtsräte und Präsidenten, die guten Willens
schlossen hat. Aber wir wollen ihn in seinem Bemühen sind, die Defizitwerte der Bahn abzubauen. Man soll
unterstützen, daß die Bundesbahn und auch die das Bemühen beginnen, solange das noch in Form der
Reichsbahn unternehmerischer werden. Das wollen Behörde möglich ist. Aber unsere Vorstellungen sind
wir, aber nicht nur in der Kalkulation, sondern auch unternehmerischer Art, die breiten Raum für Wettbe-
real, mit den Strecken und mit dem Bet rieb, so daß werb geben.
Wettbewerb herrschen und man auch teilprivatisieren
Ein letztes Wort — nichts zum „Maritimen Thema",
kann, wenn es denn sinnvoll ist.
obwohl mich das als Norddeutscher reizen würde. Das
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten haben die Kollegen schon hervorragend ausgeführt.
der CDU/CSU) Ich wollte abschließend — Herr Präsident, wenn Sie
mir so tolerant entgegenkommen und mir das gewäh-
Das ist doch die Schlußfolgerung aus dieser Vorge- ren — nun noch etwas zum Stichwort Luftfahrt sagen.
hensweise, die wir aus der Sicht der FDP für richtig Zwei Dinge müssen in diesem Bereich forciert wer-
halten. den: das eine ist die Flugsicherung — —
Aber wenn der Herr Präsident sagt, bei einer Be- (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Leg
hörde sei er der falsche Mann: Erst einmal ist er ja doch ein Papier auf die Lampe!)
noch bei einer Behörde. Aber auch da kann man, — Heute hat jemand gesagt, er halte die Hand drü-
wenn ich es richtig verstehe, ökonomische Prinzipien ber,
besser in Ansatz bringen, d. h. Ziele mit geringstmög- (Heiterkeit)
lichem Mitteleinsatz erreichen oder mit vorhandenen
womit ich beweise, daß ich hier im Plenum war. Denn
Mitteln das bestmögliche Ergebnis erzielen. Mit die-
ich habe es gehört.
sem ökonomischen Prinzip möge er es bitte ernst neh-
men, auch solange es noch eine Behörde ist. Dabei, (Zuruf von der FDP: Aber im Fernsehen!)
daß das ein Unternehmen wird, wollen wir ihm hel- Ich schenke mir das alles, Herr Präsident. Nur einen
fen. letzten Satz
Regelrecht geärgert — das sage ich von dieser (Zuruf von der CDU/CSU: Zwei Dinge ...!)
Stelle aus — hat mich ein Spruch wie: Die Eisenbahn —nein, nicht zur Sache — : Ich begrüße den Schwung
darf nicht das Spielzeug der Politiker bleiben. Nun, des neuen Ministers, hoffe aber, daß dieser Schwung
ich bin kein Weißmacher und meine, daß auch in dem auch zu einem beidseitigen fairen vertrauensvollen
politischen Bereich Fehler gemacht worden sind. Aber Dialog zwischen den Verantwortungsträgern im Ver-
das Wissen oder Nichtwissen ist zwischen Wirtschaft- kehrsbereich — ob im Fachausschuß oder im Haus-
lern und Politikern nicht so verteilt, daß die einen alles haltsausschuß — ausgestaltet wird. Denn nur dann
wissen und richtig machen und die anderen alles wird es gelingen, die großen Aufgaben im Verkehrs-
dumme Personen sind. bereich, die uns insbesondere durch die deutsche Ein-
2172 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991
Werner Zywietz
heit auferlegt worden sind, zufriedenstellend zu lösen. — Ich rede ja davon, daß da investiert werden muß.
In diesem Sinne und mit dieser Erwartung stimmen Das sollten Sie doch gehört haben.
wir dem Einzelplan gerne zu. Was wir brauchen, sind eben keine sechs- und acht-
Vielen Dank. spurigen Autobahnneubauten, sondern Investitionen
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) in die Sanierung des öffentlichen Nah- und Fernver-
kehrs in der Fläche.
Wir brauchen keine Hochgeschwindigkeitszüge für
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort Abgeordnete und Geschäftsreisende, die zwischen
hat die Abgeordnete Frau Braband. den Metropolen nur so hin- und herrasen, sondern
(Zuruf von der FDP: Auch jetzt wird es unter eine vernünftige und umweltfreundliche Verkehrs-
haltsam!) politik für die Bevölkerung in der Fläche.
(Ekkehard G ri es [FDP]: Dann sanieren Sie
Jutta Braband (PDS/Linke Liste) : Herr Präsident!
einmal Ihre Umwelt!)
Meine Damen und Herren! Auch Verkehrspolitik ist Daß die Reichsbahn auf Verschleiß gefahren wurde,
Umweltpolitik. Das wird hier immer vernachlässigt. meine Herren, ändert nichts an der Tatsache, daß die
Der Kollege Zywietz hat etwas sehr anschaulich dar- ehemalige DDR eines der bestausgebauten Schienen-
gestellt; aber er hat nur von der Ökonomie geredet. netze der Welt besitzt,
Deswegen werde ich jetzt den anderen Part einbrin- (Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP
gen. — Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Das ist ja
Ich denke, daß — gerade weil es sich auch um Um- aus!)
weltpolitik handelt — die Entscheidung über jede
und zwar in der Fläche.
Mark die ausgegeben wird, doppelt überlegt sein
muß. Durch falsche Entscheidungen wird gerade hier (Zuruf von der CDU/CSU: Da lacht ja der
ein erheblicher ökologischer, sozialer und - politischer Honecker!)
Schaden ange richtet. Ich habe bereits gesagt, daß es nötig ist, dort zu
In dem Zusammenhang ist das sogenannte Ver- investieren, weil das Streckennetz beschädigt ist.
kehrswegebeschleunigungsgesetz völlig inakzepta- Warum gucken Sie nicht, daß es sich um ein weit ver-
bel. Mit diesem Gesetz sollen unter dem Vorwand not- zweigtes Netz in der Fläche handelt?
wendiger Investitionen im Verkehrssektor der FNL
(Ekkehard Gries [FDP]: Ja, völlig verrottet!)
demokratische Rechte der Öffentlichkeit und beson-
ders die der Betroffenen eingeschränkt werden. Wir — Ja natürlich, aber es ist viel schneller zu reparieren,
haben das vom Kollegen Feige bereits sehr anschau- als neue Straßen zu bauen. Das wissen Sie selber.
lich berichtet bekommen. — Zumindest wären das strukturell doch gute Voraus-
setzungen für eine andere Art von Verkehrspolitik.
(Ekkehard G ri es [FDP]: Aber falsch!)
Ich denke, daß sich das Verkehrswegebeschleuni- (Ekkehard G ri es [FDP]: Alles Gerede!)
gungsgesetz auf diese Weise ziemlich schnell als ein Die „Wirtschaftswoche" vom Februar 1990 schreibt,
„Entdemokratisierungsbeschleunigungsgesetz" er- daß die Deutsche Reichsbahn — vielfach als Sanie-
weisen wird, und zwar für das gesamte Land. Ich finde rungsfall verschrien — zu den leistungsfähigsten Un-
auch, daß derjenige, der sich über 40 Jahre Komman- ternehmen der DDR gehörte. Mit 60 Milliarden Ton-
dowirtschaft in der DDR ereifert und dann selbst Pla- nenkilometern
nungsdiktatur fordert, gedanklich der Politbürokratie
(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Wie ist
der früheren DDR sehr viel nähersteht, als ihm bewußt
das mit den Postkutschen!)
ist.
Zur notwendigen Sanierung im Verkehrsbereich — hören Sie doch einmal zu — erreichte sie bei halb
des Anschlußgebiets kann ganz klar gesagt werden: so großem Schienennetz die Gütertransportleistung
Am schnellsten und am preisgünstigsten kann eine der Bundesrepublik.
qualitative Verbesserung des Fernverkehrs auf der (Zuruf von der CDU/CSU: Deswegen ist die
Schiene erreicht werden — und eben nicht auf der Wirtschaft auch zusammengebrochen!)
Straße. Denn das Schienennetz ist bereits vorhanden Sie wollen nicht nur die Arbeitsplätze der Reichs-
und muß nur repariert werden. Da fallen dann immer- bahn abbauen, sondern Sie sind nicht einmal bereit,
hin auch die leidigen Planfeststellungsverfahren dort so zu investieren, daß wirklich für die Zukunuft
weg. eine andere Situation im Verkehrsbereich möglich
Es ist ebenfalls erwiesen, daß bei einer zügigen ist.
Durchführung entsprechender Investitionen in vor-
handene Strecken die Durchschnittsgeschwindigkeit (Ekkehard Gries [FDP]: Das ist unverschämt
falsch!)
in kurzer Zeit um 30 bis 40 % erhöht werden kann, also
Intercity-Niveau erreichen könnte. Ich finde, daß der, der sich in der Verkehrspolitik
(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist alles erst ausschließlich auf die Ökonomie beruft, sehr deutlich
seit der Einheit möglich!) zeigt, wessen Interessen er hier vertritt. Derjenige
macht klar, daß ihm die Interessen der Autoindustrie
— Ja eben! Aber warum verschenken Sie diese weit wichtiger sind als die Bewahrung der natürlichen
Chance? Lebensgrundlagen und die Verbesserung der Lebens-
(Weitere Zurufe von der CDU/CSU) qualität für alle Menschen.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2173
Jutta Braband
Die PDS/Linke Liste lehnt deshalb den Haushalts- Bundesländern wohl sehen lassen kann und mit dem
plan im Bereich des Bundesministers für Verkehr wir beweisen werden, daß es vorangeht.
ab.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Ekkehard G ries [FDP]: Sie kommen ja nicht
einmal in den Verkehrsausschuß!) Wichtigste Maxime bei allen Investitionen ist der Aus-
bau eines umweltgerechten Verkehrssystems, d. h.
insbesondere die Förderung des Schienenverkehrs.
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort
Auch das können wir an Hand von Zahlen nachwei-
sen. Wir setzen rund 20 Milliarden DM ein. Das ist ein
hat der Bundesminister für Verkehr, Herr Krause.
Anteil am Haushalt von 56 %. Ich kann nicht erken-
nen, daß hier etwa nur die Autolobby ihre Spielchen
treibt. Das ist eine Unterstellung, die ich in keiner
Dr. Günther Krause, Bundesminister für Verkehr: Weise akzeptieren kann. Von diesem Betrag erhalten
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und die Deutsche Reichsbahn und die Deutsche Bundes-
Herren! Herr Dr. Feige, gleich zu Beginn: Auch ich bahn einen erheblichen Anteil an Investitionsmitteln.
stamme aus Mecklenburg, und auch Sie können mich Es ist natürlich auch richtig, daß, um die Aufgaben bei
nicht aus der Ruhe bringen. der Deutschen Reichsbahn zu leisten, auch Mittel von
(Jutta Braband [PDS/Linke Liste]: Um so un der Deutschen Bundesbahn umgeschichtet worden
-verständlicher!) sind.
In der Verkehrspolitik stehen wir im geeinten Um die Bahn wettbewerbsfähiger und attraktiver zu
Deutschland vor großen Herausforderungen, und ich gestalten, ist es notwendig, auch Schnellbahnverbin-
denke, es ist zu Recht dargestellt worden, daß wir in dungen zu realisieren. Ich als Techniker meine fest-
der Verkehrspolitik einiges zur Veränderung beitra- stellen zu dürfen, daß es zu Beginn eines neuen Zeit-
gen müssen. alters ganz normal ist, daß Kinderkrankheiten auftre-
- ten. Ich bin erschreckt über die Polemik in der Öffent-
Ich denke, daß in dem Verkehrsetat der Nachweis
erbracht worden ist, daß das Zeitalter der Verände- lichkeit und darüber, daß, wenn nach einigen Tagen
rung auch in der Verkehrspolitik bereits begonnen nicht alles hundertprozentig funktioniert, gleich ein
hat. Aufschrei losgelassen wird. Ich bin sicher, daß auf
Grund der Zusammenarbeit zwischen den Menschen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
und auf Grund des Bemühens der Menschen bei der
Der Haushalt ist mit einer Steigerung von mehr als Bahn, ein neues und besseres Zeitalter in der Bahn
20 % nicht nur um den Anteil der ehemaligen DDR durchzusetzen, nach einigen Wochen die Vorausset-
reicher geworden, sondern es gibt einen echten Zu- zungen für kontinuierliche Abläufe geschaffen sein
wachs. Ein leistungsfähiges Verkehrswegenetz ist werden.
Voraussetzung dafür, daß Deutschland nicht nur
rechtlich, sondern auch tatsächlich eins wird und für In den neuen Bundesländern — diese Zahl scheint
den europäischen Binnenmarkt gewappnet ist. mir ganz wichtig zu sein — setzen wir allein in diesem
Jahr 3,8 Milliarden DM an Investitionsmitteln aus
Dr. Feige, Sie haben natürlich in Ihrer Rede verges- dem Haushaltsansatz und 200 Millionen DM aus dem
sen, zu erwähnen, daß beispielsweise von Köln nach Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost ein. Ich habe die
Stralsund mittlerweile ein IC fährt. Das war zur DDR genauen Zahlen heraussuchen lassen: Im Jahre 1989
Zeit nicht üblich. Ich meine, man sollte sich den Fahr- waren es 1,24 Milliarden Ostmark. Unser größtes Pro-
plan genau ansehen und zuerst die Vorteile und die blem bei der Bahn besteht derzeit da rin, den Struktur-
Nachteile ordentlich abwägen; wandel zu realisieren und das vorhandene Gleisnetz
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zu sanieren. Wir brauchen beschleunigende Metho-
denn wir erweisen unseren Reichsbahnern und den den. Nur mit dem Reparieren — die eben genannten
Bundesbahnern keinen guten Dienst, wenn wir ge- 30 % Zuwachs — lassen sich bei Langsamfahrstrek-
rade in der jetzt so komplizierten Situation der unter- ken, die Geschwindigkeiten von nur 40 km/h zulas-
schiedlichen technischen Voraussetzungen — und die sen und die es bei den Fernverbindungen heute noch
macht die Fahrplangestaltung so kompliziert — nur zuhauf gibt, keine Intercity-Geschwindigkeiten erzie-
immer Kritik an den Menschen, die bei den Bahnen len. Sie müßten häufiger mit der Deutschen Reichs-
arbeiten, leisten, aber nicht bemüht sind, grundsätz- bahn fahren, um ein entsprechendes Verständnis ent-
lich die politischen Weichen richtig zu stellen. Das wickeln zu können. Das ist das Entscheidende.
haben wir von der Koalition in diesem Haushalt nach- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
gewiesen. bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall bei der CDU/CSU) Wir müssen darauf verweisen — ich habe das an
Für die neuen Länder hat die Bundesregierung vor dieser Stelle schon des öfteren getan — , daß im Vor-
allem die Mittel für Investitionen in die Verkehrsin- griff auf den gesamtdeutschen Verkehrswegeplan,
frastruktur deutlich auf mehr als 8 Milliarden DM er- über den wir gemeinsam voraussichtlich im Frühjahr
höht. Zum Vergleich — ich meine, das ist die Aus- 1992 entscheiden werden, 17 Projekte „Deutsche Ein-
gangsbasis, über die wir uns unterhalten müssen — : heit" ausgesucht worden sind. Ich kann nicht erken-
Im Jahre 1989 wurden in der ehemaligen DDR 2 Mil- nen, daß nicht gerade die Auswahl dieser 17 Projekte
liarden Ostmark investiert. Jetzt sind es statt 2 Milli- eine gezielte verkehrspolitische Entscheidung gewe-
arden Ostmark 8 Milliarden DM. Das ist doch ein Zu- sen ist. Beispiel: Wir wollen die Kreuzung des Mittel-
wachs, der sich in der ehemaligen DDR, in den neuen landkanals mit dem Oder-Havel-Kanal durch eine
2174 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991
— Bis zu 2 000 Wissenschaftler werden ihren Platz Dies geschieht in einer Zeit, wo die Mittel für die
wieder an Hochschulen finden, wenn wir wollen, daß wissenschaftlichen Institute in den alten Ländern
Wissenschaft an den Universitäten wieder ihre alte nicht wachsen. Mit Projektmitteln werden wir spar-
Stärke findet. sam umgehen, bei Max-Planck-Gesellschaft, bei
Fraunhofer-Gesellschaft, bei den Großforschungsein-
Wir helfen den neuen Ländern in der schwierigen richtungen und auch bei den Universitäten. Gegen-
Übergangsphase. Im Verantwortungsbereich des For- über 1982 hatten wir unsere Mittel in den Universitä-
schungsministers sind je für 1992 und 1993 fast ten weit mehr als verdoppelt. Aber wir können natür-
200 Millionen DM vorgesehen. Das Geld erleichtert lich eine manchmal knappe Grundfinanzierung durch
den neuen Ländern die Übergangszeit: Wir müssen die Länder nicht ersetzen. Einen Teil dieser Mittel
unbedingt vermeiden, daß wir wegen kurzfristiger fis- werden wir an den Hochschulen der neuen Bundes-
kalischer Probleme langfristig die falschen Strukturen länder ausgeben.
anlegen.
Wer nicht einen neuen Arbeitsplatz in der Wissen- Besonders dankbar bin ich für die Bereitschaft der
schaft findet, hat unsere volle Unterstützung. Eine Großforschungseinrichtungen, solidarisch mit der
besondere Form der ABM habe ich mit dem Kollegen Wissenschaft in den neuen Ländern Lasten zu tragen.
Blüm vorbereitet: Auch Forschungsgruppen können Mit etwa 2,3 Milliarden DM im Jahr haben sie einen
nach einer gedanklichen Sekunde der Arbeitslosig- hohen Anteil an unserem Haushalt. Viele dieser Ein-
keit für zusätzliche Arbeiten im öffentlichen Interesse richtungen haben in den vergangenen Jahren ihr Pro-
auf zwei Jahre finanziert werden. Wir helfen bei der fil gewandelt: etwa Abbau der Kerntechnik und Auf-
Gründung von Unternehmen, Handwerksbetrieben bau von Umweltforschung. Ihr Haushalt wird in den
— oder Technikunternehmen — aus den alten Institu- nächsten Jahren nicht wachsen können. Diese
ten. Mit der TREUHAND haben wir Projektunterstüt- schwierige Situation kann nur erfolgreich gestaltet
zung und eine Strategie für die Forschungs-GmbH's werden, wenn wir sie nutzen, um möglicherweise
vereinbart, die Möglichkeiten nutzt, besonders auch noch vorhandene Schwachstellen zu beseitigen. Wir
zur Kooperation mit westlichen Unternehmen. Wir werden alle Instrumente prüfen, den Großforschungs-
sind zuversichtlich, daß bei allen Schwierigkeiten einrichtungen hierfür ein hohes Maß an Beweglich-
eine kraftvolle institutionelle Forschung entsteht. keit und Gestaltungsmöglichkeit zu geben.
Wir fördern mit Projektmitteln. Bis zu 600 Millionen So prägen die Aufgaben der deutschen Einheit un-
DM haben wir in 1991 vorgesehen. Dies ist mehr als seren Haushalt. Hier liegt in der Arbeit in diesen Mo-
unser gesamter Aufwuchs an Projektmitteln. Dies ist naten das größte Gewicht. Dabei hat sich die Koope-
zusätzlich die Umsteuerung eines erheblichen Teils ration mit den Wirtschaftsministern und den Wissen-
der Projektmittel, die wir für die alten Bundesländer schaftsministern der neuen Bundesländer freund-
vorgesehen hatten, in die neuen Bundesländer. schaftlich und in gemeinsamer Verantwortung gut
entwickelt. Aber ebenso wichtig ist mir die Zusam-
Ein wichtiges haushaltstechnisches Instrument ist menarbeit mit den Kollegen im Parlament: Der For-
dabei für uns eine begrenzte globale Minderausgabe. schungsausschuß und der Bundestag hatte noch nie so
Dies ist schwierig. Jeder spricht von der Bereitschaft viele Naturwissenschaftler und Techniker wie heute,
zum Teilen. Ich bin dankbar für alle, die uns hierbei und ich bin sicher, daß dies gut ist für die Qualität
tatkräftig unterstützten. unserer gemeinsamen Politik!
15 Technologiezentren haben wir mit den neuen
Bundesländern gegründet. Bei weiteren beraten und Die deutsche Einheit ist die übergeordnete Auf-
unterstützen wir. Die ersten jungen Unternehmen gabe; aber wir haben unsere Schwerpunkte weiterge-
sind gegründet, über ein breites Spektrum von der führt und das Profil unserer Forschungspolitik ver-
Soft-Ware-Entwicklung bis zur Umwelttechnik. Wir stärkt, wie wir sie seit 1982 angelegt haben.
setzen die Erfahrung der letzten Jahre in den alten
Der Anteil der Zuwendungen an die großen Unter-
Ländern ein. Ich freue mich und ich respektiere sehr,
nehmen ist weiter gefallen. Sie leisten eine großartige
daß Gemeinden und Hochschulen, Unternehmen und
Fachhochschulen, Berater aus den alten Ländern und Forschung. Aber die Zahl der Projekte, bei denen sie
die Partnerschaft des Staates brauchen, ist begrenzt.
verantwortlichen neuen Ländern gemeinsam denen
helfen, die mutig starten. Wo es allerdings notwendig ist, da arbeiten wir gerne
zusammen: bei JESSI, dem größten Eureka-Projekt,
Das deutsche Forschungsnetz ist ausgebreitet. Da- um Europas unabhängige Position auf den Weltmärk-
tenbankanschlüsse sind überall vorhanden. Techno- ten für Chips zu erhalten, bei PROMETHEUS, zur
logieberatung der Kammern wird aufgebaut. Demon- Sicherheit des Straßenverkehrs oder beim Hochauflö-
strationszentren für neue Techniken entstehen. Am senden Fernsehen, wo neue Formen entstehen und
eindrucksvollsten aber ist, wie die Zahl derer wächst, vom Staat mitzugestalten sind, und — in ganz anderer
die die Erfahrung von 40 Jahren Sozialismus über- Weise etwa bei Weltraumtechnik, wo wir Aufträge für
wunden haben und den Mut zur Initiative und Krea- Geräte erteilen, die wir brauchen, bis hin zu Umwelt-
tivität finden. Diese Arbeit gelingt nur in einer guten beobachtungs-Satelliten, zur Technik für die Raum-
Partnerschaft zwischen Politik und Wissenschaft. Ich station oder für die Grundlagenforschung. Das Ziel
danke den großen Wissenschaftsorganisationen, ich solcher Aufträge ist natürlich nie der Spin-Off. Gerade
danke diesen engagierten Wissenschaftlern für die wenn der Spin-Off begrenzt ist, wird deutlich, daß wir
Bereitschaft, selbst in den neuen Ländern zu arbeiten, nicht für Marktpositionen von Unternehmen fördern,
aber auch Wissenschaftler aus den neuen Ländern auf sondern Geräte bestellen, die wir zur Erfüllung unse-
Zeit in ihre Institute einzuladen. rer Ziele brauchen.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2181
Die Förderung von kleinen und mittleren Unterneh- des Ostens; das waren die Bürger der neuen Bundes-
men hingegen halten wir auf einem hohen Niveau. länder. Und zwischen beiden war eine fast undurch-
Für jede selbst aufgewandte Forschungsmark be- dringliche Grenze. Nun sind wir beisammen in einem
kommt ein großes Unternehmen heute statistisch etwa Land, und wir sind die Mitte Europas, eines Europas,
3 Pfennige staatlichen Zuschuß, ein KMU etwa das wir mitgestalten können.
8 Pfennige, denn wir wollen einen starken Mittel-
Wissenschaft, die unser Verständnis der Welt erwei-
stand, der Technik beherrscht.
tert, Wissenschaft, die Technik und Wohlstand und
Verstärkt haben wir weiter die Bereiche, in denen Problemlösungen zugrundelegt; solche Wissenschaft
der Staat unmittelbar Verantwortung trägt. Ökologi- wird auch in einzigartiger Weise das Verständnis der
sche Forschung wächst um 10,6 % weit überproportio- Menschen füreinander fördern, wenn wir im Wissen
nal; Umwelttechnik um 28,5 % noch stärker; Klimafor- um gemeinsame Verantwortung sie als Partner su-
schung um 37,6 % ! Bei erneuerbaren Energien haben chen und finden.
wir mit 318 Millionen DM einen internationalen Spit-
zenwert. In allen diesen Bereichen trägt der Staat Ver-
antwortung für eine verletzliche Welt, und wir wollen
mit Wissenschaft und Technik die Voraussetzungen
schaffen, daß wir dieser Verantwortung immer mehr
gerecht werden. Anlage 3
Dies heißt auch, daß wir Projekte entwickeln, die Zu Protokoll gegebene Reden
verschiedene Techniken zusammenführen bis zur zu Einzelplan 25 — Geschäftsbereich
Problemlösung: — Wir optimieren verschiedene Ver- des Bundesministers für Raumordnung,
fahren zur Verwertung von Gülle. — Wir lernen, wie Bauwesen und Städtebau —
wir ökologisch belastete kleine Flüsse sanieren. — Wir — Drucksachen 12/526, 12/530 —
führen eine wachsende Vielzahl von Verfahren zur
Sanierung von Altlasten im Boden zusammen. — Wir
erproben Chinaschilf oder Raps als nachwachsende Dr. Conrad Schroeder (Freiburg) (CDU/CSU): Der
Rohstoffe und Energieträger, und wir freuen uns über Haushalt des Ministeriums für Raumordnung, Bauwe-
die wachsende gute Partnerschaft zwischen Wissen- sen und Städtebau trägt entscheidend mit dazu bei,
schaft, Industrie und Landwirtschaft. — Wir starten daß die schwierigen Probleme in den Bereichen Woh-
Breitenversuche mit tausenden von Anlagen zur Son- nen, Mieten und der Erneuerung der Bausubstanz in
nenenergie und zur Windenergie. Das Ziel ist, daß den neuen Bundesländern zügig und wirksam ange-
nicht nur einzelne Probleme definiert, sondern Lösun- packt, gleichzeitig aber auch die Wohnungsengpässe
gen so überzeugend demonstriert werden, daß sie sich in den alten Bundesländern weiter beseitigt werden
durchsetzen. können. Der Finanzrahmen des Haushaltsplans zum
Der Forschungshaushalt ist knapp, und die näch- Einzelplan 25 weist eine beachtliche Steigerung ge-
sten Jahre werden schwierig sein. Aber die Strategie genüber dem Jahr 1990 von fast 29 % aus und beträgt
stimmt, und die Partnerschaft zwischen Wissenschaft, jetzt immerhin in den Ausgaben rund 8,2 Milliarden
Wirtschaft und Staat, die sich in den vergangenen DM. Damit steht ein beachtliches Finanzvolumen zur
Jahren so außerordentlich erfolgreich entwickelt hat, Verfügung, das zielsicher eingesetzt die wichtigen
wird sich auch in einer schwierigen Zeit bewähren. wohnungsbaupolitischen Aktivitäten in den alten und
Dabei werden wir immer wieder auch im Parlament den neuen Bundesländern finanziell absichert. Die
über den richtigen Weg zu streiten haben. SPD, die hier höhere Wohnungsbaumittel fordert, soll
dafür Sorge tragen, daß in den Bundesländern und
Aber aus den Diskussionen der letzten Monate sehe Gemeinden, in denen sie die Verantwortung trägt, mit
ich einiges an Sorgen über das Volumen unseres For- eigenen Initiativen mehr zum Abbau des Wohnungs-
schungshaushalts. Ich sehe aber weniges an grund- defizits getan wird. Der Wohnungsbau und die Besei-
sätzlicher Kritik an unserer Strategie. Dies liegt viel- tigung von Engpässen gehört nämlich nach dem Woh-
leicht daran, daß dies im guten Stil des Forschungs- nungsgesetz nicht in die alleinige Zuständigkeit des
ausschusses bei aller grundsätzlichen Spannung im- Bundes, sondern ist eine Gemeinschaftsaufgabe von
mer wieder gemeinsam gestaltet ist. Bund, Ländern und Gemeinden.
