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Deutscher Bundestag

70. Sitzung

Bonn, den 28. März 1963

Inhalt:

Fragestunde (Drucksache IV/1093) Frage des Abg. Ertl:


Finanzieller Anreiz zur Steigerung des
Frage des Abg. Reichmann: Qualitätsweizenanbaues . . . . . 3166 D
Absatzchancen für amerikanische Land-
wirtschaftsprodukte auf dem Gemein- Frage des Abg. Krug:
samen Markt
Benachteiligung inländischer Käseher
Schwarz, Bundesminister 3165 B -stel r
Schwarz, Bundesminister . 3166 D, 3167 B
Frage des Abg. Reichmann:
Krug (CDU/CSU) 3167 B
Auswirkungen der Erklärung von
EWG-Präsident Hallstein auf die Schmidt (Kempten) (FDP) . . . 3167 B
GATT-Verhandlungen in Genf und auf
die Agrarpolitik der EWG Frage des Abg. Lemper:
Schwarz, Bundesminister 3165 D Hochwassergeschädigte im Erft- und
Niersgebiet
Frage des Abg. Liehr: Schwarz, Bundesminister . . . . 3167 C, D
Reduzierung des Butterüberschusses in Lemper (SPD) 3167 D
der EWG durch Denaturierung
Schwarz, Bundesminister . 3165 D, 3166 A Frage des Abg. Dr. Schmidt (Gellersen) :
Liehr (SPD) 3166 A Verbot des Ausstellens deutscher
Zuchtrinder auf der Landwirtschafts-
Frage des Abg. Glüsing (Dithmarschen) : woche in Paris
Fangausfälle der kleinen Hochsee- Schwarz, Bundesminister 3168 A
fischerei
Frage des Abg. Fritsch:
Schwarz, Bundesminister 3166 B
Auflösung des Arbeitsamtes Cham
Frage des Abg. Glüsing (Dithmarschen): Dr. Claussen, Staatssekretär 3168 B, C, D,
Ausgleich der Mindereinnahmen der 3169 A
kleinen Hochseefischerei Fritsch (SPD) 3168 B
Schwarz, Bundesminister . . . . 3166 B, D Folger (SPD) 3168 D
Glüsing (Dithmarschen) (CDU/CSU) . 3166 C Dr. Dittrich (CDU/CSU) . 3168 D, 3169 A
II Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 30. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963

Frage der Abg. Frau Meermann: Frage des Abg. Cramer:


Beschäftigung von Wehrdienstverwei Vertiefung des Jadefahrwassers
gerern während ihrer Ersatzdienstzeit Dr.-Ing. Seebohm,
Dr. Claussen, Staatssekretär 3169 B, C, D, Bundesminister 3174 A, B, C
3170 A, B
Cramer (SPD) . . . . . . . 3174 B
Frau Meermann (SPD) . . . . . 3169 B
Dr. Dittrich (CDU/CSU) . . . . . 3169 C Frage des Abg. Cramer:
Dr. Rinderspacher (SPD) . . . . . 3169 D Dritter Bagger für die Vertiefung des
Dröscher (SPD) . . . . . . . . 3170 A Jadefahrwassers
Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister 3174 C, D
Frage des Abg. Dr. Wuermeling:
Cramer (SPD) . . . . . . . 3174 C, D
Erhöhung des Kindergeldes
Dr. Claussen, Staatssekretär . 3170 C, D,
Frage des Abg. Müller (Nordenham) :
3171 A
Ausbau von Teilstrecken der B 212
Dr. Wuermeling (CDU/CSU) . . . 3170 C
zwischen Bookhorn und Nordenham
Gscheidle (SPD) . . . . 3170 D, 3171 A
Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister .. 3175 A
Frage des Abg. Wegener:
Möglichkeiten zur Informierung über Frage des Abg. Müller (Nordenham) :
Zugverspätungen Verkehrsunfälle auf der B 212 im Land-
Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister . 3171 B kreis Wesermarsch
Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister . 3175 A
Frage des Abg. Peiter:
Hilfsmaßnahmen für die deutsche Bin- Frage des Abg. Müller (Nordenham) :
nenschiffahrt
Mittel für Beseitigung der besonderen
Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister 3171 B, D Unfallursachen auf der B 212
Peiter (SPD) 3171 D Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister 3175 B, D,
3176 B
Frage des Abg. Fritsch:
Müller (Nordenham) (SPD) . . 3175 C, D
Hochwasserschutzbauten in Vilshof en
Wächter (FDP) 3176 A
Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister . 3171 D,
3172 A, B
Fritsch (SPD) . . . . . . . 3172 A, B Frage des Abg. Lemmrich:
Straßen- und Brückenbaupreise 1962 -
Fragen des Abg. Krug: im Bundesfernstraßenbau
Baubeginn an der B 19 zwischen Im- Dr.-Ing. Seebohm,
menstadt und Sonthofen, dortige Ver- Bundesminister . . . . . 3176 B, C, D
kehrssituation
Lemmrich (CDU/CSU) 3176 C, D
Dr.-Ing. Seebohm,
Bundesminister . 3172 B, C, D, 3173 A
Frage des Abg. Wittrock:
Schmidt (Kempten) (FDP) . . . . 3172 D
Zustand der. Fahrzeuge der amerika-
Frage des Abg. Dr. Kohut: nischen Versorgungsbetriebe
Anbringung eines Münzfernsprechers Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister . 3176 D,
am Bahnhof Neu Isenburg 3177 B
Dr.-Ing. Seebohm, Wittrock (SPD) . . . . . . . . 3177 B
Bundesminister 3173 A, B, C
Dr. Kohut (FDP) 3173 B, C Frage des Abg. Dr. Roesch:
Fragen des Abg. Hörmann (Freiburg) : Stellenpläne bei Bundesbahn und Bun
Eisenbahnverbindung Freiburg- despost, Bewertung der Dienstposten
Breisach—Colmar Dr. Steinmetz, Staatssekretär . . . 3177 C,
Dr.-Ing. Seebohm, 3138 A, B, C
Bundesminister . . . 3173 D, 3174 A Dr. Roesch (SPD) 3178 A
Hörmann (Freiburg) (SPD) . . . . 3174 A Gscheidle (SPD) 3178 B, C
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 III

Frage des Abg. Ertl: Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Voraussetzungen für den Empfang des Gesetzes über eine Altershilfe für Land-
2. Fernsehprogramms 3178 C wirte (Drucksachen IV/901, IV/904);
Schriftlicher Bericht des Ausschusses für
Sozialpolitik (Drucksachen IV/1092, zu
Frage der Abg. Frau Meermann: IV/1092) — Zweite und dritte Bera-
Faksimilestempel auf Drucksachen tung —

Dr. Steinmetz, Staatssekretär . . . 3178 D, Weber (Georgenau) (FDP) 3225 A, 3230 D,


3139 A, B, C, D, 3180 A 3237 D
Frau Meermann (SPD) . 3178 D, 3179 D Frehsee (SPD) . 3225 B, 3229 C, 3225 D,
Dürr (FDP) 3179 A 3235 D, 3240 A

Schmitt-Vockenhausen (SPD) . . 3179 B, C Balkenhol (CDU/CSU) 3227 D


Könen (Düsseldorf) (SPD) . . . 3228 B
Gscheidle (SPD) . . . . . . . . 3180 A
Killat (SPD) 3231 B, 3233 C
Frage des Abg. Memmel: Berberich (CDU/CSU) . 3232 B, 3234 B
Absatz von Wohlfahrtsbriefmarken Dr. Schellenberg (SPD) 3233 B, 3234 C
Dr. Steinmetz, Staatssekretär . . 3180 B Winkelheide (CDU/CSU) . . . . 3234 D
Memmel (CDU/CSU) 3180 B Blank, Bundesminister 3240 B

Entwurf eines Strafgesetzbuches (StGB) Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Än-
E 1962 (Drucksache IV/650) ; in Verbin- derung des Reichsknappschaftsgesetzes
dung mit dem (Erstes Knappschaftsrentenversicherungs-
Änderungsgesetz) (Drucksache IV/296);
Entwurf eines Gesetzes zur Ergänzung Mündlicher Bericht des Ausschusses für
des Strafgesetzbuches (SPD) (Drucksache Sozialpolitik (Drucksache IV/1146) —

IV/970) — Erste Beratung — Zweite und dritte Beratung —


Dr. Bucher, Bundesminister 3180 D, 3220 D Teriete (CDU/CSU) 3241 A
Dr. h. c. Güde (CDU/CSU) 3190 C, 3222 D Hörmann (Freiburg) (SPD) . . . 3242 A
Präsident D. Dr. Gerstenmaier . . . 3137 C, Scheppmann (CDU/CSU) 3243 B
3203 D, 3224 D Büttner (SPD) 3244 B, 3245 C
Wittrock (SPD) . . . . . . . . 3197 D Stingl (CDU/CSU) - 3246 A
Frau Dr. Diemer-Nicolaus (FDP) . . 3204 A Dr. Rutschke (FDP) 3246 B
Dr. Müller-Emmert (SPD) . . . . 3209 D
Dr. Aschoff (FDP) 3214 A Nächste Sitzung 3246 D
Dr. Winter (CDU/CSU) 3215 C
Dr. Dr. Heinemann (SPD) . . . 3217 D Anlagen 3247
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3165

70. Sitzung

Bonn, den 28. März 1963

Stenographischer Bericht worten. Die von Präsident Hallstein gegenüber Prä-


sident Kennedy geäußerte Meinung, daß die Absatz-
Beginn: 9.02 Uhr chancen für amerikanische Landwirtschaftsprodukte
auf dem Gemeinsamen Markt günstig seien, trifft
nach Ansicht der Bundesregierung für einige wich-
Vizepräsident Dr. Schmid: Die Sitzung ist er- tige Agrarexportgüter der USA zu. So wird bei-
öffnet.
spielsweise der Bedarf der Gemeinschaft an Quali-
Folgende amtliche Mitteilungen werden ohne tätsweizen noch auf absehbare Zeit zum größten Teil
Verlesung in den Stenographischen Bericht aufge- aus Nordamerika importiert werden müssen. Es ist
nommen: anzunehmen, daß Erzeugung und Verbrauch land-
Der Herr Bundesminister der Justiz hat unter dem 27. März
wirtschaftlicher Veredlungsprodukte in dem bisheri-
1963 die Kleine Anfrage der Fraktion der SPD betr. Oberst gen Umfang weiter zunehmen. Somit wird die EWG
Argoud (Drucksache IV/1067) beantwortet. Sein Schreiben wird
als Drucksache IV/1152 verteilt. auch auf lange Sicht darauf angewiesen sein, be-
Die Frau Bundesministerin für Gesundheitswesen hat unter
trächtliche Mengen Futtergetreide aus den USA ein-
dem 26. März 1963 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Schmidt zuführen.
(Wuppertal), Bading, Margulies und Genossen betr. Beseitigung
von Abfällen (IV/1054) beantwortet. Ihr Schreiben wird als
Drucksache IV/1153 verteilt.
Vizepräsident Dr. Schmid: Keine Zusatzfrage.
Der Präsident des Bundestages hat entsprechend dem Be- Frage VIII/2 — ebenfalls Abgeordneter Reich
schluß des Bundestages vom 25. Juni 1959 die nachstehenden
Vorlagen überwiesen: mann —:

Verordnung des Rates über die Festsetzung der innerge Wie beurteilt die Bundesregierung die Auswirkungen der in
meinschaftlichen Abschöpfungsbeträge für die in Artikel 1 Frage VIII/1 bezeichneten Äußerung des EWG-Präsidenten Hall-
Abs. 1 Buchst, c) der Verordnung Nr. 20 des Rats genannten stein auf die im Mai stattfindenden GATT-Verhandlungen in
Erzeugnisse — Drucksache IV/1149 — an den Außenhandels- Genf und auf die Agrarpolitik der EWG?
ausschuß — federführend — und an den Ausschuß für Er-
nährung, Landwirtschaft und Forsten — mitberatend — mit
der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor dem Ple- Bitte, Herr Minister!
num am 29. März 1963;
Verordnung des Rates über zusätzliche Bestimmungen für
die Berechnung der Abschöpfungsbeträge der in Artikel 1
Schwarz, Bundesminister für Ernährung, Land-
Abs. 1 Buchst. c) der Verordnung Nr. 20 des Rats genannten wirtschaft und Forsten: Zu Frage 2! Eine ungünstige
Erzeugnisse — Drucksache IV/1150 — an den Außenhandels-
ausschuß — federführend — und an den Ausschuß für Er- Auswirkung dieser Äußerung Präsident Halssteins
nährung, Landwirtschaft und Forsten — mitberatend — mit
der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor dem
auf die im Mai stattfindenden GATT-Verhandlun--
Plenum am 29. März 1963; gen oder auf die Agrarpolitik der EWG vermag die
Verordnung des Rates über die Festsetzung der Abschöp- Bundesregierung nicht zu erkennen. Die Äußerung
fungsbeträge gegenüber dritten Ländern für die in Artikel 1 dient vielmehr dem Zweck, die amerikanischen Be-
Abs. 1 Buchst. c) der Verordnung Nr. 20 des Rats genannten
Erzeugnisse — Drucksache IV/1151 — an den Außenhandels- denken über angebliche Autarkiebestrebungen der
ausschuß — federführend — und an den Ausschuß für Ernäh-
rung, Landwirtschaft und Forsten — mitberatend — mit der EWG zu zerstreuen.
Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor dem Plenum
am 29. März 1963.
Vizepräsident Dr. Schmid: Ich rufe auf Frage
Punkt 1 der heutigen Tagesordnung: VIII/3 — Herr Abgeordneter Liehr —:
Fragestunde (Drucksachen IV/1093, IV/1099). Treffen Meldungen zu, wonach man den Butterüberschuß in
der EWG dadurch reduzieren will, daß man Butter „denaturiert",
um sie dann der Industrie als Rohfett (z. B. Schmiermittel) zur
Wir fahren in der unterbrochenen Fragestunde Verfügung zu stellen?
fort. Ich rufe auf die Fragen aus dem Geschäftsbe-
reich des Bundesministers für Ernährung, Landwirt- Bitte, Herr Minister!
schaft und Forsten. Frage VIII/1 — Herr Abgeord-
neter Reichmann —: Schwarz, Bundesminister für Ernährung, Land-
wirtschaft und Forsten: Meldungen, daß man in der
Wie beurteilt die Bundesregierung als Partnerstaat der EWG
die Äußerung des Präsidenten Hallstein gegenüber Präsident EWG Überschußbutter zu technischen Zwecken ver-
Kennedy, „daß die Absatzchancen für amerikanische Landwirt-
schaftsprodukte auf dem Gemeinsamen Markt günstig seien"
wenden will, treffen nicht zu. Im Rahmen der Bera-
(„Welt" vom 4. März 1963)? tungen in Brüssel über eine etwaige künftige Ver-
bindung von Milch- und Fettpolitik, die insbeson-
Bitte, Herr Minister!
dere von italienischer und französischer Seite ge-
fordert wird, wurde von der französischen Delega-
Schwarz, Bundesminister für Ernährung, Land- tion u. a. der Vorschlag gemacht, eine Beimischung
wirtschaft und Forsten: Ich habe folgendes zu ant von Butter zur Margarine in Erwägung zu ziehen.
3166 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963
Bundesminister Schwarz
Eine solche Beimischung ist in verschiedenen Län- widerspräche und auch zu Berufungen Anlaß gäbe.
dern — Frankreich, Großbritannien, Norwegen, USA Ehe nicht exakte Zahlen über die tatsächlichen Win-
u. a. — auf Grund der gesetzlichen Bestimmungen terschäden der kleinen Hochsee- und Küstenfischerei
schon heute möglich. Eine Entscheidung über den vorliegen, sehe ich mich außerstande, dazu Stellung
französischen Vorschlag, dessen Durchführung als zu nehmen, ob und auf welchem Wege Hilfsmaß-
Gemeinschaftsmaßnahme ohnehin erst in der End- nahmen des Bundes in Betracht kommen. Die Bun-
phase in Frage kommen würde, ist bisher nicht ge- desregierung vertritt die Ansicht, daß es zunächst
troffen worden. Sache der Küstenländer ist, solche Schäden zu lin-
dern, zumal sie regionalen Charakter haben und
Vizepräsident Dr. Schmid: Eine Zusatzfrage? gebietlich recht unterschiedlich sind. Die Bundes-
regierung glaubt, daß sie der Lage der kleinen Hoch-
Liehr (SPD) : Herr Bundesminister, beabsichtigt see- und Küstenfischerei schon dadurch Rechnung
die Bundesregierung, dahin zu wirken, daß der zu- getragen hat, daß die Fangprämien 1963 um 1 % er-
nehmende Butterüberschuß in der EWG — im lau- höht wurden und in Einzelfällen bei Bundesdarlehen
fenden Jahr rechnet man wohl mit 100 000 t — für eine Stundung der Tilgung und ein zeitweiliger Er-
den deutschen Verbraucher zu einer Verbilligung laß der Verzinsung möglich ist.
der Butter führt?
Vizepräsident Dr. Schmid: Eine Zusatzfrage?
Schwarz, Bundesminister für Ernährung, Land-
wirtschaft und Forsten: Herr Kollege, mit einer Ver- Glüsing (Dithmarschen) (CDU/CSU) : Herr Bun-
billigung der Butter aus diesem Anlaß ist nicht zu desminister, darf ich Ihren Worten entnehmen, daß
rechnen. Sie im Grundsatz die unverschuldete Notlage der
kleinen Hochsee- und Kutterfischerei anerkennen?
Vizepräsident Dr. Schmid: Frage VIII/4 — Könnten Sie sich dafür verwenden, daß die nicht zur
des Herrn Abgeordneten Glüsing (Dithmarschen) —: Auszahlung gelangte Fangprämie für die langen
Trifft es zu, daß die kleine Hochseefischerei im Gegensatz zur
Wintermonate in dieser Sparte im Jahre 1963 zu-
großen Hochseefischerei durch den harten Winter erhebliche sätzlich zur Auszahlung gelangt? Schätzungsweise
Fangausfälle zu verzeichnen hatte?
soll es sich hier um einen Betrag von 700 000 DM
handeln.
Schwarz, Bundesminister für Ernährung, Land-
wirtschaft und Forsten: Es ist richtig, daß der ab-
norme Winter für einen Teil der kleinen Hochsee-
Schwarz, Bundesminister für Ernährung, Land-
und Küstenfischerei besondere Einnahmeverluste wirtschaft und Forsten: Herr Kollege, zur ersten
mit sich gebracht hat. Ertragsausfälle durch witte- Frage möchte ich unbedingt ja isagen. Wir sehen
rungsbedingte Umstände sind jedoch grundsätzlich sehr klar die harte Lage, in der sich die kleine Hoch-
als ein diesem Wirtschaftszweig anhaftendes Ri- see- und Kutterfischerei befindet, in Sonderheit auf
siko anzusehen. Die Erhebungen über den tatsäch- Grund der von ihr nicht zu vertretenden Witte-
lichen Umfang der infolge des abnormen Winters rungsumstände.
eingetretenen Einnahmeverluste sind noch nicht ab- Was die zweite Frage anbelangt, müssen wir da-
geschlossen. Soweit sich das bisher schon übersehen von ausgehen, daß erst einmal der Umfang der
läßt, wurde die Ostseefischerei in Schleswig-Hol- Schäden festgestellt werden muß und daß zweitens
stein am stärksten betroffen. Ebenso war die Nord- die Länder für das, was notwendig ist, einzutreten
seefischerei in Schleswig-Holstein, Hamburg, Nie- haben. Sollte es über die Kraft der Länder hinaus-
dersachsen und Bremen beeinträchtigt. gehen, sind wir bereit, mit den Ländern über eine
Regelung zu sprechen.
Vizepräsident Dr. Schmid: Frage VIII/5 —

des Herrn Abgeordneten Glüsing (Dithmarschen) —: Vizepräsident Dr. Schmid: Frage VIII/6 —

Sieht die Bundesregierung eine Möglichkeit, die durch den des Abgeordneten Ertl —:
Fangausfall in diesem Winter bedingten Mindereinnahmen ge-
gebenenfalls durch eine Verschiebung der Quoten bei der Fang- Beabsichtigt die Bundesregierung, Maßnahmen einzuleiten, durch
prämie zugunsten der kleinen Hochseefischerei auszugleichen? welche ein finanzieller Anreiz zur Steigerung des Qualitäts-
weizenanbaues geschaffen wird?

Schwarz, Bundesminister für Ernährung, Land- Ist der Abgeordnete Ertl im Saal? — Dann wird
wirtschaft und Forsten: Die Richtlinien über Fang- die Frage schriftlich beantwortet.
prämien sehen grundsätzlich eine Gleichbehandlung
Frage VIII/7 — des Abgeordneten Krug —:
aller Betriebsarten der Seefischerei vor. In den Richt-
linien für 1963 wurde aber die Zusatzprämie für die Ist der Bundesregierung bekannt, daß den inländischen Käse-
herstellern auch deshalb Nachteile im Vermarkten der Käse ent-
kleine Hochsee- und Küstenfischerei wegen der be- stehen und bereits entstanden sind, weil sie sich an die Be-
stimmungen der Käseverordnung halten müssen, während eine
sonderen Verhältnisse in diesem Betriebszweig im beachtliche Anzahl ausländischer Käsesorten auf dem deutschen
Vergleich zu anderen Betriebsarten schon um 1 °/o Markt vertrieben werden, die dem Vollzug der Käseverord-
nung nicht unterliegen, und deshalb in mancherlei Hinsicht für
erhöht. Die Fangprämien sind jedoch ausdrücklich die in die Bundesrepublik eingeführten Käse eine Besserstellung
gegenüber den deutschen Käsesorten gegeben ist?
auf solche Anlandungen beschränkt, die eine be-
stimmte Qualität aufweisen. Aus den für Fangprä-
mien zur Verfügung stehenden Mitteln können da- Schwarz, Bundesminister für Ernährung, Land-
her keine Beträge zum Ausgleich von Winterschäden wirtschaft und Forsten: Es trifft zu, daß die deutsche
entnommen werden, da dies der Zweckbestimmung Käseverordnung bis zum Herbst 1961 die deutschen
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3167
Bundesminister Schwarz
Käsehersteller an bestimmte Sorten gebunden hat, Schwierigkeit der Materie und die Möglichkeit, in
während ausländische Lieferanten dieser Bindung verschiedensten Formen Wettbewerbsverzerrungen
nicht unterlagen. Diese Benachteiligung ist durch vorzunehmen, lassen di e Hoffnung nicht zu, daß es
die Verordnung zur Änderung der Käseverordnung mit dieser Verordnung allein getan sein wird. Ich
vom 4. November 1961 — Bundesanzeiger Nr. 220 möchte aber betonen, daß damit doch ein wesent-
vom 15. November 1961 — praktisch behoben wor- licher Teil der Unterschiede in den Wettbewerbs-
den. In dieser Verordnung haben die nach Landes- voraussetzungen seine Erledigung findet.
recht zuständigen Behörden die Berechtigung erhal-
ten, neue Käsesorten zuzulassen. Hiervon haben die Vizepräsident Dr. Schmid: Frage VIII/8 des
Länder bisher in 15 Fällen Gebrauch gemacht, davon

Abgeordneten Lemper —:
allein Bayern in 7 Fällen. Der gleiche Weg steht
allen deutschen Käseherstellern offen. Ist die Bundesregierung bereit, für die Hochwassergeschädigten
im Erft- und Niersgebiet entsprechende Mittel bereitzustellen?
Die einzige noch bestehende Benachteiligung der
inländischen Hersteller gegenüber ausländischen Schwarz, Bundesminister für Ernährung, Land-
Lieferanten sind vorgeschriebene Formen und Ge- wirtschaft und Forsten: Ich darf die Frage 8 wie
wichte, die bei bestimmten Käsesorten den deut- folgt beantworten: Die im Erft- und Niersgebiet auf-
schen Käseherstellern auferlegt sind. Diese Vor- getretenen Überschwemmungen haben in erster
schrift hatte ihre große Bedeutung aus dem Ge- Linie zu Schäden an Gebäuden und Vorräten ge-
sichtspunkt .der Rationalisierung innerhalb der deut- führt. Flurschäden konnten nur in geringem Um-
schen Käsereiwirtschaft. Um auch die mögliche Be- fang festgestellt werden. Insgesamt gesehen ist nach
nachteiligung der deutschen Käsereiwirtschaft Ansicht der landwirtschaftlichen Dienststellen des
gegenüber ausländischen Lieferanten zu vermeiden, Landes Nordrhein-Westfalen kaum damit zu rech-
soll in einer Neufassung der Käseverordnung diese nen, daß durch die Überschwemmungsschäden Be-
Ungleichheit beseitigt werden. triebe in ihrer Existenz gefährdet wurden.
Der Entwurf einer Neufassung der Käseverord-
nung ist im Laufe des vergangenen Jahres mit den Unabhängig hiervon handelt es sich bei den
Sachverständigen , der Wirtschaft und der Wissen- Schäden wegen des regionalen Charakters um eine
schaft eingehend beraten worden. Der Entwurf ausschließliche Angelegenheit des Landes Nordrhein-
regelt eine große Zahl einschneidender Fragen für Westfalen. Auf die vom Haushaltsausschuß des
die deutsche Käsereiwirtschaft, also nicht nur die Deutschen Bundestages anläßlich .der Witterungs-
Frage der Formen und Gewichte, wodurch sich die schäden des Jahres 1960 für ein Eingreifen des
längere Dauer der eingehenden Verhandlungen Bundes aufgestellten Richtlinien, die in der Druck-
erklärt. Der Entwurf steht nunmehr vor der Bera- sache 2322 — 3. Wahlperiode — enthalten sind, (I
tung mit den Ressorts und soll dem Bundesrat so nehmicsowtBzug.DeRichlnatdr
bald wie möglich zugeleitet werden. Deutsche Bundestag in seiner 137. Sitzung am
16. Dezember 1960einstimmig beschlossen.
Vizepräsident Dr. Schmid: Eine Zusatzfrage! Auf Grund dieser Sachlage kann die Bereitstel-
lung von Mitteln durch den Bund nicht in Betracht
kommen.
Krug (CDU/CSU) : Herr Bundesminister, kann
mit einer baldigen Verabschiedung dieser neuen
Käseverordnung gerechnet werden? Vizepräsident Dr. Schmid: Eine Zusatzfrage.

Schwarz, Bundesminister für Ernährung, Land- Lemper (SPD) : Herr Minister, gestatten Sie bitte
wirtschaft und Forsten: Herr Kollege, damit kann in eine weitere Frage. Es handelt sich bei meiner An-
dem Maße gerechnet werden, wie die weiteren Be- frage nicht nur um Schäden der Landwirtschaft,
ratungen mehr oder weniger .flüssig vor sich gehen. sondern insbesondere um Schäden bei Leuten, deren
Sie sehen an den Schwierigkeiten und dem Umfang Einkommen derart gering ist, daß sie nicht in der
der Materie, daß wir uns Mühe geben, mit tunlich- Lage sind, die gröbsten Schäden zu beseitigen. Wäre
ster Beschleunigung die Angelegenheit in Ihrem die Bundesregierung eventuell bereit, nachdem die
Sinne zu regeln. gesamten Schäden insbesondere im Erft- und Niers-
gebiet festgestellt sind, diese Feststellung als Grund-
Vizepräsident Dr. Schmid: Eine Zusatzfrage lage einer Erörterung im Bundeskabinett zu nehmen
des Abgeordneten Schmidt (Kempten) ! mit dem Ziel, eventuell doch Mittel zur Verfügung
zu stellen?
Schmidt (Kempten) (FDP) : Herr Minister, ist aus
dem, was Sie gesagt haben, zu entnehmen, daß nach Schwarz, Bundesminister für Ernährung, Land-
Erlaß der Verordnung keinerlei Wettbewerbsver- wirtschaft und Forsten: Herr Kollege, zunächst ein-
zerrungen auf dem Käsesektor innerhalb , der EWG mal müßte von seiten des Landes festgestellt wer-
mehr bestehen werden? den, daß der Umfang der Schäden so groß ist, daß
das Land allein nicht mit ihrer Regulierung fertig
Schwarz, Bundesminister für Ernährung, Land- wird. Auch müßte der Antrag vom Land gestellt
wirtschaft und Forsten: Herr Kollege, ich wäre werden. Bisher ist uns nichts Derartiges zur Kennt-
glücklich, diese Frage bejahen zu können. Aber die nis gekommen.
3168 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963

Vizepräsident Dr. Schmid: Frage VIII/9 — des nicht ohne weiteres beantworten, Herr Abgeordne
Herrn Abgeordneten Dr. Schmidt (Gellersen) —: ter, denn die einzelnen Tatsachen hat die Bundes-
Wie beurteilt die Bundesregierung das Verhalten der fran- anstalt selber zu vertreten.
zösischen Veterinärverwaltung, die das Ausstellen deutscher
Zuchtrinder auf der Landwirtschaftswoche in Paris vom 5. bis
13. März 1963 untersagt hat? Vizepräsident Dr. Schmid: Zweite und letzte
Zusatzfrage.
Schwarz, Bundesminister für Ernährung, Land-
wirtschaft und Forsten: Das vermehrte Auftreten Fritsch (SPD) : Herr Staatssekretär, ist es für die
der Maul und Klauenseuche in der Bundesrepublik
-
Bundesregierung und insbesondere für Ihr Ministe-
im Jahre 1962 war für die französische Regierung rium kein Indiz dafür, daß es sich hier um eine der
Anlaß, die Einfuhr von Klauentieren aus der Bun- Grenzlandförderung zuwiderlaufende Maßnahme
desrepublik nach Frankreich zur Verhinderung von handelt, wenn bekannt ist, daß die bayerische
Seucheneinschleppungen zu untersagen. Staatsregierung gegen diese Auflösungsmaßnahme
Im Zuge der Vorverhandlungen zur Beschickung Protest erhoben hat und daß insbesondere das Baye-
der Ausstellung im Rahmen der Landwirtschafts- rische Staatsministerium für Arbeit und Soziale Für-
woche in Paris vom 5. bis 13. März 1963 konnte die sorge diese Maßnahme schärfstens mißbilligt hat?
Zusage erwirkt werden, daß Rinder aus solchen
Bundesländern zur Ausstellung zugelassen werden Dr. Claussen, Staatssekretär im Bundesministe-
sollten, die seit mindestens sechs Wochen frei von rium für Arbeit und Sozialordnung: Ich würde dar-
Maul- und Klauenseuche sind. Während diese Vor- auf antworten, Herr Abgeordneter, daß wir die
aussetzung für die Länder Bayern und Baden-Würt- Gründe, welche die Landesregierung Bayern gegen
temberg Ende 1962 noch zutraf, kam es im Laufe des die Zusammenlegung angeführt hat, auch unserer-
Januar und Februar 1963 in Bayern zu 51 und in seits sehr genau untersucht haben, daß aber die
Baden-Württemberg zu 10 Neuausbrüchen von Stellungnahme der Landesregierung eine andere ist
Maul- und Klauenseuche. In Anbetracht dieser Ent- als diejenige, die die Bundesregierung einnehmen
wicklung hat sich die französische Regierung nicht kann. Wir haben die Maßnahme nur darauf zu prü-
bereit gefunden, Ausnahmegenehmigungen für die fen, ob Gesetz und Satzung beachtet sind, und bei
Einfuhr der Ausstellungstiere zu erteilen. dieser Prüfung hat sich ergeben, daß wir nicht ein-
Veterinärpolizeiliche Einfuhrsperren zum Schutz greifen können.
der einheimischen Tierbestände vor Seuchenein-
schleppungen aus dem Ausland sind in allen Staa- Vizepräsident Dr. Schmid: Eine weitere Zu-
ten üblich und werden auch nach den Bestimmun- satzfrage, Herr Abgeordneter Folger.
gen des deutschen Viehseuchengesetzes angewandt.
Unter diesen Gesichtspunkten muß die Maßnahme Folger (SPD) : Herr Staatssekretär, sind Sie der
der französischen Regierung gesehen werden. Meinung, daß die wirtschaftlichen Verhältnisse in
einer dem Gesetz entsprechenden Weise berück-
sichtigt wurden, wenn Sie bedenken, daß der bis-
Vizepräsident Dr. Schmid: Fragen aus dem herige Arbeitsamtsbezirk Cham der in der Bundes-
Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit
republik am stärksten krisengefährdete Arbeits-
und Sozialordnung, Frage IX/1 — des Herrn Abge-
amtsbezirk ist und daß der geplante zukünftige
ordneten Fritsch —: Arbeitsamtsbezirk Schwandorf mehr als 4 000 qkm-
Billigt die Bundesregierung die Auflösung des Arbeitsamtes
Cham unter dem Gesichtspunkt, daß dabei wirtschaftliche Zu- umfassen wird, d. h. mehr, als das ganze Ruhrgebiet
sammenhänge weitgehend unberiicksichtigt blieben und insoweit ausmacht, wo z. B. der Arbeitsamtsbezirk Oberhau-
die Bestimmungen des § 2 Abs. 2 AVAVG nicht berücksichtigt
wurden? sen 165 qkm umfaßt?

Dr. Claussen, Staatssekretär im Bundesministe- Dr. Claussen, Staatssekretär im Bundesministe-


rium für Arbeit und Sozialordnung: Herr Abgeord- rium für Arbeit und Sozialordnung: Ich würde dar-
neter, darf ich das wiederholen, was ich schon bei auf sagen, Herr Abgeordneter, die Verhältnisse des
Ihrer ersten Anfrage gesagt habe. Die Bundesregie- RuhrgebitsndGzaumköenSiübr-
rung hat sehr sorgfältig geprüft, ob die Bundesan- haupt nicht miteinander vergleichen. Ich muß für
stalt Recht und Satzung beachtet hat oder nicht. Es die Bundesanstalt in Nürnberg in Anspruch neh-
hat sich keinerlei Möglichkeit ergeben, den Beschluß men, daß 'ihre Organe mit Arbeitgebern und Arbeit-
der Selbstverwaltungsorgane zu beanstanden. nehmern sowie mit den Vertretern der öffentlichen
Körperschaften besetzt sind, daß diese die Fragen
Vizepräsident Dr. Schmid: Eine Zusatzfrage. geprüft und in ihre Erwägungen einbezogen haben.
Die Bundesanstalt muß in irgendeiner Weise ihre
Organisation vereinfachen und verbessern.
Fritsch (SPD) : Herr Staatssekretär, sind Sie nicht
der Meinung, daß es zur Glaubwürdigkeit einer
grenzlandfördernden Politik gehört, solche Maßnah- Vizepräsident Dr. Schmid: Eine Zusatzfrage,
men zu verhindern beziehungsweise, soweit sie ge- Herr Abgeordneter Dr. Dittrich!
schehen sind, wieder aufzuheben?
Dr. Dittrich (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär,
Dr. Claussen, Staatssekretär im Bundesministe- würden Sie bitte einmal die Frage beantworten, in-
rium für Arbeit und Sozialordnung: Das kann ich wieweit die Bundesregierung überhaupt auf Ent-
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3169
Dr. Dittrich
scheidungen dieser autonomen Bundesanstalt für Aber nun habe ich noch eine weitere Frage: Wäre
Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung es nicht möglich, die Wehrdienstverweigerer, die
Einfluß nehmen kann? es ja oft schwerer haben als ihre Alterskameraden
— ganz einfach deswegen, weil sie sich von diesen
Dr. Claussen, Staatssekretär im Bundesministe- unterscheiden —, mehr, als das bisher wohl ge-
rium für Arbeit und Sozialordnung: Herr Abgeord- schehen ist, darauf aufmerksam zu machen, daß es
neter, ich habe bei verschiedenen Gelegenheiten hier im Bundesarbeitsministerium eine Stelle gibt, an die
dem Hohen Hause gegenüber zu betonen Gelegen- sie sich bei auftretenden Schwierigkeiten wenden
heit gehabt, daß die Bundesregierung in Achtung der können, so wie es ja auch für die Soldaten der Bun-
Selbstverwaltung nur ganz wenige Möglichkeiten deswehr mittlerweile selbstverständlich geworden
hat, einzugreifen, und zwar nur dann, wenn Gesetz ist, sich an den Wehrbeauftragten zu wenden?
und Recht verletzt sind. Die Beschlüsse sind recht-
mäßig zustandegekommen. Dr. Claussen, Staatssekretär im Bundesministe-
rium für Arbeit und Sozialordnung: Ich kann Ihnen
sagen, Frau Abgeordnete, daß wir mit einem Wehr-
Dr. Dittrich (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär,
hat die Bundesregierung eine Möglichkeit, auf die dienstverweigerer mehr Arbeit haben als die Bun-
Vertreter der Behörden, die im Verwaltungsrat der deswehr mit zehn Soldaten.
Bundesanstalt sitzen, einen unmittelbaren Einfluß (Heiterkeit.)
hinsichtlich der Abstimmung zu nehmen?
Vizepräsident Dr. Schmid: Herr Abgeordneter
Dr. Claussen, Staatssekretär im Bundesministe- Dittrich.
rium für Arbeit und Sozialordnung: Diese Frage ist
sehr einfach zu beantworten, Herr Abgeordneter: Dr. Dittrich (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär,
sie hat keine Möglichkeit. sind in Ihrem Hause überhaupt Fälle bekannt, in
denen Wehrdienstverweigerer während ihrer Ersatz-
Vizepräsident Dr. Schmid: Ich rufe auf die dienstzeit ausschließlich — ich betone ausschließlich
Frage IX/2 — der Abgeordneten Frau Meermann —: — mit Kartoffelschälen und Gemüseputzen beschäf-
tigt werden?
Hält es die Bundesregierung für richtig, wenn ein Wehrdienst-
verweigerer während seiner Ersatzdienstzeit ausschließlich mit
Kartoffelschälen und Gemüseputzen beschäftigt wird?
Dr. Claussen, Staatssekretär im Bundesministe-
rium für Arbeit und Sozialordnung: Nein, die sind
Dr. Claussen, Staatssekretär im Bundesministe- uns nicht bekannt.
rium für Arbeit und Sozialordnung: Ich darf darauf (Zurufe rechts: Soviel Kartoffeln gibt's doch
antworten, daß der zivile Ersatzdienst dem Gesetz gar nicht!)
entsprechend in Kranken-, Heil- und Pflegeanstalten
geleistet wird. Die Ersatzdienstpflichtigen werden
zu pflegerischen Tätigkeiten nur herangezogen, Vizepräsident Dr. Schmid: Eine weitere Zu-
wenn sie dafür besonders geeignet sind und wenn satzfrage.
sie sich dafür freiwillig melden. Im übrigen werden
sie auch zu Hausarbeiten und zu anderen Arbeiten Dr. Rinderspacher (SPD) : Hat die Bundesregie-
in Wirtschafts- und Nebenbetrieben herangezogen. rung irgendwelche Pläne, wie der Dienst der Kriegs-
Dazu gehören u. a. Arbeiten wie Kartoffelschälen dienstverweigerer koordiniert bzw. zentralisiert
und Gemüseputzen. werden könnte, damit deren Einsatz dem Dienst
ihrer Alterskameraden beim Militär wirklich ver-
Frau Meermann (SPD) : Herr Staatssekretär, es gleichbar wird?
ist Ihnen aber doch bekannt, daß die Krankenhäuser
Wehrdienstverweigerer auch dann nur sehr ungern Dr. Claussen, Staatssekretär im Bundesministe-
als Hilfskräfte zu pflegerischen Arbeiten heran- rium für Arbeit und Sozialordnung: Herr Abgeord-
ziehen, wenn sie sich dazu melden, und das aus neter, wir müssen uns nach dem Gesetz richten. Wir
Gründen, die durchaus nicht immer in der Person haben zunächst nicht die Absicht, das Gesetz zu
des betreffenden Wehrdienstverweigerers liegen? ändern, sondern müssen es so, wie es ist, durch-
führen; es ist auch erforderlich, zunächst gewisse
Dr. Claussen, Staatssekretär im Bundesministe- Erfahrungen zu sammeln. Der Ersatzdienst ist eine
rium für Arbeit und Sozialordnung: Das ist uns nicht völlig neue Einrichtung in der Bundesrepublik, und
bekannt. Im Gegenteil, Frau Abgeordnete, wir wis- auch aus anderen Ländern können wir uns keine
sen, daß ein sehr starker Bedarf an Arbeitskräften Erfahrungen zunutze machen.
bei den Heil- und Krankenanstalten besteht und daß
diese gerne geeignete Ersatzdienstpflichtige neh- Vizepräsident Dr. Schmid: Eine zweite Zu-
men, wenn sie sie im Krankendienst einsetzen kön- satzfrage.
nen.
Dr. Rinderspacher (SPD) : Hat die Bundesregie-
Frau Meermann (SPD) : Ich will Ihnen gelegent- rung nach den bisherigen Erfahrungen mit dem Ein-
lich gerne ein paar Beispiele geben. satz der Wehrdienstverweigerer irgendwelche
3170 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963

Dr. Rinderspacher
Schlußfolgerungen für den geplanten freiwilligen Dr. Claussen, Staatssekretär im Bundesministe-
sozialen Dienst für Mädchen gezogen? rium für Arbeit und Sozialordnung: Herr Abgeord-
neter, ich darf Ihnen darauf antworten, daß es sich
Dr. Claussen, Staatssekretär im Bundesministe- bedauerlicherweise um einen Druckfehler handelt.
rium für Arbeit und Sozialordnung: Nein!
Vizepräsident Dr. Schmid: Eine Zusatzfrage.
Vizepräsident Dr. Schmid: Eine Zusatzfrage,
Herr Abgeordneter Dröscher. Dr. Wuermeling (CDU/CSU) : Herr Staatssekre-
tär, ist Ihnen bekannt, daß auch Herr Dr. Paul Ade-
Dröscher (SPD) : Herr Staatssekretär, ist Ihnen nauer in der letzten Politisch-Sozialen Korrespon-
entgangen, daß Sie die Frage ,der Kollegin Meer- denz geschrieben hat, wenn man als Ziel , des Fami-
mann überhaupt nicht beantwortet haben? lienlastenausgleichs die Vermeidung einer sozialen
Deklassierung der Familien mit Kindern ansehe, sei
Dr. Claussen, Staatssekretär im Bundesministe- klar, daß auch ein Kindergeld von 50 DM nicht aus
rium für Arbeit und Sozialordnung: Ich war der reiche, um die s es Ziel zu erreichen?
Meinung, die Frage beantwortet zu haben.
Dr. Claussen, Staatssekretär im Bundesministe-
Vizepräsident Dr. Schmid: Eine letzte Zusatz- rium für Arbeit und Sozialordnung: Herr Abgeord-
frage Herr Abgeordneter Dröscher. neter, ich weiß nicht, ob eine Auskunft auf diese
Frage mit unserem Druckfehler im Zusammenhang
steht. Aber im übrigen sind wir der Meinung, daß
Dröscher (SPD) : Dann darf ich fragen, ob Sie die
das Kindergeld verbessert werden sollte, und das
Frage von Frau Meermann, ob eine Stelle bei Ihrem
haben wir in der Vorlage des Kindergeldgesetzes
Ministerium besteht, auf die die Wehrdienstver
getan.
weigerer aufmerksam gemacht werden können,
nicht verstanden haben?
Vizepräsident Dr. Schmid: Eine weitere Zu-
satzfrage.
Dr. Claussen, Staatssekretär im Bundesministe-
rium für Arbeit und Sozialordnung: Doch! Ich sagte
ja, jeder Wehrdienstverweigerer kennt genau das Dr. Wuermeling (CDU/CSU) : Herr Staatssekre-
Arbeitsministerium und weiß, daß er sich in allen tär, wenn ich den Zusammenhang nochmals unter-
Fällen an das Ministerium wenden kann. Das tun streichen darf: Bei unserer Unterhaltung handelt es
die Wehrdienstverweigerer auch. Mit meinem Hin- sich um die Notwendigkeit der Erhöhung des Kin-
weis, den ich vorhin gegeben habe, wollte ich nur dergeldes von 40 auf 60 DM. Deshalb steht die
sagen, daß das auch bekannt ist und daß davon Frage im Zusammenhang. Ich möchte aber weiter
reichlich Gebrauch gemacht wird. fragen: Ist Ihnen erinnerlich, daß der stellvertre-
tende Fraktionsvorsitzende der CDU, Herr Kollege
Vizepräsident Dr. Schmid: Noch eine Frage? Schmücker,. in der großen politischen Debatte am
— Bitte! 7. Februar ebenfalls erklärt hat, daß wir in der Fa-
milienpolitik sehr nachhinken und deswegen die-
sen Sektor, der am schlechtesten dasteht, zuerst
Hörmann (Freiburg) (SPD) : Herr Staatssekretär, -
fördern müßten? Wäre das Arbeitsministerium nicht
machen Sie diese Arbeit vom Arbeitsministerium
bereit, in den Ausschußberatungen mit uns sehr
aus gern oder nicht?
gründlich zu prüfen, ob nicht doch Finanzierungs-
(Heiterkeit.) wege gefunden werden können, das Kindergeld,
wenn nicht vom dritten Kind ab, so wenigstens vom
Vizepräsident Dr. Schmid: Die Frage lasse ich vierten Kind ab auf die unerläßlich notwendigen
nicht zu. 60 DM anzusetzen?

Dr. Claussen, Staatssekretär im Bundesministe- Dr. Claussen, Staatssekretär im Bundesministe-


rium für Arbeit und Sozialordnung: Wir sind rium für Arbeit und Sozialordnung: Diese Frage
Beamte und sind zur Objektivität erzogen und ver- wird sicher im Zusammenhang mit all den übrigen
pflichtet. Fragen, die mit dem Sozialpaket zusammenhängen,
geprüft werden.
Vizepräsident Dr. Schmid: Ich habe die Frage (Zuruf von der FDP: Verpaßte Gelegen
nicht zugelassen. heit!)
Wir kommen zur Frage IX/3 — des Abgeordneten
Dr. Wuermeling —: Vizepräsident Dr. Schmid: Eine Zusatzfrage!
Wird die Bundesregierung die im neuesten Jahresbericht des
Bundesarbeitsministeriums (Deutsche Politik 1962", S. 188) ange-
kündigte 50%ige Erhöhung des Kindergeldes von 40 DM auf 60
Gscheidle (SPD) : Herr Staatssekretär, darf ich
DM im Rahmen des Sozialpakets auch in den Beratungen des aus Ihren Ausführungen entnehmen, daß die Bun-
Bundestages vertreten, um die notwendige Anpassung des Kin-
dergeldes an die seit der Festsetzung auf 40 DM (1. März 1959) desregierung auch die Folgerungen ziehen wird hin-
erfolgte Erhöhung der durchschnittlichen Wochenlöhne der sichtlich der Kindergelderhöhung bei der Beratung
Industriearbeiter sicherzustellen, die schon per November 1962
amtlich mit 45 % festgestellt ist? des dritten Besoldungsänderungsgesetzes?
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3171

Dr. Claussen, Staatssekretär im Bundesministe- entsprechenden Antrag des Verkehrsausschusses


rium für Arbeit und Sozialordnung: Das isteine übergegangen sind.
Frage, die das Innenministerium betrifft; ich kann
Erstens. Für die im Jahre 1963 fällig werdenden
sie nicht beantworten.
Tilgungen auf Kredite aus Mitteln des ERP-Sonder-
vermögens an Partikuliere und Kleinreeder wird
Gscheidle (SPD) : Darf ich die Frage dann an ein Moratorium gewährt. Die zuständigen Institute
die Bundesregierung stellen, ob sie beabsichtigt, sind inzwischen vom Herrn Bundesschatzminister
Folgerungen zu ziehen bei der Beratung des dritten dahin unterrichtet worden, daß die Stundung auf
Besoldungsänderungsgesetzes? Antrag mit der Maßgabe gewährt werden kann, daß
(Zuruf von der SPD: Die Bundesregierung die gestundeten Tilgungsbeträge am Schluß der
ist nicht vertreten! — Zuruf von der FDP: Laufzeit als zusätzliche Tilgungsrate gezahlt wer-
Das geht in diesem Zusammenhang nicht!) den.
Zweitens. Einer Anregung im Verkehrsausschuß
Dr. Claussen, Staatssekretär im Bundesministe- entsprechend prüft die Bundesregierung zur Zeit
rium für Arbeit und Sozialordnung: Diese Frage die Möglichkeit einer finanziellen Hilfe für die
geht über meine Zuständigkeit hinaus, das sagte ich Binnenschiffahrt auf Grund des Gesetzes über Ar-
schon. beitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung. Der
(Abg. Dr. Dittrich: Sie müssen sich die Ge hierfür erforderliche Betrag würde schätzungsweise
schäftsordnung ansehen zu diesem Zweck!) rund 18 Millionen DM ausmachen und müßte vom
Bund zur Verfügung gestellt werden. Außerdem .ist
von mir der Vorschlag gemacht worden, in der Zu-
Vizepräsident Dr. Schmid: Herr Kollege Ditt-
kunft ähnlichen Schwierigkeiten, wie wir sie im
rich, das tun wir alle!
Winter 1962/63 gehabt haben, durch eine Novelle
Ich rufe auf die Fragen aus dem Geschäftsbereich zum Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeits-
des Bundesministers für Verkehr, zunächst die losenversicherung zu begegnen.
Frage X/1 — des Abgeordneten Wegener —:
Drittens. Mit den Ländern habe ich Fühlung we-
Gibt es für Reisende, die ihre Fahrt vom Bahnhof Detmold aus gen weiterer Hilfsmaßnahmen aufgenommen, zu
antreten, andere Möglichkeiten, über Zugverspätungen informiert
zu werden, als die seit Jahrzehnten geübte Praxis, auf einer un- letzt in der Länderverkehrsministerkonferenz vor
scheinbaren schwarzen Tafel die Verspätungen mit Kreideschrift
anzukündigen?
einer Woche in Bremen. Im Gespräch sind folgende
Maßnahmen: a) Zinsbeihilfen zur Verbilligung der
Dr. Ing. Seebohm, Bundesminister für, Ver
-
Zinslast, b) Gewährung zinsloser Betriebsmittel-
kehr: Herr Kollege, wie mir die Hauptverwaltung kredite und c) Erleichterungen bei der Gewerbe-
der Deutschen Bundesbahn mitteilt, werden den und Einkommensteuer. Unabhängig davon hoffe ich,
Reisenden auf Bahnhof Detmold Zugverspätungen daß die Länder ebenso wie der Bund Moratorien für
durch Kreideanschrift auf der bei der Deutschen ihre Landeskredite gewähren werden.
Bundesbahn üblichen schwarzen Tafel angezeigt.
Darüber hinaus ist durch örtliche Anordnung sicher- Vizepräsident Dr. Schmid: Eine Zusatzfrage!
gestellt, daß Bundesbahnbedienstete die Reisenden
in den Wartesälen, in der Wartehalle und auf dem Peiter (SPD): Herr Minister, haben Sie wegen
Bahnsteig über etwaige Zugverspätungen verstän- der Dringlichkeit der Angelegenheit die Möglich--
digen. keit, über Verordnungen eine sofortige Hilfe ein-
Im Rahmen der Modernisierung bemüht sich die zuleiten?
Deutsche Bundesbahn nach Maßgabe der ihr zur
Verfügung stehenden Mittel, außer den Umsteige- Dr. Ing. Seebohm, Bundesminister für Ver-
-

bahnhöfen auch die Durchgangsbahnhöfe mit festen kehr: Nein, das habe ich nicht.
Lautsprecheranlagen auszurüsten. Die Bundesbahn-
direktion Hannover hat in ihrem Programm für die Vizepräsident Dr. Schmid: Ich rufe auf die
nächsten Jahre eine größere Anzahl von Bahnhöfen Frage X/3 — des Abgeordneten Fritsch —:
zur Ausrüstung mit Lautsprecheranlagen vorge-
sehen. Der Bahnhof Detmold steht in diesem Pro- Wann ist mit der Fertigstellung der Hochwasserschutzbauten
in Vilshofen-Vilsvorstadt zu rechnen?
gramm an erster Stelle, so daß voraussichtlich noch
in diesem Jahr die Reisenden auch dort durch Laut- Dr. Ing. Seebohm, Bundesminister für Ver-
-

sprecheransagen informiert werden können. kehr: Herr Kollege! Die Stadt Vilshofen ist durch
den Damm der neu gebauten Umgehungsstraße und
Vizepräsident Dr. Schmid: Ich rufe auf die durch einen neuen Hochwasserdamm auf dem lin-
Frage X/2 — des Abgeordneten Peiter —: ken Vilsufer gegen Überflutung geschützt. Noch
nicht ausgeführt ist der Hochwasserschutz für die
Weiche Hilfsmaßnahmen sind für die deutsche Binnenschiffahrt
vorgesehen, der durch den strengen Winter teils bis zu 3 Mona- Vorstadt von Vilshofen, die auf dem rechten Ufer
ten die Ausübung des Gewerbes unmöglich gemacht wurde?
der Vils liegt, die bekanntlich keine Bundeswasser-
straße ist und eine sehr lockere Bebauung aufweist.
Dr. Ing. Seebohm, Bundesminister für Ver-
- In der strittigen Frage, wer die Kosten für die letzt-
kehr: Herr Kollege, folgende Hilfsmaßnahmen sind genannten Maßnahmen zu tragen hat, das heißt also
von mir vorgeschlagen, die zum Teil in einen neuen dieHochwasrutzmßnefdrcht
3172 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963
Bundesminister Dr.-Ing. Seebohm
Ufer der Vils, liegt ein rechtskräftiges Urteil der Vizepräsident Dr. Schmid: Dann darf ich auch
angerufenen Verwaltungsgerichte noch nicht vor. die Frage X/5 — des Abgeordneten Krug — auf-
Aus diesem Grunde konnte mit den restlichen Bau- rufen:
arbeiten auch noch nicht begonnen werden. Will die Bundesregierung ernstlich dafür Sorge tragen, daß die
wirklich unhaltbare Verkehrssituation auf der B 19 zwischen
Immenstadt und Sonthofen durch eine beschleunigte Inangriff-
nahme des vorgesehenen Straßenbaues behoben wird?
Vizepräsident Dr. Schmid: Eine Zusatzfrage!
Bitte, Herr Minister!

Fritsch (SPD) : Herr Minister, haben Sie Ver-


ständnis dafür, daß die Bevölkerung von Vilshofen Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister für Ver-
angesichts der noch ungeklärten Rechtslage in be- kehr: Während die heutige Bundesstraße 19 zwi-
trächtlicher Sorge darüber ist, daß bei einem mög- schen Immenstadt und Sonthofen westlich der Iller
lichen neuen Hochwasser die Stadt erneut bedroht verläuft, soll die neue Linie östlich des Flusses ge-
sein könnte, und daß sie meint, daß ungeachtet der führt werden. Für die Planung, der das Bundesver-
noch zu klärenden Zuständigkeiten der Bund die kehrministerium schon vor längerer Zeit grund-
Arbeiten zunächst einmal durchführen sollte? sätzlich zugestimmt hat, wird zur Zeit das Plan-
feststellungsverfahren durchgeführt. Dabei haben
sich zu unserem Bedauern Einsprüche ergeben, die
Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister für Ver- leider zu einer nochmaligen seitlichen Verschiebung
kehr: Herr Kollege, ich habe Verständnis dafür,
der Trasse zwingen; dies bedeutet, daß die Planung
wenn ich auch der Meinung bin, daß es sich nur um
umgearbeitet werden muß. Mann kann damit rech-
die Vorstadt handelt und die Stadt Vilshofen selbst
nen, daß die Planfeststellung, die die Vorausset-
einen vollkommenen Hochwasserschutz besitzt, also
zung für den Baubeginn ist, im Laufe des Sommers
nicht mehr bedroht ist, wie sich in diesem Winter
abgeschlossen werden kann. Die Bauarbeiten kön-
erwiesen hat. Im übrigen darf ich Ihnen sagen, daß
nen dann etwa im Herbst ausgeschrieben und noch
das eine Angelegenheit ist, die das Land Bayern in diesem Jahr in Angriff genommen werden.
angeht. Ich habe mich seinerzeit bereit erklärt, die
noch erforderlichen Baumittel bereitzustellen, wenn Dabei wird allerdings vorausgesetzt, daß die
das Land diese Mittel vorschießt, bis das Gericht heute in ihrem vollen Ausmaß noch nicht überseh-
entschieden hat. Der damalige bayerische Staats- baren Frostschäden nicht dazu zwingen, den infolge
minister, Herr Betzold, hat diesen Vorschlag mit der bekannten Abstriche 1963 sehr eng gewordenen
dem Hinweis abgelehnt, daß sein Versuch geschei Straßenbauhaushalt völlig umzustellen und den Be-
tert sei, eine entsprechende Zusage seines Finanz- ginn einer Anzahl von Baumaßnahmen auf das
ministers zu erhalten, und daß der Wunsch bestehe, nächste Jahr zu verschieben, was ich gerade in die-
daß die Sache erst gerichtlich geklärt werde. In- sem Falle besonders bedauern würde.
folgedessen kann ich nichts anderes machen, als auf
den Ausgang des Verwaltungsgerichtsverfahrens zu Vizepräsident Dr. Schmid: Eine Zusatzfrage!
warten. Der Bundesrechnungshof würde nicht zulas-
sen, daß ich jetzt Mittel hierfür aufwende.
Schmidt (Kempten) (FDP) : Herr Minister, darf
ich nach dieser Antwort annehmen, daß die B 19 so
Vizepräsident Dr. Schmid: Letzte Zusatzfrage! etwa am Ende der vorgesehenen Baumaßnahmen
-
rangiert, obwohl sie die einzige Zufahrtsstraße zum
Fritsch (SPD) : Herr Minister, ist von Ihnen aus Oberallgäu ist und der derzeitige Zustand infolge
abzusehen, wann mit der Entscheidung des Gerichts der Frostschäden die Sperrung dieser Straße in den
zu rechnen sein wird? nächsten Wochen und Monaten notwendig macht?

Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister für Ver- Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister für Ver-
kehr: Lieber Herr Kollege, die Justiz ist eine von kehr: Bei der Frage des Herrn Abgeordneten Krug
der Legislative und Exekutive unabhängige Ein- handelt es sich um die Bundestraße 19 zwischen
richtung. Sonthofen und Immenstadt und nicht um die Zu-
fahrtsstraße. Die Zufahrtsstraße zur B 19 wird —
(Abg. Fritsch: Das habe ich ja nicht be
das habe ich schon mitgeteilt — im Anschluß an den
stritten!)
in Verkehr genommenen Abschnitt Memmingen-
Wolfertschwenden in dem Abschnitt Wolfertschwen-
Vizepräsident Dr. Schmid: Ich rufe auf die den—Illerburg gebaut. Die Arbeiten sind schon im
Frage X/4 — des Abgeordneten Krug —: vorigen Herbst vergeben worden und laufen weiter.
Trifft es zu, daß der wiederholt für das Jahr 1963 zugesagte
Baubeginn an der B 19 zwischen Immenstadt und Sonthofen noch-
mals verschoben werden soll? Vizepräsident Dr. Schmid: Letzte Zusatzfrage!

Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister für Ver- Schmidt (Kempten) (FDP) : Herr Minister, ich
kehr: Ich bitte den Herrn Präsidenten, damit ein- glaube wir haben uns mißverstanden. Meine Frage
verstanden zu sein, daß ich die Fragen ides Herrn bezieht sich auch auf das Stück Immenstadt-Sont-
Abgeordneten Krug zusammen beantworte, da sie hofen. Die Frostschäden dort sind so groß, daß
den gleichen Inhalt betreffen. dieses Stück nicht mehr befahrbar erscheint.
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3173

) Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister für Ver- telefonieren wollen, nicht erst zum Bahnhofsge
kehr: Herr Kollege, ich habe vorhin ausgeführt, daß bäude zu gehen brauchen.
wir erst nach Beendigung der Planfeststellungen mit
den Arbeiten beginnen können. Wir können nicht Vizepräsident Dr. Schmid: Die letzte Zusatz-
vorher zu arbeiten anfangen, bevor die Planfest- frage!
stellung fertig ist. Die B 19 liegt mir, wie ich schon
zuvor gesagt habe, ganz besonders am Herzen, wie Dr. Kohut (FDP) : Wissen Sie denn nicht, Herr
ich noch einmal betonen möchte. Minister, daß sich die Beamten am Schalter durch
das Telefonieren belästigt fühlen? Gerade bei star-
Vizepräsident Dr. Schmid: Frage X/6 — des kem Verkehr, wenn viel telefoniert wird, können
Abgeordneten Dr. Kohut —: sie doch nicht in ihrer Arbeit gestört werden!
Ich frage den Herrn Bundesverkehrsminister, ob es der Wer-
bung für die Institution Auto im Reise-Zug" dient, wenn auf Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister für Ver-
einem Be- und Entladebahnhof, wie z. B. Neu Isenburg, nicht
einmal ein Fernsprecher existiert, weil das Bundespostministe- kehr: Ich sehe nicht ein, warum ein Beamter gestört
rium seit Jahren keine Münzfernsprecher beschaffen kann und werden sollte, wenn ein anderer seinen Telefon-
die Aufstellung eines Fernsprechers für unwirts chaftlich hält?
apparat benutzt.
Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister für Ver- Dr. Kohut (FDP) : Anscheinend doch! Er ist doch
kehr: Der Herr Bundespostminister und die Deutsche am Schalter!
Bundesbahn sind der Ansicht, daß sich die Aufstel-
lung eines Münzfernsprechers am Bahnhof Neu
Isenburg erübrigt und insbesondere auch nicht aus Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister für Ver-
Gründen der Werbung oder des Kundendienstes der kehr: Verzeihen Sie, Herr Kollege! Wenn, in Ihrem
Bundesbahn erforderlich ist, da die Reisenden, falls Büro jemand den Telefonapparat benutzt, werden
sie telefonieren wollen, im Büro des Bahnhofs sich Sie doch noch nebenher Ihre Arbeit tun können!
eines dort angebrachten Postfernsprechers bedienen (Beifall.)
können.
Nach einer winterlichen Pause von sechs Monaten Vizepräsident Dr. Schmid: Wir kommen nun
wird der Bahnhof Neu Isenburg vom 5. April ab zu Frage X/7 — des Abgeordneten Hörmann —:
wieder zweimal wöchentlich in jeder Richtung von
Auto-Reisezügen bedient; dabei werden im Durch- Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister für Ver-
schnitt je Zughalt acht bis zehn Wagen in Richtung kehr: Ich darf den Herrn Präsidenten um Zustim-
Süden verladen und aus den von Süden kommen- mung bitten, daß ich die beiden Fragen des Herrn
den Zügen fünf bis sechs Wagen entladen. Die Zahl Abgeordneten Hörmann über die Eisenbahnverbin-
der Reisenden ist also nicht sehr groß. Trotzdem dung Freiburg-Colmar in einer Antwort zusammen-
stimme ich Ihnen zu, daß Gründe der Werbung für fasse.
diesen besonderen Betrieb das Anbringen eines
Münzfernsprechers an der Auffahrtsrampe ange- Vizepräsident Dr. Schmid: Dann rufe ich die
bracht erscheinen lassen. Frage X/7 zusammen mit Frage X/8 — Fragen
des Abgeordneten Hörmann — auf:
Vizepräsident Dr. Schmid: Gestatten Sie noch Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß die Aussichten
eine Zusatzfrage, Herr Minister? für erfolgreiche Verhandlungen mit Frankreich wegen der Wie- -
derherstellung der direkten Eisenbahnverbindung Freiburg-Brei-
sach-Colmar heute günstiger sind als früher, nachdem eine
elsässische Delegation eine positiv bewertete Aussprache beim
Dr. Kohut (FDP) : Da ich selbst schon mehrfach Präsidialbüro des französischen Staatspräsidenten hatte?
die Institution „Auto im Reisezug" benutzt habe
Ist die Bundesregierung bereit, mit der Regierung der Fran-
und feststellen konnte, daß manchmal im Sommer zösischen Republik erneut über die Eisenbahnverbindung Frei-
20, 30 Wagen dort ver- oder entladen werden, und burg-Breisach-Colmar zu verhandeln, wie ich dies bereits in der
Fragestunde vom 22. Februar 1962 angeregt hatte?
da ich. die Zustände dort kenne, frage ich Sie: Ist es
nicht ein typisches Monopoldenken, wenn es Post
und Bahn zusammen im Atomzeitalter ablehnen, Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister für Ver-
einen einfachen Fernsprecher auf dem Bahnhof kehr: Die Bundesregierung hat Schritte unternom-
einer Stadt von 28 000 Einwohnern, der mitten im men, Herr Kollege, um festzustellen, ob tatsächlich,
Wald gelegen ist und auch von Ausländern benutzt wie hier angeführt, die federführende Behandlung
wird, anzubringen? aus dem französischen Verkehrsministerium in das
Büro des Herrn Staatspräsidenten übergegangen ist
und sich die Einstellung Frankreichs im Gegensatz
Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister für Ver- zu der Verbalnote vom 12. Juli 1961 dadurch geän-
kehr: Herr Kollege, auf dem Bahnhof ist ja ein
dert hat. Erst wenn das Ergebnis dieser Feststellun-
Fernsprecher vorhanden. Die Frage ist doch hier
gen vorliegt, wird Ihre Frage abschließend beant-
die: Die Leute können von der Auffahrtsrampe in
wortet werden können, die dahin geht, ob die Aus-
das Bahnhofsgebäude gehen; dort ist ein Fernspre-
sichten für eine Eisenbahnverbindung von Freiburg
cher vorhanden, dessen sie sich bedienen können.
über Breisach nach Colmar durch diese Umstellung
Ich habe Ihnen eben gesagt, daß ich persönlich der
günstiger geworden sind.
Meinung bin, an der Auffahrtsrampe könnte und
sollte ein Münzfernsprecher aufgestellt werden, da- Bis dahin wird es auch nicht möglich sein, ent-
mit die Herrschaften, wenn sie dort auffahren und sprechend dem Petitum Ihrer zweiten Frage mit der
3174 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963

Bundesminister Dr.-Ing. Seebohm


französischen Regierung erneut zu verhandeln; denn Dr. Ing. Seebohm, Bundesminister für Ver-
-

ich .muß erst die Stelle kennen, die ich ansprechen kehr: Nein, Herr Kollege, sie ist in der Besprechung
kann. Dafür werden Sie nach der eindeutigen Ant- vom 21. Januar 1963 nur erst einmal vorgeschlagen
wort, die die französische Regierung seinerzeit auf worden. Es ist kein schriftliches Angebot.
unsere Verbalnote gegeben hat, Verständnis haben.
Vizepräsident Dr. Schmid: Die Fragen sind
Hörmann (SPD) : Darf ich fragen, Herr Bundes- beantwortet.
verkehrsminister, ob Sie uns über das Ergebnis
Ihrer Rückfrage auf dem laufenden halten werden? Ich rufe die von dem Abgeordneten Cramer ge-
stellte Frage X/10 auf:
Dr. Ing. Seebohm, Bundesminister für Ver-
-
Bedeutet die Bestellung eines dritten Baggers, daß die Ver-
tiefung des Jadefahrwassers auf 13 m eine beschlossene Sache
kehr: Jawohl, gern. Ich werde den Verkehrsausschuß ist?
darüber unterrichten.
Dr. Ing. Seebohm, Bundesminister für Ver-
-

Vizepräsident Dr. Schmid: Ich rufe auf kehr: Herr Kollege, wir brauchen zur Erhaltung der
Frage X/9 — des Abgeordneten Cramer —: Fahrwassertiefen bei den Seeschiffahrtsstraßen Jade,
Weser und Elbe insgesamt drei Großraumsaugebag-
Wann ist mit dem Beginn der Arbeiten für die Vertiefung des
Jadefahrwassers auf 13 m zu rechnen? ger. Zwei davon sind in Betrieb. Der dritte ist jetzt
aus Mitteln, .die zur Herstellung und Unterhaltung
Dr. Ing. Seebohm, Bundesminister für Ver-
-
des Elbefahrwassers bewilligt wurden, bestellt. Nach
kehr: Herr Kollege Cramer, die Vertiefung des seiner Indienststellung steht also ständig einer
Jadefahrwassers auf 13 m ist technisch möglich und dieser Bagger für die Jade zur Verfügung. Wir be-
erscheint nach Auskunft des Herrn Bundesministers nötigen ihn hier auch schon für die Erhaltung des
für Wirtschaft wirtschaftlich vertretbar. Sie kann 12-m-Fahrwassers bei Wangerooge.
aber erst in Angriff genommen werden, wenn die
Finanzierung geklärt ist. Die Kosten für die Vertie- Vizepräsident Dr. Schmid: Eine Zusatzfrage!
fung des seewärts der Insel Wangerooge gelegenen
Fahrwassers werden auf etwa 55 Millionen DM ge-
schätzt. Die bisher wegen der Finanzierung geführ- Cramer (SPD) : Herr Minister, wenn das Geld
ten Verhandlungen haben noch zu keinem endgül- für die Ausbaggerung zur Verfügung steht, kann
tigen Ergebnis geführt; sie werden fortgesetzt. dann nicht auch schon mit den Arbeiten begonnen
werden, bevor der dritte Bagger da ist?

