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Deutscher Bundestag

lo. Sitzung
Bonn, den 12. November 1969

Inhalt:

Glückwunsch zu dem Geburtstag des Abg Fragen des Abg. Dr. Riedl (München):
Faller 291 A Verlegung des Sitzes des Europäischen
Verzicht des Abg. Gscheidle auf die Mit- Patentamtes nach München 293 D
gliedschaft im Bundestag 291 A
Fragen des Abg. Burger:
Eintritt des Abg. Säckl in den Bundestag 291 A
Gebührenbefreiung für Grundbuchein-
Erweiterung der Tagesordnung 291 A tragungen bei Gewährung von Dar-
lehen aus Bundesmitteln für Rehabilita-
Amtliche Mitteilungen . . . . . . . 291 C tionseinrichtungen
Jahn, Bundesminister . . 294 A, 294 C
Fragestunde (Drucksache VI/49)
Burger (CDU/CSU) 294 A
Frage des Abg. Dr. Fuchs:
Wehrdienst von Abiturienten bei Be- Frage des Abg. Zebisch:
ginn des Studiums im Wintersemester Amnestiegesetzgebung für Demonstra-
Berkhan, Parlamentarischer tionsvergehen 294 D
Staatssekretär . . . . . . . . 291 D
Frage des Abg. Flämig:
Dr. Fuchs (CDU/CSU) 292 A
Unterbindung des Verkaufs von Rauschgift
Frage des Abg. Jung: Westphal, Parlamentarischer
Staatssekretär . . . . . . . . 295 A
Möglichkeit des Studiums ohne Be-
schränkung durch den Numerus clausus Flämig (SPD) . . . . . . . . . 295 C
Dr. von Dohnanyi, Parlamentarischer Dr. Meinecke (Hamburg) (SPD) . . . 295 D
Staatssekretär . . . . . . . 292 B
Jung (FDP) 292 C Fragen der Abg. Frau Klee:

Borm (FDP) 292 C Schaffung eines Europäischen Jugend-


werks
Frage der Abg. Frau Geisendörfer: Westphal, Parlamentarischer
Staatssekretär . . . . 296 A, 296 B
Auszahlung der Beträge an die Emp-
fangsberechtigten des Honnefer Mo- Frau Klee (CDU/CSU) 296 C
dells
Dr. von Dohnanyi, Parlamentarischer Frage des Abg. Dr. Apel:
Staatssekretär . . . . . . . . 293 A Linksfahren auf den Bundesautobahnen
Frau Geisendörfer (CDU/CSU) . . . 293 B Leber, Bundesminister 296 D
II Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969

Dr. Apel (SPD) . . . . . . . . 297 A Fragen des Abg. Müller (Mülheim) :


Mertes (FDP) . . . . . . . 297 B Wohngeldzuschuß für Sozialhilfeemp-
Flämig (SPD) fänger
297 C
von Bockelberg (CDU/CSU) . . . 297 C Dr. Lauritzen, Bundesminister . . 301 D
Müller (Mülheim) (SPD) . . . . . 302 A
Frage des Herrn Abg. Dr. Apel:
Bestimmungen über Wechseln der Fahr- Frage des Abg. Zebisch:
spur und Rechtsüberholen im Entwurf Möglichkeiten der Bundesregierung zur
der Straßenverkehrs-Ordnung Milderung der Wohnungsnot der Stu-
Leber, Bundesminister 297 D denten
Dr. Lauritzen, Bundesminister . . . 302 A
Frage des Abg. Josten: Zebisch (SPD) . . . . . . . . . 302 C
Zeitplan für den Bau neuer Rhein-
Frage der Abg. Frau Funcke:
brücken
Ausgabe von Informationsmaterial des
Leber, Bundesminister 298 A
Bundespresseamtes an Mitglieder der
Josten (CDU/CSU) 298 B Opposition . . . . . . . . . . . 302 D

Frage des Abg. Weigl: Fragen des Abg. Matthöfer:


Beginn des Baues der Autobahn Wei- Beseitigung der rechtlichen Benachteili-
den—Hof gung der bei den Stationierungsstreit-
kräften Beschäftigten — Federführung
Leber, Bundesminister 298 B innerhalb der Bundesregierung
Weigl (CDU/CSU) 298 C Dr. Ehmke, Bundesminister 303 A, 303 B
Matthöfer (SPD) . . . . 303 B, 303 C
Frage des Abg. Fellermaier:
Köppler (CDU/CSU) 303 D
Berücksichtigung der Erfordernisse des
Borm (FDP) 303 D
Verkehrs in der Ferienordnung 1970
Leber, Bundesminister 299 A Frage des Abg. Oll esch:
Fellermaier (SPD) . . . . . . . 299 A
Geltendmachung der Rezeptgebühr
von Hassel, Präsident . . . . . . 299 D beim Lohnsteuerjahresausgleich
Dr. Reischl, Parlamentarischer
Frage des Abg. Fellermaier: Staatssekretär . . . . . . . . 304 A
Erfahrungen mit dem Verkehrsverbot
Frage des Abg. Dr. Hauser (Sasbach) :
für Lastkraftwagen während der Haupt-
reisezeit Prozeßdauer bei Revisionen in der
Finanzgerichtsbarkeit
Leber, Bundesminister . . . . . . 299 D
Dr. Reischl, Parlamentarischer
Frage des Abg. Mertes: Staatssekretär 304 B
Unfallhilfe auf den Straßen und Auto- Dr. Hauser (Sasbach) (CDU/CSU) . 304 C
bahnen von Bockelberg (CDU/CSU) . . . 304 D
Leber, Bundesminister . . . . . . 300 A
Fragen des Abg. Dr. Müller (München) :
Frage des Abg. Mertes: Zollfreie Einfuhr von Skiern aus 'Oster-
reich
Einheitliche Notrufnummer — Gebüh-
renfreiheit für Notrufe — Notrufsäulen Dr. Reischl, Parlamentarischer
an Bundesstraßen Staatssekretär 305 A
Leber, Bundesminister 300 B Dr. Müller (München) (SPD) . . . 305 C
Mertes (FDP) 300 C Fragen des Abg. Wendt:
Besteuerung von karitativen Zwecken
Fragen des Abg. Dr. Arnold: dienenden Lotterien
Einführung eines privaten Fernsehens Dr. Reischl, Parlamentarischer
Leber, Bundesminister . . 300 D, 301 B Staatssekretär 305 D
Dr. Arnold (CDU/CSU) . . 301 A, 301 C Wendt (SPD) 306 A
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969 III