So lassen Sie uns gemeinsam die Probleme der Die Regierungskoalition hat bereits 1989 ein breites
kommenden Jahre lösen. Wir lösen sie in unserem wohnungsbaupolitisches Paket für die alten Bundes-
Land, aber wir werden nicht vergessen, daß Deutsch- länder verabschiedet mit dem Ziel, von 1990 bis 1992
land ein Teil Europas wird, daß Deutschland sein Wis- 1 Million neue Wohnungen zu bauen. Der Erfolg des
sen und seine Gestaltungskraft in Europa einbringen hervorragenden Wohnungsbauprogramms der Bun-
muß. Dies gilt für die großen Programme und Institute desregierung und der Koalition ist bereits jetzt in den
der Grundlagenforschung, dies gilt für Weltraumtech- alten Bundesländern deutlich sichtbar. Im Jahr 1990
nik und dies gilt für EUREKA. Dies gilt für die Pro- wurden 257 000 neue Wohnungen fertiggestellt. Ein
gramme der Europäischen Gemeinschaft. noch deutlich kräftiger Zuwachs ist für dieses Jahr
Dies gilt aber auch für unser Verhältnis zu den Staa- 1991 zu erwarten. Die Zahl der neu genehmigten
ten Ost-Europas, die zurückkehren in die Gemein- Wohnungen lag nämlich im Jahr 1990 bei rund
schaft der freien Völker. Auch dies ist ein Teil unserer 387 000. Für 1991 kann daher bis zum Jahresende mit
Wirklichkeit: — Die einen Deutschen standen bisher einem Ergebnis von deutlich mehr als 300 000 neuen
am äußersten Osten des Westens; das waren wir. — Wohnungen gerechnet werden. Nach dem Stand der
Die anderen Deutschen standen am äußersten Westen Wohnungsbaugenehmigungen in diesem Jahr wird es
2182* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991
auch im Jahre 1992 mit neuen Wohnungen verstärkt Auch in den neuen Bundesländern soll mit den Fi-
weitergehen. nanzhilfen des Bundes alles daran gesetzt werden, vor
allen Dingen Eigentumsmaßnahmen in besonderer
Wir sind auf dem richtigen Weg, wenn für die Jahre
Weise zu fördern. Nur mit Hilfe vieler privater Initia-
1991 und 1992 in den alten Bundesländern mehr als
tiven sind schnelle Erfolge zu erzielen.
700 000 Wohnungen neu hinzukommen. Wer kriti-
siert, daß noch nicht alle Engpässe beseitigt sind, Außer den Finanzhilfen für den sozialen Woh-
sollte nicht vergessen, daß allein seit der letzten nungsbau stellt der Bund auch im Jahre 1991 be-
Volks- und Wohnungsstättenzählung im Jahre 1987 trächtliche Mittel in den alten und den neuen Bundes-
die Einwohnerzahl in den alten Bundesländern um ländern für Maßnahmen der Stadterneuerung zur
rund 2,4 Millionen Bürgerinnen und Bürger gewach- Verfügung. In den neuen Bundesländern stehen in
sen ist. Der Trend zu immer größeren Wohnungen und diesem Jahr und im Jahre 1992 Finanzhilfen in Höhe
zu Einpersonenhaushalten hält weiter unvermindert von je 630 Millionen DM für Investitionen in den Städ-
an. Deshalb konnte die Schere zwischen Wohnungs- ten und Gemeinden zur Verfügung. Zusammen mit
angebot und Wohnungsnachfrage ungeachtet der den Komplementärmitteln von Ländern und Gemein-
spürbaren Steigerung des Neubauvolumens noch den beträgt das Finanzvolumen in den neuen Bundes-
nicht geschlossen werden. Es liegt völlig daneben, ländern für die Stadterneuerung über 1,5 Milliarden
wenn die SPD behauptet, im Wohnungsbau sei nichts DM pro Jahr. Mit den Finanzhilfen für die Städtebau-
gelaufen. förderung können vordringliche Maßnahmen zur Bo-
Die kontinuierliche Fortsetzung der wohnungspoli- denordnung, der Erwerb von Grundstücken, die Her-
tischen Vorhaben erfordert ein Zusammenwirken von stellung und Änderung von Erschließungsanlagen so-
Bund, Ländern und Gemeinden, insbesondere auch wie Baumaßnahmen bewerkstelligt werden.
die Mobilisierung von Bauland. Durch den Abbau von
In den alten Bundesländern wurde K ritik laut, daß
Truppenstandorten der Bundeswehr und die Reduzie-
die Stadterneuerungsmittel in diesen Ländern gegen-
rung der alliierten Stationierungsstreitkräfte ist zu-
über dem Vorjahr von 660 Millionen auf 330 Millio-
sätzliches Bauland frei geworden. Meine Fraktion un-
nen reduziert wurden. Ich weiß, daß noch viele Bür-
terstützt nachdrücklich, daß durch den Truppenabbau
germeister aus diesem Topf ihre Gemeinden verschö-
freiwerdende Grundstücke und Gebäude vorrangig
nern wollen, halte es jedoch für vertretbar, daß ein
für den sozialen Wohnungsbau genutzt werden. Ich
solidarischer Beitrag der alten Bundesländer für die
hoffe, Sie haben gestern bei der Rede des Herrn Bun-
neuen Bundesländer geleistet wird. Manche Stadter-
desfinanzministers sicher gut zugehört, der hier mit-
neuerungsmaßnahme in den alten Bundesländern
geteilt hat, daß künftig freigegebene Militärgrund-
kann auch noch ein Jahr gestreckt werden. Bösartige
stücke mit einem Preisabschlag von 30 % für Zwecke
Kritik meint sogar, längst werde hier auch viel unnüt-
des sozialen Wohnungsbaus und des studentischen
zer „Schnickschnack" finanziert. Aber diesen Vor-
Wohnungsbaus an die Gemeinden abgegeben wer-
wurf will ich so allgemein nicht stehen lassen.
den. Das ist eine ganz großartige Nachricht, für die ich
hier noch einmal dem Bundesfinanzminister den Damit keine Mark an Bundeshilfen für den sozialen
Dank meiner Fraktion sagen möchte. Die Gemeinden Wohnungsbau oder Stadterneuerungsmaßnahmen
werden hierdurch in der Lage sein, den sozialen Woh- am Jahresende 1991 verfällt, weil möglicherweise we-
nungsb au weiter anzukurbeln. Die Grundstücksver- gen eines zu geringen Planungsvorlaufs in den neuen
gabe mit 2 % Erbbauzins bleibt daneben bestehen. Bundesländern noch nicht alles verbaut werden kann,
Die Verpflichtung der Länder, die für den sozialen wird bei den entsprechenden Titeln des Einzel-
Wohnungsbau zugeteilten Bundeshilfen vorrangig im plans 25 festgelegt, daß mit Zustimmung des Bundes-
sogenannten dritten Förderweg, also im Wege einer finanzministers Mittel, die in den neuen Bundeslän-
Vereinbarung einzusetzen, ist der sachgerechte Weg, dern nicht abgerufen werden konnten, auch für den
um mit dem vorhandenen Geld eine größtmögliche sozialen Wohnungsbau oder Stadterneuerungsmaß-
Breitenwirkung zu erzielen. nahmen in den alten Bundesländern abgerufen wer-
den können. Damit wird, ähnlich wie beim Straßen-
Nach der abgeschlossenen Verwaltungsvereinba- bau, eine optimale Ausnutzung der zur Verfügung
rung zwischen dem Bund und den neuen Ländern stehenden Bundeshilfen erreicht, ohne daß die neuen
stellt der Bund allein den neuen Ländern rund Bundesländer dadurch benachteiligt werden.
1,35 Milliarden DM an Finanzhilfen für den Woh-
nungsbau zur Verfügung. Anders als in den alten Neben zusätzlichen städtebaulichen Denkmal-
Bundesländern können die Finanzhilfen für den sozia- schutzmaßnahmen in den neuen Bundesländern im
len Wohnungsbau auch für Maßnahmen der Moderni- Rahmen des Gemeinschaftswerks Aufschwung Ost
sierung und der Instandsetzung eingesetzt werden. werden aus dem Einzelplan 25 städtebauliche Mo-
Das ist angesichts des teilweise verheerenden Zustan- dellvorhaben mit Hilfe des Bundes in den Städten
des der Bausubstanz in den neuen Bundesländern Brandenburg, Halberstadt, Meißen, Stralsund und
auch richtig und notwendig, um einen schnellen Auf- Weimar sowie in acht Dörfern der neuen Bundeslän-
schwung zu erreichen. Mit den zur Verfügung stehen- der durchgeführt. Mit diesen Maßnahmen, die rasch
den Mitteln kann unverzüglich begonnen werden, umgesetzt werden, wird in den Modellstädten und
bauliche Mängel an Dächern und Fassaden zu besei- -dörfern ein sichtbares Zeichen gesetzt, wie es in eini-
tigen, Maßnahmen der Modernisierung von Hei- gen Jahren überall in den neuen Bundesländern aus-
zungsanla gen und Sanitäreinrichtungen vorzuneh- sehen kann und soll. Die Wirkung der Vorhaben in
men und mit energiesparender Wärmedämmung zu den Modellstädten und -gemeinden reicht weit über
beginnen. den unmittelbaren Kreis hinaus.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2183*
Mit einem neuen Modellvorhaben soll auch ein Bei- Meine Fraktion wird dem Einzelplan 25 zustimmen,
trag zum Schutz des „ungeborenen Lebens" erfolgen. und ich empfehle diese Zustimmung auch den übri-
Die Berichterstatter zum Einzelplan 25 haben bean- gen Fraktionen dieses Hohen Hauses.
tragt, zusätzliche Bundesmittel bereitzustellen, um
Modellwohnungen für alleinstehende und alleiner- Dr. Nils Diederich (Berlin) (SPD): Die deutsche Ein-
ziehende Frauen zu bauen. Diesem Antrag wurde ein- heit hat einen historisch einmaligen Vorgang auch im
hellig im Haushaltsausschuß gefolgt. Wir wollen es Bereich der Wohnungspolitik bewirkt: Wir müssen
bei der Diskussion um den Schutz des ungeborenen innerhalb kurzer Zeit in den neuen Ländern von einer
Lebens nicht bei Worten belassen, sondern auch mit zentralen Wohnungsverwaltung auf eine marktorien-
Taten helfen. tierte Wohnungswirtschaft umstellen.
Das Wohngeld ist ein weiterer Schwerpunkt im Ein- Für Sozialdemokraten ist Wohnung keine Ware
zelplan 25. Das Wohngeld ist seit vielen Jahren zur sondern ein soziales Gut. Das Grundbedürfnis Woh-
Abfederung der Mietbelastungen in den alten Bun- nen muß in unseren Breitengraden bestimmten Min-
desländern eine wertvolle und unverzichtbare Hilfe deststandards und Ansprüchen genügen. Die Min-
für Millionen von Haushalten. In der Zwischenzeit destansprüche sind in den alten Bundesländern mit
übersteigt der Haushaltsansatz die 3 Milliarden wachsendem Wohlstand gestiegen. Von den ca.
Grenze. Eine behutsame Anhebung der Mieten in den 7 Millionen Wohnungen in den neuen Bundesländern
neuen Bundesländern, die bisher noch auf dem Stand trägt aber nur ein geringer Anteil diesen Ansprüchen
des Jahres 1936 eingefroren waren, muß begleitet Rechnung.
werden von der gleichzeitigen Einführung eines Es reicht also nicht hin, auf die Statistik zu verwei-
Wohngeldes. Die Mieter haben die „Vorteile " des bil- sen, daß mit den 7 Mil li onen Wohnungen die ca.
ligen Wohnens mit einem teilweise menschenunwür- 6,6 Millionen Haushalte in den neuen Ländern doch
digen Zustand der Wohnungen bezahlt. Dies muß und ohne weiteres befriedigt werden könnten. Immerhin
wird sich ändern. Die Anhebung der Mieten muß
- aber sind 37 % der Wohnungen in den neuen Ländern vor
zeitgleich durch die Einführung eines flächendecken- 1919 errichtet; in den alten Bundesländern beträgt
den Wohngeldsystems begleitet werden. Die entspre- dieser Anteil nur noch 19 %. Wer den Wohnungsbe-
chenden Mittel sind in den Bundeshaushalt einge- stand in Ostdeutschland kennt, weiß, daß sicherlich
stellt. Mit einem pauschalierten System von Voraus- ein Fünftel dieser Wohnungen nicht mehr sanierungs-
zahlungen auf das endgültige Wohngeld soll sicher- fähig und eigentlich nicht mehr bewohnbar ist. Wer
gestellt werden, daß die Mieter in den neuen Bundes- die Bauten in Großplattenbauweise kennt — ich kann
ländern bei Anhebung der Mieten zeitgleich in den Sie Ihnen in meinem Wahlkreis vorführen — , wird mir
Genuß der Wohngeldzahlungen gelangen. Außerdem zustimmen, daß das ökonomischste und vielleicht
wird in den neuen Bundesländern durch die Berück- auch menschenfreundlichste Verfahren wäre, viele
sichtigung der Heiz- und Warmwasserkosten beim dieser Bauten so bald wie möglich niederzulegen und
Wohngeld eine zusätzliche Hilfe gegeben. die Flächen mit modernen Ansprüchen genügenden
und in das städtebauliche Umfeld sinnvoll eingefüg-
Bei den Beratungen im Haushaltsausschuß wurden ten Wohnungen neu zu bebauen.
auch zusätzliche Mittel bereitgestellt, um mit einem Wir erkennen an, daß die Bundesregierung erhebli-
Ausbildungsprogramm und einer breit gefächerten che quantitative Anstrengungen unternimmt, um auf
Unterrichtung der Bürgerinnen und Bürger in den die vorhandenen Probleme zu antworten. Nur, Quan-
neuen Bundesländern ein Informationsdefizit über tität allein reicht nicht hin. Was fehlt, ist eine klare
das neue Miet- und Wohngeldrecht schnell abzu- Konzeption für den Wiederaufbau in Ostdeutsch-
bauen. Insgesamt ist damit der Etat des Bauministeri- land.
ums ebenfalls ein wesentlicher Beitrag für einen kon-
tinuierlichen Aufschwung in den neuen Bundeslän- Die Bundesregierung vertraut auf den Markt. Nur,
dern. wenn es keinen Markt gibt, kann er auch seine se-
gensreiche Wirkung nicht entfalten. In Ostdeutsch-
Zu den ganz schwierigen und brisanten Aufgaben land muß ein funktionierender den sozialen Anforde-
des Bundesbauministeriums und hier speziell der rungen gerecht werdender Wohnungsmarkt erst her-
Bundesbaudirektion gehört die Planung und Realisie- gestellt werden. Und dies kann nicht nur mit An-
rung der Bundestagsbauten. Die Fertigstellung des schubfinanzierungen und Übergangsregelungen ge-
Plenarsaals in Bonn und vorsorgliche Maßnahmen des schehen. Bei der Größe der Aufgabe kann es der
Grunderwerbs und Hochbaumaßnahmen im Umfeld Markt allein nicht schaffen. Es gibt noch keinen
des Reichstages in Berlin sind finanziell abgesichert. marktfähigen Wohnungsbestand; auch deshalb, weil
Nach den endgültigen Abstimmungen über Regie die Eigentumsverhältnisse immer noch nicht endgül-
rungs- und Parlamentssitz werden sich möglicher- tig geklärt sind.
weise hier alsbald Veränderungen ergeben, die im Lassen wir uns nicht täuschen: Seit der Öffnung der
Haushaltsplan 1992 Berücksichtigung finden müs- Mauer sind Hunderttausende aus den neuen Ländern
sen. in die alten Länder abgewandert und haben dort das
Arbeitskräftepotential und damit die Leistungsfähig-
Ich bedanke mich abschließend bei Frau Ministerin keit verstärkt. Ostdeutschland, in dem einmal fast
Adam-Schwaetzer sowie bei allen Bediensteten des 20 Millionen Menschen gelebt haben, hat im Lauf der
Bundesbauministeriums und auch meinen Berichter- letzten Jahrzehnte zwischen 3 und 4 Millionen Ein-
statterkollegen im Haushaltsausschuß für eine gute wohner verloren. Nun könnte man meinen, daß dies
Zusammenarbeit. die Situation entspannt; das Gegenteil ist der Fall.
2184 " Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991
Es wird in den neuen Ländern einen schnellen Auf- tion hat hier noch keinen Ansatz. Die alten Instru-
schwung und eine Zukunftsperspektive nur geben, mente sind verbraucht.
wenn es gelingt, das Ausbluten aufzuhalten und
Der Abzugsbetrag von der Steuerschuld bei selbst-
junge Menschen zu motivieren, in die neuen Länder
genutztem Eigentum ist ein alter sozialdemokrati-
zu gehen, um am Aufbau mitzuwirken. Zwei Voraus-
scher Vorschlag, den wir bereits 1986 in die parlamen-
setzungen sind notwendig. Das eine ist die Schaffung
tarische Beratung eingebracht haben. Dieser Vor-
hinreichender Arbeitsplätze. Das zweite ist das Ange-
schlag hat den Vorteil, daß bei geringen Einkommen,
bot an bezahlbaren Wohnungen, die dem Qualitäts-
bei denen eine Steuerschuld nicht entsteht, das Fi-
stand entsprechen, den wir in den alten Ländern er-
nanzamt mit einem Zuschuß wirksam in die Eigen-
reicht haben. Dies erfordert massiven Wohnungsbau,
tumsbildung eingeschaltet wird. Wir bieten an, wir
den wir nur über ein öffentliches Förderprogramm
fordern Sie auf, mit uns gemeinsam ein neues Konzept
erreichen. Die Bundesregierung ist untätig und wartet
zu erarbeiten.
auf den Markt. Ich fordere die Koalitionsparteien auf,
zusammen mit Sozialdemokraten ein Nationales Auf- Jede Wohnungspolitik bedarf der sozialen Absiche-
bauprogramm für den sozialen Wohnungsbestand zu rung. Was bedeutet dies für die neuen Länder?
entwickeln. 1. Mieter und Eigentümer brauchen Sicherheit und
Die Bundesregierung setzt vorwiegend auf die Pri- Schutz vor willkürlicher Kündigung.
vatisierung des kommunalen Wohnungsbestandes.
2. Die Wohnungen müssen bezahlbar sein.
Die Privatisierung von Altbauwohnungen ist aber mit
Problemen belastet. Der Althausbestand wird sicher 3. Der Wohnungsbestand, die Wohnungen müssen
weitgehend von den Alteigentümern beansprucht schrittweise an den Qualitätsstandard der westlichen
werden und steht daher für eine Privatisierung nicht Bundesländer herangeführt werden.
zur Verfügung. Die Gebäude in Großplattenbauweise
Die Anhebung der Mieten ist ein erster notwendiger
sind von wirklich schlechter Qualität und haben einen
Schritt. Die Begleitung durch das Wohngeld bietet die
-
großen Sanierungsbedarf. Sie zu privatisieren könnte
soziale Komponente, die verhindert, daß die Mieter
einem Betrug an den Käufern nahekommen. Wenn
überfordert werden. Es ist auf lange Zeit ein Woh-
man in den Preisen zu stark nachgibt und die Woh-
nungsbestand notwendig, der der Sozialbindung un-
nungen sogar zu einem symbolischen Preis abgibt,
terliegt, der einkommensschwachen Haushalten —
behalten die Kommunen die alten Schulden und sind
insbesondere mit Kindern — bezahlbaren Wohnraum
auf lange Zeit weniger handlungsfähig. Wer als Be-
auf Dauer zur Verfügung stellt. Und wenn ich von dem
wohner eine solche Wohnung kauft, geht möglicher-
hohen Anteil sanierungsbedürftigen Wohnraumbe-
weise ein großes Risiko ein, weil er schon bald von
standes ausgehe, so ist neben der Rekonstruktion alter
großen Instandhaltungs- und Modernisierungskosten
Wohnungssubstanz massiver Neubau in den neuen
eingeholt wird, wobei die meisten Käufer nicht beden-
Ländern notwendig.
ken, daß sie ja auch für die Gesamtsubstanz des Hau-
ses, Dächer, Außenmauern, Treppenhäuser usw., mit- Wir müssen also die Förderung des sozialen und des
verantwortlich sind. Ich glaube kaum, daß jemand in frei finanzierten Wohnungsbaus auch für die neuen
der Lage ist, zuverlässig die tatsächlichen Kosten zu Länder vorantreiben. Dazu ist es notwendig, das För-
schätzen. Deshalb bleibt für uns klar: Die Privatisie- dersystem zu überprüfen. Was wir dort brauchen
rung ist nicht ausgeschlossen, aber sie heilt nicht den ist:
defekten Wohnungsbestand. — Stetigkeit zur Auslastung der Bauwirtschaft;
Wir müssen also auf den Neubau neben der Moder-
—systematische Angleichung der Wohnungsqualität,
nisierung setzen. Eigentumsbildung in den neuen
die mit steigenden Einkommen auch in den neuen
Ländern ist dabei eine der zentralen Aufgaben. Wir
Ländern nachgefragt werden wird;
Sozialdemokraten denken dabei allerdings nicht
daran, nach Manier freier Marktwirtschaft akkumu- — eine Übersichtlichkeit für Mieter und Eigentü-
liertem Kapital eine besonders günstige Zuwachsrate mer;
zu verschaffen. Wir wollen, daß abhängig Beschäf-
— die Beachtung der Komponenten des Städtebaus
tigte, die bisher über Eigentum nicht verfügten, in die
und des Wohnumfeldes.