Vizepräsident Dr. Schmid: Herr Minister, ge-


statten Sie eine Zusatzfrage!
Dr. Ing. Seebohm, Bundesminister für Ver-
-

kehr: Das ist nicht möglich, Herr Kollege, weil wir


mit diesen zwei Baggern jetzt die drei Zufahrten
Cramer (SPD) : Herr Minister, treffen die Zei- bedienen müssen und infolgedessen der ,eine Bag-
tungsmeldungen und auch die Äußerungen nieder- ger, wenn irgendwelche besonderen Verhältnisse an
sächsischer Minister zu, daß das Land Niedersachsen der einen oder anderen Zufahrt sich ergeben — wie
einen Zuschuß von 12 Millionen DM und außerdem z. B. im vorigen Sommer an der Elbezufahrt —, nach
— ich weiß nicht, ob es stimmt — ein Darlehen in dort hinübergeschafft werden muß. Auch jetzt haben
Höhe von 20 Millionen DM angeboten hat? Beide die Peilungen ergeben, daß an der Elbezufahrt, und
Ziffern werden in der Öffentlichkeit genannt. zwar gegenüber dem Vogelsand, sich wieder neue
Sandbänke eingestellt haben, die unbedingt besei-
Dr. Ing. Seebohm, Bundesminister für Ver-
- tigt werden müssen, damit die Zufahrt zur Elbe er-
kehr: Herr Kollege, mir ist nur bekannt, daß die nie- halten bleibt.
dersächsische Landesregierung zunächst ein Darlehen
von 12 Millionen DM angeboten hat. Auf den Hin- Vizepräsident Dr. Schmid: Eine letzte Zusatz-
weis, daß sie bei der ersten Jadevertiefung einen frage!
Beitrag von 12 Millionen DM gegeben hat, hat sie
dann vor wenigen Tagen erklärt, daß sie dieses Dar-
Cramer (SPD) : Herr Minister, wann ist mit der
lehen als einen Zuschuß geben wolle. Über ein wei-
Fertigstellung des dritten Baggers zu rechnen?
teres Darlehen, das sie in Aussicht gestellt hat, ist
mir bisher nichts bekannt geworden, obwohl am
25. März zuletzt Verhandlungen zwischen den Res- Dr. Ing. Seebohm, Bundesminister für Ver-
-

sorts gepflogen worden sind. kehr: Der Bagger ist in Auftrag gegeben. Normaler-
weise kann mit zwei Jahren Bauzeit gerechnet wer-
den.
Vizepräsident Dr. Schmid: Eine letzte Zusatz-
frage!
Vizepräsident Dr. Schmid: Frage X/11 — Ab-
geordneter Müller (Nordenham) —:
Cramer (SPD) : Herr Minister, liegt diese Zu-
Was beabsichtigt die Bundesregierung zu tun, um die im Haus-
sage von 12 Millionen DM Zuschuß inzwischen halt 1962 in Kap. 12 10 Tit. 310 lfd. Nr. 177 für den Ausbau von
schriftlich bei Ihnen oder beim Finanzministerium Teilstrecken der B 212 zwischen Bookhorn und Nordenham bereit-
gestellten aber wegen der Kürzung nicht verbauten 900 000 DM
vor? auszugleichen?
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3175

Dr. Ing. Seebohm, Bundesminister für Ver-


- letzten Straßenverkehrszählung 1960 noch unter
kehr: Herr Kollege, im Rechnungsjahr 1962 sind von dem niedersächsischen Landesdurchschnitt von 2780
den für die Bundesstraße 212 vorgesehenen Kraftfahrzeugen in 24 Stunden, der wiederum be-
900 000 DM im Abschnitt Bookhorn–Bookholzberg trächtlich unter dem Bundesdurchschnitt von 3550
rund 210 000 DM verausgabt worden. Die für wei- Kraftfahrzeugen 'in 24 Stunden liegt.
tere Baumaßnahmen vorgesehenen Beträge, nämlich Mit der im Haushalt 1963 vorgesehenen 1 Mil-
400 000 DM nördlich Bookholzberg und 300 000 DM lion DM soll der Ausbau nicht nur südlich Bookholz-
bei Harmenhausen, konnten nicht in Anspruch ge- berg fortgesetzt, sondern auch der Ausbau im Land-
nommen werden, weil die .Planfeststellung bei Book- kreis Wesermarsch von Golzwarderwurp bis west-
holzberg und 'die baureife Planung bei Harmen lich Sürwürden und zwischen Beckum und Haven-
hausen infolge der sehr schwierigen Moorstrecke dorf durchgeführt werden. Der vorgesehene Ausbau
bis heute noch nicht abgeschlossen sind. Hier liegen der B 212 umfaßt bekanntlich umfangreiche Verle-
die Voraussetzungen nicht bei uns, sondern allein gungen bei Bookholzberg, Harmenhausen, Berne,
bei den zuständigen Verwaltungsstellen in Nieder- Rodenkirchen, Esenshamm, Elfwürden und Blexen.
sachsen. Ein Ausgleich dieser Beträge im kommen- Die Planung und Baudurchführung sind wegen des
den Jahr ist leider nicht möglich, da die Kürzungen vielfach sehr ungünstigen Untergrundes — es liegt
der Straßenbauhaushalte 1962 und 1963 zwangs- hier viel Moor vor — wesentlich schwieriger, als
läufig Zurückstellungen mit sich 'brachten. Zudem es das flache Gelände auf den ersten Blick vermuten
wird die Beseitigung der Frostschäden Vorrang ha- läßt.
ben müssen.
Von den insgesamt veranschlagten Kosten von
rund 12 Millionen DM konnten daher bisher nur
Vizepräsident Dr. Schmid: Frage X/12 — Ab- etwa 25 % ausgegeben werden. Der Gesamtausbau
geordneter Müller (Nordenham) soll nach Möglichkeit während des zweiten Vier-
Ist der Bundesregierung bekannt, daß auf der B 212, soweit jahresplanes durchgeführt werden.
sie durch den Landkreis Wesermarsch verläuft, in der Zeit vom
1. Januar bis 17. März 1963 98 Verkehrsunfälle mit 2 Todes-
opfern und 28 Verletzten zu verzeichnen sind?
Vizepräsident Dr. Schmid: Zusatzfrage!
Dr. Ing. Seebohm, Bundesminister für Ver-
-

kehr: Herr Kollege, über die Unfälle auf der Bun- Müller (Nordenham) (SPD) : Warum, Herr Mini-
desstraße 212 ist der Bundesminister für Verkehr ster, verteilen Sie die im Zwölfjahresplan bis 1970
aus Zeitungsmeldungen unterrichtet. Genaue amt- für den Ausbau der B 212 vorgesehenen 30 Mil-
liche Zahlen für die Bundesstraße 212 im Landkreis liönen DM mit etwa 9 % auf den ersten, mit 27 %
Wesermarsch einschließlich der Analyse der Unfall- auf .den zweiten und mit 64% auf den letzten Vier-
ursachen liegen bei der niedersächsischen Straßen- jahresplan?
bauverwaltung, bei der ich rückgefragt habe, leider
nicht vor. Bekanntlich haben in der Bundesrepublik Dr. Ing. Seebohm, Bundesminister für Ver-
-

1962 täglich 39 Menschen den Unfalltod erlitten, kehr: Herr Kollege Müller, weil wir bekanntlich im
obwohl bei wachsender Kraftfahrzeugdichte die Zahl ersten Vierjahresplan 8 Milliarden, im zweiten 13
der Getöteten und Verletzten gegenüber dem Vor- und im dritten 16 bis 17 Milliarden erwarten, wer-
jahr durch die bekannten Maßnahmen zur Hebung den wir uns mit den Zahlen nach den Gesamtsum-
der Verkehrssicherheit um 4 % verringert werden men strecken müssen, zum anderen, weil wir natür--
konnte. lich — hier greife ich auf meine Antwort von vor-
hin zurück — die stärkst belasteten Straßen eher
Man kann also nicht sagen, daß auf der Bundes-
heranziehen müssen als die weniger belasteten.
straße 212 eine unangemessene oder im Vergleich
zu anderen Straßen überhöhte Unfallhäufigkeit auf-
tritt. Vizepräsident Dr. Schmid: Eine letzte Zusatz-
frage!
Vizepräsident Dr. Schmid: Frage X/13 Ab-
Millier (Nordenham) (SPD) : Warum, Herr Mini-

geordneter Müller (Nordenham) —:


ster, benachteiligen Sie im Straßenbau den schon
Meint die Bundesregierung, laß die im Haushalt 1963 für den geographisch und strukturell benachteiligten nord
Ausbau der B 212 bereitgestellten Mittel in Höhe von 1 Million
DM ausreichen, um wenigstens die besonderen Unfallursachen westdeutschen Küstenraum zwischen Weser und
zu beseitigen?
Ems durch den im Zwölfjahresplan vorgesehenen
Einsatz der Bundesmittel? Denn das soeben für die
Dr. Ing. Seebohm, Bundesminister für Ver-
-
B 212 angeführte Verhältnis gilt etwa für fast alle
kehr: Herr Kollege Müller, auf der Bundesstraße anderen Bauvorhaben.
212 sind „Unfallstellen" mit einer Unfallhäufigkeit,
die sofortige straßenbautechnische Vorkehrungen Dr. Ing. Seebohm, Bundesminister für Ver-
-

erfordert, nach dem Urteil der niedersächsischen kehr: Sie wissen sehr wohl, Herr Kollege, daß im
Straßenbauverwaltung nicht vorhanden. zweiten Vierjahresplan, nachdem im ersten Vier-
Die Bundesstraße 212 gehört nach Mitteilung der jahresplan auf Wunsch der Landesregierung die öst-
Niedersächsischen Straßenbauverwaltung zu den liche Hälfte des Landes bevorzugt worden ist, nun-
relativ schwach belasteten Straßen des Blauen Net- mehr auf meinen Wunsch der Schwerpunkt des
zes in Niedersachsen. Ihre Belastung liegt nach der Straßenbaues in die westliche Hälfte, und zwar in
3176 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963
Bundesminister Dr.-Ing. Seebohm
die nordwestliche Hälfte, des Landes Niedersachsen gen. Dies ist vor allem in dem vorhandenen regen
verlegt 'wird. Wir befinden uns beim Straßenbau Wettbewerb, in der hohen Geräteintensität und in
stets zwischen Scylla und Charybdis, nämlich ein- dem sich daraus ergebenden relativ geringen Lohn-
mal zwischen den überfließenden Verkehrswegen in anteil begründet. Die Lohnkosten betragen im Erd-
den Ballungsgebieten und zum anderen zwischen und Deckenbau etwa 10 bis 15 % und im Brückenbau
den Wegen in den Erschließungsgebieten. Es war etwa 20 % der Gesamtbaukosten.
zunächst einmal notwendig, an der Zonengrenze Das Statistische Bundesamt hat für den Zeitraum
entsprechende Ausbauten vorzunehmen. Dadurch von Februar 1962 bis Februar 1963 einen Preis-
sind — und das ist mit der niedersächsischen Lan- anstieg von durchschnittlich rund 5 % für den Stra-
desregierung stets so abgesprochen worden — die ßenbau ermittelt. Gegenüber dem vom Statistischen
Arbeiten in Nordwestniedersachsen zurückgestellt Bundesamt für den gesamten Straßenbau ermittelten
worden, zumal wir auch im Emsland erhebliche Stra- Wert liegt daher die Preissteigerung im Bundesfern-
ßenbauten im Zuge des Emslandplans vorziehen
straßenbau etwas niedriger.
mußten.
Lemmrich (CDU/CSU) : Herr Bundesminister,
Vizepräsident Dr. Schmid: Eine Zusatzfrage! glauben Sie, daß die Kapazitäten der deutschen Bau-
industrie dazu ausreichen, ohne wesentliche Preis-
Wächter (FDP) : Stimmt es, Herr Minister, daß steigerungen den Vierjahresplan erfüllen zu kön-
Neubaumaßnahmen an der B 212 — ich denke vor nen?
allem an die Strecke Raden—Blexen — deswegen
nicht zum Zuge kommen können, weil seit eineinhalb Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister für Verkehr:
Jahren im Planfeststellungsverfahren Einsprüche Ich bin davon überzeugt, zumal die Firmen durch
laufen, die bislang noch nicht beseitigt werden die weiter ausgeschriebenen Arbeiten immer wieder
konnten? Wenn ja, Herr Minister, würden Sie gege- angeregt werden, die Rationalisierung voranzutrei-
benenfalls bereit sein, den Herren Kollegen Müller ben und Investitionen vorzunehmen, von denen sie
und Dr. Siemer sowie mir die Namen derjenigen zu auch wissen, daß sie durch entsprechende Aufträge
nennen, die Einspruch erhoben haben, damit wir ausgenützt werden. Eine Kürzung würde diese
auf der örtlichen Ebene über kommunale Stellen Firmen allerdings in schwere Verlegenheit bringen.
Einfluß auf sie ausüben können und somit diese
Einsprüche vielleicht schneller behoben werden? Lemmrich (CDU/CSU) : Herr Bundesminister,
eine weitere Frage: Sie wissen, daß zu kurze Bau-
Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister für Ver- termine einen wesentlichen Einfluß auf die Preise
kehr: Zur ersten Frage zunächst ja, Herr Kollege haben. Zu kurze' Bautermine erzeugen hohe Preise.
Wächter! Haben Sie dafür Sorge getragen, daß in diesem Jahr,
wo die Bausaison kürzer wird, nicht unnötig kurze
Die Frage zwei! Ich würde mich sehr freuen, wenn
Bautermine von den Bauunternehmungen verlangt
Sie bei meiner nächsten Besichtigung in diesem Ge-
werden?
biet anwesend wären, weil ich extra dorthin fahren
wollte, um mit den örtlichen Behörden darüber zu
sprechen, wie diese — die Methode ist durchaus Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister für Verkehr:
verständlich — ständigen Einsprüche durch ein Herr Kollege, ich habe durch ein Rundschreiben an
Gespräch ausgeräumt werden können und Ihnen alle Auftragsverwaltungen bei den Ländern ge-
dann auch Gelegenheit gegeben werden kann, in beten, die vor dem Winter und während des Win-
entsprechender Kleinarbeit, wofür ich sehr dankbar ters mit den Baufirmen abgeschlossenen Termine
wäre, die zuständigen Grundbesitzer zu überzeugen, aufzuheben und mit den Firmen neue Termine im
daß sie mit ihren Einsprüchen nicht weiterkommen. Hinblick darauf zu vereinbaren, daß erhebliche Zei-
ten sowohl durch den Winter als auch durch den
Anlauf nach dem Winter verlorengegangen sind. Ich
Vizepräsident Dr. Schmid: Frage X/14 — des
Herrn Abgeordneten Lemmrich — :
hoffe also, daß die Firmen nun mit den Auftrags-
verwaltungen Termine absprechen können, die den
Hat die Bundesregierung einen Überblick über die Steigerung
der Straßen- und Brückenbaupreise innerhalb des vergangenen
gegebenen Preisen genügen und keinen Preisauf-
Jahres im Bereich des Bundesfernstraßenbaues? trieb herbeiführen. Das ist das Ziel der Maßnahme.

Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister für Verkehr: Vizepräsident Dr. Schmid: Ich rufe auf Frage
Herr Kollege! Aus den von den Ländern als Auf- VI/4 — des Herrn Abgeordneten Wittrock —:
tragsverwaltungen des Bundes vorgelegten Aus-
Wird die Bundesregierung Konsequenzen aus der Feststellung
schreibungsergebnissen für den Bau von Bundes- ziehen, daß eine Häufung von Unfällen, in die Fahrzeuge der
fernstraßen ist zu entnehmen, daß im Jahre 1962 amerikanischen Versorgungsbetriebe (AFEX) verwickelt sind,
durch den oft katastrophalen Zustand der AFEX-Fahrzeuge be-
die Preise für Erd- und Deckenbauarbeiten im Mittel wirkt wird, der so schlecht ist, daß allein von den in Mainz-
um etwa 4 % und im Brückenbau um etwa 6 % ge- Kastel stationierten Fahrzeugen schätzungsweise 90 % einer tech-
nischen Überprüfung nach § 29 StZVO nicht standhalten würden,
stiegen sind. Diese Steigerungen sind im wesent- wenn eine Prüfung vorgeschrieben wäre?
lichen auf die im Jahre 1962 eingetretenen Lohn-
erhöhungen von rund 10 % zurückzuführen. Die Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister für Verkehr:
Preise im Bundesfernstraßenbau sind auch 1962 we- Herr Kollege Wittrock, die Bundesregierung wird
niger als in allen anderen Tiefbausparten angestie- erstmalig durch die Frage vor die Behauptung ge-
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3177
Bundesminister Dr.-Ing. Seebohm
stellt, daß die Fahrzeuge der AFEX, der Air Forces Vizepräsident Dr. Schmid: Geschäftsbereich
Europe Exchange, nicht verkehrssicher seien. Auch des Bundesministers für das Post- und Fernmelde-
bei den hessischen Ministerien für Wirtschaft und wesen. Frage XI/1 — Abgeordneter Dr. Roesch —:
Verkehr und für Inneres ist, wie ich rückgefragt Wann und auf welche Weise gedenkt die Bundesregierung die
habe, hierüber nichts bekannt. Das wenigstens Entschließung des Bundestages vom 28. Juni 1957 zu verwirk-
lichen, in der sie aufgefordert wird, sie „möge sicherstellen,
haben fernmündliche Rückfragen des Bundesver- daß bei der Deutschen Bundesbahn und bei der Deutschen
kehrsministeriums ergeben. Ich wäre Ihnen also Bundespost die Stellenpläne den tatsächlich vorhandenen Dienst-
posten möglichst angeglichen werden", um die zur Zeit tatsäch-
sehr dankbar, Herr Kollege, wenn Sie mir die Ihnen lich bestehende Benachteiligung der Beamten des gehobenen
Dienstes besonders bei der Deutschen Bundespost zu beseitigen,
bekanntgewordenen Tatsachen mitteilen würden, zumal die Deutsche Bundespost ihre Aufgabe nach vernünftigen
damit die Angelegenheit von uns weiter geprüft wirtschaftlichen Grundsätzen erfüllen muß und man deshalb
erwarten darf, daß auch die Leistungen der Beamten nach einer
werden kann. vernünftigen Anwendung des Leistungsprinzips gerecht honoriert
werden?
Sie wissen, daß diese AFEX ein Bestandteil der
amerikanischen Truppen ist. Sowohl nach Art. 17 Bitte, Herr Staatssekretär!
Abs. 4 des zur Zeit noch geltenden Truppenvertra-
ges als auch nach Art. 10 Abs. 5 des den Truppen- Dr. Steinmetz, Staatssekretär im Bundesmini-
vertrag in naher Zukunft ablösenden Zusatzabkom- sterium für das Post- und Fernmeldewesen: Seit 1957
mens zum NATO-Truppenstatut obliegt es den Be- ist das Verhältnis von Eingangs- und Beförderungs-
hörden der amerikanischen Streitkräfte, hinsichtlich stellen, der sogenannte Stellenschlüssel, im geho-
der von ihnen registrierten Fahrzeuge der AFEX benen Dienst der Deutschen Bundespost ständig
die angemessenen Sicherheitsmaßnahmen zu tref- verbessert worden. Leider konnte das Verhältnis
fen. zwischen Dienstposten und Planstellen innerhalb
der einzelnen Besoldungsgruppen, der sogenannte
Im allgemeinen sind die amerikanischen Truppen Stellenpuffer, nicht in gleicher Weise verbessert
in dieser Sache durchaus bereit, das Erforderliche werden, obwohl z. B. im Jahre 1963 für den geho-
zu tun. Sollten nun hinsichtlich der Verkehrssicher- benen Dienst 700 neue Planstellen ausgeworfen
heit Mängel an diesen Fahrzeugen nachgewiesen
worden sind.
sein, so ist die Bundesregierung gern bereit, die
amerikanischen Streitkräfte zu bitten, für deren Be- Dies ist darauf zurückzuführen, daß der ständige
hebung Sorge zu tragen und die Fahrzeuge auch im Verkehrszuwachs bei der Deutschen Bundespost
ganzen besser zu überwachen. laufend die Einrichtung neuer zusätzlicher Dienst-
posten erforderlich machte. Die auf die Vermeh-
Vizepräsident Dr. Schmid: Zusatzfrage! rung der Dienstposten abgestellte Planstellenan-
forderung konnte aber der Herr Bundesminister der
Finanzen, der zu dem Stellenplan nach dem von
Wittrock (SPD) : Das Bundesfinanzministerium diesem Hohen Hause beschlossenen Postverwal-
ist ja hier nicht vertreten. Deshalb frage ich Sie: Ist tungsgesetz sein Einvernehmen zu erteilen hat,
Ihnen, Herr Minister, nicht bekannt, daß zu Beginn nicht in vollem Umfang bewilligen. Er hat vielmehr
der vergangenen Woche die Arbeitnehmer von berücksichtigt, daß die Beamten der Deutschen Bun-
AFEX in einer Gewerkschaftsveranstaltung ein- despost unmittelbare Bundesbeamte sind und des-
dringlich Klage über den Sachverhalt geführt haben, halb bei der Beurteilung der Stellenplanverbesse-
der Anlaß zu der Frage gegeben hat? rung bei , der Deutschen Bundespost die Entwicklung
bei den anderen Bundesverwaltungen, deren Stel-
Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister für Verkehr: lenpläne der Entscheidung ides Hohen Hauses unter--
Herr Kollege Wittrock, das ist mir nicht bekannt. liegen, nicht außer Acht gelassen werden kann.
Es ist mir von dieser Versammlung auch nicht etwa
eine Entschließung oder irgendeine Äußerung zuge- Es kommt hinzu, daß bei einer im ständigen
gangen. Wachsen begriffenen Betriebsverwaltung wie der
derDutschnBpowlausern-
Vizepräsident Dr. Schmid: Letzte Zusatzfrage! wirtschaftlichen wie aus personalpolitischen Grün-
den ein bestimmter Unterschied zwischen Dienst-
Wittrock (SPD) : Herr Minister, werden Sie die posten und Planstellen sich nicht vermeiden lassen
Informationen, die ich Ihnen zugänglich machen wird. Von einer Benachteiligung der Beamten des
werde und die insbesondere zeigen, daß sich aus gehobenen Dienstes der Deutschen Bundespost, be-
diesem Sachverhalt für die Beschäftigten nachtei- sonders im Verhältnis zu den anderen Bundesver-
lige arbeitsrechtliche Konsequenzen — Entlassung waltungen, kann gegenwärtig nicht die Rede sein.
und dergl. — ergeben, dem Bundesminister der Wir werden jedoch auch weiterhin bemüht bleiben,
Finanzen, der wohl ressortmäßig zuständig ist, zu- die Stellenpläne der Deutschen Bundespost zu ver
bessern.
gänglich machen?
Für den Bereich der Deutschen Bundesbahn habe
Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister für Ver- ich für den Herrn Bundesminister für Verkehr fol-
kehr: Herr Kollege Wittrock, das will ich gern tun, gendes auszuführen. Im Bereich der Deutschen
soweit Sie es nicht etwa vorziehen, derartige, ein Bundesbahn sind in .den vergangenen Jahren die
anderes Ressort betreffende Maßnahmen dem ande- Stellenschlüssel und damit auch die Beförderungs-
ren Ressort direkt zugänglich zu machen mit der verhältnisse fühlbar verbessert worden. Auf die
Bitte um entsprechende Prüfung und Auskunft- Beantwortung der Kleinen Anfrage Drucksache
erteilung. 2975, 3. Wahlperiode, darf insoweit Bezug genom-
3178 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963

Staatssekretär Dr. Steinmetz


men werden. Diese Entwicklung ist im Geschäfts- maßen anzuwendenden Prüfungsgrundlagen. Des-
jahr 1962 und vor allem im Geschäftsjahr 1963 für halb haben sie dem Bewertungsverfahren der Bun-
alle Laufbahngruppen, also auch für den gehobenen despost bisher die Anerkennung versagt.
Dienst, fortgesetzt worden. Ob, wann und in wel-
chem Umfang eine erwünschte weitere Verbesse-
Vizepräsident Dr. Schmid: Letzte Zusatz-
rung der Stellenschlüssel in Betracht kommt, läßt
frage!
sich heute noch nicht übersehen.

Vizepräsident Dr. Schmid: Eine Zusatzfrage? Gscheidle (SPD) : Herr Staatssekretär, würden
— Bitte! Sie es für einen Vorteil halten, wenn in Ihrem Be-
reich bei der Aufstellung der Stellenpläne die auch
an Hand der Bewertungsrichtlinien ermittelten
Dr. Roesch (SPD) : Herr Staatssekretär, trifft es
Dienstposten als Grundlage für die Planstellenan-
zu, daß Postbeamte teilweise 10 Jahre und mehr
forderungen zugezogen würden?
höherwertige Amtsgeschäfte verrichten, ohne dafür
ihren besonderen Leistungen entsprechend besoldet
zu werden? Dr. Steinmetz, Staatssekretär im Bundesmini-
sterium für das Post- und Fernmeldewesen: Herr
Dr. Steinmetz, Staatssekretär im Bundesmini- Abgeordneter, ich kann Ihnen uneingeschränkt mit
sterium für das Post- und Fernmeldewesen: Ich einem Ja antworten. Ich bin der Auffassung, daß
möchte nicht ,ausschließen, daß solche Einzelfälle auf Grund der besonderen Organisations- und B e-
vorgekommen sind. triebsform der Deutschen Bundespost die aus lang-
jährigen Erfahrungen entwickelte Dienstposten-
bewertung die einzig richtige und zweckmäßige ist.
Dr. Roesch (SPD) : Kommen sie noch vor?

Dr. Steinmetz, Staatssekretär im Bundesmini- Vizepräsident Dr. Schmid: Frage XI/2 — des
Herrn Abgeordneten Ertl —:
sterium für das Post- und Fernmeldewesen: Das
kann ich im Augenblick nicht beurteilen, aber auch Wäre es nicht zweckmäßig, wenn vor Ausstrahlung des 3. Fern-
sehprogramms zunächst dafür gesorgt würde, daß die Voraus-
das möchte ich nicht ausschließen. setzungen für den Empfang des 2. Fernsehprogramms überall
gegeben sind?

Vizepräsident Dr. Schmid: Eine weitere Zu- Ist der Abgeordnete Ertl hier? — Er ist nicht da;
satzfrage? dann wird die Frage schriftlich beantwortet.
Frage XI/3 — der Frau Abgeordneten Meer-
Gscheidle (SPD) : Herr Staatssekretär, welche mann —:
Gründe sind dafür maßgebend, daß die seit Jahr- Darf auf Drucksachen ein Faksimilestempel angebracht werden?
zehnten im Bereich der Deutschen Bundespost be-
stehenden Richtlinien für die Bewertung der Dienst-
posten, obwohl sie laufend fortentwickelt wurden, Dr. Steinmetz, Staatssekretär im Bundesmini-
sterium für das Post- und Fernmeldewesen: Nach
seitens des Finanz- und Iinnenministeriums bislang
den neuen Bestimmungen gelten als Drucksachen
noch nicht anerkannt worden sind?
im Gegensatz zu den sogenannten Briefdrucksachen
-
nur solche gedruckten Vervielfältigungen, die ab-
Dr. Steinmetz, Staatssekretär im Bundesmini- gesehen von Aufschrift, Absenderangabe und Berich-
sterium für das Post- und Fernmeldewesen: Die tigung offensichtlicher Druckfehler keine hand- oder
Deutsche Bundespost hat besonders in den letzten maschinenschriftlichen Nachtragungen oder Ände-
Jahren unter Verwendung der in der freien Wirt- rungen enthalten. Der Abdruck von Stempeln ist
schaft auf dem Gebiet der Arbeitsbewertung ge- weder eine hand- noch eine maschinenschriftliche
machten Erfahrungen ein neues, und zwar ein ana- Nachtragung. Daher dürfen auch Faksimilestempel
lytisches Bewertungsverfahren entwickelt. Nach Auf- uneingeschränkt auf Drucksachen angebracht wer-
nahme eingehender Arbeitsbeschreibungen am Ar- den.
beitsplatz wird damit die Arbeitsschwierigkeit eines
Dienstgeschäftes unter Heranziehung von neun An- Frau Meermann (SPD) : Darf ich darauf auf-
forderungsarten analysiert und festgestellt. Das Ver- merksam machen, Herr Staatssekretär, daß die Be-
fahren hat sich bisher gut bewährt. Probebewertun- kanntmachung des Bundespostministeriums über
gen bei der Bundesbahn haben ergeben, daß es auch diese Angelegenheit erst am vergangenen Samstag
für deren Bereich verwendbar ist. Die Arbeits- im Bundesanzeiger erschienen ist und daß es immer-
schwierigkeit wird in Punkten ausgedrückt, die hin drei Wochen lang nicht möglich war, von einem
durch Umrechnung der Grundgehälter in Arbeits- Postamt — auch nicht von dem Postamt hier im
wertpunkte gewonnen wurden. Ein für alle gleiches, Bundeshaus — verbindliche Auskunft zu bekom-
allgemein gültiges und anerkanntes Dienstposten- men, ob eine Drucksache richtig frankiert war?
bewertungssystem ist bislang noch nicht , entwickelt Wäre es nicht vielleicht doch möglich gewesen, Herr
worden und kann meines Erachtens auch gar nicht Staatssekretär, diese Bekanntmachung gleich am
entwickelt werden. Der Herr Bundesminister des In- 1. März erscheinen zu lassen, damit die Postämter
nern und der Herr Bundesminister der Finanzen ihren Kunden richtige Auskünfte hätten geben kön-
sind der Auffassung, , es mangele an für alle gleicher nen?
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3179

Dr. Steinmetz, Staatssekretär im Bundesmini- Dr. Steinmetz, Staatssekretär im Bundesmini


sterium für das Post- und Fernmeldewesen: Gnädige sterium für das Post- und Fernmeldewesen: Herr
Frau, ich darf Ihnen antworten: Wenn es Ihnen Abgeordneter Schmitt, die Bundespost beschäftigt
oder Dritten nicht möglich war, von diesen Bestim- rund 400 000 Menschen. Ist es nicht auch Ihnen ver-
mungen rechtzeitig Kenntnis zu erhalten, bedauern ständlich, daß in einer, zugegeben, verhältnismäßig
wir das sehr. Aber bei großen Reformen kommt kurzen Frist
dies in der ersten Zeit immer einmal vor. Ich würde (Abg. Schmitt-Vockenhausen: Aha! Das ist
die herzliche Bitte aussprechen: Wenn Sie in Zu- der Kernpunkt!)
kunft wieder eine solche Frage haben sollten, — die
Fernsprechnummer des Bundespostministeriums ist nicht alle Angehörigen der Bundespost die letzten
leicht zu erfahren. Wir stehen Ihnen selbstverständ- Bestimmungen richtig verstehen können?
lich uneingeschränkt zu jeder Auskunft zur Ver-
fügung. Vizepräsident Dr. Schmid: Letzte Zusatzfrage!

Vizepräsident Dr. Schmid: Herr Abgeordne-


ter Dürr. Schmitt-Vockenhausen (SPD) : Herr Staats-
sekretär, bleibt aber damit nicht nach wie vor die
große Verantwortung, daß Sie diese Vorschriften so
Dürr (FDP): Herr Staatssekretär, kann man nicht überstürzt in Kraft gesetzt haben?
sagen, daß diesen Vorteil, den die Abgeordneten
haben, die normalen Sterblichen nicht haben, weil
sonst das Ministerium mit Briefen und Anfragen zu Vizepräsident Dr. Schmid: Herr Staatssekre-
sehr überschüttet würde? tär, Sie brauchen die Frage nicht zu beantworten. Es
war eine dritte Frage, die nicht zugelassen ist.
Dr. Steinmetz, Staatssekretär im Bundesmini-
sterium für das Post- und Fernmeldewesen: Herr Dr. Steinmetz, Staatssekretär im Bundesmini
Abgeordneter, ich stimme Ihnen darin gern zu. Aber sterium für das Post- und Fernmeldewesen: Ich.
ich glaube Ihnen sagen zu dürfen, daß die entspre- möchte es aber gern tun. — Herr Abgeordneter, ich
chenden Unterlagen rechtzeitig bei allen Ämtern könnte es mir leicht machen und sagen: Die Deut-
zur Verfügung standen. sche Bundespost ist für diese kurze Frist ja nicht
zuständig. Ich darf aber wiederholen, was ich in
Vizepräsident Dr. Schmid: Herr Abgeordne- früheren Fragestunden gesagt habe: Auch bei län-
ter Schmitt-Vockenhausen. geren Fristen ist es nicht möglich, gewisse Über
gangsschwierigkeiten restlos zu beseitigen.
Schmitt Vockenhausen (SPD) : Herr Staats-
-

sekretär, halten Sie Ihre Akzentverlagerung — daß Vizepräsident Dr. Schmid: Eine zweite Zu
es ihnen, den Abgeordneten, möglich gewesen sei, satzfrage von Frau Meermann!
die Tarife zu erfahren — für fair, wenn Sie beden-
ken, daß in der Öffentlichkeit mit Recht gerügt wer-
den mußte, daß bei vielen Ämtern noch bis in die Frau Meermann (SPD) : Herr Staatssekretär,
letzten Tage Unklarheiten und Unsicherheiten über damit ich Sie nicht gleich morgen anrufen muß, wie
die Auslegung der Vorschriften waren? Sie es mir freundlicherweise angeboten haben, hätte-
ich noch eine Frage: Trifft das, was im Bundesanzei-
ger vom vergangenen Samstag über Drucksachen
Dr. Steinmetz, Staatssekretär im Bundesmini- veröffentlicht worden ist, auch auf Drucksachen-
sterium für das Post- und Fernmeldewesen: Herr sendungen nach dem Ausland zu?
Abgeordneter, ich darf Ihnen wie folgt antworten.
Die Ämter sind — ich wiederhole — rechtzeitig im
Besitz der Unterlagen gewesen. Ihre erste Frage Dr. Steinmetz, Staatssekretär im Bundesmini-
kann ich sehr aufrichtig damit beantworten, daß ich sterium für das Post- und Fernmeldewesen: Ver-
nie daran denke, gegenüber den Mitgliedern dieses zeihen Sie, wenn ich Ihnen diese Frage nicht kon-
Hohen Hauses irgendeine Unfairneß zu zeigen. kret beantworten kann,
(Heiterkeit bei der SPD)
Vizepräsident Dr. Schmid: Eine letzte Zusatz- weil ich im Augenblick nicht weiß, ob Bestimmungen
frage des Herrn Abgeordneten Schmitt-Vockenhau- über Versendungen nach dem Ausland in dieser
sen. Nummer des Bundesanzeigers enthalten sind. Ich
will Sie aber gern noch im Laufe des Tages darüber
Schmitt Vockenhausen (SPD) : Herr Staats-
- aufklären.
sekretär, wollen Sie also hier bestreiten, daß in den (Abg. Frau Meermann: Sonst bleibt es da
ersten Tagen nach dem 1. März zahlreiche Post- bei, daß ich Sie morgen anrufe! — Heiter
ämter nicht in der Lage waren, vor allem in bezug keit.)
auf Briefdrucksachen, Drucksachen, Bücherzettel
usw. den Kunden der Post klare Auskunft zu geben,
und daß erst in den letzten Tagen ein einigermaßen Vizepräsident Dr. Schmid: Eine Zusatzfrage
befriedigender Zustand eingetreten ist? des Herrn Abgeordneten Gscheidle!
3180 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963

Gscheidle (SPD) : Herr Staatssekretär, da sich im Jahre 1956, sondern auch in den Jahren 1957 —
nun herausgestellt hat, wie schwierig es ist, den gan- Erholungsplätze für Berliner Kinder —, 1958 — Stu-
zen Komplex in so kurzer Zeit zu erfassen, darf ich dienreisen Jugendlicher nach Berlin — und 1959 —
Sie fragen: Wäre es nicht notwendig gewesen, sich Ferienplätze für Berliner Kinder - herausgegeben
den Empfehlungen des Verwaltungsrates der Deut- worden. Daraus ist ersichtlich, daß ein echtes Be-
schen Bundespost anzuschließen, der der Meinung dürfnis nach Herausgabe von Sonderpostwertzei-
war, daß die Fristen zu kurz seien und daß man sehr chen mit Zuschlägen für Zwecke der Jugendförde-
viel mehr Anlaufzeit brauche? rung besteht. Aus diesem Grunde hat sich der Herr
Bundespostminister entschlossen, die Herausgabe
Dr. Steinmetz, Staatssekretär im Bundesmini- von Jugendmarken während eines bestimmten Zeit-
sterium für das Post- und Fernmeldewesen: Ver- raumes jeden Jahres zu einer ständigen Einrichtung
ehrter Herr Abgeordneter, darauf kann ich nur ant- zu machen, analog gewissen seit Jahren bestehen-
worten, daß der Verwaltungsrat am Schluß seiner den Einrichtungen in anderen europäischen Län-
Beratung diese Rechtsverordnung nicht nur materiell, dern. Hierdurch können auch Überschneidungen mit
sondern auch über die Fristen beschlossen hat. der Ausgabe der Wohlfahrtsmarken vermieden wer-
den. Die bisher in Einzelfällen aufgetretenen Über-
Vizepräsident Dr. Schmid: Eine letzte Zusatz- schneidungen werden sich nicht wiederholen.
frage des Abgeordneten Gscheidle!
Vizepräsident Dr. Schmid: Die Fragestunde
Gscheidle (SPD) : War es nicht so, Herr Staats- ist beendet. Ich rufe auf Punkt 2 der heutigen Tages-
sekretär, daß auf die ganz bestimmten Fragen der ordnung — Punkt 27 a) und b) der gedruckten
Mitglieder des Verwaltungsrates, ob die Fristen aus- Tagesordnung —:
reichen, von den Verwaltungsfachleuten des Mini-
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
steriums gesagt wurde, sie würden ausreichen?
eingebrachten Entwurfs eines Strafgesetz-
(Abg. Schmitt-Vockenhausen: Hört! Hört!) buches (StGB) E 1962 (Drucksache IV/650),
b) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD
Dr. Steinmetz, Staatssekretär im Bundesmini- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
sterium für das Post- und Fernmeldewesen: Herr Ab- Ergänzung des Strafgesetzbuches (Druck-
geordneter, das mag in Einzelfragen zutreffen. sache IV/970).
(Abg. Gscheidle: Es war in diesem ganz Das Wort zur Begründung der Regierungsvorlage
bestimmten Falle so! Herr Staatssekretär, hat der Herr Bundesjustizminister.
das war keine Antwort!)

Vizepräsident Dr. Schmid: Herr Abgeordne- Dr. Bucher, Bundesminister der Justiz: Herr
ter, Sie haben keine Frage mehr. Die Fragen sind Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist für mich
beantwortet. eine hohe Ehre, diesem Hause heute den Entwurf
zu einem neuen Strafgesetzbuch vorlegen zu dürfen,
Frage XI/4 — des Abgeordneten Memmel — :
einen Entwurf, den Ihnen in der vergangenen Wahl-
Ist es richtig, daß durch den Vertrieb der Jugendbriefmarken periode mein verehrter Amtsvorgänger Schäffer
der Absatz von Wohlfahrtsbriefmarken zurückgegangen ist?
lediglich zuleiten konnte. In der langen Geschichte
-
unseres Strafrechts ist bisher erst ein einziger deut-
Dr. Steinmetz, Staatssekretär im Bundesmini- scher Justizminister in dieser Lage gewesen. Bis
sterium für das Post- und Fernmeldewesen: Die 1871 war ja die Carolina Karls V. von 1532 das
Postämter hatten bis Ende Februar 1963 bereits erste und einzige deutsche Reichsstrafgesetzbuch.
mehr Wohlfahrtsmarken der Serie 1962 verkauft, Das Gesetz von 1871 übernahm lediglich das bereits
als Wohlfahrtsmarken der Serie 1961 von der Deut- bestehende Strafgesetzbuch für den Norddeutschen
schen Bundespost insgesamt abgesetzt worden sind. Bund und der Sache nach im wesentlichen das alte
Auch die Absatzzahlen der Wohlfahrtsverbände Preußische Gesetzbuch von 1851.
dürften nicht hinter denen des Vorjahres zurück-
bleiben. Es ist daher nicht zu befürchten, daß durch So geschah es in der Tat am 21. Juni 1927 zum
den Vertrieb der Jugendbriefmarken der Absatz ersten Mal, daß ein deutscher Justizminister einem
von Wohlfahrtsmarken zurückgegangen ist. deutschen Parlament den Entwurf zu einem neuen
Strafgesetzbuch vorlegen konnte. Es war der Reichs-
Vizepräsident Dr. Schmid: Eine Zusatzfrage! justizminister Hergt.
Damals, vor mehr als 35 Jahren, lag der Beginn
Memmel (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, was der Arbeiten an der Strafrechtsreform allerdings
bewog den Bundespostminister, nachdem 1956 letzt- schon weit zurück. Geht man auf deren geschicht-
mals eine Jugendmarke herausgekommen war, nun- lich Wurzel zurück, so war das Marburger Pro-
mehr, also seit 1962, alljährlich wieder eine solche gramm Franz v. Liszts von 1882 vielleicht der erste
Jugendmarke herauszugeben? Auftakt.
Vom Staat aufgegriffen wurde der Reformge-
Dr. Steinmetz, Staatssekretär im Bundesmini- danke erst 1902, als der Staatssekretär des Reichs-
sterium für das Post- und Fernmeldewesen: Herr justizamtes Nieberding den Anstoß zu der sechzehn
Abgeordneter, Jugendmarken sind nicht letztmalig bändigen „Vergleichenden Darstellung des deut-
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3181
Bundesminister Dr. Bucher
schen und ausländischen Strafrechts" gab, die zu spricht man unserer Zeit, wie das Savigny für die
einem großartigen Denkmal deutscher Geisteswis- seine getan hatte, den Beruf zur Gesetzgebung,
senschaft wurde. jedenfalls den Beruf zu großen Gesetzgebungswer-
ken, überhaupt ab. Abgesehen davon, daß Savigny
Es folgte 1909 der erste Entwurf zu einem neuen interessanterweise das Strafrecht damals ausgenom-
deutschen Strafgesetzbuch, den eine kleine Kom- men hatte, frage ich mich, welche Zeiten man denn
mission von Praktikern unter dem Vorsitz des eigentlich für besonders fähig hält, bedeutende Ge-
Direktors im Preußischen Justizministerium Lucas setze hervorzubringen. Sollten das wirklich die ruhi-
ausgearbeitet hatte. Ihm stellten 1911 vier der nam- gen und saturierten Zeiten sein? Ich selbst möchte
haftesten Strafrechtslehrer, die Professoren Kahl, meinen, daß gerade ein Parlament wie das unsere,
v. Liszt, v. Lilienthal und Goldschmidt, ihren soge- das auf dem Boden des von allen Parteien bejahten
nannten „Gegenentwurf" entgegen. 1913 wurde Grundgesetzes steht und dem die extremen Flügel
dann der erste von einer großen Kommission erar- fehlen, sehr viel besser bleibende Gesetze zu gestal-
beitete Entwurf fertig. Aber der erste Weltkrieg ten vermag als etwa der innerlich zerrissene Reichs-
zerschlug die auf ihn gesetzten Hoffnungen. Doch tag der Weimarer Zeit.
haben schon vor dessen Ende einige Praktiker, der
spätere Reichsjustizminister Joël, der spätere Reichs- Nun leiden wir allerdings an der unseligen Spal-
gerichtspräsident Bumke, der spätere Oberreichs- tung Deutschlands, und man hat gemeint, daß man
anwalt Ebermayer und der Oberlandesgerichtspräsi- schon um der Rechtseinheit willen Kerngesetze wie
dent Cormann, eine Neufassung vorgelegt, die als das Strafgesetzbuch unangetastet lassen sollte. Aber
Entwurf 1919 mit einer Denkschrift im Jahre 1920 die Rechtseinheit, meine Damen und Herren, ist
veröffentlicht wurde. Auf diesem Entwurf baute der jedenfalls und besonders im Strafrecht längst von
eigenwilligste und der im Sinne Liszts am weitesten der anderen Seite zerstört worden, und die Vorbe-
in Neuland vorstoßende Entwurf auf, nämlich der reitungen zu einem sowjetisch orientierten Straf-
des Jahres 1922, der mit dem Namen des großen gesetzbuch mit dem zentralen Begriff der Gesell-
Strafrechtslehrers und damaligen Reichsjustizmini- schaftsgefährlichkeit sind in der Zone in vollem
sters Radbruch auf das engste verbunden ist. Gange. Ich glaube, die Spaltung unseres Landes
sollte uns gerade dazu verpflichten, Gesetze zu
1925 kam es dann zum ersten amtlichen Entwurf, machen, die einmal Vorbild für das ganze Deutsch-
der sogenannten Reichsratsvorlage, die an jenem land sein können. Auch der europäischen Zusam-
Junitag 1927, von dem ich sprach, dem Reichs- menarbeit können wir durch ein modernes Straf-
tag vorgelegt wurde. Die bemerkenswerteste Rede, gesetzbuch gute Dienste leisten.
weise und leidenschaftlich zugleich, hielt damals
Man hat gegen das Reformvorhaben weiter ein-
Geheimrat Kahl, der zeitweise schon Vorsitzender
gewendet, daß der Streit der Strafrechtswissenschaft
der großen Strafrechtskommission gewesen war und
um grundsätzliche Fragen noch nicht hinreichend
mit dessen Namen auch die weitere Reformarbeit
geklärt sei, so daß dem Entwurf die sichere wissen-
bis 1930 verknüpft blieb. Den Entwurf aus diesem
Jahre, eine Frucht intensiver Arbeit in den Aus- schaftliche Grundlage fehle. Ich kann darauf nur die
Antwort geben, die schon einmal ein anderer Justiz-
schüssen des Reichstages und in den Deutschen und
minister auf den gleichen Einwand gegeben hat:
Osterreichischen Strafrechtskonferenzen, pflegt man
„Wenn man darauf lauern wollte, bis die deutsche
daher auch mit seinem Namen zu bezeichnen. Dann
Rechtswissenschaft sich mit dem Entwurf eines
aber machte die Reichstagsauflösung 1930 den da-
Strafgesetzbuches allgemein einverstanden erklären
mals hochgeschraubten Erwartungen ein Ende. We-
sollte, so würden Sie, meine Herren, und Ihre Kin-
nige Jahre danach kamen die Nationalsozialisten
der das Ende der Gesetzgebungsarbeiten schwerlich
ans Ruder. Auch in dieser Zeit arbeitete man an
erleben." So der Preußische Justizminister Leon-
einem neuen Strafgesetzbuch. Aber der Entwurf
hardt bei der Einbringung des Entwurfes zum Straf-
scheiterte, denn er war den damaligen Machthabern
gesetzbuch im Reichstag des Norddeutschen Bundes
nicht nationalsozialistisch genug. Sehr bald nach
im Jahre 1870. Daß nach mehr als 90 Jahren der
dem Ende des zweiten Weltkrieges setzten die Be-
gleiche Einwand immer noch erhoben wird, zeigt,
mühungen um eine Erneuerung des Strafrechts
wie recht Leonhardt damals hatte.
wieder ein.
Im übrigen möchte ich darauf hinweisen, daß in
Ich habe Ihnen von dieser Geschichte der deut- der Strafrechtskommission hervorragende Straf-
schen Strafrechtsreform, die man auch deren Tra- rechtslehrer aller Richtungen vertreten waren, die
gödie nennen könnte, nicht nur um ihrer selbst wil- sich nach mancher leidenschaftlichen Diskussion im
len gesprochen. Sie ist auch deshalb der Erinnerung Ergebnis doch in dem Entwurf zusammengefunden
wert, weil sie allein schon mit aller Deutlichkeit haben, der Ihnen jetzt vorliegt. Der Entwurf ver-
zeigt, daß wir eine Reform des Strafgesetzbuches meidet es übrigens auch, sich auf bestimmte wissen-
wirklich brauchen. Oder sollte man nach mehr als schaftliche Lehrmeinungen festzulegen und über-
60 Jahren voller Anstrengungen und Mühen um ein haupt der wissenschaftlichen Entwicklung vorzu-
neues Gesetz plötzlich entdecken, daß man ja eben- greifen, wie das zu Unrecht von Kritikern behaup-
sogut mit dem alten, vielfach novellierten Gesetz- tet worden ist. Darum entbehrt er jedoch nicht einer
buch weiterarbeiten könne? einheitlichen Linie.
Merkwürdigerweise wird dieser Standpunkt heute Der vielleicht wichtigste Einwand, den man auch
gar nicht so ,selten vertreten, und man bedient sich aus Kreisen der Richter und Staatsanwälte nicht sel-
dafür der verschiedensten Argumente. Einmal ten hören kann, ist der, daß man mit dem geltenden
3182 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963
Bundesminister Dr. Bucher
Strafgesetzbuch ganz gut auskomme und ein neues Das Ergebnis ist, daß man dem geltenden Gesetz
durchaus nicht vordringlich sei. Das geltende Straf- nicht entnehmen kann, zu welcher Grundauffassung
gesetzbuch sei ja auch gar nicht mehr das von 1871, von Sinn und Zweck der Strafe es sich bekennt.
sondern es sei durch Novellen immer wieder moder- Welche Unsicherheit das für die Strafzumessung
nisiert worden, und mit diesem Mittel der Novel- bedeutet, liegt auf der Hand. Hinzu kommt, daß das
lierung könne man sich auch weiter helfen. gesamte System der Strafdrohungen im geltenden
Es ist in der Tat richtig, daß das alte Strafgesetz- Strafgesetzbuch nicht mehr ohne Reibungen funk-
buch viele Novellen über sich hat ergehen lassen tioniert. Die Praxis der Gerichte ist nämlich zu
müssen, eine ganze Flut von Novellen. Bis heute einer weit milderen Strafzumessung gekommen, als
sind es 65. Alle Zeitströmungen seit 1871 haben dem sie der dem Gesetz zugrundeliegenden Bewertung
Strafgesetzbuch mit Hilfe von Novellen etwas von des Unrechts entspricht.
ihrem Geist mitgeben wollen. 16 Novellen stammen Die Zuchthausstrafe, die das Strafgesetzbuch vor
aus der kaiserlichen Zeit, 11 aus der Weimarer allem bei schwerem Diebstahl, bei Rückfalldiebstahl
Republik, allein 25 aus der nationalsozialistischen und Rückfallbetrug als Regelstrafe vorsieht, ist
Zeit. Besonders deren Bereinigung hat uns große dort zur Ausnahmestrafe geworden, die Gefängnis-
Mühe gemacht. Diese Bereinigung war mit einer strafe, die nur bei milderen Umständen verhängt
Novelle des Kontrollrats begonnen worden. Seit- werden darf, zur Regelstrafe. Bei Strafrahmen, die
dem haben wir es auf 12 weitere Novellen gebracht. kein erhöhtes Mindestmaß vorsehen, liegen die
Was bei alledem herausgekommen ist, wirkt rein Strafen der Praxis ganz überwiegend im unteren
äußerlich wie ein Schlachtfeld. Von den ursprünglich Drittel des Rahmens. Im Verhältnis dazu erscheinen
370 Paragraphen sind nur 135 ohne Änderung erhöhte Mindestmaße bei anderen Strafrahmen —
geblieben. Alle übrigen sind entweder völlig um- also z. B. die Bestimmung: Gefängnis nicht unter
gestaltet, mehr oder weniger einschneidend geän- sechs Monaten — als zu hoch. Fälle mittlerer
dert oder gestrichen worden. Dafür sind neue Para- Schwere werden dann mit dem Mindestmaß geahn-
graphen hinzugekommen, die mit a, b und weiteren det.
Buchstaben 'bezeichnet werden. Ihre Zahl beläuft
Das alles hat dazu geführt, daß das Strafdrohungs-
sich auf nicht weniger als 129.
system des geltenden Gesetzeis innerlich unwahr
Betrachtet man nun das innere Bild, so ist zwar und in sich widerspruchsvoll geworden ist. Hier
zuzugeben, daß sich insbesondere die von diesem kann nur eine Gesamtreform das dringend nötige
Hohen Hause in der Nachkriegszeit beschlossenen Gleichgewicht wiederherstellen.
Gesetze bemüht haben, das Strafgesetzbuch wieder
auf eine einheitliche Linie zu bringen. Aber es ist Ebenso ernst zu nehmen ist, daß das kriminal-
nun einmal so: Mit den besten Novellen kann man politische Programm des heutigen Strafgesetzbuches
einem Gesetz von der Bedeutung und dem Umfang vielfach auf dein Papier stehengeblieben ist, weil
des Strafgesetzbuches nicht die Geschlossenheit ge- sich die zu seiner Durchführung vorgesehenen Maß-
ben, die gerade ein solches Kerngesetz braucht. nahmen als unzulänglich erwiesen haben. So ist die
Sicherungsverwahrung, dieses wichtigste Abwehr-
Sehr mit Recht hat schon Kahl in seiner Rede mittel gegenüber dem gefährlichen Hang- und Ge-
von 1927 den damaligen Reichstag vor einer „un- wohnheitsverbrecher, weitgehend ein Schlag ins
seligen Gelegenheitsgesetzgebung" gewarnt, der für Wasser geworden. Im Jahre 1960 z. B. waren unter
den Fall eines Scheiterns der Reform Türen und den wegen Verbrechen oder Vergehen in der Bun-
Tore geöffnet seien. Und sehr mit 'Recht hat schon desrepublik verurteilten Erwachsenen nahezu
einer meiner Vorgänger das Strafgesetzbuch von 50 000, die schon früher mehr als viermal wegen
heute mit einem alten Rock verglichen, dem man eines Verbrechens oder Vergehens verurteilt wor-
vielbuntFckafgszhbe.Endar den waren, darunter allein rund 9 000 Rückfalldiebe
nicht ausbleiben, daß eine kritische Betrachtung die- und Rückfallbetrüger. Hingegen wurde im gleichen
ses Gesetzes zeigt, wie sehr es einer Reform an Jahre die Sicherungsverwahrung nur gegen '199
Haupt und Gliedern bedarf und wie wenig mit Verurteilte angeordnet.
neuen Novellen zu helfen ist.
Ähnlich liegen die Zahlen bei anderen Maßregeln
Zunächst hat das Strafgesetzbuch keine klare der Sicherung und Besserung, die mit Freiheitsent-
Grundkonzeption mehr. Es war erwachsen aus einer ziehung verbunden sind. So wurden 1960 nur 148
Zeit, die einerseits noch unter dem Einfluß der Verurteilte in ein Arbeitshaus eingewiesen; nur
strafrechtlichen Vergeltungstheorien Kants und gegen 279 wurde ein Berufsverbot verhängt, und
Hegels stand, anderseits in dem Ideenkreis des nur 219 wurden in einer Trinkerheilanstalt unter-
liberalen Bürgertums lebte. Durch die Novellen der gebracht, obwohl allein wegen Volltrunkenheit und
Zeit nach 1923 wurde ihm nun Gedankengut der damit verbundener rechtswidriger Taten rund 8100
soziologischen Reformbewegung aufgepfropft, die verurteilt wurden.
an die Stelle der Tatvergeltung den Strafzweck der
Spezialprävention setzen und aus dem bisherigen Es ist demgegenüber ein Hauptanliegen des Ent-
Tatstrafrecht ein Täterstrafrecht machen wollte. wurfes, die für die Kriminalpolitik so wichtige
Auch die Novellierung nach 1945 stand zum Teil Wirksamkeit der bessernden und sichernden Maß-
regeln entscheidend zu verbessern.
noch in diesem Zeichen; zum anderen nahm sie
aber schon die Wendung zum Schuldstrafrecht, die Aber auch das Strafensystem des geltenden Rechts
erst der neue Entwurf folgerichtig durchführt. entspricht nicht mehr den Erkenntnissen und For-
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3183
Bundesminister Dr. Bucher
derungen unserer Zeit. Ich werde auf diesen Punkt Problemen der Reform erstatten und er ließ weiter
noch eingehend zurückkommen. durch das Freiburger Institut für ausländisches und
Reformbedürftig ist das Strafrecht weiter des- internationales Strafrecht umfassende rechtsver-
halb, weil es zu vielen grundsätzlichen Fragen gleichende Arbeiten anfertigen, die jetzt in zwei
schweigt und damit die Rechtsprechung gezwungen stattlichen Bänden vorliegen. 1954 war es dann so
hat, in zahlreichen Fragen ein Richterrecht zu ent- weit, daß sein damaliger Nachfolger Dr. Neumayer
wickeln, das nicht immer zu dem geschriebenen die Große Strafrechtskommission einberufen konnte,
Recht paßt. Richterrecht in wichtigen Fragen ist aber die Ihnen allen ein Begriff geworden ist. Besonders
— im Strafrecht jedenfalls — nicht unbedenklich, glücklich war dabei der Gedanke Neumayers, nicht
weil es im Gegensatz zum Gesetzesrecht nicht unter nur Professoren, Richter und Staatsanwälte, Rechts-
dem Verbot der Rückwirkung steht. Daher strebt anwälte und Vertreter der Landesjustizverwaltun-
gen in die Kommission zu berufen, sondern auch
der Entwurf an, aus bisherigem Richterrecht, soweit
es gesichert erscheint, in weitem Umfang Gesetzes- schon die Fraktionen dieses Hohen Hauses um Ent-
recht werden zu lassen. sendung von Vertretern zu bitten. Die Fraktionen
haben dieser Bitte bereitwillig entsprochen, und so
Wenn man hier kritisch von einer „Zementie- hat denn eine ganze Reihe von Abgeordneten eine
rung" der Rechtsprechung geredet hat, so hat man aufopfernde und fruchtbare Arbeit in der Kommis-
übersehen, wie sehr es dabei um die Rechtssicher- sion geleistet. Deren Beratungen haben vom April
heit geht, die uns allen am Herzen liegt. Während 1954 bis zum Juni 1959 gedauert und 22 Arbeits-
das geltende Strafgesetzbuch auf der einen Seite tagungen mit insgesamt 143 Sitzungstagen in An-
bedenkliche Lücken aufweist, verfällt es auf der spruch genommen. Man kann wohl sagen, daß in
anderen Seite häufig in den Fehler, Tatbestände in dieser Kommission, in der sich Vertreter der ver-
allzu eingehender kasuistischer Form zu beschrei- schiedensten Richtungen und der verschiedensten
ben. Die Folge davon sind Ungerechtigkeiten und juristischen Berufe sehr bald zu einer harmonischen
Widersprüche. Schon 1927 brachte Kahl den Reichs- Arbeitsgemeinschaft zusammengefunden hatten,
tag durch das Beispiel von einem Manne in Bewe- eine nicht nur hingebungsvolle und überaus gründ-
gung, der im Wartesaal eines Bahnhofs von einem liche, sondern auch eine Arbeit geleistet worden ist,
unbewacht liegenden Paket die Verschnürung lost, in der sich wissenschaftliches Niveau und tiefes
um ein daraus herausragendes Stöckchen zu steh- Verantwortungsbewußtsein gegenüber der großen
len. Das war schwerer Diebstahl. Hätte der Aufgabe in glücklichster Weise verbunden haben.
Mann das ganze Paket mitsamt dem Stöckchen ge- Ich habe die Freude, das aus eigener Erfahrung be-
nommen, so wäre er nur wegen einfachen stätigen zu können, da ich am Anfang dieser Kom-
Diebstahls bestraft worden. Heute haben wir noch mission eine Zeitlang angehören durfte. Den Vor
weit wirkungsvollere Beispiele. Bricht jemand ein sitz hat ständig mein Vorgänger Dr. Neumayer
Auto auf und stiehlt daraus einen auf dem Sitz geführt, auch dann noch, als er aus seinem Minister-
liegenden Flut, so begeht er schweren Diebstahl. amt ausgeschieden war; er hat damit seinen Namen
Nimmt er aber gleich das ganze Auto mitsamt den für immer mit der großen Strafrechtsreform ver-
Hut, so ist das nur ein einfacher Diebstahl. knüpft.
(Heiterkeit.) Die Beratungsergebnisse der Kommission sind in
Diese Beispiele lassen sich leicht vermehren. meinem Hause zu einem vorläufigen Entwurf zu-
Sie zeigen, daß die Tatbestandstechnik des alten sammengestellt worden. Diesen Entwurf hat dann -
Strafgesetzbuches in vielen Punkten unzulänglich die von den Landesjustizverwaltungen schon 1959
ist. Sie muß durch eine bessere ersetzt werden. Das ins Leben gerufene Länderkommission zur Grund-
geschieht z. B. in diesem Fall. So ließe sich noch sehr lage ihrer Beratungen gemacht. Sie hat in 17 Ar-
viel über die Reformbedürftigkeit des geltenden beitstagungen mit insgesamt 85 Sitzungen beraten
Gesetzes sagen. Aber schon aus dem Grundsätzli- und alle Vorschläge des Entwurfs mit besonderer
chen, auf das ich mich in dem mir gesteckten Rah- Gründlichkeit geprüft. Wie Herr Ministerpräsident
men beschränken muß, ist, glaube ich, deutlich ge- Zinn im Bundesrat diese mehr als zweijährige Arbeit
worden: Mit weiteren Novellen ist dem Übel nicht als „überhastet" bezeichnen konnte, ist mir wirk-
abzuhelfen. lich nicht verständlich. Ich kann meinerseits den
Die Bundesregierung hat die Notwendigkeit einer Wert dieser Arbeit der Länder nur rückhaltlos an-
Gesamtreform sehr bald erkannt und ist, nachdem erkennen. Eine Fülle der von ihnen gegebenen An-
die bereinigende Gesetzesarbeit der Jahre bis 1953 regungen ist auch in den Regierungsentwurf und
geleistet war, unverzüglich an die Ausführung ge- dessen Begründung übergegangen.
gangen. Sie befand sich mit ihrem Bestreben in er- Nach Fertigstellung des Entwurfs, aber auch schon
freulicher Übereinstimmung mit der Opposition. vorher, sind Stimmen laut geworden, die eine Re-
Schon 1951 hatte die Fraktion der SPD den Antrag form des Strafverfahrens und des Strafvollzuges für
gestellt, „zur Vorbereitung einer Reform des Straf- dringlicher halten als eine Reform des Strafgesetz-
rechts einen Arbeitsstab aus Richtern, Staatsanwäl- buches. Dazu möchte ich folgendes sagen: Daß die
ten, Rechtsanwälten und Hochschullehrern" durch beiden genannten Gebiete reformbedürftig sind,
den Bundesjustizminister berufen zu lassen. Es ist steht außer Zweifel. Aber man kann eine Gesamt-
das Verdienst meines Amtsvorgängers Dr. Dehler reform des Strafrechts nicht auf einmal, sondern nur
gewesen, daß er schon 1952 mit grundlegenden Vor- nach und nach durchführen, und man darf dabei
bereitungsarbeiten begann. Er ließ durch namhafte nicht das Pferd am Schwanz aufzäumen. Solange
deutsche Strafrechtslehrer Gutachten zu wichtigen man nicht' weiß, welche . Arten von Strafen und
3184 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963