Frage des Abg. Krammig: Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Ände-
Abbau von wettbewerbsverzerrend wir- rung mietpreisrechtlicher Vorschriften
Abg. Geisenhofer, Dr. Riedl [München]
kenden Steuerarten
u. Gen.) (Drucksache VI/14) — Erste Be-
Dr. Reischl, Parlamentarischer ratung — und mit
Staatssekretär . . . . . . . . 306 B
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung miet-
Krammig (CDU/CSU) . . . . . . 306 C
rechtlicher Vorschriften (Abg. Geisen-
hofer, Dr. Riedl [München], Rollmann,
Frage des Abg. Krammig: Orgaß u. Gen.) (Drucksache VI/15) —
Zusagen der Bundesländer hinsichtlich Erste Beratung —
der Grunderwerbsteuerbefreiung Geisenhofer (CDU/CSU) . . . . . 361 A
Dr. Reischl, Parlamentarischer Frau Meermann (SPD) . . . . . . 362 B
Staatssekretär 306 C
Schmidt (München) (SPD) . . . . 364 B
Krammig (CDU/CSU) 306 D
Wurbs (FDP) 364 D
Große Anfrage der Fraktion der CDU/CSU Dr. Lauritzen, Bundesminister . . 366 A,
betr. Atomwaffensperrvertrag (Druck- 379 A, 383 B
sachen VI/ 1, VI/50) Dr. Gleissner (CDU/CSU) 368 A
Dr. Stoltenberg (CDU/CSU) . . . 307 A Dr. Müller (München) (SPD) . . . 370 D
Flämig (SPD) 311 A Dr. Riedl (München) (CDU/CSU) . 373 C
Dr. Rutschke (FDP) 314 B Mick (CDU/CSU) . . . . . . . 378 B
Scheel, Bundesminister . 317 C, 348 D Dr. Czaja (CDU/CSU) 381 C
Dr.-Ing. Leussink, Bundesminister . . 323 D
Dr. Dr. h. c. Birrenbach (CDU/CSU) . 326 D Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Ände-
Dr. Stoltenberg (CDU/CSU) (Erklä-
rung des Schlußtermins für den Abbau
der Wohnungszwangswirtschaft und über
rung nach § 36 GO) 331 A
weitere Maßnahmen auf dem Gebiete des
Dr. Bußmann (SPD) . . . . . . 331 B Mietpreisrechts im Land Berlin (SPD, FDP)
Schultz (Gau-Bischofsheim) (FDP) . 335 B (Drucksache VI/46) — Erste Beratung
—inVerbindungmit
Dr. Kliesing (Honnef) (CDU/CSU) . . 338 A
Brandt, Bundeskanzler 340 C Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Ände-
rung des Schlußtermins für den Abbau
Dr. Barzel (CDU/CSU) 345 D der Wohnungszwangswirtschaft und über
Freiherr von und zu Guttenberg weitere Maßnahmen auf dem Gebiet des
(CDU/CSU) 350 D Mietpreisrechts im Land Berlin (Abg.
Müller [Berlin], Benda, Dr. Gradl, Wohl-
Dr. Eppler, Bundesminister . . . . 353 B
rabe u. Gen.) (Drucksache VI/55) — Erste
Jung (FDP) 355 D Beratung —
Wischnewski (SPD) 357 D Müller (Berlin) (CDU/CSU) . . . . 385 B
Stücklen (CDU/CSU) 359 D
Entwurf eines Gesetzes zum Schutz gegen
Fluglärm in der Umgebung von Flug-
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
häfen (SPD, FDP) (Drucksache VI/4 [neu])
Wohngeldgesetzes (Abg. Geisenhofer, Dr.
— Erste Beratung — in Verbindung mit
Riedl [München], Dr. Schmidt [Wupper-
tal], Rollmann, Orgaß, Dr. Probst, Müller Entwurf eines Gesetzes zum Schutz gegen
[Berlin], Wohlrabe u. Gen.) (Drucksache Fluglärm in der Umgebung von Flug-
VI/2) — Erste Beratung — in Verbindung häfen (CDU/CSU) (Drucksache VI/7) —
mit Erste Beratung — . . . . . . . . . 386 D
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Entwurf eines Gaststättengesetzes (CDU/
Wohnungsbindungsgesetzes 1965 (Abg.
CSU) (Drucksache VI/5) — Erste Bera-
Geisenhofer, Dr. Riedl [München], Dr.
tung — 387 A
Probst u. Gen.) (Drucksache VI/3) — Erste
Beratung —, mit
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Entwurf eines Gesetzes über das Verbot der Gesetzes über die Gebühren der Schlacht-
Zweckentfremdung von Wohnraum (Abg. viehmärkte, Schlachthäuser und Fleisch-
Geisenhofer, Dr. Riedl [München] u. Gen.) großmärkte (Fleischmarkthallen) (CDU/
(Drucksache VI/13) — Erste Beratung —, CSU) (Drucksache VI/6) — Erste Bera-
mit tung — 387 A
IV Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969

Entwurf eines Gesetzes zu dem Abkommen Anlage 3


vom 20. Dezember 1968 zwischen der Gegenseitige Vertretung der Bundesmini-
Bundesrepublik Deutschland und dem ster 393 C
Kaiserreich Iran zur Vermeidung der Dop-
pelbesteuerung auf dem Gebiete der
Steuern vom Einkommen und vom Ver- Anlage 4
mögen (Drucksache VI/16) — Erste Bera-
387 B Schriftliche Antwort auf die Mündlichen
tung —
Fragen des Abg. Dr. Jahn (Braunschweig)
betr. Verhandlungen über Grenzfragen im
Antrag der Fraktionen der SPD, FDP betr. Osten 394 A
Fußballweltmeisterschaft 1974 (Druck-
sache VI/42) 387 B
Anlage 5
Entwurf eines Fünften Gesetzes zur Ände- Schriftliche Antwort auf die Mündlichen
rung des Wehrsoldgesetzes (CDU/CSU) Fragen des Abg. Memmel betr. Vorschrif-
(Drucksache VI/8) — Erste Beratung — in ten über den Erwerb und das Führen von
Verbindung mit Schußwaffen 394 D
Entwurf eines Fünften Gesetzes zur Ände-
rung des Soldatenversorgungsgesetzes Anlage 6
(CDU/CSU) (Drucksache VI/10) — Erste
Beratung — und mit Schriftliche Antwort auf die Mündliche
Frage des Abg. Draeger betr. Hilfe für
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des die saarländische Wirtschaft . . . . . 395 A
Bundesbesoldungsgesetzes (CDU/CSU)
(Drucksache VI/9) — Erste Beratung —
Anlage 7
Ernesti (CDU/CSU) . . . . . . . 387 C
Schriftliche Antwort auf die Mündlichen
Haase (Kellinghusen) (SPD) . . . . 388 D Fragen des Abg. Dr. Pohle betr. Aufwer-
eOsch(FDP).l390A tung und stabilitätsgerechte Wirtschafts-
Genscher, Bundesminister . . . . 391 B politik 395 B

Berkhan, Parlamentarischer
Staatssekretär . . . . . . . 391 D Anlage 8
Ubersicht zu der Mündlichen Frage des
Nächste Sitzung 392 D Abg. Jung betr. Zulassungsbeschränkun-
gen an den Wissenschaftlichen Hochschu-
len 395 C
Anlagen

Anlage 1 Anlage 9
Liste der beurlaubten Abgeordneten . . 393 A
Schriftliche Antwort auf die Mündliche
Frage des Abg. Dr. Schmitt-Vockenhausen
Anlage 2 betr. Änderung der Ferienordnung für
Zusammensetzung der Bundesregierung . 393 B den Sommer 1970 396 B
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969 291