Lage versetzt werden, solches zu bilden. Und dies
geschieht am besten bei selbstgenutztem Wohneigen Ein Problem, das mir Sorgen bereitet, ist der Zu-
turn. Nur ein geringer Anteil der DDR-Bevölkerung stand der Energienutzung im Wohnungsbaubestand.
lebte in Eigenheimen. Hier liegt ein gewaltiges Poten- Es genügt nicht, durch die Ergänzung der Wohngeld-
tial für die wirtschaftliche Entwicklung. Wir Sozialde- regelungen einen Teil der Bet riebskosten abzufan-
mokraten fordern daher die Bundesregierung auf, mit gen. Wir benötigen Programme, die eine radikale Re-
uns gemeinsam eine massive Förderung der Eigen- duzierung der Energiekosten zum Ziel haben.
tumsbildung zu beginnen. Wer sich mit den Beheizungskosten der Verwal-
Wir benötigen eine Konzeption für die grundle- tungsgebäude, die der Bund in Berlin geerbt hat, be-
gende Umgestaltung der steuerlichen Förderung. faßt, kommt zu dem Schluß, daß eine Reinvestition in
Denn wir müssen davon ausgehen, daß die Mehrzahl die Modernisierung der Heizungsanlagen sich inner-
der Bewohner der neuen Länder über Eigenkapital halb weniger Jahre aus den ersparten Kosten amorti-
noch nicht verfügen kann. Uns kommt es auf einen siert. Insofern kann man auf das Funktionieren des
möglichst effizienten Einsatz finanzieller Mittel für Marktes vertrauen. Ich halte es dennoch für notwen-
breite Bevölkerungsschichten an, um den Erwerb dig, daß gerade für den Bereich des Wohnungsbaus
oder Bau von Eigenheimen zu ermöglichen. Die Koali- massiv die Modernisierung gefördert wird, und zwar
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2185*
so, daß nicht sämtliche Modernisierungskosten beim werden muß. Um so mehr freut es uns, daß der Bun-
Mieter als Mieterhöhung ankommen. Das würde un- desminister der Finanzen in seiner gestrigen Anspra-
ser Ziel, die Mietsteigerungen für die Mieter erträg- che den Forderungen der Opposition entgegenge-
lich zu machen, unterlaufen. kommen ist und angekündigt hat, daß er für Maßnah-
men des sozialen Wohnungsbaus in den alten Bundes-
Dies gilt insbesondere für die Bauten in Großplat- ländern bislang militärisch genutztes Gebiet preis-
tenbauweise, die so schlecht isoliert sind und die in werter abgeben will. Wir begrüßen, daß die Bundes-
ihren Heizungen so unglaublich unwirtschaft lich sind, regierung Lernfähigkeit an diesem Punkt bewiesen
daß ich Ihnen Beispiele vorführen kann, in denen ein hat, und würden uns wünschen, daß es auch anderswo
Abriß der Häuser und Neubau allemal billiger ist als so ginge.
die Sanierung. Gerade deshalb müssen wir auch dar-
auf achten, daß diese Wohnungen eben nicht in Mie- Die Bauwirtschaft war immer der Motor für die wirt-
tereigentum überführt werden mit der fatalen Konse- schaftliche Entwicklung. Dies war nach dem Kriege in
quenz, daß die Mieter sich in wenigen Jahren an ih- Westdeutschland so, dies wird gleichermaßen für die
rem Eigentum zu Tode zahlen. neuen Länder gelten. Investitionen in Wohnungsneu-
bau heißt also auch die Schaffung industrieller Kapa-
Wir freuen uns, daß der Haushaltsausschuß auf Vor- zitäten und damit die Schaffung von Arbeitsplätzen.
schlag der Bundesregierung noch in der Bereinigung Sozialer Wohnungsbau und Bau von selbstgenutztem
die Verpflichtungsrahmen für den experimentellen Wohnungseigentum wird der Treibstoff für den Motor
Wohnungs- und Städtebau aufgestockt hat. Es war Bauwirtschaft sein.
von Anfang an die K ri tik der Opposition, daß der Ver-
pflichtungsrahmen zu schmal sei. Immerhin lag der im Wir würden allerdings schlecht wirtschaften, wenn
Regierungsentwurf vorgesehene Rahmen in Höhe wir die Hilfe so verstünden, daß Kapazitäten aus dem
von 15 Millionen DM um 10 Millionen DM unter dem Westen in den Osten verlagert werden. Eine Auswei-
schon bescheidenen Betrag, der im vergangenen Jahr tung der bauwirtschaftlichen Kapazität unter Erhal-
allein für die alten Bundesländer vorgesehen war. tung dessen, was in den alten Ländern besteht, ist
notwendig und beinhaltet die Forderung, daß auch in
Experimenteller Wohnungsbau heißt die Chance den alten Bundesländern die Bauwirtschaft hinrei-
für Architekten, Bauingenieure und Städtebauer sich chend mit staatlichen Förderungsprogrammen be-
selbst an neuen Aufgaben zu erproben. Und wenn schäftigt wird. Der Bedarf ist hinreichend vorhan-
man daran denkt, daß der Großteil der Architekten in den.
Ostdeutschland im wesentlichen Plattenmontagein-
genieure gewesen sind, dann erkennt man, wie not-
wendig es ist, ihnen dort auch die Möglichkeit zu Carl-Ludwig Thiele (FDP): Zunächst möchte ich
geben, sich an den neuen Aufgaben zu erproben. Wir mich bei meinen Mitberichterstattern Dr. Schroeder
brauchen in der Tat neue Konzepte — die auch die und Dr. Diederich für die angenehme Zusammenar-
Wiederbelebung alter Erfahrungen im Westen sein beit sowie bei den Mitarbeitern des Ministeriums für
können — , um die gewaltigen Aufgaben der Rekon- die geleistete Arbeit bedanken. Sehr geehrter Herr
struktion der wunderschönen Städte und Dörfer in Dr. Schroeder, ich habe in der leider nur kurzen Zeit
Ostdeutschland zu bewältigen. unserer Zusammenarbeit Ihre Art, komplizierte und
schwierige Probleme liebevoll mit Humor darzustel-
Die schwierige wohnliche und städtebauliche Si- len, schätzen gelernt. Ich persönlich bedauere Ihr
tuation in den neuen Bundesländern macht einen er- Ausscheiden aus dem Deutschen Bundestag und
höhten Bedarf für die Forschung in diesem Aufgaben- wünsche Ihnen für Ihr neues Amt als Regierungsprä-
bereich notwendig. Wir freuen uns daher, daß die sident von Freiburg viel Erfolg.
Bundesregierung die Kritik der Opposition letztlich
auch gegen den hinhaltenden Widerstand der Koali- In den neuen Bundesländern stehen wir vor den
tionsparteien hat durchsetzen können. Trümmern einer gescheiterten sozialistischen Woh-
nungsbaupolitik. Wie sehr wurde auch in der alten
Der Bundesregierung sind mit der Vereinigung rie- Bundesrepublik von sozialistischen Träumern die
sige Bestände an Flächen und zahllose Gebäude zu- niedrige, da herabsubventionierte, Miete gelobt!
gefallen. Die Bundesregierung muß sie verantwortlich
im Rahmen der Bundeshaushaltsordnung schnellst- Die Ergebnisse sind jetzt für jedermann zu besichti-
möglich verwerten. Die zur Verfügungstellung von gen, und sie sind entsetzlich. Wenn die Miete nicht
Grundstücken am Markt durch die Bundesregierung einmal dafür reicht, die Warmkosten einer Wohnung
kann sicherlich ein erheblicher Beitrag zur Belebung zu decken, dann ist auch kein Geld für Renovierungen
der Bautätigkeit sein. und Investitionen vorhanden. Folge davon ist unter
anderem, daß die Heizkosten sich auf 3 bis 5 DM pro
Die Koalition hat den Antrag der Sozialdemokraten Quadratmeter belaufen. Man muß sich einmal vorstel-
im Haushaltsausschuß, aufgelassene Liegenschaften len, daß die Bürger der ehemaligen DDR einen der
der Bundeswehr bzw. der alliierten Streitkräfte in höchsten Energieverbräuche pro Kopf hatten. Gleich-
strukturschwachen Regionen, also in ganz Deutsch- wohl hatten sie bei weitem nicht den Komfort, den die
land, für den sozialen Wohnungsbau, für soziale Ein- Bürger in den alten Bundesländern durch Einsatz mo-
richtungen und für Indust rie- und Gewerbeflächen derner Technik, wie Thermostatventile, moderne Hei-
unter Berücksichtigung der dauernden finanziellen zungsanlagen sowie Wärmeisolierungen genießen
Leistungsfähigkeit der Erwerber mit einer erhebli- können.
chen Ermäßigung zur Verfügung zu stellen, abge-
lehnt. Wir hatten angekündigt, daß hierüber ange- Die Hauptaufgabe dieses Ministeriums liegt in den
sichts des Strukturwandels noch einmal gesprochen neuen Bundesländern. Deshalb haben wir erhebliche
2186* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991
Mittel für Maßnahmen in den neuen Bundesländern Schwaetzer, dieses Amt übernommen und gleich mit
bereitgestellt. Der Etatansatz ist um ein Viertel gestie- großem Engagement an die Arbeit gegangen sind.
gen. Hinzu kommen noch die 1,1 Milliarden DM, die Gehen Sie weiter auf Ihrem Weg — wir werden Sie
in diesem Jahr aus dem Gemeinschaftswerk Auf- unterstützen!
schwung Ost für den Bereich des Wohnungs- und
Städtebaus zur Verfügung stehen. Damit wird eine Hans-Wilhelm Pesch (CDU/CSU): Die Vorstellun-
solide Basis dafür geschaffen, daß der Bund seiner
gen der Baupolitiker in diesem Hause sind oft nicht
sozialen Verantwortung für die Wohnungsversorgung
deckungsgleich mit den Vorstellungen der Finanz-
und eine Verbesserung der Wohnsituation in den bzw. Haushaltspolitiker. Ich möchte aber vorweg das
neuen Bundesländern nachkommen kann. sagen, was ich schon im März dieses Jahres an glei-
Im Bereich des Wohnungsbaus gibt es erhebliche cher Stelle gesagt habe, daß wir, was den Einzelplan
Veränderungen für die Bürger in den neuen Bundes- 25 angeht, uns in einer außergewöhnlichen Situation
ländern. Es muß aber Verständnis für die Regelungen befinden, die wohl niemand in diesem Hause bestrei-
geschaffen werden, die jetzt in den neuen Bundeslän- ten kann, und daß dieser vorliegende Haushalt eine
dern eingeführt werden. Deshalb haben wir die Mittel möglichst schnelle Angleichung der Verhältnisse der
für Öffentlichkeitsarbeit drastisch erhöht. neuen Bundesländer an die Gegebenheiten der alten
Bundesländer möglich macht. Ich möchte feststellen,
Was wir auch brauchen, ist eine breite Eigentums-
daß die Ansätze im vorliegenden Einzelplan 25 den
bildung, besonders in den neuen Bundesländern.
Zielvorstellungen, jährlich rund 300 000 neue Woh-
Dazu werden zum Beispiel die Privatisierungszu-
nungen zu errichten, insoweit Rechnung tragen, wenn
schüsse beitragen, für die in diesem Jahr 200 Millio-
denn die Kapazitäten in der Bauindustrie im geforder-
nen DM im Rahmen des Gemeinschaftswerks Auf-
ten Umfange überhaupt noch vorhanden sind bzw.
schwung Ost zur Verfügung gestellt werden. Wich-
bürokratische Genehmigungsverfahren diesen Ziel-
tige andere wohnungspolitische Maßnahmen zur För-
vorstellungen nicht hinderlich im Wege stehen, wie
derung des p rivaten Wohnungsbaus wie die steuerli-
manche Erkenntnisse in den letzten Monaten über-
chen Anreize und Zinsverbilligungsprogramme kom-
deutlich gezeigt haben. Diese Feststellung darf ich
men ebenfalls in diesem Haushalt zum Ausdruck.
hier mit Fug und Recht vortragen, wenn man aus dem
Wesentlicher Bestandteil des Konzepts „Vorrang im April vorgelegten Geschäftsbericht der Bundes-
für p rivaten Wohnungsbau" ist das Wohngeld. Es bil- bank zitieren darf, der klar sagt: „Mit der Expansion
det einen gewichtigen Posten im Haushalt des der Nachfrage vermochte die Bauproduktion freilich
BMBau. Mit den beiden Wohngeldnovellen von 1990 wiederum nicht Schritt zu halten. "
hat die Bundesregierung auf die Mietentwicklung
Ich will nicht verkennen, meine sehr verehrten Da-
reagiert und entsprechende Anpassungen des Wohn-
men und Herren, daß dem Wohnungssuchenden mit
geldes vorgenommen. Für die neuen Bundesländer
Statistiken und dem Aufzeigen von Bauanträgen bzw.
haben wir ein Sonderwohngeld zum 1. Oktober 1991
Baugenehmigungen so lange nicht geholfen ist, bis er
eingeführt, das den dringend notwendigen Abbau der
sein Wohnungsproblem gelöst hat. Das bedarf also —
Mietenreglementierung und damit der Bewirtschaf-
und das möchte ich hier besonders feststellen — wei-
tungssubventionen sozial abfedern wird. Für dieses
terer haushaltspolitischer Anstrengungen, und das
Wohngeld wird der Bund im nächsten Jahr 1,5 Milli-
gilt weit über diesen Etat '91 hinaus, um Angebot und
arden DM bereitstellen.
Nachfrage auf dem Wohnungsmarkt in ein für alle
Bedauerlicherweise haben die Länder ein früheres Seiten erträgliches Maß zu bringen. Ich darf hier fest-
Inkrafttreten der Mietenverordnung und damit einen stellen, daß der Verpflichtungsrahmen im sozialen
früheren Subventionsabbau verhindert. Sie, die Kom- Wohnungsbau auf 2,76 Milliarden DM gesteigert
munen und die Bürger der neuen Bundesländer, sind wurde, dabei aber nicht zu übersehen ist, daß der
es jetzt, die hieraus die Konsequenzen tragen müssen, Anteil der alten Bundesländer auf 1,76 Milliarden DM
da die erhöhten Mieteinnahmen erst später für Reno- zurückgeführt wurde. Das ist haushaltspolitisch ver-
vierungsarbeiten zur Verfügung stehen. ständlich, kann die Wohnungsbaupolitiker aber si-
cherlich nicht zufriedenstellen, da sich die Probleme
Die Wohnungspolitik ist einer der Bereiche, den die
in den alten Bundesländern gegenüber 1990 nicht
Bürger besonders aufmerksam beobachten. Denn
verringert haben, sondern sich in den Ballungsräu-
hiervon ist jeder betroffen. Die Bürger werden uns
men sogar noch verstärkt darstellen. Hier muß es in
daran messen, ob wir unser Ziel einer hohen Woh-
Zukunft unser ganzes Bemühen sein, für die alten
nungsbautätigkeit zum Abbau der Wohnungsmarkt-
Bundesländer zumindestens die alten Ansätze von
engpässe erreichen.
rund 2 Milliarden DM zu erreichen. Das gleiche gilt
Die Entwicklung in den ersten drei Monaten des übrigens auch für die Städtebauförderung, wenn auch
Jahres 1991 bestätigt, daß wir auf dem richtigen Weg hier die Möglichkeit des Rückfließens von in den
im Wohnungsbau sind. Dieses Ziel werden wir auch neuen Bundesländern nicht in Anspruch genomme-
bei den in Kürze anstehenden Überlegungen für das nen Städtebauförderungsmitteln den alten Bundes-
Haushaltsjahr 1992 im Auge haben. ländern die Chance eröffnet, so manche wichtige, fer-
tig geplante oder schon in Ang riff genommene Städ-
Meine Rede habe ich mit persönlichen Worten be-
gonnen und möchte auch damit enden: Das Amt eines tebauförderungsmaßnahme dann auch zu Ende füh-
ren zu können.
Wohnungsbauministers direkt nach der Erlangung
der deutschen Einheit zu bekleiden, ist angesichts der Sie sehen, meine Damen und Herren — und ich sage
vor uns allen stehenden Probleme ein gewaltiger Auf- dies hier ganz klar —, ich stelle mich nicht auf die
trag. Ich freue mich, daß Sie, Frau Dr. Adam- Seite derjenigen, die in den Ausschüssen oder auch
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2187*
heute hier in dieser Debatte Mehrausgaben in Milli- nungspolitischen Situation fehl am Platze. Hiervon
ardenhöhe fordern, sich gleichzeitig eminent gegen sollte man die Finger lassen. Die breite Öffentlichkeit
eine hohe Staatsverschuldung wenden und Steuerer- denkt bei Subventionabbau an alles mögliche, aber
höhungen von sich weisen. Im Gegensatz zu den oft sicherlich erst zuletzt an den Wohnungsbau. Es gibt
übertriebenen finanziellen Anforderungen der Woh- fürwahr lohnendere und sinnvollere Ziele, Subventio-
nungspolitiker der SPD, die ja, wenn meine Informa- nen abzubauen, als gerade in diesem Bereich. Wenn
tionen richtig sind, im Haushaltsausschuß selbst von wir also breitere Streuung des p rivaten Eigentums
ihren eigenen Vertretern nicht aufrechterhalten wur- wollen — und das ist nach wie vor unser Wille — dann
den, sind unsere Forderungen für die zukünftigen müssen wir, gerade für die Einkommensschwächeren,
Haushalte maßvoll, der Lage und den wirklichen Be- die finanziellen Anreize im Wohnungsbau erhalten
dürfnissen angepaßt und gefährden in keiner Weise oder sie dort schaffen, wo sie noch nicht vorhanden
die Stabilität der zukünftigen Haushalte. Die CDU/ sind. Diese Überlegungen werden sicherlich bei so
CSU-Fraktion orientiert sich hier nicht an Utopien, manchem Ordnungspolitiker wenig Anklang oder gar
nicht an von vornherein zum Scheitern verurteilten Unverständnis finden, aber sie sind trotzdem notwen-
finanzpolitischen Vorstellungen, sondern versucht dig und in ihrer Zielsetzung, was die Bewältigung der
nüchtern und realistisch das eben Machbare auf den anstehenden wohnungspolitischen Probleme angeht,
Weg zu bringen. richtig. Die sozialpolitischen Komponenten müssen
gestärkt werden bzw. gestärkt bleiben, einerseits im
In diesem Zusammenhang möchte ich einige Mah- sozialen Wohnungsbau und andererseits beim Wohn-
nungen denjenigen mit auf den Weg geben, die dabei geld, wobei das Wohngeld als Subjektförderung die
sind, den Subventionswald zu durchforsten, und da- sozial gerechteste Leistung ist, weil es nicht statisch
bei auch sicherlich die direkten oder indirekten För- ist, sondern sich flexibel den jeweiligen Bedürfnissen
derungen beim Wohnungsbau ins Auge gefaßt haben. anpaßt.
Ich kann nur warnen.
Ich bin hier nur auf einige wenige, aber in meinen
Alle Umfragen der letzten Wochen zeigen,- daß der Augen sehr gewichtige Probleme eingegangen und
Wohnungsbau und die damit verbundenen Probleme darf zum Schluß sagen, daß wir bereit sind, konse-
bei der Bevölkerung an erster Stelle rangieren. Es sind quent den von der CDU/CSU als richtig erkannten
inzwischen nicht mehr die bisher allgemein gängigen Weg — Baupolitik mit Augenmaß, mit dem Blick für
Subventionsthemen wie Kohle, Landwirtschaft oder das Machbare — weiterzugehen. Wir stimmen dem
die Fragen der Arbeitslosigkeit schlechthin, die die Einzelplan 25 zu.
Bürger unseres Landes bewegen, sondern die Frage:
Wie geht es im Wohnungsbau weiter? Die Antwort
kann nur lauten, daß für die CDU/CSU die Maxime Gabriele Iwersen (SPD): Als der Eiserne Vorhang so
auch weiterhin gilt, neben der Förderung des sozialen viel Rost angesetzt hatte, daß er löchrig wurde, setzte
Wohnungsbaues die breitestmögliche Streuung des schlagartig eine Völkerwanderung von Ost nach West
privaten Eigentums zu erreichen. Die hier in letzter ein, die wohl ein wesentliches Kennzeichen des letz-
Zeit unleugbar errungenen Erfolge, was sowohl die ten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts bleiben wird.
Baugenehmigungen wie die Fertigstellung von Woh-
Da überwiegend Menschen zu uns ziehen, denen
nungen angeht, nähern sich unseren Zielvorstellun-
wir schon seit 40 Jahren versichert haben, daß sie zu
gen, dürfen uns aber keinesfalls in unseren Anstren-
uns gehören, mußte die Antwort in einer verstärkten
gungen erlahmen lassen, noch mehr unterstützend
Wohnungsbautätigkeit liegen, um zumindest die rela-
einzugreifen, um der immer noch riesigen Nachfrage
tiv bescheidenen Ansprüche der Neubürger befriedi-
nach Wohnraum nachzukommen. gen zu können. Dazu kommt der Wohnraumbedarf,
Die Erweiterung des § 10e von bisher 300 000 DM der auf veränderte Lebensverhältnisse der Alt-Bun-
auf jetzt 330 000 DM abschreibungsfähige Bausumme desbürger zurückzuführen ist:
bei Eigenheimen oder Eigentumswohnungen oder die Nach einer 40jährigen langsamen Wachstumspe-
Erhöhung des sogenannten Baukindergeldes auf riode war der statistische Durchschnitts-Wohnraum-
1 000 DM je Kind sind positive Zeichen und Schritte in bedarf der Bundesbürger von 14 qm pro Person auf
die richtige Richtung. Die mögliche Kappung der Ein- 36 qm pro Person gestiegen. Als die Einkommen sich
kommensobergrenzen, wodurch sehr einkommens- in den 80er Jahren nicht mehr wesentlich erhöhten,
starke Eigenheimbauer nicht mehr in den Genuß des ließ vorübergehend die Nachfrage nach größeren
§ 10 e kommen, könnte man als Baupolitiker leichter Wohnungen nach. Der Anstieg der Pro-Kopf-Fläche
mittragen, wenn man wüßte, daß die dadurch einge- kam zum Stillstand. Deshalb schien auch die allge-
sparten Mittel den einkommensschwachen Bauwilli- meine Nachfrage nach Wohnungen nicht mehr so ak-
gen in irgendeiner Form wieder zugute kommen wür- tuell zu sein.
den. Wir brauchen ein neues besseres Förderkonzept.
Das würde sicher den Eigenheimbau bzw. den Erwerb Die Regierung Kohl erklärte den Wohnungsmarkt
von Eigentumswohnungen beleben und hätte neben für gesättigt und beschloß, die Fürsorge des Staates
der sozialpolitischen Komponente noch den woh- bei der Wohnraumbeschaffung für Einkommens-
nungsbaupolitischen Effekt der Schaffung von zusätz- schwache und junge Familien praktisch einzustel-
lichen Wohnungen, weil ja viele Tausende, die ihr len.
Eigenheim bzw. ihre Eigentumswohnung beziehen,
Hier lag bereits ein Kardinalfehler dieser Bundesre-
eine Wohnung freimachen.
gierung. Sie erzeugte durch konsequenten Rück-
Gedankenspielereien beim Subventionsabbau im schritt der Förderung des Sozialen Wohnungsbaus ab
Wohnungsbau sind in der augenblicklichen woh 1983 einen kontinuierlich wachsenden Fehlbestand
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an Wohneinheiten, denn sie konnte nicht verhindern, Wohneinheiten in drei Jahren zu schaffen, nicht annä-
daß sich die Zahl der Haushalte vergrößerte: Immer hernd erreicht werden kann.
mehr junge Menschen, die für sich „Eigene Vier
Wände" verlangen, geschiedene Ehen, alleinerzie- Besonders alarmierend ist der Rückgang von Ein-
familienhausneubauten: Mit 127 212 Wohnungen
hende Mütter oder Väter, alte Menschen, die dank
ambulanter Pflege allein in ihren relativ großen Woh- wurden 1990 bereits 10 % weniger genehmigt als im
Jahr zuvor, und nur 93 549 wurden wirklich gebaut.
nungen bleiben, auf der einen Seite und ein jährlicher
Auch bei den zur Selbstnutzung gebauten Eigentums-
Verlust von 60 000 bis 80 000 Wohneinheiten des Alt-
wohnungen konnte 1990 nur eine Zahl von 40 000
baub estands durch Abbruch, Zusammenlegung und
Wohneinheiten fertiggestellt werden. Das sind 30 %
Umnutzung auf der anderen Seite führten noch vor
weniger als 1989.
dem Beginn der neuen Wanderungsbewegung zu ei-
nem von der Regierung völlig falsch eingeschätzten Wenn das große Potential der p rivaten Bauherren,
Wohnungsbedarf. die für die Selbstnutzung bauen wollen, aktiviert wer-
den soll, dann muß der § 10e des Einkommensteuer-
Bundesbauminister Oscar Schneider hat in seiner
gesetzes endlich umgewandelt werden, wie es die
Prognose des Jahres 1988 von einem Bedarf von
SPD fordert, damit die Fördersumme einkommens-
200 000 bis 220 000 Wohneinheiten gesprochen.
unabhängig von der Steuerschuld abgezogen werden
Seine Nachfolgerin, Frau Hasselfeldt, hoffte, mit dem
kann. Nur dadurch werden untere und mittlere Ein-
Doppelten, also ca. 400 000 Wohneinheiten, auskom-
kommensgruppen wirksam gefördert.
men zu können.