Bundesminister Dr. Bu ch er
Maßregeln ein neues Strafgesetzbuch vorsehen Gründe. Erstens übernimmt er eine ganze Reihe
wird, kann man nicht deren Vollzug regeln. Ähnlich von Vorschriften aus dem bisherigen Nebenstraf-
verhält es sich mit dem Strafprozeß. Gewiß kann recht. Zweitens muß er die Lücken ausfüllen, von
man hier Änderungen vorwegnehmen, und die Pro- denen ich vorher sprach. Drittens aber zwingt uns
zeßnovelle, die das Hohe Haus gestern in zweiter das Grundgesetz in gewisser Hinsicht zu einer ein-
Lesung beraten hat, enthält bereits ein wichtiges gehenden Regelung von Fragen, über die das bis-
Sofortprogramm. Aber an eine umfassende Reform herige Gesetz mit leichterer Hand hinwegging. Die-
kann man auch auf dem Gebiet erst gehen, wenn ser Zwang ist durchaus heilsam.
man weiß, wie das materielle Recht aussieht, mit Hat der blätternde Leser die Zahl der Paragraphen
dem das Prozeßrecht sowohl in der Grundkonzep- festgestellt, so wird er die eine oder andere Be-
tion als auch in zahlreichen Einzelfragen verzahnt stimmung ansehen und sich dabei vielleicht einen
ist. Deswegen ist man in der langen Geschichte der ersten Gedanken über die Sprache des Entwurfs ma-
deutschen Strafrechtsreform stets davon ausgegan- chen. Ich darf Ihnen versichern, daß wir uns darüber
gen, daß die Reform des materiellen Rechts den
sehr viele Gedanken gemacht haben. Der Entwurf
Vorrang haben müsse, und die Fraktionen des Bun-
ist um eine klare und verständliche Sprache beson-
destages haben meines Erachtens das Richtige ge-
ders bemüht. Wenn er dennoch kein Volkslesebuch
tan, als sie sich bei einer grundsätzlichen Fühlung-
geworden ist und werden konnte, s o liegt das daran,
nahme mit Dr. Dehler Anfang 1954 mit ihm zu der
Auffassung bekannt haben, daß zunächst die Re- daß mit unserem Rechtsgefühl auch unsere gesam-
form des Strafgesetzbuches in Angriff genommen ten Rechtsvorstellungen und -begriffe immer dif-
werden solle. Dieser Auffassung, die auch in der ferenzierter werden. So kommt es, daß sich dem
Regierungserklärung der Bundesregierung am Be- lesenden Laien der Sinn einer Vorschrift vielleicht
ginn dieser Wahlperiode zum Ausdruck gekommen nur im groben erschließt, während die feinere Be-
ist, sollten sich auch Sie, meine Damen und Herren, deutung allein dem Juristen deutlich wird. Ich be-
grundsätzlich anschließen. dauere das selbst sehr. Immerhin möchte ich be-
tonen, 'daß der Entwurf der Gesellschaft für deutsche
Von einem Kritiker im Bundesrat ist auch beklagt Sprache vorgelegen hat, daß er dort anerkannt
worden, daß die Bundesregierung mit dem jetzigen wurde und daß überdies zahlreiche sprachliche An-
Entwurf nicht auch gleichzeitig den des Einführungs- regungen dieser Gesellschaft in den Entwurf aufge-
gesetzes vorlegt. Dazu kann ich nur sagen: Ich be- nommen
nsid. worde
dauere das selbst. Wenn man sich aber einmal da-
von überzeugt, welchen Umfang dieses Einführungs- Nun lassen Sie mich zum Gehalt des Entwurfs
gesetz zwangsläufig haben muß und welche Arbeits- kommen. An die Spitze möchte ich folgenden Satz
kraft nötig ist, um auch diesen Entwurf mit Begrün stellen: Strafrechtsreform ist nicht notwendigerweise
dung fertigzustellen, so wird jedem Sachkenner ein- Strafrechtsrevolution. Kritiker, die da meinen, eine
leuchten, daß es die Kräfte der an dem Gesetzge- Reform des Strafrechts müsse, wenn sie sich lohnen
bungswerk beteiligten Stellen einfach übersteigt, solle, einen völligen Umsturz alles Bisherigen brin-
eine solche Doppelarbeit gleichzeitig zu leisten. Es gen, verkennen das Wesen des Rechts und seiner
kommt noch hinzu, daß der Inhalt des Einführungs- Entwicklung. Das Recht ist etwas, das organisch aus
gesetzes davon abhängt, wie das Strafgesetzbuch den Schicksalen, Erfahrungen und Überzeugungen
selbst nach den Beschlüssen des Hohen Hauses aus- eines Volkes wächst und sich mit ihnen weiter ent-
sehen wird. Deshalb muß man diese Beschlüsse ab- wickelt, langsam und stetig. Umbrüche im Re cht sind
-
warten, ehe man den Entwurf des Einführungsge- fragwürdig. NeueGesetze sollen auf den alten auf-
setzes fertigstellt. Im übrigen kann ich erklären, bauen. Entwürfe extremer Richtungen pflegen mit
daß die Vorbereitungsarbeiten zum Einführungsge- Recht zu scheitern, wie es z. B. das Schicksal des
setz in meinem Ministerium schon seit längerer Zeit italienischen Strafges etzbuchentwurfes von Ferri aus
laufen. dem Jahre 1921gewesen ist.
Wenn ich nun den Versuch machen möchte, Ihnen Wenn also Reform zwar nicht Umsturz bedeutet,
den Gehalt des Entwurfs näherzubringen, so wer- so kann man von Erneuerung des Strafrechts an-
den Sie gewiß keine Einzeldarstellung eines Werkes dererseits nur reden, wenn es nicht nur darum geht,
von mir erwarten, das mit der sehr konzentriert Unebenheiten des bisherigen Rechts auszugleichen
geschriebenen Begründung 675 Druckseiten umfaßt. und bloße Schönheitsreparaturen vorzunehmen.
Ich kann Ihnen nur einiges Grundsätzliches sagen Wenn voreilige Kritiker unserem Entwurf etwas
und dann eine Reihe wi ch tiger Einzelpunkte anfüh- Derartiges vorwerfen wollten, so irrten sie. Denn
ren, das alles auch nur im skizzenhaften Umriß. ider Entwurf kann für sich in Anspruch nehmen, mit
Nachdem ich aber soeben den Umfang des Ent- einer tiefgreifenden Umgestaltung des geltenden
wurfs erwähnt habe, möchte ich doch zunächst einige Rechts eine wirkliche Erneuerung zu bringen. Er
Worte zu seinem äußeren Bilde sagen. Blättert man schafft Klarheit darüber, welchen Sinn die Strafe
ihn flüchtig durch, so fällt auf, daß er annähernd 500 haben und welche Ziele sie verfolgen soll. Er bringt
Paragraphen enthält, während der letzte Paragraph ein neues System der Strafen sowie der bessernden
des geltenden Strafgesetzbuches die Zahl 370 trägt. und sichernden Maßregeln. Er stellt Grundsätze für
Doch täuscht diese Zahl. Mit den eingeschobenen, die Strafzumessung auf und leitet dabei den Richter
mit kleinen Buchstaben bezeichneten Paragraphen durch eine neuartige Ausgestaltung der Tatbestände.
weist das geltende Gesetz in Wirklichkeit 434 Para- Er arbeitet die gesicherte höchstrichterliche Recht-
graphen auf, also nur rund 60 weniger als der Ent- sprechung nicht nur ein, sondern entwickelt ihre
wurf. Dessen größerer Umfang hat verschiedene Linien weiter. Systematisch schafft der Entwurf
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3185
Bundesminister Dr. Bucher
größere Rechtsklarheit und Rechtssicherheit. Krimi- Weg zu einem solchen Bekenntnis nicht, sondern
nalpolitisch verstärkt er sehr wesentlich den straf- erleichtert ihn in mancher Hinsicht. Allerdings darf
rechtlichen Schutz der Allgemeinheit. In einer Fülle man nicht meinen, daß der Spruch des Richters, mit
von Einzelheiten ändert er das geltende Recht, so dem er den Täter für schuldfähig und schuldig er-
daß es kaum einen Paragraphen gibt, der seinen klärt, eine naturwissenschaftliche Feststellung sei.
alten Wortlaut behalten hat. Namentlich ist im Be- Es handelt sich um einen sozialethischen Wertungs-
sonderen Teil eine ganze Reihe neuer Tatbestände akt, der Menschenwerk bleibt und deshalb absolute
geschaffen worden, und es ist auf verschiedene Tat- Gerechtigkeit nicht verwirklichen kann. Aber der
bestände des geltenden Rechts verzichtet worden. Rich ter muß den Mut zu diesem Akt finden. In die-
sem Sinne ist auch das häufig von mir verwendete
Was zunächst Sinn und- Zweck der Strafe angeht, Wort von Bekennen und Bekenntnis zu verstehen,
so bekennt sich der Entwurf, wie ich schon er- das ja Gegenstand einer ziemlich harten Kritik ge-
wähnte, zum Schuldstrafrecht. Diese entscheidende worden ist.
Ausgangsposition der Reform ist in der Öffentlich-
keit bereits eingehend diskutiert worden und hat Das Bekenntnis zum Schuldstrafrecht durchzieht
im Herbst 1960 den Beifall des Deutschen Juristen- den gesamten Entwurf. Ausdrücklich ist es in § 60
tages in München gefunden. Ich kann nur in knap- Absatz 1 in die Worte gefaßt worden: „Grundlage
pen Sätzen die Bedeutung dieser Grundsatzentschei- für die Zumessung der Strafe ist die Schuld des
dung deutlich zu machen suchen. Täters." Ursprünglich war daran gedacht, in einen
an die Spitze des Entwurfs gestellten Grundsatzab-
Schuldstrafrecht bedeutet zunächst eine Absage schnitt den Satz aufzunehmen: „Die Strafe darf das
an das alte Erfolgsstrafrecht. Ein Schaden, den die Maß der Schuld nicht überschreiten." Die geplante
Tat zwar verursacht hat, der dem Täter aber nicht Aufnahme dieses Satzes hat ebenso Kritik gefunden
zum Vorwurf gemacht werden kann, darf eine wie der spätere Verzicht. Ich möchte dazu nur fest-
Strafe weder begründen noch verschärfen. Stirbt je- stellen, daß die neue Fassung keinesfalls als ein
mand z. B. an einer strafbaren, aber leichten Ver- Abrücken vom Schuldstrafrecht verstanden werden
letzung nur deshalb, weil er ein Bluter ist, so darf darf. Aber sie erlaubt es, auch die präventiven
sein Tod nicht zu einer schwereren Strafe führen, Zwecke der Strafe, vor allem eine resozialisierende
wenn der Täter die besondere Eigenschaft des Ver- Einwirkung auf den Täter selbst, in einer angemes-
letzten nicht kennen konnte. senen Weise wirksam werden zu lassen. Daß bloße
Schuldstrafrecht bedeutet aber andererseits und Gefährlichkeit des Täters nicht zu einer Verschär-
vor allem Absage an ein bloßes Schutzrecht, wie es fung der Strafe führen darf, hat der Entwurf da-
in Deutschland Vertreter der soziologischen Schule durch hinreichend deutlich gemacht, daß er die Vor
gefordert haben und wie es heute zwar bei uns schrift des geltenden Strafgesetzbuches über die
selten, aber im Ausland vielfach unter der Bezeich- Verschärfung gegenüber dem gefährlichen Gewohn-
nung „défense sociale" noch immer als mildern heitsverbrecher gestrichen hat.
propagiert wird. Schutzrecht in der letzten Konse-
Das bedeutet nun keineswegs, daß der Entwurf
quenz bedeutet demnach auf der Grundlage eines
der Gefährlichkeit eines Täters keine Bedeutung zu-
ausgeprägten Determinismus Ersetzung der Strafe
mäße. Der Entwurf hat vielmehr die positiven und
durch eine ethisch indifferente Maßregel, die nach
wertvollen Erkenntnisse der soziologischen Schule
dem Grad der Gefährlichkeit des Täters bemessen
und der durch sie großgewordenen strafrechtlichen
wird und die den Raubmörder ebenso trifft wie den
Erfahrungswissenschaften, vor allem der Krimino--
Geisteskranken, der in seinen Wahnvorstellungen logie, durchaus für sich fruchtbar gemacht. Der Ent-
einen Menschen umgebracht hat. Der Verbrecher wurf geht auch nicht vom Bilde des Menschen aus,
wird so zum Kranken, die böse Tat zur bloß sozial- der s chlechthin für alles, was er tut, auch verant-
schädlichen Handlung. Das Schutzrecht führt damit wortlich gemacht werden kann. Die Position eines
nicht nur zur Auflösung des Strafrechts, sondern extremen Indeterminismus ist heute als Grundlage
löst auch den Begriff der Verantwortlichkeit auf und für das Zusammenleben der Menschen, vor allem
bietet keinen Raum mehr für die Begriffe von Gut für Politik und Rechtspflege, ebenso fragwürdig ge-
und Böse. Darin liegen Gefahren, die man nicht worden wie die eines extremen Determinismus.
ernst genug nehmen kann. So möchte ich denn auch Daraus muß auch das Strafrecht seine Folgerungen
meinen, daß Entwicklungen der Kriminalität, vor ziehen. Sie können aber allein darin liegen, daß die
allem die sogenannte Wohlfahrtskriminalität in Strafe Sinn nur hat, wenn und soweit Schuld fest-
manchen Ländern, nicht zuletzt darauf zurückgehen, stellbar ist, während einer unvers chuldeten Gefähr-
daß man die jungen Menschen nicht mehr in die lichkeit mit anderen Mitteln begegnet werden muß:
Verantwortung stellt und sie nur noch behandelt, Es sind das die Maßregeln der Besserung und Siche-
statt sie zu bestrafen. rung, die das System der Strafen wirkungsvoll zu
Das Schuldstrafrecht soll dem Menschen hingegen ergänzen haben.
klarmachen, daß er für seine Taten einzustehen hat. Das Strafensystem des Entwurfs geht vom Schuld-
Voraussetzung dafür ist allerdings, daß der Mensch strafrecht aus. Daher verwirft es den Gedanken, an
fähig ist, Verantwortung zu tragen. Zu dieser Auf- die Stelle verschiedenartiger Freiheitsstrafen eine
fassung bekennt sich der Entwurf und muß sich zu sogenannte Einheitsstrafe treten zu lassen. Straf-
ihr bekennen, wenn er nicht volksfremd werden taten können nach Schwere des Unrechts und der
und die ethische Grundlage des Menschseins zerstö- Schuld so verschieden sein, daß es eine Verarmung
ren will. Die moderne Wissenschaft verbaut den der strafrechtlichen Wertung bedeutete, wenn man
3186 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, dein 28. März 1963
Bundesminister Dr. Bucher
diese Unterschiede nicht auch in der Art der Frei- richtige Strafart. Zwar gibt es auch im Bereich der I
heitsstrafe zum Ausdruck bringen wollte. Für einen Fahrlässigkeitstaten Fälle großer und gröbster
Mord dieselbe Einheitsstrafe anzudrohen wie für Leichtfertigkeit, die ihrem Schuldgehalt nach vor-
das Erschwindeln freien Eintritts zu einer Theater- sätzlichen Taten kaum nachstehen. Bei der Mehrzahl
vorstellung, wäre verfehlt. Der Entwurf verzichtet der Fahrlässigkeitstaten, insbesondere also bei den
daher zwar auf die bisherige Dreiteilung der Straf- Verkehrsdelikten, handelt es sich aber um Fälle
taten. Es soll künftig im Strafgesetzbuch nur noch menschlichen Versagens, denen gegenüber eine Ge-
Verbrechen und Vergehen geben. Die große Masse fängnisstrafe zu hart erscheint. Täter dieser Art soll-
der Übertretungen soll in Ordnungswidrigkeiten ten nicht mit Dieben und Betrügern zusammenge-
umgewandelt werden. Aber der Entwurf verzichtet bracht werden. Der Entwurf sieht daher als dritte Art
nicht auf eine Dreiteilung der Freiheitsstrafen. Er der Freiheitsstrafe die nicht mit der Haft des gel-
unterscheidet zwischen Zuchthaus, Gefängnis und tenden Rechts zu verwechselnde Strafhaft vor, die in
einer ganz neuen Strafe, der sogenannten Strafhaft. erster Linie für leichte und mittlere Fahrlässigkeits-
Das Zuchthaus soll zur Kennzeichnung schwersten taten, aber auch für leichte Vorsatztaten gedacht ist,
Unrechts und schwerster Schuld bestehenbleiben. soweit der Täter nicht kriminell anfällig erscheint.
Deshalb soll die Dauer der zeitigen Zuchthausstrafe Die Strafhaft umfaßt eine zeitliche Spanne von einer
künftig von einem Mindestmaß von zwei Jahren bis Woche bis zu sechs Monaten.
zu einem Höchstmaß von zwanzig Jahren reichen,
während die Grenzen im geltenden Recht nur ein Unter den Freiheitsstrafen des Entwurfs werden
Jahr und fünfzehn Jahre betragen. Dieser Neuorien- Sie vielleicht eine ehrenhafte Strafe vermissen, wie
tierung entspricht es, wenn der Entwurf den An- es sie früher in Form der Festungshaft gab, die jetzt
wendungsbereich der Zuchthausstrafe gegenüber Einschließung heißt und im Wehrstrafgesetz eine
dem geltenden Recht um rund die Hälfte verringert Rolle spielt. Nachdem der Entwurf die Sondervor-
und sie im großen und ganzen auf die Taten der schriften für den Zweikampf beseitigt hat, blieben
sogenannten Hochkriminalität beschränkt. In die- für eine solche ehrenhafte Strafe eigentlich nur die
sem Bereich müssen die Erschwerungen in Kauf ge- Fälle des Täters aus Überzeugung, vor allem des
nommen werden, welche die Zuchthausstrafe für die politischen Ü berzeugungstäters. Diese sehr viel-
Resozialisierung des Verurteilten mit sich bringt. schichtige und schwierige Frage ist in der Straf-
rechtskommission eingehend diskutiert worden. Im
Daß sich der Entwurf dazu entschließt, die Zucht- Ergebnis hat man eine derartige Privilegierung des
hausstrafe beizubehalten, hat auch noch einen an- Überzeugungstäters abgelehnt. Der Regierungsent-
deren Grund. Es wäre bedenklich, auf diese Strafe wurf ist dem gefolgt. Auch die Diskussion im Bun-
zu verzichten, nachdem die Todesstrafe abgeschafft desratsrechtsausschuß hat kein anderes Ergebnis ge-
ist. Zur heiß umkämpften Frage der Todesstrafe bracht. Zweifellos wird aber diese Frage bei der
möchte ich mich hier nicht äußern. Ich glaube, es parlamentarischen Behandlung des Entwurfs nicht
ist bekannt, daß ich persönlich im Gegensatz zu zuletzt unter politischen Gesichtspunkten sorgfältig
einer im Volk weit verbreiteten Meinung, die in nachgeprüft werden müssen.
aller Regel ohne Kenntnis der zur Beurteilung der
Frage notwendigen Tatsachen gebildet worden ist, Einen wesentlichen Reformpunkt stellt die Neu-
ein entschiedener Gegner der Todesstrafe bin. Für regelung der Geldstrafe dar. Der Entwurf schließt
den Entwurf eines einfachen Gesetzes wie des sich hier dem skandinavischen sogenannten Tages-
neuen Strafgesetzbuches ist aber allein entschei- bußensystem an. Danach wird künftig die Geldstrafe
dend, daß das Grundgesetz die Todesstrafe abge- in zwei Akten bestimmt. Im ersten wird je nach der
schafft hat. Schwere von Unrecht und Schuld eine Anzahl von
Tagessätzen verhängt, ohne Rücksicht darauf, ob der
Um die Einschränkung der Zuchthausstrafe auszu- Täter arm oder reich ist. Im zweiten Akt wird dann
gleichen, die der Entwurf vorsieht, erweitert er den die Höhe des einzelnen Tagessatzes nach den wirt-
Bereich der Gefängnisstrafe. Sie reicht im geltenden schaftlichen Verhältnissen des Täters bestimmt.
Recht von einem Tag bis zu fünf Jahren. Künftig Dieses System ist zwar mit gewissen Schwierigkei-
soll ihr Mindestmaß einen Monat, ihr Höchstmaß ten verbunden, hat aber im Ergebnis ganz überwie-
aber zehn Jahre betragen. Sehr umstritten war die- gende Vorteile: gerechtere und gleichmäßigere Zu-
ses Mindestmaß von einem Monat. Denn noch immer messung der Geldstrafen, Zurückdrängung der uner-
ist die Auffassung weit verbreitet, daß der Kampf freulichen Ersatzfreiheitsstrafen und Klarheit im
gegen die kurze Freiheitsstrafe eines der wichtigsten Strafregister.
kriminalpolitischen Anliegen sei. Dabei wird indes-
sen übersehen, daß Freiheitsstrafe heute für Täter Zur Abrundung des Bildes vom Strafensystem
ganz anderer Art in Betracht kommt als vor fünfzig lassen Sie mich noch darauf hinweisen, daß es den
Jahren. Ich meine vor allem die Verkehrssünder. Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte künftig nicht
Gegen sie werden in zunehmendem Umfang kurz- mehr geben soll. Vorgesehen sind als Nebenstrafen
fristige Freiheitsstrafen verhängt. In diesen Fällen nur noch Rechtsverluste im staatsbürgerlichen Be-
handelt es sich in aller Regel um sozial eingeordnete reich, so der Verlust von Ämtern und Titeln, der
Täter, die nicht in Gefahr sind, kriminell angesteckt Verlust der Amtsfähigkeit und der Wählbarkeit
zu werden, und nach der Strafverbüßung an ihre Ar- sowie in seltenen Fällen auch der des Stimmrechts.
beitsplätze und zu ihren Familien zurückkehren. Ge- Schließlich möchte ich nicht unerwähnt lassen, daß
rade bei solchen Verkehrssündern kann eine kurze der Entwurf die Strafaussetzung zur Bewährung und
Freiheitsstrafe mit ihrer aufrüttelnden Wirkung am die bedingte Entlassung des geltenden Rechts in
Platze sein. Das Gefängnis ist aber nicht immer die verfeinerter Form beibehält, nachdem mit diesen
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3187
Bundesminister Dr. Bucher
beiden Rechtsinstituten seit ihrer Einführung im Öffentlichkeit über neue Straftaten von Verbrechern,
Jahre 1953 überwiegend ermutigende Erfahrungen die noch nicht lange aus der Strafanstalt entlassen
gemacht worden sind. waren — und angesichts eines Falles, der sich erst
vor kurzer Zeit ereignet hat —, halte ich gerade die
Neben dem neuen Strafensystem legt der Entwurf Sicherungsaufsicht kriminalpolitisch für besonders
besonderen Wert auf die Umgestaltung des Systems bedeutungsvoll.
der bessernden und sichernden Maßregeln. Entge-
gen dem geltenden Strafgesetzbuch wird die Siche- Aus meiner Schilderung des Strafen- und Maß-
rungsverwahrung einerseits rechtsstaatlicher ge- regelsystems des Entwurfs werden Sie entnommen
formt, andererseits aber zu einem schlagkräftigeren haben, daß das neue Gesetz nicht etwa eine Schwä-
Instrument gegen das gefährliche Hangverbrecher- chung des Strafrechts, sondern im Gegenteil bei
tum ausgebaut. Der Anwendungsbereich des mancher Milderung im einzelnen im Ergebnis eine
Arbeitshauses und des Berufsverbots wird so erwei- wirksame Verstärkung des strafrechtlichen Schutzes
tert, daß auch diese Maßregeln künftig eine krimi- der Allgemeinheit zum Ziele hat. Ich bin überzeugt,
nalpolitisch wichtige Rolle spielen können, wobei daß die Wege, die der Entwurf zur Erreichung die-
aber — das darf ich hier einschalten — beim Berufs- ses Zieles vorschlägt, Erfolg versprechen.
verbot keineswegs etwa daran gedacht ist, ein Wichtig ist aber nicht nur, daß wirksame Strafen
Berufsverbot gegen die Presse zu verhängen. Dieser verhängt werden. Von größter Bedeutung ist auch
Verdacht ist gestern geäußert worden, und ich darf die Gleichmäßigkeit der Strafzumessung. Um sie
versichern, daß daran wirklich niemand denkt. Von bemüht sich der Entwurf in verschiedener Weise.
erheblicher Bedeutung ist auch eine Reihe neuer Einmal bringt der Allgemeine Teil Regeln über die
Maßregeln. Da Sicherungsverwahrung künftig nur Strafzumessung, die im geltenden Recht fehlen. Zum
noch gegen Täter angeordnet werden soll, die das anderen entwickelt der Besondere Teil eine neue
25. Lebensjahr vollendet haben, sieht der Entwurf Technik in der Ausgestaltung der Tatbestände und
gegen junge Täter bis zu 27 Jahren, die in Gefahr Strafrahmen, die dem Richter, ohne ihn starr zu
sind, sich zu Hangtätern zu entwickeln, und mit den binden, doch eine sichere Führung gibt. Vor allem
nach geltendem Recht zur Verfügung stehenden begrenzt der Entwurf sinnvoll die Zahl der Straf-
Mitteln nicht mehr aussichtsreich beeinflußt werden rahmentypen und vermeidet zu weite Strafrahmen.
können, die sogenannte vorbeugende Verwahrung Ich hatte gestern bereits Gelegenheit, hierzu auf
vor, die als letzter eindringlicher Erziehungsversuch ein Beispiel hinzuweisen. Wo sich tatbestandsmäßi-
in besonderen Anstalten vollzogen werden und ge Ausformung verbietet, unterteilt der Entwurf
nicht länger als fünf Jahre dauern soll. Nach aus- weite Strafrahmen in zwei oder drei Stufen. Dabei
ländischem, insbesondere dänischem Vorbild schlägt bedient er sich der Rechtsfiguren der besonders
der Entwurf weiter die Einrichtung von Bewahrungs- schweren und der minder schweren Fälle und illu-
anstalten für psychopathische Täter vor, die bisher striert die besonders schweren Fälle durch Regel-
in den Heil- oder Pflegeanstalten vielfach als Störer beispiele. Darin vor allem liegt das Neuartige.
wirkten und dort auch nicht der besonderen heil-
Mit diesen Ausführungen bin ich nun bereits zum
pädagogischen Einwirkung unterworfen werden
Besonderen Teil des Entwurfs gekommen. Dieser
konnten, wie sie in den neuen Anstalten möglich Teil hat gegenüber dem geltenden Strafgesetzbuch
sein wird. Über die beiden soeben genannten Ver- ein systematisch völlig neues Gesicht erhalten.
wahrungsformen hinaus sieht der Entwurf neue Während das geltende Gesetz mit dem Schutz des
Anstaltstypen nicht vor. Die in der Öffentlichkeit Staates und der Rechtsgüter der Allgemeinheit be--
und auch in den Beratungen des Bundesrates gele- ginnt, geht der Entwurf in Anlehnung an das
gentlich geäußerte Sorge, daß der Entwurf an dem Grundgesetz vom Schutz des Menschen aus und läßt
Erfordernis neuer Anstaltsformen finanziell schei- die Straftaten gegen die Sittenordnung, gegen das
tern werde, scheint mir nicht begründet zu sein, zu- Vermögen, gegen die öffentliche Ordnung und
mal auch die nötigen neuen Anstalten nach und schließlich gegen den Staat und die Völkergemein
nach und zum Teil unter Benutzung vorhandener schaft folgen. Diese systematisch folgerichtigere
Gebäude geschaffen werden können. Der Strafvoll- Reihenfolge soll allerdings keine grundsätzliche
zugsausschuß der Länder ist schon seit langem Rangfolge bedeuten.
beauftragt, die Frage der hier entstehenden Kosten
im einzelnen zu prüfen. Unter den Tatbeständen des Besonderen Teils
kann ich naturgemäß nur einige wenige erwähnen,
Unter den nicht mit Freiheitsentziehung verbunde- die mir für die parlamentarische Arbeit von erhöh-
nen Maßregeln ist neu und von besonderer Wichtig- tem Interesse zu sein scheinen. Zunächst hat sich der
keit die sogenannte Sicherungsaufsicht. Dabei handelt Entwurf, Ider gewisse abgestorbene Vorschriften
es sich um eine Überwachung von gefährlichen Tätern wie die über den Zweikampf fallenlassen konnte,
in der Freiheit, die ihre Freiheitsstrafe schon ver- mit neuen Erscheinungen unserer Zeit auseinander-
büßt haben oder die aus der Sicherungsverwahrung setzen und eine Reihe dem Strafgesetzbuch bisher
oder vorbeugenden Verwahrung probeweise ent- unbekannter Tatbestände schaffen müssen. Dazu
lassen sind. Das Gericht leitet die Überwachung und gehören vor allem der Mißbrauch und die Fälschung
kann mit Weisungen weitgehend in die Lebensfüh- von Tonbändern, das Abhören von Ferngesprächen
rung des Verurteilten eingreifen. Durchgeführt wird — ein Tatbestand, der auch dem Antrag der Frak-
dieÜbrwachungjdeAtsVruiln tion der SPD zugrunde liegt, den wir heute mitbe-
durch eine Überwachungsbehörde oder einen Be- handeln —, die Fälschung technischer Beweismittel
währungshelfer. Angesichts mancher Klagen in der wie etwa des Schaublattes eines Fahrtschreibers im
3188 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963
Bundesminister Dr. Bucher
Kraftwagen, die Verbrechen mit Hilfe von Atom- Neu geordnet hat der Entwurf das leider praktisch
kraft oder von ionisierenden Strahlen und schließ- sehr wichtige Gebiet der Sittlichkeitsdelikte. Er be-
lich auch die künstliche Insemination, mit der sich müht sich hier einmal um klarere Abgrenzungen im
schon der deutsche Ärztetag eingehend beschäftigt Interesse der Rechtssicherheit, vor allem aber auch
hat. Die große Strafrechtskommission hatte nach um eine wirksameren Schutz unserer Jugend. Dabei
gründlichen Untersuchungen die Schaffung eines ist in erster Linie der neue Tatbestand der Unzucht
solchen Tatbestandes schon vor Inkrafttreten des vor Kindern von Bedeutung. In der Frage der Strafe
neuen Strafgesetzbuches einstimmig gefordert. Das für Unzucht mit Kindern besteht zwischen Bundes-
gewiß sehr vielschichtige Problem, zu dem ich hier regierung und Bundesrat eine Meinungsverschieden-
nicht Stellung nehmen kann, hat dann im Bundes- heit über den richtigen Weg. Wir sind uns alle dar-
rat und später in der Öffentlichkeit zu einer leb- über klar, daß derartige Straftaten mit Nachdruck
haften Diskussion geführt. verfolgt werden müssen. Der Regierungsentwurf
Zu solchen „modernen" Tatbeständen zählen auch versucht dieses Ziel dadurch zu erreichen, daß er die
der Autofallenraub und der erpresserische Kindes- wichtigsten Gruppen von Fällen aufzählt, in denen
raub, die allerdings schon heute im Wege der Novel- ohne Ausnahme oder in der Regel Zuchthaus zu ver-
lengesetzgebung erfaßt sind. hängen ist. Als .Grundstrafe droht er in Überein-
stimmung mit der heutigen gerichtlichen Praxis
Im Bereich der überkommenen Tatbestände hat es
Gefängnis nicht unter sechs Monaten an, wobei be-
der Entwurf unternommen, eine neue Abgrenzung
rücksichtigt wird, daß einerseits die Zuchthausstrafe
zwischen Mord und Totschlag zu finden. Es handelt
im Entwurf der Hochkriminalität vorbehalten ist und
sich dabei um eines der schwierigsten gesetzgebe
daß andererseits die leichteren Begehungsformen
rischen Probleme (des Strafrechts. Der Entwurf sieht
des Delikts glücklicherweise in der Mehrzahl sind.
die Lösung in einer Kombination des geltenden Der Bundesrat will demgegenüber Zuchthaus als
Rechts, das vor allem Tötungen aus besonders ver- Regelstrafe androhen und Gefängnis nur in minder
werflichen Motiven als Mord ansieht, mit dem frühe-
schweren Fällen zulassen. Ich fürchte, daß diese der
ren Recht, nach dem Mord die mit Überlegung be-
heutigen Gesetzeslage — nicht aber der Praxis —
gangene Tötung war. Dabei unterscheidet der Ent- angenäherte, scheinbar strengere Regelung dazu
wurf Fälle, die stets als Mord anzusehen sind, und führen würde, daß in der praktischen Wirklichkeit
solche, bei denen Ausnahmen möglich sind. Unter Zuchthaus seltener verhängt wenden wird als bei der
die letzten will der Bundesrat den Fall aufgenom- in die Einzelheiten gehenden Regelung des Ent-
men wissen, daß der Täter in der Absicht handelt, wurfs.
eine andere Straftat, z. B. ein Sittlichkeitsdelikt, zu
verdecken. Die Bundesregierung stimmt diesem we- Die alte, immer wieder neu umkämpfte Frage
sentlichen Vorschlag zu. nach der Strafbarkeit der Homosexualität sucht der
Entwurf dahin zu lösen, daß freiwillige Handlungen
Im Zusammenhang mit dem Schutz von Leben und zwischen erwachsenen Männern nur noch dann
Gesundheit hat sich der Entwurf sehr eingehend strafbar sein sollen, wenn es sich um erschwerte
mit dem Recht der ärztlichen Eingriffe befaßt und Formen gleichgeschlechtlichen Verkehrs handelt. Die
dabei vielflach neue Regelungen empfohlen. Vor Starfbarkeit noch weiter einzuschränken, glaubt die
allem erfüllt der Entwurf die alte Forderung der Bundesregierung im Gegensatz zu einer knappen
Ärzteschaft, daß ein nach der ärztlichen Kunst an- Mehrheit der Strafrechtskommission, aber in Über-
gezeigter und durchgeführter Eingriff nicht als Kör- einstimmung mit dem Bundesrat nicht verantworten -
perverletzung tatbestandsmäßig und strafbar sein zu können.
kann. Fehlt in solchen Fällen die Einwilligung des
Patienten, so kann der Arzt nur nach der neuen Wie Sie wissen, war es seit langem ein Pro-
Vorschrift übereigenmächtige Heilbehandlung be- grammpunkt der Bundesregierung und eine der
straft werden. In diesem Zusammenhang bringt der wichtigsten Forderungen eines der letzten Juristen-
tage, den Schutz der Ehre und der Intimsphäre des
Entwurf auch eine Regelung der in der letzten Zeit,
Menschen zu verstärken. Der Entwurf bemüht sich,
namentlich auf dem Juristentag 1962 in Hannover,
diesen Forderungen gerecht zu werden. Er ist dabei
viel diskutierten ärztlichen Aufklärungspflicht. Ein-
sehr schnell auf Kritik gestoßen. Dabei ist aber be-
gehend wird geregelt, unter welchen Voraussetzun- zeichnend, daß Vorschriften wie etwa die über den
gen eine Unterbrechung der Schwangerschaft durch
Mißbrauch von Tonbändern oder den Verrat von
einen Arzt nicht als Abtreibung strafbar ist. Der Geheimnissen, die bestimmten Berufsträgern anver-
Entwurf erkennt hier nur die sogenannte medi- traut worden sind, keine Kritik hervorgerufen ha-
zinische Indikation an, nicht hingegen die soziale. ben. Das allein schon zeigt, daß es hier, was allzu
Auch die sogenannte ethische Indikation, d. h. die oft übersehen wird und auch von einem Kritiker im
Unterbrechung in dem Falle, daß die Frau infolge Bundesrat übersehen worden ist, in Wirklichkeit
einer Notzucht schwanger geworden ist, glaubt der um eine ganz grundsätzliche Problematik und kei-
Entwurf in Übereinstimmung mit der geltenden neswegs allein um Angelegenheiten der Presse geht.
Rechtslage nicht anerkennen zu sollen. Diese weit- Was die Presse anlangt, so bemüht sich der Ent-
gehend weltanschaulich umstrittene, aber auch we- wurf, ihr in vollem Verständnis für ihre große Auf-
gen der Praktikabilität des Verfahrens schwierige gabe in der Bestimmung über Wahrnehmung be-
Frage war im Bundesrat lebhaft umkämpft; sie ist in rechtigter Interessen das Ihre zu geben. Die Bestim-
der Öffentlichkeit leidenschaftlich aufgegriffen wor- mung über die öffentliche Eörterung fremder Privat-
den und wird zweifellos auch in Ihren Beratungen angelegenheiten, der zu meiner Befriedigung Herr
eine bedeutsame Rolle s pielen. Kollege Dr. Arndt schon vor längerer Zeit in der
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3189
Bundesminister Dr. Bucher
Neuen Juristischen Wochenschrift zugestimmt hat, dings betonen: auch wenn die geltenden Landes-
berührt die Presse, wenn sie ihre Aufgabe recht verratsvorschriften und der ihnen in der Grund-
versteht, überhaupt nicht. Denn warum sollte sie konzeption folgende Entwurf im Lichte neuerer Er-
Dinge, die das öffentliche Interesse nicht berühren, kenntnisse verbesserungsfähig sein sollten, kann
ohne verständigen Grund mitteilen? Nur wenn sie nach meiner Meinung doch keine Rede davon sein,
das täte, könnte sie aber mit der Vorschrift in Kon- daß das geltende Recht bei verfassungskonformer
flikt geraten. Da es bei diesem Indiskretionsdelikt Auslegung rechtsstaatlich mangelhaft wäre. Auch
nicht um Ehrenschutz, sondern um ein verbotenes bei der künftigen Regelung werden wir uns beschei-
Eindringen in die Intimsphäre eines Mitmenschen den müssen; denn ich glaube schon jetzt sagen zu
geht, kann der Wahrheitsbeweis für die aufgestell- können, daß es eine Lösung, die alle Spannungen
ten Behauptungen nicht zugelassen werden. Daß völlig beseitigt, gar nicht geben kann.
sich daraus Schwierigkeiten ergeben, ist mir be-
wußt. Aber angesichts der immer mehr um sich Zum Schluß möchte ich noch ein Wort zu den
greifenden Sucht, in die intimsten Bereiche des Mit- Amtsdelikten sagen, die der Entwurf systematisch
menschen einzugreifen, hält die Bundesregierung anders behandelt als das geltende Strafgesetzbuch.
diese Vorschrift für notwendig. Eine wichtige Verbesserung liegt hier in einer
neuen Bestimmung, die den Schutz von Privat-
Ganz Ähnliches gilt für den § 452 des Entwurfs,
geheimnissen regelt, die Behörden anvertraut wor-
der nichts anderes will, als dem Angeklagten vor
den oder sonst bekanntgeworden sind. Besonderes
dem Strafrichter ein faires Verfahren zu sichern.
Interesse bringt die Öffentlichkeit den Vorschriften
Daran sollten wir alle interessiert sein, die Presse
über die Bestechung entgegen. Ich möchte dazu nur
eingeschlossen. Man hat die Vorschrift etwas ver-
folgendes bemerken: die Bundesregierung tritt mit
einfachend und vorschnell „lex Brühne" genannt.
Entschiedenheit dafür ein, daß Fälle echter Korrup-
Sie war längst konzipiert, ehe es den Brühne-Pro-
tion mit allem Nachdruck verfolgt werden. Der Ent-
zeß gab. Aber gerade dieser Prozeß hat bestätigt,
wurf gibt dafür eine geeignete Grundlage. Auf der
daß eine solche Vorschrift leider nötig ist. Trotz
allen anerkennenswerten Versuchen des Presserates anderen Seite war die Rechtsprechung, vor allem der
haben sensationshungrige Zeitungen dessen Emp- Instanzgerichte, in ihrem Bestreben, die Bestechung
fehlungen mehrfach mißachtet, und es hat sich ent- wirksam zu bekämpfen, zuweilen etwas zu weit
gegen der Annahme eines Kritikers im Bundesrat gegangen. Inzwischen hat der Bundesgerichtshof in
gezeigt, daß die Presse hier mit Auswüchsen ihrer richtungweisenden Entscheidungen klargestellt, in
Berichterstattung leider nicht selbst fertig gewor- welchen Fällen sich ein sogenannter Ermessens-
den ist. Im Gegegenteil: Ein bekannter Publizist hat beamter der schweren Bestechlichkeit schuldig macht.
Der Entwurf übernimmt diese Rechtsprechung und
sich z. B. für eine eklatante Verletzung der weitge-
ergänzt zum Schutze vor Korruption die sogenannte
hend mit § 452 übereinstimmenden Empfehlungen
des Presserates auf das Fehlen einer entsprechen- aktive Bestechung, die im geltenden Recht nur
den Strafvorschrift ausdrücklich berufen. strafbar ist, wenn es um eine pflichtwidrige Dienst-
handlung des Beamten geht, in einem neuen Tat-
Mit besonderer Sorgfalt und besonderem Ernst bestand um den Fall, daß einem Beamten für eine
ist die Strafrechtskommission an eine Materie her- künftige, nicht pflichtwidrige Diensthandlung, die
angegangen, deren Bedeutung heute jedem klar ist, in seinem Ermessen steht, ein Vorteil angeboten
der der freien Welt anzugehören das Glück hat. Ich oder gewährt wird. Anderseits stellt der Entwurf
meine die Staatsschutzdelikte. Seit der Neuregelung klar, daß der Beamte, der für eine nicht pflichtwid--
durch das 1. Strafrechtsänderungsgesetz sind elf rige Diensthandlung einen nicht von ihm geforder-
Jahre verflossen. In dieser Zeit ist eine reichhaltige ten Vorteil sich versprechen läßt oder annimmt, nicht
Rechtsprechung auf diesem Gebiet ergangen, und es rechtswidrig handelt, wenn die zuständige Behörde
sind zahlreiche praktische Erfahrungen gesammelt eine wirksame Genehmigung erteilt.
worden, die der Entwurf verwerten und verarbeiten
konnte. Dabei ist versucht worden, die Tatbestände Lassen Sie mich damit meinen Überblick schlie-
präziser und konkreter zu fassen. Wichtig ist vor ßen. Kahl hat in seiner Rede von 1927 vor dem
allem, daß § 90 a des geltenden Strafgesetzbuches, Reichstag den damaligen Strafgesetzbuchentwurf im
der sich gegen verfassungsfeindliche Vereinigungen Anschluß an einen Ausspruch von Radbruch eine
richtet und der Rechtsprechung erhebliche Schwie- „Jahrhundertfrage" genannt. Das Parlament, ge-
rigkeiten gemacht hat, nicht in dieser Form wieder- drängt von Fragen, die heute und morgen entschie-
kehren soll. Besondere Mühe hat die Strafrechts- den werden müssen und oft im Streit von Inter-
kommission auch auf die Neufassung der Tat- essengruppen stehen, ist vielleicht manchmal ge-
bestände über Landesverrat verwendet. Dabei hat neigt, solche Grundsatzfragen zu unterschätzen und
sie die Fragen, die in den letzten Monaten in der den Fragen des Tages eine zu große Bedeutung bei-
Öffentlichkeit so leidenschaftlich diskutiert worden zumessen. Ich möchte aber meinen, daß man später
sind, nicht verkannt. Die Materie hat sich aber als die Leistungen dieses Bundestages unserer Zeit we-
ungewöhnlich vielschichtig und schwierig erwiesen. niger an Gesetzen zur Lösung von Tagesfragen
Ich stehe nicht an, einzuräumen, daß gerade die messen wird, als vielmehr an großen, grundsätz-
jüngsten Auseinandersetzungen deutlich gemacht lichen Gesetzesvorhaben von der Art des Entwurfes,
haben, wie ernst die Probleme sind, die die Landes- den ich Ihnen heute vorlegen darf. Ich würde mich
verratsbestimmung aufwirft, und wie sehr es unsere freuen, wenn es Ihren Bemühungen, meine Damen
gemeinsame Aufgabe ist, die bestmögliche Lösung und Herren, gelänge, den Entwurf, den wir in der
zu finden. Auf der anderen Seite möchte ich aller vergangenen Wahlperiode nicht mehr beraten
3190 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963
Bundesminister Dr. Bucher
konnten, möglichst bald Gesetz werden zu lassen. schriften des Entwurfs persönliche oder kollektive
Das Bürgerliche Gesetzbuch und das Strafgesetz- Vorteile erhoffen oder Nachteile befürchten. Sie
buch sind die beiden Eckpfeiler unseres Rechts- sollten bei ihrer Kritik versuchen, den Entwurf nur
lebens. Das erste verdanken wir einer großen Tat vom Wohle des Ganzen her zu sehen. Ich meine
des Reichstages vor der Jahrhundertwende. Er hat mit den Interessierten das ganze Volk. Ein Straf-
ein ausgezeichnetes Gesetz geschaffen. Das zweite gesetzbuch geht nicht nur Juristen und Verbrecher
zu erneuern, ist, wie ich Ihnen zeigen durfte, ein etwas an. In ihm spiegeln sich die ethischen Über-
ständiges Bemühen seit nunmehr 60 Jahren. Ich zeugungen des Volkes. In ihm setzt es sich ein
bin überzeugt, daß dieses Bemühen zum Erfolg ge- Denkmal seines Geistes.
führt werden kann, wenn wir uns nur alle in dem
(Allgemeiner Beifall.)
Ziel einig sind. Wir können es sein. Denn mag es
auch in Einzelpunkten Meinungsverschiedenheiten
geben, so bietet der Entwurf doch, wie ich meine, Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Meine Da-
eine auf dem Grundgesetz aufbauende, sich von men und Herren, Sie haben die Einbringung des
Extremen fernhaltende, ausgewogene Grundlage, Entwurfs eines neuen Strafgesetzbuches gehört. Ich
die es jedem von uns ermöglichen sollte, ein grund- danke dem Herrn Bundesjustizminister und eröffne
sätzliches Ja dazu zu sagen. die Aussprache in erster Lesung. Das Wort hat Herr
Abgeordneter Dr. Gilde.
Mir bleibt nun nur noch zweierlei: Einmal Worte
des Dankes, die in einer ersten Lesung auszuspre-
chen vielleicht etwas verfrüht sein mag. Aber da ich Dr. h. c. Güde (CDU/CSU) : Herr Präsident!
doch voraussehe, daß dieser Entwurf einen langen Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich be-
Weg vor sich hat, möchte ich um die Erlaubnis bit- glückwünsche den Herrn Justizminister zu der Ehre,
ten, das schon heute zu tun. Dieser Dank für eine ein solches Gesetzgebungswerk eingebracht und es
aufopfernde Arbeit liegt mir besonders am Herzen. uns mit einer ,so klaren Darstellung seines Inhalts
Ich danke meinen Vorgängern im Amt Dehler, Neu- vorgelegt zu haben. Es ist auch mir ein Bedürfnis,
mayer, von Merkatz, Schäffer und Stammberger, der mich namens meiner Fraktion und für mich selbst
Großen Strafrechtskommission, den Landesjustizver- dem Dank anzuschließen, den er so vielen, ich
waltungen und der von ihnen gebildeten Länder- möchte fast sagen, über Jahrzehnte hin, abgestattet
kommission, ich danke den Strafrechtsausschüssen hat. Es sind für den Juristen ehrwürdige Namen wie
des Richterbundes und der Bundesrechtsanwaltskam- die Kahls und Ebermayers, Liszts und Radbruchs
mer, ich danke den zahlreichen Gutachtern, die uns gefallen, ehrwürdige Namen, die meine Generation
wertvolle Hilfe geleistet haben, Strafrechtslehrern, in die Welt des Rechts eingeführt und lange Jahr-
Medizinern und Strafvollzugssachverständigen. zehnte begleitet haben. Anschließen möchte ich mich
auch dem Dank, den der Herr Minister seinen Vor-
(Abg. Dr. Wuermeling: Und dem Staats gängern und vor allem seinen Mitarbeitern abge-
sekretär!) stattet hat. Sicher hat er nur zufällig den Namen
Ich möchte aber auch nicht unterlassen, den Sach- des langjährigen Staatssekretärs Dr. Strauß ver-
bearbeitern des Bundesjustizministeriums für ihre gessen, der in der Tat seit 1949 die Last und Ver-
aufopferungsvolle Arbeit am Entwurf zu danken, an antwortung im Justizministerium entscheidend mit-
ihrer Spitze dem Ministerialdirektor Dr. Schafheutle, getragen und auch die Verantwortung für diese
der infolge dienstlicher Überlastung leider seit Reformarbeit mitgetragen hat. -
Monaten erkrankt ist und dem unsere besten Gene- (Beifall bei der CDU/CSU.)
sungswünsche gelten. Nicht zuletzt aber danke ich
den Damen und Herren dieses Hohen Hauses, die Dank vor allem auch den Referenten, den Sach-
als Vertreter ihrer Fraktionen den Entwurf in der bearbeitern im Bundesjustizministerium. Ein klei-
Strafrechtskommission wesentlich gefördert haben, ner, überaus tüchtiger Stab von hochbegabten Ju-
und den Fraktionen selbst, deren Entgegenkommen risten hat dieses Gesetzgebungswerk in einer vor-
diese Mitarbeit ermöglicht hat. bildlichen Weise vorbereitet, an ihrer Spitze der
Ministerialdirektor Dr. Schafheutle. Er hat es wohl
Zu Dank verpflichtet sind wir schließlich auch verdient, daß der Herr Minister seinen Namen be-
denen, die sich in zwei Generationen vor uns um sonders herausgehoben hat, ein Mann, der über
die Reform des Strafrechts bemüht haben; denn wie dieser Arbeit und, ich fürchte, an dieser Arbeit
sehr wir ihr Erbe angetreten haben und auf ihren krank geworden ist und der den Tag nicht selbst
Gedanken und ihre Arbeit fußen, wird jedem klar, hier mit-, ich möchte fast sagen: feiern kann, an
der die lange Reihe der Entwürfe als eine kon- dem sein Werk endlich im Parlament eingebracht
tinuierliche historische Entwicklung erkennt. und vorgelegt wird.
Dem Dank folgt nun als Zweites und Letztes eine Den Dank und Ihr Interesse, meine Damen und
Bitte an die Öffentlichkeit. Es ist die Bitte um frucht- Herren, möchte ich auch noch einmal auf die Große
bare Kritik. Denn nichts kann einem so weitgreifen- Strafrechtskommission richten und etwas hervor-
den und vielschichtigen Gesetzeswerk förderlicher heben, was der Hervorhebung bedarf. Diese Große
sein als Kritik, und zwar Kritik nicht nur seitens Strafrechtskommission ist nicht eine irgendwie
der Fachwelt, sondern aller derer, die der Entwurf politisch bestimmte und politisch zusammengesetzte
interessiert. Es ist etwas fragwürdig, in diesem Zu- Gruppe gewesen, sondern der Entwurf, soweit er
sammenhang von „Interessenten" zu sprechen. Ich auf der Arbeit der Strafrechtskommission beruht, ist
meine damit nicht nur diejenigen, die sich von Vor- das Werk freier geistiger Zusammenarbeit von Re-
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Dr. h. c. Güde
präsentanten des deutschen Strafrechtslebens, Pro- das auf jedem anderen Rechtsgebiet der Fall war.
fessoren wie Politikern, Richtern wie Staatsanwälten, Gegenüber dem brutalen Zugriff der politischen
Rechtsanwälten und Beamten der Justizministerien. Macht haben dann Wissenschaft und Rechtsprechung
Niemand kann sagen oder auch nur argwöhnen, daß ihren in der Stunde der Bedrängnis offenbar wer-
die Auswahl dieser Mitglieder der Großen Straf- denden Mangel an gesicherten Prinzipien mit ge-
rechtskommission einseitig gewesen sei. Ich erwähne schwächter Widerstandskraft bezahlt. Die über
unter ihnen statt aller Eberhard Schmidt, den letzten 60 Jahre sich hinschleppenden und immer wieder
Liszt-Schüler und Mitarbeiter von Liszt und mit ihm erfolglos bleibenden Versuche der Strafrechtsreform
die lebendige Verknüpfung mit der großen deut- sind eines der Symptome einer Gesamtkrise des
schen Reformbewegung. Aber ich könnte ebensogut Rechts und dieses Jahrhunderts.
die anderen Namen nennen, um für jeden, der in Wenn man das belegen soll, dann gibt es dafür
der deutschen Strafrechtswissenschaft sich auskennt, keinen glaubwürdigeren Zeugen als Radbruch.
zu zeigen, daß hier die Breite der deutschen Straf- Ich nenne ihn mit guten Gründen, auch schon ge-
rechtswissenschaft, wenn naturgemäß auch nicht alle, genüber jedem Versuch, die jetzige Strafrechts-
vertreten war. reform nur restaurativ zu nennen. Was da mit
Der Herr Minister hat vorhin von der Tragödie einem billigen Wort „restaurativ" genannt wird,
der Geschichte dieser Strafrechtsreform gesprochen, hängt nun einmal mit einem tiefen Bruch in der
und in der Tat, es ist ein Stück Tragödie; denn die Rechtsgeschichte und in der Geschichte dieses Jahr-
deutschen Reformgedanken haben in diesem Jahr- hunderts zusammen. Es war Radbruch, der als
hundert fast die ganze Welt befruchtet, ohne bisher Schüler von Liszt und als einer der prominentesten
in Deutschland selbst zur Vollendung gelangen zu Vertreter des Reformgedankens und des Reform-
können. Da liegt ein Stück der Geschichte dieses werks nach dem Kriege sagte:
deutschen Jahrhunderts. Ich habe vor mehr als zehn Die Rechtswissenschaft muß sich wieder auf
Jahren auf dem Deutschen Juristentag 1951 in Stutt- die Jahrtausende alte gemeinsame Weisheit
gart das Feld der Strafrechtsreform genannt eine der Antike, des christlichen Mittelalters und
Walstatt erschlagener Gedanken. Dieses Reform- des Zeitalters der Aufklärung besinnen.
werk hat in der Tat unser Schicksal geteilt, das
Schicksal meiner Generation. Es ist ein Altersge- Radbruch hat 1947 gesagt:
nosse von mir, geboren wie ich im Jahre 1902. Man muß auch starke Abstriche machen von
Sie mögen ermessen, sechs Jahrzehnte schwelte dem, was man bisher als Fortschritt begrüßte,
diese Reformarbeit. Es hat unser Schicksal geteilt - von der Individualisierung, der Psychologisie-
das Schicksal gerade meiner Generation: mit dem rung, von allem dem, was man Täterstrafrecht
optimistischen Ideengut des 19. Jahrhunderts aus- nennt.
gefahren zu sein in dieses 20. Jahrhundert und Radbruch hat in jenem Zusammenhang gesagt:
gescheitert zu sein in unserem gespenstischen
Schiffsbruch in der Mitte dieses Jahrhunderts. Wir müssen uns gegenüber den Anforderungen
rücksichtsloser Zweckmäßigkeit wieder darauf
Scheuen wir uns nicht, unsere eigene Lebensge- zurückbesinnen, daß es rechtliche und sittliche
schichte mit zu sehen, wenn wir die Geschichte Normen gibt, von denen auch eine noch so
dieses Reformwerks sehen! Man muß ehrlich genug große Zweckmäßigkeit nicht entbinden konnte.
sein, die Brüche in unserer eigenen Lebensgeschichte
als Juristen im deutschen Schicksal und in der Ge- Radbruch war e s, der in jenen Nachkriegsjahren
schichte dieses Reformwerkes miteinander zu sagte:
sehen; denn was der Herr Minister vorhin Tragödie Zu lange Zeit hindurch ist nur von der Zweck-
genannt hat, ist ein Stück der Tragödie und Krise mäßigkeit geredet worden, von der Unschäd-
des deutschen Rechtslebens in diesem Jahrhundert, lichmachung, von der Abschreckung, besten-
des deutschen Rechtslebens und vor allem des falls von der Besserung, und nicht von den
Strafrechts; denn das Zivilrecht ist zwar von der Ideen, die der Zweckstrafe Grenzen ziehen,
allgemeinen Rechtskrise nicht unberührt geblieben, eben der Humanität und der Rechtssicherheit.
aber es hat doch sozusagen am Rande der Sturmzone Humanität und Rechtssicherheit sah Radbruch in
in verhältnismäßig stetem Einklang von Wissen- jenen Nachkriegsjahren, in seinen Altersjahren, als
schaft und Rechtsprechung einen klaren Bestand die leitenden Ideen des Strafrechts an, wobei der
überlieferter Rechtsgedanken immer festzuhalten Begriff der Humanität — wie man weiß — dem
gewußt und so bei aller Anpassung an die sich alten Radbruch aus den im Alter neu gewonnenen
verändernde soziale und wirtschaftliche Welt die religiösen Einsichten durchleuchtet war.
Identität mit sich selbst immer zu wahren verstan-
den. Vom Strafrecht und vom Strafrechtsleben kann Ich nenne nicht umsonst diesen Zeugen, weil es
man dasselbe nicht sagen. Im Vergleich zum Zivil- mir darauf ankommt, gerade an ihm zu zeigen, daß
recht lag das Strafrecht im Zentrum des Wirbel- dieses Reformwerk nicht nur ein Paragraphenwerk,
sturmes dieses Jahrhunderts. Es war den geistigen nicht nur ein Juristenwerk, sondern ein Stück Gei-
und ungeistigen Strömungen der Zeit ungleich stesgeschichte dieses Jahrhunderts und ein Ereignis
stärker ausgeliefert. Der Widerstreit und Wechsel in der Geistesgeschichte dieses Jahrhunderts ist,
und auch die Radikalität mancher Theorien, die auch wenn es sich in Paragraphen, in Nüchternheit
sich mit ihm beschäftigten und es vorwärtstrieben, und vielleicht sogar Trockenheit hüllt.
haben Lehre und Praxis des Strafrechts zeitweise Den Juristen und eigentlich auch den Nichtjuri-
und immer wieder weiter voneinander entfernt, als sten sollte die Frage bewegen, wieso ein Mann wie
3192 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963
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Radbruch, der wie keiner mit den tiefsten Gedan- und konservativ hieß, zu Spielarten derselben bür-
ken des Reformwerks verknüpft war, sich nach der gerlichen, spätbürgerlichen Welt. Gegenüber dem
Katastrophe von den tragenden Ideen mit dem Hintergrund dieses romantisch-blassen Gedanken-
Wort: „zurückbesinnen" distanzierte. Wer das Wort gebildes hebt sich aber deutlich ab, was für Rad-
„restaurativ" sagt, der möge sich einmal überlegen, bruch in diese spätbürgerliche Welt eingebrochen
ob das Rückbesinnen bei Radbruch restaurativ ge- war: die Macht der wirklichen Geschichte. Radbruch
nannt werden kann. Nein, es ist ein Ereignis in der selbst hatte seinen Lehrer von Liszt als noch ge-
deutschen und in der europäischen Rechtsgeschichte prägt vom Geiste der Aufklärung geschildert. Und
gewesen, daß Radbruch so hörbar die Distanz zog in der Tat: der gleichen Wurzel des Aufklärungs-
von all dem, was bisher „fortschrittlich" war. denkens entsprang auch die relative Ungeschichtlich
keit des Denkens von Liszts und der Reformbewe-
Wenige Jahre nach Radbruchs Tod — 1951 — gung.
wurde der 100. Geburtstag von Liszts gefeiert. Und
da war beispielsweise in der geschichtlichen Würdi- Allerdings — und auch das verdient es, an einem
gung eines bedeutenden schwedischen Kriminalisten solchen Tag, an dem zum zweitenmal in der deut-
mit Recht zu lesen, , daß die durch Radbruch mitre- schen Rechtsgeschichte eine Vorlage zur Strafrechts-
präsentierte deutsche Reformbewegung in den ver- reform eingebracht wird —, der besondere Reiz
gangenen Jahrzehnten das Kräftezentrum einer in der deutschen und vor allem der deutschen Reform-
alle Länder ausstrahlenden Reformarbeit geworden bewegung und der faszinierende Funke, man möchte
war. sagen: der Lichtbogen, der einmal an ihr sichtbar
wurde, war die Berührung dieses optimistischen
Unter dem Motto: drei Täterkategorien, drei Prä-
ventionsziele wurden in dieser Äußerung des Rationalismus aus dem achtzehnten und frühen
Schweden die drei programmatischen Punkte dieser neunzehnten Jahrhundert mit- einer neuen Erfah-
Reformarbeit als immer noch gültig wiederholt: Ab- rungswelt. Die schöpferische Neugier der Reformer
schreckung des Augenblickstäters, Besserung des hatte es gewagt, die Welt des Verbrechers und des
Besserungsbedürftigen und -fähigen, Unschädlich Verbrechens ans Licht zu ziehen, voller Zuversicht,
machen des unverbesserlichen Täters. Mit hörbarem auch diese Welt durchsichig zu machen, begreifen
Stolz wurde verkündigt, was die schwedische Krimi- und ordnen zu können.
nalpolitik unter dem Zeichen von Liszts und seines
Über die weite Distanz von fünfzig Jahren, von
Programms verwicklicht hatte: die Überwindung der
sechzig Jahren, man könnte sagen, von achtzig Jah-
Vergeltungsidee, die Hervorkehrung des Gesell-
ren zurückblickend, ist man versucht, mit einer Ab-
schaftsschutzes, die Intensivierung der Sozialpolitik,
die Beibehaltung der Generalpräventionen neben schweifung in die Medizin zu sagen, die wirkliche
einer sorgfältig ausgebauten Individualprävention, Leistung der deutschen Reformbewegung habe in
die Täterbezogenheit jeder Kriminalsanktion, die der Vertiefung und Erweiterung der Diagnose be-
Scheidung des Gelegenheitstäters vom Gewohnheits- standen, der Diagnose des Verbrechens und der
verbrecher, die Erweiterung und Individualiserung Kriminalität, und der aus dieser Diagnose erwach-
des Reaktionssystems, der aus dem Jugendstrafrecht sene ungeheure Zuwachs an soziologischem, psy-
zum allgemeinen Durchbruch gelangte Erziehungs- chologischem und biologischem Erfahrungswissen ist
gedanke, die Einbeziehung heilender und pflegender wohl unverlierbar. Allerdings, die therapeutischen
Maßnahmen und die Differenzierung und Effektivie- Folgerungen und Formeln sind weitgehend überholt.
rung des Strafvollzugs. Aber auch die Diagnose ist schon um einen wesent--
lichen Erfahrungsbereich erweitert worden, den zu
Man fragt sich, wie in derselben Mitte dieses sehen lange die relative Ungeschichtlichkeit jenes
Jahrhunderts dort in Schweden verwirklicht wurde, Aufklärungsdenkens hinderte.
wovon sich Radbruch distanzierte. Was war Rad-
bruch widerfahren und den Schweden nicht, so daß Wenn wir uns also, um die geistesgeschichtliche
jene an dem Reformprogramm gläubig festhielten, Bedeutung und Situation dieses Reformwerks zu
während Radbruch, einmal sein feurigster Bekenner, verstehen, noch einmal fragen, was Radbruch zuge-
so deutliche Vorbehalte machte und Fragezeichen stoßen war, daß er sich so distanzierte, dann würde
setzte? ich sagen: er hatte im Einbruch der Geschichte einen
urzeitlich wilden Staat erlebt, der für Vernunft
Radbruch selbst hatte fast 40 Jahre früher in einer ebenso wenig ansprechbar war wie für Moral. Und
geistreichen kleinen Schrift den Gegensatz zwischen noch tiefer: er hatte erlebt, was der Optimismus und
Sicherungs- und Vergeltungslehre auf eine staats- Fortschrittsglaube der Aufklärung und des Früh-
philosophische Wurzel zurückzuführen versucht und liberalismus und des Spätliberalismus nicht mehr
gesagt, dem Liberalismus, der dem Staat nur einen hatten wahrhaben wollen: das Böse, das abgründig
individualethisch abgeleiteten Wert zuerkenne, ent- Böse, das personifiziert Böse, den verbrecherischen
spreche die Sicherungstheorie; die konservative Menschen, zu dessen Ausdeutung die Formeln von
Staatsauffassung, die dem Staat einen überindivi Anlage und Umwelt nichts aussagen konnten.
duellen Eigenwert beimesse, müsse an der Vergel-
tungslehre festhalten. Nun, das Schema . dieser frü- Diese vielfältige Erfahrung in diesem Jahrhun-
hen Skizze hat Radbruch in seiner Rechtsphilosophie dert, die den Schulstreit zu Beginn des Jahrhunderts
nur noch unsicher wiederholt, und erst recht in wei- und seine Parolen hinter sich gelassen hatte, führte
tern Abstand unserer Sicht nivelliert sich ja der notwendig zu einer Haltung, der es darauf ankam,
Gegensatz zwischen dem, was in jener Skizze liberal die Ideale — und in vielem sage ich: die unverlier-
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3193
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baren Ideale — des neunzehnten Jahrhunderts mit Die Vorstellungen — die veralteten Vorstellun
den bitteren Erfahrungen des zwanzigsten Jahrhun- gen, darf man heute sagen — von der völligen
derts zu verbinden. Das ist eine Haltung, die nicht äußeren und inneren Gebundenheit des Menschen
mehr geneigt ist, dem Sozialtherapeuten „Staat" un- durch äußere und innere Gegebenheiten sind eben
beschränkte Vollmacht zum Strafrecht als Therapie von der Anthropologie her ins Wanken gekommen.
zu geben. Es läßt sich nicht mehr wissenschaftliche Erkenntnis
Stellen wir zur Illustration dessen, was ich da Strafrecht derdemPostulangze,dßim
meine, zwei Formulierungen über den Strafzweck Mensch als sittliche Person angesprochen werden
einadrgüb!BLisztheß: soll und muß. Wer den Menschen determiniert sieht,
so daß ihn eine Verantwortung für sein Tun nicht
Die richtige, d. h. die gerechte Strafe ist die not- trifft, macht ihn zum Objekt irgendeiner Art von
wendige Strafe. Gerechtigkeit im Strafrecht ist Therapie, wie deren Name auch heißen mag; es gibt
die Einhaltung des durch den Zweckgedanken auf diesem Feld zwingende Entsprechungen. Wer
erforderten Strafmaßes. Das völlige Gebunden für den Menschen auch nur relative Freiheit in
sein der Staatsgewalt durch den Zweckgedan- Anspruch nimmt, muß ihm Verantwortung aufbür-
ken ist das Ideal der strafenden Gerechtigkeit. den; wer ihm Verantwortung ganz abnimmt, liefert
ihn ganz irgendeinem Herrn aus, in unserem Zeit-
Nun, die Große Strafrechtskommission hat sich in
alter dem Kollektiv als Sozialtherapeuten. Das war
den ersten Zügen ihrer Arbeit für folgenden Leit-
einmal die Konzeption, die hinter dem Strafrecht
satz ausgesprochen, auf dem sie später aufgebaut
hat: stand, wie es einmal die Konzeption war, die hinter
mehr als dein Strafrecht stand. Der Bestimmung und
Die Strafe soll der Schuld des Täters gerecht Abgrenzung der relativen Freiheit und Unfreiheit
entsprechen. In diesem Rahmen dient sie dazu, in der Einschätzung des Menschen gilt die Ausein-
den Täter wieder in die Gemeinschaft einzu- andersetzung des Jahrhunderts auf diesem Feld des
gliedern, Straftaten zu verhüten und die Allge- Strafrechts und weit darüber hinaus; denn wenn ich
meinheit vor dem gefährlichen Täter zu schüt- auf die Frage antworten müßte, worin die grund-
zen. sätzliche Entscheidung dieses Reformwerkes lag und
liegt, würde ich sagen: Es war zu entscheiden, ob
In diesem Bekenntnis zum Primat des Schuldgedan- das deutsche Strafrecht ein Strafrecht im Sinne der
kens, der den Rahmen bestimmt, innerhalb dessen Überlieferung der Jahrhunderte sein soll, ein Straf-
allein sich der Zweckgedanke auswirken kann und recht, für das die begangene Tat Gegenstand und
darf, liegt für den Bereich des Strafrechts auch die Maß der Strafe ist, oder ob jene anderen Gedanken
entscheidende Einschränkung der Staatsgewalt; denn verwirklicht werden sollten, die darauf hinausliefen,
der Wandel der Anschauungen, der eingetreten ist die Begriffe Schuld und Sühne und Strafe aufzu-
und diesem Reformwerk zugrunde liegt, bezieht sich geben, zu einem nicht tat-, sondern rein täterbezo-
einmal unverkennbar auf die Auffassung vom Staat. genen Schutz- und Handlungsrecht überzugehen und
Man könnte sagen, der alten Gegenüberstellung das Strafrecht im überlieferten Sinne unter der
Staat und einzelner entspreche eine Wandlung in Devise der défense sociale, des reinen Gesellschafts-
der Auffassung vom einzelnen; aber es ist schon schutzes, durch ein Präventionsrecht, ein Vorbeu-
ein Ausdruck dieses Wandels, daß die gewandelte gungsrecht zu ersetzen, ein Präventionsrecht, wel-
Auffassung nicht mehr vom einzelnen spricht, son- ches künftiger Straffälligkeit durch zweckmäßige
dern vom Menschen, und den Menschen zum Gegen- Einwirkung auf den Täter entgegenwirken soll. -
stand hat. Denn der einzelne — das ist auch ein
Begriff und Erbe des Aufklärungsdenkens — ist Diese Grundsatzentscheidung trifft der vorlie-
ein wissenschaftliches Objekt, naturwissenschaft- gende Entwurf in unmißverständlicher Weise. Ich
lichen Gesetzen unterworfen und daher aus den halte auch das noch einmal fest gegenüber jeder
Faktoren Anlage und Umwelt, vielleicht auch aus möglichen Mißdeutung: diese Entscheidung und die-
Anlage oder Umwelt, zu durchschauen, zu berech- ses Bekenntnis sind primär nicht gewesen eine Ent-
nen, vor allem in seiner weiteren Entwicklung und scheidung der Regierung, sondern primär ein Be-
in seinem künftigen Verhalten vorauszuberechnen, kenntnis und eine Entscheidung der Großen Straf-
sobald man nur die Gesetze kennt, nach denen sich rechtskommission, die unabhängig von der Regie-
diese Entwicklung vollzieht. Jenem einzelnen, jenem rung getagt und beraten hat, eine Entscheidung der
Objekt galt das Lisztsche Wort: Repräsentanten des deutschen Strafrechtslebens.
Dieser Entwurf bekennt sich zum Schuldstrafrecht.
Die Begriffe Schuld und Sühne mögen in den der Begründung des Ent- Dasbedut—win
Schöpfungen unserer Dichter weiterleben wie wurfs zu lesen ist —, daß die Strafe, die ein sitt-
bisher, strenger Kritik der geläuterten wissen-
liches Unwerturteil über menschliches Verhalten ent-
schaftlichen Erkenntnis vermögen sie nicht
hält und ,als (solches immer empfunden werden wird,
standzuhalten.
nur dann und grundsätzlich nur insoweit verhängt
Auch darin liegt ein geistesgeschichtliches Ereignis werden darf, als dem Täter sein Handeln sittlich zum
dieser Zeit, daß man sagen kann — darauf ist auch Vorwurf gemacht werden kann. Ohne solchen
in den Beratungen der Großen Strafrechtskommis- Schuldvorwurf in der Begründung strafen zu wollen,
sion schon hingewiesen worden —, daß die Ergeb- würde den Sinn der Strafe verfälschen und sie zur
nisse eben der zuständigen Wissenschaft, auf die sittlich farblosen Maßnahme machen, die zu politi-
man sich einmal berufen hatte, heute in eine ganz schen Zwecken mißbraucht wenden könnte. Dabei
andere Richtung zeigen. ist Schuld im Sinne deis Entwurfsgrundsätzlich die
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Dr. h. c. Güde
Tatschuld, also die Schuld des Täters für die be- mit einem Sacrificium intellectus möglich. Denn noch
gangene Tat, nicht etwa — ein Gedanke, mit dem einmal: das, was die Reformbewegung in acht Jahr-
man gerungen hat — die allgemeine Lebensfüh- zehnten an Gedanken und Erfahrungen, an Diagnose
rungsschuld, wie man vom Ethischen her, und nicht und Therapie des Verbrechens und der Verbrecher
seine Persönlichkeitsdefekte, wie man biologisch eingebracht hat, kann und soll nicht geleugnet wer-
psychologisch, deskriptiv zu formulieren versucht den und kann nicht mehr übersehen werden.
hatte. Der Entwurf zu allerletzt übersieht das. Der Ent-
Darin liegt nach Grundsatz und Konsequenz also wurf sagt zwar, daß die Schuld des Täters die Grund-
die Ablehnung aller jener Gedanken, die durch in lage für die Zumessung der Strafe ist, und bestimmt
halbes Jahrhundert hindurch dahin zielten, nicht damit die Grenzen, innerhalb deren der Strafzweck
wegen der Tat und für die Tat, sondern lediglich berücksichtigt werden kann. Denn der Entwurf sieht
aus Anlaß einer Tat eine ausschließlich oder vor- den Sinn der Strafe nicht allein darin, daß sie die
wiegend nach kriminologischen, sozialpädaigogischen Schuld des Täters ausgleicht — nicht allein —; son-
oder anderen Zweckgesichtspunkten bestimmte dern auch für ihn hat die Strafe zugleich den allge-
Strafe zu verhängen. meinen Sinn, die Rechtsordnung zu bewähren. Sie
kann in diesem Rahmen durchaus dienen und dient
Wenn man — und man sollte es tun — die in der Konzeption dieses Entwurfes kriminalpoli-
Ideengeschichte dieses Gebiets über bald hundert tischen Zwecken, wohlerwogenen, wohlabgewogenen
Jahre hinweg überblickt, glaubt man zu sehen, wie kriminalpolitischen Zwecken, in erster Linie dem
das Pendel nach heftigen Ausschlägen in eine Mittel- Zweck, künftige Straftaten zu verhüten; denn in der
rage zurückgekehrt ist. Die Weisheit der Römer Tat, alles Strafrecht ist zuerst Verbrechensbekämp-
hatte ja die möglichen Gründe und Zwecke der fungsrecht. Das kann dadurch geschehen, daß der
Strafe in jedem klassischen kurzen Satz zusammen- Täter und andere zugleich abgeschreckt werden, der-
gefaßt: quia peccatum, ne peccetur: die Strafe wird artige Taten zu begehen. Es kann nachhaltiger da-
verhängt, weil das Verbrechen begangen worden durch geschehen, daß auf den Täter eingewirkt wird,
ist, aber auch, damit es nicht mehr begangen werde. um ihn der Gemeinschaft wiederzugewinnen und ihn
Die Reformbewegung hat zu einseitig nur das zweite gegen neue Versuchungen innerlich widerstands-
gesehen, den Zweck der Verbrechensverhütung. fähiger zu machen. Es kann .schließlich auch dadurch
Aber in dem „quia peccatum" steckt eine (entschei- geschehen, daß die Allgemeinheit vor dem gefähr-
dende Forderung der Gerechtigkeit. Nur die ge- lichen Täter gesichert wird. All diese Zwecke wer-
rechte Strafe für die begangene Tat läßt dem straf- den zum Teil durch die Strafe selbst erreicht. Sie
fällig , gewordenen Täter die menschliche Würde, in- können aber auch im einzelnen Fall durch Inhalt und
dem es ihm selbst ermöglicht, in der Unterwerfung Maß der Strafe besonders angestrebt werden.
unter eine als gerecht empfundene und als gerecht
hingenommene Strafe seine Schuld zu sühnen. Bei der Entscheidung für dieses Schuldstrafrecht,
das um die Erkenntnisse und Erfahrungen der Re-
Ich bin nicht unnüchtern genug, zu erwarten, daß formbewegung bereichert ist, beruft sich — und auch
das ein Regelfall sein könnte. Aber wer vernünftige das kann ich für mich und meine Freunde nur mit
Menschen straft, die er auch nur beschränkt für frei einem grundsätzlichen Ja begrüßen — der Entwurf
hält, muß sie so strafen, daß sie die Möglichkeit gegenüber aller modernen Skepsis auf die im Volk
haben, sich der Strafe als einer gerechten Strafe zu als Rechtsgemeinschaft lebendige Rechtsüberzeu-
unterwerfen. Die reine Zweckstrafe entwürdigt den gung.
Menschen zum bloßen Objekt der Allgemeininter- Der Begriff der Schuld
essen und des Gemeinschutzes und gibt ihm, da
seine eigene sittliche Entscheidung gar nicht ange- — heißt es in der Begründung —
sprochen ist, auch keine innere Möglichkeit, das ihm ist im Volke lebendig. Ohne ihn gibt es kein
von außen Auferlegte in eigener sittlicher Tat mit Leben nach sittlichen Wertvorstellungen. Ohne
zu vollziehen. Nur das Ideal der Gerechtigkeit, der sittliche Wertvorstellungen ist menschliches
tatvergeltenden Gerechtigkeit, wie schwer es auch Leben aber nicht möglich.
zu erfüllen sein mag, bewahrt den Staat selber vor
dem Verfallen in terroristische Methoden der Ver- Sagen Sie nicht, daß das nur eine Sozialpädagogik
brechensbekämpfung, wie sie hinter uns liegen, und der Regierung sei. Auch Wissenschaftler wie zum
wahrt den Gedanken der Rechtssicherheit, ohne den Beispiel Bockelmann haben im gleichen Sinne
ein menschenwürdiges Leben in einer Gemeinschaft Stellung genommen. Bockelmann begründet zum
nicht möglich ist. Beispiel die Ablehnung des integralen Reformpro-
gramms damit, daß seine Ausführung zu Folgerun-
Deswegen sage ich: was auf den ersten und aller- gen nötigen würde, die das Rechtsgefühl der Ge-
dings oberflä chlichen Blick wie bloße Rückkehr zu meinschaft nicht ertrage; das Rechtsgefühl verlange,
alten Positionen wirken mag, das wieder stärkere daß der Täter — ich zitiere Bockelmann — für seine
Betonen des „quia peccatum" — daß die Strafe die Tat bekomme, was er durch sie verdient habe.
Antwort der strafenden Gemeinschaft auf schuld- Ebenso verlange das Ordnungsbedürfnis der Rechts-
haftes Unrecht ist —, das bedeutet nicht verabsolu- gemeinschaft gebieterisch, daß der Staat dem Täter
tierende Einseitigkeit einer Straftheorie, als ob etwa einen Rechtsbruch nicht hingehen lasse.
der Standpunkt eines nackten Vergeltungsstraf-
rechts, wie er einstmals vertreten wurde, einfach Es mag sein, daß uns mancher das irrationale
wieder aufgenommen würde. Das freilich wäre nur Element in der einen wie in der anderen Äußerung
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3195
Dr. h. c. Güde
entgegenhalten will. Wir müßten darauf vielleicht gesetzbücher sein wird, wenn es einmal vollendet
erwidern, daß es in der Tat ein Irrglauben der Mo- ist.
derne war und ist, einen so elementaren und tief Auch das hat der Herr Minister vorhin mit Recht
gehenden Lebensvorgang wie den des Strafens und auf einen Einwand in der wissenschaftlichen Öffent-
eine bis in den Grund des Glaubens reichende Vor- lichkeit, den Einwand des zu Perfektionistischen, des
stellung wie die der strafenden Gerechtigkeit allein
Dogmatischen, des Streitfragen dogmatisch Regeln-
in der Ratio wurzeln und rein aus der Ratio aus- den erwidert: Der Entwurf steht unter dem Gebot
deuten zu können. Die Verfasser des Entwurfs je- des Grundgesetzes. Das ist ein stärkeres Gebot zur
denfalls haben ihre Entscheidung für das Schuldprin-
Rechtsstaatlichkeit, zur Rechtssicherheit und zur Tat-
zip als Fundament des ganzen Gebäudes angesehen
bestandlichkeit, als es je bisher im deutschen Recht
und aus ihm entschlossen ihre Konsequenzen ge-
zogen. über dem Strafrecht lag. Wir erleben ja gelegentlich
schon jetzt in Verfassungsbeschwerden, daß der
Wenn die Grundfrage gestellt wird: Warum über- Vorwurf mangelnder Tatbestandlichkeit erhoben
haupt Reform?, dann sage ich für mich und meine wird. Und auch das hat der Herr Minister mit Recht
Freunde und für meine Fraktion: Unser Ja beruht hervorgehoben: Es gehört zu den legitimen Auf-
einmal und zu allererst darauf, daß diese Straf- gaben des Gesetzgebers, Richterrecht, das sich durch
rechtsreform — ich sage es noch einmal — trotz Jahrzehnte hindurch entwickelt hat, zu sichern, zu
ihres schlichten Gewandes ein Stück der Rechts- legitimieren und ihm im Gesetzesrecht die letzte
erneuerung nach einer jahrzehntelangen Rechtsver- Klarheit und Bestimmtheit zu geben. Von dort her
wirrung ist, ein Stück der Rechtserneuerung, die ist es nicht nur legitim, sondern auch in der Sache
wir im ganzen zu vollziehen haben, trotz der Trok- berechtigt, daß eine Reihe von Streitfragen im all-
kenheit und Sprödigkeit, trotz jener Gründlichkeit, gemeinen Teil und im besonderen Teil, die bisher
die man Perfektionismus zu schelten gewohnt ist, nur auf Richterrecht standen, durch die Entscheidung
ein echtes Stück Rechtserneuerung, geeignet, die des Gesetzgebers sanktioniert werden.
Irrwege von sechs bis acht Jahrzehnten zu klären
Wir begrüßen an dem Entwurf seinen durchgehen-
und dem deutschen Strafrechtsleben eine solide
Grundlage zu geben. den Willen zur Gerechtigkeit. Wenn ich vorhin ge-
sagt habe, dem alternden, dem alten Radbruch stan-
Der Minister hat vorhin mit Recht den Gedanken den Humanität und Rechtssicherheit als Leitpunkte
zurückgewiesen, daß diese Strafrechtsreform ein für eine künftige Strafrechtsarbeit vor Augen, so
revolutionärer neuer Akt sein müßte. Es heißt: glaube ich sagen zu können, daß diese beiden Ge-
natura non saltat, die Natur macht keine Sprünge. sichtspunkte auch über diesem Entwurf stehen, in
Man könnte auch vom Recht und der Rechts- einem durchgehenden Willen zu sachlicher Gerech-
geschichte sagen: ius non saltat. Gesunde Rechts- tigkeit — Gerechtigkeit zum Beispiel in dem müh-
entwicklungen gehen Schritt für Schritt, und jene seligen Versuch, die Strafzumessung, eines der lei-
Völker, die sich in der Geschichte als besonders digsten Kapitel in der deutschen Strafrechtspflege,
rechtsbegabt erwiesen haben, die Römer und die gleichmäßiger und gerechter zu machen.
Engländer, haben einen ausgesprochenen Sinn für Meine Damen und Herren! Das kriminalpolitische
dieses Schritt-für-Schritt in der Rechtsentwicklung. Programm dieses Entwurfs hat der Herr Minister
bereits in Breite und zugleich Kürze, ich möchte
Nein, Revolution soll man nicht erwarten. Man
sagen, in einer durchaus umfassenden und gründ-
soll auch in der Mitte dieses Jahrhunderts nicht er- lichen Weise dargelegt. Ich will da auf Einzelheiten -
warten, daß etwas völlig Neues geboren wird. Seien
jetzt nicht eingehen. Meine Freunde und ich glau-
wir froh und dankbar, wenn uns dieses Stück
ben, daß gerade von den kriminalpolitischen Ge-
Rechtserneuerung glückt, das zu einem guten Teil
danken her dieser Entwurf ein wohlabgewogenes
das darstellt, was Radbruch mit dem Wort „rück
und geglücktes Ganzes ist.
besinnen" richtig gekennzeichnet hat. Nein, was
dem Entwurf auf dieser geistigen Grundlage, die Das bedeutet nicht, daß wir zu jedem Wort und
meine Freunde und ich aus ganzem Herzen be- jedem Tatbestand des Besonderen Teils uns jetzt
jahen und begrüßen, gelungen ist, ist ein Ausgleich schon mit einem Ja oder Nein festlegen und binden
von gerechtem Strafen und zweckmäßigen Maßnah- wollten. Ich glaube, es wäre etwas Irreales, wenn
men. Denn das Recht dieses Entwurfs — ich habe es wir bei einem so breiten und großen Gesetzgebungs-
vorhin schon einmal gesagt — bringt ja eine Syn- werk ein .Ja oder Nein zu Einzelheiten jetzt schon
these zwischen dem alten Strafrecht und den mo- sagen wollten. Ich möchte fast sagen: ich warne die
dernen Gedanken. Es isst nur scheinbar restaurativ. Fraktionen davor, sich mit Ja oder Nein zu bestimm-
Es lehnt nur scheinbar die modernen Wege von ten Dingen jetzt schon festzulegen. Denn vor uns
vorgestern und gestern ab. Im Grunde führt e s sie steht eine Ausschußarbeit, die allen Ernstes und
aber zu einer fruchtbaren Synthese, von der man aller Unvoreingenommenheit bedarf. Auch der Un-
glauben kann und hoffen darf, daß ihr die Zukunft voreingenommenheit! Ich verschwöre mich weder
gehören könnte. Wenn Sie sich einmal die Mühe für mich selbst noch für meine Freunde, daß wir
machen, den Widerhall dieses Werkes in der aus- etwa den Entwurf in allen seinen Teilen einfach
ländischen Wissenschaft zu verfolgen, so werden akzeptieren. Aber ich möchte jetzt auch nicht, ob-
Sie sehen, daß sich dieses Werk bereits einen stol- wohl hinter uns die einen oder anderen Bedenken
zen Namen in der europäischen Rechtswissenschaft und Wünsche da und dort angemeldet haben, das
erworben und verdient hat, daß es ein vollbürtiges nun in diese Debatte, mit der dieses große Reform-
Kind in der Familie der großen europäischen Straf- werk eingeführt wird, hineintragen. Ich will nur fol-
3196 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963
Dr. h. c. Gilde
gendes sagen — weil das Stichwort dazu auch vor- Diskussion entschlüpft ist und daß er jedenfalls
hin vom Herrn Minister gesprochen worden ist —: nicht zu dieser Publizität der Äußerung steht und
In der Auseinandersetzung der öffentlichen Meinung sicher nicht wünschen kann — denn er ist ein deut-
haben herausgerissene Stücke des Ganzen unter scher Strafrechtslehrer —, daß die Snobs im Lande
dein Motto weltanschaulicher Auseinandersetzungen mit einem derartigen Slogan hausieren gehen, der
eine Rolle gespielt. Meine Damen und Herren, ich im Munde der Snobs hochmütig und dumm ist.
bin der Meinung, daß weltanschauliche Auseinander-
setzungen um dieses Werk der Strafrechtsreform Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Gestatten Sie
nicht geführt zu werden bräuchten, sofern wir alle eine Zwischenfrage? — Bitte!
auf allen Seiten die Grenzen einhalten, die uns da
gesetzt sind. Auch für uns, auch für meine Freunde
und mich gibt es keine unmittelbare Umsetzung
Dr. Müller-Emmert (SPD) : Herr Kollege Güde,
religiöser und ethischer Vorstellungen in Strafrecht. ist es nicht so, daß derjenige, der dieses Wort, das
Keine unmittelbare Umsetzung in Strafrecht, wie- Sie zitiert haben, gesprochen hat, sich gerade wie-
derhole ich auch gegenüber Ihrem Zweifel, Frau der vor kurzem ausdrücklich zu dem Inhalt dieses
Kollegin. — Ich dachte, Sie wollten mich etwas fra- seines Wortes bekannt hat?
gen, und wäre gern zu einer Antwort bereit ge-
wesen. — Dr. h. c. Güde (CDU/CSU) : Herr Kollege, Sie
Auch für uns ist der entscheidende Gesichtspunkt wissen, daß ich ein sanftmütiger Mensch bin, und
Tür die Wertetafel des Strafrechts, für die Tafel der ich werde auch auf diese Provokation den Namen
schutzwürdigen Güter, für die Strafdrohung das Ge- nicht nennen, weil er mir im persönlichen Gespräch
meinwohl, das Wohl der Allgemeinheit, keine un- geschildert hat, wie ihm dieses Wort in einer Dis-
mittelbare Umsetzung aus Religion oder Ethik, die kussion — nun, er hat eine etwas spitze und leichte
nicht aus der Natur der Sache sich schon ergibt, Zunge — entschlüpft ist. Ich möchte nicht seinen
etwa so, daß der Mord straffrei bliebe, um nur ein Namen mit dieser — ich sage es noch einmal —:
extremstes Beispiel zu nennen. Aber im Bereich des Munde der Snobs törichten und dummen — Äuße-
Ganzen vermögen wir mit allen anderen unbefan- rung verknüpfen. Er ist immerhin ein Strafrechts-
gen und ohne Vorurteil abzuwägen, ob eine be- lehrer von Namen. Ich möchte nicht, daß in dieser
stimmte Verhaltensweise unter Strafdrohung ge- Debatte sein Name gerade mit diesem leichtfertigen
stellt werden muß, kann oder darf, nach dem Maß- Wort verknüpft wird.
stab des Gemeinwohls, meine Damen und Herren, Nein, meine Damen und Herren, dahinter steht
des Gemeinwohls, das allerdings auch Ihre und un natürlich ein libertinistischer Snobismus, nicht bei
sere Verantwortung mit umfaßt für die Folgen etwa dem, der es gesagt hat, sondern bei denen, die ihn
des Strafloslassens eines Tatbestandes, der bisher zitieren, und ein Snobismus, der meint, daß man
strafbar war. Dort entsteht eine Verantwortung des alles ablehnen könne, wais aus dem Bereich der
Strafgesetzgebers für die Wirkungen. Ich meine Überlieferung, aus dem Bereich des Glaubens und
eine sittliche Verantwortung des Strafgesetzgebers aus dem Bereich der noch festgehaltenen religiösen
und erwähne jetzt als Beispiel nur die Frage, die Vorstellungen käme.
der Herr Minister vorhin auch angeschnitten hat,
des einfachen Tatbestandes des § 175. In der Straf- Meine Damen und Herren, sich will Sie doch mit
rechtskommission sind die Dinge offen erörtert wor- einem Zitat erfreuen, das besagt: „Art. 1 Abs. 1 des
den unter dem Gesichtspunkt des Gemeinwohls, der Grundgesetzes liefere den wertausfüllenden Maß- -