10. Sitzung

Bonn, den 12. November 1969

Stenographischer Bericht beschlossen ist, und schlage vor, die Drucksache


VI/55 der Fraktion der CDU/CSU hinter Punkt 8 der
Beginn: 9.00 Uhr Tagesordnung einzuschieben, weil sie in diesen Zu-
sammenhang gehört. Ich wäre dankbar dafür, wenn
Präsident von Hassel: Die Sitzung ist eröffnet. zwischenzeitlich eine Verständigung darüber erzielt
Meine Damen und Herren, vor Eintritt in die Ta- würde, wann der Antrag der Fraktionen der SPD
gesordnung darf ich zunächst unserem Kollegen und FDP in der Tagesordnung behandelt werden
Faller sehr herzlich gratulieren. Er hat am 11. No- soll.
vember seinen 60. Geburtstag gefeiert. Folgende amtliche Mitteilungen werden ohne Ver-
(Beifall.) lesung in den Stenographischen Bericht aufgenom-
men:
Alsdann teile ich mit, daß der Abgeordnete Der Chef des Bundeskanzleramtes hat am 29. Oktober 1969 je
Gscheidle am 7. November 1969 auf seine Mitglied- eine Liste über die Zusammensetzung der Bundesregierung und
die gegenseitige Vertretung der Bundesminister übersandt. Sie
schaft im Deutschen Bundestag verzichtet hat. Als sind als Anlagen 2 und 3 diesem Protokoll beigefügt.
sein Nachfolger ist mit Wirkung vom 10. November Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung hat am
7. November 1969 die Kleine Anfrage des Abgeordneten Roll-
1969 der Abgeordnete Säckl in den Bundestag einge- mann und Genossen betr. Diskriminierung von Frauenarbeit
treten. Ich begrüße ihn in unserer Mitte und wün- — Drucksache VI/12 — beantwortet. Sein Schreiben ist als Druck-
sache VI/51 verteilt.
sche ihm eine gute Zusammenarbeit. Der Bundesminister für Verkehr und für das Post- und Fern-
meldewesen hat am 6. November 1969 die Kleine Anfrage der
(Beifall.) Abgeordneten Rollmann, Dr. Müller-Hermann und Genossen
betr. Flaggendiskriminierung — Drucksache VI/11 — beantwortet.
Meine Damen und Herren, gestern abend sind Sein Schreiben ist als Drucksache VI/52 verteilt.
noch zwei Gesetzentwürfe mit der Bitte eingereicht
worden, diese auf die Tagesordnung dieser Woche Wir treten in die Tagesordnung ein. Ich rufe
aufzusetzen, und zwar handelt es sich zunächst ein- Punkt i der Tagesordnung auf:
mal um den von den Abgeordneten Müller (Berlin),
Benda, Dr, Gradl, Wohlrabe und Genossen einge- Fragestunde
brachten — Drucksache VI/49 —
Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung
des Schlußtermins für den Abbau der Woh- Zunächst die Frage 1 des Abgeordneten Dr. Fuchs
nungszwangswirtschaft und über weitere Maß- aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der
nahmen auf dem Gebiete des Mietpreisrechts im Verteidigung:
Lande Berlin Ist sichergestellt, daß Abiturienten, die am 1. Juli eines Jahres
zur Ableistung des Wehrdienstes einberufen werden und die
— Drucksache VI/55 —, einen Studienzweig ergreifen wollen, der nur mit einem Winter-
semester begonnen werden kann, ihr Studium im Wintersemester
des der Einberufung folgenden Jahres aufnehmen können?
alsdann um den von der Fraktion der SPD und der
Fraktion der FDP eingebrachten Ist der Abgeordnete Dr. Fuchs im Saal? — Der
Entwurf eines Gesetzes über einen Ausgleich Abgeordnete ist anwesend.
für Folgen der Aufwertung der Deutschen Mark Zur Beantwortung Herr Parlamentarischer Staats-
auf dem Gebiete der Landwirtschaft sekretär Berkhan.
— Drucksache VI/56 —.
Die Vorlagen werden etwa zwischen 10 und Berkhan, Parlamentarischer Staatssekretär beim
11 Uhr dem Hause vervielfältigt vorliegen. Mir ist Bundesminister der Verteidigung: Herr Präsident!
mitgeteilt worden, daß eine interfraktionelle Ver- Meine Damen und Herren! Ich gebe auf die Frage
ständigung darüber erzielt wurde, daß beide Gesetz- des Kollegen Dr. Fuchs folgende Antwort.
entwürfe auf die heutige Tagesordnung gesetzt wer- Zur Zeit besteht folgende Regelung: Abiturienten,
den. — Ich stelle somit fest, daß die Tagesordnung die im Juli 1968 zur Ableistung des Grundwehrdien-
um diese beiden Punkte erweitert wird, und ich darf stes einberufen worden sind, können nach einem
wohl annehmen, daß damit auch klargestellt ist, Erlaß vom 9. Juli 1969 vor Ablauf ihrer Dienstzeit
daß keine Fristeinrede nach § 77 Abs. 2 unserer Ge- zur Aufnahme eines Studiums im Wintersemester
schäftsordnung erhoben wird. — Ich sehe, daß es so 1969/70 beurlaubt werden, und zwar ab 1. Novem-
292 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969

Parlamentarischer Staatssekretär Berkhan


) ber 1969, wenn sie ein natur- oder ingenieurwissen- anfänger. Diese Beschränkungen gelten jedoch nur
schaftliches Fach, und ab 1. Dezember 1969, wenn in den medizinischen Fächern sowie in der Pharma-
sie ein geisteswissenschaftliches Fach an bestimmten zie und der Architektur für alle Hochschulen. Bei
Universitäten studieren wollen. allen anderen Fächern haben lediglich einzelne
Hochschulen einen Numerus clausus. In diesen Fä-
Diese Regelung basiert auf einer Vereinbarung
chern können sich die Studienbewerber nicht mehr
zwischen der Ständigen Konferenz der Kultusmini-
den Hochschulort aussuchen, sondern sind bei der
ster der Länder, der Westdeutschen Rektorenkonfe-
Auswahl auf diejenigen Hochschulen beschränkt,
renz und dem Bundesminister der Verteidigung.
die das gewünschte Fach anbieten und noch keine
Eine gleiche oder ähnliche Regelung für die nächsten
Zulassungsbeschränkungen eingeführt haben.
Jahre besteht bisher noch nicht. Der Bundesminister
der Verteidigung ist jedoch bemüht, eine für alle Mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten möchte ich
Seiten befriedigende Lösung zu finden. eine Liste *) zu Protokoll geben, die alle Fächer
mit Numerus clausus enthält und erkennen läßt, an
Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, Herr wie vielen Fakultäten — jeweils von der Gesamt-
Abgeordneter Dr. Fuchs. zahl der vorhandenen Fakultäten — in diesen Fä-
chern ein Numerus clausus eingeführt worden ist.
Dr. Fuchs (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, sind
Sie mit mir der Meinung, daß die Tatsache, daß in Präsident von Hassel: Zu einer Zusatzfrage
- Herr Abgeordneter Jung.
den geisteswissenschaftlichen Fächern erst zum
1. Dezember beurlaubt wird, für diese Studenten
eine gewisse Schwierigkeit in der Abwicklung ihres Jung (FDP) : Herr Staatssekretär, welche Möglich-
Studiums mit sich bringt? keiten sieht Ihr Haus, um diesen im Grunde doch
untragbaren Zustand auch in Anbetracht der Ent-
Präsident von Hassel: Zur Beantwortung der wicklung der Abiturientenzahlen in aller Kürze zu
Herr Staatssekretär. beseitigen?

Berkhan, Parlamentarischer Staatssekretär beim Dr. von Dohnanyi, Parlamentarischer Staats-