Das Ergebnis war nicht nur ein ständig wachsendes Offensichtlich kann sich aber die FDP, die immer
einen anderen Klientel im Auge hat — als gerade die
Defizit an Wohnungen, sondern auch ein Abbau von
Einkommensschwachen —, damit nicht anfreunden,
200 000 Arbeitsplätzen im Bauhauptgewerbe der al-
obwohl dieser Vorschlag nicht nur von der SPD, son-
ten Bundesrepublik.
dern auch von den Bausparkassen, dem Verband der
Denn die Prognosen der Regierung sind Signale für Deutschen Volksheimstätten und sogar von Teilen der
die Bauwirtschaft, ob es sich lohnt, weiter auszubilden CDU-Fraktion gutgeheißen wird.
und Betriebe über Durststrecken hinwegzuretten. Die
In diesem Punkt setzt die SPD auf die Dialogfähig-
falsche Bedarfsschätzung in den 80er Jahren hat da-
keit der Kolleginnen und Kollegen im Bauausschuß,
bei genausoviel negativen Einfluß auf die Bau- und
damit eines Tages doch noch eine wirksame Hilfe für
Wohnungswirtschaft ausgeübt wie die mageren Zah-
bauwillige Familien zustande kommt.
len der mittelfristigen Bau- und Investitionstätigkeit
oder die Beerdigung 1. Klasse für den Sozialen Woh- Schließlich steht der Förderung auch ein erhebli-
nungsbau. ches Kapital gegenüber, das bei konsequenter Förde-
rung des Wohneigentums für die unteren Einkom-
Heute stehen wir vor einem Wohnungsfehlbestand
mensgruppen zum Abbau des Wohnungsfehlbestan-
von mindestens 1 Million Wohneinheiten. Schätzun-
des beitragen kann.
gen des Bonner Städtebauministeriums sehen einen
Bedarf von 1,5 Millionen und das Göttinger Institut für Unsere Kritik fasse ich so zusammen:
Immobilienforschung spricht sogar von 1,7 Millionen
Erstens. Die vorgesehenen Mittel für den Sozialen
Wohneinheiten, die auf dem Gebiet der alten Bundes-
Wohnungsbau in Höhe von 1,76 Milliarden für die
republik fehlen. Dazu kommt ein Fehlbestand von
alten Länder plus 40 Millionen für die neuen Länder
800 000 bis 1 Million Wohnungen in den neuen Län-
sind nicht ausreichend. Auch die ursprünglich vorge-
dern.
sehenen 2,2 Milliarden für den Westen reichen nicht
Dem steht aber leider eine für den Bedarf der näch- aus. Die SPD bleibt bei ihrer Forderung, die Bundes-
sten Jahre gar nicht ausreichend leistungsfähige Bau- finanzhilfe für den Sozialen Wohnungsbau auf
wirtschaft gegenüber. 4,5 Milliarden zu erhöhen.
Die Kapazitätsausweitung und die verstärkte Quali- Das ist kein hinausgeworfenes Geld, sondern Geld,
fizierung der Bauwirtschaft im Osten erscheinen das direkt in Arbeit umgesetzt werden kann. Es ist
wichtigstes Gebot der Stunde zu sein, wenn die Bau- besser angelegt als in der Finanzierung von Arbeits-
wirtschaft ihre Funktion als volkswirtschaftlicher Mo- losigkeit.
tor in der neuen Bundesrepublik erfüllen will.
Zweitens. Die schwerpunktmäßige Wohnungsbau-
Betrachten wir erst die jüngsten Fertigstellungszah- förderung über den sogenannten dritten Weg führt zu
len, dann wird erst recht klar, daß die Regierung nicht einer zu kurzen Preisbindung der Wohnungen, so daß
einmal annähernd die selbstgesteckten Ziele erreicht diese schon nach wenigen Jahren nicht mehr denjeni-
hat, nämlich die Fertigstellung von 1 Million Wohn- gen zugute kommen werden, die sich ohne öffentliche
einheiten in den drei Jahren von 1990 bis 1992. Hilfe nicht mit Wohnraum versorgen können. Das ist
für Sozialdemokraten der falsche Weg.
Während 1989 238 617 Wohneinheiten fertig wur-
den, konnten für 1990 zwar 386 648 Baugenehmigun- Drittens. Ohne Änderung des § 10e erscheint eine
gen vorgezeigt werden, aber nur 256 738 Wohnungen Neubelebung des Eigenheimbaus unmöglich. In den
wurden wirklich fertig, und davon müßten mindestens neuen Ländern wird diese Förderung ohnehin keinen
60 000 Abbruch- und Umwandlungswohnungen ab- Erfolg haben, weil die geringen Einkommen keinen
gezogen werden. Spielraum für Abschreibung lassen.
Diese Zahl zeigt, daß das wohnungsbaupolitische Die von der FDP vorgeschlagene Abschaffung der
Ziel der Regierung, nämlich 1 Million zusätzliche steuerlichen Wohneigentumsförderung für Bezieher
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2189'
von Einkommen über 120 000 bzw. 240 000 DM zu 1992 werden 613,4 Millionen in diesem Karree hier
streichen ist kein Beitrag zur Wohnungsbaupolitik, verbaut: Läuft das alles unter dem Slogan: „Teilung
sondern ein weiterer Angriff auf die kleinen Baufir- durch Teilen überwinden"?
men, die auf Eigenheimbau spezialisiert waren. Die Es gibt auch Kolleginnen und Kollegen, die hervor-
SPD kann das nicht mitmachen. heben, daß jede D-Mark nur einmal ausgegeben wer-
Das Ziel sozialdemokratischer Wohnungsbaupolitik den kann. Das stimmt vermutlich, denn die am Rhein
ist: Vergrößerung des Wohnungsbestands mit bezahl- verbauten Millionen werden weder Görlitz noch Ost-
baren Mieten bei gleichzeitiger Rettung der Städte. Berlin erreichen.
Also: Kein Wohnungsbau ohne vernünftig geplan- Aber zurück zu den großzügig bemessenen
ten Städtebau! Kein plötzlicher Rückschritt bei der 180 Millionen für den städtebaulichen Denkmal-
Städtebauförderung für die alten Länder! Und für die schutz in den fünf neuen Ländern.
neuen Länder kein Entzug der zum Jahresende noch Diese Summe können Sie z. B. der Stadt Görlitz
nicht gebundenen Städtebaufördermittel, falls Pla- allein zur Verfügung stellen, und es wäre bestimmt
nung und Antragsverfahren noch nicht abgeschlossen keine übertriebene Hilfe bei der Rettung dieser f anta-
sind, sondern besser eine Übertragung dieser Haus- stischen alten Stadt, die genauso wie Halberstadt oder
haltsmittel auf das kommende Jahr! Stralsund — um nur einige der um die Wiedergewin-
Jetzt ein Wort zum Thema „Städtebaulicher Denk- nung ihrer historischen Identität kämpfenden Städte
malschutz" in den neuen Ländern: zu nennen — auf die Hilfe des Bundes angewiesen ist,
um zu retten, was fast schon nicht mehr zu retten
Bei der Erneuerung der Städte und Dörfer, der bela- ist.
steten Umwelt, der Gewerbestruktur und des Woh-
nungsbestands der letzten 30 Jahre nimmt die Ret- Die hier zur Verfügung gestellten Mittel genügen
tung der historischen Bausubstanz eine herausra- weder zur Rettung auch nur einer einzigen histori-
gende Rolle ein. Während die Neubaugebiete im schen Altstadt, noch können sie eine neue Perspektive
Osten und im Westen geeignet sind, die Trennung für die vielen Menschen eröffnen, die gebraucht wer-
und die unterschiedliche kulturelle Entwicklung der den, um Rekonstruktion oder Sanierung der vom end-
beiden deutschen Staaten zu dokumentieren, wird die gültigen Verfall bedrohten Bauwerke auszuführen.
Wiederherstellung der historischen Städte und Dörfer Während zur Zeit noch eifersüchtig darauf geachtet
die gemeinsame Herkunft, den zusammenhängenden wird, daß kein Auftrag aus der jeweiligen Region ab-
Kulturraum sichtbar machen, denn das Bild der Städte gezogen wird, haben die ersten Baudezernenten und
ist ein Spiegelbild der Gesellschaft, die in diesen Städ- Stadt- oder Landeskonservatoren bereits erkannt: Das
ten lebt bzw. diese einmal gestaltet hat. Problem wird im Fachkräftemangel liegen.
Für die Bewohner in den neuen Ländern wird das Und diesen behebt man am besten, indem der Staat
ein wesentlicher Gesichtspunkt, vielleicht auch eine sich zu einem zuverlässigen Vertragspartner auf
Hilfe sein auf ihrer Suche nach einer neuen Identität lange Sicht macht; so zuverlässig, daß jedem klar
als Bundesbürger, denn die D-Mark allein stellt keine wird: Dieser Staat hat sich das Ziel gesetzt, das kultu-
gesellschaftliche Einheit her. relle Erbe der vergangenen Jahrhunderte zu erhalten;
und das ist eine Daueraufgabe.
Aber die im Haushalt vorgesehenen 80 Millionen
für einen Zeitraum von fünf Jahren sind ein trauriges So etwas muß aber auch in einem Bundeshaushalts-
Beispiel einer Hilfe, die nicht einmal ein Tropfen auf plan zum Ausdruck kommen. Sonst entsteht der Ein-
den heißen Stein ist. Ohne die 100 Millionen, die zu- druck: Diese Kurzzeitprogramme sind nur auf den
sätzlich aus dem Programm „Aufschwung Ost" dazu- Zeitraum von einer Wahl zur nächsten angelegt.
kommen, bräuchte man gar nicht an den Entwurf ei- Dieses zur Schau gestellte Engagement genügt
nes bundeseinheitlichen Bauschildes zu denken: nicht, um darauf neue Existenzen aufzubauen. Es
„Hier baut die Bundesrepublik Deutschland..". führt höchstens zur Preistreiberei, weil für einen kur-
180 Millionen, das hört sich großartig, geradezu zen Zeitraum Angebot und Nachfrage den Markt re-
großzügig an. Aber zum Vergleich bitte ich Sie, das geln, ohne die Kapazität zu erhöhen.
Kapitel „Hochbaumaßnahmen im Raum Bonn" zu be- Das ist es, was ich mir wünsche: ein gesundes Bau-
trachten. handwerk, eine gesunde Bauwirtschaft, die die not-
Ich greife nur ein Beispiel heraus, weil die Zahl wendigen Bauleistungen erbringen kann, die dieser
gerade so gut paßt: Für 1991 sind nur für die Baustel- Staat, diese Gesellschaft braucht, um zeitgemäß leben
len in der unmittelbaren Umgebung des Wasserwerks und arbeiten zu können in Städten, die nicht zu einer
zwischen Dahlmannstraße, Görresstraße, Strese- Gefahr für die Umwelt, für die Gesundheit ihrer Be-
mannufer und Kurt-Schumacher-Straße 180 Millio- wohner werden, in Städten, die wir mit gutem Gewis-
nen veranschlagt, allerdings nur als eine Jahresrate sen nachfolgenden Generationen überlassen kön-
aus einem Investitionsvolumen von 994 Millionen für nen.
neun Jahre. Diesen Ansprüchen wird der vorgelegte Einzel-
Interessant ist, daß die 180 Millionen in diesem plan 25 leider nicht gerecht. Die SPD wird ihn deshalb
Haushaltsjahr eigentlich nur den Ausdruck „An- ablehnen.
schubfinanzierung" verdienen, denn der weitaus
größte Brocken aus diesem Gesamtprogramm „Bau- Dr. Ilja Seife rt (PDS/Linke Liste): Im Verfassungs-
maßnahmen für den Deutschen Bundestag" wird erst entwurf des Kuratoriums für einen demokratisch ver-
im nächsten Jahr benötigt. faßten Bund Deutscher Länder wird ein Artikel 13 a
2190* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991
vorgeschlagen, in dem das Recht auf Wohnung ver- neue Wohnung! Niemand darf zum Kauf seiner Woh-
brieft werden soll. Wohl wissend, daß einige Abgeord- nung um den Preis unbezahlbarer Schulden gedrängt
nete dieses Hohen Hauses mit feiner Ironie das Recht oder gar genötigt werden.
auf Wohnraum mit dem Recht auf Sonnenschein
gleichsetzen, ist die PDS/Linke Liste unbedingt dafür, Mehr öffentliche Mittel für den Wohnungsbau und
dieses Menschenrecht als Staatszielbestimmung fest- für die Förderung menschenwürdigen Wohnens für
zuschreiben. Sie wissen aus der mehr als 40jährigen die einkommensschwächeren Schichten stehen an-
Geschichte der BRD selbst sehr gut, daß die Markt- geblich wegen der komplizierten Haushaltslage des
wirtschaft allein ein menschenwürdiges Wohnen für Bundes nicht zur Verfügung. Ich frage Sie, wie es
alle nicht zu leisten vermag. dann sein kann, daß Besitzer und Makler die Gewinne
aus der Preisexplosion auf dem Grundstücksmarkt der
ehemaligen DDR in Milliardenhöhe einstreichen,
Obdachlosigkeit in den alten Bundesländern und ohne dafür Leistungen erbracht zu haben. Wir schla-
das Mißverhältnis von anspruchsberechtigten Haus- gen vor, daß die Bundesregierung beauftragt wird, ein
halten und verfügbaren Sozialwohnungen resultieren Gesetz einzubringen, damit diese Gewinne hoch ver-
eben nicht aus der Existenz der DDR, sondern aus der steuert werden und der öffentlichen Hand zur Ge-
kapitalorientierten Politik der jetzigen Regierungs- währleistung des Rechts auf Wohnraum für alle zur
koalition. Verfügung stehen. Das wäre endlich mal eine Steuer,
die nicht dem kleinen Mann in die Tasche greift oder
Die Menschen in den neuen Bundesländern leiden als Investitionshemmnis wirkt, sondern große finan-
gegenwärtig nicht nur unter den Folgen einer verfehl- zielle Mittel für den Aufbau in Ost und West frei-
ten Wohnungsbau- und Mietpolitik der DDR, sondern setzt.
auch unter fehlenden Konzepten für eine sozial ver-
trägliche Mietentwicklung und für Fortschritte beim
sozialen Wohnungsbau der Bundesregierung. Ob- Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer, Bundesministerin
wohl zweifellos viel zu tun ist, werden doch
- in der Tat für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau: Der
gegenwärtig weniger Wohnungen neu gebaut oder Haushalt 1991 des Bundesbauministeriums ist ein Re-
modernisiert als in DDR-Zeiten. Viel zu geringe Mittel kordhaushalt: Die Ausgaben steigen um über ein
des Bundes, ungeklärte Eigentumsverhältnisse und Viertel auf 8,1 Milliarden DM. Hinzu kommen noch
die bundesdeutsche Bürokratie hemmen trotz der ge- die 1,1 Milliarden DM, die in diesem Jahr aus dem
genteiligen Beteuerungen der Bundesregierung ei- Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost für den Bereich
nen wirklichen Aufschwung. des Wohnungs- und Städtebaus zur Verfügung ste-
hen.
Übrigens werde ich den Eindruck nicht los, daß sich Diese Zahlen sind Ausweis eines anhaltend hohen
Herr Möllemann bei seinen Verhandlungen zur Nach- und weiter steigenden Engagements des Bundes zur
besserung der Verträge zum Wohnungsbau in der Verbesserung der Wohn- und Lebenssituation in den
Sowjetunion mehr um das Wohl der Bauriesen der Alt Städten und Gemeinden ganz Deutschlands.
BRD als um das Überleben der Bauwirtschaft in den
neuen Bundesländern sorgt. Überall in unserem Land sind große wohnungs- und
städtebauliche Aufgaben zu bewältigen. Dabei gibt es
große Unterschiede in der Ausgangssituation. Schon
Im Haushaltsentwurf sind weniger als 2 % der Aus- das optische Erscheinungsbild der Städte zeigt: Im
gaben des Bundes für den Geschäftsbereich Raum- Osten gibt es enorm viel zu tun, enorm viel nachzuho-
ordnung, Bauwesen und Städtebau vorgesehen. Sind len und wieder aufzubauen, was im wahrsten Sinne
Sie, Frau Adam-Schwaetzer, tatsächlich der Meinung, des Wortes systematisch zerstört worden ist. Deshalb
daß Sie mit diesem Etat einen wirklichen Beitrag zur halte ich es nach wie vor für richtig, wenn wir jetzt —
Bekämpfung der Wohnungsnot leisten können?
zum Beispiel im Bereich des Städtebaus — einen stär-
keren Akzent in den neuen Ländern setzen. Wenn wir
Der Hinweis auf die Verantwortung der Länder und da nämlich als Bund nicht helfen, kann vieles, was
Kommunen ist angesichts ihrer finanziellen Lage we- nötig ist, einfach nicht in Gang kommen. Und deshalb
nig hilfreich. Wir sind dafür, daß bedeutend mehr öf- fällt unsere finanzielle Hilfe dort auch so massiv
fentliche Mittel für den sozialen Wohnungsbau, für aus.
Stadtsanierung und Infrastruktur in den neuen Bun-
desländern zur Verfügung gestellt werden, ohne daß Aber auch im Westen hilft der Bund, wo er kann.
in den alten Bundesländern auch nur eine einzige Viel ist hier bereits erreicht worden — aber viel ist
Sozialwohnung weniger gebaut wird. Der Auffassung noch zu tun. 1990 sind mit 257 000 Wohnungen knapp
der SPD stimme ich zu, daß statt einer Umschichtung 8 % mehr Wohnungen fertiggestellt worden — zu we-
der Mittel eine kräftige Aufstockung vonnöten ist. nig, wie auch ich finde, um bereits spürbare Entla-
stung zu bringen. Die Aussichten sind jedoch gut:
387 000 Genehmigungen in 1990 sind zwar noch keine
Aber auch zu den Prioritäten im Einsatz der Mittel
möchte ich Widerspruch einlegen. Das betrifft vor al- fertigen Wohnungen. Aber fast alle werden es, und
lem die Förderung der Privatisierung kommunaler die Perspektiven zeigen, daß es mit der Wohnungs-
Wohnungen, wobei der Erlös nicht den Kommunen bautätigkeit allein für das alte Bundesgebiet wieder in
Richtung auf die Marke von 400 000 Einheiten zu-
zur Sanierung des Wohnungsbestandes zugute kom-
geht.
men soll, sondern für die Bezahlung dubioser Alt-
schulden zu verwenden ist. Durch diese Art von Woh- Wenn es heute nicht schneller geht, weil die Bau-
nungseigentumsförderung entsteht keine einzige wirtschaft mit ihren Kapazitäten nicht alles aus dem
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2191 '
Stand schafft, so hilft zusätzliche Programmhektik gar des Wohngeldes besteht, trifft tagtäglich im Bundes-
nichts — im Gegenteil: Die Wohnungsbaupolitik muß bauministerium ein unverändert gewaltiger Zustrom
mittelfristig ausgerichtet sein. Andernfalls würde sie von über 1 000 Eingaben aus den neuen Ländern
sehr schnell in einer Sackgasse landen. Das heißt auf ein.
der anderen Seite zugleich: eine Einschränkung von
Förderanreizen im Wohnungsbau können wir über- Die Bürger wollen wissen, wo sie finanzielle Unter-
haupt nicht brauchen. Das sage ich ganz bewußt mit stützung für Modernisierungs- und Sanierungsmaß-
Blick auf die Situation im Eigenheimbereich. Die För- nahmen erhalten können; sie wollen Klarheit über die
derung von Wohneigentum ist kein Subventionsstein- künftigen Mietenregelungen und wollen wissen, wel-
bruch. Gefragt ist vielmehr eine Lösung, wie wir die che soziale Absicherung sie erhalten. Und Städte und
Wohneigentumsförderung effizienter gestalten kön- Gemeinden fragen nach Städtebaufördermitteln und
nen. Dies bereiten wir vor. bitten um Unterstützung in bauordnungs- und bau
planungsrechtlichen Fragen.
Unsere Politik zur Verbesserung der Wohnungs-
situation in ganz Deutschland ist unauflöslich ver- Die weitaus meisten Schreiben machen deutlich,
knüpft mit einer wirksamen Politik der sozialen Siche- daß der Wille zum Neubeginn vorhanden ist. Aber
rung. Die Bundesmittel für den sozialen Wohnungs- hohe Informationsdefizite bremsen hier noch den
bau werden auf insgesamt 2,76 Milliarden DM aufge- dringend erforderlichen Erneuerungsprozeß. Hier ist
stockt und mit Hilfe des dritten Förderweges effizien- enorm viel Aufwand und Arbeit erforderlich — ein
ter eingesetzt. Aufwand, der von manchem heute immer noch unter-
Zusammen mit den Landes- und Kommunalmitteln schätzt wird.
können damit im Westen erneut rund 100 000 Bewilli-
gungen erteilt und im Osten etwa 30 bis 40 000 Woh- Das Bundesbauministerium hilft, wo es nur kann —
nungen modernisiert und neu gebaut werden. in Bonn, in Berlin und vor Ort. Die Beamten des Bau-
- ministeriums arbeiten mit bewundernswertem Ein-
Außerdem steigern wir unsere Leistungen beim satz, aber sie sind kaum noch in der Lage, den riesigen
Wohngeld erheblich. Im Haushalt 1991 spiegelt sich Arbeitsanfall zu bewältigen. In der gesamten Abtei-
noch nicht in voller Breite wider, was wir im Wohngeld lung Wohnungswesen in Bonn stehen derzeit nur
für die neuen Bundesländer tun. Erst 1992 schlägt die rund 50 Mitarbeiter zur Verfügung für die Mithilfe bei
Neuregelung voll durch. Im kommenden Jahr werden der Bewältigung einer gesamtstaatlichen Aufgabe,
dann Bund und Länder im Beitrittsgebiet insgesamt die in ihrer Dimension durchaus mit den Herausforde-
3 Milliarden DM an Wohngeldleistungen bereithalten rungen des Wiederaufbaus vergleichbar ist. Und da-
— eine gewaltige Summe. bei ist mir eines ganz wichtig: Stereotype, standardi-
sierte Hilfestellungen helfen nicht weiter. Sie werden
Ungleich gewaltiger ist aber der Subventionsabbau, den persönlichen Umständen des Einzelfalls nicht ge-
den wir damit überhaupt erst ermöglichen. Rein rech- recht und können zu Verbitterung, Ablehnung und
nerisch wird die neue Wohngeldregelung und die sozialem Unf ri eden führen.
Mietenreform einen Subventionsabbau bei Mieten
und Heizenergie von insgesamt über 10 Milliarden Ich bedauere es deshalb sehr, daß der Haushalts-
DM jährlich möglich machen. ausschuß dieser enormen Arbeitsbelastung nicht
Rechnung getragen hat. Dies um so mehr, als das Auf-
Diese Entscheidungen sind notwendige Schritte auf gabenspektrum des Bauministeriums auch durch das
dem Weg zu wirtschaftlich vernünftigen und sozial- Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost deutlich zuge-
verträglichen Grundlagen in der Wohnungswirtschaft nommen hat und nicht zuletzt auch mit der Setzung
der neuen Bundesländer. Aber das alleine reicht na- neuen Rechts und seiner Anwendung in den neuen
türlich nicht aus. Deshalb bieten wir für den östlichen Ländern einen erheblichen Beitrag für die weitere
Teil des Bundesgebiets eine Fülle spezifischer Hilfen Entwicklung der neuen Länder leistet. Ich erinnere
an, z. B. KfW-Programm, Modernisierungszuschüsse, nur an die Mietrechtsverordnungen und an die zahl-
Privatisierungshilfen, steuerliche Sonderregelungen. reichen Einführungserlasse, Musterverwaltungsvor-
schriften, Entscheidungshilfen und andere Hand-
Trotz dieses großen Straußes von Maßnahmen kann
reichungen zur Anwendungserleichterung des
sich der Wohnungsbestand natürlich noch nicht von
heute auf morgen um 20 Jahre verjüngen. Aber wir neuen Rechts durch die neuen Verwaltungen. Wir
nutzen alle vernünftigen Ansätze für einen überzeu- strecken uns nach der Decke und leisten, was wir
können.
genden und schwungvollen Neubeginn.