kriminalpolitischen Zweckmäßigkeit, der Wirksam- stab für alles staatliche Handeln, denn er bestimmt
keit einer Strafdrohung und etwaigen Nebenwir- und beschränkt Staatszweck und Staatsaufgabe, und
kung eines Strafbarlassens. Das alles sind Gesichts- er bestimmt und beschränkt die Legimität von Staat
punkte, die für uns ebenso offen sind wie für Sie, und Recht aus den Werten personaler Ethik." Und
meine Damen und Herren. dann heißt es:
Es wäre gut, wenn in der Öffentlichkeit nicht Man sollte nicht um die Begriffe für diese Wert-
jenes törichte Wort von der Konfessionalisierung fundierung streiten. Man kann auch sagen, daß
dieses Themas wieder aufkäme. Dagegen verwahren Art. 1 Abs. 1 das Naturrecht neuzeitlicher Prä
wir uns. Wir fordern Sie auf, mit uns gemeinsam gung rezipiert habe. Insbesondere wird im
die Verantwortung zu tragen für das Ganze dieses Grundgesetz keine Diskrepanz zwischen christ-
Werkes und für jede einzelne Bestimmung. Das lichem und profanem Naturrecht erkennbar.
ist Ihre Verantwortung, wie es unsere ist, und ge- Und jetzt:
meinsam werden wir überlegen müssen, was sich
aus der einen oder anderen Entscheidung ergibt. Niemals jedoch ist es juristisch, wenn man zur
Interpretation des von der Verfassung rezipier-
(Beifall bei der CDU/CSU.) ten, ihr vorausliegenden Rechts spezifisch christ-
Es spukt im Raume draußen jenes Wort — und liche Lehren verwendet. Die christliche Natur-
das kommt immer gerade in dem Zusammenhang — rechtsauffassung umspannt stets auch die gül-
von der Strafrechtsreform, die ein wenig verstaubt, tige profane Lehre, selbst wenn es letztere ad
moraltriefend, etwas verlogen, von kleinlicher Pe- hoc nicht wahrhaben will. Überhaupt läßt sich
danterie und voller Perfektionismus ist. Ich will den kaum eine moderne laizistische Wertauffassung
Autor nicht nennen, weil ich des Glaubens bin, daß nachweisen, die nicht in ihrem Ursprung in das
diese Äußerung dem Gehege seiner Zähne in einer christliche Wertdenken einmündet. Sollte
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3197
Dr. h. c. Gilde
irgendwo das profane Naturrecht zu Abwei- an gemeinsamen Werten, der aus dem Strafgesetz
chungen vom Christl ichen führen, so ist im entwurf allein ein gültiges Werk machen kann. —
Zweifel nichts anderes als die Überprüfung auf Meine Damen und Herren! Es ist vorhin in der
historische Abfälschungen nötig, um wieder auf Rede des Herrn Ministers auch das Bedenken ange-
die gemeinsame christliche Wurzel zu stoßen. klungen, ob die deutsche Rechtseinheit nicht beein-
Fürchten Sie nicht, daß ich Ihnen ein Traktätchen trächtigt und gekränkt werde, wenn dieses Werk
zitiert habe, sondern ich habe aus dem Kommentar Gesetz werde. Nun, Sie wissen, die Rechtseinheit ist
Maunz-Dürig — und wenn ich mich nicht täusche, gerade in diesem Punkte in Gesetz und Wissen-
ist es Dürig — zum ,Grundgesetz zitiert, und ich schaft, Pseudowissenschaft und Praxis schon lange
meine, Sie sollten die Gänsehaut, die möglicher- genug gekränkt. Nein, umgekehrt muß man, wenn
weise den einen oder anderen ob des Zitats über- man sich an dieses Werk macht, es tun in der Hoff-
laufen hat, wieder vergehen lassen und unbefangen nung, etwas schaffen zu können, was eines Tages
zugeben, daß das ein Positivum dieser Zeit ist und im wiedervereinigten Deutschland als Werk des
sein kann und sein muß, die gemeinsamen Wertvor- freien Deutschlands ein Strafgesetzbuch für ganz
stellungen, die in unserer Gemeinschaft über alle Deutschland sein kann. Und dazu bitten meine
hinweg noch lebendig sind, zu bejahen, zu erkennen Freunde und ich um die Mitarbeit aller.
und sich zu ihnen bekennen. (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg.
Wittrock: Wollen wir nicht erst Mittags
(Beifall in der Mitte.)
pause machen, Herr Präsident?)
Denn ein Strafgesetzbuch und mehr als ein Straf-
gesetzbuch, das ganze staatliche Leben ist nicht mög- Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Ich bedaure
lich ohne einen Fundus gemeinsamer Werte und auf das tiefste, meine Damen und Herren, daß das
Überzeugungen. Haus so miserabel besetzt ist. Der Bundestagspräsi-
Ich will Ihnen dazu auch etwas Friedliches zitie- dent bittet hiermit um Nachsicht für das Haus, daß
ren, den Salzburger Marcic, der sagt: es so schlecht besetzt ist in Anbetracht der Bedeu-
tung der Sache. — Aber ich kann Ihnen das leider
Beim Strafgesetz kommen Werte und deren nicht konzedieren, Herr Kollege Wittrock, Sie müs-
Rangordnung zur Sprache, die noch zu jenem sen jetzt reden. Der Herr Kollege Güde ist gerade
Fundus gehören, der allen dreigroßen Richtun- so einigermaßen mit der Geschäftsordnung hinge-
gen der europäischen Gesellschaft gemeinsam kommen.
ist, dem christlichen Humanismus, dem liberalen
(Abg. Dr. Weber [Koblenz] : Wieso?)
Humanismus und dem sozialistischen Humanis-
mus. Wenn heute in Europa ein Gesetz von der — In § 39 der Geschäftsordnung heißt es: Der ein-
ArtdesSafgzGltuewinb- zelne Redner soll nicht länger als eine Stunde spre-
ginnt, dann kann nicht der erwähnte gemein- chen. —
same Fundus an Werten, der als unbedingte Be- (Abg. Dr. Weber [Koblenz] : Aber nicht bei
dingung jeglicher positiven Normierung solchen der Strafrechtsreform!)
Stoffes vorausgeht, künstlich unterdrückt oder
— Herr Kollege Weber, Sie sind ein großer Rechts-
geleugnet werden.
wahrer. Der Präsident dieses Hauses hat aber sein
Das ist ein Appell an den Fundus gemeinsamer Gesetz, nämlich die Geschäftsordnung, die Sie alle
Werte, ohne den wir dieses Werk in der Tat nicht betrifft, zu wahren. Keine Ausnahme! Und jetzt geht -
zu einem wirklichen und guten Ende führen können. es weiter, sonst kommen wir aus dem Fahrplan.
Es ist das Wort vom Jahrhundertwerk gefallen. Das Wort hat der Abgeordnete Wittrock.
In diesem Jahrhundert sollte man gelernt haben,
(Unruhe in der Mitte.)
bescheiden zu sein.
(Sehr richtig! bei der SPD.) — Was ist das für ein Gemurmel gegen das Prä-
sidium? Das paßt überhaupt nicht in eine so feier-
Ob dieses Werk ein Jahrhundert erreichen wird, liche Sache.
vermögen wir nicht zu sagen, und die Hälfte dieses
Jahrhunderts, in der es entstanden ist, liegt schon
hinter uns. Die Hälfte dieses Werkes besteht nun — Wittrock (SPD) : Herr Präsident! Meine Damen
ich sage es noch einmal und zitiere zu Ihrem Troste und Herren! Es ist gut, daß hier an die Vorarbeiten
—noch einmal Radbruch — im Rückbesinnen auf — erinnert worden ist; der Herr Minister und der Herr
Kollege Güde haben das getan. Ich möchte mich der
(Abg. Wittrock: Warum wollen Sie uns Anerkennung, die dieser Vorarbeit ausgesprochen
eigentlich immer trösten? — Abg. Dr. Mül worden ist, im Namen der sozialdemokratischen
ler-Emmert: Wir haben diesen Trost nicht
Bundestagsfraktion anschließen.
nötig, Herr Kollege!)
(Beifall bei der SPD.)
— Um so besser! Ich bitte um Entschuldigung, wenn
ich Sie — völlig ohne Not — zu trösten versucht Es war gut, daß hier bereits die Gelegenheit
habe. Ich habe es auch, sanft wie ich bin, gar nicht wahrgenommen worden ist, die ganze Größe dieser
verletzend gemeint, sondern es ist mir todernst mit Arbeit, die geleistet wurde, dem Haus und der
jener Bitte, man möge sich besinnen auf allen Sei- Öffentlichkeit deutlich zu machen. Es war gut, daß
ten, und zwar auf allen Seiten durch dieses ganze damit auch deutlich gemacht worden ist, daß die
Haus und durch das Volk hindurch, auf den Fundus Wurzeln dessen, was Gegenstand der Beratungen
3198 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963
Wittrock
des Hauses ist, nicht bloß bis in das Jahr 1951 zu- — Mit dieser Feststellung soll nicht in Abrede ge-
rückreichen, als die sozialdemokratische Fraktion stellt werden, daß der Entwurf in einigen Punkten
des 1. Deutschen Bundestages einen Antrag gestellt das geltende Strafrecht verbessert, Herr Kollege
hat, die Vorarbeiten für die Reform einzuleiten. Es Weber. Solche Verbesserungen sind beispielsweise
war gut, daß hier deutlich wurde, wie weit zurück die nach schwedischem Vorbild vorgeschlagene
in die Strafrechtsgeschichte die Wurzeln dieses Reform des bisherigen Geldstrafenwesens sowie die
Werkes reichen. stärkere Differenzierung der Sanktionsmöglichkeiten
Der Herr Kollege Güde hat hier ein Bild der zur strafrechtlichen Ahndung des Verhaltens ver-
Ideengeschichte des Strafrechts deutlich werden las- schiedener Tätergruppen.
sen. Er hat uns die Strafrechtstheorien in Erinne- Es soll auch festgestellt werden, daß die Autoren
rung gebracht. Ich möchte sagen, daß wieder deutlich des Entwurfs bestrebt sind, gewisse Phänomene
wurde: es gibt kein Entweder-Oder, Herr Kollege unserer Zeit strafrechtlich zu durchdringen, also straf-
Güde, sondern es gibt ein Sowohl-Als-auch. Wir gesetzliche Konsequenzen z. B. aus der Existenz der
befinden uns in einem geschichtlichen Stadium des Atomzertrümmerung und des Tonbands zu ziehen.
Erarbeitens von Synthesen. Dabei haben wir das Über all das läßt sich durchaus reden, meine Damen
Beste dessen, was gedacht worden ist, der Erarbei- und Herren! Es läßt sich jedenfalls darüber eher
tung der Synthese zugrunde zu legen. In diesem reden als über die strafgesetzlichen Bemühungen
Zusammenhang hat das Wort von der „Rückbesin- zur Pönalisierung der künstlichen Insemination oder
nung" — ein Wort von Radbruch —, das Herr Kol- von Indiskretionshandlungen oder dessen, was man
lege Güde hier ausgesprochen hat, auch für uns und doch mit einem mindestens als Nebenwirkung er-
für unsere Arbeit seine große Bedeutung. Es handelt kennbaren pressefeindlichen Akzent als eine Störung
sich um ein Rückbesinnen auf das, was in der Ver- der Strafrechtspflege bezeichnet — § 452 des Ent-
gangenheit erarbeitet worden ist, aber auch auf das, wurfs —. Hier, meine Damen und Herren, muß ein
was Bestandteil der Geschichte dieses Volkes ist. großes und kräftiges Fragezeichen hinsichtlich der
Aber das notwendige Rückbesinnen führt nicht Notwendigkeit und der rechtspolitischen Vertret-
zwingend zu den Schlußfolgerungen des Entwurfs. barkeit einer solchen Erweiterung des Strafrechts
Das möchte ich hier mit aller Deutlichkeit sagen. Ich gesetzt werden.
kann nicht umhin, diese feierliche Stunde nun mit (Sehr wahr! bei der SPD.)
einigen Worten der Kritik zu belasten. Ich habe es
etwas bedauert, daß der Herr Kollege Güde in die- Aber wie wir auch die materiellen Veränderungen
sem Zusammenhang kritische Äußerungen mit einer oder auch Erweiterungen des Bereichs des geltenden
Haltung gleichgestellt hat, die er als Snobismus be- Strafrechts beurteilen mögen, — sie allein recht-
zeichnet hat. Die notwendige Kritik, die ich hier fertigen nicht eine völlige Neukodifizierung unseres
namens der sozialdemokratischen Fraktion vortra- allgemeinen Strafrechts. Wir Sozialdemokraten sind
gen werde, erfolgt durchaus in der Anerkennung der Auffassung, daß diese Veränderungen — in
der gemeinsamen Werte. Es bedarf keines Appells, einzelnen Punkten sind es auch Verbesserungen —
daß wir — denn wir sind offenbar die Adressaten nicht der ganze Inhalt dessen sein können, was man
dieses Appells des Sprechers der CDU/CSU-Fraktion in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts als die
gewesen — uns auf gemeinsame Werte besinnen „Große Strafrechtsreform" bezeichnen darf. Die Ar-
sollten. Oh ja, wir sind uns dieser gemeinsamen beitsmethode der Autoren des vorliegenden Ent-
Werte durchaus bewußt; ich kann das hier ohne wurfs war doch im Grunde die gleiche wie die der
jedes Pathos als eine nüchterne Feststellung sagen. Väter des Strafgesetzbuches des Norddeutschen
Bundes als des Vorläufers des StGB. Damals, am
(Beifall bei der SPD.)
22. Februar 1870, wurde im Norddeutschen Reichstag
Aber diese Anerkennung der gemeinsamen Werte erklärt, die zu dieser Zeit eingebrachte Vorlage sei
enthebt uns nicht der Feststellung, daß auch das nichts anderes als das durch Kommissionsarbeit ver-
Vorhandensein und das Bekenntnis zu den gemein- besserte alte preußische Gesetz.
samen Werten nicht zwingend zu der Schlußfolge-
rung führen muß, eine jede Einzelentscheidung des Genauso — oder mindestens entsprechend —
vorliegenden Entwurfs sei nun zu akzeptieren, und müssen wir heute feststellen: Der Entwurf des Jahres
es sei insoweit der vorliegende Entwurf die erarbei- 1962 ist nichts anderes als eine Neubearbeitung des
tete Lösung, die allein zu akzeptieren sei. geltenden Strafrechts, ergänzt durch einige Ver-
besserungen, verschlechtert durch einige Verände-
(Widerspruch bei der CDU/CSU.)
rungen und — wenigstens in einigen Teilen — be-
Meine Damen und Herren, der vorliegende Ent- lastet durch einen eifernden Perfektionismus, der
wurf eines neuen Strafgesetzbuches verdient durchaus nicht nur in einigen Abschnitten des Besonderen
ein hohes Maß von Anerkennung. Er ist ein — sicher- Teils — denken Sie etwa an die Erweiterung des
lich perfekter — Versuch, das geltende Strafrecht Bereichs dessen, was man als Sittlichkeitsdelikte
und das Gepräge, welches dieses geltende Strafrecht bezeichnet —, sondern auch im Allgemeinen Teil
durch Rechtsprechung und Rechtslehre erhalten hat, ein befremdendes Ausmaß erreicht. Denken Sie z. B.
neu zu durchdenken und neu zu normieren. Insoweit an den umfangreichen Abschnitt über Begrifftsbe-
kann man sagen: der vorliegende Entwurf ist eine stimmungen. Wir müssen feststellen, daß in diesem
Art Bestandsaufnahme auf dem Gebiet des Straf- Abschnitt der vorliegende Entwurf einen fast lehr-
rechts. buchartigen Charakter zeigt. Wir fürchten — das
(Abg. Dr. Weber [Koblenz] : Ein bißchen ist eine rechtspolitische Sorge —, daß ein so stark
wenig!) ins einzelne festlegender Katalog, in diesem Falle
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3199
Wittrock
von Begriffsbestimmungen, dazu führt, daß die Bitte, verehrte Frau Kollegin Diemer-Nicolaus,
immer notwendige Rechtsentwicklung erstarrt. Ich schauen Sie sich beispielsweise die strafgesetz-
will das nur als Beispiel für das anführen, was lichen Regelungen in anderen westeuropäischen
ich als eine Tendenz zum Perfektionismus bezeich- Ländern an! Sie werden feststellen, daß es in die-
nen möchte. Wir fürchten also, daß eine solche ser westlichen, europäischen Rechtsgemeinschaft
Katalogisierung — übrigens eine unvollständige Verhaltensweisen gibt, die nicht notwendigerweise
Katalogisierung, sie kann nämlich niemals vollstän- pönalisiert zu werden brauchen, so wie das der
dig sein — von Begriffsbestimmungen direkt schäd- Entwurf tut. Es besteht also über das hinaus, was
lich ist. der Entwurf an einzelnen Stellen tut, durchaus
Raum, den Rechtsgedanken zu verwirklichen — das
Für die Kollegen, die sich diesen Entwurf noch
ist keine kleinliche Mäkelei, Herr Kollege Dr.
nicht so anschauen konnten, nur zwei Beispiele!
Weber —: „so wenig Strafrecht wie möglich",
Was soll eine Begriffsbestimmung, in der es etwa
um auf diese Weise die Autorität eines solchen
heißt: Ausland ist alles das, was nicht Inland ist?
Gesetzes so weitgehend wie möglich zu steigern.
(Zuruf von der Mitte.)
(Beifall bei der SPD.)
— Bitte, das finden Sie im Katalog! — Oder was soll Aus dieser Erwägung ergibt sich ein Appell zur
eine Begriffsbestimmung, in der inhaltlich nichts Selbstbescheidung des Gesetzgebers; denn das ist
anderes steht als folgendes: Absichtlich handelt, die beste Voraussetzung dafür, verehrter Herr Kol-
wem es darauf ankommt, ein absichtliches Handeln lege Dr. Güde, uns auf einer gemeinsamen Basis
zu verwirklichen? treffen zu können. Die Entscheidungen, die der Ge-
Es wäre also schon ein Schritt in Richtung auf setzgeber zu treffen haben wird, müssen auf einer
eine echte Reform, wenn der 'Entwurf in den Aus- Basis getroffen werden, die man als einen gemein-
schußberatungen entrümpelt werden könnte. samen Nenner bezeichnen kann, auf dem sich alle
Teile dieser pluralistischen Gesellschaft zu treffen,
(Zuruf von der Mitte: Oho!)
zu finden vermögen. Für Mehrheitsentscheidungen,
— Bitte, Herr Kollege, das ist die Konsequenz aus mit denen ein Teil der Vertreter dieses konfessio-
dem, was ich trotz der Feierlichkeit der Stunde kri- nell, weltanschaulich gespaltenen Volkes seine The-
tisch ausgeführt habe. Das rechtfertigt das Wort sen der Gesamtheit der Rechtsgemeinschaft aufzu-
„entrümpeln". erlegen versucht, darf deshalb kein Raum sein, und
ich entnehme dem, was der Sprecher der CDU/CSU-
Man müßte dann auf diesem Wege fortfahren,
Fraktion hier bezüglich der Gemeinsamkeit ausge-
wobei der Leitgedanke dieser Arbeit zu sein hätte:
führt hat, daß das auch seine Auffassung ist. Es
So wenig Strafgesetz wie möglich! Die Autorität
darf hier nicht auf der Basis von Mehrheitsentschei-
des Strafgesetzes wächst, wenn sich der Gesetz-
dungen entschieden werden, wenn es in die Bera-
geber darauf beschränkt, nur das als kriminelles
tung hineingeht. Das neue Strafrecht kann aber,
Unrecht auszuweisen, was, Herr Kollege Güde, nach
wenn man das, was Sie selber hier ausgeführt ha-
der gemeinsamen Auffassung des ganz überwiegen-
ben, verwirklichen will, nur eine Summe ganz nüch-
den Teils der Rechtsgemeinschaft kriminelles Un-
terner gemeinsamer Entscheidungen über das sein,
recht ist.
was notwendig und was zweckmäßig ist, die Rechts-
güter der Gemeinschaft und des einzelnen zu schüt-
Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Gestatten Sie zen, und zwar diejenigen Rechtsgüter, Frau Kollegin
eine Zwischenfrage der Frau Kollegin Diemer- Diemer-Nicolaus, die nach gemeinsamer Auffassung
Nicolaus? schutzbedürftig und schutzfähig sind. Sie werden
Gelegenheit dazu haben, sich ergänzend auch noch
mit der Literatur vertraut zu machen, um festzustel-
Wittrock (SPD) : Bitte sehr! len, was da noch getan werden kann. Dann werden
Sie nämlich solche Zwischenfragen wie vorhin nicht
Frau Dr. Diemer-Nicolaus (FDP) : Herr Kollege stellen.
Wittrock, da Sie selber leider nicht an den Bera- (Sehr gut! bei der SPD.)
tungen der Strafrechtskommission teilgenommen ha- Von dieser Position her ergibt sich die Forderung
ben, möchte ich Sie fragen: Haben Sie außer der nach einem strafgesetzlichen Minimalprogramm, das
Begründung zu dem Entwurf auch die Protokolle nicht in die persönliche Intimsphäre hineinragt, zu-
über die Verhandlungen gelesen, und sind Sie mal — ein wichtiger kriminalpolitischer Punkt —
trotzdem noch der Auffassung, daß hier „entrüm- eine jede Pönalisierung von Vorgängen in dieser
pelt" werden müßte und daß Bestimmungen prak- Intimsphäre nur die Quelle neuer Kriminalität —
tisch ohne Sinn und Verstand in den Entwurf ge- man denke an Erpressungshandlungen — ist.
kommen sind?
Ein solches strafrechtliches Minimalprogramm zu
schaffen, lohnt sich, meine Damen und Herren, und
Wittrock (SPD) : Frau Kollegin, ich bin dieser es wirkt sich in seiner Nüchternheit auf die gele-
Auffassung und habe für diese Auffassung einen gentlich exzessive höchstrichterliche Rechtsprechung
Beweis geführt in dem Rahmen, in dem das in der aus.
ersten Lesung möglich ist. Meine Damen und Herren, wenn ich hier
(Abg. Dr. Weber [Koblenz] : Das waren von exzessiver, moralisierender höchstrichterlicher
aber kleinliche Bemäkelungen!) Rechtsprechung rede — es gibt dafür einige Bei-
3200 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963

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spiele —, dann denke ich beispielsweise an Ent- tretungen zeigen, daß noch mehr zur Entlastung des
scheidungen, die in pharisäischer Weise Strafgesetzbuches zu tun ist. Wir halten das für
(Widerspruch bei der CDU/CSU) einen Weg, der die Autorität des Gesetzes hebt,
und auf diese Weise wird auch die Autorität des
— jawohl! — sogar die intimen Beziehungen kurz Richters gehoben, der berufen ist, das Gesetz anzu-
vor der Eheschließung stehender, ernsthaft Verlob- wenden.
ter mit dem Makel der Unzuchtshandlung versehen.
Ich denke an eine Rechtsprechung, die eine aus per- Unter diesem allgemeinen Gesichtspunkt der Ein-
sönlicher Not verlangte und vollzogene Sterilisa- schränkung der Sphäre des Strafrechtlichen vermis-
tion als unsittlich deklariert, während im übrigen sen wir in dem Entwurf auch jeden ernsthaften Ver-
such, die Zahl der Verurteilungen im Rahmen des
das gleiche Gericht dem Ärgernis der in gewissen
Gemeinschaften gepflegten Mensuren seinen Segen Möglichen zu reduzieren. Obgleich nämlich die Sta-
tistik ausweist — ich verweise hierzu auf die Aus-
erteilt.
führungen in dem Juni-Heft 1962 von „Wirtschaft
Meine Damen und Herren, gerade im Hinblick auf und Statistik" —, daß die Zahl der Verurteilungen
diese Tendenz zur Moralisierung auch in der Recht- wegen aller Delikte, die keine Verkehrsdelikte sind,
sprechung lohnt es sich, ein nüchternes Minimalpro- seit dem Jahre 1900 um fast 25 % abgenommen hat,
gramm zu schaffen. Das lohnt sich auch deshalb, ist die Zahl der Verurteilungen aber auch heute
weil die Verwirklichung eines solchen Programms noch erschreckend hoch. So errechnen die Statisti-
das Strafrecht von allen Tatbeständen befreit, die ker, daß auf 100 000 Männer, die das 60. Lebens-
mehr den Charakter des Polizeiwidrigen und weni- jahr erreicht haben, 78 000 Verurteilungen entfal-
ger den des kriminellen Unrechts tragen. len, und zwar ohne Verkehrssachen. Gewiß, diese
(Abg. Dr. Dr. h. c. Dresbach meldet sich zu Zahl enthält auch mehrfache Verurteilungen ein
einer Zwischenfrage.) und derselben Person. Auch wenn man dies berück-
sichtigt, ist aber die Zahl der betroffenen Personen
— Ich weiß, Herr Kollege, daß Ihnen das nicht ge- erschreckend hoch.
fällt. Ich habe dafür auch volles Verständnis, und
aus diesem Grunde begrüße ich es, daß Sie eine (Zuruf von der FDP: Das ist doch unmöglich!)
Zwischenfrage stellen wollen.
— Das ist nicht unmöglich. Lesen Sie nach im Juni
Heft „Wirtschaft und Statistik"!
Dr. Dr. h. c. Dresbach (CDU/CSU) : Herr Kol-
lege, ich wollte fragen, ob Sie die Mensur und die (Abg. Dr. h. c. Güde: Von 100 000
Unzucht auf eine Stufe stellen wollen. Personen 78 000?)
(Heiterkeit bei der CDU/CSU.) — Auf 100 000 Personen entfallen 78 000 Bestrafun-
gen, und zwar wenn das Alter von 60 Jahren erreicht
ist. Natürlich sind auch Doppelbestrafungen in die-
Wittrock (SPD) : Herr Kollege Dr. Dresbach, ich
habe hier von dem Beurteilungsmaßstab, den der ser Zahl enthalten, so daß die Ziffer der betroffenen
Bundesgrichtof'wkla,gesprchnud Personen sich etwas reduziert, vielleicht auf 50 000;
ich betrachte es als einen zumindest bedenklichen ich weiß es nicht.
Zustand, wenn dieser gleiche Maßstab bei der Be- (Anhaltende Unruhe bei der CDU/CSU
urteilung der von mir erwähnten Sachverhalte der und rechts.)
Sterilisation und des Intimverhaltens von ernsthaft -
Verlobten zu einem negativen Ergebnis führt, wäh- Diese Zahl ist im Grunde das Ergebnis des Dog-
rend man die ein Ärgernis bildende Mensurpraxis mas vom staatlichen Strafanspruch, der seinen
gewisser Gemeinschaften mit dem Segen der Sitt- Tribut fordert ohne Rücksicht auf die Interessen des
lichkeit versieht. Das meine ich, Herr Kollege Dr. Verletzten, ohne Rücksicht auf die Schwere der Tat,
Dresbach. ohne Rücksicht auf die vielleicht erfolgte Wieder-
gutmachung des durch die Tat bewirkten Schadens,
ohne Rücksicht auf die etwaige Verzeihung des Ver-
Dr. Dr. h. c. Dresbach (CDU/CSU) : Darf ich noch letzten.
eine Frage stellen? Werden Sie mir dauernd zür-
nen, wenn ich Ihre Vergleiche doch als bei den Der Entwurf bleibt, indem er auf der unabding-
Haaren herbeigezogen erkläre? baren Anerkennung des Prinzips des staatlichen
Strafanspruchs beruht, insoweit ganz in den bisheri-
(Heiterkeit bei der CDU/CSU.) gen Bahnen. Zwar wird in der Begründung darauf
hingewiesen, daß die Belange des einzelnen den
Wittrock (SPD) : Sie haben nach Art. 38 des Vorrang vor den Belangen des Staates haben, aber
Grundgesetzes das Recht, sich ein Urteil zu bilden, wir sind der Auffassung: man ist hier nicht kon-
wie es Ihnen gefällt. sequent. Es ist nicht damit getan, daß man in der
(Heiterkeit bei der SPD.) Reihenfolge der Abschnitte des Entwurfs den Schutz
der Rechtsgüter des einzelnen vor dem Schutz der
Meine Damen und Herren, der vorliegende Ent- Rechtsgüter des Staates regelt und das dann als eine
wurf macht in der Beschränkung des Bereichs des besondere Errungenschaft ansieht. Für den durch
Strafrechtlichen insoweit einen gewissen Anfang, eine strafbare Handlung, also etwa durch ein Eigen-
als eine Reihe von bisherigen Übertretungstatbe- tumsdelikt Verletzten ist das, was der Entwurf,
ständen aus dem Strafgesetz entfernt wird. Aber jedenfalls gedanklich, entscheidend betont, nämlich
die verbleibenden Tatbestände der bisherigen Über der staatliche Strafanspruch, in aller Regel völlig
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3201
Wittrock
uninteressant. Das Interesse des Verletzten ist auf er den Keim neuer Kriminalität in sich trägt. Des-
das gerichtet, was der Entwurf doch recht stief- halb ist gelungene Resozialisierung des einmal straf-
mütterlich behandelt, nämlich auf die Wiedergut- fällig gewordenen Menschen der beste Schutz der
machung des Schadens, die ja im übrigen durch das Gemeinschaft und des einzelnen vor künftiger
oft sehr kostspielige Strafverfahren praktisch ver- Kriminalität. Anders formuliert, jeder Freiheitsent-
eitelt wird. zug, jedenfalls der befristete Freiheitsentzug, auch
wenn er in erster Linie die Gesellschaft vor dem
Aus diesen Überlegungen ergeben sich Ansatz-
verurteilten Täter sichern soll, muß von dem sitt-
punkte für einen Beitrag zu einer echten Reform,
lichen Prinzip getragen sein, daß der in die Freiheit
die durchaus natürlich von dem Mut zu besseren
zurückkehrende Mensch als ein gemeinschaftsfä-
Lösungen getragen sein muß. Es muß versucht wer-
higer Mensch in die Gesellschaft zurückkehrt. Das
den, im Bereiche der kleineren Kriminalität dem
ist die beste Sicherung vor der ständigen Gefahr des
Institut des Strafantrags mehr Raum zu geben. Das
Rückfalls des einmal straffällig gewordenen Täters,
Institut der tätigen Reue ist weiter als bisher aus-
die der Gesellschaft gegeben werden kann. Es lohnt
zubauen. Auch der Gedanke der Verzeihung des
sich, und zwar im wohlverstandenen Interesse der
Verletzten oder der Gedanke der strafbefreienden
Gesellschaft, bei jedem Verurteilten an den Tag der
Wirkung der Wiedergutmachung — gegebenenfalls
Rückkehr in die Freiheit zu denken und alle Ein-
verbunden etwa mit einer dem Verletzten zukom-
wirkungsmöglichkeiten danach zu bestimmen. Das
menden Buße —, all diese Erwägungen verdienen
ist der beste Damm gegen eine jede Kriminalität.
nach unserer Auffassung stärkeres Gewicht. Es wäre
Das sind nüchterne Erwägungen. Es wäre begrü-
sicherlich etwas Neues, aber wir sind der Meinung,
ßenswert, wenn wir uns auf einer so nüchternen
es wäre ein Schritt nach vorn.
Basis verständigen könnten.
(Abg. Dr. Weber [Koblenz] : Den Schritt Aus dieser Erwägung halten wir Sozialdemokra-
haben wir doch gestern gemacht!) ten bei der befristeten Freiheitsstrafe —bei der
— Damit allein ist es nicht getan, Herr Kollege befristeten, betone ich — nichts von der Unterschei-
Weber. Ich habe weitere Institute erwähnt, die aus- dung zwischen Gefängnis und Zuchthaus. Es ist un-
gebaut werden müssen. Ich freue mich, daß Sie dem bestritten, daß es im Strafvollzug keine wesent-
zustimmen, daß ein Ausbau dieser weiteren Institute lichen Unterschiede zwischen beiden Arten der
in Erwägung gezogen werden muß. Beispielsweise Strafe gibt. Übrig bleibt deshalb allein die beson-
muß die Erweiterung des Instituts des Strafantrages dere Schärfe des Makels, der dem Zuchthäusler an-
im Strafgesetzbuch erfolgen, und die Erweiterung haftet, also das Stigma der Ehrlosigkeit. Das ist das
des Rechtsinstituts der tätigen Reue muß im Straf- einzige, was bei der Differenzierung zwischen Zucht-
gesetzbuch festgelegt werden. Wenn man das tut, haus- und Gefängnisstrafe übrig bleibt. Aber die
dann ist das ein wirklicher Schritt nach vorn. Es brennende Schärfe dieses Makels fühlt der Ver-
wäre ein Beitrag zu einer Gesamtreform. Es wäre urteilte erst nach seiner Rückkehr in die Freiheit als
nicht nur eine Teilreform. Teilreformen vollzieht der ein alter Zuchthäusler. Dann reift der Keim neuer
jeweilige Gesetzgeber — wir haben es gehört — Kriminalität mit ihren neuen Gefahren für die
seit mehreren Jahrzehnten. Rechtsgüter des einzelnen und der Gemeinschaft.
Aus dieser wohlverstandenen Überlegung, nicht aus
Ich möchte hier einmal — nicht mit Blickrichtung dem, was man gelegentlich als Humanitätsduselei
auf die bisherigen Sprecher, aber mit Blickrichtung oder ähnlich bezeichnet, sind wir Sozialdemokraten
auf das, was gelegentlich in der Öffentlichkeit ge- der Auffassung, daß die Belange der Gesellschaft
sagt wird — darauf hinweisen: es ist einfach falsch, und auch der einzelnen, aus denen die Gesellschaft
wenn so getan wird, als sei das Strafgesetzbuch von besteht, es gebieten, die Unterscheidung zwischen
1871 zu reformieren. Das heutige Strafgesetzbuch ist Gefängnisstrafe und befristeter Zuchthausstrafe fal-
— wir haben es gehört, und wir wissen es — nicht len zu lassen. Die Durchsetzung dieses Gedankens
mehr das der Wilhelminischen Epoche. Aber wenn wäre ein Stück echter Reform.
man es einer Gesamtreform unterziehen will, dann
verdienen die bisher vorgetragenen Anregungen Meine Damen und Herren, in diesem Zusammen-
besondere Beachtung. hang ist noch zu bemerken, daß die zur Resozialisie-
rung notwendige Einwirkung auf den Verurteilten
Sie werden zugeben, die Verwirklichung dieser nicht 'in einem Monat vollzogen werden kann. —
Anregungen entlastet die Gerichte und erlaubt dem Ich denke an ,die Mindestgefängnisstrafe von einem
Richter, den Blick für das wahrhaft Wesentliche frei- Monat. — Es ist deshalb unverständlich, daß der
zuhalten. Das ist auch ein Reformanliegen. Die Ver- Entwurf eine solche Mindestgefängnisstrafe zulas-
wirklichung entlastet auch die Vollzugsanstalten sen will, obgleich die Gefängnisstrafe an sich dazu
und deren Personal und eröffnet damit die Möglich- bestimmt ist, eine Möglichkeit zur Resozialisierung
keit, sich besser und wirkungsvoller der Aufgabe zu zu eröffnen —. Es ist natürlich schwer, ohne weiteres
widmen, dem außerhalb der Gemeinschaft befind- ein anderes Mindeststrafmaß anzugeben, welches
lichen Verurteilten eine neue Chance des Starts als für die Erfüllung des notwendigen Resozialisierungs-
ein vollwertiges Glied der Gemeinschaft zu ver- zweckes notwendig ist; aber immerhin sollte Iman
mitteln. in den Beratungen eine Mindestgefängnisstrafe von
Hier liegt die vornehmste Aufgabe, die ein Frei- sechs Monaten in Erwägung ziehen. Jedenfalls. wäre
heitsentzug zu erfüllen hat. Freiheitsentzug ohne eine solche Lösung diskutabler und sinnvoller als
eine gelungene Resozialisierung bewirkt bei dem die im Regierungsentwurf vorgesehene Mindest-
entlassenen Strafgefangenen nichts anderes, als daß gefängnisstrafe.
3202 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963

Wittrock
In Zusammenhang damit erheben wir die rechts- ser jungen Menschen in das Berufs- und Sozialleben
politische Forderung, überhaupt die kurzfristigen durch geeignete Maßregeln und Einrichtungen und
Freiheitsstrafen abzubauen. Den bereits bestehen- Einwirkungsmöglichkeiten wäre das beste Mittel
den Instituten der Strafaussetzung zur Bewährung zum Schutz vor ich wiederholender Kriminalität.
und der bedingten Entlassung, die ja der Entwurf so
An dieser Stelle weise ich vor allem darauf hin,
gut wie unverändert übernimmt, ist mehr Raum zu
daß sich in diesem Bereich Kriminalpolitik und So-
geben, als das in dem Entwurf geschieht, natürlich
zialhilfe berühren. Es gehört zu den Mängeln dieses
mit der Maßgabe von Auflagen und Weisungen.
Entwurfs, daß er hierzu im wesentlichen schweigt.
Auch das wäre ein Weg, von der Inflation kurzfristi-
Wir sind der Meinung, es muß in den weiteren Be-
ger Freiheitsstraffen loszukommen. Die Statistik
ratungen, gerade weil wir es hier mit einer Gesamt-
zeigt, daß von den 550 000 Menschen, die pro Jahr
reform zu tun haben, diesen Überlegungen größte
strafgerichtlich verurteilt wenden, gegen fast 150 000
Aufmerksamkeit gewidmet werden.
Freiheitsstrafen verhängt werden, wobei es sich
überwiegend um kurzfristige Freiheitsstrafen han- (Beifall bei der SPD.)
delt. Was soll diese Freiheitsstrafeninflation, zumal
Hierzu und überhaupt zu den differenzierten
d ie Begründung des Regierungsentwurfs auf Seite
Möglichkeiten, auf straffällig gewordene Menschen
165 über die kriminalpolitischen Nachteile der kurz-
mit dem Ziel ihrer vollwertigen Wiedereingliede-
fristigen Freiheitsstrafe feststellt, sie setzte den
rung einzuwirken, muß sich der Gesetzgeber äußern.
Gestrauchelten der Gefahr krimineller Ansteckung
Dabei muß, das habe ich ja bereits zum Ausdruck
aus?
gebracht, der Leitgedanke sein, möglicher Krimi-
Hier liegt ein Problem, meine Damen und Herren, nalität vorzubeugen. Das ist wichtiger als jede kri-
das im Zuge der Reform angepackt werden muß. minalpolitische Ideologie.
Wir sind der Meinung, daß die Lösungen, die sich
Diesem Ziel, durch differenzierte Einwirkung bei
aus dem Entwurf ergeben, unzureichend sind. Wäh-
den verschiedenen Tätergruppen eine Wiederein-
rend nach dem Entwurf die Gefängnisstrafe, die
gliederung zu bewirken, kann man natürlich nicht
also an sich dem Resozialisierungszweck dienen
mit den klassischen Einheitsanstalten näherkommen.
soll, bis in den Bereich von einem Monat, also in
Es sind deshalb unterschiedliche Einrichtungen und
den Bereich, in dem eine Resozialisierung ja nicht Anstalten erforderlich. Sie zu schaffen, ist Sache
in Betracht kommt, hineinragt, reicht der Rahmen der Länder. Der Bundesgesetzgeber kann nur das
der Strafhaft, die ja eine Besinnungs- older Denk kriminalpolitische Programm festlegen — also wel-
zettelhaft sein soll, bis an die Grenze von sechs Mo che Sanktionsmöglichkeiten, welche Einwirkungs-
naten heran. Was soll das — so fragen wir — bei möglichkeiten er vorsehen will —, und er muß die-
bloßen Fahrlässigkeitstätern, oder was soll das bei ses kriminalpolitische Programm mit Vorrang schaf-
nicht für kriminelles Handeln anfälligen Personen, fen, damit die Länder sich auf die Konsequenzen
die nur einen Denkzettel verdienten? Eine größere einstellen können. Das hat ja auch der Herr Bundes-
Beschränkung des Denkzettelrahmens — wobei man minister der Justiz hier zum Ausdruck gebracht.
etwa an ein Höchstmaß von vier Wochen denken
könnte — wäre sinnvoller, wobei man sich gleich- Das bedeutet praktisch, daß der Bundestag in den
zeitig im Katalog der Auflagen und Weisungen Beratungen, die sich ja sicherlich über zwei Wahl-
durchaus weitergehende Möglichkeiten einfallen perioden erstrecken werden, zunächst die hier in
lassen oder in Erwägung ziehen könnte, als dies Betracht kommenden Bestimmungen des Allgemei- -
der Entwurf tut. nen Teils behandeln sollte, damit rechtzeitig das
kriminalpolitische Programm wegen der Maßnah-
Meine Damen und Herren! Die Lösung des Pro- men, die dann die Länder zu treffen haben, fest-
blems des Verhältnisses von Strafen und Maß- steht.
regeln zueinander wind im übrigen eine der wich-
tigsten Aufgaben sein, vor denen die Träger der Damit ist zeitlich ein gewisser Gleichklang einer
weiteren Gesetzgebungsarbeit stehen werden. Hier Reform des Strafvollzuges mit der Reform des ma-
kann nur der allgemeine Gedanke vorgetragen wer- teriellen Strafrechts aufgezeigt. Es ist beklagens-
den, daß grundsätzlich vor jeder Strafe die Maßregel wert, daß alle Welt nur von der Strafrechtsreform
den Vorrang verdient, weil sie geeignet ist, als ein spricht, ohne gleichzeitig die so notwendige Re-
besonderer Ausdruck gezielten Handelns den Ver- form des Strafvollzuges zur Kenntnis zu nehmen.
urteilten auf die Wiederaufnahme in die Gemein- Es ist beklagenswert und es muß tin diesem Hohen
schaft freier Menschen vorzubereiten. Hause zur Kenntnis genommen werden, wenn Prak-
tiker des Strafvollzuges darauf hinweisen müssen,
Hier muß vor allem noch besondere Aufmerksam- daß die Strafvollzugsanstalten Ansteckungsherde
keit den Möglichkeiten gewidmet werden, die der der Kriminalität seien. Nehmen Sie bitte zur Kennt-
Gesetzgeber zur wirksamen Einwirkung auf jüngere nis, meine Damen und Herren, daß es kürzlich de-
Täter schaffen kann. Die insoweit durchaus unbe- monstrativen Beifall gab, als bei einer Tagung in
stechliche Statistik zeigt, daß besonders häufig Regensburg der Strafvollzug für weibliche Minder-
junge Menschen etwa Anfang der zwanziger Jahre jährige als ein glatter Skandal bezeichnet wurde.
straffällig werden. Wieviele befinden sich unter die- Wir Sozialdemokraten ziehen hieraus die Konse-
sen jugendlichen Tätern, die straffällig werden, quenz: die Reform des Strafvollzuges ist und muß
weil sie in dein für sie beginnenden Berufsleben ein entscheidender Bestandteil einer echten Gesamt-
gescheitert sind! Die systematische Einordnung die reform sein.
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3203
Wittrock
Zur Reform des Strafvollzuges muß auch die rung des Strafrechts zu schaffen, Umschau halten.
Hebung des sozialen Status und der Leistungsfähig- Es genügt nicht, wenn wir so tun, als trage jeder
keit der im Strafvollzug und in der Bewährungshilfe Deutsche auch jenseits der Grenzen sein besonderes
tätigen Menschen gehören. Strafgesetzbuch bei sich im Gepäck. Der Entwurf
Es gibt übrigens Dinge, die man bereits heute in seiner ganzen Strenge ignoriert die strafrechtliche
tun kann, wenn man es will, und die man tun muß, Entwicklung und die strafrechtliche Situation in an-
weil sie bereits in einem Sachzusammenhang zu deren europäischen Ländern.
einer Reform des gesamten Rechtsgebietes des Straf- Meine Damen und Herren, nüchtern und recht
rechts in einem umfassenden Sinne stehen. Reform- pragmatisch werden die Sozialdemokraten in die
bedürftig und auch schnell reformierbar ist beispiels- weiteren Beratungen gehen. Wir werden nicht über
weise das System der Vergütung von Gefangenen- Schuldprinzip oder „défense sociale" streiten. Die
arbeit. Das gegenwärtige System der Arbeitsent- gemeinsame Basis, auf der wir stehen, ist das Grund-
lohnung dient zwar fiskalischen Belangen, es gibt gesetz und sein Bekenntnis zur Würde des Men-
aber dem Täter weder die Möglichkeit, einen durch schen.
die Straftat bewirkten Schaden wiedergutzumachen,
noch erleichtert es ihm den Wiedereintritt in die Die Anerkennung dieser Würde des Menschen
Gemeinschaft freier Menschen. verpflichtet den einzelnen, sein Tun und Handeln zu
Zu den Dingen, die man heute schon tun kann, verantworten. Die Anerkennung der Würde des
wenn man es will, und die man tun sollte, damit Menschen verpflichtet aber auch die Gemeinschaft,
man auf diesem Gebiete vorwärtskommt, gehört eine jedem einzelnen eine Chance zu geben, auch die
Reform des Straftilgungs- und des Strafregister- Chance, sich dem Guten zuzuwenden, wenn ihn das
wesens. Es gleicht einer Verhöhnung auch des Sühne- Böse beherrscht hat. Auf dieser Grundlage anerken-
gedankes und des Gedankens, daß neue Kriminalität nen und bejahen wir die Verpflichtung des Gesetz-
durch eine Wiedereingliederung vermieden werden gebers, ein Strafrecht zu schaffen, das dem Geiste
kann, wenn ein Mensch nach Verbüßung etwa einer des Grundgesetzes entspricht und damit dem Wohle
Gefängnisstrafe von drei Monaten zwei Jahrzehnte des Volkes dient.
lang mit dem Makel des Vorbestraften durch das Es wird gelegentlich die Frage nach der Berufung
Leben gehen muß. Wieviel gemeinschaftsschädliche dieser Zeit zu einer solchen Gesetzgebung gestellt.
seelische Bedrängnis wird hier geschaffen mit der Mein Vorredner hat sie hier auch berührt. Eine
Gefahr neuer Kriminalität! Meine Damen und solche Frage wird immer gestellt, und sie ist zu allen
Herren, es lohnt sich, bei all diesen Fragen den Zeiten gestellt worden. Aus dem Protokoll der
Hebel anzusetzen, und es lohnt sich, hierbei be Reichstagssitzung vom 5. Mai 1871 können wir ent-
sondere Aufmerksamkeit den Erfordernissen einer nehmen, daß sie, als es um den gleichen Sachgegen-
Reform des Strafvollzuges zu widmen, so wie das stand ging, auch in der damaligen Zeit gestellt
die Sozialdemokraten bereits seit den 70er Jahren wurde. Eine Antwort auf die Frage, ob diese Zeit zu
des vorigen Jahrhunderts gefordert haben. einer solchen Gesetzgebung berufen ist, kann erst
Auf dieser Gesamtbasis bejahen wir eine um- dann gegeben werden, wenn das vollendete Werk
fassende Reform, nicht erst heute und jetzt. Bera- vorhanden und zu sehen ist. Das Ergebnis der
tungsgrundlage wird der Regierungsentwurf sein. Arbeit, die Bewährung des Gesetzgebers, wird der
Aber bei aller Anerkennung, die wir dem Sachver- Maßstab für das Urteil über die Berufung zur Ge-
stand der Juristen zollen, denen wir den Entwurf setzgebung sein. -

verdanken, muß doch gesagt werden: hier geht


es um mehr als um Strafrechtswissenschaft, um mehr Der Gesetzgeber wird sich bewähren, wenn das
als um Jurisprudenz. Das Strafrecht ist ein Bestand- von ihm zu gestaltende Werk die Zustimmung des
teil der sozialen Ordnung der Gesellschaft, zu der ganzen deutschen Volkes in allen seinen Teilen fin-
wir gehören. Diesen Bestandteil unserer sozialen den kann, auch des Teils, der durch seine Vertreter
Ordnung zu gestalten, ist vornehmlich eine politische nicht aktiv an der Gesetzgebungsarbeit mitwirken
Aufgabe. Das ist schon bei den Beratungen des alten kann. Das wird der Ausgangspunkt für unsere posi-
Strafgesetzbuchs im Norddeutschen Reichstag vom tive und gestaltende Mitarbeit in den weiteren Be-
22. Februar 1870 von dem damaligen preußischen ratungen sein.
Justizminister Leonhardt anerkannt worden, und (Beifall bei der SPD.)
für unsere Zeit gilt das erst recht.
Ich sagte: Beratungsgrundlage ist der Entwurf.
Aber bei den Beratungen muß der kritische Blick Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Meine Damen
auch in dem Bereich jenseits unserer Grenzen Um- und Herren! Ehe ich die Sitzung unterbreche, noch
schau halten. Ich habe das vorhin schon als Antwort ein Wort zur Geschäftslage. Ich schätze, daß wir
auf die Zwischenfrage der Frau Kollegin Dr. Diemer- heute nachmittag etwa bis gegen 7 Uhr zur Ver-
Nicolaus erwähnt. Es muß uns zu denken geben, fügung haben, um dieser außerordentlich wichtigen
daß außerhalb der Bundesrepublik in anderen Län- Vorlage gebührende Diskussionsmöglichkeiten zu
dern der westlichen Gemeinschaft bestimmte Dinge verschaffen. Aber ich muß darauf aufmerksam
strafrechtlich irrelevant sind, die bei uns den Makel machen, daß wir auch noch die Punkte 25 und 26,
der Kriminalität tragen. Wir müssen in rechtsver- zu denen in beiden Fällen eine Debatte vorgesehen
gleichender Betrachtung und aus der Erwägung, ist, heute erledigen müssen, weil wir den morgigen
Voraussetzungen für eine europäische Harmonisie Vormittag für die Energie-Debatte brauchen. Heute
3204 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963

Präsident D. Dr. Gerstenmaier


nachmittag hat als erste Rednerin das Wort Frau Heutzutage wird bezweifelt: Ist denn unser Parla-
Dr. Diemer-Nicolaus. ment überhaupt noch in der Lage, eine große Re-
form eines Gesetzes durchzuführen und insofern
Ich unterbreche bis 15 Uhr.
einen entscheidenden Beitrag zur Rechtsentwicklung
zu geben? Dazu wurde schon gesagt: der Stil, in
(Unterbrechung der Sitzung von 13.30 bis dem das Parlament, der Bundestag, arbeitet, muß
15.03 Uhr.) geändert werden.
Es hat sich aber schon gezeigt, daß mit der sehr
Vizepräsident Dr. Jaeger: Die unterbrochene sorgfältigen Vorbereitung des Gesetzentwurfs durch
Sitzung wird fortgesetzt. Wir stehen bei der Aus- die Große Strafrechtskommission und nachher durch
sprache über den Punkt 27 der Tagesordnung. Das die Länderkommission eine Vorarbeit geleistet
Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Diemer-Nicolaus. wurde, meine Herren Kollegen von der SPD, die es
uns Abgeordneten auch jetzt noch ermöglicht, in
Frau Dr. Diemer-Nicolaus (FDP) : Herr Präsi- diesem Bundestag die Arbeiten an diesem Gesetz-
dent! Meine Damen und Herren! Heute morgen entwurf nicht nur zu beginnen, sondern auch mit
wurde ein Werk eingebracht, von dem man sa- Erfolg abzuschließen. Das liegt an unserem Willen.
gen kann, daß es einer der bedeutungsvollsten Ge- Das liegt daran, in welchem Geiste wir an die Auf-
setzentwürfe ist, die dem Bundestag vorgelegt wur- gabe herangehen und ob wir tatsächlich den Ent-
den. Auf die Bedeutung dieser Reform wurde bereits schluß haben, die Arbeit an diesem Gesetzentwurf
hingewiesen. zu Ende zu bringen.
Im Laufe der Diskussion heute morgen hat sich in Herr Kollege Wittrock, ich habe vorhin gemerkt,
den beiden Beiträgen schon gezeigt, daß sich im daß meine Zwischenfrage, die ich Ihnen gestellt
Parlament anscheinend zwei Auffassungen gegen- habe, Ihnen nicht ganz angenehm gewesen ist. Aber
überstehen. Die Vertreter der einen Auffassung be- ich habe den Eindruck, es liegt folgendes Mißver-
kennen sich zu dem Entwurf und haben den festen ständnis vor.
Willen, daran mitzuarbeiten und mitzuwirken, daß
das, was hier an wertvollster Vorarbeit geleistet (Abg. Wittrock: Ihre Zwischenfragen sind
worden ist, auch Gesetz wird. Auf der anderen Seite, mir immer angenehm!)
meine Herren Kollegen von der SPD, glaubte ich — Das zu hören freut mich. Sie hatten mich veran-
den Ausführungen von Herrn Wittrock zu meinem laßt, diese Zwischenfrage zu stellen, weil Sie aus
großen Bedauern nicht nur eine Kritik an dem Ent- dem Allgemeinen Teil des Entwurfs einzelne Sätze
wurf als solchem entnehmen zu müssen, auf die ich herausgenommen hatten und es so hinstellten, als
noch im einzelnen eingehen werde, sondern auch ob Unnötiges gesagt worden sei. Gerade wenn man C
von vornherein ein Resignieren, ein Zögern: Hat es wie ich an den Beratungen der Großen Strafrechts-
überhaupt noch Sinn, hat es Wert? kommission teilgenommen hat, weiß man, daß in
Im Zusammenhang mit der Geschichte dieser Re- dem Allgemeinen Teil kein Satz steht, der nicht
form wurde darauf hingewiesen, daß sie schon seit berechtigt ist. In dem Allgemeinen Teil dieses Straf-
langer Zeit vorbereitet worden ist. Herr Güde, Sie gesetzentwurfs ist so viel enthalten, daß Sie sich
sagten, diese Reform habe Sie Ihr Leben lang be- bei der Beratung auch mit der Grundkonzeption aus-
gleitet. Ich bin der Auffassung, daß es sich um eine einandersetzen müssen. Sie müssen sich ganz klar
Aufgabe handelt, die diesem Parlament aus der ge- mit der Frage auseinandersetzen, ob Sie sich zum
schichtlichen Entwicklung heraus gestellt ist. Ich Schuldstrafrecht bekennen oder ob Sie glauben, daß
würde es bedauern, wenn die Abgeordneten nicht die soziale Reformbewegung das Richtige ist; zu
erkennen würden, daß sie sich dieser Pflicht einfach dem einen oder anderen müssen Sie sich bekennen!
nicht entziehen können, daß sie sich ihr auch dann (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU.)
nicht entziehen können, wenn das eine oder andere
Je nachdem, wie Ihre Entscheidung ausfällt, werden
Problem behandelt werden muß, das nicht einfach
Sie schon im Allgemeinen Teil ganz andere Ent-
ist und von dem man weiß, daß da die Auffassun-
scheidungen treffen müssen.
gen auseinandergehen.
(Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)
(Abg. Wittrock: Haben Sie mir gar nicht
zugehört?) Verkennen Sie nicht, daß in der Grundkonzeption
des Allgemeinen Teils wieder etwas herausgestellt
— Doch, Herr Kollege Wittrock, ich habe sehr genau
wird, um das gerungen wird und das wir brauchen:
zugehört, gerade auch Ihren Ausführungen. Ich
Das ist doch die Rechtseinheit in unserem Strafrecht,
würde es sehr bedauern, wenn man vor den Pro-
und das ist weiterhin — was Sie glaubten, entrüm-
blemen, die hiermit angeschnitten sind, von vorn-
peln zu müssen — die Rechtsklarheit.
herein resignieren würde.
Ich muß allerdings auch noch etwas anderes sagen. Wenn Sie die Protokolle lesen, werden Sie fest-
Ich bin meiner Fraktion auch heute noch dankbar, stellen: sie sind sehr inhaltsreich. Ich kann es Ihnen
daß sie mir, als ich 1957 in den Bundestag gewählt nur empfehlen: Lesen Sie die Protokolle, auch wenn
wurde, die Möglichkeit gegeben hat, an den Bera- Sie das erst nach und nach tun können! Sie werden
tungen der Großen Strafrechtskommission teilzu- dann sehen, daß auch die Sätze, die Sie beanstandet
nehmen. Seit dieser Zeit, seit dem Jahre 1957, habe haben, durchaus ihren guten und klaren Sinn haben.
ich das Werden und Wachsen dieses Entwurfes ver- Gerade weil ich die Dinge kenne, möchte ich hier
folgt. all den Wissenschaftlern, den Richtern, vor allen
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3205
Frau Dr. Diemer-Nicolaus
Dingen aber auch den hervorragenden Beamten un- aufgewachsen sind, doch Menschen werden, die so
seres Justizministeriums herzlich danken, die wirk- charaktervoll und leistungsfähig sind, daß jeder
lich hingebungsvoll mitgewirkt haben. Bei diesen Staat auf sie stolz sein kann. Das sind Unwägbar-
Tagungen gab es meist keine Nacht, in der nicht bis keiten, die das menschliche Leben nun einmal mit
zwölf, ein Uhr gerade von unseren Ministerialbeam- sich bringt.
ten aus dem Justizministerium gearbeitet wurde, Etwas anderes ist es natürlich — und ich verkenne
damit die Kommission am nächsten Morgen bei ihren das keineswegs —, daß es auch heute noch von
Beratungen die Formulierungen für das, was am maßgeblichem Einfluß auf ein Kind ist, in welchem
Tage vorher erarbeitet worden war, vorliegen hatte. Kreis es aufwächst, wie es von seinen Eltern geführt
Diese sehr sorgfältige und eingehende Vorarbeit wird, und daß wir — da gebe ich der sozialen
ist natürlich bei dem gesamten Entwurf klar zu er- Richtung durchaus recht — alles tun sollten, diese
kennen. sozialen Verhältnisse zu bessern. Wir sollten alles
Ich stelle mir die Aufgabe gar nicht so schwer tun, damit jedem Kind die besten Voraussetzungen
vor. Wenn Sie sich einmal über die Grundfragen gegeben werden, damit es zu denen gehört, die wir
klargeworden sind, werden Sie feststellen, auch uns alle wünschen, die die Gesetze achten und ihnen
wenn Sie an die Beratung des Besondern Teils her- nicht zuwiderhandeln. Wir wissen jedoch, daß das
angehen, daß ganze Gebiete — vor allen Dingen, eine Idealforderung ist, die .wie alle Ideale nicht
wenn es sich um Vermögensdelikte und all die da- hundertprozentig erreicht werden kann.
mit zusammenhängenden Fragen handelt — vor- Nun, Herr Kollege Wittrock, haben Sie das Stra-
handen sind, bei denen man sich wahrscheinlich gar fensystem dieses Entwurfs angegriffen. Wenn ich
nicht so lange aufzuhalten braucht. sagte, daß bei der Schaffung dieses Entwurfs nicht
Aber wir werden uns über andere Fragen ausein- an den Erkenntnissen der Wissenschaft und an
andersetzen müssen! Zunächst zur Frage des Schuld- denen des menschlichen Lebens vorbeigegangen
strafrechts! Herr Güde hat sich — ich nehme an, worden sei, so meinte ich, daß dazu auch folgendes
auch für seine Fraktion — dazu bekannt. Wenn er gehört: daß bei der Ausgestaltung des Strafen
dabei gesagt hat, es sei der Appell an die sittliche systems und bei der Einführung dieser weitgehen-
Verantwortung jedes einzelnen, so ist das eine Auf- den Maßregeln der Sicherung und Besserung etwas
fassung, eine Haltung, die wir Freien Demokraten, erreicht werden soll, was Ihnen so sehr am Herzen
wir Liberalen immer gehabt und eingenommen liegt, aber nicht nur Ihnen, sondern uns allen. Sie
haben. Wir haben stets nicht nur die Verantwortung haben mit Recht eines gesagt: Die Aufgabe des
eines jeden betont, sondern auch — das darf nicht Strafvollzugs soll und muß es sein, denjenigen, der
außer acht gelassen werden —, daß es eine Willens- einmal gegen das Gesetz verstoßen hat, zu resoziali-
freiheit des einzelnen gibt. Bei aller Erkenntnis auch sieren, wieder einzugliedern in unsere Gemeinschaft.
der medizinischen Wissenschaft in der Frage, wie- Ich teile diese Auffassung in vollem Umfang. Ich
weit jemand gegebenenfalls auf Grund von Krank- teile auch die Auffassung, daß unser Strafvollzugs
heit verantwortlich gemacht werden kann, müssen system als solches außerordentlich reformbedürftig
wir doch bedenken: Wohin gelangen wir, wenn wir sei; aber Sie wissen, daß dann, wenn in den Land-
verneinen, daß der Mensch in seinem Willen frei tagen das Verständnis für die Bedeutung dieser Auf-
ist, daß er die Möglichkeit hat, zwischen Gut und gabe vorhanden ist und die entsprechenden Mittel
Böse zu entscheiden und daß er, wenn er Unrecht zur Verfügung gestellt werden, damit die baulichen
begeht, eine Schuld auf sich nimmt? Es geht dabei
und auch die personellen Voraussetzungen für einen -
um eine ethische, eine sittliche Forderung. Wenn wir
modernen Strafvollzug geschaffen werden, heute be-
sie verneinen, wenn wir nur sagen, der Mensch sei
reits viel getan werden kann. Daß wir wirklich einen
das Produkt seiner Charakterveranlagung, seiner
Strafvollzug erhalten, der sehr stark diese Reso-
Umgebung, der sozialen Umstände, in denen er auf- zialisierung zuläßt, diesen Resozialisierungsgedan-
gewachsen ist, dann nehmen wir doch dem Men-
ken verwirklicht, dafür ist Voraussetzung, daß wir
schen viel von dem sittlichen Gehalt seiner Persön-
lichkeit. zunächst diesen Entwurf verabschieden. Auf diesem
Entwurf aufbauend können dann nämlich — können
Auch die Erfahrung des Lebens spricht gegen die nicht nur, sondern müssen in bezug auf den Straf-
soziale Reformrichtung. Uns allen ist es doch ein vollzug sogar — die entsprechenden Konsequenzen
Bedürfnis, daß unsere Jugend nach Möglichkeit in gezogen werden.
einem gesunden Geist heranwächst, daß unsere
Jugendlichen zu denen gehören, die nicht straffällig Herr Kollege Wittrock, Sie haben sich sehr gegen
werden, die nicht gegen Gesetze verstoßen. Und die kurzen Freiheitsstrafen gewendet. Diese Auf-
doch erleben wir immer wieder mit Schrecken, daß fassung hat auch die Große Strafrechtskommission
Jugendliche, die in völlig geordneten Familienver- geteilt; aber Sie übersehen eines mit Ihrer Forde-
hältnissen aufgewasen sind, und zwar sowohl, was rung nach einer Mindeststrafe von sechs Monaten:
die Liebe der Eltern und ihre Fürsorge, was aber daß wir ja nicht nur asoziale Elemente haben, daß
auch die materiellen Umstände betrifft, daß Jugend- vor allen Dingen nicht nur vorsätzliche Taten mit
liche, bei denen alle Voraussetzungen gegeben Gefängnis bestraft werden, sondern auch viele, viele
waren, ordentliche Menschen zu werden, nachher Fahrlässigkeitsdelikte. Insofern ist — bei diesen
trotzdem zu denen gehören, die die Gesetze nicht Fahrlässigkeitsdelikten gerade — .eine Resozialisie-
geachtet haben. Auf der anderen Seite erleben wir rung der Täter gar nicht erforderlich, weil es sich
es wieder, daß Jugendliche, die in schlechtesten nicht um Asoziale handelt.
sozialen Verhältnissen, in schlechtester Umgebung (Zuruf des Abg. Wittrock.)
3206 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963
Frau Dr. Diemer Nicolaus
-

Eine Tatsache ist doch, daß eine Strafe als Spezial- ständnis dafür, daß jemand, der gestrauchelt ist, nach
prävention eine abschreckende Wirkung hat. Ge- seiner Entlassung zuerst Arbeit braucht, damit er
rade auf diejenigen, die durch Fahrlässigkeit ein nicht wieder in Versuchung kommt, kriminell zu
Rechtsgut verletzt haben, wirkt eine solche kurze werden. Dem müssen auch die Arbeitskollegen Rech-
Freiheitsstrafe erfahrungsgemäß sehr schockartig nung tragen.
und bessernd. Es ist weiterhin doch zu begrüßen,
daß die Strafhaft für diese Fahrlässigkeitsdelikte Man könnte über diese Probleme noch vieles
eingeführt wird. sagen.