Bundesminister der Verteidigung: Herr Kollege Dr. sekretär beim Bundesminister für Bildung und Wis-
Fuchs, ohne Zweifel sehe ich darin eine Schwierig- senschaft: Die entscheidende Möglichkeit liegt natür-
keit. Der Bundesminister der Verteidigung hat aber lich in einem beschleunigten Ausbau der Hoch-
auf die Einsatzbereitschaft der Streitkräfte zu ach- schulen und in einer beschleunigten Erstellung der
ten und muß folgerichtig ein anderes Interesse ver- notwendigen Studienplätze. Hierzu ist in der Regie-
treten als das Interesse der einzelnen Abiturienten, rungserklärung unter anderem ein Weg über die
die gerade in diesem Zeitpunkt Grundwehrdienst Beschleunigung im Bauverfahren selbst, also ein
leisten und die insbesondere in den letzten Wochen technischer Weg, genannt worden. Aber dazu wer-
der Ableistung des Grundwehrdienstes sehr häufig den Untersuchungen über Kapazitätsengpässe und
in Funktionen bei der Truppe berufen werden, aus dergleichen erforderlich sein.
denen sie nicht ohne weiteres ohne Ersatzgestellung
herauszulösen sind. Präsident von Hassel: Zu einer Zusatzfrage
Herr Abgeordneter Borm.
Präsident von Hassel: Keine weitere Zusatz-
frage. Ich danke dem Herrn Parlamentarischen Borm (FDP) : Herr Staatssekretär, nachdem Sie
Staatssekretär für die Beantwortung. betont haben, daß das für deutsche Studenten gilt,
darf ich Sie fragen, ob auch für ausländische Stu-
Ich rufe die Frage 2 des Abgeordneten Jung aus denten eine Studienbeschränkung vorgesehen ist.
dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Bil-
dung und Wissenschaft auf:
Dr. von Dohnanyi, Parlamentarischer Staats-
In welchen Fächern kann man in der Bundesrepublik Deutsch- sekretär beim Bundesminister für Bildung und Wis-
land z. Z. noch ein Studium ohne jegliche Beschränkung (etwa
durch den Numerus clausus) beginnen? senschaft: Sie ist im Augenblick nicht vorgesehen,
Herr Abgeordneter.
Zur Beantwortung Parlamentarischer Staatssekre-
tär von Dohnanyi.
Präsident von Hassel: Zu einer weiteren Zu-
satzfrage Herr Abgeordneter Borm.
Dr. von Dohnanyi, Parlamentarischer Staats-
sekretär beim Bundesminister für Bildung und Wis-
senschaft: Herr Abgeordneter Jung, ich beantworte Borm (FDP) : Darf ich dann fragen, ob sich daraus
Ihre Frage wie folgt. erhebliche Nachteile für die deutschen Studenten
ergeben, unbeschadet dessen, daß das Studium der
Ohne Beschränkung sind heute noch die Studien-
Ausländer bei uns so erwünscht ist.
plätze für Theologie, Landwirtschaft, Philosophie,
Archäologie und in einem gewissen Umfang Maschi-
nenbau, obwohl dort Darmstadt den Numerus clau- Dr. von Dohnanyi, Parlamentarischer Staats-
sus vollständig eingeführt hat. In den meisten Fä- sekretär beim Bundesminister für Bildung und Wis-
chern bestehen aber im Wintersemester 1969/70
Zulassungsbeschränkungen für deutsche Studien *) Vgl. Anlage 8
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969 293
Parlamentarischer Staatssekretär Dr. von Dohnanyi
senschaft: Herr Abgeordneter, die Zahl der ausländi- Frau Geisendörfer (CDU/CSU) : Herr Staats-
schen Studenten ist, gemessen an der Gesamtzahl sekretär, sehen Sie eine Möglichkeit der Einfluß-
der deutschen Studenten, relativ klein. Aber ich nahme auf die Studentenwerke, um diesen Prozeß,
werde die von Ihnen hier aufgeworfene Frage noch der an den verschiedenen Universitäten unterschied-
einmal aus dieser Perspektive prüfen. lich lange dauert, zu verkürzen und zugleich von
einer sozialen Betreuungsstelle aus Vorauszahlun-
Präsident von Hassel: Ich rufe die Frage 53 gen auf die Ausgaben zu leisten, die die Studenten
der Abgeordneten Frau Geisendörfer auf: ja schon in den ersten Wochen haben?
Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, damit die Auszah-
lung der zugestandenen Betrüge an die Empfangsberechtigten des
HonefrMdlschwiemögrfolt? Dr. von Dohnanyi, Parlamentarischer Staats-
Zur Beantwortung der Herr Parlamentarische sekretär beim Bundesminister für Bildung und Wis-
Staatssekretär. senschaft: Frau Geisendörfer, ich sehe eine Mög-
lichkeit, hier einzugreifen, und zwar im Zusammen-
hang mit der vorgeschlagenen Rücksprache zwischen
Dr. von Dohnanyi, Parlamentarischer Staats-
dem Bundesminister für Bildung und Wissenschaft
sekretär beim Bundesminister für Bildung und Wis-
und den Kultusministern am 28. November. Ob die
senschaft: Herr Präsident! Frau Geisendörfer, die
Möglichkeit besteht, die Auszahlung auf eine an-
für die Studienförderung nach dem Honnefer Modell
dere Institution — wenigstens vorab, wie Sie es
erforderlichen Mittel werden zur Hälfte vom Bund
eben angeregt haben -- zu verlagern, will ich gern
aufgebracht und den Ländern überwiesen. Diese
prüfen.
führen die Mittel zusammen mit dem auf sie ent-
fallenden Betrag an die Studentenwerke der Hoch-
schulen ab. Das Studentenwerk zahlt den Förde- Präsident von Hassel: Ich bedanke mich für
rungsbetrag monatlich im voraus an den empfangs- die Beantwortung, Herr Parlamentarischer Staats-
berechtigten Studenten. sekretär von Dohnanyi.
Die Bundesregierung und die Kultusminister der
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers
Länder sind immer bestrebt gewesen, eine schnelle
der Justiz auf. Die Fragen 21 und 22 des Abgeord-
Auszahlung der Beträge sicherzustellen. Soweit in
neten Dr. Riedl (München) werden schriftlich beant-
Einzelfällen Verzögerungen bei der Auszahlung von
wortet:
Förderungsbeträgen an Studenten eingetreten sind,
Wie beurteilt die Bundesregierung die Aussichten der deut-
war das offenbar durch technische und/oder per- schen Bewerbung um die Verlegung des Sitzes des Europäischen
sonelle Schwierigkeiten bei den jeweiligen Studen- Patentamtes nach München, und wann wird sich das Bundes-
kabinett mit diesem Fragenkomplex befassen, um ein konkretes
tenwerken verursacht worden. Bei Bekanntwerden deutsches Angebot abgeben zu können, das sowohl die Errich-
tung des Dienstgebäudes mit den erforderlichen Bediensteten-
solcher Einzelfälle haben sich Bund und Länder je- wohnungen wie den Neubau einer internationalen Schule in
weils unverzüglich um eine sofortige Behebung der München umfaßt?

Schwierigkeiten bemüht. Welche Schritte gedenkt die Bundesregierung zu tun, um nach