Ein Problem dabei ist sicherlich, daß die vom Bund Aber dieser Zustand kann auf Dauer so nicht blei-
bereitgestellten Fördermittel noch nicht unverzüglich ben. Der Wohnungs- und Städtebau ist für die innere
überall dorthin gelangen, wo sie in sichtbarer Weise in Einheit Deutschlands, für die wirtschaftliche Entwick-
eine Verbesserung der Wohn- und Lebensbedingun- lung der neuen Länder und für den sozialen Frieden in
gen in den neuen Ländern umgesetzt werden können. unserem Land von ganz zentraler, eminent wichtiger
Zum anderen besteht in den neuen Ländern auf allen Bedeutung. Er ist d i e innenpolitische Herausforde-
Gebieten des Wohnungs- und Städtebaus ein un- rung der Gegenwart. Ich bitte deshalb dieses Hohe
glaublich hoher Beratungs- und Informationsbedarf. Haus ebenso wie meine Ressortkollegen um jede nur
denkbare Unterstützung bei den umfangreichen und
Obgleich in der Zwischenzeit Klarheit über die großen Aufgaben des Wohnungs- und Städtebaus im
mietrechtlichen Änderungen und die Ausgestaltung geeinten Deutschland.
2192 * Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991
Einheit" von 29,8 Milliarden DM in 1991 auf 8,5 Mil- einem Überschuß überhaupt nicht mehr, wahrschein-
liarden DM in 1994 zurückgehen werden, während lich sogar mit roten Zahlen gerechnet werden muß.
ein gleichzeitiger entsprechender Anstieg der Steuer-
Die Nettokreditaufnahme der Telekom für 1991
einnahmen der Ost-Länder leider unwahrscheinlich
liegt nach geltendem Wirtschaftsplan bei 13,892 Mil-
ist. Dies führt auch auf der Grundlage der neuen Steu-
liarden DM. Damit muß die Verschuldung des Unter-
erschätzungen vom 16. Mai 1991 dazu, daß die Pro-
nehmens als kaum noch vertretbar angesehen wer-
Kopf-Einnahmen der Ost-Länder von 3 831 DM in
den.
1991 auf voraussichtlich 3 000 DM in 1994 zurückge-
hen werden. Zum Vergleich: Im gleichen Zeitraum Dabei wird durchaus nicht verkannt, daß gerade die
werden die Pro-Kopf-Einnahmen der West-Länder Telekom in den neuen Bundesländern besonderen
von voraussichtlich 4 603 DM in 1991 auf 5 584 DM in und geradezu extremen Anforderungen ausgesetzt
1994 ansteigen. Somit wird sich die Differenz der Pro- ist. Aber: Damit kann nicht gerechtfertigt werden, daß
Kopf-Einnahmen zwischen Ost- und West-Ländern der Eigenkapitalanteil der Telekom das gesetzliche
von 772 DM in 1991 auf 2 584 DM in 1994 erhöhen. In Limit von 33 % bereits in diesem Jahr unterschreiten
Prozentzahlen ausgedrückt: Der Anteil der Pro-Kopf- wird und sich gefährlich dem 20 %-Bereich nähert.
Einnahmen der Ost-Länder im Verhältnis zu denen
Mit dieser Beschreibung übernimmt die SPD durch-
der West-Länder verringert sich von 83 % in 1991 auf aus nicht die Sonthofener Strategien der CSU. Denn in
nur noch 53 % in 1994. Diese nach dem derzeitigen der letzten Debatte über die Bundespost im Berliner
Kenntnisstand wahrscheinliche Entwicklung führt bis Reichstag war es der Postminister selbst, der wörtlich
1994 zu einer wachsenden Finanzkrise im Osten. die „dramatische Veränderung der finanziellen Lage
Zur Jahreswende 1994/1995 würden aber auch die der Telekom" beschrieb — bezogen auf die zusätzli-
West-Länder zum Opfer dieser drohenden Einnahme- chen Personalkosten von 500 Millionen DM aufgrund
verschlechterung im Osten, da dann der gesamtdeut- der Einkommensanpassung zwischen Ost und West.
sche Länderfinanzausgleich in Kraft tritt. Auf einen Zu fragen ist allerdings, ob diese dramatische Ver-
Schlag müßten die West-Länder dann Transferlei- änderung so unvorhersehbar war. Hat die Bundesre-
stungen in Höhe zwischen 30 und 40 Milliarden DM
gierung die notwendige Einkommensentwicklung in
jährlich erbringen. Dies wäre bei der Haushaltstruktur den alten und neuen Bundesländern wirklich so falsch
der West-Länder mit drastischen Einschnitten verbun-
eingeschätzt? Zu fragen ist auch, ob eine solche nicht
den, die politisch schwer durchsetzbar wären. nur die Bundespost betreffende Entwicklung dramati-
Meines Erachtens ist der allmähliche Einstieg in sche Folgen haben muß. Und schließlich: Wie blind
den gesamtdeutschen Länderfinanzausgleich bereits muß eigentlich der Finanzminister sein, der trotz die-
ab 1992 der einzige Ausweg aus dieser für Ost und ser dramatischen Entwicklung der Bundespost eine
West drohenden finanzpolitischen Entwicklung. Er zusätzliche Abgabe von 4 Milliarden DM durchsetzt.
trägt auch der Tatsache Rechnung, daß der Bund bis-
Diesbezüglich ist allerdings kritisch festzustellen,
her in weit höherem Maße als die alten Länder finan- daß sich wohl kein Postminister, welcher Fraktion er
ziell den Erfordernissen der deutschen Einheit Rech-
auch angehört, den finanziellen Begehrlichkeiten, die
nung getragen hat. sich aus Haushaltszwängen scheinbar ergeben, ent-
Zurück zum Posthaushalt! Ich bitte Sie, dem Ent- ziehen kann und entziehen konnte. Also ist die politi-
wurf des Einzelplans 13 in der Ausschußfassung zuzu- sche Abhängigkeit der Unternehmen der Bundespost
stimmen. systembedingt und gerade deshalb existenzgefähr-
dend.
Arne Börnsen (Ritterhude) (SPD): Eine Behandlung Damit wird der amtierende Postminister allerdings
allein des Einzelplans 13, also des Haushalts des Mini- nicht aus der Verantwortung entlassen, im Gegenteil:
steriums für Post und Telekommunikation, im Plenum Im Verborgenen, nämlich unter dem Mantel der regu-
des Deutschen Bundestages wäre durchaus reizvoll, lierenden und fachspezifischen Einflußnahme, trägt
denn die Neugründung vielfältiger Behörden und der Postminister heftig zur finanziellen Destabilisie-
Ämter, die damit verbundene Aufblähung des Ver- rung der Bundespost bei. Der Versuch, dies verständ-
waltungsapparates, mehr noch aber die übertriebene lich zu machen, setzt Vereinfachungen voraus, aber es
Personalausstattung des Ministeriums und das damit sei damit auch die Erwartung ausgedrückt, daß der
verbundene Hineinregieren in Unternehmensbe- Minister eine klärende Stellungnahme abgibt.
lange, würde allein eine Debatte rechtfertigen. Aber
So enthalten die vom Minister vorgelegten Eck-
damit würde die eigentliche politische Dimension der
punktepapiere zum Netz- und Telephondienstmono-
Entwicklung bei der Bundespost verkannt werden.
pol Bestimmungen, die in Verbindung mit dem Ent-
Diese Dimension ist nicht aus dem Bundeshaushalt
wurf zur neuen Telekommunikationsverordnung die
ersichtlich, sondern aus den Wirtschaftsplänen der
unverzichtbaren Monopole der Telekom aushöhlen
Unternehmen der Bundespost.
und verwässsern. Damit wird p rivaten Unternehmen
Die Telekom führt nach geltenden Wirtschaftsplä- Tür und Tor geöffnet, und die finanzielle Leistungsfä-
nen 1,3 Milliarden DM an die gelbe Post und 0,39 Mil- higkeit der Telekom wird in besorgniserregender
liarden DM an die Postbank ab. Danach verbleibt ihr Weise untergraben. Darauf hat auch die Unterneh-
ein Jahresüberschuß von 671 Millionen DM. Dieser mensleitung der Telekom den Minister in unmißver-
Überschuß ist angesichts einer Investitionssumme von ständlicher Weise aufmerksam gemacht und darauf
29 Milliarden DM um mindestens das Zehnfache zu hingewiesen, „daß sie nicht mehr in der Lage sein
niedrig. Erschwerend kommt hinzu, daß nach heuti- wird, ihre gesetzlichen Aufgaben zu erfüllen, die In-
gem Kenntnisstand in den kommenden Jahren mit frastrukturdienste zu sichern und der Entwicklung
2194* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991
anzupassen", wenn der Postminister sich mit seinen stellung von Willkürmaßnahmen des Postministers
Vorstellungen durchsetzt. unabhängig zu machen.
Es muß sich der Verdacht aufdrängen, daß Minister Damit dürfen und werden sozialdemokratische
Schwarz-Schilling der zumindest als Geburtshelfer Grundsätze — wie Daseinsvorsorge, Infrastrukturauf-
des Poststrukturgesetzes bezeichnet werden kann, trag, Rechte der Beschäftigten — nicht in Frage ge-
sich jetzt als heimlicher Totengräber der Unterneh- stellt. Im Gegenteil, sie sollen gesichert und weiter-
men der Bundespost betätigt. entwickelt werden.
Heimlicher Totengräber deshalb, weil der Minister Lösungsansätze dieser Art bedürfen ohne Zweifel
und sein unglückselig großes Ministe ri um nichts un- einer außerordentlich sorgfältigen Diskussion, die die
versucht lassen, um die Wettbewerbsposition der Te- gesamte Palette möglicher Handlungsfelder ein-
lekom den p rivaten Konkurrenten gegenüber zu ver- schließen muß. Im Gegensatz zum Ausgrenzen der
schlechtern, mit dem Ziel, die Telekom systematisch Beschäftigten bei der Diskussion des Poststrukturge-
aus dem Markt zu drängen. Bei einer solchen selbst setzes muß diese Diskussion gemeinsam auch mit den
herbeigeführten Entwicklung kann der Ruf nach Pri- Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bundespost
vatisierung nicht verwundern — denn die Öffentlich- und ihren gewählten Vertretern in der Deutschen
keit erfährt täglich, daß die Bundespost scheinbar dem Postgewerkschaft geführt werden.
Wettbewerb nicht gewachsen ist.
Die SPD will im Gegensatz dazu eine wirtschaftlich Dr. Ulrich Briefs (PDS/Linke Liste): Wie jedes Jahr
und konzeptionell starke Post, die ihrem Auftrag der so ist auch dieses Jahr die Debatte über den Haus-
Daseinsvorsorge gerecht wird, die in der Lage ist, ih- haltsplan des Bundesministeriums für Post und Tele-
ren Infrastrukturauftrag zu erfüllen und zu finanzie- kommunikation eigentlich eine Farce. Eine Farce,
ren, also auch über eine finanziell gesunde Basis ver- weil nicht etwa über die wirtschaftlichen Aktivitäten
fügt. der Postunternehmen im Parlament beraten wird, son-
-
Im Gegensatz dazu gibt die zu befürchtende Fort- dern nur über die Sach- und Personalausgaben des
führung der gegenwärtigen finanziellen Entwicklung, Bundesministeriums für Post und Telekommunika-
insbesondere bei der Telekom, die vom Minister tion, der Bundesdruckerei, des Zentralamtes für Zu-
selbst als dramatisch bezeichnet wird, Anlaß zu tief- lassungen im Fernmeldewesen und des Bundesamtes
greifender Besorgnis. für Post und Telekommunikation.
Für uns Sozialdemokraten stellt sich damit die Über die Milliardenumsätze und -investitionen,
Frage, ob wir diese Entwicklung mit scharfer Kritik, über eine halbe Million Arbeitsplätze in den drei Post-
aber ohne Hoffnung auf Besserung begleiten oder ob unternehmen POSTDIENST, POSTBANK und TELE-
wir selbst Initiativen zur Schadensbegrenzung ergrei- KOM wird in den Vorständen und Aufsichtsräten der
fen wollen, ja, aus der politischen Verpflichtung für Unternehmen und unter speziellen Aspekten im Infra-
eine gesicherte Zukunft der Postunternehmen ergrei- strukturrat beraten und entschieden. De facto heißt
fen müssen. das: Wie in der Wirtschaft können die Vorstände der
Postunternehmen ihr Geschäft mit aus politischer und
Klar ist aber: Die willkürlichen und nach seinem
eigenen Poststrukturgesetz gar nicht zulässigen Ein- gesellschaftlicher Sicht unzureichender Kontrolle
durch andere und insbesondere durch demokratisch
griffe des Postministers in Entscheidungskompeten-
nicht transparente Instanzen betreiben. Im Infrastruk-
zen der Unternehmensvorstände und der Aufsichts-
turrat sind zudem die kleineren Fraktionen im Bun-
räte sind unerträglich. Die auch von uns befürwortete
Unabhängigkeit der Postunternehmen von sachfrem- destag sowieso nicht vertreten.
den politischen Einflußnahmen ist z. Zt. eine reine Es bleibt also nach wie vor eine politische Aufgabe
Fiktion. allererster Ordnung, zu erreichen, daß die Pläne, die
Auch ist — neben anderen offenen Fragen — die Tätigkeiten, die wirtschaftlichen Ergebnisse, die
Einbindung der Unternehmen in den öffentlichen Arbeitsmarkteffekte, die Arbeitsplatzauswirkungen
Dienst mit all seinen Widersprüchen zur unternehme- und die sonstigen gesellschaftlichen Folgen wie die
rischen Zielsetzung ein ungelöstes Problem. Gefährdung des Datenschutzes im Zuge des Ausbaus
der Telekommunikationsinfrastruktur im Parlament
Um die Abhängigkeit der Postunternehmen von der beraten und entschieden werden.
politischen Einflußnahme zu beenden, läge die eine
Lösungsvariante in der Forderung nach Auflösung des Die politische Organisation des Post- und des Tele-
Postministeriums. Allerdings wird dann der Finanzmi- kommunikationsbereichs ist, so betrachtet, ein Relikt
nister um so größere Begehrlichkeiten entwickeln und eines autoritär-hoheitlichen Staatsverständnisses. Die
die Postunternehmen noch schneller in den Ruin trei- Regelungen sind alles andere als bürgerfreundlich
ben. oder bürgernah.
Eine andere Va ri ante, der wir uns trotz aller grund- Dieser Mangel an Transparenz und Kontrollmög-
sätzlichen Vorbehalte angesichts der nicht in Zweifel lichkeiten ist um so bedenklicher, als Dienstleistun-
zu ziehenden ernsten Situation der Postunternehmen, gen der Postunternehmen in erheblichem Maße zur
also aus Gründen der Schadensbegrenzung, stellen Grundvorsorge des Staates für seine Bürgerinnen und
müssen, ist die Diskussion über eine Änderung des Bürger zu rechnen sind. Insbesondere der Ausbau der
Art. 87 des Grundgesetzes — Sondervermögen des Telekommunikationsinfrastruktur in Zukunft bringt
Bundes — mit dem Ziel, die Postunternehmen vor al- zudem zahlreiche Gefährdungen für die Menschen in
lem auch im Interesse ihrer öffentlichen Aufgaben den Betrieben und in der Gesellschaft insgesamt.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2195 '
Mit dem ISDN-System der Zukunft, so befürchten Dies mag auf den ersten Blick verwirrend erschei-
etwa Drogen- und AIDS-Beratungsstellen, wird die nen, ist aber ein Ausdruck der Tatsache, daß sich das
Anonymität der oder des Ratsuchenden nicht mehr traditionelle Postbild und die Poststrukturen ein gutes
gewährleistet werden können. Stück weg von Bundespost in unternehmerische
Strukturen hinentwickelt hat. Es wird jetzt auch im
Der Rationalisierungs- und Leistungsdruck in den Sprachgebrauch schon von der Briefpost, der Bank-
Betri eben, die Beeinträchtigung von Mitbestim- post und der Telekom-Post gesprochen, und das
mungsmöglichkeiten werden in diesem Zusammen- macht deutlich, daß eine Aufteilung und eine Verselb-
hang ebenfalls zunehmen. Zentrale Entscheidungen ständigung mit mehr, aber nicht ausreichenden Ma-
großer internationaler Konzerne werden noch bedeut- nagement-Verantwortlichkeiten realisiert werden
samer, als sie jetzt schon sind. Die „Telematisierung" konnte.
schafft zudem viele neue Umweltprobleme wie zum
Beispiel die Beseitigung des Computer- oder auch des Insofern spiegelt dieser Etat mir das wider, was den
Telefonschrotts. Vor allem wird aber dadurch auch Postminister als Konzernherrn eigentlich als Chef der
das Zwangswachstum der kapitalistischen Wirtschaft Konzern-Holding-Post zahlenmäßig berührt. Die we-
weiter angeheizt, jenes Wachstum, das uns jetzt schon sentlichen ökonomischen Daten spiegeln sich in den
in die Nähe der Gefahr der restlosen Umweltzerstö- drei Postunternehmen wider, spiegeln sich in deren
rung gebracht hat. Ein Wachstum, das übrigens ge- Wirtschaftsplänen mit Umsatzzahlen, Aufwandsposi-
rade wegen der faszinierenden „neuen Techniken" tionen, Ergebnissen, mit Anmerkungen zu den Inve-
ein Wachstum ohne große Arbeitsplatzzuwächse ist. stitionen und dem Kreditbedarf und dessen Finanzie-
rung.
Alles das verlangt nicht nach weniger, sondern nach
mehr Transparenz, Kontrolle und Intervention in die- Hier möchte ich für die FDP feststellen, daß wir
sem Prozeß. Die fehlende parlamentarische Kontrolle generell den Weg der Dezentralisierung, der Verselb-
der Postunternehmen und die zunehmende „ Verbe- ständigung, der Öffnung zu mehr Markt für richtig
triebswirtschaftlichung " des Post- und Telekommuni- halten. Aber dieser Weg der marktwirtschaftlichen
kationswesens stellen sich dieser Notwendigkeit ent- Öffnung muß noch intensiver beschritten werden. Wir
gegen. Wir werden in der Zukunft auch um die Bedin- meinen, daß insbesondere im Bereich Telekom dafür
gungen einer ausreichenden öffentlichen Transpa- noch erhebliche Möglichkeiten gegeben sind.
renz und Kontrolle dieses immer wichtiger werdenden Liebe Kolleginnen und Kollegen, neben der Verän-
Teils der modernen Industriegesellschaft kämpfen derung der Bundespost, angedeutet durch das Stich-
müssen. wort „von der Behörde zum Konzern" , müssen wir
Noch zwei Anmerkungen zur Situation in den östli- auch im Rahmen dieser Haushaltsberatung festhalten,
chen Bundesländern: Erstens. Ich habe Hinweise dar- daß der Postminister in seiner Gesamtfunktion ange-
auf bekommen, daß wegen des enormen Zeitdrucks sprochen und herausgefordert ist, die Post- und Tele-
beim Aufbau und Ausbau des Telefonnetzes in der kom-Dienste in den fünf neuen Bundesländern der
früheren DDR Aufträge aus Termineinhaltungsgrün- früheren DDR bedarfsgerecht auszubauen. Dies ist
den an westliche statt an östliche Betriebe vergeben nach meiner Auffassung derzeit die zentrale Aufgabe
werden. Das Bundesministerium für Post und Tele- der Post. Es ist das Ziel dieser Legislaturperiode nach
kommunikation wird aufgefordert, darauf hinzuwir- dem Glücksfall der deutschen Einheit, nach dem er-
ken, daß die Modalitäten der Planung und Ausfüh- folgten politischen Rohbau des deutschen Einheits-
rung von Aufträgen so geändert werden, daß Bet riebe hauses, jetzt für den Ausbau zu sorgen.
in den östlichen Bundesländern vorrangig bei der Auch in dieser Debatte ist deutlich geworden: Den
Vergabe der Aufträge berücksichtigt werden kön- meisten Bürgern ist es aus eigenem Erleben klar, wo
nen. die Haupthindernisse für den wirtschaftlichen Auf-
Zweitens. Wir fordern die Bundesregierung auf, schwung in den fünf neuen Bundesländern liegen.
durch zügigen weiteren Ausbau der Telekommunika- Man hat vor Augen, daß die Verkehrssituation
tionsinfrastruktur in den neuen Bundesländern unter schwierig ist. Man hat vor Augen, daß die Regelung
Berücksichtigung des zuvor Gesagten Arbeits- und der Eigentumsfragen eine ökonomische Bremse dar-
Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen. Eine syste- stellt. Man hat vor Augen, daß viele Produktionsberei-
matische Strukturplanung auf regionaler Ebene muß che nicht wettbewerbsfähig sind. Man hat aber auch
insbesondere ergänzend dafür sorgen, daß weitere vor Augen, wie schwierig es ist, miteinander per Tele-
expansive ökonomische Effekte — im Baugewerbe, fon und Telefax umzugehen. Dieser Engpaß, sehr ver-
in nachrichtentechnischen Zulieferungssektoren, bei ehrter Herr Minister, muß noch schneller als bislang
anwendungsbezogenen Aktivitäten usw., usf. — zur beseitigt werden. Ohne funktionierende Telekommu-
2196' Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991
nikation ist kein vernünftiger wirtschaftlicher Aufbau Niemand konnte ernsthaft erwarten, daß ein solch
möglich. Hier müssen sich alle Verantwortlichen noch anspruchsvolles Ziel von heute auf morgen und ohne
stärker ins Zeug legen. Machen Sie die Ausbaukon- alle Schwierigkeiten zu verwirklichen ist.
zepte verständlich und gehen Sie stärker dezentral
Lassen Sie mich die entscheidenden Punkte der
und marktwirtschaftlich vor!
Postreform kurz in Ihr Gedächtnis zurückrufen. Die
Es ist eben nur eine Behelfslösung, aber kein ehren- Schwerpunkte unserer konkreten Arbeit sind daraus
voller Dauerzustand, wenn Schweriner nur mit Ham- abzuleiten.
burger Rufnummern schnell erreichbar sind. Sie ha-
Mit dem Poststrukturgesetz wurden drei Entschei-
ben Anspruch auf ihre eigene Vorwahlnummer. Auch
dungen getroffen, die das Wesen der Postreform aus-
ist es nicht gut, wenn sich beispielsweise im Umfeld
machen:
von Berlin zu gewissen Abendstunden Autokarawa-
nen auf den Weg zu den Telefonen im alten West- Erstens. Die Funktionen des Schiedsrichters und
Berlin aufmachen, um sicher telefonieren zu können. der Mitspieler auf den Märkten des Post- und Fern-
Da es sich bei der Verbesserung des Telekommunika- meldewesens wurden organisatorisch getrennt: Die
tionswesens vom Grunde her um eine rentierliche betrieblichen und unternehmerischen Aufgaben wer-
Angelegenheit handelt, kann auch Privatkapital ein- den von den Unternehmen Postdienst, Postbank und
gesetzt werden, um schneller eine bedarfsgerechte Telekom der Deutschen Bundespost wahrgenommen.