Noch etwas anderes, Herr Kollege Wittrock. Ich möchte doch noch einige Worte auch zu dem
Wahrscheinlich werden wir, wenn wir darüber be- Besonderen Teil des Entwurfs sagen. Wenn ich
raten, gar nicht weit auseinander sein. — Aber in vorhin gesagt habe, daß ich absolut auf dem Boden
der anderen Frage, daß für befristete Freiheitsstrafen dieses Entwurfs stehe und daß wir als Freie Demo-
eine Einheitsstrafe geschaffen werden soll und nur kraten uns zu diesem Schuldstrafrecht bekennen,
noch für lebenslängliche Freiheitsstrafe Zuchthaus so bin ich allerdings der Auffassung, daß wir bei
vorgesehen werden soll, sonst nur Gefängnis, kann der Beratung des Gesetzentwurfs und besonders
ich Ihnen nicht folgen. Es ist mit Recht in dem auch bei der Beratung des Besonderen Teils doch
Entwurf darauf abgehoben worden, daß wir keine manche Dinge finden werden, in denen wir uns bei
Todesstrafe haben und daß — das hat auch der Herr aller Betonung der gemeinschaftlichen Grundlage,
Justizminister ausgeführt — doch nicht gleichbe- Herr Kollege Güde, vielleicht nicht einigen werden.
handelt werden kann in der Art der Freiheitsent- Sie haben dringend darum gebeten, daß wir uns
ziehung das schwerste Vergehen gegen das Leben, heute nicht binden. Ich glaube, niemand kann sich
auch wenn es vielleicht nicht mit lebenslänglichem heute schon endgültig binden, wie er zu dem einen
Freiheitsentzug bestraft wird, mit einem Vermö- oder anderen Problem stehen wird. Aber wir kön-
gensdelikt. Aber ich glaube, wir sollten heute in der nen den Problemen nicht aus dem Wege gehen.
ersten Lesung all diese Fragen nicht w ei t er vertiefen.
Woran auch mir liegt, ist, daß bei den Fragen des Sie haben gesagt, daß es nicht darum gehe, un-
Strafvollzugs auch überprüft wird, wie gegebenen- mittelbar religiöse oder ethische Forderungen in das
falls eine Wiedergutmachung für den Geschädigten Strafgesetz umzusetzen. Das war ein gutes Wort.
erfolgt. Es trifft leider zu, daß die Lösungen, die Und wenn Sie die Gemeinschaftlichkeit betont ha-
wir jetzt haben, eigentlich keine Lösungen sind. In ben, so war auch das ein gutes Wort. Etwas anderes
hat mich aber betroffen, Herr Kollege Güde. Sie
diesem Zusammenhang muß auch geprüft werden,
haben in diesem Zusammenhang gesprochen von
was getan werden kann, damit auch die Familie
dem christlichen Humanismus, vom liberalen Huma-
des Verurteilten — vor Not jedenfalls — geschützt
nismus und vom sozialen Humanismus. Es gibt doch
ist. Das sind alles Fragen des Strafvollzugs.
nur einen Humanismus! Es hat mich betroffen, daß
Aber etwas anderes ist im Entwurf enthalten. Es Sie das Liberale wieder zumindest als, vorsichtig
sollen Vollstreckungsgerichte geschaffen werden, um ausgedrückt, andersartig klassifizieren gegenüber
damit einen individuellen Strafvollzug — mit der dem Christlichen. Das trifft einfach nicht zu. Wir
Möglichkeit der Resozialisierung — zu schaffen. Nur Liberale sind genauso gute Christen und genauso
über eines wollen wir uns ganz klar sein: Es ist gute Humanisten, wie ich das von Ihnen und auch
in dieser Beziehung nicht allein mit Gesetzen getan. von den Sozialdemokraten hoffe. -
Es ist schon von dem Makel gesprochen worden, der
jemand anhaftet, wenn er aus dem Zuchthaus ent- (Beifall bei der FDP.)
lassen wird, und davon, daß darin schon wieder der
Herr Kollege Güde, ich möchte Sie deshalb dringend
Grund zu neuer Kriminalität liegt. Das liegt aber
bitten, etwas Derartiges nicht wieder zu sagen. Das
vielfach an uns allen. Freiherr von Nottbeck, der
ist etwas, was uns Liberale immer auf das äußerste
Justizminister von Niedersachsen, hat ein gutes
kränkt — das wissen Sie auch aus den Debatten
Wort geprägt, als er sagte: „Wer gesühnt hat, muß
des letzten Bundestages —, wenn das Liberale ein-
Frieden haben!" Das ist eine wichtige Forderung,
fach in einen Gegensatz zum Christentum gesetzt
eine Forderung, die an uns alle gestellt wird. Wenn
wird, was doch einfach nicht richtig ist. Ich würde
einer gesühnt hat und kehrt wieder in die Freiheit
mich außerordentlich freuen — —
zurück, müssen auch wir alle bereit sein, einen
Schlußstrich zu ziehen, solange sich der Betreffende (Zuruf von der SPD: Ist Erhard kein Christ?)
im Rahmen der Gesetze hält und nicht erneut krimi-
nell wird. Hier ist eine Forderung an die Allgemein-
heit zu erheben, die nicht dringlich genug gestellt Vizepräsident Dr. Jaeger: Frau Kollegin Dr:
werden kann. Diemer-Nicolaus, gestatten Sie eine Zwischenfrage
(Abg. Wittrock: Auch an den Gesetzgeber!) des Abgeordneten Dr. Winter?

Man erfährt immer wieder: wenn einer eine Arbeits-


stelle gefunden hat — was schon schwer ist, darüber Dr. Winter (CDU/CSU) : Frau Kollegin, ist Ihnen
machen wir uns keine Illusionen — und dann her- entgangen, daß das, was Kollege Güde in dem Zu-
auskommt, daß er derartig bestraft ist, weigern sich sammenhang gesagt hat, ein Zitat war und daß er
andere, die mit ihm zusammen arbeiten, dies weiter- das nicht als seine Meinung, sondern als die eines
hin zu tun. Die Arbeitgeber haben oft durchaus Ver anderen vorgetragen hat?
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3207

Frau Dr. Diemer-Nicolaus (FDP) : Herr Kollege des Grundgesetzes als ein Grundrecht statuiert
Winter, das wissen Sie selbst doch auch: wenn man wurde. Ich habe überhaupt, das möchte ich in dem
in diesem Zusammenhang solche Zitate bringt, dann Zusammenhang sagen, die größte Hochachtung vor
ist es auch die eigene Meinung. dem Parlamentarischen Rat, der damals in relativ
Ich möchte jetzt noch zu einer anderen Frage Stel- kurzer Zeit dieses Grundgesetz geschaffen hat, in
lung nehmen. Herr Kollege Güde, ich stimme mit dem er so klar herausgestellt hat, was wirklich ein
Ihnen in dem überein, was Sie bezüglich des Schuld- liberales Recht ist, in dem er den Gedanken der
strafrechts ausgeführt haben, nicht aber in dem, was Toleranz und der Menschenwürde in den Vorder-
grund gestellt hat.
Sie über die Entwicklung des Richterrechts und sei-
nen Einbau in diesen Gesetzentwurf gesagt haben. (Beifall bei der FDP und SPD.)
Ich glaube, es ist nicht nur unsere Aufgabe, die Durch dieses Grundgesetz ist uns auch die Aufgabe
Rechtsprechung der obersten Bundesgerichte einzu- gestellt, das Strafgesetz neu zu gestalten. Es kam
bauen, es ist vielmehr genauso unsere Aufgabe, be- bei allen Beratungen in der Strafrechtskommission
vor wir so etwas tun, zuerst einmal zu prüfen, ob immer wieder zum Ausdruck, gerade auch bei der
wir mit dieser Rechtsprechung auch einverstanden Beratung des Besonderen Teils, daß es darum geht,
sind. Das ist eine ganz große Aufgabe, die damit auch im Strafrecht die Menschenwürde zu achten, die
verbunden ist. persönliche Freiheit zu achten und nicht mehr ein-
Ich möchte jetzt nicht so sehr auf den Besonderen zugreifen, als es im Interesse der Allgemeinheit
Teil eingehen. Aber seitdem die Reformarbeiten ab- geboten ist.
geschlossen worden sind, ist das Leben weiter- (Beifall bei FDP und SPD.)
gegangen. Seit der Zeit hat sich schon wieder ge-
zeigt, daß neue Probleme zu lösen sind, die wahr- An diesen Grundsätzen muß sich auch die Frage des
scheinlich auch in einer anderen Art gelöst werden publizistischen Landesverrats orientieren, und ich
müssen, als es zunächst in dem Entwurf vorgesehen bin für eine Differenzierung der Tatbestände.
ist. Ich brauche nur an die Bestimmungen des Lan- Noch etwas Weiteres muß klargestellt werden,
desverrats, des Hochverrats zu erinnern. muß ganz klar herausgestellt werden: daß das, was
eine Regierung gern als Geheimnis wahren möchte,
Als der Entwurf im Jahre 1960 zum erstenmal
noch längst nicht ein Staatsgeheimnis ist.
zur Diskussion gestellt wurde, habe ich sehr darauf
gewartet, daß eine echte Diskussion, und zwar nicht (Beifall bei der FDP und SPD.)
nur in Juristenkreisen, stattfindet. Das Recht, gerade Wir müssen uns insofern abstrahieren können, wir
auch das Strafrecht — die Bestimmungen darüber, müssen uns davon lösen, zu glauben, daß nur die
was sein darf und was verboten ist — muß im jeweilige Regierung auch den Staat verkörpert. Das
Volk lebendig sein und muß verankert sein im darf nicht sein.
Rechtsempfinden des Volkes. Aber es kam damals
zu keiner großen Diskussion. Ich habe mich auch (Beifall bei der FDP und SPD.)
gewundert — das habe ich schon der Presse in aller Das gehört zu dem Gedanken der Toleranz. Es ge-
Offenheit gesagt —, daß über die Entwicklung der hört dazu, daß wir wissen, wir brauchen verschie-
Rechtsprechung zum Landesverrat keinerlei Diskus- dene Parteien, auch verschiedene politische Auffas-
sion erfolgte. Als die Landesverratsbestimmungen sungen. Staatsgeheimnis kann nur sein, was wirk-
seinerzeit geschaffen wurden — das war im Jahre lich zum Wohle des gesamten Volke geheimgehal--
1951 —, hatte man diese Bestimmungen hauptsäch- ten werden muß.
lich zur Abwehr des Kommunismus vorgesehen.
(Beifall bei der FDP und SPD.)
Dann ist aber die Entwicklung weiter gegangen. Ich
will jetzt nicht auf den Fall Augstein zu sprechen Damit ist eine Frage angeschnitten, die eigentlich
kommen, aber dieser Fall hat doch offenkundig ge- mehr in das Strafverfahren gehört: Wer entscheidet
macht, daß wir mit der augenblicklich vorhandenen das? Das ist mit das allerschwierigste. Wer soll
Formulierung einfach nicht zu gerechten Entschei- Gutachter hierfür sein?
dungen kommen. Die Franzosen — ich habe gestern Wenn ich schon bei Einzelproblemen bin: Es ist
in einem ganz anderen Zusammenhang darauf hin- noch etwas anderes angesprochen worden, etwas,
gewiesen, daß die Franzosen gute Juristen sind — was auch gestern in der Diskussion durchklang,
haben eine Differenzierung vorgenommen, die uns nämlich die Frage — gerade im Zusammenhang mit
doch auch mit Anlaß geben sollte, gerade diese der Publizität —: Wie weit darf das Recht der Presse
Bestimmungen neu zu überprüfen, neu zu gestalten, gehen, über Strafverfahren zu berichten, so lange
anders, als es in dem Entwurf gestaltet ist. noch kein Urteil vorliegt? Ich muß Ihnen sagen, ich
In diesen Problemkreis gehört nicht nur die Frage bekenne mich in vollem Umfang zum § 452 des
des sogenannten publizistischen Landesverrats und Entwurfs, in dem der Gedanke des Contempt of
damit die Frage der Pressefreiheit, der Meinungs- Court aus dem englischen Recht, auf unsere deut-
freiheit, die im Artikel 5 des Grundgesetzes doch schen Verhältnisse angepaßt, enthalten ist. Wir
geschützt ist. haben uns gestern Mühe gegeben, mit der Straf-
verfahrensreform ein gerechtes Urteil über den An-
(Abg. Dr. Weber [Koblenz] : Im Rahmen
geklagten zu ermöglichen. Dann gehört es ganz
der allgemeinen Gesetze!)
zwangsläufig dazu, daß die Presseberichterstattung
Wir Freien Demokraten bekennen uns zu der Presse wenigstens bis zum erstinstanzlichen Urteil sich ab-
freiheit, und wir sind froh, daß sie im Artikel 5 solut objektiv und zurückhaltend verhalten muß.
3208 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963
Frau Dr. Diemer-Nicolaus
Es geht nicht an, daß neben den laufenden staats- Abgeordneten — das müssen wir ganz klar erken-
anwaltschaftlichen Ermittlungen Journalisten, um nen — Gewissensentscheidungen gefordert. Dann
entsprechend publizistisch wirken zu können, von kann es für niemanden von uns irgendeine Frak-
sich aus Ermittlungen anstellen und Berichte in die tionsbindung geben, sondern jeder muß von sich
Zeitung geben. Es geht nicht an, gerade bei den aus entscheiden, was er auf Grund seiner ethischen
Möglichkeiten, die heute in den Massenpublikations- Vorstellungen und auch — sprechen wir das ruhig
mitteln liegen, von vornherein eine Atmosphäre zu ganz offen und klar aus — auf Grund seiner reli-
schaffen, die die freie Entscheidung, die freie Wer- giösen Bindungen für allgemein anerkannte Rechts
tung des Falles beeinträchtigt; denn wir sind alle güter, die von allen beachtet werden müssen, hält.
Menschen, ob es Richter oder ob es Geschworene
sind. Um dazu beizutragen, daß ein unbeeinflußtes, Ich möchte heute in dem Zusammenhang nicht auf
gerechtes Urteil gefällt werden kann, ist dieser § 452 die Probleme der sogenannten ethischen Indikation
geschaffen worden, und deshalb muß er Recht wer- — wir Freien Demokraten sagen: kriminellen Indi-
den. kation, denn ein schwerstes Verbrechen ist ja die
Ursache, daß dieses Problem überhaupt entsteht und
Nun möchte ich ein Wort zu der Frage sagen, wie wir uns mit ihm befassen müssen — näher ein-
weit der Strafanspruch des Staates geht. Die Allge- gehen. Aber es war für mich, nachdem ich den
meinheit und jeder einzelne haben ein Recht darauf, Gesetzentwurf im ganzen kannte, eigentlich über-
daß der Staat sie und ihre Rechtsgüter schützt. Jeder raschend, zu sehen, wie sich ganz spontan aus-
einzelne hat ein Recht darauf, daß besonders sein gerechnet an dieser Bestimmung, daran, daß sie
Familienbereich — das, was man heute als Intim- entgegen den Vorschlägen der Großen Strafrechts-
sphäre bezeichnet — geschützt wird. Es ist verdienst- kommission in dem Entwurf fehlt, auf allen Seiten
voll, daß in sehr, sehr eingehenden Beratungen der eine Diskussion entzündete. Warum? Hier ist etwas
Großen Strafrechtskommission versucht wurde, mit geschehen, was man nicht ernst genug nehmen
den Indiskretionstatbeständen in dieser Frage eine kann. Hier wurde auf einmal offenbar, daß zwischen
gute Lösung herbeizuführen. dem, was von der Regierung strafbar gemacht wer-
Ich habe nur den Eindruck, daß die strafbaren Tat- den soll, und dem, was in dem Rechtsempfinden des
bestände am Anfang nicht ganz richtig gesehen wur- Volkes verwurzelt ist, eine tiefe Kluft besteht. Es
den. Es war für mich aufschlußreich, bei einer Ta- kam hinzu, daß in dieser Frage nach 1945, nach dem
gung der Friedrich-Naumann-Stiftung über die Straf- Zusammenbruch, Erfahrungen gemacht worden sind,
rechtsreform, in der u. a. gerade auch diese Frage die damals, als Zehntausende von Frauen dieses
zur Diskussion gestellt war, die Meinung der Presse Schicksal traf, dazu führten, daß durch einen Länder-
hierüber zu hören. Die Befürchtungen, die von der erlaß bestimmt wurde, diese Handlungen seien nicht
Presse geäußert wurden, daß ihre freie Berichterstat- strafrechtlich zu verfolgen. Doch heute — wenn es
tung dadurch unnnötig erschwert werden sollte, tref- um die Frage geht, ob recht oder unrecht oder zum
fen nicht zu. Je stärker jemand nach außen in Er- mindesten ob strafbar oder entschuldbar und des-
scheinung tritt, je mehr er auch im politischen Leben halb nicht strafbar — kann ich es nicht danach ent-
steht, desto mehr muß er sich gefallen lassen, daß in scheiden, ob es ein Massenschicksal von Zehntausen-
der Presse auch persönliche Dinge erörtert werden, den war. Für jede einzelne Frau gilt nur ihr Einzel-
die bei einem einfachen Privatmann tabu sein sollen. schicksal, und nach diesem Einzelfall muß ich be-
Es ist ein verständliches Recht des Bürgers, über stimmen, ob recht oder unrecht, ob strafbar oder
diejenigen, die er in die öffentliche Arbeit schickt, nicht strafbar. -
die er in die Parlamente wählt, mehr zu wissen als (Beifall bei der FDP.)
über seinen Nachbarn. Am Schluß dieser Diskussion
Daran hat es jetzt gefehlt.
fühlte sich die Presse in ihrer Berichterstattung auch
nicht mehr beeinträchtigt. Hier kann ich allerdings auch dem Gesetzentwurf,
Ein schwieriges Kapitel ist, wie es mit der Freiheit so sehr ich ihn begrüße, einen Vorwurf nicht ganz
der Persönlichkeit bestellt ist, soweit es sich um ersparen, und zwar den Vorwurf, daß er in der Aus-
ethische Probleme handelt. In der Begründung zu gestaltung der Einzeltatbestände zu stark morali-
dem Entwurf steht, die Gesetzgebung müsse sich die siert. Hier liegen Probleme, mit denen wir uns im
größte Zurückhaltung auferlegen, weil nach allen Ausschuß noch sehr eingehend werden auseinander-
Erfahrungen der Vergangenheit das Strafrecht ge- setzen müssen.
rade auf dem Gebiet der Sittlichkeitsdelikte, von den Ich möchte in diesem Zusammenhang an ein schö-
gröbsten Ausschreitungen abgesehen, mehr Schaden nes Wort erinnern, das zu Beginn des Juristentages
als Nutzen stiften könne. Außerdem sei es bedenk- im September 1962 Professor Werner in seinem
lich, die persönliche Freiheit gerade auf diesem Ge- großartigen Einleitungsreferat sagte. Er wies darauf
biet über die Erfordernisse hinaus einzuschränken, hin, daß das Strafrecht der Toleranz besonders ver-
die sich aus der Notwendigkeit ausreichenden pflichtet ist, der guten Regel, daß ein Staat nur das
Schutzes allgemein anerkannter Rechtsgüter ergä- bestrafen soll, was 'im sittlichen Rechtsbewußtsein
ben. Ich glaube, diesen Sätzen wird jeder von uns der Allgemeinheit eine Strafe verdient, und er
zustimmen. Aber wenn es nachher darum geht, bei stellte sogar die Forderung auf, der Richter müßte
den Einzelberatungen abzuklären, wo allgemein an- gegebenenfalls sogar noch toleranter als das Gesetz
erkannte Rechtsgüter ausreichend geschützt werden sein. Woher diese Forderung? Weil die Richter den
müssen, werden wir um manche Diskussion nicht einzelnen Fall zu werten haben, weil sie eine Auf-
herumkommen. Hier werden von den einzelnen gabe zu erfüllen haben, die nach meiner Auffassung
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3209
Frau Dr. Diemer-Nicolaus
zu dem Schwersten gehört, was ein Beruf mit sich ralen Forderungen, die in unserem Grundgesetz
bringen kann. Von ihrem Spruch hängt oft das enthalten sind, uns zu eigen machen und müssen das
Schicksal eines Menschen für sein gesamtes Leben Strafgesetz s o gestalten, wie es dem Grundgesetz
ab, und einmal zu entscheiden, ob recht oder un- entspricht. Das Grundgesetz hat gegenüber idem Un-
recht, zum anderen nachher zu entscheiden, welche recht, das vorher, vor 1945, in Gesetzesform ge-
Strafe angemessen ist, stellt den Richter vor Auf- bracht worden war, klar herausgestellt, daß die Men-
gaben, die keineswegs leicht zu erfüllen sind. schenwürde das wichtigste Gut ist, das wir haben.
Auch die Große Strafrechtskommission hat in diesem
Wenn wir jetzt diesen Gesetzentwurf — wie ich
Geiste ihren Entwurf geformt.
hoffe, nach in diesem Bundestag — verabschieden,
so wird dieses neue Gesetz, damit e s wirklich Leben Wir haben es uns als Ziel gesetzt, ein Gesetz zu
wird, damit es in dem Rechtsbewußtsein unseres machen, das den modernen wissenschaftlichen Er-
Volkes verankert wird, ein Erfordernis erfüllen müs- kenntnissen Rechnung trägt. Wir wollen aber ein
sen: Es wird sich in dem, was es strafbar macht, be- Gesetz aus einem Guß machen. Deshalb muß ich
schränken müssen, es wird sauf das Rechtsgefühl des natürlich zutiefst bedauern, daß wir erst heute die
Volkes Rücksicht nehmen müssen. Man wird erken- erste Lesung durchführen.
nen müssen — was der ,Bundestag, meine Damen Ich habe zum Abschluß die dringende Bitte an Sie:
und Herren, leider manchmal gar zu sehr ver- Wenn jetzt ein Ausschuß gebildet wird, — bitte ge-
kennt —, ,daß unsere Gesetze nicht in der Lage sind, stalten Sie ihn so, daß er noch in dieser Legislatur-
ethische Forderungen, die nicht schon im Rechts- periode die Beratung des Gesetzes zu Ende bringen
empfinden des Volkes ihre Wurzel haben, durchzu- kann!
setzen. Wir können nicht glauben, daß wir mit Ge-
setzen das Leben insgesamt gestalten könnten, son Wenn wir alle uns an den Geist des Grundgesetzes
dern wir müssen uns auch bei der Durchsetzung der halten, das doch seinerzeit einheitlich im Hohen
ethiscnFordugmeMinbgü Hause angenommen wurde, und zu dem sich alle
— wie das schon früher der Ball gewesen ist; das Abgeordneten damals bekannt haben, dann bin ich
habe ich schon während meiner Ausbildung ge- sicher, daß wir ein Strafgesetz bekommen, das klar
ist, das ein Strafrecht nach einheitlichen Grundsätzen
lernt —, müssen dabei aber klar erkennen, was dar-
schafft, das die Würde des Menschen achtet, das
über hinaus an ethischen Forderungen wünschens-
nicht mehr bestraft, als notwendig ist, trotzdem aber
wert wäre.
dem Staat die Möglichkeit gibt, seine freiheitliche
Es ist dann die Aufgabe gerade auch der Kirchen, Rechtsordnung zu bewahren, und das vor allen Din-
bei ihren Gläubigen dahin zu wirken, daß diese nicht gen tolerant auch gegenüber dem Andersdenkenden
nur das tun, was gerade nicht strafbar ist, sondern ist.
darüber hinaus erkennen, daß dazu, in einem guten (Beifall bei der FDP.)
Staat zu leben, mehr gehört, als nur das ethische
Minimum einzuhalten. Vizepräsident Dr. Jaeger: Das Wort hat der
Wenn wir dieses Gesetz zu Leben bringen wollen, Abgeordnete Müller-Emmert.
wird es des weiteren notwendig sein, daß wir Rich-
terpersönlichkeiten haben, die, in die Verantwor- Dr. Müller - Emmert (SPD) : Herr Präsident! Meine
tung dieses Gesetzes gestellt, im Geiste dieses Ge- Damen und Herren! Ich möchte zu Beginn meiner
setzes handeln. Ausführungen zunächst einmal kurz Stellung neh- -

Der Herr Justizminister hat geistern bei der Be- men zu einigem, was Frau Kollegin Dr. Diemer
ratung der Strafprozeßnovelle darauf hingewiesen, Nicolaus zu Anfang Ihrer Rede gesagt hat, da-
daß schon jetzt, noch bevor die Novelle verabschie- mit für die weitere Diskussion keine Mißverständ-
det ist, deutlich zu erkennen ist, daß weniger Unter nisse aufkommen oder weiter bestehen. Frau Kolle-
suchungshaft verhängt wird als vorher, weil die gin Dr. Diemer-Nicolaus hat erklärt, sie habe den
Richter, schon bevor das Gesetz .erlassen ist, der Eindruck gehabt, gestützt auf die Ausführungen
Tendenz, dem Geiste dieses Gesetzes entsprechend meines Freundes Karl Wittrock, daß wir uns bezüg-
sich verhalten. Das gibt mir die Zuversicht, daß, lich dieses Strafgesetzentwurfs praktisch in der
wenn wir den Strafgesetzentwurf in dem richtigen Negation erschöpften, daß wir insoweit also nicht
Geist gestalten, wir damit auch erreichen, daß es mitmachen würden. Sie ging sogar soweit, daß sie
in diesem Geiste angewandt wird. praktisch die Mitglieder des Bundestags unterteilte
in solche, die an diesem Gesetzentwurf mitarbeiten
Wir als Gesetzgeber müssen uns immer über eines wollen, und solche, die anscheinend — so habe ich
klar sein: wir leben in einem Staat mit verschie- sie verstanden — eine gewisse Obstruktion betrei-
denen Auffassungen, und wir müssen erkennen — ben wollen.
was auch Herr von Nottbeck so schön gesagt hat —:
die Weltanschauung des einen ist nicht die Welt- Ich möchte sehr deutlich sagen, Frau Kollegin Dr.
anschauung deis anderen. Unser Strafgesetzbuch muß Diemer-Nicolaus, daß dieser Ihr Vorwurf, sofern es
aber für alle da sein, und es muß so gestaltet sein, ein solcher war, bestimmt völlig unberechtigt ist.
daß es von allen für Rechtens erachtet wird. Schon mein Kollege Wittrock hat sehr deutlich ange-
führt, daß, von seiner und von unserer Warte aus
Es muß ein weiteres tun: e s muß den Geist tragen, gesehen, erhebliche Kritik an diesem Entwurf anzu-
der in unserem Grundgesetz vorhanden ist. Deshalb melden ist, daß wir andererseits aber — so sagte
müssen wir alle bei unseren Beratungen diese libe er wortwörtlich — positiv und gestaltend bei den
3210 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963
Dr. Müller Emmert
-

Beratungen mitarbeiten werden. Ich glaube, Frau Kollege Güde ist nicht näher darauf eingegangen.
Kollegin Dr. Diemer-Nicolaus, daß Sie mit dieser Ich darf aber sagen, daß Frau Kollegin Dr. Diemer
Erklärung wohl zufrieden sein dürften. Nicolaus als Sprecherin der Fraktion der Freien
Demokraten da viel offener, begrüßenswert offener
Frau Kollegin Dr. Diemer-Nicolaus, Sie meinten, war. Ich meine das heiße Eisen ethische Indikation.
daß es gut wäre, wenn die Mitglieder dieses Hauses Wir sind der Auffassung, daß der Wegfall dieser
sich in der Weise bekennen müßten, daß sie ein- Bestimmung in § 160 des Entwurfs im Bundeskabi-
räumen müßten, Mitglied oder Anhänger der einen nett ein klares Beispiel dafür ist, daß der Staat in
oder anderen Strafrechtsschule zu sein. Sie sagten der strafrechtlichen Gesetzgebung gerade in unserer
nämlich, es sei nötig, daß sich jeder in diesem Hause pluralistischen Gesellschaft seine Grenzen nicht
zum Schuldstrafrecht bekennen müsse, und Sie überschreiten dürfte. Wir sind der Meinung, daß die
brachten auch zum Ausdruck — ich glaube, ähnliche Streichung dieser Bestimmung im Kabinett ein kla-
Argumente brachte auch Herr Kollege Dr. Güde, rer Beweis ist für die Tendenz, die in der Weiterent-
wenn auch nicht so deutlich, vor —, daß die Sozial- wicklung dazu führen könnte, die moralischen Auf-
demokratische Partei eine Anhängerin der Schule fassungen einer gewissen Gruppe in unserem Staate,
der défense sociale sei. die sich zudem noch in der Minderheit befindet,
Hierzu möchte ich kurz erklären: Wir sind nicht strafrechtlich zu sanktionieren.
dazu da, in dem Streit von Strafrechtsschulen irgend-
Geht man an dieses Problem näher heran, dann
welche Zensuren auszuteilen. Wir sind dazu da,
muß mir jeder, der diese Dinge von der Praxis her
nüchtern, praktisch und pragmatisch Gesetze zu
beurteilt, einräumen, daß wir eine Lösung finden
schaffen, die eine gute Grundlage für unser Staats-
müssen, die keinen Bürger in unserem Staate in
wesen und für die Zusammenarbeit der Bürger un-
Gewissensnöte bringen darf. Diese Lösung ist ganz
seres Staates bilden. So betrachten wir auch unseren
einfach dadurch zu schaffen, daß man die ethische
parlamentarischen Auftrag. Wenn Sie vielleicht
Indikation da, wo es berechtigt ist, zuläßt. Wenn, wie
noch mehr zu der Frage des Schuldstrafrechts wissen
wir es wünschen, die ethische Indikation nicht unter
wollen, Frau Kollegin Dr. Diemer-Nicolaus, so
Strafe gestellt ist, bleibt es jedem einzelnen Bür-
möchte ich Ihnen auch hierzu sagen — ich glaube,
ger, jeder einzelnen betroffenen, bedauerlicherweise
es dient der allgemeinen Aufklärung —, daß selbst-
betroffenen Frau vorbehalten, selbst nach ihrem Ge-
verständlich ohne den Begriff der Schuld im straf-
wissen so zu entscheiden, wie sie es vor Gott ver-
rechtlichen Sinne nicht auszukommen ist. Es ist nur
antworten mögen. Trifft beispielsweise eine katho-
die Frage: Was versteht man überhaupt unter
lische Gläubige, die das bedauerliche Opfer eines
„Schuld"? Dabei gehen die Meinungen allerdings
Sittlichkeitsverbrechens mit Folgen geworden ist,
sehr erheblich auseinander. Klar müssen wir uns
von sich aus die menschlich in jeder Weise anerken-
darüber sein, daß Schuld im strafrechtlichen Sinne
nenswerte Entscheidung, gestützt auf die Regeln
nur etwas nüchtern Sachliches, ein nüchtern sach-
ihres Glaubens, die Leibesfrucht auszutragen, dann
licher juristischer Begriff sein kann, der etwas Vor-
ist das ihre, wie ich schon sagte, anerkennenswerte
werfbares enthält, und daß Schuld im strafrecht-
Entscheidung, die sie mit ihrem eigenen Gewissen
lichen Sinne nie und nimmer mit Sünde im metaphy-
vereinbaren mag. Man kann auf der anderen Seite
sischen oder religiösen Sinne verglichen werden
von solchen Bürgern in unserem Lande, die eine
kann. Wenn wir auf dieser Grundlage beginnen,
andere Auffassung auf Grund anderer Konfession
glaube ich, daß wir eine vernünftige Basis der ge-
oder Weltanschauung haben, nicht fordern, daß sie
meinsamen Zusammenarbeit im Laufe dieser Bera- -
sich einem solchen strafrechtlichen Gebot unter-
tungen haben.
werfen, und daß sie unter Umständen dann, wenn
Ich möchte nun einzelne Punkte dieses Entwurfs sie dieses Gebot nicht einhalten, mit dem Staats-
von unserer Seite etwas beleuchten, wobei ich ge- anwalt in Konflikt kommen.
rade diejenigen herausgreifen möchte, die in der
Aussprache in der Öffentlichkeit, selbstverständlich Diese Dinge müssen völlig aus der strafrechtlichen
auch des Parlaments, behandelt worden sind und Sphäre herausgehalten werden. Wenn ich richtig be-
aus denen man eine gewisse Grundtendenz dieses lehrt bin, dürfte auch in dieser Frage eine gewisse
Entwurfs mit Sicherheit herauslesen kann. Verschiedenartigkeit innerhalb der Fraktion der
CDU festzustellen sein, was hoffen läßt, daß wir in
Es ist selbstverständlich unmöglich, zu allen De- den Beratungen des Rechtsausschusses auf einer
tailfragen dieses Entwurfs Stellung zu nehmen. Die- vernünftigen Basis zu einer richtigen Lösung kom-
ser Entwurf wurde heute in mehrfacher Hinsicht men werden.
schon gelobt. Vielfach wurde auch schon Dank denen
ausgesprochen, die an diesem Entwurf gearbeitet Ich wende mich nun zu dem Problem der ärztlichen
haben. Ich möchte mich nicht weiter an diesen Dan- Heilbehandlung. Nach § 162 des Entwurfs ist die
keshymnen beteiligen und glaube, daß es viel eigenmächtige Behandlung zu Heilzwecken unter
zweckmäßiger ist, wenn man an die einzelnen Pro- Strafe gestellt. Für einen juristischen Laien ist mei-
bleme, die besonders von Bedeutung sind, sehr ner Überzeugung nach diese Bestimmung so gut wie
sachlich und vernünftig herangeht. unverständlich, und zudem ist sie auch juristisch
kaum praktikabel. Ich räume ein, daß dieses Pro-
Da fällt einem zunächst ein heißes Eisen auf, über blem ebenfalls sehr schwierig ist, weil hier eine
das bedauerlicherweise der Herr Justizminister — klare Konfliktsituation auf der einen Seite zwischen
was ich allerdings verstehen kann — nicht so beson- der Pflicht des Arztes, seinen Patienten zu behan-
ders klar gesprochen hat, und insbesondere mein deln und ihn gesund zu machen, besteht, und auf
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3211
Dr. Müller-Emmert
der anderen Seite zwischen dem Recht des einzelnen ben. — Ich darf es noch einmal sagen: Diejenigen
Patienten, frei zu bestimmen, welche Eingriffe an unter uns, die Praktiker sind, die also mit den
seinem Körper vorgenommen werden und wie er Gerichten von Berufs wegen zu tun haben
meint, sich behandeln lassen zu sollen. Ich glaube,
daß wir auch bezüglich dieses Punktes in den Be- (erneute Heiterkeit)
ratungen zu einem Ergebnis kommen werden, das — auch hier zur Klarstellung: ich meine natürlich
schließlich von allen akzeptiert werden kann. die Richter, Rechtsanwälte und Staatsanwälte —,
Ich darf in diesem Zusammenhang noch ein Wort werden mir einräumen müssen, daß diese Bestim-
zur Frage der freiwilligen Sterilisation und zur mung über den Ehebruch in unserem derzeit gelten-
Frage der freiwilligen Kastration sagen, die unter den Recht in der Praxis so gut wie nicht zur An-
Umständen medizinisch, eugenisch oder sogar auch wendung kommt. Es gibt Zahlen der Kriminalsta-
kriminologisch indiziert sein kann. Ich glaube, daß tistik aus den Jahren 1950 bis 1954, aus denen her-
es gut gewesen wäre, wenn der Entwurf sich zu vorgeht, daß in diesen Jahren bei den deutschen Ge-
dieser Frage geäußert hätte. Mein Freund Karl Witt- richten lediglich zwischen 140 und 230 Strafverfahren
rock hat zu dieser Frage schon kurz Stellung ge- jährlich deswegen anhängig waren.
nommen. Wir wissen, daß sie im geltenden Recht
Wenn man das kriminalpolitische Interesse an
nicht geregelt ist, daß vielmehr nur die Vorschrift
einer solchen Bestimmung würdigen muß, darf man
des § 226 a des Strafgesetzbuches besteht, und daß
nicht immer nur von sittlichen oder ethischen Grund-
auch der Bundesgerichtshof gewisse Entscheidungen
lagen ausgehen. Die Zahlen — obwohl sie natürlich
getroffen hat, die unseres Erachtens sehr weitgehend
nicht im geringsten etwas über die Dunkelziffer
sind. Wir werden uns auch über diese Frage im
aussagen — ergeben selber schon eindeutig, daß ein
Strafrechtsausschuß noch eingehend zu unterhalten
haben. kriminalpolitisches Interesse an der weiteren Pöna-
lisierung des Ehebruches wohl kaum bestehen kann.
Ein weiteres heißes Eisen, meine Damen und Jeder, der von Berufs wegen — als Rechtsanwalt
Herren, stellt die Bestimmung in § 182 des Entwurfs oder Richter — mit diesen Dingen befaßt ist, weiß,
dar, der von der Presse — ob mit Recht oder Un- daß der Strafantrag wegen Ehebruchs schon längst
recht, lasse ich dahingestellt — als der Maulkorb ein Handelsobjekt zwischen Ehegatten geworden
paragraph bezeichnet wurde. Auch hierzu nur einige ist, die in Scheidung stehen oder bereits geschie-
kurze Erörterungen! Es gibt für einen Juristen gar den sind, ein Handelsobjekt, das meistens nicht aus
keine Frage, daß vom Zivilrecht her gesehen das achtbaren Gründen, sondern nur deshalb verwendet
Verhalten, das im § 182 unter Strafe gestellt werden wird, um den anderen unter Druck zu setzen. Auch
soll, als rechtswidrig angesehen werden muß, d. h. hier muß man sich also sehr nüchtern die Frage
also, wenn ein betroffener oder sich verletzt füh- vorlegen: ist es in der heutigen Zeit überhaupt
lender Bürger von der Möglichkeit, den Zivilrechts- noch vonnöten, den Ehebruch aus kriminalpoliti-
weg zu gehen, Gebrauch macht und eine Unterlas- schen Gründen unter Strafe zu stellen? Hierbei ist
sungsklage vor den Zivilgerichten erhebt, wird nach noch besonders bemerkenswert, daß der Entwurf
den bisher entwickelten Grundsätzen, die analog im Gegensatz zum geltenden Recht die Strafandro-
§ 1004 BGB festgelegt wurden, die Klage mit Sicher- hung von bisher sechs Monaten nunmehr bis auf
heit zugelassen werden. ein Jahr erhöht.
In diesem speziellen Falle erhebt sich nur wieder Ich darf zu einem weiteren Problem kommen, das
einmal 'die Frage, ob man etwas, das zivilrechtlich ebenfalls aufgegriffen, meines Erachtens aber doch -
— unserer Meinung nach — in jeder Weise aus- wohl nicht hinreichend behandelt wurde, die soge-
reichend geklärt ist, pönalisieren soll, ob man es nannte künstliche Samenübertragung, die nach un-
unterSafslodbmaniesGt serem Strafgesetzentwurf strafbar sein soll, es sei
nicht vernünftigerweise weiterhin dem Zivilrecht denn, daß Same des Ehemannes auf seine Ehefrau
überlassen soll. Es muß nämlich gesagt werden, übertragen wird.
daß der Hinweis von mancher Seite, durch die
Herr Kollege Güde sagte, indem er ein altbekann-
des § 182 des Entwurfs würden unter Bestimung
tes lateinisches Sprichwort umwandelte: „Ius non
Umständen erhebliche Gefahren für die Pressefrei-
saltat — das Recht macht keine Sprünge." Er wei-
heit eintreten, nicht ohne weiteres beiseite ge-
tete das Sprichwort dahin aus, daß eine gesunde
schoben werden kann.
Rechtsentwicklung zweckmäßigerweise Schritt für
Ein weiteres Problem, über das, wie ich feststellte, Schritt zu geben habe.
kaum gesprochen wurde, ist das Problem der Straf-
barkeit des Ehebruchs. Man muß auch bei der Wür- Hier muß sich Herr Kollege Güde meiner Über-
digung dieser Bestimmung sehr freimütig, offen und zeugung nach die berechtigte Kritik gefallen lassen,
nüchtern sein. Man muß wie bei jeder Bestimmung daß der Entwurf in diesem Punkte sogar sehr große
fragen, ob überhaupt ein kriminalpolitisches Inter- Sprünge gemacht hat und versucht, auf einem Ge-
esse daran besteht, irgendeinen Lebenssachverhalt biet strafrechtlich etwas zu sanktionieren, worüber
zu pönalisieren. Diejenigen unter uns, 'die Praktiker wir noch nicht die geringsten Erfahrungen haben,
sind, — — und zwar ebensowenig in unserem Lande wie dar-
über hinaus auf der ganzen Welt. Man kann nicht
(Große Heiterkeit und Zurufe.)
so leichtsinnig vorgehen, einen solchen Lebenstat-
— Es ist interessant, meine Damen und Herren, bestand urplötzlich, aus dem blauen Himmel heraus,
daß Sie mich offenbar bewußt mißverstanden ha unter Strafe zu stellen, ohne daß man überhaupt
3212 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, ,Donnerstag, den 28. März 1963
Dr. Müller-Emmert
den Nachweis dafür führen kann, daß ein kriminal- in häufig wechselndem Geschlechtsverkehr ihrem
politisches Interesse gegeben ist. Gewerbe nachgeht, ein Kind bekommt, ohne zu
Hierbei ist vielleicht von Interesse, daß nach wissen, wer der Vater ist, und ohne daß dieser
Schätzungen — die aber beim besten Willen nicht festgestellt werden kann, wird sie nicht unter Strafe
zuverlässig sind — davon ausgegangen werden gestellt. Diejenige — möglicherweise unverhei-
ratete — Frau, die unter Umständen aus von ihrer
kann, daß es im Gebiet der Bundesrepublik etwa
Seite her durchaus achtbaren Gründen — über den
1000 Menschen gibt, die durch eine künstliche
Geschmack läßt sich streiten, meine Damen und
Samenübertragung gezeugt worden sind.
Herren —
Herr Kollege Güde führte auch aus, daß der Ent-
(Zurufe von der CDU/CSU: Das kann man
wurf durchgehend den Willen zur sachlichen Ge-
wohl sagen!)
rechtigkeit ausstrahle und daß er dies besonders
begrüße. Ich glaube, man kann ihm gerade an Hand eine künstliche Samenübertragung an sich vorneh-
der Bestimmung, in der vorgesehen ist, die künst- men läßt, wird aber unter Strafe gestellt. Daß hier
liche Samenübertragung zu bestrafen, nachweisen, Lebenssachverhalte, die im Prinzip völlig gleich-
daß diese seine Behauptung nicht richtig ist. wertig sind, rechtlich ungleichwertig behandelt wer-
den, dürfte wohl feststehen. Allein wohl deshalb
Zunächst einmal stellt dieser Entwurf also eine ist bezüglich der künstlichen Samenübertragung be-
außereheliche künstliche Samenübertragung unter rechtigte Kritik am Platze, und es wird im Aus-
Strafe. Bis jetzt ist aber noch nicht der außerehe- schuß gerade über diese Frage noch erheblich zu
liche Geschlechtsverkehr zwischen zwei nichtver- reden sein.
heirateten Partnern unter Strafe gestellt. Daraus
allein ergibt sich schon eine ungerechte Behandlung. Ich möchte weiterhin, meine Damen und Herren,
zu dem Abschnitt Straftaten gegen die Sittlichkeit
Darüber hinaus führt dieser Entwurf, sofern er einige kurze Anmerkungen machen.
Gesetz werden würde, zu einem zweiten absurden
Ergebnis. Der Entwurf sieht vor, daß der Tatbestand Zunächst einmal fällt auf, daß unser bisheriges
der künstlichen Samenübertragung ein Offizialdelikt Strafgesetzbuch mit 17 Bestimmungen auskommt,
ist, das von Amts wegen verfolgt werden muß. in denen Straftaten gegen die Sittlichkeit angeführt
Wenn beispielsweise eine verheiratete Frau — sind. Der Entwurf erweitert die Skala dieser Straf-
möglicherweise sogar mit Willen ihres Ehemannes, bestimmungen auf sage und schreibe 31. Auch dar-
der unter Umständen, wie ich einmal unterstellen aus ersieht man, daß also entweder der Versuch
möchte, impotent ist — eine künstliche Samenüber- unternommen wurde, sehr stark zu perfektionieren,
tragung vornehmen läßt, dann wird, wenn dies dem oder daß möglicherweise auch versucht wurde, ge
Staatsanwalt bekannt wird, von Amts wegen ein wisse Lebenstatbestände neu unter Strafe zu stellen,
Verfahren gegen diese Ehefrau eingeleitet, und sie die bisher nicht unter Strafe gestellt waren.
wird der strafrechtlichen Verfolgung zugeführt. Der Wir sind gerade hinsichtlich der Straftaten gegen
Ehemann selbst setzt sich der Gefahr aus, daß er die Sittlichkeit der Auffassung, daß nur dann von
womöglich wegen Anstiftung oder Beihilfe ver- einer strafbaren Handlung gesprochen werden darf,
urteilt wird. Wenn aber andererseits eine Ehefrau wenn folgende drei Rechtsgüter verletzt werden:
— sagen wir einmal: ohne Wissen ihres Ehemannes einmal die Öffentlichkeit, zum zweiten die Kinder
— einen Ehebruch begeht, dieser Ehebruch dann und unsere Jugend und zum dritten die freie Wil-
dem Ehemann bekannt wird und das Verhalten der lensbestimmung des einzelnen, wenn also eine Be- -
Ehefrau zu einer Scheidung führt, so obliegt es einflussung eines Menschen mit Gewalt oder durch
allein der Entscheidung des geschiedenen Ehe- Drohung mit Gewalt vorliegt. Bei der Prüfung die-
mannes, nunmehr seine Ehefrau der strafgericht- ser einzelnen Strafbestimmungen im Ausschuß müs-
lichen Verfolgung wegen Ehebruchs zuzuführen oder sen gerade die Erfahrungen anderer Länder auf
aber dies zu unterlassen. diesem Gebiet besonders eingehend und rechtsver-
Auch hier finden wir also eine völlig unkorrekte, gleichend herangezogen werden, zumal feststeht,
ungleiche Behandlung. Auf der einen Seite haben daß es auf diesem Gebiet in vielen anderen Län-
wir ein Offizialdelikt, das von Amts wegen zu ver- dern eine solche Fülle von Strafbestimmungen wie
folgen ist, und auf der anderen Seite ein Antrags- bei uns nicht gibt. Wenn man die Maßstäbe anlegt,
delikt, wobei man, wenn man von der ethischen die ich eben angeführt habe, muß man zu dem Er-
und sittlichen Wertskala ausgeht, wohl mit Sicher- gebnis kommen, daß die einfache Unzucht zwischen
heit behaupten darf, daß ein Ehebruch wohl ver- Männern — ich betone ausdrücklich: die einfache
werflicher sein dürfte als eine künstliche Samen- Unzucht zwischen Männern und nicht die schwere
übertragung. Unzucht zwischen Männern — in Zukunft nicht
Noch ein weiteres ist dazu zu sagen. Es gibt strafbar sein sollte. Dazu ist heute im Laufe der
Fälle, in denen die Juristen von einer exceptio Aussprache schon einiges gesagt worden.
plurium sprechen, d. h. es gibt Fälle, in denen der Bei den Bestimmungen über Verstöße gegen die
Vater eines unehelichen Kindes nicht feststeht. Ge- Sittlichkeit müßte die Strafandrohung in zwei be-
nau so muß der Fall der künstlichen Samenübertra- sonderen Fällen unserer Auffassung nach erheblich
gung gewertet werden, wenn man nicht weiß, wer erhöht werden. Ich denke insbesondere an den Fall
der Vater eines solchen Kindes ist. der Notzucht, § 204. Wir meinen, daß Notzucht auf
Wenn eine Frauensperson — entschuldigen Sie jeden Fall Notzucht ist, daß eine erhöhte Be-
diesen Ausdruck —, die eine Dirne ist und strafung in diesem Fall immer geboten ist und daß
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3213
Dr. Müller-Emmert
man von minderschweren Fällen bei Notzucht nicht Nach unserem Entwurf soll die Verletzung des
reden dürfte. Fernmeldegeheimnisses unter Strafe gestellt wer-
den. Nach dem geltenden Recht kann die Verletzung
Genau das gleiche gilt für das Delikt der Unzucht
des Fernmeldegeheimnisses nur bestraft werden,
mit Kindern, § 210 des Entwurfs. Wir meinen, daß
wenn sie von einem Bediensteten der Post verübt
die Mindeststrafe von sechs Monaten für Kinderver-
wird. Privatpersonen, die nicht der Post angehören,
derber tatsächlich zu gering ist; sie müßte höher an-
die aber ebenfalls Ferngespräche überwachen, wer-
gesetzt werden.
den nach unserem derzeitig geltenden Recht nicht
Gerade weil ich über die Strafbestimmungen ge- unter Strafe gestellt; eine dahin gehende Strafbe-
gen Sittlichkeitsverletzer gesprochen habe, möchte stimmung fehlt.
ich bei dieser Gelegenheit noch ein weiteres Problem
anschneiden, über das meines Wissens bisher noch (Zuruf des Abg. Spies.)
von keinem der Redner gesprochen worden ist. Herr — Sie können unter Strafe gestellt werden, Herr
Kollege Güde sagte Kollege Spies; Sie haben es richtig gesagt.
(Abg. Dr. h. c. Güde: Es wurde also doch Sie werden sich noch an die Fragestunde des Bun-
etwas gesagt!) destages im November 1962 erinnern, in der viele
— ich werde es Ihnen gleich sagen, Herr Kollege Kollegen erklärt haben, daß Gespräche, die sie ge-
Güde, wenn Sie gestatten —, daß der Entwurf einen führt haben, überwacht wurden. Sie werden sich
Ausgleich von gerechten Strafen und zweckmäßigen daran erinnern, daß sogar der Herr Bundeskanzler
Maßnahmen bringe. Damit hat er in mancher Hin- von sich aus angab, er sei ebenfalls Opfer solcher
sicht sicher recht. Aber in einem bestimmten Fall, Überwachungen geworden. Wir von der sozialdemo-
den ich im Auge habe, dürfte ich wohl beweisen kratischen Fraktion hatten versucht, eine Initiative
können, daß diese Behauptung nicht stimmt. zu entwickeln; wir haben unter Drucksache IV/723
eine Kleine Anfrage eingebracht, die von dem Herrn
In unserem Entwurf wurden viele Ü bertretungen Bundesinnenminister mit Drucksache IV/764 beant-
zu Vergehen gemacht, insbesondere die bisherigen wortet wurde. Nach unserer Auffassung war die
Übertretungen: gewerbsmäßige Unzucht, Bettelei Beantwortung dieser Kleinen Anfrage völlig unzu-
und Landstreicherei. Wir hörten heute auch schon reichend; den entscheidenden Problemen ist die
sehr viel Anerkennenswertes über die neue Straf- Bundesregierung in dieser Antwort ausgewichen.
art der Strafhaft. Diese Strafart der Strafhaft soll
neu geschaffen werden, weil normale Bürger, die bis Heute vormittag hat der Herr Bundesjustizmini-
dahin noch nie mit dem Gesetz in Konflikt gekom- ster zwar angeführt, daß das Problem der Verlet-
men sind, die bisher ein in jeder Weise korrektes zung des Fernmeldegeheimnisses in dem neuen
Leben geführt haben und die unter Umständen ein- Entwurf behandelt worden ist, er hat dabei aber zu
mal, sagen wir, wegen eines Verkehrsunfalls, wegen sagen vergessen, daß im wesentlichen die bisher
Trunkenheit am Steuer oder sonstwie mit dem Ge- geltende Regelung übernommen wurde und daß
richt Bekanntschaft machen mußten, mit Strafhaft immer noch eine Gesetzeslücke besteht, da dieje-
belegt werden sollen. Es steht auch in der Begrün- nigen, die nicht Bedienstete der Post sind und Fern-
dung des Entwurfs, daß diese Strafhaft getrennt von gespräche abhören, nicht unter Strafe gestellt wer-
anderen Verurteilten, von Kriminellen, vollzogen den können.
werden soll, damit nicht die Gefahr der kriminellen Wir wissen, daß das Fernmeldegeheimnis durch
Ansteckung solcher einmal Gestrauchelter im Laufe Art. 10 des Grundgesetzes ausdrücklich geschützt ist.
der Strafverbüßung besteht. Nun, so weit, so gut! Ich Daraus folgt, daß wir für die Verletzung dieses
erkenne insofern durchaus den Sinn dieser Strafhaft Geheimnisses auch eine strafrechtliche Sanktion ein-
an. führen müssen, damit solchen eindeutigen Verlet-
Es ist aber absurd, daß die nach dem Entwurf zu zungen des Grundgesetzes, wie viele Mitglieder
Vergehen gewordenen Delikte der gewerbsmäßigen dieses Hohen Hauses sie am eigenen Leibe verspürt
Unzucht, der Bettelei und der Landstreicherei mit haben, ein Ende gesetzt wird.
Strafhaft geahndet werden müssen, so daß wir zu
Meine Damen und Herren, ich bin mir darüber
dem, ich darf sagen, völlig unsinnigen Ergebnis
im klaren, daß ich Sie etwas länger aufgehalten
kommen, daß ein einmalig gestrauchelter Bürger,
habe, aber es handelte sich doch um einige Pro-
der gerade von Kriminellen ferngehalten werden bleme, die wichtig sind und über die deshalb ge-
soll, seine Strafe mit Dirnen, Bettlern und Land-
sprochen werden mußte. Ich möchte zusammenfas-
streichern, also mit niederen, asozialen Elementen
send sagen, daß wir in etlichen Punkten Einwen-
verbüßen muß, wobei doch ganz zwangläufig gerade
dungen erhoben haben, daß wir sogar teilweise
das eintreten wird, was der Entwurf verhindern harte Kritik vorgebracht haben; nach unserer Auf-
will, nämlich die kriminelle Ansteckung dieser ein-
fassung war sie notwendig. Wir möchten aber nicht
malig gestrauchelten Menschen. versäumen, darauf hinzuweisen, daß wir genauso
Meine Damen und Herren, ich möchte zum Schluß wie Sie alle in diesem Hause ein neues Strafrecht
kommen, möchte aber nicht versäumen, nachdem die wollen, das von unserem ganzen Volk getragen
Tagesordnung unter Punkt 27 auch die Beratung des wird. Das setzt aber voraus, daß nur diejenigen
von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs Lebenssachverhalte unter Strafe gestellt werden,
eines Gesetzes zur Ergänzung des Strafgesetzbuches für deren Verfolgung eine kriminalpolitische Not-
— Drucksache IV/970 — vorsieht, auch diesen Ent- wendigkeit besteht. Das setzt weiter voraus, daß
wurf ganz kurz zu begründen. aus Gründen der Duldsamkeit dem Andersdenken-
3214 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963
Dr. Müller-Emmert
den gegenüber nie die Auffassung eines Teiles unse- Herrn Dr. Müller-Emmert in einem Punkt meine Be-
rer Bürger, einer Gruppe unseres Volkes, Gesetz und sorgnis etwas beseitigt hat. Ich hatte nämlich nach
verbindliche Richtschnur für alle anderen Bürger dem heutigen Vormittag absolut den Eindruck, daß
unseres Staates werden darf. Wir müssen daher wir heute einen verlorenen Tag haben, weil wir
ein Strafrecht schaffen, 'das keinen unserer Bürger zwar theoretisch über alle möglichen Dinge sprechen,
in Gewissenskonflikte bringt. Wenn wir alle diese aber leider nicht sichtbar machen, daß in dem ganzen
Grundsätze beachten, werden die Arbeiten an der Hohen Hause der Wille vorhanden ist, vorausset-
Strafrechtsreform sicher sehr schnell vorangehen. zungslos an einem Werke mitzuarbeiten, dessen
(Beifall bei der SPD.) Notwendigkeit von uns bejaht wird. Wir wissen,
daß man eine Strafprozeßreform nicht machen kann,
wenn man nicht vorher weiß, welche materiellen
Vizepräsident Dr. Jaeger: Das Wort hat Herr Normen eigentlich vorhanden sind.
Abgeordneter Dr. Aschoff.
(Zuruf.)
Dr. Aschoff (FDP) : Herr Präsident! Meine Damen — Darüber kann man streiten, Herr Kollege, daß
und Herren! Ich bin dem Verlauf der heutigen Sit- weiß ich. Aber normalerweise zäumt man das Pferd
zung mit einem ganz persönlichen Interesse gefolgt. nicht vom Schwanz her auf, sondern vom Kopf.
In meiner Familie ist die Beschäftigung mit der Meine Damen und Herren, es genügt nicht, daß
Strafrechtsreform sozusagen erblich. Der Herr Bun- der Wille zur Reform in einer Erklärung manife-
desjustizminister hat die Freundlichkeit gehabt, stiert wird, man sei bereit, an :einer Reform mitzu-
meinen Großvater, den Reichtstagsabgeordneten arbeiten, sondern dieser Wille muß einige Voraus-
Kahl ,zu erwähnen und auf seine Ausführungen setzungen mit beinhalten. Dabei handelt es sich um
bei der Einbringung des ersten Gesetzes zur Schaf- drei Voraussetzungen.
fung des neuen Strafgesetzes im Jahre 1927 hinzu-
weisen. Sie werden es dem Enkel vielleicht nach- Erstens — das ist in den letzten beiden Diskus-
empfinden, 'daß er aus der Erinnerung auch an die sionsbeiträgen schon angeklungen — muß derjenige,
Mitarbeit als junger Strafverteidiger im Jahre 1927 der an einer solchen Reform mitarbeiten will, be-
in Berlin den Versuch machen möchte, die heutige reit sein, ein erhebliches Maß von Selbstbeschrän-
Aussprache noch einmal auf etwas Grundsätzliches kung zu zeigen. Es ist nicht möglich, eine Reform
zurückzuführen. Mein Lebensweg hat mich vom durchzuführen, in der der eine oder der andere
Strafrecht etwas weg zum Wirtschaftsrecht geführt, unter allen Umständen sein Spezialproblem durch-
und ich habe in den letzten Jahren eigentlich nur setzen zu müssen glaubt, weil sonst nach seiner Mei-
durch meinen Schwager, den Strafrechtler Eberhard nung die Welt einstürzt. Sie stürzt mit Sicherheit
Schmidt in Heidelberg, Gelegenheit gehabt, mich nicht ein.
mit den augenblicklichen Problemen wieder bekannt Zweitens — und das ist noch viel entscheidender
zu machen. Ich beabsichtige auch nicht, mit meinen — muß man sich selbst darüber klar sein, daß man
Ausführungen eine resin juristische Unterhaltung eine Arbeit an einer solchen Reform bis zu einem
fortzusetzen über einzelnen Tatbestände, deren Be- gewissen Grade entpolitisieren muß.
ratung in den Ausschuß gehört und die eigentlich
nur noch das Interesse der Fachzeitschriften erwek- (Abg. Wittrock: Da sind wir ja einig!)
ken können. — Bitte, ich werde Ihnen gleich bestätigen, worin
(Sehr gut! bei der CDU/CSU.) wir einig sind und worin wir nicht einig sind. —
Entpolitisieren bedeutet für mich, daß niemand an
Was mich interessiert und worauf ich zurückkom- dieser Strafrechtsreformarbeiten kann, Ider willens
men möchte, ist folgendes, und ich darf dabei an- ist, sie davon abhängig zu machen, daß gewisse
knüpfen an die Ausführungen meiner Fraktions- parteiprogrammatische Forderungen erfüllt werden,
kollegin Dr. Diemer-Nicolaus, der ich in allem, was und daß man bereit sein muß, ein solches Werk auch
sie gesagt hat, zustimme. mit echten Kompromissen herbeizuführen .