Vorliegen eines solchen Angebots diesem trotz der anderweitigen
Bewerbungen zum Erfolg zu verhelfen?
Im übrigen wird der Bundesminister für Bildung
und Wissenschaft auf Grund der hier gegebenen An- Die Antwort des Bundesministers Jahn vom,,
regung das Thema bei der nächsten Konferenz der 11. November 1969 lautet:
Kultusminister am 28. November noch einmal zur 1. Die Bundesregierung beurteilt die deutsche Bewerbung um
Sprache bringen. den Sitz des Europäischen Patentamtes für München als
aussichtsreich. Außer der Bundesrepublik Deutschland haben
sich zwar bisher auch die Niederlande und Luxemburg um
Präsident von Hassel: Zu einer Zusatzfrage den Sitz des Europäischen Patentamts beworben. Die Bundes-
regierung ist jedoch der Auffassung, daß München in jeder
Frau Abgeordnete Geisendörfer. Hinsicht die besten Voraussetzungen für die Errichtung des
Europäischen Patentamts bietet.
Die Bundesregierung hat bereits am 3. Juli 1963 beschlossen,
Frau Geisendörfer (CDU/CSU) : Herr Staats- sich um den Sitz des Europäischen Patentamtes zu bewerben
und die dafür erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Auf
sekretär, ist Ihnen bekannt, daß gerade bei Erst- Grund dieses Beschlusses sind im Zusammenwirken mit allen
beteiligten Stellen, auch des Freistaats Bayern und der Stadt
semestern eine verhältnismäßig lange Frist — und München, bereits umfangreiche vorbereitende Maßnahmen ein-
geleitet worden. Das Bundeskabinett wird sich in Kürze er-
zwar nicht nur in Ausnahmefällen — verstreicht, neut mit dieser Frage befassen, um schon mit Rücksicht auf
bis die Auszahlung auch der Vorauszahlung, von die Erfordernisse der mittelfristigen Finanzplanung die not-
wendigen Entscheidungen im einzelnen zu treffen. Die Bun-
der Sie sprachen, erfolgen kann und daß das manch- desregierung ist sich bewußt, daß zu diesen Einzelfragen nicht
nur die Errichtung des Dienstgebäudes des Europäischen
mal bis in den Januar hinein dauert? Patentamts, sondern auch die Unterbringung seiner Bedien-
steten und die schulische Betreuung ihrer Kinder gehört.
2. Die Bundesregierung wird alle geeigneten Maßnahmen tref-
Dr. von Dohnanyi, Parlamentarischer Staats- fen, um der deutschen Bewerbung zum Erfolg zu verhelfen.
sekretär beim Bundesminister für Bildung und Wis- Sie begrüßt es dankbar, daß der Freistaat Bayern und die
Stadt München ihr jede mögliche Unterstützung zugesagt ha-
senschaft: Frau Geisendörfer, diese Tatsache ist be- ben. Sie hält jedoch den Zeitpunkt noch nicht für gekommen,
Einzelheiten öffentlich mitzuteilen. Mit einer Entscheidung
kannt. Dafür gibt es natürlich mehrere Gründe. Ein- über den Sitz des künftigen Europäischen Patentamts dürfte
mal bereitet zu Beginn die Feststellung von Wohn- kaum vor dem Frühjahr 1971 zu rechnen sein.
ort und dergleichen mehr Schwierigkeiten. Zum an-
Ich rufe Frage 23 des Abgeordneten Burger auf:
deren mag das auch eine Frage der Organisation
Ist der Bundesregierung bekannt, daß bei Gewährung von Dar-
in den Studentenwerken sein. lehen aus Bundesmitteln für die Erstellung von Rehabilitations-
einrichtungen durch die geforderte dingliche Sicherung ohne Ver-
merk über Gebührenbefreiung für die Eintragung im Grundbuch
Präsident von Hassel: Zu einer zweiten Zu- insoweit eine erhebliche Störung der Finanzierung und des orga-
nischen Ablaufs eintritt, als der Träger der Einrichtungen ge-
satzfrage Frau Abgeordnete Geisendörfer. zwungen ist, für jedes einzelne der bis zu zehn meist öffentlichen
294 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969

Präsident von Hassel


Darlehen die Gebührenbefreiung der in der Regel fünfstelligen
Kosten beim zuständigen Landesjustizministerium zu beantragen?
Präsident von Hassel: Das war ein kunstvol-
ler, sehr langer Satz. — Zur Beantwortung der Herr
Der Abgeordnete ist im Saal. Zur Beantwortung Minister.
Herr Bundesminister Jahn.
Jahn, Bundesminister der Justiz: Herr Kollege,
Jahn, Bundesminister der Justiz: Der Bundes- Ihre Frage beginnt mit einer Annahme, die ich hier
regierung sind erhebliche Störungen im Finanzie- nicht ohne weiteres bestätigen kann. Aber ich habe
rungsablauf für Rehabilitationseinrichtungen nicht eben gesagt, ich bin selbstverständlich gerne bereit,
bekanntgeworden. Nach den Bundesrichtlinien 1953 das nachzuprüfen, wenn Sie entsprechende Hinweise
zu § 64 a der Reichshaushaltsordnung ist vor einer geben können.
Auszahlung von Bundesmitteln grundsätzlich die
dingliche Sicherung im Grundbuch erforderlich. Bei Burger (CDU/CSU) : Das wird geschehen. Ich
der Auszahlung von Mitteln für Rehabilitationsein- danke Ihnen, Herr Minister.
richtungen begnügt sich die Bundesregierung häufig
mit einer nachträglichen Sicherung, um Verzögerun-
gen der Baumaßnahmen zu vermeiden. Wenn andere Präsident von Hassel: Ich rufe die Frage 24
des Abgeordneten Burger auf:
öffentlich-rechtliche oder private Geldgeber die Aus-
Ist die Bundesregierung bereit, da jeder der zahlreichen An-
zahlung allerdings von der vollzogenen Eintragung träge auf Gebührenbefreiung unnötige Zeit beansprucht und die
abhängig machen, kann es zu Verzögerungen kom- Auszahlung der Gelder um Wochen verzögert, die Gebühren-
befreiung, wie beim sozialen Wohnungsbau, im Bescheid auszu-
men, insbesondere dann, wenn dem Eintragungsver- sprechen und das gleiche bei den anderen öffentlich-rechtlichen
Darlehnsgebern zu empfehlen, oder, wenn dies nicht möglich ist,
fahren ein besonderes Gebührenerlaßverfahren vor- die rechtliche Voraussetzung hierfür zu schaffen oder anzuregen?
ausgeht.
Zur Beantwortung der Herr Bundesminister Jahn.
Präsident von Hassel: Zu einer Zusatzfrage
der Abgeordnete Burger. Jahn, Bundesminister der Justiz: Ein Ausspruch
über Gebührenbefreiung oder das Vorliegen der
Voraussetzungen der Gebührenbefreiung im Bewil-
Burger (CDU/CSU) : Herr Bundesminister, wären ligungsbescheid der Bundesregierung würde ohne
Sie bereit, einmal bei einem praktischen Fall die rechtliche Wirkung sein, da über die Gebühren-
Richtigkeit Ihrer Ausführungen zu überprüfen, ins- befreiung oder einen Erlaß von Gebühren die von
besondere auch vor dem Hintergrund der bekannten den Ländern jeweils bestimmten Stellen zu entschei-
Tatsache, daß in den letzten Jahren von den Bun- den haben. Wenn unmittelbare Wirkungen mit dem
desmitteln lediglich ein Drittel abgerufen worden Ausspruch verbunden werden sollen, würde es also
ist, auch wegen der Kompliziertheit des Verfahrens eines Gesetzes bedürfen. Ein Bundesgesetz scheint
in der Planung und Finanzierung von Rehabilita- mir zur Zeit aber nicht erforderlich zu sein, da die
tionseinrichtungen? Landesjustizverwaltungen unter Mitwirkung meines
Hauses in ihrem Modellentwurf für ihre landes-
Jahn, Bundesminister der Justiz: Herr Kollege, rechtlichen Gebührenvorschriften eine Vorschrift er-
ich kann nur dankbar dafür sein, wenn Sie mir arbeitet haben, nach der Körperschaften, Vereini-
durch Vorlage von entsprechendem Tatsachenmate- gungen und Stiftungen, die gemeinnützigen oder
rial helfen, diesen Fragen weiter nachzugehen. mildtätigen Zwecken im Sinne des Steuerrechts
dienen, generell von der Zahlung der Gebühren der
Präsident von Hassel: Eine weitere Zusatz- Kostenordnung befreit sind, soweit die Angelegen-
frage des Herrn Abgeordneten Burger. heit nicht einen steuerpflichtigen wirtschaftlichen
Geschäftsbetrieb betrifft.