Kommunikationsstruktur aufzubauen, die ja letztend- Für die politisch-hoheitlichen Aufgaben ist der Bun-
lich auch vom Benutzer bezahlt wird. desminister für Post und Telekommunikation mit sei-
nen nachgeordneten Behörden zuständig. Die Logik
Aber gerade die Bewältigung dieser besonderen
dieser Rollenteilung spiegelt sich auch im hier zu be-
aktuellen Situation macht deutlich, daß der Weg zu
handelnden Einzelplan 13 wider: Die Finanzen der
mehr marktwirtschaftlichen Strukturen, weg von Mo-
Deutschen Bundespost sind wie schon früher als Son-
nopolbereichen, weiterhin zur ökonomischen Vorge-
dervermögen des Bundes nicht Gegenstand dieser
hensweise, zur härteren Überprüfung von defizitären
Beratungen, dagegen ist heute über den Haushalt
Bereichen weiterhin beschritten werden muß.
bezüglich des hoheitlichen Aufgabenbereichs zu be-
Wir meinen, sehr verehrter Herr Minister, die Mittel finden.
und Möglichkeiten sind Ihnen gegeben, und Sie ha-
Zweitens. Zur Sicherstellung der Infrastrukturauf-
ben sicherlich im Parlament, wo erforderlich, einen
gaben im Bereich Post und Telekommunikation wur-
Kooperationspartner, wenn für diese Aufgabenbewäl-
den das Briefdienst-, das Netz- und das Telefondienst-
tigung entscheidende Hindernisse und Mängel gege-
monopol beibehalten; alle anderen Dienste und alle
ben sein sollten. Die Gegenerwartung allerdings ist,
Telekommunikationsendgeräte unterliegen nunmehr
daß es für einige Zeit absolute Chefsache sein muß,
dem Wettbewerb, an dem sich auch die Deutsche
die Mängel in den fünf neuen Bundesländern zielstre-
Bundespost beteiligen kann.
big abzuarbeiten, um damit einen ebenso zwingen-
den wie zentralen Mangel zu beseitigen, der uns bis- Drittens. Darüber hinaus besteht für den Postmini-
her gehindert hat, möglichst rasch die Lebensverhält- ster die Möglichkeit, durch die Erteilung von Lizenzen
nisse in den alten und neuen Bundesländern anzu- auch in den verbleibenden Monopolbereichen des
gleichen. Aber gerade dies ist nötig, dies ist die zen- Fernmeldewesens den Marktzutritt p rivater Unter-
trale Aufgabe dieser Legislaturperiode. Wir werden nehmer zuzulassen, sofern das Monopol insbesondere
Sie gerne und mit Nachdruck bei der Bewältigung hinsichtlich seiner ökonomischen Zielsetzung nicht
dieser Aufgabe unterstützen. ausgehöhlt wird. Der Postminister macht von diesem
Recht insbesondere dort Gebrauch, wo durch Wettbe-
Dr. Christian Schwarz-Schilling, Bundesminister
werb die Förderung innovativer Entwicklungen zu
erwarten ist, so beim Mobilfunk und beim Satelliten-
für Post und Telekommunikation: Fast auf den Tag
funk.
genau heute vor zwei Jahren ist das Poststrukturge-
setz am 8. Juni 1989 verkündet worden. Mit der Ände- Insgesamt gesehen hat die Postreform in einem ent-
rung der Organisationsform und der ordnungspoliti- scheidenden Sektor der Volkswirtschaft die Voraus-
schen Neukonzeption sind die Voraussetzungen dafür setzungen dafür geschaffen, daß sich durch mehr
geschaffen worden, daß die Deutsche Bundespost den Wettbewerb Tatkraft, Ideen und Kapital p rivater Un-
Herausforderungen der kommenden Jahre und Jahr- ternehmen entfalten können ; gleichzeitig wurden die
zehnte gut gewachsen sein wird. Diese Neustruktu- Unternehmen der Deutschen Bundespost im Rahmen
rierung des Post- und Fernmeldewesens in der Bun- des verfassungsrechtlich Möglichen von politischen
desrepublik fügt sich dabei in eine Reformbewegung Einflüssen befreit. Natürlich müssen im Einzelfall po-
ein, die andere wichtige Industrieländer bereits Jahre litische und unternehmerische Interessen miteinander
vorher umgesetzt haben. Sie steht dabei im Einklang in Ausgleich gebracht werden. Dazu sieht das Post-
mit den Bestrebungen der Europäischen Gemein- verfassungsgesetz ausgewogene Mechanismen vor;
schaft zur Schaffung liberalisierter Märkte in diesem diese sind notwendig, aber auch ausreichend. Bemer-
Wirtschaftssektor. kenswert ist, daß mancher, der sie heute kritisiert, sie
vor zwei Jahren für nicht weitgehend genug hielt.
Daß eine Reform der Deutschen Bundespost not-
wendig war, hatten bereits die Regierungen Brandt Bereits jetzt kann ich feststellen, daß sich die Umset-
zung der Postreform im wesentlichen bewährt hat.
und Schmidt erkannt, sie scheiterten jedoch an der
Problematik. Wir standen deshalb vor der Aufgabe, Nicht zuletzt unsere vielfältigen und schwierigen
den überfälligen Umstrukturierungsprozeß auf vielen Aufgaben in den neuen Bundesländern machen deut-
Gebieten praktisch gleichzeitig in Gang zu setzen. lich, wie wichtig effizient arbeitende Unternehmens-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2197*
führungen heute sind. Dort gilt es, so schnell wie mög- Auf diese Weise wird eine optimale Verbindung von
lich eine moderne, leistungsfähige Post und Telekom- Infrastrukturauftrag und p ri vater Initiative erreicht.
munikationsinfrastruktur herzustellen, die unabding-
Öffentliche Unternehmen mit Monopolrechten dür-
bare Voraussetzung für ein aktives Wirtschaftsleben
fen ihre Tarife nur zur Deckung der angefallenen Ko-
ist. Der zügige Aufbau ist — da Grundlage für weitere
sten zuzüglich eines Gewinns in angemessener Höhe
Investitionen der gesamten Wirtschaft — bereits voll
ansetzen. Auf Grund dieser Rechtslage in Verbindung
im Gange. Er sichert und schafft somit neue Arbeits-
mit dem Ziel wirtschaft li cher Selbständigkeit der drei
plätze in den neuen Bundesländern, insbesondere im
Postunternehmen wird im Laufe der nächsten Jahre
Handwerk und in mittelständischen Unternehmen.
die Höhe der Ausgleichsfinanzierungen zwischen den
Allein 1991 werden ca. 7 Milliarden DM in die Tele- einzelnen Diensten und den Unternehmen der Deut-
kommunikationsinfrastruktur im Beitrittsgebiet inve- schen Bundespost auf ein möglichst niedriges Maß
stiert. Die Arbeiten zur Realisierung der Aufbaupro- herunterzuführen sein.
gramme 1991 verlaufen planmäßig, und die Ziele des
Programms „Telekom 2000" einschließlich des „ Turn- Weiterhin werde ich mein Augenmerk darauf rich-
Key-Zusatzprogramms " für 1991 werden erreicht. Es ten, daß im Bereich der Monopolbereiche der Deut-
freut mich, an dieser Stelle darauf hinweisen zu kön- schen Bundespost Telekom eine Politik betrieben
nen, daß die DBP Telekom derzeit mit Abstand größter wird, die dem Grundsatz der Chancengleichheit aller
Investor in den neuen Ländern ist. Wettbewerber auf dem Telekommunikationsmarkt
Rechnung trägt. Dies gilt besonders für die Tarifge-
Die Verbesserung der Telefonversorgung in den staltung der Deutschen Bundespost Telekom im Mo-
neuen Bundesländern bedingt auch Tarifmaßnah- nopolsektor.
men. Am 1. Juli dieses Jahres wird deshalb ein Ta rif-
harmonisierungspaket der DBP Telekom in Kraft tre- Sowohl mit Blick auf die Funktion des Bundes als
ten, wodurch die wesentlichsten Gebührenunter- Eigentümer der Deutschen Bundespost, die durch den
schiede zwischen den westlichen und östlichen Tele- Bundesminister für Post und Telekommunikation
fondienstleistungen abgebaut werden. Weitere An- wahrzunehmen ist, als auch im Wege der Beaufsichti-
passungsschritte werden mit dem zunehmenden Aus- gung der Monopolbereiche hat das BMPT dafür Sorge
bau der Infrastruktur erfolgen können. zu tragen, daß der staatliche Infrastrukturauftrag
durch die Unternehmen der Deutschen Bundespost
Lassen Sie mich nun zu einigen Schwerpunkten erfüllt wird. Ich darf in diesem Zusammenhang darauf
meiner Politik kommen. Zunächst sind in einer Viel- hinweisen, daß die Unternehmen der Deutschen Bun-
zahl ausgewogener Einzelschritte Abgrenzungsfra- despost auch dort Pflichten gegenüber der Öffentlich-
gen hinsichtlich der Monopoltätigkeit der Deutschen keit zu erfüllen haben, wo sie im Wettbewerb arbei-
Bundespost Telekom zu klären und für alle verbind- ten.
lich festzulegen. Dabei ist für mich von Bedeutung,
daß in diesem Prozeß eine möglichst große Zahl be- Das BMPT ist gerade mit der Frage der Pflichtlei-
troffener Institutionen zu Wort kommt. Monopolab- stungen der Unternehmen der DBP befaßt. Dabei wird
grenzung bedeutet für mich keinesfalls eine Arbeit sichergestellt, daß der weitere Ausbau der Infrastruk-
alleine in den Stuben des Ministeriums. Es ist viel- tur in Deutschland, insbesondere in den neuen Bun-
mehr meine Intention, die Regulierungstätigkeit auf desländern, zügig voranschreitet, daß eine leistungs-
diesem Feld in möglichst hohem Maße der Öffentlich- fähige und flächendeckende Versorgung mit einem
keit gegenüber transparent zu machen, um damit vielfältigen Dienstleistungsangebot erreicht wird, daß
auch eine hohe Akzeptanz der gewonnenen Erkennt- die Kontrahierungspflicht bestehen bleibt und die Lei-
nisse zu gewährleisten. Mit der bisherigen Arbeit auf stungen der Deutschen Bundespost einen Qualitäts-
diesem Gebiet haben wir bereits ein breites und posi- standard aufweisen, der dem hohen Stand unserer
tives Echo der angesprochenen Öffentlichkeit errei- Volkswirtschaft entspricht.
chen können. Die Unternehmen der DBP werden zum 1. Juli 1991
Um alle Möglichkeiten moderner Kommunikations- ihre Rechtsbeziehungen zum Kunden vom öffentli-
technik zu erkunden, benötigen wir den Wettbewerb chen Recht auf das Privatrecht umstellen. Die von den
als Entdeckungsverfahren. Ausgehend von diesem Unternehmen erarbeiteten „Allgemeinen Geschäfts-
Gedanken habe ich im Mobil- und Satellitenfunk bedingungen" (AGBs) treten zu diesem Zeitpunkt in
durch entsprechende Lizenzierungspolitik die Tätig- Kraft. Damit wird ein wesentliches Anliegen der Post-
keit p ri vater Unternehmen ermöglicht und ich bin da- reform umgesetzt. Die Unternehmen treten ihren Nut-
bei, diesen lizenzierten Bereich noch weiter auszu- zern nicht mehr hoheitlich, sondern als gleichberech-
dehnen. Auf diese Weise werden technisches Spezial- tigte Partner im Rechtsverkehr gegenüber.
wissen für die Telekommunikation und internationale
Insbesondere wegen der verbliebenen Monopol-
Erfahrungen gewonnen, die nötig sind, um Deutsch-
rechte kann jedoch — nicht zuletzt im Interesse der
land auf diesem Sektor in einer weltweiten Spitzen-
Verbraucher — auf gewisse, von der Bundesregie-
stellung zu halten.
rung festgelegte Spielregeln nicht verzichtet werden.
Wir haben gleichzeitig darauf geachtet, daß trotz Diese Aufgaben erfüllen die Rahmenverordnungen
Hereinnahme p ri vater Initiativen die Erfüllung infra- für die Inanspruchnahme der Dienstleistungen im
struktureller Pflichten garantiert bleibt. In den ent- Post- und Telekommunikationsbereich. Diese werden
sprechenden Vereinbarungen mit den Lizenzneh- derzeit im Infrastrukturrat beim Bundesminister für
mern wurde insbesondere auf Flächendeckung, Kon- Post und Telekommunikation behandelt und nach
trahierungspflicht, Diskriminierungsverbot und Ein- dessen Beschlußfassung der Bundesregierung zur Zu-
haltung eines hohen Qualitätsstandards Wert gelegt. stimmung zugeleitet werden.
2198' Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991
Ebenso sind die bereichsspezifischen Datenschutz- Meine Damen und Herren, gemessen am Gesamt-
verordnungen für die Unternehmen Telekom, Post- umfang des vorgelegten Haushalts geht es beim Bun-
dienst und Postbank, die die Bundesregierung gemäß desminister für Post und Telekommunikation um ver-
§ 30 Abs. 2 Post-VerfG erläßt, fertiggestellt und wer- gleichsweise geringe Beträge. Bekanntlich kann aber
den Ende Juni nach Beschlußfassung verkündet. oftmals mit kleinem Aufwand große Wirkung erzielt
werden. Nicht zuletzt im Hinblick auf den angestreb-
Die Deutsche Bundespost ist nicht nur mittelbar ten Aufschwung in den neuen Bundesländern enthält
über ihre infrastrukturelle Funktion sowie als Investor dieser Einzelplan wichtige Weichenstellungen. Ich
ein wichtiger Motor des wirtschaftlichen Fortschritts, bitte dafür um Ihre Zustimmung.
sie trägt auch ganz direkt dazu bei, die Schwierigkei-
ten zu bewältigen, die mit einem wirtschaftlichen
Wandlungsprozeß — wie im Beitrittsgebiet notwen-
dig — verbunden sind. In diesem Zusammenhang
darf ich darauf hinweisen, daß die Unternehmen der
DBP nahezu das gesamte Personal der Deutschen Post Anlage 5
übernommen haben.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Ausbildungsplatzinitiative sieht vor, daß durch
zu Einzelplan 23 — Geschäftsbereich des
den Bund in diesem Jahr in den neuen Ländern 10 000
Bundesministers für
Ausbildungsplätze angeboten werden. Die Unterneh-
wirtschaftliche Zusammenarbeit —
men der DBP stellen insgesamt rund 3 100 Ausbil-
— Drucksachen 12/525, 12/530 —
dungsmöglichkeiten für junge Leute zur Verfügung.
Die Deutsche Bundespost Telekom ist daran mit 1 500,
der Postdienst mit 1 325 und die Postbank mit minde- Dr. Christian Neuling (CDU/CSU): Nach der nahezu
stens 300 Plätzen beteiligt. Außerdem haben die Un- völligen Überwindung des Ost-West-Konfliktes wird
ternehmen seinerzeit dafür Sorge getragen,
- daß alle die Entwicklungspolitik angesichts der globalen Pro-
bestehenden Ausbildungsverhältnisse bei der Deut- bleme wie Umwelt- und Ressourcenschutz, Armuts-
schen Post übernommen werden konnten. Damit lei- bekämpfung, Lösung der Verschuldungsprobleme,
sten die Unternehmen der Deutschen Bundespost ins- Überbevölkerung und Klimaschutz eine der großen
gesamt einen wichtigen beschäftigungspolitischen Herausforderungen in den 90er Jahren sein. Dieser
Beitrag. Herausforderung können wir wirksam nur durch eine
zukunftsorientierte Entwicklungspolitik mit neuer
Bei der Umsetzung vieler Aufgaben spielen die dem Schwerpunktsetzung und Ausgestaltung der Instru-
Bundesminister für Post und Telekommunikation mente begegnen. Hierzu gehören neben stärkerer re-
nachgeordneten Behörden zukünftig eine wichtige gionaler wie sektoraler Konzentration bei der Mittel-
Rolle. Das Zentralamt für Zulassungen im Fernmelde- vergabe auch der flexiblere Einsatz unserer Förde-
wesen in Saarbrücken nimmt die hoheitlichen Zulas- rungsinstrumente. Somit steht die Entwicklungspoli-
sungsaufgaben für Fernmeldeeinrichtungen und tik in den 90er Jahren vor völlig neuen Weichenstel-
Funkanlagen wahr. Gegenüber der Deutschen Bun- lungen.
despost Telekom besteht nach der Postreform eine
konsequente organisatorische Trennung. Für das Ent- Den Stellenwert der Entwicklungspolitik für die
stehen vieler neuer Dienste und neuer Endeinrichtun- Bundesregierung eines nunmehr geeinten Deutsch-
gen und durch die Weiterentwicklung des Gemeinsa- lands hat Bundeskanzler Helmut Kohl bereits in seiner
men Marktes der EG ist die Arbeit des Zentralamtes Regierungserklärung am 30. Januar des Jahres unter-
für Zulassungen im Fernmeldewesen von wachsender strichen, indem er ausführte: „Wir stehen zu unserer
Bedeutung. Das Zentralamt hat in Halle und in Kol Verantwortung für die Menschen in der Dritten Welt.
berg bei Berlin zwei Außenstellen im Beitrittsgebiet Das heißt konkret: Wir werden als vereintes Deutsch-
eingerichtet. Insgesamt hat es etwa 200 Kräfte. land unsere Entwicklungshilfe auch in Zukunft stei-
gern."
Dem neu errichteten Bundesamt für Post und Tele-
kommunikation obliegen die Hoheitsaufgaben hin- Mit einem Plafond von 7,96 Milliarden DM (ein-
sichtlich der Wahrnehmung der Funkfrequenzverwal- schließlich 200 Millionen Rückflüsse) ergibt sich ge-
tung, der Erteilung von Funkgenehmigungen, der genüber dem Haushalt 1990 eine Steigerung von
Funkkontrolle, der Funkentstörung sowie der Ab- 7,9 %. Erstmalig wurden im Rahmen der Berichterstat-
nahme drahtgebundener Fernmeldeanlagen. Diese tergespräche die Rückflüsse im Titel 186 01 brutto
Aufgaben wurden früher von den Fernmeldeämtern — d. h. in voller Höhe — veranschlagt bei gleichzeiti-
wahrgenommen. Das Bundesamt hat 55 Außenstellen ger entsprechender Anhebung der Mittel für die
in Deutschland, und zwar 43 in den alten, 12 in den Finanzielle Zusammenarbeit (Titel 866 01) um
neuen Bundesländern; insgesamt werden mehr als 200 Millionen auf 2,6 Milliarden. Ein wesentlicher
3 000 Bedienstete beim Bundesamt beschäftigt sein, Teil des Zuwachses — ca. 425 Millionen DM — entfal-
die im wesentlichen von der Deutschen Bundespost len auf den multilateralen Bereich, insbesondere er-
oder Deutschen Post übernommen werden. höhte Abrufe bei IDA und dem EEF. Im bilateralen
Bereich entfallen 110 Millionen DM unmittelbar auf
Die Gesamtausgaben des Einzelplans 13 betragen die Fortführung von Entwicklungsmaßnahmen der
etwa 500 Millionen DM, davon sind etwa 100 Millio- ehemaligen DDR, im wesentlichen in der Aus- und
nen DM durch die Deutsche Einigung bedingt; diese Fortbildung, der bilateralen Technischen Zusammen-
Kosten werden sich aber im eingeschwungenen Zu- arbeit (TZ) und beim Deutschen Entwicklungsdienst
stand in den nächsten Jahren wieder verringern. (DED).
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2199*
Geeignete Rahmenbedingungen sind für eine ef- eine erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung in den
fektive Entwicklungspolitik unabdingbar. Die Erfah- Ländern selbst gewährleisten. Als Beispiel möchte ich
rungen in den Staaten Ostmitteleuropas bestätigen hier die augenblickliche Entwicklung Angolas anfüh-
erneut, daß nur eine marktwirtschaftlich ausgerich- ren — nach 25 Jahren Bürgerkrieg soll nun endlich
tete Wirtschaftsordnung mit sozialer und ökologischer eine pluralistische Demokratie und soziale Marktwirt-
Verantwortungsbereitschaft den notwendigen Hin- schaft das zerstörte Land wieder aufblühen lassen. Für
tergrund für eine erfolgreiche Entwicklung gewähr- das kommende Jahr sind sogar freie Wahlen ge-
leistet. Dies wiederum setzt eine demokratische und plant.
rechtsstaatliche Ordnung voraus. Unsere Entwick-
Angola war das ausgeprägte Beispiel für die soge-
lungszusammenarbeit muß diesen Aspekt in Zukunft
nannten „Stellvertreterkriege", die ohne Beteiligung
noch stärker berücksichtigen und auf die Schaffung
anderer Mächte so nicht hätten durchgeführt werden
dieser Rahmenbedingungen hinwirken.
können. So schickte zum Beispiel Kuba Söldner, und
Die Industriestaaten müssen sich verpflichten, die die DDR versorgte den Sicherheitsapparat mit Stasi-
notwendigen weltwirtschaftlichen Bedingungen zu Leuten.
schaffen, damit ein Wirtschaftswachstum — insbeson-
Die bisherige Erfahrung hat gezeigt, daß viele Kre-
dere für die Länder der Dritten Welt — möglich ist.
ditprogramme kleine und mittlere Unternehmen
Der Abbau von Handelshemmnissen — bei industriel-
kaum erreichen, weil sie über zentrale staatliche Insti-
len und landwirtschaftlichen Produkten — und Sub-
tutionen abgewickelt werden. Eine sinnvolle Lösung
ventionen ist eines der vorrangigsten Ziele, um inter-
kann deshalb nur sein, die Privatwirtschaft in Ent-
nationalen Wettbewerb zu ermöglichen und damit
wicklungsländern über privatwirtschaftliche Struktu-
Wirtschaftswachstum auch in den Entwicklungslän-
ren zu entwickeln, während der Staat bei der Schaf-
dern zuzulassen. Je mehr wir dem Süden die Chance
fung geeigneter wirtschaftspolitischer und rechtlicher
eröffnen, durch Handel Einnahmen und Arbeitsplätze
Rahmenbedingungen unterstützt wird.
zu schaffen, desto weniger sind die Länder auf Ent-
wicklungshilfe angewiesen. - Drittens. Wesentliche Voraussetzung für die Men-
schen in der Dritten Welt, ihre Lebensverhältnisse ei-
Zu den Schwerpunkten:
genverantwortlich zu gestalten, ist eine angemessene
Erstens. Entwicklungsländer können nach Jahren Bildung breiter Bevölkerungsschichten. Mehr Wissen
erfolgreicher wirtschaftlicher Zusammenarbeit mit ei- schafft Sicherheit und Selbstvertrauen im Umgang mit
gener Anstrengung wirtschaftliche Kräfte im eigenen neuen Herausforderungen, aber auch die Bereit-
Land stärken, andere weiter fortgeschrittene Länder, schaft, sich korrupten Regierungen zu widersetzen.
die wir als Schwellenländer bezeichnen, so z. B. Süd-
Grundbildung insbesondere ist das Potential für die
korea, Singapur und Kenia, um nur einige zu nennen,
Zukunftschancen einer Gesellschaft. Die Beiträge der
verdeutlichen dies ebenfalls.
Bildungshilfe sind somit vorrangig zu überprüfen,
Dies sind noch Ausnahmefälle, die durch geeignete wiederum mit dem Ziel, eigene Ressourcen der Län-
politische, wirtschaftliche und soziokulturelle Rah- der zu entwickeln. Denn die Grundbildungsversor-
menbedingungen für Selbsthilfe zum Regelfall wer- gung gehört zu den ureigensten Aufgaben der Ent-
den können. Zwei Kategorien sind hier zu unterschei- wicklungsländer selbst. Aus- und Fortbildung zählte
den: innenpolitische, d. h. in der Verantwortung eines zu den Schwerpunkten der Entwicklungshilfe der
jeden Entwicklungslandes selbst liegende Rahmen- ehemaligen DDR. Wie andere Projekte auch, werden
bedingungen (Beachtung der Menschenrechte, De- nach sorgfältiger Prüfung, sinnvolle Vorhaben der frü-
mokratieverständnis der Regierung, marktwirtschaft- heren DDR fortgeführt.
liche Ordnung, Rechtssicherheit) und weltweite, d. h.
Viertens. Erstmals veranschlagt wurden im Einzel-
nur durch das internationale Zusammenwirken der
plan 23 Ausgaben im Zusammenhang mit internatio-
Geber- und Empfängerländer zu beeinflussende Be-
nalen Vereinbarungen zum weltweiten Umwelt-
dingungen (wie offene Märkte, Wettbewerbsmöglich-
schutz. Die Mittel sind vorgesehen für die Beteiligung
keiten, aber auch zielgerichtete Ausgaben).
Deutschlands an der bei der Weltbank einzurichten-
Bei nicht wenigen Ländern wurde wegen bedenkli- den Globalen Umweltfazilität, die aus einem globalen
cher, entwicklungshinderlicher Rahmenbedingungen Umwelt-Treuhandfonds und einem Ozonschicht
von der Veranschlagung insbesondere finanzieller Treuhandfonds bestehen soll. (VE multilaterale Hilfe:
Hilfen (FZ) ganz abgesehen (z. B. Sudan, Somalia). 242,7 Millionen DM).
Zur angestrebten stärkeren Selbsthilfeorientierung Die Entwicklungs- und Industrieländer haben eine
der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit soll vor gemeinsame Verantwortung für die Umwelt. Begrü-
allem auch die Einbeziehung der Nichtregierungsor- ßenswert ist in diesem Zusammenhang das Pilotpro-
ganisationen und Selbsthilfegruppen beitragen. Ein jekt zur Erhaltung der brasilianischen Tropenwälder,
breit diskutiertes und anerkanntes sektorübergreifen- für das der Bundeskanzler auf dem Weltwirtschafts-
des Konzept des BMZ liegt vor, ebenfalls konkrete gipfel in Houston im Juli 1990 250 Millionen DM zu-
Erfahrungen und insbesondere Kooperationsange- gesagt hat.
bote von Partnern in Entwicklungsländern.