Die Notwendigkeit der Schaffung eines neuen Außerdem ist es nicht möglich, eine Strafrechts-
Strafgesetzbuches ist nicht nur eine Frage der Rechts- reform unter den Gedanken zu stellen, daß man
sicherheit, weil heute eine Übersicht über die mate- Mängel in der Gesellschaftsordnung dadurch zu be-
rielle Strafgesetzgebung bei vielen Leuten gar nicht seitigen sucht, daß man durch Einführung strafrecht-
mehr in dem Umfang vorhanden ist, wie sie erfor- licher Normen bestimmte gesellschaftspolitische oder
derlich sein sollte, sondern — und dabei sind wir uns moralische Zwecke erreichen will. Wir werden mit
ja wohl einig — es ergibt sich auch aus einer weiter unerhörter Sorgfalt — und das geht sicher am
entwickelten gesellschaftlichen Ordnung, eine im besten im Wege der gegenseitigen Überzeugung,
Augenblick mögliche Konsequenz zu ziehen. Eine obwohl die demokratische Maschine der Abstim-
solche Konsequenz kann man nur ziehen, wenn man mung nicht beseitigt werden kann und darf — darauf
weiß, daß die Aufgabe des Gesetzgebers nicht gleich- achten müssen, daß Tatbestände, von denen fraglich
zusetzen ist mit der Aufgabe der Wissenschaft. Die ist, ob sie von der Rechtsüberzeugung der Gesamt-
Aufgabe des Gesetzgebers kann und wird es nie- heit getragen oder überhaupt anerkannt werden,
mals sein, die letzten Gründe des Strafrechts über- nicht zum Gegenstand einer Normierung gemacht
haupt zu erörtern oder möglicherweise zu normie- werden. Wir werden dabei sehr vorsichtig sein
ren. Ich bin außerordentlich dankbar, 'daß die Dis- müssen. Es sind vorhin Beispiele genug erwähnt
kussion zwischen Frau Dr. Diemer-Nicolaus und worden, für die diese Überlegung zutrifft.
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3215
Dr. Aschoff
Der dritte, aber ganz entscheidende Gesichtspunkt zung der Toleranz, der weisen Selbstbeschränkung
ist der praktische. Wenn wir uns heute darauf be- im Interesse der großen Zukunft aufzubringen?
schränken, diesen Gesetzentwurf in erster Lesung
(Beifall bei der FDP.)
zu verabschieden, dann tritt mit aller Wahrscheinlich-
keit die parlamentarische Schwierigkeit ein, daß
dieses Gesetz in dieser Periode nicht zum Abschluß Vizepräsident Dr. Jaeger: Das Wort hat der
kommt und daß wir anstatt eines Auftaktes eigent- Abgeordnete Dr. Winter.
lich eine Beerdigung haben. Das ist nicht der Sinn.
Wir müßten also, wenn erhebliche verfassungsrecht- Dr. Winter (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine
liche Schwierigkeiten bestehen, eine in Gang ge- Damen und Herren! Wenn ich versuche, zu diesem
setzte Reformbewegung in eine neue Legislatur- Regierungsentwurf noch einiges zu sagen, so darf
periode hinüberzuretten, zu dem Entschluß kommen, ich zunächst erklären, daß es mir fern liegt, dem
einem solchen Reformwerk diejenigen Mittel der gründlichen und in die Tiefe gehenden Referat
Arbeit zur Verfügung zu stellen, die es braucht, und meines verehrten Fraktionskollegen Dr. Güde etwas
das ist eben ein Strafrechtsausschuß. Wer den auch nur entfernt Ähnliches nachschicken zu wollen.
Willen so, wie ich ihn geschildert habe, mit den Es scheint mir aber doch notwendig zu sein, zu einer
beiden Hypothesen, nicht zu akzeptieren bereit ist Reihe von Einzelfragen, die heute im Laufe der Dis-
und wer nicht bereit ist, in diesem Parlament auch kussion angesprochen worden sind, noch das eine
die Möglichkeit zu schaffen, dieses Gesetz in der oder andere hinzuzufügen.
Verantwortung dieses Bundestages zu erledigen, der Herr Kollege Wittrock hat gemeint, wir dürften
sagt eigentlich gegen bessere Erkenntnis hier ja zu es nicht auf Mehrheitsentscheidungen ankommen
einer Überweisung, hinter der vielleicht nicht die lassen, sondern müßten zu gemeinsamen Entschei-
Möglichkeit einer Verwirklichung steht. dungen kommen. Ich glaube, daß das eine sehr opti-
mistische Hoffnung ist, nach dem, was wir inzwi-
Vizepräsident Dr. Jaeger: Herr Abgeordneter, schen an Einzelvorstellungen hier vorgetragen be-
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten kommen haben. Ich kann mir schlecht vorstellen,
Wittrock? daß es bei diesen Auffassungen wirklich im großen
zu solchen gemeinsamen Vorstellungen kommt. Ich
(Abg. Dr. Aschoff: Bitte!) glaube auch nicht, daß das unbedingt nötig ist. In
einem Hause, wie wir es darstellen, wird es letzt-
— Herr Abgeordneter Wittrock!
lich nichts schaden, wenn ausdiskutierte Probleme
durch Mehrheitsentscheidung entschieden werden.
Wittrock (SPD) : Herr Kollege, ist Ihnen bekannt, Es ist nicht in allen Fällen notwendig, daß man sich
daß zwischen den Fraktionen dieses Hauses Ein- einigt.
mütigkeit darüber besteht, daß gegebenenfalls durch Zwei Dinge haben mir aber an dem Diskussions-
Teilgesetze das Hindernis der Diskontinuität ausge- beitrag des Kollegen Wittrock, beinahe hätte ich ge-
räumt werden soll, so daß in jedem Falle die Gewähr sagt, weh getan.
dafür besteht, in sich abgerundete Ergebnisse der Herr Kollege Wittrock, es gibt gar keinen Zwei-
Beratungen zu sichern? fel — und Sie hätten es auch aus der Rede von
Herrn Kollegen Güde entnehmen können —, daß
Dr. Aschoff (FDP) : Das ist mir bekannt, Herr unsere Freunde durchaus nicht hinter jedem Einzel-
Kollege. Sie werden mir aber auch zugeben, daß das vorschlag der Regierung zementiert stehen und ihn
eine außerordentlich unschöne Behelfsmaßnahme ist, mit Feuer und Schwert verteidigen. Wir alle haben
die außerdem die Schwierigkeit in sich birgt, daß bei die Absicht, uns über diese Dinge ganz genau und
einer isolierten Betrachtung von Teilgebieten die ganz sorgfältig Gedanken zu machen und mit Ihnen
weltanschaulichen oder parteipolitischen Bindungen diese Dinge zu diskutieren. Wenn Sie aber diese
sehr viel härter aufeinanderkommen, als wenn man Bereitschaft von vornherein dadurch diskriminieren,
die Dinge in einem großen Rahmen sieht. Gestatten daß Sie von einer „Entrümpelung" des Entwurfs
Sie mir, daß ich diese Sorge zum Ausdruck bringe sprechen, dann bringen Sie die Auseinandersetzung
und die Hoffnung ausspreche, daß man einen anderen auf ein Gleis, auf dem wir diesen Zug nicht sehr
Weg finden wird. gern fahren sehen möchten.
(Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)
Meine Damen und Herren! Ich bin damit am Ende
dessen, was ich hier sagen wollte. Ich glaubte, wir Das Zweite in dieser Richtung liegt ähnlich. Ich
sollten uns in dieser Debatte nicht dahin verlieren, glaube sagen zu können: wir alle, sicher aber wir,
daß wir uns nun über einzelne Tatbestände unter- die wir im Rechtsausschuß mit Ihnen zusammenzu-
halten und damit den Eindruck erwecken, daß das sitzen seit Jahren das Vergnügen haben, sind be-
Problem dieser Reform erschöpft sei mit einzelnen reit, mit Ihnen über die oberstrichterliche Rechtspre-
hier je nach Einstellung und Weltanschauung be- chung und ihre Ergebnisse zu diskutieren. Keiner
sonders hochgespielten Problemen. Die Dinge ge- von uns ist etwa so stur, daß er jeden Angriff, je-
hen doch viel weiter, und wir sollten uns erst ein- den wohlbegründeten fachlichen, sachlichen Angriff
mal darüber klar sein: Haben wir selbst nicht nur gegen eine höchstrichterliche Entscheidung, gegen
den echten Willen zu dieser Reform, sondern sind eine höchstrichterliche Meinung zurückweisen
wir auch bereit, die äußeren Voraussetzungen zu würde. Aber ein Niveau, bei dem diesen höchst-
schaffen, und sind wir bereit, die innere Vorausset- richterlichen Entscheidungen eine pharisäische
3216 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963
Dr. Winter
Weise unterstellt wird, ein solches Niveau möchten fallen. Das Gefängnis wird nicht mehr unter einem
wir jedenfalls bei diesen Diskussionen nicht betre- Monat vorgesehen. Das Zuchthaus, das bisher schon
ten haben. mindestens ein Jahr betragen sollte, wird nach dem
Entwurf mindestens mit zwei Jahren angesetzt. Ich
Ich hielt mich für verpflichtet, das in diesem Zu-
glaube, der Tendenz, den Vollzug kurzer Freiheits-
sammenhang und hier ausdrücklich zu sagen, weil
strafen möglichst einzuschränken, ist durch den Ent-
es gerade nach dem Diskussionsbeitrag des Kol-
wurf Rechnung getragen worden.
legen Aschoff hier in diesem Hause sehr darauf an-
kommt, wie ernst und wie aufgeschlossen zuein- Ich habe mich nun ein paar Dingen zuzuwenden,
ander wir an die Problematik dieses großen Geset- die aus dem speziellen Teil herausgegriffen worden
zes herangehen. Es gehört weiß Gott eine ganze sind. Nach den Erlebnissen der letzten Wochen und
Portion Optimismus dazu, wenn man daran glauben Monate ist natürlich alles das, was sich auch an
soll, daß noch in dieser Legislaturperiode etwas ge- strafrechtlichen Bestimmungen um Staatsgeheimnisse
schaffen werden kann, das Hand und Fuß hat, wenn rankt, in der Öffentlichkeit irgendwie in die Dis-
auch vielleicht in der einen von Ihnen vorhin zwi- kussion geraten. Frau Kollegin Dr. Diemer-Nicolaus
schendurch angedeuteten Weise. glaubt, daß die Regierung nicht das Recht haben
dürfe, von sich aus zu bestimmen, was ein Staatsge-
Sie haben ein Faktum angeführt, bei dem ich
heimnis ist. Dann muß ich aber doch bitten, sich zu
Ihnen in vollem Umfange recht zu geben bereit bin.
überlegen, wie das denn sonst bestimmt werden
Das ist die vordringliche Reformbedürftigkeit un-
sollte. Sollte es etwa das Parlament bestimmen? Wir
seres Strafvollzuges. Ich bin bereit, und auch meine
haben ja auch Beispiele dafür, daß das zweifelhaft
Freunde sind sicher bereit, diesen Gesichtspunkt im
wird. Auf keinen Fall kann es aber so gehen, daß
Auge zu behalten. Aber selbstverständlich hängen
die Frage, was ein Staatsgeheimnis ist, das man ver-
materielles Strafrecht, formelles Strafrecht und
raten könnte, in den subjektiven Tatbestand ver-
Strafvollzugsrecht so eng zusammen, daß man
legt wird, so daß etwa der Täter sich erst einmal
durchaus im Zweifel darüber sein kann, was den
Kenntnis verschafft und dann darüber entscheidet,
Vorrang hat, was zuerst an die Reihe kommt. Wir
ob er das für ein Geheimnis hält, ob in seinem Ge-
sind im Augenblick bei einer kleinen Strafprozeß
wissen ihn etwas zur weiteren Geheimhaltung auf-
reform, wir sind bei einer ganz großen materiellen
ruft. So kann es ja wohl nicht gehen. Es muß eine
Strafrechtsreform, und wir werden den Strafvollzug
Objektivierung des Staatsgeheimnisses geben. Es
nicht vernachlässigen dürfen.
muß einen strafrechtlichen Schutz des formalen
Ich möchte aber ausdrücklich sagen: ich glaube Staatsgeheimnisses in irgendeiner Form geben. Ich
nicht, daß man den Strafvollzug und seine Reform gebe gerne zu, daß man über die Formulierungen
ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Re- dieses Entwurfs in der oder jener Form durchaus
sozialisierung sehen darf. Selbstverständlich ist die noch diskutieren kann. Aber das glaube ich sagen
Resozialisierung desjenigen, der mit dem Gesetz in zu können: Es muß einen strafrechtlichen Schutz
Konflikt gekommen war, einer der wesentlichen eines formalen Staatsgeheimnisses geben, ohne daß
Zwecke des Strafvollzugs. Aber gerade das, was wir nun in allen Fällen der Nachprüfung Tür und Tor
hier jetzt vor uns liegen haben und von dem der geöffnet ist.
Herr Kollege Dr. Güde sehr ausführlich dargelegt
hat, inwieweit und inwiefern es sich um ein echtes
Schuldstrafrecht handelt, muß uns zum Bewußtsein Vizepräsident Dr. Jaeger: Herr Abgeordneter
-
Wittrock zu einer Zwischenfrage!
bringen, daß Schuld und Sühne — also auch die
Sühne — beim Strafvollzug eine entscheidende
Rolle spielen. Wittrock (SPD) : Bedeutet das, Herr Kollege Win-
ter, daß Sie über die formale Geheimnisschutzvor-
Auch der dritte Gedanke des unmittelbaren Schut- schrift des § 353 c des geltenden Rechts hinausgehend
zes der Allgemeinheit vor den Taten eines nunmehr
den Bereich des Schutzes des Geheimnisses im for-
auf längere oder kürzere Zeit festgesetzten Verbre- mellen Sinne noch erweitert sehen wollen? Denn
chers oder des indirekten Schutzes, der darin be- ich verstehe Sie doch richtig, daß Sie zwischen
steht, daß der potentielle Verbrecher sich durch die materiellem Staatsgeheimnis und formellem Ge-
Strafdrohung von seinen Absichten abschrecken heimnis unterscheiden?
läßt, ist beim Strafvollzug zu berücksichtigen.
Auch von daher, weil natürlich die Abschreckung Dr. Winter (CDU/CSU) : Für das geltende Recht
differenziert sein muß je nach dem Gewicht des An- will ich natürlich nichts, sondern ich will nur zum
griffs auf die Rechtsordnung, den es abzuwehren Ausdruck bringen, daß wir uns bei dem Entwurf, der
gilt, scheint mir die Differenzierung der Strafarten, ja vorläufig nur Entwurf ist, genau überlegen müs-
so, wie sie im Gesetzentwurf vorgesehen ist, doch sen, welchen Schutz auch die formalen Staatsgeheim-
sinnvoll zu sein. Ich bin mit Ihnen der Meinung, daß nisse haben müssen.
kurze Freiheitsstrafen nur in verhältnismäßig selte-
nen Ausnahmefällen sinnvoll vollzogen werden, und (Abg. Wittrock: Wir haben den materiellen
ich glaube, daß wir den Entwurf auch als ein Ergeb- Geheimnisbegriff. Was heißt formelles Ge
nis solcher Überlegungen ansehen dürfen. Selbst die heimnis?)
Strafhaft, die als neue Institution hier eingeführt — Herr Kollege Wittrock, ein Geheimnis, von dem
wird, wird nicht mehr unter einer Woche vorgese- hinterher durch eine Gerichtsentscheidung festge
hen. Die ganz kurzen Strafen sind also schon wegge stellt wird, daß es wirklich ein Geheimnis gewesen
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3217
Dr. Winter
ist und daß sein Verrat wirklich Schaden angerichtet sätzlich zu dem, was bisher erlaubt ist, weiterhin
hat, ist ein materielles Geheimnis. Ein formelles erlaubt werden soll.
Geheimnis ist in meinen Augen eine Tatsache, eine Ich möchte davon absehen, mich mit allen Argu-
Festlegung, ein Schriftstück oder sonst ein Gegen-
menten für und wider in aller Breite auseinander-
stand, von dem eine dafür zuständige Behörde er-
zusetzen. Ich möchte nur darum gebeten haben, dar-
klärt hat, daß er geheim zu behandeln sei. Dann
auf zu verzichten, gerade in dieser Frage w elt-
sind die Bürger des Staates an die so festgestellte
anschauliche, religiöse Fragen in den Vordergrund
Geheimhaltungspflicht gebunden, auch wenn sich
zu stellen. Sicher haben wie sonstwo auch in dieser
später einmal herausstellt, daß es gar nicht nötig
Frage die christlichen Kirchen einen Beitrag zu lei-
gewesen wäre, das, worum es geht, nun geheim-
zuhalten. Denn es muß natürlich — und ich lege sten und uns mit Argumenten zu versehen, Sicher
Wert darauf, das noch zu sagen — geklärt sein, wer müssen wir die Argumente werten und würdigen;
für die Geheimniserklärung zuständig ist. Nur die aber wir sind hier, um dann in Kenntnis und nach
zuständige Stelle kann ein solches Geheimnis fixie- Würdigung der Argumente nach dem zu entscheiden,
ren. was wir für richtig erkannt haben, und sei es auch in
einer Mehrheitsentscheidung.
Im übrigen hat der Entwurf auch sehr präzise
Die Frage, die der Herr Kollege Müller-Emmert
Vorstellungen über den privaten Geheimnisschutz;
zuletzt noch unter Hinweis auf den SPD-Entwurf auf-
ich will sie nicht vertiefen. Wenn hier davon ge-
geworfen hat, ist in etwa in dem Entwurf unseres
sprochen wird, daß ein bestimmter Vorschlag des
neuen Strafgesetzbuchs in § 183 Abs. 2 mindestens
Entwurfs an die Pressefreiheit herangeht, wenn Frau
angedeutet. Diese Fassung enthält vielleicht bis zu
Kollegin Diemer-Nicolaus glaubt, wir als Parlamen-
einem gewissen G rade , etwas anderes; aber es ist
tarier seien im öffentlichen Interesse so viel weiter
vorn als andere Bürger, wenn sie meint, daß unsere zum Schutz des nicht zur Veröffentlichung bestimm-
privaten Geheimnisse weniger geschützt werden ten Wortes verboten, abzuhören, natürlich auch am
müßten, dann müssen wir uns alles das offenbar Telefon abzuhören. Ichwürde sagen, das fällt dar-
noch einmal genau ansehen. unter. Aber wir wollen uns darüber nicht streiten.
Es ist durchaus verdienstvoll, daß über dieses Pro-
Ich bin seit vielen Jahren der Überzeugung, daß blem hier gesprochen wird.
der Ehrenschutz, den der Vater Staat seinem Bürger
Der Herr Minister wird mir nicht übelnehmen,
gewährt, ein sehr mangelhaftes Instrument ist. Es
wenn ich noch eine Bemerkung anknüpfe. Selbst-
wäre sehr wohl angebracht, sich darüber Gedanken
verständlich habe weder ich noch hat sonst jemand
zu machen, wie und in welcher Richtung man das
bessern kann. Man kann nicht sagen: Die Parlamen- erwartet, daß die Regierung einen Entwurf vorlegt,
tarier stehen so im öffentlichen Interesse, daß ihre der das Grundgesetz ändern wird, aber es gibt in
privaten Geheimnisse weniger geschützt sein müß- der Öffentlichkeit seit eh und je immer wieder Er-
ten als die anderer. Das macht ja dann nicht bei den örterungen über di e Todesstrafe, und es gibt in die-
Parlamentariern halt. Wieso soll es einem führenden sem Hause immer wieder einzelne Vorstöße in der
Beamten irgendeiner Behörde, einem führenden Richtung. Diejenigen, die hier im Hause nach der
Manne eines Wirtschaftsunternehmens, einem füh- Richtung vorstoßen, sind immer wieder vertröstet
renden Manne einer Massenorganisation nicht eben- worden auf die große Strafrechtsreform. Es liegt mir
so gehen wie dem Parlamentarier? Auch er steht vor fern, heute dieses Thema auch nur anzuschneiden,
der Öffentlichkeit. aber ich möchte doch ankündigen, daß wir diese
Frage im Rahmen der 'Beratung dieses Entwurfs -
Die Abgrenzung der Intimsphäre des einzelnen irgendwie zur Entscheidung bringen müssen. Daß
Menschen gegenüber dem allgemeinen öffentlichen wir uns Jane miteinander noch sehr viel Mühe geben
Interesse ist nicht leicht zu finden; das muß ich zu- müssen, wenn wir hier in den wenigen Monaten
geben. Aber die Notwendigkeit, auch die moralische nach etwas erreichen wollen, was sich einigermaßen
Notwendigkeit, allen Bürgern einen ausreichenden sehen lassen kann, das, glaube ich, muß wohl unsere
Ehrenschutz zu bieten kann man, glaube ich, nicht gemeinsame Überzeugung sein.
auf die Dauer bestreiten.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Die Erörterung über verschiedene Fragen straf-
barer Sittlichkeitsverletzungen ist bei dem Kollegen Vizepräsident Dr. Jaeger: Das Wort hat der
Müller-Emmert vielleicht ein bißchen sehr ins De- Abgeordnete Dr. Heinemann.
tail gegangen. Immerhin ist die Frage, ob eine Ab-
treibung nach vorausgegangener Vergewaltigung Dr. Dr. Heinemann (SPD) : Herr Präsident!
erlaubt sein soll, eine Frage, die nun seit vielen Meine Damen und Herren! In dem friedlichen juri-
Monaten die Öffentlichkeit bewegt. Ich bin Frau stischen Seminar des heutigen Nachmittags möchte
Kollegin Diemer-Nicolaus dankbar dafür, daß sie in ich lediglich einige Bemerkungen zu dem politischen
ähnlicher Weise wie 'ich seit langem bemüht bin, Strafrecht, d. h. zu den Titeln Staatsgefährdung,
ebenfalls bemüht ist, dafür ein anderes Schlagwort Hochverrat, Landesverrat machen.
als das in der Presse übliche zu finden. Denn mit
(Abg. Memmel: Wird es dann unfriedlich,
Ethik hat das verhältnismäßig wenig zu tun. Es
Herr Heinemann?)
dreht sich nur darum, ob unter ganz bestimmten
Umständen die Abtreibung, ein Eingriff i n mensch- — Haben Sie keine Sorge, ich füge mich gern in den
liches Leben, i n die menschliche Existenz, noch zu Stil eines Seminars. Etliche Vorgänge aus diesen
3218 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963
Dr. Dr. Heinemann
Bereichen unseres Rechtslebens haben gerade in den die freiheitlich-demokratische Ordnung als solche
vergangenen Wochen und Monaten die Gemüter anerkennt und beibehalten wissen will.
zutiefst bewegt und ein erhebliches Unbehagen an
Von daher bejahen auch wir von der sozialdemo-
der Regelung dieser Bereiche erkennen lassen. Den-
kratischen Fraktion durchaus den Komplex, der in
jenigen, der etwas mehr als vielleicht im Durch-
dem neuen Strafgesetzentwurf mit dem Titel
schnitt in diesem Bereich beruflich tätig ist, konnte
„Staatsgefährdung" bezeichnet ist. Wir möchten aber
aber dieses Unbehagen, das da aufgebrochen ist, im
einige grundsätzliche Einwände oder Anregungen
Grunde genommen nicht überraschen.
zur Verbesserung aussprechen. Auch der. Entwurf
Die Strafrechtsänderung von 1951 wird ja auch bringt bereits gegenüber der Regelung von 1951
von einem Teil der damaligen Väter heute nicht gewisse Verbesserungen, die wir begrüßen. So läßt
mehr gern gesehen, zumal angesichts dessen, was in der Entwurf jetzt die Tätigkeit in einer politischen
der Rechtsprechung daraus geworden ist. Dieses Un- Organisation nur dann strafbar sein, wenn es sich
behagen liegt nicht darin, daß der Staat sich schützt um die Tätigkeit in einer verbotenen Organisation
— das muß er tun —, sondern es liegt daran, wie er handelt. Das war 1951 anders gedacht. Aber das
es tut. 1951 haben wir in unser Strafrecht als ein Bundesverfassungsgericht hat im März 1961 eine
neues, bis dahin unbekanntes Element die soge- Bresche geschlagen, die jetzt in dem Entwurf aus-
geweitet wird, so daß sie für politische Parteien
nannte Staatsgefährdung eingeführt. Der ursprüng-
liche liberal-demokratische Staat ließ die politische und politische Organisationen anderer Art in glei-
cher Weise wirksam wird.
Willensbildung völlig frei. Er ließ sie frei sogar in
Richtung auf die Staatsverfassung. Es konnte disku- An Anregungen oder Einwendungen zu diesem
tiert werden, ob der Staat Monarchie, Republik oder Teil des Entwurfs möchte ich dreierlei vorbringen.
sonst etwas sein sollte. In der ursprünglich liberal- Der Begriff „Staatsgefährdung" erscheint nicht
demokratischen Auffassung waren lediglich be- glücklich. Es geht nicht um den Staat als solchen,
stimmte Methoden für die Durchsetzung eines poli- sondern es geht um dessen freiheitliche Ordnung.
tischen Willens strafbar. Es wurde die Grenze des Wir bitten deshalb, zu erwägen, ob man diesen
Hochverrats erreicht, wenn ein politischer Wille Titel im Strafgesetzbuch nicht auch so nennen sollte,
mit Gewalt oder mit der Androhung von Gewalt nämlich: „Gefährdung der freiheitlichen Ordnung",
durchgesetzt werden sollte. weil das der Sache besser entspricht und es gleich-
zeitig für die Anwendung dieser Bestimmungen
1951 wurde demgegenüber eine bestimmte Ab-
etwas Richtungweisendes hätte.
grenzung zwischen zulässiger und unzulässiger Wil-
lensbildung vollzogen. Gewisse politische Zielset- Ein Zweites! Wir wollen gewahrt wissen, daß die
zungen in Verbindung mit der Art, wie sie verfolgt Vermutung für die Zulässigkeit politischer Betä-
werden, sind seitdem strafbar. Das, was 1951 in tigung spricht, daß mit anderen Worten eine poli-
unser Strafrecht hineingekommen ist, hat gewisse tische Tätigkeit nur dann pönalisiert werden kann,
Grundlagen bereits im Grundgesetz von 1949, das wenn eindeutig Tatbestände verwirklicht werden.
ja die darin vollzogene Verfassungsordnung stabili- Es ist eine der wesentlichen Errungenschaften mo-
sieren wollte. So zu lesen etwa in Art. 9, wonach dernen Strafrechts überhaupt, daß eindeutige Tat-
Vereinigungen verboten werden können, die sich bestände gefordert werden, aus denen die Rechts-
gegen die Grundordnung richten. Dasselbe gilt von widrigkeit und die Schuldhaftigkeit eines Handelns
Parteien gemäß Art. 21. Dasselbe gilt in bezug auf leicht abzulesen und zu erkennen sind. Das soge-
Einzelpersonen, denen Grundrechte aberkannt wer- nannte Tatbestandsstrafrecht hat eine Schutzfunk-
den können, wenn sie die Grundlage der freiheit- tion, die erhalten werden muß.
lichen Demokratie nicht respektieren. 1951 wurde in Unter diesem Gesichtspunkt, der uns sicherlich
Fortsetzung solcher Ansätze im Grundgesetz ein alle miteinander verbindet, erscheint uns die Reich-
Bereich von Strafnormen nunmehr auch zur straf- weite einiger Normen in dem Entwurf zu groß ge-
rechtlichen Sicherung der freiheitlich-demokratischen faßt. Diesbezügliche Einzelheiten sind selbstver-
Grundsätze entwickelt. ständlich erst im Ausschuß zu erörtern. Ich möchte
lediglich an einem Beispiel andeuten dürfen, um
Der Entwurf, den wir jetzt diskutieren, setzt das was es hier geht.
fort. Wir finden im heutigen Entwurf in § 380 eine
Darstellung der wesentlichen Grundsätze einer frei- Da haben wir im Entwurf den § 373 mit der Über-
heitlichen Demokratie, in Übereinstimmung mit der schrift: „Staatsgefährdende Agententätigkeit". Nach
entsprechenden Darstellung von 1951. Der Entwurf dem Wortlaut dieser Bestimmung könnte auch straf-
sagt, daß es rechtswidrig sei, diese Grundsätze um- bar werden offene Presseberichterstattung — etwa
zustoßen, umstoßen zu wollen. Diese Grundsätze hinüber nach Ostberlin —, könnten auch strafbar
sind die Elemente der Freiheit, und deshalb können werden politische Einzelgespräche von Bürgern dies-
sie nicht Gegenstand der Freiheit sein. Sie sind die seits und jenseits der Mauer, könnten auch strafbar
Substanz der Freiheit. Die freiheitliche Demokratie werden Beeinflussungsversuche durch lautere Mittel.
ist mit anderen Worten mehr als nur eine Methodik, In der Begründung zu § 373 wird gesagt, daß das
mehr als nur eine Sammlung von Spielregeln. Die alles nicht strafbar sein solle, daß man also z. B.
freiheitliche Demokratie ist das Wesen unserer poli- insbesondere die offene journalistische Tätigkeit
tischen Existenz. Von daher ist es gerechtfertigt, nur nicht unter Strafe stellen wolle. Aber der Bundes-
den zum Mitspiel zuzulassen oder im Mitspiel blei- gerichtshof hat auf der Grundlage des § 100 d des
ben zu lassen, der sich diesen Spielregeln fügt und Strafgesetzbuches, der jetzt in diesem § 373 auf-
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geht oder in ihn übergeht, Bestrafungen ausgespro- Es ist geradezu durch Jahrhunderte hindurch
chen. Deshalb erscheint es uns nicht als genügend, klassisch, daß Hochverrat der Angriff auf die staat-
daß lediglich in der Begründung gesagt wird, dies liche Ordnung mit bestimmten Mitteln, nämlich mit
oder das solle nicht strafbar sein; wir wünschen dem Mittel der Gewalt oder mit der Androhung
vielmehr, daß das im Gesetzestext selber klar er- von Gewalt, ist. Erstmalig der Bundesgerichtshof ist
kennbar wird. darauf gekommen, es auf die Wirkung abzustellen
und von dem Mittel abzusehen, infolgedessen also
Auch 1951 wurde sowohl im Rechtsausschuß als in das mögliche Mittel hochverräterischer Betäti-
auch durch die Berichterstattung des Sprechers des
gung auch demonstrative Willensbekundungen oder
Rechtsausschusses hier im Plenum des Bundestages einen Streik einzubeziehen. Die diesbezügliche
einiges als in einer ganz bestimmten Weise gedacht Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs haben viele
und gewollt dargelegt, aber der Bundesgerichtshof Juristen für nicht gesetzesgemäß erachtet. Jetzt will
hat sich daran nicht gebunden; er steht auf dem dieser Entwurf sie sanktionieren, aber bemerkens-
Standpunkt, für ihn sei der Gesetzestext maßge- werterweise nicht dadurch, daß es in den Gesetzes-
bend, und er könne nicht von diesem Gesetzestext text hineingeschrieben wird; sondern lediglich in
durch Hinweis auf Gesetzesmotive weggedrängt der Begründung wird diese ausweitende Auslegung
werden. Deshalb also unter -Petitum, das ich hier unterstrichen, und damit soll sie sanktioniert wer-
an diesem Beispiel verdeutlichen wollte, daß in
den. Wenn das sanktioniert werden soll, was der
dem Gesetzeswortlaut das Strafbare vom nicht Bundesgerichtshof vorauseilend entwickelt hat,
Strafbaren bündig unterschieden werde, so daß man dann bitten wir, es in das Gesetz hineinzuschreiben,
nicht erst allerlei Nachforschungen nach gesetzgebe- damit es klar ist und damit es vor allen Dingen auch
rischen Gedankengängen — so oder anders — anzu- in unseren Erörterungen klar erkennbar wird. Wir
stellen braucht. wollen nicht, daß hier Dinge unkontrolliert zu einer
Auch § 372 des Entwurfs unter dem Titel „Staats- gesetzlichen Stabilisierung kommen, bloß durch Be-
gefährdende Werbung" müßte daraufhin angesehen merkungen in einer Begründung, die ja doch die
werden; denn nach seinem Wortlaut trifft er auch wenigsten Menschen lesen werden oder lesen kön-
Einzelpersonen, trifft er auch die Literatur oder nen.
das Schrifttum einer nicht verbotenen Partei, was
ebenfalls nach den Motiven nicht sein soll, aber im Zum Landesverrat auch nur noch einige wenige
Text keineswegs klar ausgeräumt ist. Worte! Herr Kollege Winter hat soeben gemeint,
nur die Regierung könne bestimmen, dürfe bestim-
Ein drittes Grundsätzliches! Wir möchten gewahrt men, sie allein sei zuständig, zu sagen, was Staats-
wissen die Verhältnismäßigkeit zwischen der Ge geheimnis ist. Nun, wir sind der Meinung, daß hier
fährdung und der Abwehr, insbesondere hinsichtlich endlich einmal in einer guten Weise das Interesse
der Höhe der vorgesehenen Strafe. Zu einer sol- des Staates auf der einen Seite und das der Bürger
chen Bemerkung sehe ich mich auf Grund von § 369 auf der anderen Seite ausgewogen werden muß.
des Entwurfs veranlaßt, der unter der Überschrift Das kann sich weitgehend decken; das weiß ich,
steht: „Vorbereitung einer Gewaltherrschaft". Die- das wissen wir alle; aber die Bürger haben unter
ser Paragraph, wenn man ihn im einzelnen durch-. Umständen ein Interesse daran, über das, was sich
geht, enthält Dutzende von Variationen möglicher in der Regierung tut, etwas mehr zu erfahren. Sie
Verwirklichung und stellt alle diese Variationen so wollen über Vorgänge informiert sein, damit sie
unter Strafe, daß der Versuch dem vollendeten De- darüber diskutieren können und damit sie eine
likt gleichgeachtet wird. Alles steht unter der Straf- Grundlage für ein verantwortliches eigenes poli--
androhung von mindestens sechs Monaten Gefäng- tisches Handeln haben. Von daher ist es durchaus
nis, nebenbei bemerkt: die Mindeststrafe beim berechtigt, einen Unterschied zu machen zwischen
Totschlag. Wir sind der Meinung, daß noch einmal Staatsgeheimnis und Regierungsgeheimnis. Ich
überdacht werden muß, ob hier, wenn man über- würde sagen, ein Staatsgeheimnis deckt uns alle,
haupt schon den Versuch so strafbar sein lassen Regierung und Opposition. Ein Staatsgeheimnis be-
will wie die vollendete Tat und ihn mit der Min-' steht im Verhältnis dieses unseres Staates zu an-
deststrafe wie bei dem Totschlag bedroht, nicht un- deren Staaten, es ist ein Geheimnis der Außenwelt
verhältnismäßig gehandelt wird. gegenüber. Regierungsgeheimnis ist etwas wesent-
Nun noch eine Bemerkung zum Hochverrat! Der lich Engeres. Regierungsgeheimnis würde das sein,
Titel Hochverrat verändert unser bisheriges Recht was die Regierung zugedeckt halten will sonderlich
in zwei Richtungen. Aus dem sogenannten Bestands- im Verhältnis zur Opposition, und genau das res-
verrat wird Gebietsverrat gemacht, und außer der pektieren wir nicht als Staatsgeheimnis. Das könnte
Anwendung von Gewalt und der Drohung mit Ge- eigentlich im Grunde genommen keiner von Ihnen
walt sollen nun auch gewisse psychologische oder als 'Staatsgeheimnis respektieren, weil wir alle dar-
zwangswirkende Betätigungen wie Demonstration auf aus sind, eine Information der Öffentlichkedt
oder Streik strafbar sein. Was die Veränderung von und eine Meinungsbildung unter den Wählern und
Bestands- in Gebietsverrat anlangt, so werfe ich die Staatsbürgern aufzuschließen. Hier wird es unter
Frage auf, wie das in eine Zeit passen soll, die stär- Umständen, weil spannungsfreie Lösungen — das
ker als früher aus den staatlichen Begrenztheiten Wort fiel ja heute schon einmal — nicht möglich
herausstrebt, und was die Ausweitung des strafba- sind, wesentlich darauf ankommen, daß Behörden,
ren Mittels angeht, so meine ich, daß man hier der Regierungen usw. ein positiveres Verhältnis zur
voraufgeeilten Rechtsprechung des Bundesgerichts- Presse finden, und zwar zur Presse aller Partei-
hofs nicht folgen sollte. richtungen.
3220 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963

Dr. Dr. Heinemann


Ich darf hier der Einfachheit halber auf einiges lässig erachtet haben, in einem Strafverfahren mit
verweisen, was uns der Deutsche Presserat unter- geheimen Zeugen zu arbeiten und als Belastungs-
breitet hat. Wenn es zu einer Selbstverständlichkeit zeugen Mittelspersonen zuzulassen, so daß der An-
bei uns gehören würde, daß der Umgang mit der geklagte überhaupt nicht mit dem Zeugen kon-
Presse positiver, freundlicher, offenherziger gehand- frontiert wird, der das eigentliche Beweismittel sein
habt wird, dann wäre sicherlich das nicht passiert, soll. In einer Broschüre des Rechtsanwalts Dr. Posser
was jetzt im Januar dieses Jahres durch das Ober- „Politische Strafjustiz aus der Sicht des Verteidi-
landesgericht in Hamm zu der Verurteilung eines gers" finden Sie die nähere Schilderung einer der-
westfälischen Redakteurs geführt hat. Sie wissen artigen Verhandlung, die gegen den Angeklagten
alle in etwa aus den Zeitungen von diesem Vor- auf geheime Zeugen aufgebaut war. Das ist etwas
gang. Wie soll das denn eigentlich verlaufen, wenn von dem Erregendsten :in der strafrechtlichen Lite-
in einem kleinen, sehr kleinen Ort Vertreter von ratur der letzten Zeit. Ich bitte Sie, es einmal zur
15 Behörden in langer Wagenkolonne auffahren Kenntnis zu nehmen. Das sollten wir, glaube ich,
und dort Konferenzen abhalten, ohne daß die Bür- aus unserer Strafrechtspflege hinaustun entspre-
gerschaft darüber erregt wäre und fragt, was sich chend dem Satz in der Verfassung der Vereinigten
da tut? Man weiß, daß es irgendwie um militärische Staaten von Amerika, daß die Belastung durch ge-
Dinge geht; dafür lagen schon andere Anzeichen heime Beweismittel verfassungswidrig ist.
vor. Dieser ganze Behördenapparat sieht in keiner Ich bin dem Herrn Bundesjustizminister dankbar
Weise vor — und das ist das Betrübliche an diesem dafür, daß er heute morgen in seinem einleitenden
Beispiel, von dem ich hier spreche —, daß man die Vortrag selber die Türe noch einmal etwas geöffnet
Presse hinzuzieht, ihr irgend etwas sagt, was sich hat für eine Diskussion über die Frage, ob Über-
da tut, was man darüber eventuell schreiben könnte zeugungstäter wie kriminelle Täter bestraft werden
und was man darüber nicht schreiben könnte. Das müssen oder sollen. Es wurde ja in dem Entwurf
Ergebnis ist, daß nun die Lokalredakteure anfangen, abgelehnt, einen Unterschied zu machen zwischen
an dem herumzuknuspern, was sich da abspielt; kriminellen und Überzeugungstätern. Nach dem Ent-
denn sie sind der erregten Bürgerschaft oder Leser- wurf sind einheitliche Strafen für alle vorgesehen.
schaft doch irgendwie am anderen Tag einen Be- Das entspricht, glaube ich, nicht unserer Situation.
richt, eine Mitteilung in den Zeitungen schuldig. Ich darf daran erinnern, daß ein Sprecher der Deut-
Der Redakteur, der sich dessen unterwunden hat, schen Partei seligen Angedenkens schon im Jahre
ist vom Oberlandesgericht Hamm mit Gefängnis be- 1951, als dieses politische Strafrecht in unserer Ge-
straft worden zur Abschreckung; ihm soll beige- setzgebung aufkam, dafür plädierte, daß Überzeu-
bracht werden, daß er nicht neugierig sein dürfe. gungstäter behandelt werden sollten wie die Ge-
So kann es nicht gut laufen. Mag er in seinem Arti- fangenen des kalten Krieges, und daß Herr Dr. Güde
kel das oder jenes vermerkt haben, was er besser das im Schrifttum aufgenommen hat. So glaube ich,
nicht geschrieben hätte, so sage ich immer noch, die daß wir darüber auf einer breiten Grundlage noch
ganze Panne wäre nicht passiert, wenn ein anderer einmal werden sprechen können.
Umgangsstil zwischen Behörden und Presse gerade (Vorsitz : Präsident D. Dr. Gerstenmaier)
in solchen diffizilen und die Bevölkerung in be-
stimmten Regionen nun einmal erregenden Vor- Damit, verehrte Damen und Herren, habe ich
gängen obwaltete. Ihnen meine Bemerkungen zum politischen Straf-
Ein Letztes zum Landesverrat! Darüber ist nun recht vorgetragen. Es bleibt mir nur noch eine ein-
schon in den vergangenen Wochen so viel gesagt zige Frage an den Herrn Bundesjustizminister:- In
worden, daß ich das nur in Erinnerung bringen will. Art. 26 des Grundgesetzes steht zu lesen, daß Hand-
Wir wollen unterschieden wissen im Straftatbestand lungen, die geeignet sind, das friedliche Zusammen-
die ehrlose Spionage einerseits und den publizisti- leben der Völker zu stören, unter Strafe gestellt
schen Geheimnisverrat aus achtbaren Motiven an- werden sollen. Das ist ein Auftrag des Verfassungs-
dererseits. Beides paßt nie und nimmer in den glei- gesetzgebers, der nun seit 14 Jahren vorliegt. Ich
chen Strafrahmen. Der Strafrahmen des jetzigen möchte fragen, ob und wann der Bundesregierung
§ 100 darf nicht bei Vorgängen zugrunde gelegt wer- etwas einfallen wird, diesen Verfassungsauftrag zu
den, bei denen ein Staatsgeheimnis durch Veröffent- erfüllen.
lichung in Presse oder Rundfunk preisgegeben (Beifall bei der SPD.)
worden ist und bei dem der Täter aus achtbarem
Beweggrund gehandelt hat. Ich glaube, daß sich das Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Das Wort hat
längst als notwendige Folgerung aus jüngst ver- der Herr Bundesjustizminister.
gangenen Vorgängen herausgestellt hat.
Das waren die Bemerkungen, die ich zu diesem Dr. Bucher, Bundesminister der Justiz: Herr Prä-
Titel des Strafgesetzbuches machen wollte. Gute sident! Meine Damen und Herren! Ich muß zunächst
Gesetze sind wichtig. Nicht minder wichtig sind gute versuchen, ein Vergehen der Unidankbarkeit wieder-
Richter, und unter guten Richtern würde ich in die- gutzumachen, daß ich mir heute früh habe zuschul-
sem Zusammenhang solche verstehen, die von den den kommen lassen, indem ich in der Reihe der Män-
Grundsätzen der freiheitlichen Ordnung selber zu- ner, denen ich dankte, Herrn Staatssekretär
tiefst durchdrungen ihren Dienst und ihre Aufgabe Strauß vergaß. Herr Kollege Güde hat in seiner
erfüllen. Rede und Herr Kollege Wuermeling hat in einem
In der Richtung stimmt es bedenklich, daß es deut- Zwischenruf darauf hingewiesen. Den Zwischenruf
s ch e Gerichte, Gerichte der Bundesrepublik, für zu habe ich nicht gehört; ich babe ihn erst dem Pro-
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3221
Bundesminister Dr. Bucher
tokoll entnommen, sonst hätte ich ihn selbstver- Er hat dabei das Schwergewicht vor allem auf einen
ständlich aufgegriffen. Es ist ein Versehen, das mir besonderen Problemkreis gelegt, so daß bei Un-
selber unverständlich ist, weil ich sehr wohl gerade kundigen leicht der Eindruck entstehen konnte, als
aus der Arbeit der Strafrechtskommission weiß, wie handle es sich bei der Strafrechtsreform um ein
aktiv Herr Strauß hier mitgewirkt hat. Ich möchte Gesetz zur allmählichen Abschaffung des Sexual-
das also hiermit nachholen. lebens.
(Allgemeine Heiterkeit.)
(Beifall bei der CDU/CSU.)
So ist es nun »doch nicht. Ich habe nur die Hoffnung,
Zu der Kritik, die der Entwurf erfahren hat, nur die sichere Hoffnung, daß diese Themen, da sie sich
noch wenige Bemerkungen. Ich babe je selbst um ja nicht für den Wahlkampf eignen, in einer ruhi-
Kritik gebeten und bin deshalb auch dankbar dafür. gen und sachlichen Atmospäre hier behandelt wer-
Ich darf von hinten anfangen. den.
Zuerst zu dem, was Herr Dr. Heinemann zum Nun noch zu zwei Punkten. Mir fällt jetzt auch
Artikel 26 des Grundgesetzes , gesagt hat: Ich glaube, nur der unglückliche Ausdruck „ethische Indika-
wir alle sind uns erst in diesen Tagen aus aktuellen tion" ein. Verständlicherweise habe ich mich dazu
Ereignissen heraus dessen bewußt geworden, daß sehr zurückhaltend geäußert. Sie ist ja sehr um-
unter anderem hier ein Auftrag des Grundgesetzes stritten, und man muß zugeben, daß die Argumente
vorliegt, der noch nicht erfüllt ist — es gibt ja lei- beider Seiten sehr beachtlich sind, so daß es durch-
der noch weitere solcher unerfüllter Aufträge —; er aus möglich ist, auch hier einen Regierungsentwurf
ist zum Teil im Entwurf erfüllt, in !dem Paragraphen vertreten zu müssen, zu »dem man selber vielleicht
gegen Volksverhetzung. Aber es ist zuzugeben, daß eine andere Ansicht hat, weil man den Vertretern
der Fall, der hier vorliegt, dadurch wahrscheinlich der anderen Ansicht zubilligen muß, daß auch ihre
nicht gedeckt ist. Sie haben ja der Presse entnom- Argumente anerkennenswert sind und »daß es ein
men, daß sich die Bundesregierung damit befaßt, sehr schwieriges Problem ist.
und auch in meinem Hause hat man sich schon ernst- Zu dem Punkt der freiwilligen Sterilisation: Zur
haft mit der Frage befaßt, wie ein Ausführungs- Zeit schweben Verhandlungen zwischen dem Ge-
gesetz zum Artikel 26 aussehen müßte. Ich bin über- sundheitsministerium und meinem Hause, aus
zeugt, e s muß kommen; wir müssen uns etwas ein- denen dann wahrscheinlich eine Ergänzung zum
fallen lassen. Entwurf hervorgehen wird.
Zu Ihren übrigen Anregungen werden Sie nicht er- (Abg. Jahn: In welcher Richtung soll diese
warten, daß ich eine bindende Stellungnahme der Ergänzung kommen?)
Bundesregierung — als einziger anwesender Ver- — Das kann ich natürlich nicht sagen: Obwohl
treter — hier abgebe. Aber ich glaube sagen zu kön- diese Verhandlungen abgeschlossen sind; es sind
nen, daß Ihre Anregung, im großen und ganzen ja zwei Ministerien beteiligt. Ich darf im übrigen
jedenfalls, der Grundlinie des Entwurfs nicht w ider- auch noch auf die Stellungnahme des Bundesrats
spricht. Zum Problem des Landesverrats habe ich verweisen, der in Ziffer 20 diesen Punkt angespro-
mich ja selbst schon in ähnlicher Weise geäußert, chen hat.
allerdings nur für mich; ich weiß noch nicht, ob das
die Billigung der Bundesregierung findet. Zu dem Entwurf der SPD-Fraktion, das Fern-
meldegeheimnis betreffend, kann ich, glaube ich, dar-
Ihre Vorschläge zur Staatsgefährdung halte ich auf verzichten, hier auf Einzelheiten einzugehen.
für durchaus dem Entwurf konform. Man »wird dar- Wir sind der Ansicht, daß er im Rahmen der Straf-
über sprechen können, ob man den Titel, wie Sie rechtsreform und nicht vorzeitig beraten werden
anregen, in „Gefährdung der freiheitlichen Ord- sollte. Denn einerseits halte ich den Entwurf, den
nung" ändert. Bei dem beispielhaft angeführten § 183, für besser. Der SPD-Entwurf enthält demge-
§ 373 erwähnen Sie ja selbst, daß aus der Begrün- genüber einige Lücken. Andererseits ist er auch
dung hervorgeht, daß hier nicht etwa Einzel- wieder nicht so vordringlich, da das geltende Recht
gespräche, offene Presseartikel gemeint sein sollen. doch einen großen Bereich dieser Dinge schon er-
Es wird also, glaube ich, keine Schwierigkeit dar- faßt.
stellen, diese Gedanken aus der Begründung noch Der Herr Kollege Wittrock hat eine für meine
etwas mehr i n den Text hineinzubringen. Bei Ihrem Begriffe ziemlich scharfe Kritik an der Grundlinie
anderen Beispiel — § 369 — gebe ich zu, daß der des Entwurfs geübt. Er hat davon gesprochen, daß
Paragraph auf den ersten Blick in seiner Fassungs- man ihn entrümpeln müsse. Dieser Vorwurf ist
technik etwas amerikanisch wirkt in der Aneinander- schon zurückgewiesen worden. Er tut mir auch
reihung alternativer Tatbestandsmerkmale. Es ist etwas weh; allerdings nicht nur mir, weil er auch
ja sonst das Bestreben des Entwurfs, möglichst dif- die Strafrechtskommission trifft, der man damit vor-
ferenzierte Straftatbestände zu bringen. wirft, sie habe etwas geschaffen, was der Entrüm-
pelung bedürfe. Auch der Vorwurf des eifernden
Herr Kollege Müller-Emmert hat eine ganze Reihe Perfektionismus scheint mir ungerecht zu sein. Sie
von Tatbeständen des Besonderen Teils gerügt, aller- haben einige Beispiele angeführt, unter anderem,
dings, das muß ich sagen, in einer Art und Weise, daß zu viele Definitionen drinstehen, etwa die Defi-
die etwas über den Rahmen einer ersten Lesung nition der Absicht. Nun, der Absichtsbegriff ist sehr
hinausgeht. umstritten. Er wird vom Bundesgerichtshof für ein-
(Zustimmung bei der CDU/CSU.) zelne Paragraphen in verschiedener Weise ausge-
3222 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963
Bundesminister Dr. Bucher
legt. Dem sollte damit Abhilfe geschaffen werden. Aber es kommt mir noch auf etwas Grundsätz-
Absicht wird jetzt zum Teil als Beweggrund, Motiv liches an. Fortschrittsträgheit und unschöpferische
ausgelegt, zum Teil als Zielvorstellung. Der Entwurf Kritik, womit ich die Kritik, die hier geübt wurde,
legt den Begriff der Absicht im Sinne der Zielvor- nicht meine, haben sich der Strafrechtsreform in
stellung aus. Deutschland immer wieder entgegengestellt, woge-
Ich darf vielleicht ein Beispiel bringen. Wenn ein gen nicht selten das Ausland die Früchte nicht nur
Attentäter eine prominente Person umbringen will der eigenen, sondern auch unserer Bemühungen
und zunächst den Wächter beseitigt, um dann die geerntet hat. So haben sich bereits Japan und Por-
prominente Person, auf die er es eigentlich abgese- tugal darum bemüht, unseren Entwurf des Strafge-
hen hat, umzubringen, dann ist sein Motiv zweifel- setzbuchs zu bekommen. Ich habe es mir versagt,
los nur die Tötung dieses Prominenten. Aber im in dem Übersendungsschreiben die Befürchtung aus-
Sinne der Zielvorstellung, die dem Entwurf zu- zudrücken, daß der Entwurf dort vielleicht eher als
grunde liegt, bringt er auch den Wächter um, weil bei uns in Kraft trete. Ich möchte aber, da wir ja in
dieser der Verwirklichung seines Motivs im Wege einem Richard-Wagner-Gedenkjahr stehen, dem
steht. Sie sehen aus diesem Beispiel, daß es doch Bundestag zurufen: Fanget an! Nehmen Sie — das
sinnvoll sein kann, das zu definieren. ist meine Bitte — so rasch wie möglich die Arbeiten
an dem Entwurf auf! Noch haben wir bei großer
Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Gestatten Sie Konzentration eine Chance, in dieser Wahlperiode
eine Zwischenfrage? fertigzuwerden. Bleiben wir stecken, dann können
Sie sicher sein, daß sich ein Weg finden lassen wird,
einen Teil der Ernte unter das Gesetzesdach zu brin-
Dr. Bucher, Bundesminister der Justiz: Ja.
gen. Ich sehe ja diese Möglichkeit voraus; aber ich
bin doch wohl von Amts wegen zu Optimismus ver-
Wittrock (SPD) : Eine Zwischenfrage dazu, daß pflichtet.
Sie annehmen, ich hätte einen Angriff gegen die
Strafrechtskommission und die sonstigen Mitarbei- (Heiterkeit. — Zuruf von der SPD.)
ter gerichtet. Herr Minister, vermag man nicht zu — Ja, wenn ich schon mit Pessimismus anfange,
unterscheiden zwischen der Anerkennung einer wis- bleibt gar nichts mehr. — Meine Damen und Herren,
senschaftlich-juristischen Leistung und einer guten ich bitte Sie, mit uns in dieser Aufgabe zusammen-
Sacharbeit einerseits und der rechtspolitischen und zustehen.
gesamtpolitischen Würdigung, zu der die Fraktio-
nen eines Parlaments berufen sind, andererseits? Ich Ich bringe nun noch ein pessimistisches Wort in
lege Wert auf diese Unterscheidung. Erinnerung, nämlich das Wort des großen Krimino-
logen Franz von List aus dem Jahre 1882:
Dr. Bucher, Bundesminister der Justiz: Ich nehme Unzweifelhaft ist mir, daß Strafrechtswissen-
gern zur Kenntnis, daß Sie auf diese Unterscheidung schaft, Strafgesetzgebung und Strafrechtspflege
Wert legen; das freut mich. ihre große Aufgabe dem Leben gegenüber bis-
her in keiner Weise genügt haben.
Daß definiert wird, Ausland sei, was nicht Inland
sei, wirkt — das gebe ich gern zu — auf den ersten Möge es unserer Generation erspart bleiben, daß
Blick komisch. Ich mußte mir auch erst erklären las- künftige Generationen auch über uns ein so ver-
sen, warum das definiert wird: weil es nämlich Ge- nichtendes Urteil fällen.
biete wie die Antarktis und ähnliche gibt, die nach (Allgemeiner Beifall.)
der landläufigen Begründung weder Ausland noch
Inland sind.
Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Das Wort hat
Ich glaube, ich brauche auf weitere Einzelheiten der Herr Abgeordnete Dr. Güde.
hierzu nicht mehr einzugehen; vielleicht nur noch
folgendes. In dem § 452, der die Gerichtsbericht- (Zuruf von der SPD: Muß das sein?)
erstattung betrifft, wird ein pressefeindlicher Ak-
zent gesehen. Hier handelt es sich um ein Problem, Dr. h. C. Güde (CDU/CSU) : Herr Präsident!
das parallel zu demjenigen liegt, das wir gestern Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe
in zweiter Lesung entschieden haben, nämlich dem Ihre begleitenden Rufe gehört. Ich habe nicht die
Problem von Fernsehen und Rundfunk im Gerichts- Absicht, die Zeit bis 19 Uhr, die der Herr Präsident
saal. Auch hier ist der Widerstreit zwischen den be- für diese Debatte zur Verfügung gestellt hat, noch
rechtigten Interessen der Presse, möglichst weit- in Anspruch zu nehmen, sondern will nur ein paar
gehende Möglichkeiten der Aufklärung zu haben, ganz kurze Bemerkungen machen.
und dem Interesse des einzelnen, der in ein Straf-
Einmal zu dem Widerspruch auf Ihrer Seite: Wo
verfahren entwickelt wird; dort auf prozessualem
alte Tatbestände stehen und stehen bleiben, ist der
Gebiet, hier auf dem Gebiet des materiellen Straf-
Entwurf altmodisch; wo der Gesetzgeber den Mut
rechts. Ich glaube also, daß man dem Entwurf nicht
zu neuen Tatbeständen zeigt und Sie prüfen sollen,
vorwerfen kann, er lasse sich hier von einer presse-
feindlichen Tendenz tragen. Ich für meine Person ob Sie sie akzeptieren wollen, da ist er verwegen,
glaube jedenfalls bekannt dafür zu sein, daß ich und Sie finden, daß er sich völlig falsch benimmt, so
solche Tendenzen nicht verfolge, und ich bin über- etwas überhaupt ins Auge zu fassen.
zeugt, daß auch das Haus das bei der Bearbeitung Nicht alles, was in dieser Debatte gesagt worden
des Entwurfs nicht tun wird. ist, schien mir sehr nützlich zu sein. Zum Beispiel
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3223
Dr. h. c. Güde
was Herr Kollege Müller-Emmert über die Frage stellt wird, innerlich unwahr ist. Das verstehe ich
der Insemination vorgetragen hat, schien mir schon nicht.
in der Grundlage einfach falsch. Der Strafrechts- (Zuruf von der SPD: „Pharisäisch" ist ganz
kommission in diesem Punkte den Vorwurf zu ma- was anderes! — Abg. Jahn: Das ist aber
chen, daß sie ohne Material aus der blauen Luft eine sehr originelle Interpretation!)
einen Strafrechtstatbestand geschaffen habe oder zu — Von „pharisäisch"? Geben Sie acht, es wird gleich
schaffen versucht habe, ist völlig unberechtigt. Wenn der Herr Präsident eingreifen und also ex cathedra
Herr Kollege Müller-Emmert in die Protokolle hin- interpretieren, was pharisäisch ist.
eingeschaut hätte, hätte er gesehen, daß gerade
(Heiterkeit.)
hierzu ein außergewöhnlich breites Material zusam-
mengetragen war, an Hand dessen man sich nun in
der Arbeit darüber unterhalten wird, ob für einen
Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Herr Abge-
ordneter, wenn Ihnen der Theologe, der hier so
Gesetzgeber genügend Gründe gegeben sind, hier
sichtbar provoziert ist, aushelfen kann: ich mache
einen neuen Tatbestand zu schaffen. Aber diesen
das Haus darauf aufmerksam, daß die Pharisäer
Vorwurf kann man gegen die große Strafrechts-
höchst moralische Leute waren, die sich große Mühe
kommission wirklich nicht erheben.
gaben, als die Reinen im Lande Israel zu erscheinen.
Zur Frage der Bestrafung des Ehebruchs nur noch (Große Heiterkeit.)
einmal: Sie brauchen das nicht im Ton und im Stil
— Aber darf ich nun dafür plädieren, daß Sie den
der Anklage gegen uns vorzutragen. Lesen Sie dazu
Herrn Bundestagsabgeordneten Güde weitersprechen
die Protokolle der Großen Strafrechtskommission;
lassen.
Sie werden sehen, in welcher Weise dort diskutiert
worden ist. Wir sind bereit, hier in der gleichen Dr. h. c. Güde (CDU/CSU) : Ob das dem Herrn
Weise zu diskutieren. Ich sage noch einmal: Es ste- Kollegen Wittrock schmeckt, muß ich ihm überlassen.
hen sich gegenüber die Frage, ob kriminalpolitisch
noch ein Nutzen darin ist, und auf der anderen Seite (Heiterkeit. — Zuruf von der CDU/CSU:
die Erwägung, wie die Wirkung auf die Bevölke- Sehr gut! — Abg. Jahn: Bestenfalls dürfen
rung sein wird, wenn der Gesetzgeber einen solchen Sie sich die Suppe teilen!)
Tatbestand streicht, ob nicht die Bevölkerung in Mich stört dieses Wort „moralisieren", mit dem
ihrer ethischen Auffassung dadurch verwirrt werden man ganz verschiedene Dinge durcheinanderbringt,
wird. Das sind zwei völlig sachliche Gesichtspunkte. offenbar in der Annahme, daß alles sozusagen auf
Es gibt auch noch andere. Aber Sie brauchen hier moralischen Gefühlen beruhe, und nicht sieht, was
weder gegen uns noch gegen irgend jemand den im Spiele ist, z. B. in jener Entscheidung, von der
Vorwurf des Moralisierens zu erheben; wie über- Herr Kollege Wittrock spricht. Im Spiele ist, nun,
haupt das Wort „Tendenz zur Moralisierung" mich, sagen wir einfach: eine objektive Sittenordnung;
ich muß es noch einmal sagen, stört. Der Herr Kol- eine objektive Sittenordnung, die man in diesem
lege Wittrock hat von der „Tendenz der, Recht- ganzen Bereich sehen muß, um zu erkennen, was
sprechung zur Moralisierung", von einer „morali- das Recht hier will, nämlich eine objektive Sitten-
sierenden höchstrichterlichen Rechtsprechung" ge- ordnung wahren. Auch jene Entscheidung geht von
sprochen und dabei das Wort „pharisäisch" fallen- einer objektiven und lebendigen Sittenordnung aus.
lassen. Das hat nichts zu tun mit den moralischen oder
moralisierenden Gefühlen meiner Person oder des-
(Abg. Wittrock: Sind wir eigentlich noch in
Richters, sondern es ist ein Blick ins Objektive des
einem Parlament, in dem kritische Worte
Volkes hin, ein Blick auf eine objektive gültige
erlaubt sind?)
Sittenordnung, die der Richter sich nicht zurecht
— Herr Kollege Wittrock, Sie dürfen noch viel phantasiert, sondern die er darzutun versucht und
härtere Worte sagen. Aber in bezug auf eine Ent- aus der er in jenem Komplex einleuchtend Folge-
scheidung zu sagen: „pharisäisch", und zwar im rungen zieht. Aber man kann dagegen streiten,
Zusammenhang mit „moralisierend", das ist nach schon vom Recht her streiten, und ich sage Ihnen ein-
meiner Ansicht erstens unsachgemäß in bezug auf mal ganz im Vertrauen: ich war in der rechtlichen
diese Entscheidung — ich weiß, welche Sie meinen, Entscheidung dieser Frage anderer Meinung; aber
ich bin bereit, mich auch darüber kritisch ausein- ich wehre mich dagegen, daß das mit einem solchen
anderzusetzen —; aber unbedingt falsch ist die Wort wie „moralisierend" zur Seite geschoben wird.
Kennzeichnung als „pharisäisch". Dafür liegt aber Und für den ganzen Bereich der Sittlichkeitsdelikte
auch nicht das mindeste in dem Sachverhalt. gilt dieses Gebot, eine objektive Sittenordnung im
Auge zu behalten; das ist eine Aufgabe für den
(Abg. Wittrock: Das sind Werturteile! Das Gesetzgeber.
ist Ihre Meinung! Ich habe eine andere (Beifall bei der CDU/CSU.)
Meinung! Sprechen Sie auch von der sitt
Diese Aufgabe kann man nicht mit Redensarten bei-
lichen Bewertung der Mensur! — Weiterer
seite schieben. Das gehört zur Verantwortung des
Zuruf von der SPD: Beruhigen Sie sich
Gesetzgebers, das hat noch immer zu seiner Ver-
doch!)
antwortung gehört.
— „Pharisäisch" ist in bezug auf ein gerichtliches (Abg. Jahn: Hat das denn jemand bestrit
Urteil ein ganz seltsames Werturteil; das würde ten? — Weiterer Zuruf von der SPD: Wer
also heißen, daß das, was hier als Maßstab aufge will denn das?)
3224 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963
Dr. h. c. Güde
— Derjenige, der von einer Entscheidung — die man — Das Wort „Jargon" ist zulässig.
darlegen müßte, um die Sache wirklich begreiflich
(Abg. Schmitt-Vockenhausen: Aber anzüg
zu machen — behauptet hat, sie moralisiere phari-
lich, sehr anzüglich! — Weitere Zurufe.)
säisch, der hat es implicite bestritten.
Ich habe versprochen, mich kurz zu fassen, und Herr Abgeordneter Schmitt-Vockenhausen, ich rüge
will mich daran halten. Sie sind mir sicher dankbar den Zuruf „ein feiner Mann". Das ist unehrerbietig.
dafür. (Zurufe von der SPD.)
Der Herr Kollege Aschoff hat mit Recht gesagt, Fahren Sie bitte fort.
die Aufgabe des Gesetzgebers sei nicht die gleiche
wie die der Wissenschaft. Ich sage dazu: Die Auf- Dr. h. c. Güde (CDU/CSU) : Herr Kollege Schmitt-
gabe des Gesetzgebers ist auch nicht die gleiche wie Vockenhausen, ich sage Ihnen und Ihren Kollegen,
die des Richters. daß darin nicht die mindeste Absicht einer Verlet-
zung lag, sondern das ist etwas, was ich selbst sagen
Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Gestatten Sie könnte, genau wie ich es zitiert habe.
eine Zwischenfrage? (Abg. Dr. Müller-Emmert: Sie haben Vor
urteile, Herr Kollege!)
Dr. h. c. Güde (CDU/CSU) : Aber gern! — Das ist möglich, daß ich Vorurteile habe. Warum
sollten Sie allein Vorurteile haben?
Frau Dr. Diemer-Nicolaus (FDP) : Herr Kollege (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU.)
Güde, darf ich noch einmal auf die Frage der objek-
tiven Sittenordnung zurückkommen und Sie fragen, Ich bin immer noch bei der Antwort auf Ihre
ob Sie die Auffassung teilen, die bei einer Tagung Frage. Wir haben uns zu lange von gewissen Rand-
der Katholischen Akademie in Stuttgart ausgespro- erscheinungen einreden lassen, daß das Volk gar
chen wurde: es sei falsch, anzunehmen, der Staat keinOrdugmhab,ßkeinldgs.
könne durch eine Gesetzgebung den Sittenverfall Wo sie noch lebendig ist, hat bei Gott der Staat
aufhalten, zumal eine Abgrenzung des Rechtlichen das Recht und die Pflicht, diese Ordnung zu sehen
vom Sittlichen äußerst schwierig sei; für die Gesetz- und zu wahren, so gut er kann, tauch, soweit es
gebung auf diesem Gebiet sollten nicht sittliche, mit dem Strafrecht, bei krimnalpotschv,
sondern soziale Gesichtspunkte maßgebend sein wie aller Vorsicht.
z. B. Schutz des Kindes und Jugendlicher, Vermei- Nein! Die Aufgabe des Gesetzgebers ist auch nicht
dung einer Gefahr für das öffentliche Leben. Nur gleich der des Richters. Es ist eine Aufgabe des
solche Fälle sollten bestraft werden, die in dieser Gestzgbr,diWafelunTdsk-
Richtung eine Verletzung der notwendigen gesell- tionen der Strafandrohung in seine Erwägungen ein-
schaftlichen Normen darstellen. zubeziehen. Das gehört nun auch wieder zu etwas,
was im ganzen Reobjektivierung des Strafrechts
Dr. h. c. Güde (CDU/CSU) : Frau Kollegin, meine heißen kann. Das Wort stammt nicht einmal von
Auffassung ist nicht wesentlich anders als die, die mir. Der Züricher Strafrechtler Frey geht mit diesem
Sie mir eben zitieren. Trotzdem Gage ich: Wir haben Wort gegen gewisse Tendenzen der modernen Ge-
uns zu lange daran gewöhnt, davon auszugehen, setzgebung und Rechtsprechung vor.
-
daß es draußen überhaupt keine natürliche, wirk- Nein! Das alles liegt in der Tendenzeiner Re-
lich lebendige und gelebte Ordnung mehr gebe. objektivierung des Strafrechts, die man sehen sollte,
(Beifall bei der CDU/CSU.) ganz sachlich sehen sollte. Dazu gehört in der Tat
auch das Bekenntnis zu dem Prinzip des Schuldstraf-
Wir alle lassen uns von gewissen Verfallserschei- rechts, von dem ich mir gewünscht hätte, daß Sie es
nungen der Gesellschaft, von Randerscheinungen herzhafter bejaht hätten, als Sie es getan haben.
einer faulenden, ich würde in Ihrem Jargon sagen:
einer faulenden bürgerlichen Gesellschaft, einer (Beifall in der Mitte.)
spätbürgerlichen Gesellschaft — —
(Abg. Dr. Müller-Emmert: In welchem Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Meine Damen
Jargon?) und Herren, keine weiteren Wortmeldungen. —
Ich schließe die Aussprache der ersten Lesung des
— Ich muß sagen: in dem Jargon von vorgestern; Entwurfs eines neuen Strafgesetzbuches. Wir kom-
entschuldigen Sie! men zur Überweisung der Vorlagen Drucks. IV/650
(Heiterkeit. — Abg. Schmitt-Vockenhausen: und IV/970. Der Vorschlag des Ältestenrats lautet,
Sie .sind ja ein feiner Mann! — Gegenruf beide Vorlagen dem Rechtsausschuß zu überweisen.
von der CDU/CSU: Wenn man denen das — Das Haus ist damit einverstanden; ich höre kei-
heute sagt, ist es eine Beleidigung!) nen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 25 der Tagesordnung auf:
Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Herr Abge- Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines
ordneter Schmitt-Vockenhausen, das gefällt mir Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über eine
nicht. Was heißt „feiner Mann"? Altershilfe für Landwirte (Drucksachen IV/901,
(Zuruf von der SPD: Das Wort „Jargon"!) IV/904) ;
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3225

Präsident D. Dr. Gerstenmaier


Schriftlicher Bericht des Ausschusses für So- derholen. Der erste dieser beiden Gründe ist der,
zialpolitik (20. Ausschuß) (Drucksachen daß es sich um ein Problem von großer sozialer Be-
IV/1092, zu IV/1092) deutung handelt. Der zweite Grund ist, daß die Fi-
nanzierung dieser Einbeziehung der mithelfenden
(Erste Beratung: 60. Sitzung). Familienangehörigen in die landwirtschaftliche
Ich frage den Herrn Berichterstatter, ob er dazu Altershilfe gesichert ist.
das Wort zu nehmen wünscht? — Bitte sehr, Herr
Abgeordneter Weber als Berichterstatter! Meine politischen Freunde und ich haben uns
immer wieder für die Verbesserung der sozialen
Verhältnisse der mithelfenden Familienangehörigen
Weber (Georgenau) (FDP) : Herr Präsident! Meine eingesetzt. Wir haben das nicht nur vor sechs Jah-
sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich habe noch ren bei der Beratung der Altershilfe für Landwirte
eine kleine Ergänzung zum Schriftlichen Bericht, zu getan, wir haben das auch bei anderen Gelegenhei-
Drucksache IV/1092 zu machen, und zwar muß es im ten getan, beispielsweise bei der Neuregelung des
Allgemeinen Teil am Schluß heißen: Rechts der Unfallversicherung; nicht bei der Bera-
Hinsichtlich des finanziellen Aufwands des tung der Unfallversicherungsreform vor einigen
Gesetzentwurfs ist ergänzend zu bemerken, Wochen, sondern bei der Beratung der Gesetze zur
daß der Betrag von 150 Millionen DM sich auf vorläufigen Neuregelung der Geldleistungen in der
die Zeit vom Inkrafttreten des Gesetzes, landwirtschaftlichen Unfallversicherung. Wir hatten
1. April 1963, bis zum 1. Dezember 1963 be- dort mit unseren Bemühungen Erfolg. Die große
zieht. Der finanzielle Aufwand für ein volles Mehrheit in diesem Hohen Hause hat auf Grund der
Jahr liegt voraussichtlich bei rund 200 Millio- sozialdemokratischen Anträge damals beschlossen,
nen DM. daß den mithelfenden Familienangehörigen die Un-
fallrenten nicht auf der Grundlage sogenannter fest-
Zum anderen: Im Besonderen Teil zu Nr. 9 Abs. 2 gesetzter durchschnittlicher Jahresarbeitsverdienste,
des Berichts sind die Äußerungen des Schriftlichen sondern auf der Grundlage des Dreihundertfachen
Berichts so 211 verstehen, daß auf Grund der be- des Ortslohnes bemessen werden.
sonderen Strukturverhältnisse des Gartenbaues mit
wenigen Altersgeldberechtigten eine Ansammlung Was die Unfallversicherung betrifft, so können wir
von Betriebsmitteln nach § 16 Abs. 1 nicht möglich davon sprechen, daß die Situation einigermaßen be-
ist. reinigt ist. Ich verweise auf den Entschließungsan-
trag, den wir bei der Unfallversicherungsreform ein-
gebracht haben. Ich sage „einigermaßen"; denn ganz
Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Ich danke in Ordnung sind die Verhältnisse dort noch nicht.
dem Herrn Berichterstatter und rufe in zweiter Le- Aber in bezug auf die Alterssicherung gibt es bisher
sung den Art. 1 auf. Hier liegt ein Änderungsantrag
keinerlei Regelung für diesen verhältnismäßig gro-
der Fraktion der SPD vor. Ich frage, ob das Wort
ßen Personenkreis, der zwar nun im Verlaufe dieses
zur Begründung gewünscht wird. — Herr Abge-
Strukturwandels in der Landwirtschaft von Jahr zu
ordneter Frehsee zur Begründung.
Jahr zahlenmäßig abnimmt, der aber noch eine ver-
hältnismäßig große Bedeutung hat. Auf Grund wis-
Frehsee (SPD) : Herr Präsident! Auf diesem Um- senschaftlich exakter Feststellungen der Forschungs-
druck 232 betreffen die Ziffern 1 und 2 denselben gesellschaft für Agrarpolitik und Agrarsoziologie
Komplex; sie stehen in unmittelbarem materiellem hier in Bonn, die zu diesem Zweck von dem Bundes-
Zusammenhang. Wenn Sie erlauben, werde ich ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und For-
diese beiden Ziffern gemeinsam begründen. sten einen Forschungsauftrag erhalten hat, kann
Meine Damen und Herren, mit den Ziffern 1 und 2 man davon ausgehen, daß sich etwa in jedem zehn-
des Änderungsantrages der Fraktion der SPD auf ten Betrieb der 890 000 zur Alterskasse beitrags-
Umdruck 2321 beantragen wir die Einbeziehung pflichtigen landwirtschaftlichen Betriebe in der Bun-
der mithelfenden Familienangehörigen -in die land- desrepublik ein mithelfender Familienangehöriger
wirtschaftliche Altershilfe. Wir wiederholen damit befindet. Nach sachverständiger Meinung — und da
einen Antrag, den wir schon vor fast sechs Jahren beziehe ich mich auf die Vertreter des Gesamtverban-
einmal gestellt haben, als das Gesetz über die des der landwirtschaftlichen Alterskassen, die als
Altershilfe für Landwirte hier in diesem Hohen sachverständig zu bezeichnen sind — handelt es sich
Hause beraten und beschlossen wurde. Wir haben um 10% von 890 000; das sind 89 000 Menschen. Nach
vornehmlich zwei Gründe für diesen Antrag, der sachverständiger Meinung würde etwa die Hälfte
sich auch in der Drucksache 901, dem Entwurf der dieser 89 000 Menschen bereits in den Genuß des
Fraktion der SPD zur Änderung des Gesetzes über Altersgeldes kommen, wenn die mithelfenden Fami-
die Altershilfe für Landwirte, befand und der in den lienangehörigen in die Altershilfe für Landwirte ein-
die diese Gesetzentwürfe be- beidnAuschü, bezogen würden. Es handelt sich um jene Menschen,
raten haben — im mitberatenden Ernährungsaus- die man hier von dieser Stelle aus wiederholt auch
schuß und im federführenden Sozialpolitischen Aus- schon mit Onkel Paul und Tante Lina bezeichnet hat.
schuß —, der Ablehnung verfiel. Es handelt sich in der Regel um ledig gebliebene
Wir haben zwei Gründe dafür, diesen Antrag Brüder und Schwestern landwirtschaftlicher Betriebs-
jetzt hier in der zweiten Lesung im Plenum zu wie- inhaber, die im landwirtschaftlichen Betrieb, in dem
Betrieb ihres Bruders oder ihrer Schwester haupt-
*) Siehe Anlage 2 beruflich tätig geblieben sind. Es handelt sich um
3226 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963
Frehsee
89 000 Menschen, die in der Regel keine andere wirkungen auf die Situation der landwirtschaftlichen
Altersversorgung haben. Betriebe — des Gros der landwirtschaftlichen Be-
Die Fraktion der Sozialdemokratischen Partei ist triebe — hier in der Bundesrepublik Deutschland
der Meinung, daß diese Menschen in diese Alters- haben, wie sie uns am 13. Februar bei der Einbrin-
hilfe, in diese besondere Form von Alterssicherung gung des Grünen Berichts durch den Bundesminister
oder sozialer Sicherung im Alter, so darf ich viel- für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten dargelegt
leicht sagen, einbezogen werden sollten. worden ist.