Burger (CDU/CSU) : Ist die Bundesregierung Unter diese Vorschrift wird die große Masse der
grundsätzlich bereit, einmal die Ursachen der Ma- Rehabilitationseinrichtungen fallen. In Nordrhein-
laise zu durchforsten, die in den von Ihnen angezeig- Westfalen ist ein solches Gebührenbefreiungsgesetz
ten Bundesrichtlinien zu § 64 a der Haushaltsord- schon erlassen, in Baden-Württemberg wird es vor-
nung liegen, die aus dem Jahre 1953 stammen, aber bereitet. Ich hoffe, daß die übrigen Länder bald fol-
doch Regelungen zum Inhalt haben, die man ohne gen werden, soweit sie nicht schon ausreichende
weiteres im 19. Jahrhundert hätte praktizieren kön- Bestimmungen haben.
nen und die in der heutigen modernen Zeit mit
ihrem ungeheuren Tempo und bei den Schwierig- Präsident von Hassel: Keine Zusatzfragen. —
keiten der Planung und Finanzierung eine Handlich- Die Frage 25 des Abgeordneten Zebisch wird auf
keit in der Praxis überhaupt nicht ermöglichen? Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet:
Sieht die Bundesregierung eine Möglichkeit, schon vor der
Reform der sog. Demonstrationsdelikte im Rahmen der Straf-
Präsident von Hassel: Herr Kollege, die Frage rechtsreform eine Amnestiegesetzgebung für die Demonstrations-
soll kurz sein! vergehen von 1967/68 vorzubereiten, um damit angesichts der
Fülle von unterschiedlichen Entscheidungen der erkennenden
Gerichte zum Rechtsfrieden beizutragen und die Ausnahmesitua-
tion zu würdigen, die durch das Übergreifen der in allen Staaten
Burger (CDU/CSU) : Es war aber ein Satz; ich infolge einer verschleppten Hochschulreform festzustellenden
Studentenrevolte auf die Bundesrepublik Deutschland entstanden
habe mich sehr angestrengt, Herr Präsident. war?
(Heiterkeit.) Die Antwort des Bundesministers Jahn vom
Aber ich gelobe Besserung. 11. November 1969 lautet:
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969 295
Präsident von Hassel
Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß eine Reform der
Strafbestimmungen zum Schutze des Gemeinschaftsfriedens ein
Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, Herr
entscheidender Beitrag zur Rechtsklarheit und zum Rechtsfrieden Abgeordneter Flämig.
sein wird. Sie ist deshalb der Ansicht, daß diese Reform von
den gesetzgebenden Körperschaften vordringlich in Angriff ge-
nommen werden sollte, Die Bundesregierung hat alles in die
Wege geleitet, um beschleunigt die Voraussetzungen für eine er- Flämig (SPD): Herr Staatssekretär, gibt es in
folgreiche Lösung dieser brennenden Problematik zu schaffen. Ihrem Hause bereits Erkenntnisse darüber, ob der
Im Zusammenhang mit der Reform des allseits als unbefriedi- Konsum von Haschisch und Marihuana für junge
gend und als verbesserungsbedürftig erkannten bisherigen
Rechtszustandes wird sich dann auch die Erwägung aufdrängen, Menschen wirklich wesentlich unschädlicher ist als
wie die bis dahin begangenen Straftaten zu behandeln sind. In
vergleichbarer Lage hat der Gesetzgeber Straffreiheit gewährt, die Anwendung von Opiaten und anderen Rausch-
nämlich bei der Reform des Staatsschutz-Strafrechts und im
Ersten Strafrechtsreformgesetz.
giften wie Kokain, Heroin, LSD etc. oder gar, wie
Eine Amnestie vor der Reform der Strafvorschriften wirft
kürzlich behauptet worden ist, unschädlicher als
viele Fragen auf, insbesondere rechtliche Probleme von großer Nikotin und Alkohol?
Schwierigkeit und Bedeutung. Rechtlich ginge es nicht nur um
die Frage, wie man eine solche Amnestie überhaupt sinnvoll
abgrenzen könnte, sondern unter anderem auch um die proble-
matischen Auswirkungen auf die Rechtspflege und darum, ob Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär beim
nicht einer solchen Amnestie sehr bald — nämlich nach der
Reform — eine weitere folgen müßte. Dies sind Probleme, die
Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit:
gerade unter dem in der Anfrage mit Recht hervorgehobenen Es gibt in unserem Hause, genau wie an anderer
Gesichtspunkt des Rechtsfriedens Sorge bereiten müßten.
Stelle, noch nicht ausreichende Erkenntnisse, um
diese Frage mit Ja oder Nein beantworten zu kön-
Damit sind wir am Ende dieses Bereiches. Ich
nen. Diese Frage ist in der wissenschaftlichen Welt
danke Ihnen, Herr Bundesminister.
noch in der Diskussion und hat jetzt zu unterschied-
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes- lichen Ergebnissen geführt. Aber gerade auch die
ministers für Jugend, Familie und Gesundheit. Ich führenden amerikanischen Wissenschaftler haben
rufe die Frage 35 des Abgeordneten Flämig auf: gesagt, daß sie erst Mitte nächsten Jahres die Ergeb-
Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um den Verkauf nisse ihrer Untersuchungen über dieses Thema wer-
von Rauschgift, insbesondere auch an Jugendliche und Schiller,
der in jüngster Zeit besorgniserregend zugenommen hat, zu un-
den vorlegen können. Auch wir verfügen nicht über
terbinden? bessere Erkenntnisse in dieser Hinsicht.

Ist der Abgeordnete im Saal? — Er ist im Saal.


Zur Beantwortung der Parlamentarische Staatssekre- Präsident von Hassel: Eine zweite Zusatzfrage,
Herr Abgeordneter Flämig.
tär Westphal.