Auch über Schuldenerlasse läßt sich eine aktive
Zweitens. Gerade die Erfahrungen in den osteuro- Beteiligung der Entwicklungsländer am Umwelt-
päischen Staaten bestätigen erneut, daß nur eine schutz erreichen. Verfahren wurde so bei Schuldener-
marktwirtschaftlich ausgerichtete Wirtschaftsord- lassen an Kenia, Zaire und Äthiopien in Höhe von ins-
nung mit sozialem und ökologischem Verantwor- gesamt 1,5 Milliarden DM. Viele Projekte im land-
tungsbewußtsein den notwendigen Hintergrund für wirtschaftlichen und industriellen Bereich werden
2200* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991
schon mit Umweltschutzkomponenten versehen. Alle Helmut Esters (SPD): Wenn wir ganz am Ende der
mit bundesdeutschen Mitteln geförderten Projekte zweiten Lesung den Einzelplan 23 beraten und verab-
unterliegen einer Umweltverträglichkeitsprüfung. schieden — mit kargen 7,9 Milliarden DM bei einem
Nur wenn auch die Entwicklungsländer dem Umwelt- Gesamthaushalt von 410 Milliarden DM — , dann muß
schutz einen höheren Stellenwert im eigenen Land jedem aufgehen, wie wenig das reiche Indust rieland
einräumen, kann globale Umweltschutzpolitik erfolg- Bundesrepublik Deutschland im Grunde für die not-
reich sein. leidenden Menschen in den Ländern der Zweiten und
Dritten Welt übrig hat. Wir wissen doch, welchen rie-
Zu den Konsequenzen für die zukünftige Entwick- sigen Finanzbedarf wir allein brauchen, um die Le-
lungspolitik: bensverhältnisse von nur 15 Millionen Menschen in
den neuen Bundesländern zu verbessern. In den Ent-
Erstens. Rückbesinnung auf die eigentliche Be- wicklungsländern kämpfen dagegen 4 Milliarden
zeichnung des Ministeriums: Bundesministerium für Menschen um das tägliche Überleben.
wirtschaftliche Zusammenarbeit und eben nicht für
Entwicklungshilfe. Zusammenarbeit bedeutet die Be- Ich weiß sehr wohl, daß unsere Entwicklungshilfe
rücksichtigung der Interessen beider Partner, bedeu- nur eine Randgröße im Nord-Süd-Ausgleich ist. Viel
tet eine einige Verzahnung bzw. Zusammenarbeit bei wichtiger sind Fragen der Marktöffnung und Han-
der Abstimmung über gemeinsame Ziele und Maß- delsliberalisierung, einer vernünftigen Agrarpolitik,
nahmen wie auch bei der Umsetzung dieser beschlos- gerechter Rohstoffpreise und einer wirksamen Ent-
senen Maßnahmen. schuldungsstrategie. Glücklicherweise haben die
Umwälzungen in Osteuropa auch in vielen Ländern
Zweitens. Wir müssen uns zunehmend von dem lei- der Dritten Welt — wenn auch noch nicht in allen —
der immer noch praktizierten Prinzip von mehr oder Veränderungen in Richtung auf mehr Demokratie,
weniger festen Länderquoten verabschieden. Partner, Beachtung der Menschenrechte und Abkehr von der
die aus eigener Kraft Reformbestrebungen hin zu ei- zentralen Verwaltungswirtschaft gebracht. Diese Pro-
ner demokratischen Gesellschaftsordnung verbunden zesse müssen durch unsere Entwicklungspolitik kräf-
mit einem marktwirtschaftlich orientierten Wirt- tig — und nicht halbherzig — unterstützt werden.
schaftssystem müssen in Zukunft stärker unterstützt
Nötig ist, daß wir zugunsten der reformbereiten
werden.
Länder vom bisherigen Quotensystem bei der Auftei-
Drittens. Zukünftig müssen wir außerdem die An- lung unserer Finanzierungshilfen abrücken. Die Er-
gemessenheit von Rüstungsausgaben der Entwick- fahrungen, die wir täglich beim Einigungsprozeß im
lungsländer bei unserer Entscheidung über wirt- eigenen Lande und in der Zusammenarbeit mit Osteu-
schaftliche Zusammenarbeit berücksichtigen. ropa machen, lassen neue Instrumente staatlicher In-
Staatenübergreifend muß sichergestellt werden, daß terventionspolitik entstehen, die wir auch in einer
Despoten, die Menschenrechte mit Füßen treten, vom Reihe von Ländern der Dritten Welt — nicht in allen —
Westen nicht Entwicklungshilfe kassieren, um im zum Einsatz bringen können. Die wichtigste Lehre
Osten Waffen einzukaufen. daraus heißt: Wer die Demokratie schaffen und eine
sozial verpflichtete Marktwirtschaft einführen will,
Die Ost-West-Entspannung erleichtert dies natür- der braucht vor allem eine möglichst effiziente Staats-
lich entscheidend — durch die Auflösung der politi- verwaltung.
schen und militärischen Machtblöcke ist zahlreichen
Der neue Minister hat uns seine Bereitschaft zur
Entwicklungsländern die Möglichkeit genommen
Zusammenarbeit erklärt. Wir haben das dankbar zur
worden, Ost und West gegeneinander auszuspielen
Kenntnis genommen; denn in der Entwicklungspolitik
indem man einfach androhte, in das „andere Lager"
hat die Zusammenarbeit von Regierung und Parla-
zu wechseln, um so mehr Geld zu erhalten.
ment eine gute Tradition. Sie ist jedoch keine Ein-
Viertens. Ein letzter Punkt, der die Entwicklung in bahnstraße. Sie ist von der Opposition auch nicht zum
der Dritten Welt behindert, ist die enorm hohe Schul- Nulltarif zu haben.
denlast. Wechselkursschwankungen und Schulden- Sozialdemokratische Minister haben die entwick-
rückführungen sind die Hauptursachen für diese nach lungspolitische Konzeption der Bundesregierung bis
wie vor kritische Situation. 1990 lag die Gesamtver- heute nachhaltig geprägt. Solange Sie, Herr Minister
schuldung der Entwicklungsländer bei ca. 2 200 Mil- Spranger, an deren Politik und Erfahrungen anknüp-
liarden DM. Die Bundesregierung hat den am wenig- fen, bleiben Sie auf sicherem Boden. Die beiden Vor-
sten entwickelten Ländern (Least Developed gänger des neuen Ministers haben zu lange auf die
Countries) sämtliche Schulden erlassen — in einer Entscheidung des Kanzlers gewartet, der Entwick-
Größenordnung von jetzt rund 9 Milliarden DM. lungspolitik den ihr gebührenden Rang im Rahmen
der Gesamtpolitik der Bundesregierung einzuräu-
Weitere Schuldenerlasse müssen an klare Bedin-
men.
gungen geknüpft werden, die Anpassungs- und Re-
formprozesse und die Durchführung von Umwelt- Anders als Willy Brandt und Helmut Schmidt hat
schutzmaßnahmen in den Entwicklungsländern selbst der gegenwärtige Kanzler in der Dritten Welt keinen
garantieren. Jedoch verbirgt sich hier eine erhebliche Namen. Seine Ankündigungen zur Erhöhung der
Problematik, da Schuldenerlasse nicht motivierend deutschen Entwicklungshilfe sind ohne Folgen ge-
auf die Länder wirken, die ihrerseits ihren Verpflich- blieben. Ich erinnere an das diesem Hause wiederholt
tungen pünktlich nachkommen. Eine Abstimmung gegebene Kanzlerversprechen, die Rückflüsse aus der
auf internationaler Ebene zwischen Geber- und Emp- Kapitalhilfe wieder für Entwicklungsaufgaben zur
fängerländern ist daher unerläßlich. Verfügung zu stellen. Wie dieses Thema seit 1985 von
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2201'
Regierung und Koalition behandelt worden ist, gehört sen der Expertenlobby — die Geschäftspolitik unserer
nicht zu den Ruhmestaten deutscher Politik. Durchführungsorganisation ändern.
Hier drängt sich förmlich der Verdacht auf, die Re- Die im BMZ vorhandene Bereitschaft, hier tätig zu
gierung sei nur deshalb untätig geblieben, weil die werden, haben wir — wenn auch noch nicht übermä-
Initiativen ursprünglich aus dem Parlament gekom- ßig deutlich — vernommen. Sylvia Espinoza aus Boli-
men sind. Wenn Sie es, meine Damen und Herren von vien, die erste ausländische Projektassistentin, die auf
der Koalition, mit der entwicklungspolitischen Zu- parlamentarische Initiative von der GTZ eingestellt
sammenarbeit ernst meinen, dann erwarten wir bis worden ist, darf keine Alibifrau bleiben.
zum Herbst für die Haushaltsberatungen 1992 solide
Finanzierungsvorschläge, wie unsere Entwicklungs- Vor wenigen Tagen hat sich in Äthiopien ein über-
politik gesetzlich abgesichert werden kann. raschender Umsturz vollzogen, von dem wir alle hof-
fen, daß er dem Land einen dauerhaften Frieden und
Dieser Vorschlag knüpft an Traditionen der 70er eine demokratische Entwicklung beschert. Dazu kann
Jahre an, in denen das Parlament seine Mitverantwor- vor allem ein entwicklungspolitischer Neuanfang im
tung für die Dritte Welt besonders ernst genommen Zeichen der „Personellen Zusammenarbeit" beitra-
hat. Einige von Ihnen werden sich an den Weltwirt- gen. Hier können wir Ernst machen mit einer Ent-
schaftsgipfel von Venedig im Jahre 1977 erinnern. Auf wicklungshilfe, die den Menschen in den Mittelpunkt
Vorschlag des Haushaltsausschusses hat das Parla- stellt.
ment seinerzeit einstimmig die Finanzierung eines
Süd-Europa-Programms in Millionenhöhe gefordert. In der Bundesrepublik Deutschland leben allein
Dadurch wurde der spätere EG-Beitritt von Spanien, 16 000 Flüchtlinge aus Äthiopien und E ritrea. Sie wer-
Portugal und Griechenland vorbereitet, von Ländern den beim Aufbau des kriegszerstörten Landes drin-
also, die sich damals im Übergang zur Demokratie gend gebraucht. Die in jüngster Zeit auf Initiative des
befanden. Am Erfolg dieser parlamentarischen Initia- Haushaltsausschusses geschaffenen Instrumente der
tive besteht heute kein Zweifel. Damals mußte sich Subjektförderung, wie z. B. bef ri stete Gehaltszu-
der Finanzminister vor dem Parlament den besseren schüsse oder Existenzgründungszuschüsse, müssen
Argumenten eines mutigen Entwicklungshilfemini- zur Förderung der Rückkehr dieser Flüchtlinge einge-
sters, der unvergessenen Ma rie Schlei, beugen. Im setzt werden. Das „Fachkräfteprogramm Afghani-
Blick auf Polen und andere osteuropäische Beitritts- stan", ebenfalls auf parlamentarische Initiative ent-
kandidaten erscheint es heute dringend nötig, solche standen, hat hier entscheidende Vorarbeiten gelei-
stet.
parlamentarischen Gestaltungsmöglichkeiten erneut
in Erinnerung zu rufen. Schließlich: Warum sollten wir beim Wiederaufbau
Minister Spranger hat seine Aufgabe mit drei Äthiopiens keinen einheimischen Freiwilligendienst
Schlagworten definiert: Armutsbekämpfung, Umwelt unterstützen, der die bei uns ausgebildeten Flücht-
und Bildung. Dagegen haben wir nichts einzuwen- linge in Programmen der Grundbildung oder Basisge-
den. Doch mit rund 160 Millionen DM, also knapp sundheit beschäftigt? Soweit das Entwicklungshelfer-
2,5 % des Einzelplans 23, die 1991 weltweit für Bil- gesetz heute noch solchen Einsätzen entgegensteht,
dungsobjekte zur Verfügung stehen, läßt sich keine kann es novelliert werden. Für eine derartige Öffnung
Schwerpunktbildung begründen. Erst wenn klar for- der Entwicklungsdienste wird sich mit Sicherheit eine
mulierte, von den betroffenen Ländern auch ernsthaft breite parlamentarische Mehrheit finden.
gewollte Bildungsprogramme vorliegen, können wir Lassen Sie mich am Beispiel der Wasserversorgung
uns über die dafür notwendige Verpflichtungser- in Entwicklungsländer verdeutlichen, wie ernst die
mächtigung unterhalten. Lage ist. Die Cholera-Epidemien in Lateinamerika
Nennen Sie uns konkrete Länder, Herr Minister. und großen Teilen im südlichen Afrika waren vorher-
Dann werden wir Sie dabei unterstützen, erste Pilot- sehbar. Ihre Ursachen waren ausschließlich die seit
programme der Grundbildung in Gang zu bringen, langem bekannten Mängel bei der Trinkwasserver-
deren Inlandskosten wir notfalls über Zeiträume von sorgung und der Abwasserentsorgung. Diese Mängel
15 Jahren übernehmen müssen. Solche Programme lassen sich beheben, wenn wir die Menschen in den
müssen nicht unbedingt nach deutschen Kriterien ge- Entwicklungsländern mit wirksamen Techniken der
plant werden. Ausschlaggebend ist vielmehr, daß sie Wasseraufbereitung vertraut machen würden. Das
den Bedürfnissen und Möglichkeiten der Partner ent- Wissen um diese Techniken liegt in Deutschland vor
sprechen. allem bei kommunalen Versorgungseinrichtungen.
Mir sind zahlreiche Stadtwerke bekannt, die an der
Dazu gehört vor allem, daß unsere Partner auch per- Übernahme solcher Aufgaben interessiert sind. Bis-
sonell an der Durchführung solcher Programme betei- lang ist es jedoch nicht gelungen, eine solche Zusam-
ligt werden. Mit der Beschäftigung einheimischer menarbeit — vor allem mit der Weltbank — zu orga-
Fachkräfte im Rahmen der von uns finanzierten Pro- nisieren. Ich erneuere meinen Appell an die Regie-
jekte muß endlich Ernst gemacht werden. Die Glaub- rung, hier für Abhilfe zu sorgen.
würdigkeit unserer Bildungsoffensive wird entschei-
dend davon abhängen, wie intelligent wir mit dem Wir können uns auf keine Wohlstandsinsel zurück-
bereits ausgebildeten Humankapital der Entwick- ziehen. Was wir brauchen, ist mehr Solidarität mit den
lungsländer umgehen. Statt für teures Geld deutsche Ländern der Dritten Welt. Was wir erkennen müssen,
Experten und Entwicklungshelfer in die Entwick- ist, daß uns für den Aufbau einer solidarischen Welt
lungsländer zu schicken, die den dort vorhandenen nur noch wenig Zeit bleibt.
einheimischen Kräften Arbeit wegnehmen, müssen Lassen Sie mich deshalb ein deutliches Wort an alle
wir — auch gegen geschickt kaschierte Eigeninteres- richten, die durch die Ankündigung, die Armutsbe-
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kämpfung durch Selbsthilfe zu einem Schwerpunkt markt wird zu keiner Abschottung von den Ländern
unserer Entwicklungspolitik zu machen, zutiefst ver- der Dritten Welt und anderen Nachbarn führen. Dies
unsichert worden sind. Der Interessenausgleich mit wären die falschen Schlußfolgerungen aus den welt-
der Dritten Welt wird uns nur gelingen, wenn wir dort weiten Herausforderungen. Glaubwürdige Nord-
genügend Arbeitsplätze schaffen. Diese Arbeitsplätze Süd-Politik verlangt die Bereitschaft zur Übernahme
brauchen wir, um den Bedarf von 4 Milliarden Men- ungeteilter Verantwortung und Solidarität, verant-
schen auf dieser Welt in kaufkräftige Nachfrage zu wortliches Handeln national und international! Auch
verwandeln. bei uns bedarf es dazu der Fortsetzung des notwendi-
gen Strukturwandels. Die Bemühungen von Bundes-
Dies bedeutet, daß die Industrialisierung der Dritten
wirtschaftsminister Jürgen W. Möllemann im Bereich
Welt ebenso unvermeidlich ist, wie wir sie als selbst-
des Subventionsabbaus sind in diesem Zusammen-
verständliche Grundlage unseres Wohlstands für uns
hang daher ausdrücklich zu unterstützen. Die Bun-
reklamieren. Natürlich muß solch eine Entwickung
desrepublik Deutschland wird sich weiterhin für eine
die Begrenztheit der natürlichen Ressourcen dieser kontinuierliche Zusammenarbeit mit der Dritten Welt
Erde im Auge behalten. Aber es macht keinen Sinn, einsetzen. Wir nehmen die Verantwortung in einem
sich vor diesem schwierigen Balanceakt zu drücken
besonderen Sinne der Wiedervereinigung an. Die
und den Entwicklungsländern statt dessen Beschei-
deutsche Verantwortung ist größer geworden. Dieser
denheit zu predigen. Wer eine so verstandene inter-
Haushalt macht es schon in einem Bereich deutlich:
nationale Solidarität will, der kommt nicht umhin, den Wir treten für die Leistungen, die bislang von der frü-
Entwicklungslände rn auch den Zugang zur modernen heren DDR getätigt wurden, alles in allem ein, aller-
Technologie zu öffnen, der muß zugeben, daß ohne dings nicht in unkri tischer Weise. Ich will es bildlich
moderne Kommunikationsmittel und ein leistungsfä- verdeutlichen.
higes Transportwesen die vor uns liegenden Aufga-
ben ebenso wenig zu meistern sind wie ohne eine gute Wenn früher die SED Versprechungen besonders
staatliche Verwaltung und ein selbstbewußtes Unter- politisch motivierter Art gegeben hat, so fällt das jetzt
nehmertum. - in die Verantwortlichkeit der Nachfolgeorganisation
PDS mit ihrem nicht kleinen Vermögen. Das ist nicht
Nur wenn wir die Armut in diesem Sinne überwin-
den, haben wir im Wettlauf mit der Zeit noch eine so ohne weiteres eine Aufgabe, die jetzt vom deut-
schen Steuerzahler automatisch zu übernehmen ist.
Chance.
Auf einen Teil der Faktendarlegung von meinen Vor-
rednern möchte ich nicht wiederholend eingehen. Ich
WernerZywietz (FDP): Dieser erste gesamtdeutsche möchte an dieser Stelle nur hervorheben, daß ein er-
Bundeshaushalt ist Ausdruck des historischen Wan- freulich breiter Konsens in den Haushaltsberatungen
dels, der sich mit der Überwindung der West-Ost- über die Strukturierung und Dotierung dieses Einzel-
Konfrontation, der Wiederherstellung der Deutschen plans zwischen FDP, CDU/CSU und SPD vorhanden
Einheit und der gewachsenen Verantwortung des ver- ist. Ich halte es für sehr erfreulich, daß es bei der
einigten Deutschlands in der Welt verbindet. Trotz Dritte-Welt-Politik, dieser besonderen Form einer äu-
gewaltiger einigungsbedingter Ausgaben im Inter- ßeren Politik, wenn ich so sagen darf, breite Überein-
esse einheitlicher Lebensverhältnisse in ganz stimmung gibt. Auch dies ist eine Form, durch ge-
Deutschland sowie erheblicher Belastungen durch meinsame Politik eine hohe Effizienz zu erreichen. An
den Golfkonflikt und zur Unterstützung des Reform- dieser Stelle möchte ich hinzufügen, daß der Bundes-
prozesses in Mittel- und Osteuropa ist beim Entwick- minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit Carl
lungshilfe-Etat 1991 ein guter Zuwachs zu verzeich- Dieter Spranger sich in sehr kurzer Zeit in die Materie
nen. Mit einem Volumen von fast 8 Milliarden DM dieses Hauses hineingefunden hat und mit Umsicht
steigt der Einzelplan 23 gegenüber dem Vorjahr um diesen Konsens von seiner Seite fördert. Dafür meinen
ca. 8 %, bereinigt um die Aufwendungen im Rahmen herzlichen Dank von seiten der FDP. Es ist gut, zwi-
der Golfsonderhilfe. Selbst unter Einbeziehung der schen der deutschen Entwicklungspolitik und der
1990 von der ehemaligen DDR gewährten Leistungen deutschen Außenpolitik Kongruenz und nicht Kon-
an Entwicklungsländer liegt der erste gesamtdeut- kurrenz festzustellen.
sche Entwicklungshilfeetat noch um drei Prozent über
Hilfe für die Dritte Welt ist nicht nur eine Frage des
der Gesamtsumme aller deutschen Entwicklungshil-
Volumens, sondern insbesondere der Effizienz. Dies
feleistungen des Vorjahres.
ist um so wichtiger, weil die Probleme, die zu Recht
Dies sind beachtliche Leistungen nicht nur in die- auch von seiten der SPD festgestellt wurden, geblie-
sem Jahr. Sie werden von unserem Staat seit Jahr- ben, vielleicht sogar gesteigert worden sind. Darum ist
zehnten erbracht. Dies ist, man muß es so sagen, leider aus Sicht der FDP der methodische Ansatz besonders
auch nach wie vor nötig. Denn die Probleme Bevölke- wichtig. Überwindung elementarer Lebensnot kann
rungswachstum, Armut und Unwissenheit sowie eine nur gelingen, wenn viel private Initiative entfacht und
zunehmende Gefährdung der Umwelt bestehen leider in Mitzieheffekte fortentwickelt werden kann. Dazu
in allzu vielen Teilen unserer einen und gemeinsamen ist eine sozial und ökologisch orientierte Marktwirt-
Welt fort. Darum ist eine wirksame Entwicklungszu- schaft das beste Instrument. Gerade angesichts der
sammenarbeit, die auf Eigenverantwortung, aber Entwicklungen in vielen Ländern wird deutlich, daß
auch auf Solidarität und Partnerschaft gegründet sein ein sozialistisch orientiertes System nicht in der Lage
muß, im Rahmen einer Weltinnenpolitik dringender ist, die erforderlichen Bedürfnisse der Menschen zu
denn je. Dazu bekennen wir ausdrücklich: Das ver- befriedigen. Darum haben wir mit Bedacht darauf ge-
einte Deutschland zieht sich nicht auf sich selbst zu- achtet, daß im Rahmen der Möglichkeiten alles, was
rück, und der bald bestehende Europäische Binnen Marktwirtschaft fördert, was menschliche Motivation
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2203'
fördert, was zu Mitwirkungs- und Mitzieheffekten Einzelpunkte akzeptabel. Die Art und Weise jedoch,
führt, Unterstützung aus diesem Haushalt erfährt. in der sie verknüpft und zueinander in Beziehung
gesetzt werden, offenbart tiefe Widersprüche.
Im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit wer-
den darüber hinaus die Bemühungen beim internatio- Der erste Widerspruch besteht zwischen Anspruch
nalen Umweltschutz eine noch bedeutendere Rolle und realen finanziellen Möglichkeiten dieser Kon-
spielen. Die auch auf Initiative der Bundesregierung zepte. Knappe 8 Milliarden DM nehmen sich nicht nur
vor kurzem geschaffene globale Umweltfazilität der neben einem Verteidigungshaushalt von mehr als
Weltbank stellt einen wichtigen Schritt auf dem Wege 52 Milliarden DM geradezu jämmerlich aus.
zur Schaffung einer Weltklima-Konvention dar. Zu
diesem neuen Finanzierungsinstrument trägt die Bun- Auch die gutwilligsten „Hochrechnungen", die mit
desrepublik Deutschland allein rund 266 Millionen einer nominalen Steigerung von 7,8 % argumentieren
DM bei. Die Bundesrepublik Deutschland leistet da- (die bei Berücksichtigung der hinzukommenden Ent-
mit, neben ihrer internationalen Vorreiterrolle im Be- wicklungshilfe der ehemaligen DDR auf etwa 3 % zu-
reich des Tropenwaldschutzes und einem Maßnah- sammenschrumpft), können nicht darüber hinweg-
menprogramm mit einem jährlichen Volumen von täuschen, daß nur 0,39 % des BSP für einen Bereich
300 Millionen DM, einen entscheidenden Beitrag zum zur Verfügung gestellt werden, der nach Aussagen
globalen Umweltschutz. der verantwortlichen Politiker in den Rang einer
„Weltinnenpolitik" erhoben werden muß. Damit liegt
Ich möchte allerdings anmerken, daß mit Blick auf der neue Entwicklungshilfeetat unter dem 1989 er-
den Volksmund, der da sagt: „Unglück schläft nicht" reichten Anteil am BSP von 0,41 % und ist weit davon
— und leider erreignet es sich auch global allzu häu- entfernt, sich den magischen, von der UNO für das
fig, wie die jüngsten Naturkatastrophen deutlich ma- Jahr 2000 vorgegebenen 0,7 % auch nur zu nähern.
chen — , hier zu Recht unbürokratisch und sofort hu-
manitäre Hilfe erfolgen muß. Es kann aber nicht sein, Während die skandinavischen Länder bereits 1989
daß diese Maßnahmen zu Lasten der finanziellen Zu- durchschnittlich 0,89 % ihres BSP für Entwicklungs-
sammenarbeit gehen und auch deren Strukturierung hilfe freistellten (Norwegen sogar 1,04 %), ist das in
somit erschweren. Hier müssen die entwicklungspoli- Umfang und Verantwortung gewachsene Deutsch-
tischen Instrumente neu überprüft werden. land nach Ende der Blockkonfrontation und Auflö-
Ein Weiteres, was bei der letzten Haushaltsdebatte sung des Warschauer Vertrages nicht in der Lage,
noch mehr als Eventualmöglichkeit angesprochen zumindest ähnliche Aufwendungen zu tätigen. Nie-
wurde. Die Veränderungen politischer und markt- mand spricht mehr von der gemeinsamen Beschluß-
wirtschaftlicher Art in den Staaten Mitteleuropas, hat empfehlung der Ausschüsse für wi rt schaftliche Zu-
sich erfreulicherweise weiterentwickelt. Hier wollen sammenarbeit der Volkskammer und des 11. Deut-
wir nicht abseits stehen. Hier müssen wir helfen auch schen Bundestages, bis 1995 die 0,7 %-Grenze in der
mit den Mitteln dieses Etats. Denn die ökonomische Bundesrepublik Deutschland zu erreichen.
und damit auch politische Entwicklung in unseren Angesichts derartiger Unterbewertung erscheint es
unmittelbaren östlichen Nachbarstaaten ist auch nachgerade müßig, die Verteilung der genannten
wichtig für unser aller Wohlergehen. Darum begrüßen Mittel detailliert zu bewerten.
wir die vorgesehenen Möglichkeiten, auch in Osteu-
ropa aus den Mitteln dieses Etats mitzuhelfen. So, wie sich die Situation jetzt darstellt, gehen so-
wohl die deutsche Wiedervereinigung als auch der
Die deutsche Entwicklungspolitik basiert auf einem
Aufbau in Osteuropa sowie der Drang Deutschlands
in sich geschlossenen politischen Gesamtkonzept, das
nach politischer Vormachtstellung und militärischer
von unserer gemeinsamen Verantwortung für eine
Einbeziehung sehr wohl zu Lasten der „Zwei-Drittel-
menschliche Entwicklung in allen Teilen der Welt ge-
Welt" . Das ist ein weiteres nicht eingehaltenes Wahl-
tragen wird. Der heute zur Beratung anstehende Ein-
versprechen, diesmal im internationalen Maßstab.
zelplan 23 leistet hierzu einen wichtigen Beitrag. Die
FDP-Bundestagsfraktion stimmt diesem Einzelplan zu Es erweist sich als recht aufschlußreich, auch die
und erwartet, daß Carl-Dieter Spranger und sein Haus Widersprüche zwischen Konzeption und praktischer
die für 1991 bereitgestellten Mittel und Verpflich- Umsetzung hinsichtlich der eingangs aufgeführten
tungsermächtigungen wirksam zur Bewältigung der Rahmenbedingungen zu analysieren und so zu einem
ökonomischen und ökologischen Herausforderungen substantiellen Kritikpunkt zu kommen.
in der Dritten Welt einsetzen. Hierbei haben Sie, Herr
Minister, und die Mitarbeiter im Geschäftsbereich Ih- Einhaltung der Menschenrechte und Demokratisie-
res Hauses auch weiterhin unsere volle Unterstüt- rung der Gesellschaft sind wichtige Kriterien der Ent-
zung, wenn es darum geht, die bestehenden Probleme wicklungshilfe. An der Objektivität ihrer Bewertung
in der Dritten Welt mit mehr Privatinitiative und öko- und Auslegung durch die Bundesregierung bestehen
logischem Augenmaß zu überwinden. jedoch meines Erachtens berechtigte Zweifel.