In den Ausschüssen ist uns das Argument entge- Es gibt noch einen dritten agrarpolitischen Ge-
gengehalten worden, daß man damit das System sichtspunkt, und da wende ich mich besonders an
ändere, daß man dem System dieser Altershilfe nicht die Berufskollegen. Es wird vielfach — mit Recht —
Rechnung trage, wenn man dem sozialdemokrati- von Arbeitskräfte-Überbesatz in den kleineren und
schen Antrag folge, daß vielmehr für solche Fälle mittleren landwirtschaftlichen Betrieben gesprochen.
einstimmig von diesem Hause die Sozialhilfe ge- Nun, dies ist — vielleicht sogar vorwiegend — auch
schaffen worden sei. Wir sind trotz dieses Einwan- ein Problem der bäuerlichen Familienbetriebe, also
des der Auffassung, daß diese Menschen in dieses nicht nur etwa der kleinen und der mittleren Be-
System der sozialen Sicherung im Alter einbezogen triebe. In diesen bäuerlichen Familienbetrieben
werden sollten. herrscht im Gegensatz zu dem Überbesatz an Ar-
Wir sind in den Ausschüssen verdächtigt worden, beitskräften in der gesamten Landwirtschaft viel-
daß wir mit dieser Einstellung irgendeine negative fach doch schon ein empfindlicher Arbeitskräfte-
Kritik an der Bundessozialhilfe üben wollten. Wir mangel, der zur Überbelastung der Bäuerin, der
weisen das weit von uns. Aber hier geht es um ein Landfrau, geführt hat.
Stück. berufsständischer Solidarität des Bauerntums. Wenn Sie sich dieser Personengruppe gegenüber
Wir sind der Meinung, daß das Bauerntum nicht aus unfreundlich verhalten — und darum handelt es
den Betriebsinhabern, ihren Ehegatten und viel- sich —, dann wird sich natürlich die Abwanderung
leicht noch den Hoferben besteht, den Kindern also, dieser Familienarbeitskräfte so fortsetzen wie bisher,
die später den Hof übernehmen. Vielmehr meinen und dann werden wir in absehbarer Zeit keine mit-
wir, daß die im landwirtschaftlichen Betrieb ver- helfenden Familienangehörigen mehr haben. Ich
bliebenen Brüder und Schwestern der landwirt- gebe zu bedenken, ob dieses Extrem — um ein sol-
schaftlichen Unternehmer auch zum Bauerntum zu ches handelt es sich hier — die richtige und im Sinne
zählen sind, zu dem Bauerntum, dem sie ihr Leben der Landwirtschaft und ihrer Interessen liegende
lang gedient haben, und zu der Landwirtschaft, der Lösung wäre.
sie ihr Leben lang angehört haben.
Es ist weiter eingewendet worden, daß man ein
(Beifall bei der SPD.) allgemeines Präjudiz schaffen würde, wollte man
Es sind Menschen, die genau wie die Betriebsinha- die mithelfenden Familienangehörigen hier ein-
ber und ihre Ehefrauen ihr ganzes Leben lang in beziehen. Nun, das gleiche Argument ist uns ent-
den landwirtschaftlichen Betrieben tätig gewesen gegengehalten worden, als wir die Altershilfe für
sind. Schon aus Gründen der berufsständischen Soli- Landwirte überhaupt eingeführt haben. Es wurde
darität sollte die Einbeziehung der mithelfenden gesagt, das würde präjudizierende Wirkung haben
Familienangehörigen in die landwirtschaftliche und bedeuten, daß für andere Gruppen von Selb-
Altershilfe erfolgen. Man sollte sie nicht a n die ständigen gleichfalls Altershilfe eingeführt werden
-
Sozialhilfe verweisen. müßte. Bisher hat es aber eine solche Auswirkung
nicht gegeben, und ich glaube, das gleiche kann man
Darüber hinaus wäre eine solche Regelung kom- — mindestens bis zu diesem Grade — auch von
munalunfreundlich, wenn ich mich einmal sehr zu- dem Problem der mithelfenden Familienangehörigen
rückhaltend so äußern darf. Sie würden mit der voraussagen.
Verweisung dieser Menschen an die Sozialhilfe
deren soziale Last auf die Schultern der Nachbarn Aber vielleicht hat das Argument doch eine ge-
und der Gemeinde- und der Kreisangehörigen legen. wisse präjudizierende Wirkung; es diffamiert doch
Wir halten das nicht für richtig. Wir halten es viel- die Mitarbeit von Familienarbeitskräften allgemein.
mehr für richtig, daß der Berufsstand selber und Wenn man hier sagt — wie es geschehen ist —, daß
darüber hinaus die große Gemeinschaft der Steuer- sich diese Leute an die Sozialhilfe wenden sollten,
zahler für sie eintritt. Auch aus diesem Grunde sind dann diffamiert das nicht nur die Mitarbeit von
wir dagegen, daß man sie mit der Verweisung an Familienarbeitskräften im landwirtschaftlichen Be-
die Sozialhilfe abspeist. trieb, sondern allgemein in der Wirtschaft und ge-
rade in jenen Zweigen der Wirtschaft, in denen der
Es gibt dabei auch einen agrarpolitischen Aspekt.
Familienbetrieb vorherrscht, also im Handel, im
Viele von diesen „Onkeln" und „Tanten" haben Handwerk usw.
einen Erbanspruch an den Betriebsinhaber, den sie
manchmal nicht geltend gemacht haben, weil der Sie haben in den Ausschüssen diesen Antrag der
landwirtschaftliche Betrieb nicht in der Lage ist, den Sozialdemokratischen Partei abgelehnt. Sie, meine
Erbanspruch ohne weitere Verschuldung zu befrie- Damen und Herren von der Koalition, haben aber
digen. Nun, wenn sie an die Sozialhilfe verwiesen einen Entschließungsantrag vorbereitet; wir werden
würden, müßte dieser Erbanspruch dort realisiert ihn nachher behandeln. Sie 'fordern in diesem Ent-
werden, wo er besteht. Das wäre agrarpolitisch min- schließungsantrag die Bundesregierung auf, das Pro-
destens unerwünscht. Das würde unerwünschte Aus blem zu prüfen und über das Ergebnis der Über-
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3227
Frehsee
prüfung dem Bundestag zu berichten. Sie haben ganzen Arbeitsleben — von der Vollendung des
damit also zum Ausdruck gebracht, daß Sie an sich 15. bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres — über-
die Berechtigung dieses Anliegens anerkennen; das wiegend hauptberuflich in einem landwirtschaft-
ist ein großer Fortschritt gegenüber der Haltung, die lichen Unternehmen tätig gewesen sind. Analog
Sie vor sechs Jahren eingenommen haben. dazu verlangen wir bei der Gewährung des vor-
zeitigen Altersgeldes für erwerbsunfähige, ehemals
Meine Damen und Herren, auf Grund vielfacher mithelfende Familienangehörige, daß sie in der Zeit
Erfahrungen haben wir allerdings ,die Sorge, daß zwischen der Vollendung des 15. Lebensjahres und
mit diesem Entschließungsantrag die Lösung des dem Eintritt der Erwerbsunfähigkeit überwiegend
Problems auf die lange Bank geschoben werden soll, hauptberuflich in einem landwirtschaftlichen Unter-
wenn es nicht gar wieder für geraume Zeit, bis die nehmen im Sinne des § 1 tätig waren, wobei natür-
sozialdemokratische Fraktion es erneut — ich lich Ersatzzeiten, Kriegsdienst und Gefangenschafts-
möchte einmal sagen — hochzerrt, begraben werden zeiten, Zeiten politischer Verfolgung usw., ebenso
soll. wie in der Rentenversicherung, nicht angerechnet
Aus diesem Grunde stellen wir heute hier diesen werden sollen.
Antrag. Sie haben, wie ich hoffe, diesen Ausführun- Ich wiederhole unsere Bitte im Interesse dieses
gen entnommen, daß es von der Fraktion der Personenkreises, der sich wirklich in einer sozialen
Sozialdemokratischen Partei — ich sage das nicht Notsituation befindet, die immer größer wird, je
phrasenhaft; es ist ein ernstes Anliegen — nicht so größer der Abstand der Einkommen der Landwirt-
leichtfertig und oberflächlich behandelt wird, wie es schaft und derjenigen der gewerblichen Wirtschaft
dann und wann gesagt wird, und auch nicht etwa wird. Das ist leider der Fall. Im Interesse dieses
aus propagandistischen Gründen. Es handelt sich Personenkreises, im Interesse einer wirklich abge-
wirklich um ein Problem von großer sozialer Be- rundeten Regelung für die soziale Sicherung der in
deutung. Diese Leute leben häufig — diejenigen der Landwirtschaft beschäftigten Selbständigen im
von uns, die i n landwirtschaftliche Familienbetriebe Alter und ihrer mithelfenden Familienangehörigen
hineinkommen, wissen das — von Großmut und bitten wir um Ihre Zustimmung zu diesem Antrag.
Gnade ihrer Verwandten, ihrer Brüder und Schwe-
(Beifall bei der SPD.)
stern. Wir sollten hier, nachdem wir bei den Bauern
und Bäuerinnen die Regelung getroffen haben, in
sie auch diese Menschen einbeziehen. Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Meine Damen
und Herren, Sie haben die Begründung dieses Ände-
Ein letztes Wort! Das Saarland hat das getan. Als
rungsantrags gehört: Das Wort dazu hat Herr Abge-
1954 mit dem Gesetz Nr. 433 eine Altershilfe für
ordneter Balkenhol.
Landwirte eingeführt wurde — dort im Rahmen der
allgemeinen Rentenvensicherung —, sind die mit-
helfenden Familienangehörigen einbezogen worden. Balkenhol (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine
Nun dehnen wir diese Altershilfe für Landwirte auf Damen und Herren! Das Anliegen der sozialdemo-
das Saarland aus und beseitigen also, was da für kratischen Fraktion in dem Änderungsantrag auf
die mithelfenden Familienangehörigen an Rechten Umdruck 232 ist bekannt, und es ist auch, wie ich
bestand. sagen möchte, berechtigt. Wir haben noch eine
Menge Wünsche der Landwirtschaft auf sozialpoli-
Nun sieht man in Art. 4 Abs. 3 vor — und wir tischem Gebiet, die wir auch durchaus als berech--
stimmen dem zu —; daß diejenigen, die bisher als tigt anerkennen müssen. Wer feststellt, daß ein
mithelfende Familienangehörige eine Altershilfe be- Teil unserer landwirtschaftlichen Betriebe um die
kommen haben, sie weiter erhalten. Es ist aber Existenz ringt, und wer die Lage betrachtet, die
ungut, daß hier ein sozialpolitischer Fortschritt, der daraus in bezug auf die mitarbeitenden Familien-
wirklich begründet war, wieder rückgängig gemacht angehörigen resultiert, wird aber erkennen, daß
werden soll. In Zukunft wird, wenn Sie diesen so- die Erfassung dieses Personenkreises in die Syste-
zialdemokratischen Antrag ablehnen, auch im Saar- matik dieses Gesetzes nicht hineinpaßt.
land, und zwar mit Inkrafttreten dieses Gesetzes,
d. h. ab kommendem 1. April, der mithelfende (Sehr richtig! bei der CDU/CSU. — Abg.
Familienangehörige keine Alterssicherung haben. Dr. Schellenberg: Welches Gesetzes?)
Damit will ich meine Begründung abschließen und — Sie werden doch zugeben, daß das i n die Alters-
Sie nochmals sehr dringend bitten, diesem sozial- hilfe für Landwirte nicht hineinpaßt, Herr Kol-
demokratischen Antrag auf Umdruck 232 Ihre Zu- lege Professor Schellenberg. Sie werden doch z u
stimmung zu geben. gestehen, daß es sich bei diesem Gesetz um eine
Verzahnung von sozialpolitischen Anliegen und
In Ziffer 1 wird der anspruchsberechtigte Perso- agrarstruktur-politischen Anliegen handelt, wobei
nenkreis formuliert. die agrarstruktur-politischen Gesichtspunkte in 'die-
Unter Ziffer 2 sagen wir in Modifizierung des sem Gesetzentwurf vorwiegen. Ich erinnere a n die
entsprechenden Antrags in Drucksache 901 und Hofübergabe und dergleichen. Das rein sozialpoli-
dessen, was wir in den Ausschüssen vertreten tische Anliegen i n diesem Änderungsantrag ist die
haben, um Ihnen die Sache noch mehr zu erleichtern, Forderung nach einer Leistung ohne Vorleistung.
in einem § 2 a Abs. 1 b, daß Voraussetzung für Wir sind eben der Meinung — , das ist schon wieder-
Gewährung von Altersgeld an ehemalige mithel- holt gesagt worden —, daß das dann die Gesetze
fende Familienangehörige sein soll, daß sie in ihrem in anderen Sozialversicherungsbereichen präjudi-
3228 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963
Balkenhol
ziert und daß sich weitere Fragen ergeben, z. B. die Als wir dagegen protestierten, hat Herr Kollege
Fragen: Wer zahlt die Beiträge, welcher Personen- Arndgen hier oben gesagt: Fürsorge ist doch keine
kreis zahlt die Beiträge, der versicherte Personen- Schande!
kreis der mithelfenden Angehörigen oder ,aber der
Betrieb? Da das .alles noch nicht geklärt ist, liegt (Zuruf von der CDU/CSU: Genau richtig!)
ein Antrag des Ausschusses — Herr Kollege Freh- — Genau richtig. Dann bin ich hier heraufgegangen
see hat es bereits angedeutet — auf Drucksache und habe das gesagt, was ich jetzt leider auch wie-
IV/1092 vor, in dem die Bundesregierung ersucht der sagen muß: Sozialhilfe — . damals Fürsorge —
wird, zur Gewährung von Altersgeld ein Gesetz ist sicherlich keine Schande, und wer gezwungen ist,
vorzubereiten. Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen, braucht sich
(Abg. Dr. Schellenberg: Das steht nicht nicht zu schämen! Eine Schande ist es, daß ein
drin, Herr Kollege, nein, das ist nicht Mensch sein Leben lang arbeitet und dann keine
richtig!) andere Möglichkeit sieht, als sich von der Sozial-
hilfe ernähren zu lassen.
— Die Bundesregierung wird ersucht, ein Gesetz
vorzubereiten, (Beifall bei der SPD.)
(Abg. Dr. Schellenberg: Nein!) Uns trifft die Schande, nicht den Hilfesuchenden in
der Sozialhilfe, uns, den Gesetzgeber, uns das Volk.
— zu prüfen und über das Ergebnis der Prüfung zu Das muß ich Ihnen noch einmal sagen.
berichten,
Nun zur Sache selbst. Da war mir doch eines sehr
(Abg. Dr. Schellenberg: Das ist etwas
interessant. Mein Herr Vorredner hat gesagt, es
anderes!)
würde ein Bruch entstehen, wenn man zu dem
ob und in welcher Weise die Gewährung von Bauern und zu der Bäuerin nun auch noch die mit-
Altersgeld an mithelfende Familienangehörige er- helfenden Familienangehörigen hinzunähme; denn
möglicht werden kann. Daß eine solche Prüfung — so hat er wörtlich gesagt, wenn ich richtig ver-
vorausgehen muß, ist doch wohl selbstverständlich. standen habe — sie hätten ja gar keine Vorleistung
(Abg. Dr. Schellenberg: Geprüft wird schon erbracht. Darf ich einmal ganz bescheiden fragen,
seit einer Reihe von Jahren, Herr Kollege! was für eine Vorleistung der Bauer erbracht hat?
— Heiterkeit. — Abg. Stingl: Ach, Herr (Zurufe von der CDU/CSU: Doch!)
Schellenberg, dafür sorgen Sie schon!)
— In dem von Ihnen angesprochenen Sinn? Er be-
— Herr Professor Schellenberg, Ihr Mißtrauen ge- zahlt seit dem 1. Oktober 1957 12 DM.
genüber dem Arbeitsministerium ist bekannt. Aber
(Zurufe von der CDU/CSU: Na ja!)
wir vertrauen darauf, daß die Gewährung von
Altersgeld für die mithelfenden Angehörigen er- — Na und? Der andere hat aber ein Leben lang
möglicht wird. Ebenso soll auch geprüft werden, ob diesem Bauern geholfen, den bäuerlichen Besitz und
der Bereich der Rehabilitation in dem neuen Gesetz- die Agrarwirtschaft zu erhalten.
entwurf, der von der Regierung dann vorgelegt (Zuruf von der CDU/CSU: Den gibt er so
wird, realisiert werden kann. Zum mindesten ist auch ab!)
dabei ein neuer Gesetzentwurf auf der Basis der
übrigen Sozialgesetzgebung erforderlich. Wir bitten — Na ja, den gibt er so auch ab.
daher, diesen Änderungsantrag der Sozialdemo- (Zuruf von der CDU/CSU: Hilfe zur
kraten abzulehnen. Selbsthilfe!)
(Beifall bei der CDU/CSU.) - Verzeihen Sie, Herr Winkelheide, gerade aus
Ihrer Ecke hören wir sehr oft, wir sollten in unserem
Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Das Wort hat Leben daran denken, daß wir nichts mitnehmen kön-
der Abgeordnete Könen. nen. Auch der Bauer kann nichts mitnehmen. Er gibt
den Hof mit und ohne Altershilfe ab; dafür sorgt
(Zuruf von der CDU/CSU: Vielerhoffte
der liebe Gott.
Verstärkung?)
(Unruhe bei der CDU/CSU.)
Könen (Düsseldorf) (SPD) : — Natürlich Verstär- Aber Herr Kollege Stingl, nun zur Sache.
kung!
(Abg. Stingl: Sie wissen es selbst besser,
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die als Sie es sagen, daß das Altershilfegesetz
Debatte um den Änderungsantrag der SPD erinnert in diese Richtung gewirkt hat!)
mich an eine Debatte, die wir vor Jahren geführt
haben, als die SPD bei der Rentengesetzgebung ver- Nun kommt Ihre Forderung, diese Menschen ,an die
geblich versuchte, eine Mindestrente festlegen zu Sozialhilfe zu verweisen. Ich muß Sie mit dem Bun-
lassen. Da ist man aus der CDU/CSU-Fraktion hier dessozialhilfegesetz konfrontieren und Ihnen sagen,
heraufgegangen und hat gesagt: Dazu ist die Für- warum das nicht gut ist. Sie kennen den Unterschied
sorge da, für diese Leute. zwischen dem Begriff des Unterhaltsverpflichteten
gemäß § 1601 des Bürgerlichen Gesetzbuches und
(Zuruf von der CDU/CSU: Sozialhilfe!) dem entsprechenden Begriff des Bundessozialhilfe-
— Verzeihung, damals gab es noch keine Sozial- gesetzes. Da auf dem Bauernhof diese Menschen-
hilfe. Man hat gesagt: Dafür ist die Fürsorge da! gruppe meist in einer Haushaltsgemeinschaft lebt,
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3229
Könen (Düsseldorf)
würde bei der Inanspruchnahme der Sozialhilfe fol- Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Bitte, Herr
gendes geschehen. Der § 16 — ich habe mir dazu das Abgeordneter Frehsee.
Gesetz extra mitgebracht — des Bundessozialhilfe-
gesetzes sagt: Frehsee (SPD) : Herr Präsident! Meine Damen
Lebt ein Hilfesuchender in Haushaltsgemein- und Herren! Wir geben durchaus zu, daß das Alters-
schaft mit Verwandten oder Verschwägerten, hilfegesetz, Herr Kollege Balkenhol, eine agrar-
politische Zielsetzung hat. Wir haben es ja an die-
— das ist also nicht der Begriff der Unterhaltspflich- ser Stelle sehr oft begrüßt, daß durch die Einführung
tigen des Bürgerlichen Gesetzbuches, sondern geht der landwirtschaftlichen Altershilfe ein agrarstruk-
darüber hinaus — turpolitischer Effekt erzielt wurde. Dieser Effekt
wird jetzt wieder verstärkt werden durch die Erhö-
so wird vermutet, daß er von ihnen Leistungen
hung des Altersgeldes. So war ja auch unser zwi-
zum Lebensunterhalt erhält, soweit dies nach
schenzeitlich von Ihnen wiederholt abgelehnter An-
ihrem Einkommen und Vermögen erwartet wer-
trag auf Erhöhung des Altersgeldes zu verstehen.
d en kann. Soweit jedoch der Hilfesuchende von
Aber, meine Damen und Herren, wir gehen nicht so
den in Satz 1 genannten Personen Leistungen
weit wie Sie — das möchte ich in aller Form klar-
zum Lebensunterhalt nicht erhält, ist ihm Hilfe stellen —, daß die sozialpolitische Zielsetzung die-
zum Lebensunterhalt zu gewähren. ses Gesetzes von völlig untergeordneter Bedeutung
sei oder daß dieses Gesetz vielleicht gar keine so-
Meine Damen und Herren, Sie reden immer so
zialpolitische Aufgabe mehr habe. Das können wir
viel vom Familienzusammenhalt und vom Familien-
in keiner Weise so akzeptieren. Ich würde auch
sinn. Wir haben soeben etwas von der naturgewoll-
nicht sagen, daß die agrarpolitische Zielsetzung
ten Ordnung gehört. Was Sie hier beabsdchtigen,
Vorrang vor der sozialpolitischen hat. Wir Sozial-
nämlich die Ablehnung dieses Antrages, stimmt mich
demokraten sind nicht der Meinung, daß mit dieser
doch ein wenig bedenklich, ob Sie d a richtig sattel-
Altershilfe für Landwirte nur der landwirtschaftliche
fest sind. Dieser § 16 des Bundessozialhilfegesetzes
Strukturwandel, die Abwanderung aus der Land-
bedeutet doch, daß das Sozialamt — es handelt sich
wirtschaft, die Abgabe der Höfe usw. gefördert wer-
meist um kleine Gemeinden, wo wahrscheinlich das den solle, sondern wir sind der Meinung, daß mit
Kreisamt die Dinge regelt — in einem solchen Fall diesem Gesetz die soziale Sicherung der Selbständi-
vermuten muß: Hier wird der Lebensunterhalt an gen im Alter in der geeigneten Weise durchgeführt
und für sich bereits gewährt. Nun muß man dem werden sollte, in der, wie ich häufig sage, der Selb-
Sozialamt beweisen, daß er nicht gewährt wird. ständigkeit bäuerlichen Wirtschaftens gerecht wer-
Meine sehr verehrten Damen und Herren, stellen denden, angepaßten Weise, aber die soziale Siche-
Sie sich das bitte vor! rung besonderer Art.
Hinzu kommt in einem solchen Fall das Eingreifen Herr Kollege Balkenhol, Sie haben dem Antrag
der Vermögens- und Einkommensbestimmungen des mit dem Argument, das ja schon im Ausschuß vor-
Bundessozialhilfegesetzes. Das sind alles Dinge, von gebracht wurde, widersprochen, daß für die mithel-
denen ich ehrlich hoffe, daß Sie das selber gar nicht fenden Familienangehörigen keine Vorleistung er-
wollen. Die Verlagerung der Belastung vom Bund bracht sei. Nun, für das jetzt gezahlte Altersgeld in
auf die Gemeinden kommt auch noch hinzu. der Landwirtschaft werden zur Zeit im Jahr 170 Mil-
lionen DM für 330 000 Altersgeldbezieher aufge--
Meine Damen und Herren, Sie sind also sehr wendet. Demnächst werden es 280 Millionen DM im
schlecht beraten, wenn Sie den Antrag der SPD ab- Jahr sein, ab 1. April nämlich, wenn wir dieses Ge-
lehnen. Ich bin an dieser Arbeit nicht beteiligt und setz heute abend hier verabschieden,
habe an und für sich mit diesen Dingen nichts zu
(Zuruf von der CDU/CSU: Aber das ist
tun, aber eines lasse ich nicht gelten: Wenn Sie schon
doch erfreulich!)
Überlegungen anstellen, wo das eigentlich hinpaßt,
so muß ich Ihnen sagen: nicht nur die mitarbeiten- ohne daß die entsprechenden Vorleistungen erbracht
den Familienangehörigen gehören zum Sozialhilfe- worden wären.
gesetz, sondern jeder Bürger in der Bundesrepublik (Zuruf von der CDU/CSU: Früher! Aber
Deutschland, auch jeder B a u er und jede Bäuerin jetzt haben sie bezahlt!)
gehören zum Sozialhilfegesetz.
— Bitte schön, jedenfalls bekommen die jetzigen
(Abg. Balkenhol: Das habe ich nicht ab Altersgeldbezieher ihr Altersgeld zum überwiegen-
gestritten!) den Teil aus Mitteln — —

— Nein, Sie haben gesagt, der Bauer und die Bäue- (Zuruf von der CDU/CSU: Der Betrieb
rin gehören zur Altershilfe, und für die anderen ist zahlt doch weiter!)
die Sozialhilfe da. Wenn ich Sie falsch verstanden Hier handelt es sich lediglich darum, in gleicher
habe, nehme ich sofort alles zurück. Ich habe Sie so Weise die Altersgelder für die mithelfenden Fami-
verstand.IchmöSiwrklbten,dm lienangehörigen zu finanzieren.
Antrag zuzustimmen. Am Geld kann es nach meiner
Ich darf nun noch einiges zur Finanzierung sagen.
Meinung nicht liegen, sondern es liegt nur am guten
Das ist vorhin angesprochen worden, auch von mei-
Willen.
nem Kollegen Könen. Ich sagte vorhin ganz pau-
(Beifall bei der SPD.) schal, die Finanzierung sei gesichert. Ich muß, so
3230 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963

Frehsee
leid es mir tut — denn der Bericht ist für meine Be- diesem Zweck aufzumachen wäre, ergäbe nicht 60,
griffe ausgezeichnet ausgefallen, Herr Kollege We- sondern sogar 108 Millionen. Irgendwie, gegriffen,
ber —, dem Nachtrag, den Sie heute hier vorgetra- kommt die Regierung auf 60 Millionen. Nicht ein-
gen haben, widersprechen. Es trifft nicht zu, daß das mal die einfache Prozentrechnung stimmt. Im übrigen
Neuregelungsgesetz, daß dieses Änderungs- und kostet das nach Meinung der Sachverständigen 30
Ergänzungsgesetz eine zusätzliche Belastung von bis 35 Millionen im Jahr. Da diese Regelung erst
200 Millionen DM im Jahre und von 150 Millionen am 1. April dieses Jahres in Kraft treten soll, kostet
DM in neun Monaten bedeutet. Das ist nur nach Auf- sie also nur drei Viertel davon. Aber sie kostet noch
fassung des Bundesministeriums für Arbeit und So- nicht einmal drei Viertel davon im Jahre 1963, weil
zialordnung und nach Auffassung der Mehrheit im das ganz neu ist, weil es noch nicht einmal Merk-
Ausschuß der Fall. Wir haben im Ausschuß ganz ein- blätter und Antragformulare gibt, weil erst Anträge
deutig widersprochen. Wir waren in der Minderheit. bei der Alterskasse gestellt werden müssen, weil
Sie hätten als Berichterstatter, wenn Sie einen Nach- erst eine Aufklärung durch die Verbände erfolgen
trag bringen wollten, nur zu formulieren brauchen: muß und weil die Alterskasse dann die Leute zum
nach Meinung der Mehrheit 200 bzw. 150 Millionen. Amtsarzt zur Untersuchung schicken muß. Darüber
Aber Sie haben gesagt: So ist es, es kostet 200 Mil- vergeht nach meinem Dafürhalten das Jahr 1963.
lionen.
Trotzdem sind bei unseren 110 Millionen vor-
Es kostet nicht 200 Millionen im Jahr und nicht sichtigerweise 20 Millionen vorgesehen, weil ich
150 Millionen ab 1. April 1963, sondern, wenn Sie gewärtigen muß, daß Sie mir in einem Jahr, so etwa
die sozialdemokratischen Anträge nicht annehmen, um diese Zeit, das vorhalten, was ich Ihnen heute
über die wir heute beschließen werden, dann kostet gesagt habe. Wir haben hierfür also 20 Millionen
die Sache knapp 110 Millionen DM. 150 Millionen vorgesehen und 3 Millionen für die Witwen, 5 Mil-
werden — jetzt spreche ich es aus, und es wird da- lionen für die Verwaltung und 7 Millionen für die
mit im Protokoll stehen, und Sie können mir das sogenannten § 8 Abs. 4-Fälle. Das macht 143 Mil-
Protokoll gern am Ende des Jahres vorhalten — — lionen im Jahr; geteilt durch 4 mal 3 ergibt genau
(Zuruf von der Mitte) 107,25 Millionen. Ich habe aufgerundet und gesagt:
— Bitte? 110 Millionen.
(Erneuter Zuruf von der Mitte) Jedenfalls kostet es nicht die 150 Millionen, die
der Landwirtschaftsminister mit dem Finanzminister
— Ja, aber der Herr Kollege Weber hat in Abände- vereinbart hat und die Ausgangspunkt aller Erörte-
rung seines Schriftlichen Berichts vorgetragen, „150 rungen in den beiden Ausschüssen waren. Es ging,
Millionen" sei falsch und müsse gestrichen werden; Herr Kollege von Bodelschwingh, in den Ausschüs-
es müsse heißen: 200 Millionen im Jahr, und das sen in erster Linie darum, wie man die 150 Millionen
bedeute, daß für 9 Monate ab 1. April 150 Millio- verteilen soll. Sie haben bis jetzt 110 Millionen ver-
nen gebraucht würden. Das ist unzutreffend. Das ist
teilt. Wenn Sie dem sozialdemokratischen Antrag,
nach Meinung der Regierung so; ich kommen viel-
den ich vorhin begründet habe, zustimmen, so kostet
leicht in anderem Zusammenhang darauf zurück.
das schätzungsweise 20 Millionen, vielleicht auch
(Abg. Struve: Herr Frehsee, das weiß kein 25 Millionen von den 40 Millionen, die noch übrig
Mensch! Das können Sie gar nicht behaup sind. Dann sind die 150 Millionen immer noch nicht
ten! Sie wissen ganz genau, daß auf Grund ausgeschöpft. Auch die Finanzierung ist also ge-
dieses Gesetzes Arbeitsunfähige zusätzlich sichert. -
Anträge stellen können! Sie wissen genau, (Beifall bei der SPD.)
daß ein Teil neu hineinkommt! Wir über
sehen ja gar nicht, wieviel Anträge gestellt Präsident D. Dr. Gerstenmaler: Herr Abge-
werden können! Das ist doch ein Streit um ordneter Weber.
Worte!)
— Dann hätte es mindestens heißen müssen: „wird Weber (Georgenau) (FDP) : Herr Präsident! Meine
geschätzt". Damen und Herren! Herr Kollege Frehsee, ich
Aber wir wissen doch einiges, und ich darf das möchte als Berichterstatter noch einmal darauf hin-
der Reihe nach anführen. Die Erhöhung des Alters- weisen, daß es heißt: „voraussichtlich". Ich möchte
geldes kostet 110 Millionen; da sind wir uns einig. dieses „voraussichtlich" doppelt unterstreichen.
Die Differenz zwischen uns liegt bei nur 2 Millionen; (Sehr richtig! bei der CDU/CSU. — Abg.
wir sagen: 108, Sie sagen: 110 Millionen. Darüber Frehsee: Auch da widerspreche ich!)
brauchen wir nicht zu sprechen. Aber für die Gewäh-
Ich muß Ihnen absolut zugestehen, auch ich halte es
rung des vorzeitigen Altersgeldes an Erwerbsun-
fähige rechnet die Regierung mit 60 Millionen. Sie für fraglich, ob der Betrag ausgeschöpft wird. Aber
begründet diese Rechnung mit dem Verhältnis von das wird die Zukunft erweisen. Wir haben einmal
Frühinvaliden und Altersruhegeldbeziehern in der erlebt, daß es anders herum ging.
Rentenversicherung und sagt, dort bezögen 39 % Nun zu Ihrem Antrag noch wenige Worte! Herr
Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrente; wenn man Kollege Frehsee und meine Damen und Herren von
das gleiche Verhältnis in der Landwirtschaft zu- der SPD, ich bin eigentlich erstaunt und werde bei
grunde lege, koste das 60 Millionen. Nun schauen der dritten Lesung dazu noch einmal kurz Stellung
Sie in dem Protokoll vom 7. März nach! Schon die nehmen. Die Frage ist nicht zu Ende gedacht. Sie
ganz einfache Rechnung nach Adam Riese, die zu müßten dann eigentlich die Grundsatzfrage stellen:
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3231
Weber (Georgenau)
Wie halten wir es mit den Familienangehörigen, haben uns deshalb auch im Hinblick darauf, daß Sie
wo ist die Grenze der Beitragspflicht, wie wollen derAufasngi,ßmzundestg-
wir sie in Zukunft gestalten, und zwar hinsichtlich wisse Fragen der Rehabilitation, beispielsweise der
der zweit- und drittgeborenen Bauernsöhne und Gewährung eines Übergangsgeldes, Umschulungs-
-töchter von Jugend auf? Ich möchte diese Fragen maßnahmen usw., noch prüfen sollte, um dann einen
nicht vertiefen. Wir haben dieselben Überlegungen anderen Gesetzesvorschlag zu machen, jetzt mit un-
angestellt und sind der Meinung, Herr Kollege serer Vorlage — und darauf mache ich Sie beson-
Frehsee, daß deshalb der Entschließungsantrag die ders aufmerksam — nur auf Heilverfahren in der
Dinge beinhalten muß. Herr Professor Schellenberg Form der vier- bis sechswöchigen Kuren in Sana-
hat darauf hingewiesen, daß darin nicht Gesetz als torien, Kurheimen oder Anstalten beschränkt. Es
Forderung, sondern ein Ersuchen an die Regierung handelt sich also um eine absolut gezielte Maß-
steht. Aber das eine sagen wir Ihnen sehr deutlich, nahme, die nur auf ärztliche Verordnung, gege-
daß wir darauf dringen werden, daß der Bericht bei- benenfalls mit vertrauensärztlicher Überprüfung,
zeiten vorliegt, und daß wir dann auch dafür sorgen und unter ärztlicher Kontrolle in entsprechenden
werden, daß entsprechende gesetzliche Maßnahmen Heimen oder Sanatorien gewährt wird. Der Begriff
getroffen werden. Heilverfahren ist ein feststehender Begriff. Wer da-
(Abg. Dr. Schellenberg: Sie haben Gelegen mit zu tun hat, weiß, daß diese Maßnahmen auch
heit, sich nachher durch Abstimmung dazu bei den Trägern, das heißt bei der Alterskasse der
zu bekennen!) Landwirte, keinerlei Apparaturen bedürfen, weil
sie von entsprechenden Bade- oder Kureinrichtun-
gen, die sich draußen befinden, durchgeführt werden
Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Keine weite- können. Die Maßnahmen sind allein von einer ent-
ren Wortmeldungen! sprechenden ärztlichen Beurteilung abhängig. Wir
Wir stimmen ab über den Änderungsantrag der sind der Meinung, daß der Versuch unternommen
Fraktion der SPD Umdruck 232, und zwar zunächst werden muß, zu verhüten, daß das Altersgeld we-
über Ziffer 1. Wer diesem Änderungsantrag zuzu- gen vorzeitiger Erwerbsunfähigkeit in Anspruch ge-
stimmen wünscht, gebe bitte ein Handzeichen. — nommen wird.
Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das zweite war Zur Kostensituation! Ein Heilverfahren in Form
die Mehrheit; der Änderungsantrag Umdruck 232 einer vier- bis sechswöchigen Kur kostet nach den
Ziffer 1 ist abgelehnt. bisher vorliegenden Unterlagen der Rentenver-
Ich lasse nun abstimmen über Art. 1 Ziffern 1 und sicherungsträger diese etwa 800 DM. Dabei sind die
2. Wer diesen Ziffern zustimmen will, gebe bitte ein Aufwendungen für Übergangsgeld nicht mit ein-
Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — bezogen; ein solches kommt hier auch nicht in
Das ist einstimmig angenommen. Frage. Wenn wir durch eine oder auch zwei Kuren
erreichen, daß die Leistungs- und Erwerbsfähigkeit
Nun kommt der — begründete und diskutierte des Bauern oder der Bäuerin erhalten wird, dann
Änderungsantrag Umdruck 232 Ziffer 2.
treten bei Kosten von 800 DM bei der Alterskasse
(Abg. Dr. Schellenberg: Ist erledigt, Herr Einsparungen ein, die sich schon bei einer einzigen
Präsident!) Jahresrente auf rund 1350 DM belaufen. Nun wissen
— Der Antrag unter Ziffer 2 ist erledigt. wir, daß solche gezielten Maßnahmen — eine, zwei
oder auch drei Kuren — oft die Berufs- und Er-
Dann kommt Art. 1 Ziffern 3 und 4. Hierzu liegen -
werbsfähigkeit auf Jahre hinaus erhalten. Man
keine Änderungsanträge vor. Wird dazu das Wort kann also mit unverhältnismäßig geringem Auf-
gewünscht? — Keine Wortmeldungen! Wir kommen wand einen hohen Effekt erzielen; dieser Effekt ist
zur Abstimmung. Wer zuzustimmen wünscht, gebe für die Alterskasse, aber auch — wenn man an die
bitte ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthal- weitere Tätigkeit des Bauern denkt — volkswirt-
tungen? — Das ist einstimmig angenommen. schaftlich von außerordentlicher Bedeutung.
Nun folgt der Änderungsantrag der Fraktion der Nun können natürlich auch Einwendungen ge-
SPD Umdruck 232 Ziffer 3. Wer wünscht dazu das macht werden. So haben wir etwa schon das Argu-
Wort? — Herr Abgeordneter Killat! ment gehört, daß hier ein Erholungsurlaub finan-
ziert werde. Demgegenüber möchte ich darauf hin-
Killat (SPD) : Herr Präsident! Meine Damen und weisen, daß die Voraussetzungen für dieses Heil-
Herren! Der Änderungsantrag Umdruck 232 Ziffer 3 verfahren — nämlich die ärztliche Anordnung, die
betrifft die Gewährung von Heilverfahren. Die so- vertrauensärztliche Untersuchung und die ärztliche
zialdemokratische Fraktion hatte in ihrem Gesetzes- Kontrolle der Durchführung — absolut sicherstellen,
vorschlag vorgesehen, daß nach der Annahme der daß kein Mißbrauch der befürchteten Art betrieben
Gewährung eines vorgezogenen oder vorzeitigen werden kann. Es wird also keine Urlaubsreisen nach
Altersgeldes bei Erwerbsunfähigkeit zwangsläufig dem sonnigen Süden geben. Die Landwirte können
auch Maßnahmen zur Erhaltung, Besserung und eine solche Kur in der Regel nur im Winter machen,
Wiederhenstellung der Erwerbsfähigkeit eingeführt wenn sie überhaupt den Hof verlassen können.
werden. Wir geben zu, daß unser Vorschlag in An- Eine Ausnutzung dieser Maßnahmen ist auch des-
lehnung an die Rentenversicherung im Augenblick halb nicht möglich, weil e s sich nach unserem Vor-
vielleicht noch etwas zu umfassend war, als daß er schlag um reine Kann-Maßnahmen handelt; das
Ihre Zustimmung im Ausschuß finden konnte. Wir heißt, die Alterskassen können zur Erhaltung der
3232 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963
Killat
Erwerbsfähigkeit usw. ein Heilverfahren gewähren. Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Herr Abge-
Die Selbstverwaltungsorgane dieser Alterskassen ordneter Berberich hat das Wort!
haben es in der Hand, mit ihren Richtlinien Gren-
zen festzusetzen und auf deren Einhaltung zu ach- Berberich (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine
ten. Jeder in diesem Hause wird zugeben, daß be- Damen und Herren! Der Herr Kollege Killat hat
sonders die Selbstverwaltungsorgane der Berufs- noch einmal den Antrag der SPD auf Einführung
genossenschaft beinahe jeden Pfennig erst zwei- von Heilmaßnahmen im Rahmen der Altershilfe
oder dreimal umdrehen, bevor sie ihn ausgeben. Es begründet. Ich muß dabei anerkennen, daß der An-
ist also bei ihnen eine Gewähr dafür gegeben, daß trag, der uns heute vorliegt, sich wesentlich gewan-
mit diesem Instrument sparsam gearbeitet wird. Hin- delt hat gegenüber dem, was ursprünglich im
zu kommt, daß die Selbstverwaltung auf Grund ihres Ernährungs- und sodann im Sozialpolitischen Aus-
Erfahrungsschatzes hinsichtlich der Rehabilitation in schuß diskutiert worden ist. Der Herr Kollege Kil-
den Berufsgenossenschaften tatsächlich in der Lage lat weiß ganz genau, daß wir innerhalb der CDU
ist, Richtlinien für zweckentsprechende Maßnahmen und der FDP keine grundsätzlichen Gegner dieser
auszuarbeiten. Heilmaßnahmen sind, sondern daß es sich darum
dreht, ob man im gegenwärtigen Moment diese
Nun ist dann und wann einmal zu hören, daß auf
Maßnahmen durchführen kann oder ob es notwen-
dem Lande gewisse Neidkomplexe hinsichtlich der dig ist, noch eine Reihe von Erfahrungen zu sam-
etwa gleichstehenden Handwerker auftreten, weil meln und die Abgrenzungen der Zuständigkeiten,
aus der Handwerkerversorgung schon solche Maß- auch bei den Überschneidungen mit anderen Sozial-
nahmen gewährt werden oder auch weil der Land- versicherungsträgern, zunächst einmal zu klären.
arbeiter durch die LVA eine entsprechende Kur be-
kommt. Wenn man das als Neidkomplex bezeichnet, Herr Kollege Killat, Sie haben ja den Entschlie-
dann ist dais falsch. Hier herrscht vielmehr, glaube ßungsantrag im Sozialpolitischen Ausschuß eben-
ich, ein echtes Gefühl für eine ungerechte Behand- falls gehört — er liegt ja auch hier als Antrag
lung vor, weil die Landwirte, nachdem sie schon vor —, in dem im Gegensatz zu dem von Ihnen
eine soziale Sicherung haben, noch nicht über solche bemängelten Verfahren bei den mithelfenden Fami-
Maßnahmen zur Erhaltung ihrer Leistungsfähigkeit lienangehörigen bereits die Vorlage eines entspre-
verfügen. chenden Gesetzentwurfs von seiten der Bundesre-
gierung gefordert worden ist. Wir haben bereits
Wir müssen bedenken, daß wir mit der Einführung
die Zusicherung der Bundesregierung, daß sie sich
des vorzeitigen Altersgeldes bei Erwerbsunfähigkeit
sofort nach Verabschiedung des Gesetzes daran
absolut verpflichtet sind, Maßnahmen zu deren Ver-
machen wird, die Unterlagen zu sammeln, die not-
hütung vorzusehen, weil sie finanziell sinnvoller,
wendig sind, um die entsprechenden gesetzgebe-
aber auch sozialpolitisch gezielter 'sind.
rischen Maßnahmen zu treffen, um die Einführung
(Sehr richtig! bei der SPD.) der Heilbehandlungsmaßnahmen auch im Rahmen
der Altershilfe zu sichern. Dabei sind wir uns dar-
Wir tun ja alles — wenn ich an die Maßnahmen
über im klaren, daß eis sich dann auch um die Finan-
denke, die in diesem Hause schon für die Landwirt- zierung handelt. Ich bin nicht ganz der Meinung, daß
schaft beschlossen sind —, um die Leistungsfähig- die Rechnung mit 110 Millionen, die vorhin aufge-
keit und den Leistungswillen der landwirtschaft- macht worden ist, stimmt. Wir haben bei der Ein-
lichen, bäuerlichen Bevölkerung zu heben. Gerade im führung des Altershilfegesetzes mit den Unterschät-
Zuge der weiteren Rationalisierung und Technisie- zungen der Ausgaben so viel schlechte Erfahrungen
rung, auch mit dem Rückgang der Arbeitskräfte im Rahmen der Alterssicherung gemacht.
auf dem Lande, wird es auf dem Dorfe mehr als bis-
her von entscheidender Bedeutung sein, daß die Ar- (Zuruf von der Mitte: Sehr richtig!)
beitskraft und die Leistungsfähigkeit dieser bäuer- daß wir der Meinung sind, wir sollten Schritt für
lichen Familien erhalten bleiben. Wir meinen, es Schritt vorgehen und sollten uns vorher sicheren
wäre kurzsichtig, vielleicht sogar leichtfertig oder Boden unter den Füßen verschaffen, bevor wir
unverantwortlich, wenn wir zulassen wollten, daß irgendwelche Konzeptionen übernehmen, deren
der Bauer lieber seine Arbeitskraft ruiniert, um dann Auswirkungen im gegenwärtigen Moment nicht
vielleicht am Ende durch ein solches vorzeitiges überschaubar sind.
Altersgeld eine gewisse Hilfe zu erfahren, statt ein
Sie wissen aus den Diskussionen des Ausschus-
gezieltes Heilverfahren einzuführen, das sparsam,
ses, daß die Meinungen darüber, welchen Umfang
aber zweckmäßig ist und dafür Sorge tragen würde,
diese Rehabilitationsmaßnahmen annehmen werden,
daß diese Arbeitskraft noch recht lange dem Betrieb
erheblich auseinandergehen, und zwar zwischen 10
erhalten bleibt. und 40 %. Unter solchen Umständen darf man es
Wir meinen also, daß Sie aus Gründen der Ver- uns nicht verübeln, wenn wir aus den schlechten
nunft, aus Gründen des sozialpolitisch sinnvollen Erfahrungen mit Schätzungen nun den Weg der
Handelns, aber auch aus Gründen der volkswirt- Sicherheit gehen wollen.
schaftlichen Nutzung der Produktivität der in der Wir sind davon überzeugt, daß diese Heilbehand-
Landwirtschaft Tätigen und der längeren Erhaltung lungsmaßnahmen in absehbarer Zeit im Rahmen
ihrer Arbeitskraft diesem begrenzten Antrag auf der Altershilfe eingeführt werden. Aber wir wollen
Einführung eines Heilverfahrens zustimmen können. diese Dinge gesetzgeberisch dann so vorbereitet
(Beifall bei der SPD.) wissen, daß uns die ganze Sache nicht hinterher
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3233
Berberich
wieder Kummer bereitet und wir nach einem Vier- Im übrigen haben Sie, Herr Kollege Berberich, er-
tel- oder halben Jahr mit einer Novellierung kom- klärt, die Gewährung der Heilverfahren sei finan-
men müssen, um diese unvorhergesehenen Ausga- ziell problematisch. Wir sind genau der gegenteili-
ben abfangen zu können. gen Ansicht. Wir halten es für volkswirtschaftlich
Herr Kollege Killat, Ihre Argumentation in bezug bedenklich, Geldleistungen bei Erwerbsunfähigkeit
auf Beiträge stimmt nicht ganz. Es wird auch in dem zu gewähren, ohne gleichzeitig die Möglichkeit zu
Falle, daß jemand vorzeitig Altersgeld erhält, der bieten, dieser drohenden Erwerbsunfähigkeit zu be-
Beitrag des Betriebs nicht ausfallen, sondern in die- gegnen.
sem Moment muß ja der Betrieb einen neuen Be- (Beifall bei der SPD. — Vorsitz: Vize
wirtschafter haben, und dieser neue Bewirtschafter präsident Dr. Dehler.)
zahlt selbstverständlich Beiträge. Im übrigen möchte ich Ihnen etwas vorlesen, was
Dann zu der Frage, daß Ihre Formulierung nur einmal die Bundesregierung bei einem großen Ge-
eine Kannbestimmung ist. Meine Damen und Her- setzeswerk ausgeführt hat, nämlich bei der Renten-
ren, wir wissen aus dem Sozialrecht genau, wenn versicherungsreform. Dort heißt es in der Begrün-
ein einziges Mal von dieser Kannbestimmung Ge- dung:
brauch gemacht worden ist, daß für jeden gleichlie-
Ziel der Sicherung im Falle der Invalidität
genden Fall der klagbare Anspruch darauf besteht,
daß diese Kannbestimmung auch auf ihn angewen- — das würde hier heißen, im Falle der Erwerbs-
det wird. unfähigkeit —
Sie haben gesagt, Herr Kollege Killat, wir mute- ist nicht mehr in erster Linie Ide Gewährung
ten dem Bauern zu, daß er sich vorzeitig seine von Renten,
Arbeitskraft ruiniere, um in den Genuß des vorzei- — also von Geldleistungen —
tigen Altersgeldes zu kommen. Herr Kollege Killat,
Sie kennen die Verhältnisse in der Landwirtschaft sondern die Wiedereingliederung in das Ar-
gut genug und wissen, daß dieser Vorwurf völlig beitsleben.... Eine wirksame Unterstützung mit
unbegründet ist. Die vorzeitige Ruinierung der medizinischer Hilfe schulden daher die zur
Arbeitskraft in der Landwirtschaft geht von ande- Sicherung der Bevölkerung geschaffenen Ein-
ren Grundlagen aus als davon, ob der Mann 100 richtungen ihren Mitgliedern.
DM Altersgeld erhält oder nicht. Das heißt auf dieses Gesetz übertragen: die Alters-
(Zustimmung in der Mitte.) kassen schulden den Landwirten Heilverfahren, be-
vor Geldleistungen bei Erwerbsunfähigkeit gewährt
Der Kampf ums Dasein in der Landwirtschaft ist werden. Das ist der Zusammenhang zwischen Heil-
eben so hart, daß der Betriebsinhaber und seine .
verfahren und Leistungen der Altershilfe.
Ehegattin auch dann arbeiten müssen, wenn sie
unter Umständen vom gesundheitlichen Standpunkt Deshalb bitten wir Sie dringend, sich nicht damit
aus gar nicht mehr arbeiten dürften. Daran ändert zu begnügen, daß die Bundesregierung einen Ge-
auch die Einführung eines vorzeitigen Altersgeldes setzentwurf vorlegen soll. Heute sollen hier — und
nichts. Wenn die Voraussetzungen nicht zu schaffen das ist ein Fortschritt — Leistungen bei Erwerbs-
sind, eine Ersatzkraft zu bekommen, nützt die Ein- unfähigkeit beschlossen werden. Deshalb muß auch
führung von Heilmaßnahmen überhaupt nichts, weil heute eine positive Entscheidung über die Gewäh-
der Bauer nicht aus seinem Betrieb herauskann. rung von Heilverfahren getroffen werden. -

(Zustimmung bei den Regierungsparteien.) (Beifall bei der SPD.)


Ich darf deshalb noch einmal bitten, diesen Antrag
im gegenwärtigen Moment nicht anzunehmen, son- Vizepräsident Dr. Dehler: Weitere Wortmel-
dern uns die Zeit dafür zu lassen, die Dinge wirk- dungen liegen nicht vor.
lich ausreichend vorzubereiten. (Abg. Killat: Doch, Herr Präsident!)
(Beifall bei den Regierungsparteien.)
— Bitte, Herr Abgeordneter Killat!

Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Das Wort hat


Herr Abgeordneter Dr. Schellenberg. Killat (SPD) : Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Herr Kollege Berberich, Sie haben davon
gesprochen, daß noch notwendige Erfahrungen ge-
Dr. Schellenberg (SPD) : Herr Präsident! Meine sammelt werden müßten hinsichtlich der Gewährung
Damen und Herren! Herr Kollege Berberich, Sie bestimmter Maßnahmen bei Erwerbsunfähigkeit.
sprechen von Zeit lassen und gründlich überlegen. Ich glaube, die von uns vorgeschlagenen Maßnah-
Sie haben in Ihrem Gesetzentwurf auch die Gewäh- men sind so eindeutig und das Heilverfahren ist
rung von Leistungen bei Erwerbsunfähigkeit vor- jahrzehntelang erprobt, daß es dazu keiner weite-
gesehen. Ich frage, warum Sie nichtgleichzeitig da- ren Erfahrungen bedarf. Wenn Sie sagen, wir hät-
bei das überlegt haben, was zwangsläufige Folge ten nicht irgendwelche Konzeption entwickelt, dann
dieser Leistung sein muß, nämlich die Gewährung möchte ich Ihnen sagen, dazu ist keine Konzeption
von Heilverfahren. — Sie haben also ein Versäum- zu entwickeln, sondern hier hat man sich nur zu ent-
nis begangen. scheiden, ob man nun diese Maßnahmen nach Ein-
(Abg. Struwe: Wir haben schon überlegt, tritt der Erwerbsunfähigkeit durchführen will oder
sind aber noch nicht zu Ende!) ob man sie nicht durchführen will, d. h. ob man sich
3234 Deutscher Bundestag — 4. Wahlp e ri ode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963
Killat
einfach auf das Risiko einlassen will, am Ende einer legen Killat ist das dargelegt worden. Sie, Herr
solchen Entwicklung der Arbeitsleistung nun einfach Kollege Professor Schellenberg, haben darauf hin-
die Rente zu zahlen und zu kapitulieren. gewiesen, es sei volkswirtschaftlich bedenklich, vor-
zeitig Altersgeld zu gewähren, ohne gleichzeitig
Meine Damen und Herren, ich darf Ihnen hier Rehabilitationsmaßnahmen durchzuführen. Dann
noch — mit Genehmigung des Herrn Präsidenten — hätte man 60 Jahre lang in der Rentenversicherung
folgendes vortragen, was der Herr Bundeskanzler volkswirtschaftlich bedenklich gearbeitet.
selbst in seiner Regierungserklärung zu diesem
Punkt am 6. Februar gesagt hat. Ich zitiere: (Beifall bei der CDU/CSU. — Lachen und
Zurufe von der SPD.)
Die Bundesregierung sieht es als eine der vor-
dringlichsten Aufgaben an, die bäuerliche Ar-
Vizepräsident Dr. Dehler: Herr Abgeordneter
beitskraft und die bäuerliche Familie als Wirt-
Dr. Schellenberg!
schafts- und Lebenseinheit zu erhalten.
Hierfür sind zusätzliche Maßnahmen zur sozia- Dr. Schellenberg (SPD) : Herr Kollege Berbe-
len Sicherung der Bauern und ihrer mitarbeiten- rich, ich muß Ihnen sagen: Sie kennen leider die
den Familienangehörigen notwendig. Die Bun- deutsche Rentenversicherung nicht. Denn bereits
desregierung hat deshalb den Bundesminister vor 1957 war in § 1310 RVO das Heilverfahren als
für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten be- Leistung der Rentenversicherung vorgesehen und
auftragt, zusammen mit den beteiligten Res- wurde vieltausendfach gewährt.
sorts im Rahmen des Grünen Plans die Mög-
lichkeit für eine derartige Sicherung zu prüfen
und der Bundesregierung entsprechende Vor-
Vizepräsident Dr. Dehler: Wir kommen zur
Abstimmung. Zur Abstimmung steht der Antrag
schläge vorzulegen.
Ziffer 3 des Umdrucks 232, der Änderungsantrag
Diese Hilfsmaßnahmen erscheinen um so dring- der Fraktion der SPD. Wer zustimmt, gebe bitte das
licher, als Untersuchungen in verschiedenen Handzeichen. — Gegenprobe! — Das letzte war die
Bundesländern ergeben haben, daß der Gesund- Mehrheit; der Antrag ist abgelehnt.
heitszustand des Bauern und im besonderen der
Bäuerin im Vergleich zur übrigen Bevölkerung Ich kann dann Art. 1 zur Abstimmung stellen.
außergewöhnlich schlecht ist. Wer Art. 1 in der Fassung des Ausschusses an-
nimmt, gebe bitte das Zeichen. — Das ist wohl ein-
Meine Damen und Herren! Wir stimmen mit Ihnen mütige Annahme.
überein, daß Sie in der Frage einer weitergehenden Ich rufe dann Art. 2 und Art. 3 auf. Wer zustimmt,
Rehabilitation noch gewisse Überprüfungen vorneh- gebe bitte das Handzeichen. — Auch hier wohl
men müssen — wie Herr Kollege Berberich mit einstimmige Annahme.
Recht ausgeführt hat —, wie man das Problem der
Ersatzkraft lösen kann. Aber in der Frage des Heil- Dann Art. 4. Hierzu liegt der Änderungsantrag
verfahrens, der gezielten, ärztlich angeordneten der Abgeordneten Berberich, Dr. Reinhard, Frehsee,
Maßnahmen von vier bis sechs Wochen, die hun- Weber (Georgenau) auf Umdruck 245 *) vor.
derttausenfach erprobt sind, braucht man keine Er- (Zurufe von der Mitte: Keine Begründung!
fahrungen mehr zu sammeln. Hier sollte man end- — Abg. Frehsee : Interfraktionell!)
lich diesen Schritt tun und unserem Antrag zustim-
men. — Gut, dann stimmen wir darüber ab. Wer zu- -
stimmt, gebe bitte das Zeichen. — Auch hier ein-
stimmige Annahme.
Vizepräsident Dr. Dehler: Das Wort hat der
Abgeordnete Berberich. Dann kann Art. 4 mit dieser Änderung zur Ab-
stimmung gestellt werden. Wer zustimmt, gebe bitte
das Zeichen. — Angenommen.
Berberich (CDU/CSU) : Herr Kollege Killat, ich
bedauere, daß ich Ihrer Argumentation nicht ganz Einleitung und Überschrift; ich darf Ihre Zustim-
folgen kann. Sie haben hier mit der Rentenversiche- mung feststellen.
rung verglichen und darauf hingewiesen, daß in der (Abg. Stingl: Die Anlage gilt als mit
Rentenversicherung diese Maßnahmen vorhanden beschlossen?)
sind. Nun können Sie Rentenversicherung und land-
— Jawohl. — Dann kann ich die zweite Beratung
wirtschaftliche Alterskasse nicht unbedingt gleich- schließen.
stellen. Denn in der Rentenversicherung ist zu-
nächst das Ziel der Rehabilitation desjenigen, der in Ich eröffne die
einem Beruf nicht mehr arbeitet, der nicht mehr dritte Beratung.
berufsfähig ist, also das Ziel, ihn in einen anderen
Beruf umzusetzen. Das kann man leider Gottes in Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Winkel-
der Landwirtschaft nicht tun. heide.

(Abg. Dr. Schellenberg: Das ist doch gar Winkelheide (CDU/CSU) : Herr Präsident!
nicht beantragt gewesen! — Weitere Zu Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir nur
rufe von der SPD.) wenige Worte zur dritten Lesung. Die CDU/CSU-
— So ist die Begründung gewesen; beantragt haben
Sie das nicht, aber in den Ausführungen des Kol * siehe Anlage 3.
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3235
Winkelheide
Fraktion begrüßt die Verabschiedung dieses Ände- Ich meine, die Wünsche, die offengeblieben sind,
rungsgesetzes über die Altershilfe für Landwirte. Ihre Wünsche, die auch im Entschließungsantrag zum
Wir sehen in dieser Novelle einen weiteren sozialen Ausdruck gekommen sind, sollte man nun in der Tat
Baustein im Strukturgefüge unserer Landwirtschaft. überlegen. Herr Professor Schellenberg, Sie haben
Die Leistungen nach diesem Gesetz haben aber — uns in diesen Tagen einmal im Ausschuß gesagt,
soeben ist die Aussprache darüber geführt worden wir sollten nicht überstürzt Gesetze machen, son-
— nicht nur den Charakter von Sozialversicherungs- dern wir sollten die Dinge nach allen Seiten hin
leistungen. Es ist auch keine reine Leistung der überlegen. Bei diesen Fragen — Einbeziehung der
Sozialversorgung, sondern in der Tat eine Alters- mithelfenden Familienangehörigen, der Rehabilitie-
hilfe des Staates zur Selbsthilfe der Landwirtschaft, rung, der Krankenhilfe — bedarf es einer sauberen
(Abg. Frehsee: Ja, so kann man sagen!) Überlegung, und die wird die Regierung sicherlich
die ihren Ausgangspunkt im Strukturwandel hat. anstellen.
Wir sollten auch nach außen hin sagen, daß dieses (Abg. Dr. Schellenberg: Herr Kollege Win
Gesetz uns in der industriellen Gesellschaft den kelheide, ist Ihnen nicht bekannt, daß wir
gewaltigen Wandel in der Landwirtschaft noch ein- diese Frage — mithelfende Familienange
mal vor Augen führt. Der Strukturwandel darf nicht hörige — schon seit 1957 überlegen und daß
nur die Sorge .der Landwirte sein, sondern muß es jetzt doch an der Zeit ist, sie endlich
unser aller Sorge sein. Darüber hinaus sollten wir gesetzlich zu regeln?)
auch in der Arbeiterschaft einmal stärker über die
Anliegen der Landwirtschaft sprechen. — Jawohl, das ist mir bekannt. Aber jetzt wollte
ich meinen nächsten Satz sagen: 'Diese Überlegun-
(Beifall bei der CDU/CSU. — Lachen und gen sind technischer Art, sind Überlegungen ab-
Zurufe von der SPD. — Abg. Dr. Schellen grenzender Art zu anderen Sozialleistungen hin, es
berg: Das machen wir schon!) sind aber auch Überlegungen finanzieller Art. Ich
Ich glaube, wir alle und auch unsere Landwirt- meine, wenn man den ganzen Katalog erfüllt, müßte
schaft wären glücklicher, wenn unsere deutsche man auch über eine Beitragserhöhung zu diesen
Landwirtschaft keiner sozialen Stützen bedürfte. gesetzlichen Leistungen sprechen und darüber be-
Aber nach Lage der Dinge —die Entwicklung geht raten. Das ist immerhin eine Frage, deren Regelung
weiter, die Rationalisierung, die Technisierung eine bestimmte Zeit in Anspruch nimmt.
schreiten fort — kann die Landwirtschaft allein sich
nicht helfen; sie muß einbezogen werden nicht in Zusammenfassend möchte ich folgendes sagen. Die
Landwirtschaft draußen hat sicherlich Verständnis
das, möchte ich sagen, sondern in e i n soziales
Sicherungssystem, das ihr entsprechend ist. für unsere Haltung gegenüber den offengebliebenen
Punkten. Sie wird sicherlich die Mehrleistungen, die
(Beifall bei den Regierungsparteien. — das Gesetz bringt, begrüßen; denn dieses Gesetz
Abg. Dr. Schellenberg: Das waren die Aus ist ein Schritt nach vorn. Die CDU/CSU wird diesem
führungen der SPD im Ausschuß!)
Gesetz zustimmen.
— Nicht ganz! Sie haben andere Vorstellungen da-
(Beifall bei den Regierungsparteien.)
bei.
(Abg. Dr. Schellenberg: Sie machen Fort
schritte!) Vizepräsident Dr. Dehler: Das Wort hat Herr
Ich möchte das in dieser Form einmal sagen. Abgeordneter Frehsee.
-
Nun zu Ihren Ausführungen! Die Novelle ist
keine Ganzheitslösung und verwirklicht — so Frehsee (SPD) : Herr Präsident! Meine Damen
möchte ich einmal in Anführungszeichen sagen — und Herren! Ich stimme Ihnen zu, Herr Kollege
den ganzen „Sozialplan", der Ihnen und auch den Winkelheide: die selbständige bäuerliche Bevölke-
Organisationen vorschwebt. Sie haben eben über rung wird diesen Gesetzentwurf begrüßen; denn er
Zahlen gestritten. Zahlen hin, Zahlen her! Sie kön- bringt tatsächlich — das habe ich ja schon vorhin
nen sagen: 110 Millionen, Sie können sagen: gesagt — eine Reihe von durchaus anerkennens-
150 Millionen. Ich meine, diese 150 Millionen, werten und erfreulichen Verbesserungen, für die die
die die Durchführung des Gesetzes kostet, Betroffenen dankbar sein werden.
werden in diesem Jahre nicht ganz ausgeschöpft; Nun, das ist das zweite große Änderungsgesetz
aber nach 1963 kommt auch ein Jahr 1964, und zum Gesetz über die landwirtschaftliche Altershilfe,
dann fallen die Kosten doch sicher in dieser Grö- die nun fünfeinhalb Jahre besteht und von der wir
ßenordnung .an. Genau kann das natürlich keiner wiederholt gesagt haben, daß sie sich segensreich
vorausberechnen. Wir haben unsere Erfahrungen, ausgewirkt habe, daß sie zu dem wünschenswerten
wie Herr Kollege Berberich gesagt hat, erst mit und notwendigen Strukturwandel sowie auch einiges
dem Anlaufen des Gesetzes gemacht. zur sozialen Sicherung der selbständigen bäuerlichen
(Abg. D r. Schellenberg: Das haben wir Bevölkerung beigetragen habe. Diese landwirtschaft-
Ihnen schon damals gesagt.) liche Altershilfe, um die wir ja im Jahre 1957 lange
— Ich meine, die Erhöhung des Altergeldes und die gekämpft haben — Sie werden sich gewiß noch a n
Berücksichtigung der Erwerbsunfähigkeit — das die Einwände erinnern, die auch von Mitgliedern
haben Sie soeben selber zugegeben — sind ein des Bundestages der 4. Wahlperiode, die 'damals
weiterer Schritt nach vorn, und das gilt auch für die schon da waren, gegen die landwirtschaftliche
Einbeziehung der Saar in dieses Gesetz. Altershilfe im Prinzip vorgebracht worden sind:
3236 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963
Frehsee
Dieses System der sozialen Sicherung lasse sich eben lich gewesen ist — im Interesse der Betroffenen! —,
nicht mit dem Selbstvorsorgegedanken, Frau Ka- in so kurzer Zeit, so schnell diese wichtigen Verbes-
linke, der im Vordergrund zu stehen habe, verein- serungen zustande zu bringen.
baren —, dieses Gesetz über die Altershilfe haben Ich darf nur nebenbei daran erinnern, daß es im
Sie geradezu .erbittert bekämpft. Sozialpolitischen Ausschuß einer Kampfabstimmung
Wir haben das Gesetz jetzt 5 1/2 Jahre, und wir bedurfte, um einen Termin oder Termine für Sit-
stimmen mit Ihnen darin überein, daß es ein erfolg- zungstage für die Beratung dieses Gesetzentwurfs
reiches, ein sozialpolitisch gutes Gesetz ist. Wir zu bekommen, und daß das beschlossen wurde mit
haben damit Neuland beschritten und haben keinen den Stimmen der Sozialdemokraten bei Stimment-
Fehlschritt getan. Wir haben uns damals in bezug haltung der Regierungskoalition. Nun, in 42 Tagen
auf die Finanzierung ein wenig verrechnet. haben wir solch bedeutsame Verbesserungen be-
schlossen. Damals, bei der ersten Novelle — ich will
(Zuruf von der CDU/CSU: Ein wenig?
es nur der Historie willen sagen — haben wir zwei
Erheblich!)
Jahre gebraucht; zwei Jahre haben wir uns um die
— Ja, wir Sozialdemokraten haben aber, Herr Kol- erste Novelle bemüht, und ein Jahr haben wir ver-
lege Struve, schon bei der Verabschiedung des handelt.
Altershilfegesetzes den Bundeszuschuß und die
Die Fraktion der Sozialdemokratischen Partei be-
Bundesgarantie gefordert, die Sie uns dann erst
grüßt die Erhöhung des Altersgeldes, die also jetzt
1961 mit der ersten großen Novelle konzediert
ab 1. April für den verheirateten Altersgeldempfän-
haben, weil Sie sie dann haben konzedieren müs-
ger von 60 auf 100 DM und für den alleinstehenden
sen.
Altersgeldempfänger von 40 auf 65 DM monatlich
Ich darf darauf doch voller Genugtuung hinwei- vorgenommen wird. Wir haben 1957 beantragt, man
sen, daß wir damals bei einem Beitrag von 10 DM solle die Altersgelder auf 90 und 60 DM festsetzen;
das Risiko vorausgesehen haben. wir sind jetzt also bei dem Ziel, das uns damals
(Abg. Bauknecht: Der Zuschuß war doch vorgeschwebt hat, angelangt, ein wenig liegen wir
gesichert; das wußten Sie genau so gut darüber. Wir halten diese Sätze für gerechtfertigt
wie wir!) und für richtig und begrüßen auch die Einbeziehung
der Erwerbsunfähigen in die landwirtschaftliche
— Dann müßte ich, Herr Kollege Bauknecht, zurück-
Altershilfe, die also jetzt vorzeitig bei Eintritt der
greifen auf die Aussprache, die wir im Juli 1955
Erwerbsunfähigkeit dieses Altersgeld von 100 bzw.
über das Landwirtschaftsgesetz geführt haben.
65 DM monatlich erhalten werden. Wir begrüßen
(Zurufe: Lieber nicht!) die Einbeziehung jener Bauern und Landwirte in die
Damals hat die Mehrheit den sozialdemokratischen landwirtschaftliche Altershilfe, die am 1. Oktober
Antrag abgelehnt, die Sozialpolitik in den Katalog 1957, als das Gesetz in Kraft trat, das 50. Lebens-
der Mittel des Landwirtschaftsgesetzes aufzuneh- jahr vollendet hatten, aber schon eine Rente aus der
men. — Herr Kollege Struve, als Bauernverbands- Rentenversicherung bezogen und deswegen nicht
präsident von Schleswig-Holstein, sollten Sie nicht mehr beitragspflichtig und also auch nicht alters-
auf die Uhr sehen, wenn es um die Belange der geldanspruchberechtigt waren. Es handelt sich um
Bauern geht! einen erheblichen Personenkreis, und die Beträge,
(Heiterkeit.) die die Gewährung des Altersgeldes an diese
Bauern und Landwirte erfordert, sind nicht gering. -
Damals haben Sie den Antrag abgelehnt, die Sozial-
Wir begrüßen auch diese Regelung, und wir begrü-
politik in den Katalog der Mittel des Landwirt-
ßen die Einbeziehung des Saarlandes in diese land-
schaftsgesetzes aufzunehmen.
wirtschaftliche Altershilfe, wenngleich wir mit Be-
(Zuruf von der CDU/CSU: Es kommt darauf dauern feststellen müssen, daß damit auf einem
an, was man unter Sozialpolitik versteht!) Teilgebiet ein sozialpolitischer Rückschritt verbunden
— Nun, das, was im Rahmen der Altershilfe für ist; ich habe das vorhin ausgeführt. Das bezieht sich
Landwirte geschieht, ist zweifellos Sozialpolitik, auf die mithelfenden Familienangehörigen, die an
wenngleich das Geld dafür aus dem Grünen Plan der Saar auch Altersgeld bekommen haben.
gegeben wird. Aber es ressortiert doch bei Herrn Wir bedauern, meine Damen und Herren, daß Sie
Minister Blank und nicht bei Herrn Minister dem sozialdemokratischen Antrag i n Drucksache
Schwarz; er sitzt dort mit seinen Herren, und das IV/901 nicht gefolgt sind, allen Witwen — bei Ver-
Landwirtschaftsministerium ist nur mit einem Herrn lust des Gatten also — das Altersgeld vorzeitig zu
vertreten. Das ist wirklich ein sozialpolitisches Ge- gewähren, ohne Rücksicht auf das Alter dieser Wit-
setz. wen. Das, meine Damen und Herren von der Koa-
Wir begrüßen dieses Gesetz. Wir stellen mit Ge- lition, wäre eine agrarstrukturpolitisch besonders
nugtuung fest, daß auf sozialdemokratische Initia- interessante Sache gewesen. Es genügt nicht, daß
tive innerhalb von 42 Tagen — wir hatten hier am Herr Kollege Berberich wiederholt zugegeben hat,
13. Februar die erste Lesung der beiden Gesetzent- daß das der Fall ist. Sie haben eis abgelehnt mit
würfe; heute haben wir den 28. März — ein so be- dem Hinweis auf verfassungsrechtliche Bedenken.
deutsames Gesetz beschlossen worden ist, und ich Im Ernährungsausschuß hatten wir uns auf ein Alter
möchte allen Kolleginnen und Kollegen in den bei- von 45 Jahren geeinigt. Das hätte aber bedingt, daß
den beteiligten Ausschüssen im Namen der sozial- wir die Witwer auch hätten einbeziehen müssen
demokratischen Fraktion dafür danken, daß es mög und ihnen mindestens ab dem vollendeten
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3237
Frehsee
50. Lebensjahr das Altersgeld hätten gewähren müs- währen Sie lieber nicht Erwerbsunfähigkeitsrenten
sen. Es wären sicher nicht. viele Witwer davon be- an Bauern und Landwirte, bei denen Aussicht be-
troffen worden, so daß man das hätte in Kauf neh- steht, daß ihre Erwerbsfähigkeit durch ein oder zwei
men können. Heilverfahren wiederhergestellt werden kann. Ihnen
Wir bedauern es in diesem Fall auch aus agrar- das, was ihnen einmal gewährt worden ist, wieder
strukturpolitischen Gründen, daß diesem sozial- zu nehmen, weil anschließend ein anderes Gesetz
demokratischen Antrag nicht Rechnung getragen gemacht worden ist, ist eine sehr böse Sache. An
wurde. Wir bedauern, daß Sie dem Vorschlag nicht und für sich sollten wir Ihnen nicht den Gefallen
gefolgt sind, den Altenteilern, die gebrechlich sind, tun, Sie darauf hinzuweisen; aber die Sache ist so
die gelähmt oder bettlägerig sind, eine Gebrechlich- bedeutsam und wichtig, daß wir nicht umhinkönnen,
keitszulage zu gewähren. Wir bedauern das und darauf aufmerksam zu machen.
werden selbstverständlich bei passender Gelegen- Wir bedauern weiter, daß in der Öffentlichkeit
heit diesen sozialpolitisch sehr fundierten Antrag so getan wird — deswegen sage ich das ausdrück-
wiederholen. lich —, (als wenn diese Beschlüsse des Bundestags
Wir bedauern, daß die Mithelfenden nicht einbe- 150 Millionen DM kosteten, als wenn der Bund über
zogen wurden. Daß die sozialpolitische Zielsetzung den Grünen Plan 150 Millionen DM für diese Neu-
dieses Gesetzes bei dieser Novelle außerordentlich regelung dier Altershilfe aufzubringen hätte. Er wird
vernachlässigt worden ist, das bedauern wir. Wir tatsächlich nur 110 Millionen DM aufzubringen ha-
bedauern, daß bei diesem Gesetz, man muß fast ben. Schon im vorigen Jahr sind von dem Gesamt-
schon sagen, sozialpolitisch und volkswirtschaftlich betrag des Grünen Plans, der sich auf über 2,1 Mil-
Unfug getrieben wird, indem man Erwerbsunfähig- liarden DM belief, 250 Millionen DM nicht in An-
keitsrenten gewährt, ohne gleichzeitig Heilverfah- spruch genommen worden. Sie sind aber der Land-
ren durchzuführen. Wir hoffen, daß das eintritt, was wirtschaft angekreidet und angelastet worden. Wir
Herr Kollege Berberich hier gesagt hat, daß sich die wollen das für diesen Fall der Altershilfe für Land-
Regierung verpflichtet, so schnell wie möglich einen wirte verhindern und haben deswegen die entspre-
Gesetzentwurf zur Einführung von Heilverfahren chenden Anträge gestellt. Sie haben sie abgelehnt.
vorzulegen. Wir bedauern dais außerordentlich.
(Abg. Balkenhol: Erst prüfen!) Herr Kollege Winkelheide hat in seinem Beitrag
— Nein, das steht in der Entschließung, darauf zu dieser allgemeinen Aussprache in dritter Lesung
nehme ich Bezug: nicht zu prüfen, Herr Kollege Bal- gesagt, daß der Betrag in diesem Jahr nicht ausge-
kenhol, Sie müssen doch mindestens als Mitglied schöpft werde. Bitte schön, damit haben Sie das zu-
der Koalition Ihren eigenen Entschließungsantrag gegeben. Sie liegen völlig richtig, Herr Kollege
kennen. Da steht: Winkelheide. Es ist laber notwendig, das deutlich zu
machen.
Die Bundesregierung wird ersucht,
Damit will ich schließen. Meine Damen und Her-
einen Gesetzentwurf vorzubereiten und den ren, Sie haben meinen Ausführungen entnommen,
gesetzgebenden Körperschaften zuzuleiten, der daß die Fraktion der Sozialdemokratischen Partei
unter Berücksichtigung der Erfahrungen in diesem zweiten Gesetz zur Änderung des Gesetzes
anderen Sozialleistungszweigen Art und Um- über die Altershilfe für Landwirte zustimmen wird.
fang sowie die Finanzierung von Rehabilita-
tionsmaßnahmen (Beifall bei dier SPD.)
— Hört! Hört! —
Vizepräsident Dr. Dehler: Das Wort hat der
im Bereich der Altershilfe für die Landwirte Abgeordnete Weber (Georgenau).
regelt.
— Herr Kollege Balkenhol, entschuldigen Sie, ich Weber (Georgenau) (FDP) : Herr Präsident!
habe jetzt von Heilverfahren gesprochen und nicht Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe
mehr von den Mithelfenden; auf die Mithelfenden für die Fraktion der Freien Demokraten das gleiche
bezieht sich Buchstabe b. zu sagen wie die beiden anderen Kollegen. Die
Wir hoffen also sehr, daß demnächst ein solcher Freien Demokraten begrüßen dieses Gesetz. Wenn
ich an die Kampfauseinandersetzungen vor zwei
Gesetzentwurf vorgelegt wird, und Sie können sicher
Jahren zurückdenke — ich will die Dinge gar nicht
sein, daß wir zu gegebener Zeit und sehr schnell
wieder aufrollen —, muß ich feststellen, daß wir
nach den Sommerfennen darauf zurückkommen und
im Grundsätzlichen eigentlich bei allen drei Frak-
daran erinnern werden.
tionen dieses Hauses ziemlich weitgehend einig
Meine Damen und Herren! Auch jetzt noch in der sind.
allgemeinen Aussprache in dritter Lesung die Be- Wir begrüßen es vor allen Dingen, daß hiermit
merkung: Sie werden mit einer solchen Aktivität dier gleichzeitig die Schwächen und Mängel, die nun ein-
Sozialdemokraten auch vor dem bösen Ende viel- mal einem Gesetz, mit dem man Neuland be-
leicht bewahrt, das die Sache nehmen könnte, wenn schreitet, immer anhaften, beseitigt werden. Herr
erst in großer Zahl Erwerbsunfähigkeitsrenten ge- Kollege Frehsee hat den Mitgliedern der Ausschüsse
währt worden sind, 'die Sie nach Einführung von gedankt, die an dem Entwurf gearbeitet haben. Ich
Heilverfahren nachher wieder nehmen müssen. möchte diesen Dank weiter ausdehnen und möchte
Machen Sie solche Exper imente lieber nicht! Ge- ihn auch den Herren des Ministerums, die an dem
3238 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963
Weber (Georgenau)
l Entwurf mitgearbeitet haben, aussprechen. Sie ha- dern mit einer entsprechenden Handhabung, die
ben ihren Teil dazu beigetragen, daß es gemeinsam den menschlichen Eigenschaften am besten Rech-
gelang, in der kurzen Zeit dieses Gesetzentwurfs so nung trägt, am besten damit hinkommt, nicht nur
weit zu entwickeln, daß er heute verabschiedet wer- bei den Arbeitnehmern, sondern zweimal bei den
den kann. Selbständigen, daß man auch dort das Prinzip einer
(Beifall bei den Regierungsparteien. — eigenen Beteiligung festlegt. Hier haben sich die
Abg. Dr. Schellenberg: Herr Kollege Weber, Geister geschieden, und vielleicht wäre es möglich
das war ein Initiativantrag aus dem Hause gewesen, wenn Sie mitgezogen hätten.
und keine Regierungsvorlage!) Aber deshalb bin ich noch nicht unglücklich, Herr
— Sicher, Herr Professor; ich habe nur die Gelegen- Kollege Frehsee. Ich bin der Meinung, daß eigent-
heit benutzt, das auszusprechen. lich alles in der Entschließung steht, und es wird an
uns liegen — das zu Ihrem Antrag auch zur dritten
Ich möchte — bis auf einige wenige Punkte — Lesung —, der Regierung, wie man so sagt, Dampf
nicht auf die Einzelheiten eingehen. Wir sind uns zu machen, daß nämlich die Ergebnisse der Unter-
alle einig, daß Rehabilitationsmaßnahmen eigentlich suchung und auch der Gesetzentwurf zeitig vorge-
gleich hätten mit einsetzen müssen. Herr Kollege legt werden.
Frehsee — ich glaube, ich muß das sehr deutlich
(Abg. Dr. Schellenberg: Mit der Termin
sagen —, woran ist es eigentlich gescheitert? Der
gute Wille war bei allen Parteien vorhanden. Die festsetzung sorgen Sie für rechtzeitige Vor
Frage ist nämlich: wie läßt man Rehabilitationsmaß- lage!)
nahmen anlaufen? Ich habe schon im Ernährungs- Ohne eine Terminierung, Herr Professor Schellen
ausschuß einen Vorschlag gemacht, und dort schie- berg; wir werden Manns genug sein, um auch die
den sich die Geister. Dinge hier vom Parlament aus zu beschleunigen.
Meine Damen und Herren gerade von der SPD, (Lachen bei der SPD.)
ich glaube, wenn wir hier Heilmaßnahmen, Rehabili- Lassen Sie mich noch eines sagen im Zusammen-
tationsmaßnahmen einführen, so steht fest, daß der- hang mit der Forderung der SPD — unser ebenso
jenige Bauer, der absolut reif für die Erwerbsun- altes Anliegen —, die mithelfenden Familienange-
fähigkeit ist, der 63 Jahre alt ist und einen Sohn hörigen mit hineinzuziehen. Diese Sorge teilen wir
hat, der den Hof übernehmen kann, in einer ganz auch heute noch genauso mit Ihnen.
anderen Lage ist als ein junger Bauer von 40 Jah-
ren, der kleine Kinder hat und der niemanden hat, (Abg. Dr. Schellenberg: Stimmen aber da
der seine Stelle als Betriebsleiter ausfüllt. Es wur gegen!)
den Befürchtungen — zu Recht bestehende Befürch- Wir konnten nicht mitstimmen, Herr Professor, weil
tungen — geäußert, die auch wir geteilt haben, daß Ihr Änderungsantrag nämlich nicht durchdacht war.
man Gefahr läuft, wieder zuerst in das rein Institu- Sie hätten, was ich vorhin schon andeutete, damit
tionelle zu schreiten, wo laufend die Gefahr der auch sagen müssen, wie es in Zukunft mit den
Ausweitung der Kosten besteht, Kosten, die wir in zweit- und drittgeborenen Bauernsöhnen und -töch-
der Landwirtschaft zweimal nicht tragen können und tern sein soll, wie das von Jugend an mit der Alters-
die sich auch auf manchen Gebieten der Sozialver- sicherung gehandhabt werden soll.
sicherung heute gefahrvoll abzeichnen. Deshalb
wäre der Vorschlag, der Selbstverwaltung die er- Meine sehr verehrten Damen und Herren von
-
sten Schritte zu genehmigen, nämlich in der Rich- der SPD, ich freue mich über verschiedene Gedan-
tung zu gehen, Heilmaßnahmen durchzuführen, rich- ken, die die Sozialdemokratie gerade zum landwirt-
tig gewesen. Aber — und dort schieden sich die schaftlichen Sozialplan vorgetragen hat.
Geister, Herr Kollege Frehsee —, das viel Wich- (Beifall des Abg. Dr. Schellenberg.)
tigere unterblieb, nämlich demjenigen, der keinen
Ersatz auf dem Hof hat, kostenlos für die Zeit des — Klatschen Sie nicht zu früh, Herr Professor Schel-
Heilverfahrens eine Ersatzkraft zu stellen. Das war lenberg, vielleicht bekomme ich jetzt nicht mehr
ein Vorschlag, Herr Professor Schellenberg, der von solchen Beifall, wenn ich folgendes sage: Ich habe
Ihrer Seite abgelehnt wurde. Ich verstehe, die SPD mich vor allen Dingen darüber gefreut, daß man
hätte in diesem Moment hier diese Wege beschreitet, nach dem wir jahre-
lang der Meinung waren, die Landwirtschaft ist gar
(Abg. Frehsee: Ersatzkraft ja, Zuschuß nein!) nicht in der Lage, alle ihre Söhne und Töchter in
über ihren Schatten springen müssen. die allgemeine gesetzliche Sozialversicherung hin-
(Abg. Frehsee: Zuschuß ist unsozial!) einzunehmen, wo man sie jahrelang hineinzwängen
wollte. Ich habe die Dinge schon vor sieben Jahren
— Nein, Herr Kollege Frehsee, das ist nicht un- miterlebt, gleich zu Beginn meiner parlamentari-
sozial. Hier scheiden sich die Geister in der Sozial- schen Tätigkeit, auch bei den anderen gesetzlichen
politik. Sozialversicherungen. Wir sind mit Ihnen der Mei-
(Abg. Könen [Düsseldorf] : Dann gehen die nung, daß hier noch eine große Aufgabe bevorsteht.
reichen Bauern in die Heilbäder!) Wir begrüßen auch, Herr Professor Schellenberg
— Genau umgekehrt! Auch wir sind der Meinung, und Herr Kollege Frehsee, was Sie damals in der
dem Reichen sollte keine Ersatzkraft kostenlos ge- ersten Lesung gesagt haben, daß nämlich mit dem,
stellt werden. Wir sind der Meinung, daß man nicht was Sie anstrebten, mit Ihrem Sozialplan für die
nur zur Stärkung der eigenen Verantwortung, son Landwirtschaft, wir nun auch hier zu einer geglie-
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3239
Weber (Georgenau)
derten Sozialversicherung kommen. Ich stelle nur zahlt werden, Herr Professor, sind zwei Drittel,
gleich die Gegenfrage: Was soll noch das Mäntel- nämlich 16 Milliarden — —
chen der Dachorganisation, das Sozialwerk eigent- (Abg. Dr. Schellenberg: Stehen die hier im
lich darstellen? Ist es noch ein Mäntelchen einer Gesetz?)
Einheitsversicherung, oder wie wollen Sie dies
folgerichtig weiterentwickeln? Meine Fraktionskol- — Nein, aber ich werde Ihnen sagen, wo der sozial-
legen wären gern bereit gewesen, die Entwicklung politische Spielraum für Ihren Sozialplan ist.
zu beschleunigen. Wir haben uns überzeugen las- (Abg. Dr. Schellenberg: Über den disku
sen, daß wir, auf den bestehenden Gesetzen auf- tieren wir heute nicht mehr!)
bauend, die Gesetze schrittweise weiterentwickeln
müssen. Vizepräsident Dr. Dehler: Herr Abgeordneter
In diesem Zusammenhang möchte ich unterstrei- Weber, lassen Sie eine Zwischenfrage des Herrn
chen, was Kollege Winkelheide sagte, daß es richtig Abgeordneten Könen zu?
ist, wenn .das gesamte Volk, auch die Arbeiterschaft,
Anteil nimmt an den Sorgen und an den Nöten der Weber (Georgenau) (FDP): Jetzt ja, bitte.
Landwirtschaft, die heute im Zeitalter der Technik
in ihren Strukturproblemen drinsteht und heftig
ringt.
Könen (Düsseldorf) (SPD) : Herr Kollege Weber,
ich möchte Sie wirklich in aller Freundschaft fragen:
(Abg. Könen [Düsseldorf] : Das tut doch Wollen Sie zu dieser späten Stunde eine Diskussion
die Arbeiterschaft, wenn sie in den Ver über den Grünen Plan provozieren? Dann machen
sammlungen nach dem Grünen Plan fragt!) wir so weiter.
(Beifall.)
— Jawohl, Herr Kollege Könen. Wir begrüßen es
ja schon.
Weber (Georgenau) (FDP) : Nein, Herr Kollege
Lassen Sie mich aber noch einige Fragen an die Könen. Ich will Ihnen nur sagen, was man draußen
SPD stellen. Herr Kollege Frehsee, Sie haben in im Zusammenhang mit der Sozialpolitik der Land-
der ersten Lesung festgestellt, die Landwirtschaft wirtschaft nicht wahrhaben will. Es ist eine Realität,
hinke den Vergleichslöhnen um 38 % nach. Ich habe daß von den 3,90 DM Gesamtleistung pro Arbeits-
mir den Grünen Bericht noch einmal vorgenommen. stunde zwei Drittel, nämlich 16 Milliarden ein-
(Zuruf des Abg. Dr. Schellenberg.) schließlich der Sachbezüge, feste Ausgaben sind.
Von den 1,30 DM sind 75 Pf Barlohn, das andere ist
— Ich möchte jetzt keine Agrardebatte führen, aber Sachlohn. Beim Vergleichslohn von 2,62 DM, der
ich möchte Ihnen die sozialpolitischen Möglichkei- für die Landwirtschaft maßgeblich ist, sind hier bei
ten aufzeigen, Herr Professor. 25 % Sozialleistungen die Sachbezüge um 10 Pf
niedriger als der ganze Barlohn. Dies zeigt, wie ge-
Die Landwirtschaft hatte im letzten Berichtsjahr
ring der Spielraum für die eigenen Sozialleistungen
insgesamt 3,2 Millionen ständig Beschäftigte. Die
in der Landwirtschaft ist.
auf volle Arbeitskräfte bereinigte Zahl ist 2,3 Mil-
lionen. Wenn Sie den 2,3 Millionen Vollarbeits- Damit, meine Damen und Herren, wollte ich Ihnen
kräften einschließlich der Sozialbezüge das geben nur aufzeigen, wo überhaupt die sozialpolitischen
wollten, was der Vergleichslohn ausmacht, dann Möglichkeiten liegen. Wir begrüßen es, daß die
-
hätte die Spanne zwischen dem Aufwand und dem SPD in ihrem Sozialplan heute großes Verständnis
Ertrag 13,8 Milliarden ausmachen müssen. für die Lage aufbringt, und ich glaube, wir sind im
Grundsatz darin einig, in der Entwicklung hinsicht-
Lassen Sie mich noch von einer anderen Seite lich der sozialen Aufgaben auch für die Landwirt-
den Spielraum für die landwirtschaftliche Sozialpoli- schaft weiterzugehen. Wir wissen aber auch — das
tik aufzeigen. 2,3 Millionen Vollarbeitskräfte in der sei heute noch einmal mit aller Deutlichkeit ge-
Landwirtschfml270Abetund—asi sagt —, daß wir die Probleme der Landwirtschaft
die bereinigten Zahlen — macht rund 6,21 Milliar- nicht mit der Sozialpoltiik allein lösen können. Sie
den Arbeitsstunden in der Landwirtschaft. Die Land- ist ein wesentlicher Teil davon; aber wir wissen,
wirtschaft hatte im letzten Jahr einen Verkaufserlös daß die Agrarprobleme größer sind und daß man sie
von 20,5 Milliarden. nicht allein mit sozialpolitischen Maßnahmen lösen
(Abg. Könen [Düsseldorf] meldet sich zu kann. Aber das ist nicht die Aufgabe von heute. Des-
einer Zwischenfrage.) wegen werden wir Freien Demokraten diesem Ge-
setz zustimmen, und wir hoffen, daß auch die vom
— Herr Kollege Könen, ich möchte bloß die Dinge Ausschuß vorgeschlagene Entschließung die Billi-
im Zusammenhang zu Ende führen. Ich komme nach- gung des ganzen Hauses erfahren möge.
her darauf zurück. — 20,5 Milliarden und dazu pro
Arbeitskraft und Jahr 1500 DM Sachwerte für Woh- Vizepräsident Dr. Dehler: Ich kann die dritte
nung und Eigenbezug bedeuten 24 Milliarden Ge- Beratung schließen.
samtleistung. Das macht für die Arbeit in der Land-
wirtschaft eine Gesamtleistung je bereinigte Ar- Wir kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem
beitskraft von 3,90 DM gegenüber 15 bis 18 DM in Gesetz in der vorliegenden Fassung zustimmt, er-
der Industrie in den Jahren 1959/60. Mit diesen hebe sich vom Platze. — Ich kann einstimmige An-
3,90 DM Gesamtleistung, wovon alle Ausgaben be nahme des Gesetzes feststellen.
3240 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963