Die entwickelten Länder des Nordens, die mit ihrer
Dr. Ursula Fischer (PDS/Linke Liste): Das Thema ressourcenverschwendenden Produktions- und Le-
dieser Debatte ist der Etat des Bundesministers für bensweise die aktuellen Probleme dieser einen Welt
wirtschaftliche Zusammenarbeit. Es hat in den ver- originär verschuldet haben, maßen sich jetzt an, kraft
gangenen Wochen und Monaten sehr viele Ausagen ihres wirtschaftlichen und daraus resultierenden poli-
über die entwicklungspolitischen Konzeptionen des tischen und militärischen Machtpotentials mehr als
neuen Ministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit zwei Dritteln der Welt zu diktieren, was Entwicklung
gegeben. Diese Schwerpunkte und Kriterien sind als ist und wie man sie macht. Das ist nicht nur ungerecht
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und kurzsichtig, sondern zeugt auch von ungeheurer Lage und Bedrohungen der Zwei-D ri ttel-Welt „objek
Heuchelei. tiv" zu beruteilen und so auch das lohnende Rüstungs-
geschäft im Rahmen der Entwicklungspolitik zu in-
Der hochentwickelte Norden (bei all seiner inneren strumentalisieren, mehr noch ihre praktische Anwen-
Differenziertheit) ist nämlich dabei, durch massiven
dung lassen vermuten, daß eher die letztere Ausdeu-
Protektionismus, Internationalisierung seiner Struktu-
tung der Realität nahekommt.
ren und Institutionen und einen unverhohlenen Ab-
schottungskurs die von ihm verursachten internatio- Ich möchte an dieser Stelle nicht über den Offenba-
nalen Abhängigkeiten und Unrechtsverhältnisse zu rungseid des Staatssekretärs Lengl polemisieren, der
verewigen und wenn möglich auszubauen. sicherlich unfreiwillig oder doch zumindest zu einem
Gleichzeitig werden die Entwicklungsländer (und taktisch unklugen Zeitpunkte hat erkennen lassen, in
übrigens auch Osteuropa) mittels massiven ökonomi- welcher Weise Demokratie und Menschenrechte
schen und zunehmend auch militärischen Drucks an- durch das Ministerium für wirtschaftliche Zusammen-
gehalten, sich den Verwertungserfordernissen des in- arbeit und diese Bundesregierung interpretiert wer-
ternationalen Kapitals anzupassen, und sei es auch den sollen; oder fragen, warum Länder wie China,
um den Preis der Selbstzerstörung. Türkei, Isreal oder Pakistan Mittelzusagen von jeweils
über 100 Millionen DM im Rahmen der FZ erhalten
Die Folgen solcher Entwicklungsstrategien sind be- haben, obwohl die Menschensrechtssitutation gerade
kannt, berechenbar und einkalkuliert im weltweiten auch in diesen Ländern seit Jahren durch internatio-
Geschäft des Kapitals, obwohl immer mehr Stimmen nale Organisationen massiv kritisiert wird; oder
vor der selbstmörderischen Irrationalität der laufen- warum Nicaragua von jeglicher offizieller Entwick-
den Prozesse warnen, die unsere Welt ökologisch lungszusammenarbeit ausgenommen war und sich
nicht durchstehen wird. Aber es geht in der bundes- jetzt unter vergleichsweise miserablen Bedingungen
deutschen Entwicklungspolitik (so gut es engagierte der Roßkur von Strukturanpassungen unterwerfen
Entwicklungspolitiker auch meinen), letztendlich muß, die Gesundheits- und Bildungswesen um Jahr-
-
nicht um Problemlösung, sondern um Konfliktverwal- zehnte zurückwerfen und den größten Teil der Bevöl-
tung und Krisenmanagement. kerung an den Rand des Existenzminimums drücken;
Soziale Abfederung von Strukturanpassung wird oder Kuba .. .
nicht „erfunden" , weil ärmste und arme Bevölke- Die PDS/Linke Liste im Bundestag sieht die Ent-
rungsschichten an den Rand der Existenzmöglichkeit wicklungspolitik dieser Bundesregierung als ein wei-
gedrängt werden, sondern aus Sorge um die Funk- ters Mittel, politische Konformität weltweit durch In-
tionsfähigkeit der internationalen Finanzmärkte. Die strumentalisierung wirtschaftlicher Überlegenheit
als Folge von Verelendung im Zuge der Strukturan- durchzusetzen bzw. zu honorieren. Menschenrechte
passung auftretende politische Instabilität in Ländern und Demokratie verkommen zu leeren Worten, ver-
der „Dritten Welt" , die erschossenen Demonstranten gleichbar mit der Pervertierung des Beg riffes Völker-
und verhungernden Kinder sind für multinationale recht während des Golfkrieges.
Konzerne nur insofern beunruhigend, als sie geschäft-
liche Unwägbarkeiten verursachen. Deutschland hat auch auf dem zentralen und zu-
Das Argument für die „Bekämpfung" von Flücht- nehmend wichtigen Gebiet der Entwicklungszusam-
lingsströmen ist nicht das Elend und menschenunwür- menareit gehalten, was es im Zuge seiner Entwick-
dige Dasein der Betroffenen, sondern die den Europä- lung zu einem europäischen Machtzentrum ange-
ern eindringlich suggerierte Notwendigkeit des droht hat.
Selbstschutzes. Daß diese Argumentation nicht der
Entwicklung von Toleranz unter den Menschen, son-
Carl-Dieter Spranger, Bundesminister für wirt-
dern einer Abschottungsmentalität und einem noch
schaftliche Zusammenarbeit: Bundeskanzler Kohl hat
größeren Eurozentrismus dient, liegt auf der Hand.
in seiner Regierungserklärung vom 30. Januar 1991 in
Daß Angst die Bereitschaft zur Gewalt erhöht, ist
eindrucksvollen Worten ausführlich die große Bedeu-
ebenfalls kein Geheimnis und genausowenig zufäl-
tung der Entwicklungspolitik für Deutschland darge-
lig. stellt. Der Bundeskanzler betonte ausdrücklich, daß
Ein anderer Aspekt. Der Herr Staatssekretär Repnik wir uns nicht nur auf die Aufgaben in unserem Land
charakterisiert die Bedeutung der Entwicklungspoli- und Europa konzentrieren dürfen, sondern daß unsere
tik mit dem Beg ri ff „Weltinnenpolitik". Meint dieser Verantwortung nach der Wiedervereinigung vor al-
Begri ff die notwendige Demokratisierung der interna- lem gegenüber den Entwicklungsländern gewachsen
tionalen Beziehungen im Sinne einer gleichberechtig- ist. Die globalen Herausforderungen — er nannte vor
ten Partizipation aller Länder an den Regulierungs- allem Armut, Umweltzerstörung, aber auch die Ver-
prozessen, den Verteilungs- und Austauschverhält- schuldung und die Bevölkerungsexplosion in der Drit-
nissen bei gleichzeitigem generellen Schuldenerlaß ten Welt — verlangten eine intensivere internationale
und zeitlich befri steten Schonzeiten z. B. für LDC Zusammenarbeit.
Länder? Oder steht dieser Beg riff eher für das gene-
relle und uneingeschränkte Recht der Ersten Welt, auf Bundeskanzler Kohl erklärte, zuletzt am 20. Mai in
dieser einen Erde nach eigenem Ermessen schalten Washington:
und walten zu können? Wir müssen deshalb auch in Zukunft eine Entwick-
Die Kriterien für Rahmenbedingungen der Ent- lungspolitik fortsetzen, die den Ärmsten und
wicklungshilfe, zumal die jetzt explizit aufgenom- Schwächsten tatkräftig zur Seite steht — und die
mene Berechtigung der Geberländer, militärische ihnen vor allem hilft, sich selbst zu helfen.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991 2205'
Diese Äußerungen belegen, welchen hohen Stellen- Die Bundesregierung hat mit dem Etat 1991 die
wert die Bundesregierung der Entwicklungspolitik haushaltsmäßigen Konsequenzen aus ihren Zusagen
beimißt und beimessen wird. gezogen, die deutschen Beiträge für den Europäi-
Entwicklungshilfe lebt vom Verständnis der Men- schen Entwicklungsfonds und für die neunte Wieder-
schen füreinander und von unserer gemeinsamen auffüllung der Mittel für die Internationale Entwick-
Verantwortung für eine menschliche Entwicklung in lungsorganisation (IDA) deutlich zu erhöhen. Beide
allen Teilen der Welt. Bedürftigen Menschen zu hel- Fonds werden maßgeblich von uns mitfinanziert und
fen und für eine würdige Zukunft weltweit zu arbeiten unterstützen, wie Sie wissen, in erster Linie die ärm-
ist uns eine selbstverständliche humanitäre Verpflich- sten Länder in der Dritten Welt.
tung. Erstmals im Haushalt veranschlagt werden Mittel
für multilaterale Hilfen beim weltweiten Umwelt-
Zugleich gilt: Entwicklungspolitik ist partnerschaft-
schutz, die über die maßgeblich durch deutsche Initia-
liche Zusammenarbeit im gegenseitigen Interesse, sie
tive ins Leben gerufene Globale Umweltfazilität der
ist internationale Friedenspolitik. Entwicklungspolitik
Weltbank bereitgestellt werden. Für die multilaterale
trägt dazu bei, für alle Menschen in Nord und Süd die
Zusammenarbeit steht damit 1991 insgesamt fast ein
überlebenswichtigen natürlichen Lebensgrundlagen
D rittel unserer Ausgaben zur Verfügung, das sind
zu erhalten, und sie fördert die soziale und wirtschaft-
rund 2,54 Milliarden DM.
liche Entwicklung in der Dritten Welt.
Die Rolle der multilateralen Organisationen ge-
In den ersten Monaten im neuen Amt ging es mir winnt angesichts der globalen entwicklungspoliti-
zunächst darum, ein entwicklungspolitisches Schwer-
schen Herausforderungen weiterhin an Bedeutung.
punktprogramm für die kommenden Jahre zu erarbei- Dennoch lassen Sie mich eines deutlich machen: Die
ten. Zur Vorbereitung dieses Programmes habe ich unverzichtbare Säule unserer Entwicklungszusam-
eine Vielzahl von Gesprächen geführt, mit Bundes- menarbeit bleibt auch zukünftig die bilaterale Hilfe.
tagsabgeordneten aller Fraktionen und mit Vertretern Die bilaterale Hilfe muß gerade angesichts der ge-
der Parteien, mit ausländischen Repräsentanten und schilderten Befürchtungen unserer Partnerländer ihre
Botschaftern aus der Dritten Welt, mit Ministerkolle- politische Bedeutung als Ausdruck und Markenzei-
gen aus anderen Gebernationen und mit zahlreichen
chen der gestiegenen Verantwortung behalten, die
Experten. Gesprochen habe ich auch intensiv mit Ver- das vereinigte Deutschland weltweit zu übernehmen
tretern von Kirchen und Nicht-Regierungsorganisa- bereit ist.
tionen sowie der deutschen Wirtschaft.
Gut 110 Millionen DM des Zuwachses des Einzel-
Die Zustimmung, die meine Arbeit dabei erfahren plans 23 dienen dazu, Entwicklungshilfemaßnahmen
hat, hat mich darin bestärkt, daß der politische Stel- der ehemaligen DDR unmittelbar weiterzuführen, im
lenwert der Entwicklungspolitik zunehmen wird. Der wesentlichen in der Aus- und Fortbildung, der bilate-
Grundkonsens in unserem Land über die Notwendig- ralen Technischen Zusammenarbeit und beim Deut-
keit eines Ausgleichs zwischen Nord und Süd bietet schen Entwicklungsdienst. Dazu gehören auch Mittel
eine notwendige und tragfähige Grundlage für die für die Wiedereingliederung der ausländischen Ar-
deutsche Entwicklungspolitik. Diesen Konsens zu er- beitnehmer in der DDR, die in ihre Heimatländer zu-
halten, zu festigen und weiter auszubauen habe ich rückkehren. Das bet rifft in erster Linie Vietnamesen
mir zur Aufgabe gemacht. und Mosambiquaner.
Die Wiedervereinigung Deutschlands ist auch in Auch die Mittel für die Arbeit der nichtstaatlichen
den Ländern der Dritten Welt vielfach begrüßt wor- Träger, insbesondere der Kirchen und der politischen
den. Davon konnte ich mich vielfach überzeugen. Sie Stiftungen, werden um 32 Millionen DM erhöht. Ins-
war aber auch von der Sorge begleitet, daß Deutsch- gesamt stellen wir für beide Kirchen Mittel in Höhe
land sich in Zukunft stärker darauf konzentrieren von 290 Millionen DM bereit. Damit haben wir in un-
wird, seine eigenen politischen und wirtschaftlichen serem Haushaltsentwurf 1991 deutliche Akzente ge-
Probleme zu lösen. Mittlerweile konnte ich deutlich setzt.
machen: Diese Sorgen sind unbegründet.
Für die bilaterale Finanzielle und Technische Zu-
Der Haushaltsentwurf für den Einzelplan 23 für das sammenarbeit haben wir im Finanzjahr 1991 knapp
Haushaltsjahr 1991 belegt: Auch in diesem Jahr wol- die Hälfte der Ausgaben, also 3,77 Milliarden DM,
len wir, ungeachtet der angespannten Finanzlage, un- sowie Verpflichtungsermächtigungen in Höhe von
sere Mittel für die Dritte Welt weiter steigern. Weder 4,1 Milliarden DM vorgesehen. Wir hatten uns dabei
die Finanzierung von Einheit und Wiederaufbau im an der mittelfristigen Finanzplanung zu orientieren.
Osten Deutschlands noch die zusätzlichen Anforde- Viele Entwicklungsländer nehmen die ihnen zuge-
rungen, die durch den Golfkrieg entstanden sind, ge- sagten Mittel erheblich schneller in Anspruch als noch
hen zu Lasten der Entwicklungshilfe. vor wenigen Jahren. Dies und der verstärkte Abfluß
Der Haushaltsentwurf ist die Bestätigung der An- unserer multilateralen Mittel in den nächsten Jahren
kündigungen des Bundeskanzlers in seiner Regie- führen dazu, daß wir die Höhe unserer Verpflich-
rungserklärung. Mit 7,96 Milliarden DM Volumen er- tungsermächtigungen leicht zurücknehmen mußten.
gibt sich für den Einzelplan 23 gegenüber 1990 ein Das ist kein Signal für eine Kürzung der deutschen
Zuwachs von fast 600 Millionen DM. Dies entspricht Entwicklungshilfe. Denn entscheidend sind nicht die
einer Steigerung gegenüber dem Vorjahr von 7,9 %. veranschlagten Verpflichtungsermächtigungen, son-
Mit rund 425 Millionen DM entfällt ein wesentlicher dern der tatsächliche Transfer von Mitteln in unsere
Teil der zusätzlichen Mittel auf den multilateralen Partnerländer. Und dieser wird durch die gestiegenen
Bereich. Ausgabenansätze erhöht.
2206' Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 6. Juni 1991
Bei der regionalen Verteilung unserer Hilfszusagen Staatssekretär Lengl hielt sich vom 25. Mai bis zum
liegen, wie in den Vorjahren, Afrika und Asien an vor- 1. Juni in China auf, um Regierungsverhandlungen
derster Stelle. Die Anteile für diese beiden Kontinente vorzubereiten. Es wurde besprochen, vorrangig Pro-
bewegen sich seit Jahren um jeweils rund 40 % Für jekte in den genannten Bereichen zu unterstützen. Er
die Opfer der verheerenden Flutkatastrophe in Bang- hat in seinen Gesprächen mit dem chinesischen Mini-
ladesch stellen wir in diesem Jahr 30 Mi llionen DM als sterpräsidenten Li Peng und anderen Regierungsver-
Soforthilfe für den Wiederaufbau zur Verfügung. tretern die eindeutige Haltung der Bundesregierung
Katastrophen und die Schwierigkeiten der Staaten und ihre Verurteilung der Ereignisse am Platz des
der Dritten Welt, mit deren Folgen fertigzuwerden, Himmlischen Friedens am 3. und 4. Juni 1989 deutlich
neben zu. Wir brauchen daher auch zukünftig ausrei- gemacht. Wie nachdrücklich Staatssekretär Lengl für
chend Mittel, um flexibel in akuter Not helfen zu kön- die Einhaltung der Menschenrechte und die Freilas-
nen. Dennoch dürfen wir nicht die künftigen Perspek- sung von Inhaftierten eingetreten ist, zeigt eine Nach-
tiven aus dem Auge verlieren und vergessen, daß vor richt aus China, die mich soeben erreicht hat und die
allem die längerfristig wirksame Entwicklungszusam- ich mit Freude an Sie weitergebe. Die Botschaft in
menarbeit notwendig ist. Peking teilt mit, daß die Justizbehörden gestern be-
schlossen haben, zwei chinesische Katholiken aus der
Die deutsche Entwicklungspoliltik konzentriert sich Haft zu entlassen. Nach letzter Auskunft der Botschaft
auf wichtige Schlüsselbereiche : Armutsbekämpfung, befinden sie sich auf freiem Fuß.
Umwelt- und Ressourcenschutz, Bildung, Familien-
planung, Gesundheit, Förderung privatwirtschaftli- Es kann also keine Rede davon sein, daß Staatsse-
cher Initiativen, und, wo relavant, Drogenbekämp- kretär Lengl zu irgendeinem Zeitpunkt die politische
fung, werden noch mehr als bisher im Zentrum unse- Situation in China oder die Menschenrechtsverletzun-
rer entwicklungspolitischen Aktivitäten stehen. gen beschönigt oder gar gebilligt hat.
Hier möchte ich nur einige wenige Zahlen heraus- Sie können sicher sein, meine Damen und Herren,
stellen: Auf den Bereich der Grundbedürfnisbefriedi- daß ich wie in der Vergangenheit auch zukünftig dem
gung, ein Teilindikator für die Armutsbekämpfung, Thema Menschenrechte entscheidende Bedeutung in
werden 1991 rund 49 % (Soll 1990: 45 %; Ist 1989 der Entwicklungszusammenarbeit zumessen werde
33,8 %) unserer Zusagen im Rahmen der Finanziellen und daß ich dafür eintrete, gleiche Maßstäbe und glei-
und Technischen Zusammenarbeit entfallen. che Konsequenzen gegenüber allen entsprechenden
Der Umwelt- und Ressourcenschutz wird einen An- Regierungen geltend zu machen.
teil von 20 % haben. Der Tropenwaldschutz, für den Die Vergabe deutscher Hilfe wird sich auch weiter-
wir mehr als 300 Millionen DM bereitstellen, wird da- hin daran orientieren, inwieweit die Regierungen der
bei im Mittelpunkt stehen. Entwicklungsländer eine Politik verfolgen, die dem
Auf die Projekte im Bereich der selbsthilfeorientier- Wohle der Menschen dient. Hilfe zur Selbsthilfe be-
ten Armutsbekämpfung entfallen erstmals 10 % unse- deutet eben auch: Wo der Staat die Entfaltung der
rer Zusagen in der FZ und der TZ. Eigeninitiative unterdrückt, kann finanzielle Hilfe von
außen wenig bewirken.
Mit 17 % unserer Mittel in der Technischen Zusam-
menarbeit fördern wir Bildungsmaßnahmen. Dazu ge- Deshalb unterstreicht die Regierungserklärung be-
hören insbesondere die Grundbildung sowie die be- sonders die Bedeutung der unternehmerischen Initia-
rufliche Aus- und Fortbildung. tive als Motor der wirtschaftlichen Entwicklung auch
Lassen Sie mich gerade angesichts der vorgesehe- in der Dritten Welt. Eine marktwirtschaftlich ausge-
nen erheblichen Haushaltssteigerungen unterstrei- richtete Wirtschaftsordnung mit sozialer und ökologi-
chen: Auch in Zukunft werden wir unsere Entwick- scher Verantwortungsbereitschaft des einzelnen ist
lungshilfe nicht in Fässer ohne Boden geben. auch dort das geeignete Fundament für eine nachhal-
tige Entwicklung.
Erfolgreiche Armutsbekämpfung, dauerhafte Ent-
wicklung und Freiraum für privatwirtschaftliche Wir prüfen daher neue Wege, wie wir die produkti-
Initiativen, Teilhabe aller Bevölkerungsgruppen an ven Kräfte der Armen über privatwirtschaftliche
politischen Entscheidungen, Rechtsstaatlichkeit, Strukturen noch effizienter fördern können. Meine
Rechtssicherheit und nicht zuletzt Achtung der Men- Damen und Herren, die wirksame Bekämpfung der
schenrechte bedingen einander. Armut und ihrer Ursachen ebenso wie die Bewälti-
gung der neuen globalen entwicklungspoltischen
Was unsere Zusammenarbeit mit China angeht, so Herausforderungen der neunziger Jahre — ich nenne
halten wir uns strikt an den Beschluß des Deutschen als Stichwort nur die globale Umweltproblematik —
Bundestages vom 30. Oktober 1990. Wir müssen zur verlangen uns auch in den nächsten Jahren weitere,
Kenntnis nehmen, daß in China Hunderte Millionen gemeinsame Anstrengungen ab. Mein herzlicher
Menschen unterhalb der Armutsgrenze leben. Wenn Dank gilt daher dem Haushaltsausschuß, insbeson-
wir Entwicklungshilfeprojekte vorbereiten wollen, so dere den Berichterstattern, und dem AwZ für eine
müssen sie zur Armutsbekämpfung bzw. zum Schutz gute Zusammenarbeit. Damit verbinde ich die Hoff-
der Umwelt oder zur Reform der chinesischen Wirt- nung, daß wir auch in Zukunft einen breiten Konsens
schaft beitragen. für die eine Politik finden, die für die Menschen in der
Zu der Diskussion um den Besuch von Staatssekre- Dritten Welt und auch in unserem Land von großer
tär Lengl möchte ich kurz folgendes anmerken. Bedeutung ist.