Vizepräsident Dr. Dehler


Wir kommen zu dem Entschließungsantrag. Hier- Darüber hat Sie Herr Präsident Schmid einmal in
zu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD einer bestimmten Situation in diesem Parlament
auf Umdruck 246 *) vor. Soll dieser Antrag be- genauestens belehrt.
gründet werden? — Bitte, Herr Abgeordneter (Zurufe von der SPD.)
Frehsee, Sie haben das Wort.
— Ich habe gesagt, die Regierung ist daran nicht
Frehsee (SPD) : Herr Präsident! Meine Damen gebunden, darüber hat Sie Herr Präsident Schmid
and Herren! Der Ausschuß schlägt, wie hier schon einmal belehrt.
verschiedentlich erwähnt, vor, die Bundesregierung Ich will Ihnen sagen, warum ich Sie bitte, dem
in einer Entschließung zu ersuchen, erstens für die Antrag nicht zuzustimmen. Wenn ich den Gesetzes-
Durchführung von Heilverfahren einen Gesetzent- antrag früher vorlegen kann, werde ich das selbst-
wurf vorzubereiten und den gesetzgebenden Kör- verständlich tun. Denn welchen Grund sollte ich
perschaften zuzuleiten, und zweitens zu prüfen, „ob haben, ihn zurückzuhalten? Wenn ich das aber nicht
und in welcher Weise die Gewährung von Alters- kann — und sehen Sie sich einmal an, meine Damen
geld an mithelfende Familienangehörige ermöglicht und Herren, was hier gefordert wird —, dann bin
und eine Krankenhilfe an die Bezieher von Alters- ich doch wieder in der unangenehmen Lage — vor
geld sichergestellt werden kann". kurzem habe ich in der gleichen Situation hier ge-
standen und gebeten, das nicht zu tun —, dem
Der mitberatende Ernährungsausschuß hatte eine
Präsidenten des Hauses mitteilen zu müssen, daß
ähnliche Entschließung vorgeschlagen, allerdings mit
die Bundesregierung das bis zu dem Zeitpunkt nicht
dem einen Unterschied zu der jetzt hier vorliegen-
könne; und das würde als ein unfreundlicher Akt
den, daß ein bestimmtes Datum eingefügt werden
ausgelegt. Gesetzgebungsarbeit kann man nicht in
sollte, daß die Regierung ersucht werden sollte, bis
Zeitakkord machen; das sollte Ihnen bekannt sein.
Dezember dieses Jahres einen solchen. Ge- zum31.
setzentwurf vorzulegen und diese Überprüfungen (Beifall bei der CDU/CSU. — Zuruf von der
vorzunehmen. Das, was der Ernährungsausschuß SPD: Wem sagen Sie das?)
vorgeschlagen hatte, übernimmt nun die Fraktion — Ihnen sage ich das, weil Sie einen Termin haben
der Sozialdemokratischen Partei mit ihrem Ände- wollen. Und außerdem ist es auch keine Schulauf-
rungsantrag Umdruck 246. Sie beantragt darin, an gabe, die bis zum soundsovielten erledigt sein
die vorliegende Entschließung, die der Ausschuß kann, weil es sonst Strafpunkte gibt.
vorschlägt, den Satz anzuhängen: „Gesetzentwurf
und Bericht sind den gesetzgebenden Körperschaf- (Abg. Könen [Düsseldorf]:: Warum werden
ten bis zum 31. Dezember 1963 vorzulegen." Sie eigentlich so frech? Sie schlagen einen
Ton an! — Weiterer Zuruf von der SPD:
Meine Damen und Herren! Wenn das zutrifft, was Können Sie nicht einen anderen Ton an
derKolgBbichvetran,dßiR- schlagen?)
gierung zugesichert habe, sehr schnell einen solchen
— Lassen Sie mir meinen Ton, ich lasse Ihnen auch
Gesetzentwurf vorzulegen, dann steht der Zustim-
den Ihrigen. — Ich bitte Sie um folgendes, meine
mung des ganzen Hauses zu unserem Antrag Um-
Damen und Herren. Die Bundesregierung erklärt,
druck 246 nichts im Wege. Ohne die Nennung eines
daß sie sich bemüht, zum frühestmöglichen Termin
Termins ist diese Entschließung sehr wenig wirk-
die ihr gestellte Aufgabe zu lösen. Aber wenn sie
sam, das wissen wir doch aus Erfahrung. Wenn ein
redlich bleiben will, muß sie darauf hinweisen, daß
-
Termin genannt ist und überschritten wird, gibt es
ein Termin in dieser Sache kaum zum Dienst der
immer Anfragen des Hohen Hauses an die Regie-
Sache gesetzt werden kann. Ich bitte meine Freunde,
rung. Wir sind daher der Auffassung: wenn sich da's dem Antrag nicht stattzugeben.
Hohe Haus indem Bestreben einig ist, sobald wie
möglich eine gesetzliche Regelung für die Gewäh- (Lachen bei der SPD. — Abg. Herold: Uns
rung von Heilverfahren zu bekommen, dann sollte bitten Sie nicht?)
dieser Termin genannt werden, damit die Regierung
auch Insofern gebunden ist. Vizepräsident Dr. Dehler: Ich kann dann über
den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf
Ich bitte Sie sehr um Zustimmung. Umdruck 246 abstimmen lassen. Wer zustimmt,
gebe bitte Zeichen. — Gegenprobe! — Der Antrag
Vizepräsident Dr. Dehler: Das Wort hat der ist abgelehnt.
Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung. Wir stimmen nun ab über den Entschließungsan-
trag, Ziffer 2 des Antrages des Ausschusses. Wer
Blank, Bundesminister für Arbeit und Sozialord- zustimmt, gebe bitte Zeichen. — Gegenprobe! —
nung: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Enthaltungen? — Bei Enthaltungen der SPD ange-
Ich bitte Sie, dem Antrag nicht zuzustimmen. Herr nommen.
Kollege Frehsee schloß seine Ausführungen mit den
Worten, dann sei die Regierung gebunden. Das ist Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:
sie gar nicht. Zweite und dritte Beratung des von der Frak-
(Zuruf von der SPD: Nanu?!) tion der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Ersten Gesetzes zur Änderung des Reichs-
*) Siehe Anlage 4 knappschaftsgesetzes (Erstes Knappschaftsren-
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3241
Vizepräsident Dr. Dehler
tenversicherungs-Änderungsgesetzes — 1. Arbeitseinsatzfähigkeit, eine Berufsunfähigkeits-
KnVÄG) (Drucksache IV /296) ; rente gewährt werden.
Mündlicher Bericht des Ausschusses für Die Hereinnahme einer fiktiven Berufsunfähigkeit
Sozialpolitik (20. Ausschuß) (Drucksache war nach Auffassung der Mehrheit des Ausschusses
IV/1146). nicht zu rechtfertigen, weil nicht davon ausgegangen
werden könne, daß die Bergleute, um die es sich
(Erste Beratung 28. Sitzung)
hier handelt, zum größten Teil mit Vollendung des
Berichterstatter .ist der Herr Abgeordnete Teriete. 55. Lebensjahres berufsunfähig im Sinne des § 46
Er hat das Wort. Abs. 2 des Reichsknappschaftsgesetzes seien. Folg-
lich sei auch die Zahlung einer Berufsunfähigkeits-
rente, ohne daß die Berufsunfähigkeit zuvor von
Teriete (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine Da- einem Arzt festgestellt sei, nicht angängig.
men und Herren! Der Antrag der Fraktion der SPD Nach Auffassung der CDU/CSU-Mitglieder des
Drucksache IV/296 — Entwurf eines Ersten Gesetzes Ausschusses sollte den langjährigen Hauern und
zur Änderung des Reichsknappschaftsgesetzes — den ihnen gleichgestellten Bergleuten eine Leistung
wurde in der 28. Sitzung des Deutschen Bundestages gewährt werden, wenn sie infolge der Strukturver-
am 9. Mai 1962 dem Ausschuß für Sozialpolitik zur änderungen im Bergbau nach Vollendung des 55. Le-
Beratung überwiesen. bensjahres ihren Arbeitsplatz vorzeitig aufgeben
Der Ausschuß befaßte sich in mehreren Sitzungen, müssen. Die Gewährung einer Leistung sei hier ge-
zuletzt noch am vorgestrigen Abend, mit dem vor- rechtfertigt, weil dieser Personenkreis mit Rücksicht
gelegten Entwurf. auf seine jahrzehntelange Tätigkeit als Facharbeiter
im Bergbau eine entsprechende Tätigkeit auf dem
Der Artikel 1 des Gesetzentwurfs sieht eine Her- übrigen Arbeitsmarkt kaum finden werde. Diese
absetzung der Altersgrenze vom 60. auf das 55. Le- augenblicklichen besonderen Verhältnisse im Berg-
bensjahr für Versicherte, die langjährig als Hauer bau sollten nach Auffassung der Mehrheit des Aus-
beschäftigt waren und nicht mehr in einem knapp- schusses kein Anlaß sein, die in den §§ 44 ff.
schaftlichen Betrieb arbeiten, vor, weil ihnen nicht des Reichsknappschaftsgesetzes vorgesehenen Re-
zugemutet werden sollte, sich eine andere Beschäfti- gelleistungen, die sich bisher voll bewährt haben,
gung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu suchen. abzuändern. Entsprechend ihrem Charakter sollten
die hier vorgesehenen Leistungen durch eine die
Der Antrag wurde vor allem damit begründet, daß
§§ 97 ff. des Reichsknappschaftsgesetzes ergänzende
langjährige Arbeit als Hauer die Gesundheit der
Vorschrift geregelt werden.
Bergleute schwer beeinträchtige und in etwa auch
eine Angleichung an die Altersgrenzenregelung für Der nach dem Beschluß des Ausschuses in das
Bergleute in den Ländern der Europäischen Gemein- Reichsknappschaftsgesetz einzufügende § 98 a sieht
schaft für Kohle und Stahl vorgenommen werden die Gewährung einer Knappschaftsausgleichs-
solle. leistung für Hauer oder Gleichgestellte vor, die
ihre bisherige Beschäftigung in dem knappschaft-
Die Mehrheit des Ausschusses lehnte den Entwurf lichen Betrieb verlieren. Durch diese Fassung sollte
mit der Begründung ab, daß eine Herabsetzung der sichergestellt werden, daß es für die Gewährung
Altersgrenze präjudizierende sozialpolitische Aus- der Leistung ausreicht, wenn der Bergmann seine
wirkungen habe. Beschäftigung auf der Schachtanlage verliert, auf
Die Herabsetzung hätte nach Meinung der Mehr- der er bisher beschäftigt war. Der Bergmann sollte
heit des Ausschusses zur Folge, daß Leistungen aus nicht zu einem Wanderarbeiter im Bergbau werden.
der knappschaftlichen Rentenversicherung an Per- Nach Auffassung des Ausschusses waren auch die
sonen, die noch arbeitseinsatzfähig sind, gewährt Bergleute in die Regelung einzubeziehen, die nach
würden, deren Höhe sich nur für Versicherte recht- Vollendung des 55. Lebensjahres und seit Beginn
fertigen läßt, die nicht mehr in Arbeit stehen. der Strukturveränderung aus dem Bergbau aus-
geschieden sind.
Einige Ausschußmitglieder äußerten gegen die be-
absichtigte Regelung auch arbeitsmarktpolitische Der Ihnen auf Drucksache IV/1146 vorgelegte
Bedenken. Ausschußantrag wurde gegen zwei Stimmen und bei
zahlreichen Enthaltungen angenommen. Ich habe
Abgesehen von diesen Bedenken war die Mehr- die Ehre, Ihnen abschließend den Antrag des Aus-
heit des Ausschusses weiter der Auffassung, daß die schusses bekanntzugeben. Er lautet:
Auswirkungen der im Entwurf vorgesehenen Rege-
lung auf die Rentenversicherung der Arbeiter und Der Bundestag wolle beschließen,
der Angestellten nicht abzusehen seien. den Gesetzentwurf Drucksache IV/296 in der
nachstehenden Fassung anzunehmen.
Auch ein Alternativantrag der Fraktion der SPD
fand nicht die Zustimmung der Mehrheit des Aus-
schusses. Vizepräsident Dr. Dehler: Ich danke dem
Herrn Berichterstatter.
Nach ihm sollte den bereits erwähnten Bergleuten
nach Vollendung des 55. Lebensjahres, unabhängig Wir treten in die Einzelberatung ein. Ich rufe auf
von ihrem Gesundheitszustand und ihrer weiteren Art. 1. Dazu liegt vor der Änderungsantrag der
3242 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963

Vizepräsident Dr. Dehler


Fraktion der SPD auf Umdruck 2441 Ziffer 1. Das zum § 46 der Fall ist, sondern daß eine Sonder-
Wort zur Begründung hat Herr Abgeordneter Hör- leistung oder eine Zusatzleistung aus der Versiche-
mann. rung gewährt werden soll — ich verweise auf den
entsprechenden Abschnitt unter § 98 a —, und daß
Hörmann (Freiburg) (SPD) : Herr Präsident! ein neuer Name für diese Rente, nämlich Knapp-
Meine Damen und Herren! Ich darf den Änderungs- schaftsausgleichsrente, gefunden worden ist. Ich
antrag der SPD-Fraktion auf Umdruck 244 sehr kurz möchte auf die etwaigen Konsequenzen daraus gar
begründen. nicht hinweisen. Es handelt sich aber effektiv um
einen neuen siebten Rentennamen.
(Unruhe. — Abg. Büttner: Vielleicht kön
nen auch die CDU-Kollegen zuhören?!) Wir meinen, daß dadurch der sozialpolitische
Aufbau der bestehenden Rentenleistungen geändert
Vizepräsident Dr. Dehler: Ich glaube, der wird, daß dadurch eine wirtschaftspolitisch bedingte
Redner hat Anspruch auf Gehör. Leistung eingeführt und das bestehende System
durchbrochen wird. Ich selber halte den Vorschlag
der CDU-Fraktion nicht grundsätzlich für ganz
Hörmann (Freiburg) (SPD) : Zugleich möchte ich schlecht und ganz indiskutabel, aber ich meine, er
damit die Änderungsanträge unter den weiteren birgt wesentliche Mängel, und ich werde versuchen,
Ziffern unseres Antrages begründen, weil ich sie kurz darzustellen. Er wird auch Anlaß zu vielen
glaube, daß dadurch einige Zeit erspart wird. Klagen und Fragen und vielleicht auch zu unglei-
Da eine Einigung über unseren Antrag Druck- cher Behandlung geben.
sache IV/296 nicht möglich war, obwohl er rund ein Nehmen wir in einem Betrieb einen 55jährigen
Jahr lang in Bearbeitung war, und da wir den Vor- Bergmann, der die Voraussetzungen erfüllt. Der Be-
schlag der CDU, der in der Ausschußvorlage Druck- trieb rationalisiert; der Mann wird entlassen, be-
sache IV/1146 vorliegt, für sehr problematisch und kommt die Knappschaftsausgleichsrente. In einem
für nicht sehr zweckmäßig halten, haben wir einen nebenan liegenden Betrieb ist schon viel früher
eigenen Kompromißvorschlag unterbreitet. rationalisiert worden, oder der Mann wird weiter
Dieser Vorschlag ist auch von Sprechern der an- gebraucht, er wird nicht entlassen. Er hat dieselben
deren Fraktionen als vernünftig bezeichnet worden. Voraussetzungen erfüllt, war vielleicht sogar schon
Er trägt einigen im Verlauf der Aussprache vorge- 20 Jahre Hauer, hat keine Möglichkeit, die Rente
tragenen Bedenken und Anregungen Rechnung. Un- zu bekommen, es sei denn, er stellt Antrag auf
ser Kompromißvorschlag geht dahin, einen neuen Berufsunfähigkeitsrente, und es wird dann ärzt-
Abs. 3 zum § 46 des Reichsknappschaftsgesetzes ein- licherseits festgestellt, daß er berufsunfähig ist.
zufügen, der eine sozialpolitische Ergänzung darstel-
Wir haben also eine unterschiedliche Behandlung.
len soll. Jeder Bergmann, der 55 Jahre als ist und
Beim ersten Mal ist die ärztliche Beteiligung, die
die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt — also
persönliche Untersuchung, die persönliche Lage
25 Jahre im knappschaftlichen Betrieb, 15 Jahre
maßgebend. Beim zweiten Male ist nach dem CDU-
Hauerarbeiten —, soll die Knappschaftsrente wegen
Berufsunfähigkeit erhalten. Wir unterstellen also Vorschlag ein äußerlicher Einfluß, ein wirtschafts-
politischer Einfluß der Anstoß dazu, daß die Rente,
auf Grund allgemeiner Erfahrungen, daß bei diesem
selbstverständlich wenn die Voraussetzungen vor-
Personenkreis die Berufsunfähigkeit vorliegt.
liegen, gewährt wird. Besonders auch aus diesen
Die wichtigsten Unterschiede zwischen unserem Gründen halten wir unseren Vorschlag für gerech- -
Kompromißvorschlag und der Ausschußvorlage so- ter, für einfacher, auch für praktikabler, weil sicher
wie dem CDU-Vorschlag darf ich kurz aufzählen. bei den Betroffenen sehr wenig Verständnis dafür
Materiell besteht kein Unterschied. In beiden Teilen vorhanden sein wird, wenn man nach unterschied-
wird der Art und der Form nach dieselbe Renten- lichen Gesichtspunkten handelt.
höhe, dieselbe Rentenart gewährt, nur daß beim
In der Aussprache wurde zugegeben, daß in den
Ausschußvorschlag ein anderer Name für die Rente
gefunden worden ist. bis jetzt stillgelegten Betrieben bei den Beschäftig-
ten zwischen 50 und 60 Jahren überwiegend Berufs-
Die Unterschiede bestehen im wesentlichen darin, unfähigkeit vorlag und vorliegt. Wir meinen, daß
daß nicht jeder, der die Voraussetzungen erfüllt, das dann aber auch auf die übrigen Betriebe, wo
die Rente bekommen soll, sondern nur diejenigen, keine Stillegungen stattfanden, logischerweise zu-
die aus Rationalisierungsgründen oder bei Still- treffen muß, und es trifft auch zu. Das wird auch
legung oder bei Einschränkung und ähnlichen Vor- untermauert durch die Tatsache, daß die meist über
gängen aus dem Knappschaftsbetrieb ausscheiden, 50 Jahre alten Bergleute tatsächlich bei Stillegun-
die Möglichkeit haben sollen, diese Knappschafts- gen entlassen wurden. Zum Teil wurden dafür dann
ausgleichsrente zu erhalten. Es handelt sich also um als Ergänzung sogar ausländische Arbeitskräfte ein-
eine sogenannte Strukturrente oder eine Wirt- gestellt.
schafts- und sozialpolitische Mischung in der gesam- Dazu noch ganz kurz zur Orientierung ein paar
ten Rentengewährung. Richtpunkte und Zahlen. Das Durchschnittsalter bei
Der weitere Unterschied besteht darin, daß es sich Rentenbeginn nach ,einer Darstellung aus dem Ge-
nicht um eine Einfügung als Regelleistung aus der schäftsbericht der Ruhrknappschaft 1959 lag etwas
Versicherung handelt, wie es in unserem Vorschlag unter 56 Jahren bei Berufsunfähigkeit und bei Er-
werbsunfähigkeit. Das Durchschnittsalter bei Ende
*) Siehe Anlage 5 der Rentenzahlung durch Tod lag bei Berufsun-
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3243
Hörmann (Freiburg)
fähigkeit bei 57,6 und bei Erwerbsunfähigkeit bei heute im wesentlichen noch die gleichen, die wir
59,2 Jahren. gegen die Vorziehung beim Knappschaftsruhegeld
hier vortragen. Nach dem Antrag, der soeben vom
Weiter ein kurzes Wort zu dem Argument der
Kollegen Hörmann begründet worden ist, sollen
Wirtschaftsvereinigung Bergbau! Es wird gesagt, daß also ohne Ausnahme alle, die die Voraussetzungen
die erfahrenen alten Hauer über 55 Jahre im Be- nach den Bestimmungen der Hauerverordnung er-
trieb zu halten seien, man brauche sie noch; sie füllt haben und 55 Jahre ialt sind, antragsberechtigt
müßten auf Grund ihrer Erfahrungen dableiben. Ich
sein.
meine, daß unser Kompromißvorschlag eine Mög-
lichkeit gibt, dann in gegenseitiger Vereinbarung Hier bestehen aber doch wesentliche Unterschie-
bei einem entsprechenden Anreiz für die Betrof- de. Sie haben gesagt, Herr Kollege Hörmann, es
fenen, die unabkömmlichen Hauer im Betrieb zu bestünden keine Unterschiede; dennoch bestehen
halten, wenn m an sie unbedingt benötigt. sie. Zunächst einmal besteht ein Unterschied inso-
fern, daß der im Sozialpolitischen Ausschuß auf
Zusammenfassend darf ich sagen, daß man nicht
Grund eines Antrages der CDU/CSU gefaßte Be-
einen neuen § 98a als Sonderregelung einbauen
schluß von der Regelleistung absieht, die Sie mit
sollte aus wirtschaftspolitischen Erwägungen, son- Ihrem Antrag in das Knappschaftsgesetz unter den
dern daß man nach unserem Vorschlag durch die Bestimmungen der §§ 44 ff. einbauen wollen. Wir
Einfügung eines neuen Absatzes 3 in § 46 eine sind der Meinung, das sollte man nicht tun. Ich habe
Regelleistung aus sozialpolitischen Erwägungen bereits im Ausschuß dargelegt, daß wir 1957 im
schaffen sollte. Ich darf Sie um Zustimmung zu die- Rahmen der Rentenreform ein Knappschaftsgesetz
sem Vorschlag bitten und vielleicht an ein Wort des geschaffen haben, ,das alle Besonderheiten des Berg-
Herrn Bundesarbeitsministers erinnern, das er an- baues berücksichtigt. Die Regelleistungen dieses
läßlich der Aussprache über die Unfallversicherungs- sehr guten Gesetzes, das wir seinerzeit geschaffen
reform zum Problem des Gemeinlastverfahrens ge- haben, wollen wir in keiner Weise geändert wissen.
sprochen hat, nämlich über den notwendigen Dank
und die notwendige Anerkennung der Leistungen Worum es geht, ist, daß wir infolge der Krise im
der Bergleute. Bergbau eine besondere Betrachtung anstellen
müssen. Ich darf einmal anhand einiger Zahlen auf-
Ich meine, daß hier eine Möglichkeit gegeben ist,
zeigen, welche Rationalisierungsmaßnahmen in den
die Dankesschuld abzustatten, und zwar gerecht für
letzten Jahren im Bergbau durchgeführt worden
alle Betroffenen, und nicht einen Unterschied zu sind. Die Zahlen über den Umfang, in dem der
machen zwischen verschiedenen Gruppen, bei denen westdeutsche Bergbau seit Beginn der Kohlenkrise
die Voraussetzung für die Rentengewährung erfüllt rationalisiert hat, sind der Öffentlichkeit viel zu
ist. Wir bitten Sie herzlichst um Zustimmung zu wenig bekannt. Seit 1958 sind 24 Schachtanlagen
unserem Kompromißvorschlag. mit 10,8 Millionen t Jahresförderung sowie 101
(Beifall bei der SPD.) Klein-Kohlenzechen mit 0,6 Millionen t Jahresförde-
rung stillgelegt worden. 10 Kokereianlagen und 8
Brikettfabriken wurden außer Betrieb gesetzt. Es
Vizepräsident Dr. Dehler: Das Wort hat der ist kein Geheimnis, daß weitere 6,4 Millionen t
Abgeordnete Scheppmann.
Jahresförderkapazität zur Stillegung vorgesehen
sind. Das würde bedeuten, daß noch einmal 50- bis
Scheppmann (CDU/CSU) : Herr Präsident! 60 000 Bergleute ausscheiden müßten, nachdem bis
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Namens jetzt schon annähernd 200 000 Bergarbeiter ausge-
der Fraktion der CDU/CSU bitte ich, den Antrag schieden sind.
der SPD-Fraktion zu Drucksache 1146 auf Umdruck
244, der soeben begründet worden ist, abzulehnen. Die Zahl der fördernden Anlagen im Bergbau ist
von 172 im Jahre 1957 auf 127 bis Ende 1962, also
Der heute vorlegte Antrag ist der gleiche Antrag, um 45 zurückgegangen. Weiterhin wurden 42
der als Alternativantrag der SPD dem Sozialpoliti- Schachtanlagen zu 21 Großanlagen zusammenge-
schen Ausschuß vorgestern vorgelegt worden ist, legt.
auch dort beraten, aber in dieser Beratung abge-
lehnt wurde. Dieser Antrag fordert die Einführung Angesichts dieser Rationalisierungsmaßnahmen
einer Knappschaftsrente wegen fiktiver Berufsun- ist es 'schwierig, die Bergleute im Alter zwischen
fähigkeit ,an alle Versicherten, die die Vorausset- 50 und 60 Jahren, die schon überwiegend berufs-
zungen für die Gewährung des Knappschaftsruhe- unfähig sind — nach den Unterlagen der Knapp-
geldes mit der Vollendung des 60. Lebensjahres er- schaftsversicherung liegt das Durchschnittsalter für
füllen, allerdings — wie wir soeben gehört haben den Eintritt der 'Berufsunfähigkeit bei 57 Jahren —,
— mit einem Steigerungsbetrag von 2 %, weil der auf einem anderen Arbeitsplatz unterzubringen.
Antrag jetzt umgestellt ist nach § 48 des RKG, also Denn Fachkräfte des Bergbaues mit einer solchen
in bezug auf die Knappschaftsberufsunfähigkeits- speziellen Berufsausbildung können i n diesem
rente für alle, die im Betrieb tätig sind, ohne Aus- Alter kaum noch auf anderen Arbeitsplätzen ange-
nahme für alle, die die Voraussetzungen erfüllt messen untergebracht werden.
haben: wenn sie 55 Jahre alt sind und nicht mehr Nun unterscheidet sich unsere Ansicht von dem
in diesem knappschaftlichen Betrieb arbeiten. Vorschlag, den Sie, Herr Kollege Hörmann, gemacht
Die Bedenken, die schon im Sozialpolitischen Aus- haben, in folgendem. Ich hatte schon gesagt: Wir
schuß zum Ausdruck gekommen sind, sind auch wollen keine Regelleistungen ändern. Sie wissen ja,
3244 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963

Scheppmann
daß wir im Ausschuß vorgeschlagen haben, einen Im Bericht ist von dem Präjudiz und der präjudi-
neuen § 98 a anzufügen, der im Kernpunkt wie folgt zierenden Wirkung dieses Gesetzes gesprochen wor-
lautet: d en. Schon im Ausschuß habe ich dazu einige Hin-
Der Träger der knappschaftlichen Rentenver- weise gegeben. Ich glaube nicht, daß man ausgerech-
sicherung hat einem Versicherten, der die Vor- net dann von .einem Präjudiz reden soil, wenn es
aussetzungen der Wartezeit nach § 49 Abs. 4 sich um Bergleute handelt, die nach Vollendung
erfüllt hat, auf Antrag eine Knappschaftsaus- ihres 14. Lebensjahres bis zum 55. Lebensjahr
gleichsleistung schwere Bergarbeit verrichtet haben.
Wenn ich mir dia ,eine Bemerkung erlauben darf,
— das ist das Entscheidende hierbei! —
dann die: Präjudizien haben wir schon in einer an-
zu gewähren, wenn seine bisherige Beschäfti- deren Berufsgruppe. Wir haben unser grundsätz-
gung in dem knappschaftlichen Betrieb aus liches Ja zur Landesverteidigung gegeben, und ich
Gründen, die nicht in seiner Person liegen, nach will auch gegen die Offiziere im allgemeinen nichts
Vollendung des 55. Lebensjahres endet. sagen. Aber wenn es möglich ist, daß Hauptleute mit
52 Jahren, Majore mit 54, Oberstleutnante mit 56
Damit bringen wir zum Ausdruck, daß diese und Oberste mit 58 Jahren in ,den wohlverdienten
gesetzliche Bestimmung für Arbeitskräfte gelten Ruhestand gehen, um dann womöglich noch etwas
soll, die infolge von Rationalisierungsmaßnahmen nebenbei zu verdienen, dann frage ich mich: Ist les
nicht nur da, wo ein Betrieb ganz stillgelegt wird, nicht für die Leute, die nach dem Zusammenbruch
sondern auch dort, wo sich eine Teilstillegung aus- in vorderster Front gestanden haben, ein begrün-
wirkt und eine Zusammenlegung erfolgt, überflüssig detes Anliegen, ist es nicht ein Gebot der Gerechtig-
werden und entlassen werden. Wir sind der Über- keit ihnen gegenüber, nachdem sie so wertvolle
zeugung, daß auch die Rationalisierungsmaßnahmen Aufbauarbeit geleistet haben, ihnen mit 55 Jahren
im Bergbau, die zwar im Augenblick noch laufen, in auch die Rente zu gönnen?!
mindestens zwei, spätestens in drei Jahren beendet
sind und daß dann diese Leistung von selbst aus-
läuft. So brauchen wir keine Änderungen der Regel- Vizepräsident Dr. Dehler: Herr Abgeordneter,
leistung vorzunehmen, die dann notwendig wären, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abge-
wenn Ihr Antrag angenommen würde. ordneten Dr. Rutschke?

Aus dem Grunde bin ich der Meinung, man sollte D r. Rutschke (FDP) : Herr Kollege Büttner, ist
das nicht tun. Wenn man schon von einer Alters Ihnen nicht klar, daß man das nicht der Offiziere
grenze im Bergbau ausgehen will — ich habe das wegen tut, sondern in manchen Fällen der Wehr-
bereits bei der ersten Lesung im vergangenen Jahre bereitschaft wegen tun muß?
gesagt —, dann, meine Damen und Herren, kann
man einfach mit den übrigen Ländern, die zur Ge-
meinschaft gehören und Kohle fördern, keine Ver- Büttner (SPD) : Herr Kollege Dr. Rutschke, dieser
gleiche anstellen, weil dort die gesetzlichen Bestim- Vergleich trifft nicht ganz zu. Wenn Sie mich so
mungen über die Gewährung von Renten an Berg- fragen, muß ich Ihnen antworten, es müßte zur He-
leute grundsätzlich verschieden sind. Ich darf Ihnen bung der Einsatzbereitschaft im Bergbau ein solcher
sagen, daß diese Bergleute zwar mit 55 Jahren aus- Anreiz gegeben werden, daß sich auch die Jugend
scheiden, dann aber so gestellt sind, daß sie kaum zum Bergbau hinwendet. Warum geht unsere Ju--
50 % der Rentenbezüge bekommen, die hier in der gend nicht zum Bergbau? Einmal wegen der wirt-
Bundesrepublik gezahlt werden. schaftlichen Unsicherheit, zweitens wegen ´der Ge-
fährlichkeit der Arbeit, und drittens, weil sie ganz
Ich nehme an, meine Damen und Herren, daß ich genau weiß, daß sie so früh verschlissen sein wird.
eine weitere Begründung dafür, weshalb wir den Wenn man nun auf der anderen Seite schon Präju-
Antrag der SPD ablehnen, nicht zu geben brauche. dize geschaffen hat, so hat dier Bergmann, glaube ich,
Ich würde Sie herzlich darum bitten, dem in der guten Grund dazu, einmal darauf hinzuweisen und
Vorlage enthaltenen Antrag der CDU/CSU, der im das gleiche Recht auch für sich zu beanspruchen.
Sozialpolitischen Ausschuß angenommen worden ist,
zuzustimmen. Damit hätten wir eine Regelung Herr Kollege Scheppmann hat insbesondere auf
getroffen, die in dem Augenblick, in dem die Ratio- die wirtschaftspolitischen Schwierigkeiten hingewie
nalisierungsmaßnahmen zu Ende gehen, von selbst sen. Wir, die Fraktion der SPD, sind anderer Mei-
ausläuft, und wir brauchten im Grundsatz das nung, und zwar der, daß das sozialpolitische An-
Knappschaftsgesetz nicht mehr zu ändern. liegen im Vordergund stehen solle, und aus wohl
überlegten sozialpolitischen Gründen haben wir uns
zu unserem Antrag vom 4. April 1962 entschlossen,
Vizepräsident Dr. Dehler: Das Wort hat Herr der ja dann in der 28. Sitzung des Bundestages im
Abgeordneter Büttner. Mai 1962 begründet worden ist. Das Sozialpolitische
steht im Vordergrund, ganz einflach wegen des Tat-
Büttner (SPD) : Herr Präsident! Meine Damen bestandes, daß z. B. im Jahre 1959 51jährige zu über
und Herren! Ich bedaure sehr, Ihre Zeit noch in An- 46 % pensioniert werden mußten, weil sie bereits
spruch nehmen zu müssen. Ich habe zu den Aus- erwerbsunfähig waren, erwerbsunfähig mit über
führungen des Herrn Kollegen Scheppmann einige 26 % wegen gleichzeitigen Vorliegens einer schwe-
Bemerkungen zu machen. ren Silikose, und die übrigen 15,8% waren erwerbs-
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3245
Büttner
unfäh i g wegen Erkrankung der Luftwege, Bron- Ich rufe auf den Art. 2 des Gesetzentwurfs. Hierzu
chitis, Emphyseme usw., alles bedingt durch die liegt vor der Änderungsantrag unter Ziffer 2.
schwere Untertagearbeit. (Abg. Dr. Schellenberg: Erledigt, Herr
Präsident!)
Wenn Herr Kollege Scheppmann in bezug auf die
anderen Länder darauf verwies, daß sie sich nicht — Das ist erledigt. Dann können wir über .Art. 2,
mit uns vergleichen ließen, so ist doch ein Tatbe- Einleitung und Überschrift abstimmen. Wer dem
stand, daß in den meisten anderen Bergbau treiben- zustimmt, gebe bitte ein Zeichen.
den Ländern die Altersgrenze für Bergleute herab- (Zuruf von der CDU/CSU: Art. 3 und 4
gesetzt ist, ein Beweis dafür, daß die Bergleute in auch!)
diesem Alter verschlissen sind, daß sie ihrer Arbeit
— Richtig. Wir stimmen ab über Art. 2, 3, 4, Ein-
nicht mehr nachgehen können. Wenn man dann
leitung und Überschrift. Wer zustimmt, gebe noch-
sagt, sie erhielten nur 50 % derjenigen Rente, die
mals ein Zeichen. — Das ist die einstimmige An-
sie bei uns in der Bundesrepublik erhalten können, nahme.
so ist das ebenfalls noch kein schlüssiger Beweis,
ganz einfach weil man dann auch alle anderen Um- Ich schließe die zweite Beratung und eröffne die
stände, unter denen sie leben, berücksichtigen muß. dritte Beratung.
Wahrscheinlich haben sie doch einen ganz anderen
Lebensstandard — ich will jetzt kein Land heraus- (Abg. Büttner: Zur Abstimmung!)
greifen —, und erst auf der Grundlage dieses Le- — Zur Abstimmung eine Erklärung, Herr Abge-
bensstandards, der in diesen Ländern herrscht, kön- ordneter Büttner!
nen wir Vergleiche anstellen. Das Faktum aber, daß
sie in den anderen Ländern mit 55 Jahren die Rente Büttner (SPD) : Herr Präsident! Meine Damen
erhalten, ist unsere sozialpolitische Begründung. und Herren! Namens der SPD-Bundestagsfraktion
Wenn Sie, Herr Kollege Scheppmann, es auf die darf ich zur Abstimmung über den Entwurf eines
Bergbaubetriebe bezogen wissen wollen, die ratio- Ersten Gesetzes zur Änderung des Reichsknapp-
nalisiert oder die stillgelegt worden sind, dann muß schaftsgesetzes folgende Erklärung abgeben.
doch auf der anderen Seite auch gesehen werden, Nicht erst seit dem 4. April 1962, dem Tage des
wie das Leben wirklich ist. Der Tatbestand, daß die Antrages der SPD-Bundestagsfraktion — Drucksache
Bergleute über 50 Jahre — nehmen wir Bochum, IV/296 —, hat sich die Fraktion mit der Frage der
nehmen wir jetzt Hamborn-Neumühl — auf anderen Herabsetzung der Altersgrenze für Untertage-Berg-
Schachtanlagen nicht mehr unterkommen und daß leute befaßt. Unserer Fraktion war und ist die
sie, wie Sie selbst betont haben, auf Grund ihrer Schwere der Bergarbeit bekannt. Uns ist die Tat-
Vorbildung in anderen Berufen nicht mehr unterzu- sache, daß seit dem Zusammenbruch im Jahre 1945
bringen sind, ist doch die Berechtigung für unseren Tausende und aber Tausende von Bergleuten an
Antrag. Ich glaube, wir sollten die Verpflichtung der schwersten Berufskrankheit, der Silikose, ge-
fühlen, eben weil Bergleute in diesem Alter nicht storben sind, daß die Bergbau-Berufsgenossenschaf-
mehr in anderen Berufen verwendungsfähig sind. ten die meisten Berufskrankheiten entschädigen
Gerade die hohe Zahl der Unfallgeschädigten und müssen, bekannt. Uns ist ferner bekannt, daß z. B.
der Berufskranken sollte uns doch veranlassen, dar- im Jahre 1959 über 46% der Antragsteller ihre
in die echte sozialpolitische Begründung für unseren Renten im Alter von 51 Jahren zuerkannt erhielten,
Antrag zu sehen, das auf alle Bergleute auszudeh- wobei über 26% der Antragsteller erwerbsunfähig
nen, gleichgültig, auf welcher Schachtanlage sie waren wegen einer gleichzeitig bestehenden schwe-
arbeiten. Ich glaube, wir schaffen mit einem solchen ren Silikose und die übrigen wegen Erkrankung der
Gesetz auch für junge Menschen einen Anreiz, sich Luftwege, die ebenfalls durch die Schwere der Unter-
im Bergbau zu betätigen. Das wäre auch volkswirt- tagearbeit im Bergbau begründet ist. Deshalb haben
schaftlich richtig, auch aus der Gesamtschau für wir unseren Antrag auf Herabsetzung der Alters-
unsere Wirtschaft im ganzen; ich will der Debatte grenze aus wohlüberlegten sozialpolitischen Grün-
von morgen zur Energiepolitik aber nicht vorgreifen. den eingebracht.
Deshalb bin ich nicht der Meinung, daß wir jetzt eine
besondere gemischte Strukturrente aus wirtschafts- Im Laufe der Debatte im zuständigen Ausschuß
und sozialpolitischen Gründen gewähren sollten, so, für Sozialpolitik stellte sich heraus, daß die Regie-
wie Sie es beabsichtigen. Ich bin der Meinung, daß rungsparteien unter keinen Umständen diesem An-
Sie unserem Alternativantrag mit gutem Gewissen trag der SPD, der die Möglichkeit der Gewährung
zustimmen könnten. Ich bitte um seine Annahme. des Altersruhegeldes unter bestimmten Vorausset-
zungen mit einem Steigerungssatz von 2,5% ge-
(Beifall bei der SPD.) geben hätte, ihre Zustimmung geben würden. Wir
haben deshalb einen Kompromißvorschlag unter-
Vizepräsident Dr. Dehler: Wir können dann breitet, wonach wiederum unter bestimmten Vor-
aussetzungen Berufsunfähigkeitsrente mit einem
über den Änderungsantrag Umdruck 244 Ziffer 1
abstimmen. Wer zustimmt, gebe bitte ein Zeichen. 2%igen Steigerungsatz beim Auscheiden aus dem
Bergbau gewährt werden sollte, ebenfalls aus echt
— Gegenprobe! — Der Antrag ist abgelehnt.
sozialpolitischen Gründen. Ob wohl dieser Kompro-
Wir stimmen dann aber über Art. 1 in der Fas- mißvorschlag zunächst über die Parteien hinweg als
sung des Ausschusses ab. Wer zustimmt, gebe bitte akzeptabel bezeichnet wurde, ist er heute abgelehnt
ein Zeichen. — Einstimmig angenommen. worden. Das stellen wir mit Bedauern fest.
3246 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963
Büttner
Nun ist über den Antrag der CDU/CSU abzustim- gesagt habe, daß es für junge Menschen, die sich
men, der sozialpolitisch gesehen ein Novum dar- für den Bergbau entscheiden, auch eine Rolle spie-
stellt. Es soll eine Knappschaftsausgleichsleistung len kann, daß sie bei der Schwierigkeit der Aufgabe,
unter den gleichen Voraussetzungen, wie wir sie im die sie zu bewältigen beabsichtigen, die Aussicht
Kompromißantrag vorgeschlagen haben, gewährt haben, einmal frühzeitig in den Ruhestand zu kom-
werden, allerdings mit der Einschränkung, daß die men?
CDU/CSU nur denen diese Leistung zubilligen will,
die ohne eigene Schuld infolge von Rationalisie- Dr. Rutschke (FDP) : Herr Kollege Büttner, das
rungs- und Strukturmaßnahmen die Bergarbeit auf- ist in anderen Berufssparten eben nicht der Fall,
geben müssen. Es handelt sich also um eine ge- wenn Sie sich nicht auf das Beispiel der Offiziere
mischt wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahme. beziehen, die ja im Interesse der Verteidigungs-
Wir halten dies aus der Sache heraus nicht für eine bereitschaft, der Wehrbereitschaft der Bundesrepu-
glückliche Lösung. Dennoch bedeutet es für die be- blik zum Teil früher pensioniert werden und nicht
troffenen Bergleute gegenüber dem bisherigen Zu- aus anderen Gründen. Ich freue mich aber, wenn Sie
stand eine gewissen Fortschritt. Aus diesem Grunde das vorhin anders gemeint haben sollten, als es zu
werden wir der bescheidenen, die Bergleute sicher- verstehen war. Ich bin gern bereit, dann meine Mei-
lich nicht restlos befriedigenden Regelung zustim- nung entsprechend zu ändern.
men.
Meine Damen und Herren, wir befürchten, daß es
Vizepräsident Dr. Dehler: Das Wort hat der eben doch ein Präzedenzfall sein wird, wenn hier
Abgeordnete Stingl. erstmalig die Regelung eingeführt wird, daß jemand,
ohne den Nachweis der Berufsunfähigkeit zu erbrin-
Stingl (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine Damen gen, bereits mit 55 Jahren in den Genuß des Ren-
und Herren! Der Gesetzentwurf, wie er Ihnen zur tenbezugs kommt. Diese Gefahr sehen wir, und wir
Abstimmung in dritter Lesung vorliegt, ist ein auf möchten davor warnen. Ich weiß nicht, meine Da-
die besondere Lage im Bergbau abgestellter Gesetz- men und Herren von der SPD, wann Sie sich einmal
entwurf. Die schwere Arbeit unter Tage rechtfertigt auf dieses Beispiel später für einen anderen Fall
es, über Bedenken, die wegen eines Präjudizes für berufen werden. Das warten wir einmal ab.
andere entstehen könnten, hinwegzusehen und eine Meine Damen und Herren, in einer Zeit der
Sonderleistung für einen genau umgrenzten Perso- Arbeitslosigkeit würde eine derartige Maßnahme
nenkreis, sofern er seinen Arbeitsplatz aufgeben vielleicht vernünftig und richtig sein und damit auch
muß, einzuführen. begründet. Aber wir haben einen Arbeitskräfte-
Die CDU/CSU-Fraktion ist dabei überzeugt, daß mangel, wir haben 700 000 ausländische Arbeits-
die Bergleute und insbesondere ihre Familienange- kräfte, und da kann ich beim besten Willen nicht
hörigen, die viele Sorgen wegen der Rationalisie- verstehen, daß man dann hochqualifizierte Arbeits-
rungsmaßnahmen im Bergbau haben, dieses Gesetz kräfte, die nicht berufsunfähig sind, mit 55 Jahren
begrüßen und es als eine große Beruhigung emp- zur Ruhe setzen will. Wenn die Versicherungs-
finden werden, da damit ihre größten Sorgen besei- gemeinschaft das von sich aus tun würde und auch
tigt sind. Deshalb wird unsere Fraktion dem Gesetz- die entsprechenden Kosten dafür zahlen würde, nun,
entwurf zustimmen. dann wäre es ein Eintreten „einer für alle, alle für
(Beifall bei der CDU/CSU.) einen" in dieser Versicherungsgemeinschaft. Aber
Sie wissen genau, daß die Kosten dieser früheren
Vizepräsident Dr. Dehler: Das Wort hat der Zurruhesetzung dem Staat zur Last fallen. Das ist
Abgeordnete Dr. Rutschke. natürlich der bequemste Weg: Gesetze zu schaffen,
die vom Steuerzahler finanziert werden müssen.
Dr. Rutschke (FDP) : Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Ich darf nur noch auf etwas ein- Wir glauben, daß gerade die Rangfolge auch in
gehen, was Herr Kollege Büttner gesagt hat. Er dieser Frage der Sozialpolitik entscheidend ist. Da-
führte aus, die Maßnahme, daß man mit 55 Jahren her sehen wir uns leider nicht in der Lage, diesem
pensioniert wird, werde für die Jugend ein Anreiz Gesetz zuzustimmen.
sein, in den Bergbau zu gehen. Ich glaube, daß eine (Abg. Könen [Düsseldorf]:: Das ist sehr
so weite Vorausschau für denjenigen, der einen bemerkenswert!)
Beruf erst ergreifen will, nicht vorhanden ist. Ich
weiß nicht, ob das nicht etwas sehr weit hergeholt Vizepräsident Dr. Dehler: Wir kommen zur
ist. Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz in der vor-
liegenden Fassung zustimmt, möge sich vom Platz
Vizepräsident Dr. Dehler: Herr Abgeordneter erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Mit
Dr. Rutschke, der Abgeordnete Büttner möchte eine großer Mehrheit angenommen.
Zwischenfrage stellen. Sind Sie einverstanden?
Wir sind damit am Schluß der heutigen Tages-
ordnung. Ich berufe die nächste Sitzung auf morgen,
Dr. Rutschke (FDP) : Bitte sehr! Freitag, den 29. März, 8.30 Uhr, ein.
Büttner (SPD) : Herr Dr. Rutschke, darf ich die
Frage an Sie richten, ob Sie mich nicht gründlich Die Sitzung ist geschlossen.
mißverstanden haben, wenn ich mit Hinweis darauf,
daß wir es in anderen Berufsgruppen schon haben, (Schluß der Sitzung: 20.32 Uhr.)
Deutscher Bundestag - 4. Wahl p eri o de - 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3247

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich


Dr. Löhr* 30. 3.
Liste der beurlaubten Abgeordneten 30.3.
Lücker (München)*
Margulies* 30. 3.
Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich
Mauk* 30. 3.
Dr. Aigner* 30. 3. Dr. h. c. Menne (Frankfurt) 28. 3.
Arendt (Wattenscheid)* 30. 3. Dr. von Merkatz 7. 4.
Dr. Arndt (Berlin) 31. 3. Metzger* 30. 3.
Dr. Atzenroth 28. 3. Dr. Miessner 29. 3.
Dr. Dr. h. c. Baade 31. 3. Müller (Berlin) 31.3.
Bauer (Wasserburg) 6. 4. Müller-Hermann* 30. 3.
Bergmann* 30. 3. Nellen 29. 3.
Beuster 20. 4. Neumann (Allensbach) 29. 3.
Biechele 29. 3. Oetzel 31. 3.
Birkelbach* 30. 3. Frau Dr. Pannhoff 31. 3.
Dr. Birrenbach 29. 3. Dr.-Ing. Philipp* 30.3.
Fürst von Bismarck 29. 3. Frau Dr. Probst 22. 4.
Dr. Burgbacher* 30. 3. Rademacher* 30. 3.
Dr. Deist* 30. 3. Richarts* 30. 3.
van Delden 28. 3. Frau Rudoll 31. 3.
Deringer* 30. 3. Schlick 29. 3.
Dr. Dichgans* 30. 3. Dr. Schmidt (Offenbach) 29. 3.
Frau Döhring 20. 4. Dr. Schmidt (Wuppertal) 31. 3.
Dr. Dr. h. c. Dresbach 31. 3. Dr. Schneider (Saarbrücken) 29. 3.
Eisenmann 29. 3. Schulhoff 29.3.
Frau D r. Elsner* 30. 3. Seibert 29. 3.
Etzel 29. 3. Seifriz* 30. 3.
Even (Köln) 28. 3. Dr. Starke* 30. 3.
Faller* 30.3. Storch* 30. 3.
Figgen 20. 4. Frau Strobel* 30. 3.
Frau Dr. Flitz (Wilhelmshaven) 28. 3. Urban 29. 3.
Dr. Franz 29. 3. Frau Vietje 31. 3.
Dr. Frede 20. 4. Weinkamm* 30. 3.
Dr. Frey (Bonn) 31. 3. Werner 28. 3.
Dr. Dr. h. c. Friedensburg* 30. 3. Frau Wessel 29. 3.
Funk (Neuses am Sand) 31.3. Wischnewski* 30. 3.
Dr. Furler* 30. 3. Wittmer-Eigenbrodt 30. 4.
Gaßmann 5. 4. Dr. Zimmer 28. 3.
Gedat 29. 3.
Gehring 29. 3. -

Freiherr zu Guttenberg 31. 3.


Haage (München) 7. 5. Anlage 2 Umdruck 232
Hahn (Bielefeld) 20. 4.
Hammersen 29.3. Änderungsantrag der Fraktion der SPD zur
Dr. von Haniel-Niethammer 29. 3. zweiten Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Hellenbrock 31. 3. Änderung des Gesetzes über eine Altershilfe für
Dr. Hellige 20. 4. Landwirte (Drucksachen IV/901, IV/904, IV/1092).
Illerhaus* 30. 3. Der Bundestag wolle beschließen:
Jaksch 26. 4.
Katzer 31.3. Zu Artikel 1
Frau Kettig 29. 3.
Dr. Kliesing (Honnef) 29. 3. 1. „Vor Nummer 1 wird folgende Nummer vor 1
Klinker* 30. 3. eingefügt:
Dr. Knorr 4. 4. ,vor 1. In § 1
Dr. Kopf 29. 3.
Dr. Kreyssig*
a) erhält Absatz 1 folgende Fassung:
30. 3.
Kriedemann* 30. 3. „(1) Altersgeld oder vorzeitiges
Lenz (Brühl)* 30. 3. Altersgeld nach diesem Gesetz erhal-
Dr. Löbe 29. 3. ten ehemalige landwirtschaftliche
Lohmar 30. 4. Unternehmer, deren Witwen oder
Witwer und in landwirtschaftlichen
* Für die Teilnahme an einer Tagung des Europäischen Unternehmen mithelfende Familien
Parlaments angehörige."
3248 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963

b) wird hinter Absatz 5 folgender neuer 3. Hinter Nummer 4 wird folgende neue Nummer
Absatz 6 angefügt: 4 a eingefügt:
„ (6) Als mithelfende Familienan- ,4 a. Hinter § 4 wird folgender neuer § 4 a ein-
gehörige gelten gefügt:
a) Verwandte auf- oder ab- „Heilverfahren
steigender Linie ides land-
wirtschaftlichen Unterneh- § 4a
mers oder seines Ehe- Die landwirtschaftlichen Alterskassen
gatten, können zur Erhaltung, Besserung oder
b) sonstige Kinder des land- Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit
wirtschaftlichen Unterneh- Heilverfahren gewähren, wenn hierdurch
mers oder seines Ehe- nach ärztlichem Gutachten eine in abseh-
gatten (§ 582 Abs. 5 der barer Zeit drohende Erwerbsunfähigkeit
Reichsversicherungsord- voraussichtlich verhütet oder eine bereits
nung) , eingetretene Erwerbsunfähigkeit voraus-
c) sonstige Verwandte des sichtlich ,behoben werden kann." '
landwirtschaftlichen Unter-
nehmers oder seines Ehe- Bonn, den 26. März 1963
gatten bis zum dritten
Grade, Ollenhauer und Fraktion
d) Verschwägerte des land-
wirtschaftlichen Unterneh-
mers oder seines Ehe- Anlage 3 Umdruck 245
gatten bis zum zweiten
Grade,
Änderungsantrag der Abgeordneten Berberich,
wenn sie hauptberuflich in dem land- Dr. Reinhard, Frehsee, Weber (Georgenau) zur zwei-
wirtschaftlichen Unternehmen ides ten Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
landwirtschaftlichen Unternehmers Änderung des Gesetzes über eine Altershilfe für
tätig sind." ' Landwirte (Drucksachen IV/901, IV/904, IV/1092).
Der Bundestag wolle beschließen:
2. Hinter Nummer 2 wird folgende neue Nummer
2 a eingefügt: In Artikel 4 § 2 werden hinter den Worten „auf
seinen Antrag von der Beitragspflicht befreit wor
,2 a. Hinter § 2 wird folgender neuer § 2 a ein- den" d i e Worte „oder wird er auf Grund seines
gefügt: vor Inkrafttreten dieses Gesetzes eingegangenen
„§ 2 a Antrags von der Beitragspflicht befreit" eingefügt.
(1) Ein mithelfender Familienangehöri-
Bonn, den 27. März 1963
ger erhält Altersgeld, wenn er
a) das 65. Lebensjahr vollendet hat
Berberich Frehsee
und -
Dr. Reinhard Weber (Georgenau)
b) in der Zeit zwischen der Voll-
endung des 15. und des 65. Le-
bensjahres überwiegend haupt-
beruflich in einem landwirtschaft- Anlage 4 Umdruck 246
lichen Unternehmen im Sinne
des § 1 tätig war. Änderungsantrag der Fraktion der SPD zur
(2) Vorzeitiges Altersgeld erhält ein Nummer 2 des Antrags des Ausschusses für Sozial-
mithelfender Familienangehöriger, wenn er politik (20. Ausschuß) zum Entwurf eines Gesetzes
a) erwerbsunfähig im Sinne des zur Änderung des Gesetzes über eine Altershilfe
§ 1247 Abs. 2 der Reichsversiche- für Landwirte (Drucksachen IV/901, IV/904, IV/1092).
rungsordnung ist und Der Bundestag wolle beschließen:
b) in der Zeit zwischen der Voll-
endung des 15. Lebensjahres und Der Entschließungsantrag des Ausschusses für
dem Eintritt der Erwerbsunfähig- Sozialpolitik auf Drucksache IV/1092 wird durch fol-
keit überwiegend hauptberuflich genden Satz ergänzt:
in einem landwirtschaftlichen „Gesetzentwurf und Bericht sind den gesetzgeben-
Unternehmen im Sinne ides § 1 den Körperschaften bis zum 31. Dezember 1963 vor-
tätig war. zulegen."
(3) Bei Anwendung von Absatz 1 Buch-
stabe b und Absatz 2 Buchstabe b zählen Bonn, den 28. März 1963
die in § 1251 der Reichsversicherungsord-
nung genannten Ersatzzeiten nicht mit." ' Ollenhauer und Fraktion
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3249

Anlage 5 Umdruck 244 Kalendermonaten zurückgelegt ist und wäh-


rend dieser Zeit 180 Kalendermonate Hauer
Änderungsantrag der Fraktion der SPD zur arbeiten untertage oder diesen gleichgestellte
zweiten Beratung des von der Fraktion der SPD Arbeiten verrichtet worden sind".
eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Reichsknappschaftsgesetzes (Druck- 3. § 49 Abs. 4 erhält folgende Fassung:
sachen IV/296, TV/1146). „(4) Die Wartezeit für das Knappschafts-
ruhegeld nach § 48 Abs. 1 Nr. 2 oder Knapp-
Der Bundestag wolle beschließen: schaftsrente wegen Berufsunfähigkeit nach
§ 46 Abs. 3 ist erfüllt, wenn
1. Artikel i erhält folgende Fassung:
1. die Voraussetzungen des Absat-
Artikel 1 zes 2 vorliegen oder
2. eine Versicherungszeit von 300
Änderung des Reichsknappschaftsgesetzes Kalendermonaten mit einer Be-
Das Reichsknappschaftsgesetz in der Fassung schäftigung untertage zurückgelegt
vom 1. Juli 1926 (Reichsgesetzbl. T S. 369), zu- ist und während dieser Zeit Hauer-
letzt geändert durch das Gesetz zur Neuregelung arbeiten oder diesen gleichge-
des Rechts der gesetzlichen Unfallversiche- stellte Arbeiten verrichtet worden
rung (Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz sind, wenn diese wegen vermin-
—UVNG)vom.BundesgtzblIS), derter bergmännischer Berufsfä-
wird wie folgt geändert und ergänzt: higkeit aufgegeben werden
mußte."
1. § 46 erhält folgenden neuen Absatz 3:
„(3) Auf Antrag erhält Knappschaftsrente 2. Artikel 2 erhält folgende Fassung:
wegen Berufsunfähigkeit, der das 55. Lebens- „Artikel 2
jahr vollendet und die Wartezeit nach § 49
Abs. 4 erfüllt hat und eine Beschäftigung in Soweit erst durch dieses Gesetz ein Anspruch
einem knappschaftlichen Betrieb nicht mehr auf eine Rente begründet wird, beginnt die
ausübt." Rente mit dem Inkrafttreten dieses Gesetzes,
wenn ihre Voraussetzungen zu diesem Zeit-
2. § 49 Abis. 2 erhält folgende Fassung: punkt erfüllt sind und der Antrag his zum
„(2) Die Wartezeit für Bergmannsrenten 31. Dezember 1964 gestellt worden ist, anderen-
nach § 45 Abs. 1 Nr. 2 oder Knappschaftsrente falls gilt § 82 des Reichsknappschaftsgesetzes."
wegen Berufsunfähigkeit nach § 46 Abs. 3 ist
erfüllt, wenn eine Versicherungszeit von 300 Bonn, den 27. März 1963

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