Flämig (SPD) : Herr Staatssekretär, halten Sie es


Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär beim für möglich, daß man auch die Kultusministerkonfe-
Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit: renz mit der Frage des zunehmenden Rauschgift-
Herr Kollege Flämig, gesetzliche und kriminalpoli- konsums bei Schülern und Jugendlichen und ent-
zeiliche Maßnahmen können nur zu einem geringen sprechender vernünftiger Aufklärungsaktionen hin-
Teil den überwiegend sozialpsychologisch begrün- sichtlich der möglichen Suchtgefahren befaßt?
deten Komplex der Suchtgefahren erfassen. Um dem
Problem der mißbräuchlichen Verwendung von Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär beim
Suchtstoffen besser zu begegnen, wollen wir eine Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit:
kleine Kommission von Sachverständigen bitten, an Ich halte dies für möglich und meine, daß es dar-
Hand vorliegender Erfahrungsberichte aus ande- über hinaus auch andere, in den Ländern zuständige
ren Ländern und an Hand ihrer eigenen Stellung- Ministerien gibt, die wir zur Zusammenarbeit bitten
nahme Vorschläge für erfolgversprechende Maß- sollten. Es hat schon Gespräche gegeben, die in diese
nahmen zu prüfen und zu erarbeiten. Richtung zielen.
Wir halten es außerdem für notwendig, einen
Forschungsauftrag, der die Motivationen aufdecken Präsident von Hassel: Zu einer Zusatzfrage
soll, die zu gewohnheitsmäßiger Anwendung von Herr Abgeordneter Dr. Meinecke.
Suchtstoffen bei Jugendlichen führen, zu erteilen,
und sind bemüht, dazu die Voraussetzungen zu Dr. Meinecke (Hamburg) (SPD) : Herr Staats-
schaffen. sekretär, Sie sprachen von den Erfahrungen in an-
deren Ländern. Ist die Bundesregierung geneigt, im
An Maßnahmen im Rahmen der Gesetzgebung Rahmen der zu überlegenden Maßnahmen insbeson-
sind vorgesehen: Einführung von Sonderrezepten dere die von Präsident Nixon für die USA vorge-
zur besseren Überwachung der therapeutisch ver- schlagenen 10 spezifischen Schritte, die von inner-
wendeten Suchtstoffe, Verschärfung der Strafvor- staatlichen Maßnahmen his zur Zusammenarbeit mit
schriften gegen den illegalen Handel mit Suchtstof- anderen Staaten reichen, zu prüfen und eventuell
fen, Erlaß von Vorschriften über die Sicherung von einiges davon zu übernehmen?
Suchtstoffvorräten bei Herstellern und Großhänd-
lern.
Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär beim
Die illegale Weitergabe von Suchtstoffen an Ju- Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit:
gendliche beruht in erster Linie auf dem Schmuggel Herr Kollege Dr. Meinecke, wir sind geneigt, dies
von Haschisch, also Cannabis, in die Bundesrepublik. zu tun. Wir sehen Erfahrungsberichten, die vor allen
Das Bundeskriminalamt und die örtlichen Kriminal- Dingen in Schweden über die Entwicklungen dort er-
polizeidienststellen versuchen mit allen ihren Mit- stellt worden sind, und amerikanischen Unterlagen
teln, diesen Schmuggel zu unterbinden. entgegen, um sie hier auswerten zu können und,
296 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969
Parlamentarischer Staatssekretär Westphal
von da ausgehend, auch in der von mir vorhin ge- entwicklung, unter anderem die Klärung der finan-
rade genannten Kommission Vorschläge für unser ziellen Verpflichtungen und der Rechtsform, noch ab.
eigenes Handeln entwickeln zu können. Einige Regierungen haben bisher noch keine Stel-
lungnahme abgegeben. Die Bundesregierung hofft,
Präsident von Hassel: Herr Kollege Dr. daß es ihr gelingt, die Vorbehalte der französischen
Meinecke, ich lasse keine weiteren Zusatzfragen zu. Regierung auszuräumen, zumal das bestehende, be-
Wir haben sehr viele Fragen auf der Tagesordnung. deutende deutsch-französische Jugendwerk in seiner
Mit Rücksicht auf die anderen Fragesteller müssen Aufgabe durch ein Europäisches Jugendwerk nicht
wir uns beschränken. geschmälert würde und in sich im Interesse der Ver-
ständigung der Jugend beider Länder weiterentwik-
Ich rufe die Frage 36 der Abgeordneten Frau Klee kelt werden soll.
auf:
Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung zu neuen
Initiativen zur Schaffung eines Europäischen Jugendwerks? Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, Frau
Abgeordnete Klee.
Zur Beantwortung der Herr Parlamentarische
Staatssekretär Westphal.
Frau Klee (CDU/CSU) : Welche Möglichkeiten
sieht die Bundesregierung für eine Beteiligung der
Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär beim osteuropäischen Jugend, wie es in der Regierungs-
Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit:
- erklärung heißt?
Frau Kollegin Klee, der Ausschuß für außerschuli-
sche Bildung des Europarats befaßte sich am 5. und
7. November 1969, also vor sehr kurzer Zeit, mit
Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär beim
Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit:
dem offiziellen deutschen Vorschlag für ein Euro-
Frau Kollegin Klee, es kommt im Hinblick auf die
päisches Jugendwerk. Er beschloß, zur Ausarbeitung
Beteiligung der Jugend aus Ost und West gerade
eines detaillierten Plans einen Arbeitsausschuß aus
bei einer Vorstellung, wie wir sie vom Europäischen
Vertretern der Mitgliedstaaten zu bilden. Die Bun-
Jugendwerk haben, vornehmlich auf das Dabeisein
desregierung — also wir -- wurde gebeten, den Ar-
und Mittun an. Es kommt erst in zweiter Linie
beitsausschuß so bald wie möglich einzuberufen,
darauf an, an den Institutionen, die entstehen wer-
damit das Ergebnis dem Rat für kulturelle Zusam-
den, beteiligt zu sein. Aber unsere Wünsche gehen
menarbeit auf seiner Sitzung im Februar 1970 zur
dahin, auch die Institutionen, die für die Erfüllung
Prüfung vorgelegt werden kann. Die Bundesregie-
der Aufgaben eines Europäischen Jugendwerks ge-
rung wird tatkräftig bemüht sein, auf diesem Wege
schaffen werden, so offen zu gestalten, daß ost-
einen gemeinsamen Plan für ein Europäisches Ju-
europäische Staaten genauso wie westeuropäische
gendwerk zu verwirklichen.
Staaten durch ihre Organisationen oder ihre Regie-
Unabhängig davon wird sie durch unmittelbare rungen darin mitwirken können.
Besprechungen mit anderen Regierungen Möglich-
keiten zur Verwirklichung suchen. Da es seit kur- Präsident von Hassel: Damit sind wir am
zem zum Thema Europäisches Jugendwerk eine Ende dieses Geschäftsbereichs. Ich danke Ihnen, Herr
neue Denkschrift des Deutschen Bundesjugendrings Parlamentarischer Staatssekretär, für die Beantwor-
gibt, die auch dem Herrn Bundespräsidenten vorge- tung.
legt wurde, wird die Bundesregierung eingedenk
ihrer Absicht, den Dialog mit der jungen Genera- Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-
tion zu führen, mit den Repräsentanten der Jugend- ministers für Verkehr und für das Post- und Fern-
verbände den Inhalt der Denkschrift erörtern, um meldewesen. Ich rufe die Frage 38 des Abgeord-
daraus weitere Initiativen zur Durchsetzung der neten Dr. Schmitt-Vockenhausen auf. — Der Abge-
Idee des Europäischen Jugendwerks abzuleiten. ordnete ist nicht im Saal. Die Frage wird schriftlich
beantwortet.
Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage wird
Ich rufe die Frage 39 des Abgeordneten Dr. Apel
nicht gewünscht. Ich rufe die Frage 37 der Abge-
auf:
ordneten Frau Klee auf: Ist der Bundesregierung bekannt, daß es auf den Bundesauto-
Inwieweit rechnet die Bundesregierung mit einer Beteiligung bahnen — auch den mit drei Fahrspuren — immer mehr üblich
der anderen europäischen Länder an einem Europäischen Jugend- wird, daß die Fahrer von Personenkraftwagen anhaltend die
werk? äußerste Überholspur befahren und damit den vorhandenen
Verkehrsraum und den möglichen Fahrzeugfluß unnötig ein-
schränken?
Zur Beantwortung der Herr Parlamentarische
Staatssekretär. Zur Beantwortung Herr Bundesminister Leber.

Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär beim Leber, Bundesminister für Verkehr und für das
Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit: Post- und Fernmeldewesen: Herr Präsident, es ist
Ein großer Teil der Mitgliedstaaten des Europarates, der Bundesregierung bekannt, daß auf Bundesauto-
Frau Kollegin Klee, steht positiv zu einem Euro- bahnen mit drei Fahrspuren häufig die linke Fahr-
päischen Jugendwerk. Bisher haben allerdings erst spur zu stark belastet ist. Wie in der geltenden
wenige Staaten ihre Bereitschaft zur wirklichen Straßenverkehrsordnung so sieht auch der gegen-
Mitwirkung erklärt, nämlich die Niederlande, Bel- wärtige Referentenentwurf der neuen Straßenver-
gien, Dänemark, Norwegen, Zypern und Malta. An- kehrsordnung auch bei Autobahnen mit drei Fahr-
dere, darunter Großbritannien, warten die Weiter streifen das Rechtsfahrgebot vor. Die Verkehrspoli-
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969 297
Bundesminister Leber
zei der Länder ist angewiesen, bei Verstößen da- der Einhaltung des § 1 der Straßenverkehrsordnung:
gegen einzuschreiten. Jeder hat sich so zu verhalten, daß er den anderen
nicht mehr als den Umständen nach erforderlich be-
Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, Herr hindert oder belästigt.
Abgeordneter Apel.
Präsident von Hassel: Zu einer Zusatzfrage
Dr. Apel (SPD) : Herr Minister, sind Sie nicht Herr Abgeordneter Flämig.
auch der Meinung, daß die bisherigen Versuche der
Verkehrspolizei, das Rechtsfahrgebot durchzusetzen, Flämig (SPD) : Herr Minister, wird das Links-
weitgehend erfolglos waren? fahren heute nicht auch dadurch hervorgerufen, daß
insbesondere bei alten Autobahnstrecken die rechte
Leber, Bundesminister für Verkehr und für das Fahrspur oft die Gestalt eines Waschbretts hat?
Post- und Fernmeldewesen: Ich finde, ja. Das Rechts-
fahrgebot wird dann, wenn drei Fahrspuren da sind, Leber, Bundesminister für Verkehr und für das
zu häufig umgangen. Deshalb habe ich von einer Post- und Fernmeldewesen: Das mag sicher, wenn
zu starken Belastung der linken Fahrspur gespro- Sie eine Begründung suchen, für manchen auch ein
chen. Ich bin allerdings auch der Auffassung, daß Anlaß sein, mit dem langsameren Fahrzeug links
das ein Gewöhnungsprozeß ist, mit dem wir - es zu zu fahren.
tun haben; denn die drei Fahrspuren sind noch nicht
überall vorhanden.
Präsident von Hassel: Eine letzte Zusatzfrage,
Herr Abgeordneter von Bockelberg.
Präsident von Hassel: Zu einer zweiten Zu-
satzfrage der Abgeordnete Dr. Apel.
von Bockelberg (CDU/CSU) : Herr Minister,
sehen Sie einen Grund für das Linksfahren nicht
Dr. Apel (SPD) : Herr Minister, können Sie mir darin, daß sich die linksfahrenden Pkw-Kolonnen
zustimmen, daß das gleiche Problem sich auch bei nicht für disziplinierte Fahrer zum Überholvorgang
Bundesautobahnen mit zwei Fahrspuren stellt, so öffnen wollen?
daß von einer verstärkten Aktion der Polizei weder
dort noch bei den Autobahnen mit drei Spuren
Leber, Bundesminister für Verkehr und für das
durchgreifende Verbesserungen zu erwarten sind?
Post- und Fernmeldewesen: Das sind alles Ver-
mutungen, die man anstellen kann. Hier geht es
Leber, Bundesminister für Verkehr und für das zunächst einmal um das geltende Recht und um die
Post- und Fernmeldewesen: Ich habe das Gefühl, Fahrdisziplin. Ich vertraue darauf, daß wir auf dem
daß im vergangenen Sommer die Fahrdisziplin bes- Wege über eine permanente Bemühung — dazu ge-
ser geworden ist. Ich habe die Hoffnung, daß sich hört natürlich Beharrlichkeit und Geduld — das er-
der Autofahrer mehr und mehr daran gewöhnt, daß reichen, was man unter Umständen auch über Vor-
man rechts fährt und daß das schnellere Fahrzeug schriften nicht erzwingen kann.
die linke Spur zum Überholen zur Verfügung be-
hält. An dem von Ihnen geschilderten Zustand, Herr
Kollege, würden wir auch nichts ändern, wenn wir Präsident von Hassel: Ich rufe die Frage 40
des Abgeordneten Dr. Apel auf:
das Linksfahrgebot einführten und dann die rechte
Fahrspur zur Überholspur machten. Dann würde Ist die Bundesregierung bereit, daraus bei der Vorlage der
neuen Straßenverkehrs-Ordnung die Konsequenzen zu ziehen,
das Ganze sich nur im umgekehrten Verhältnis voll- indem sie unter strikter Beachtung des Grundsatzes „keep your
ziehen. Das ist nicht eine Frage von links oder lane " (bleib in deiner Fahrspur) dem die Fahrspur wechselnden
Fahrzeug die Hauptverantwortung für die Verkehrssicherheit
rechts, sondern von schnell oder langsam oder von auferlegt und gleichzeilig Rechtsüberholen sanktioniert?
Schnellfahrenwollen und Nur-langsamer-können.
Zur Beantwortung Herr Bundesminister Leber.

Präsident von Hassel: Zu einer Zusatzfrage, Leber, Bundesminister für Verkehr und für das
Herr Abgeordneter Mertes.
Post- und Fernmeldewesen: Nach dem Entwurf der
neuen Straßenverkehrs-Ordnung darf vom Rechts-
Mertes (FDP): Herr Minister, wird das dauernde fahrgebot — z. B. auf der Autobahn — dann abge-
Linksfahren nicht oft dadurch provoziert, daß Last- wichen werden, wenn die Verkehrsdichte das recht-
züge, die kaum eine unterschiedliche Geschwindig fertigt. Haben sich in dieser Situation Reihen von
keit haben, über Kilometer hin versuchen, sich ge- Fahrzeugen auf allen Fahrstreifen für eine Richtung
genseitig zu überholen? gebildet, so darf künftig auch die rechte Reihe
schneller fahren als die linke, also überholen. Wei-
Leber, Bundesminister für Verkehr und für das tergehend das Rechtsüberholen zuzulassen, ist nicht
Post- und Fernmeldewesen: Weil das stellenweise beabsichtigt; dies ist auch auf internationaler euro-
zu erheblichen Verkehrsbehinderungen führt, sind päischer Ebene künftig nicht vorgesehen. Der Fahr-
an besonderen Stellen — vor allen Dingen wegen streifenwechsel von links nach rechts oder von
der Geländeverhältnisse der Autobahn — Überhol- rechts nach links wird so geregelt werden, daß die
verbote für Lastwagen eingeführt worden. Im übri- Verantwortung ausschließlich bei dem Kraftfahrer
gen ist das eine Frage der Disziplin und eine Frage liegt, der den Fahrstreifen wechselt. Dies ist künf-
298 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969

Bundesminister Leber
tiges Recht; ich muß dies hinzufügen, damit meine zur Aufstellung des neuen Ausbauplanes hat sich der
Mitteilung hier nicht schon falsch interpretiert wird. Bedarf einer zweibahnigen Bundesfernstraße zwi-
schen Weiden und Hof zunächst nicht ergeben. Die
Präsident von Hassel: Keine Zusatzfrage. Ich Untersuchungen dauern jedoch noch an.
rufe die Frage 41 des Abgeordneten Josten auf:
Welchen Zeitplan hat die Bundesregierung zum Bau der vor- Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage des
gesehenen neuen Rheinbrücken? Herrn Abgeordneten Weigl.
Zur Beantwortung, Herr Bundesminister. •
Weigl (CDU/CSU) : Herr Bundesminister, sind
Leber, Bundesminister für Verkehr und für das Sie bereit, für eine Vorverlegung des Autobahnbaus
Post- und Fernmeldewesen: Neben den 33 vorhan- Weiden—Hof einzutreten, damit die Zonenrandland-
denen und den 6 im Bau befindlichen Straßenbrücken kreise in Ostbayern endlich auch einen Anschluß an
über den Rhein sind folgende 14 Rheinbrücken ge- das große Verkehrsnetz bekommen?
plant: eine Brücke bei Duisburg für den Emscher-
Schnellweg, eine Brücke bei Krefeld im Zuge der Leber, Bundesminister für Verkehr und für das
Bundesstraße 288, eine Brücke im Zuge der „Dü-Bo- Post- und Fernmeldewesen: Herr Kollege Weigl, es
Do", der Autobahn von Düsseldorf über Bochum geht nicht um den Anschluß des Zonenrandgebietes
nach Dortmund am Ulrichsring in Düsseldorf, eine in Ostbayern, sondern es geht darum, ob dort eine
Brücke in Flehe, südlich von Düsseldorf, eine Rhein- Autobahn gebaut werden soll. Die Bundesstraße 15
brücke bei Sinzig und Remagen, eine Rheinbrücke wird im übrigen so ausgebaut, daß alle verkehr-
bei Neuwied, eine Brücke bei St. Goarshausen, fer- lichen Erfordernisse nach dem gegenwärtigen und
ner Rheinbrücken bei Bingen, Oppenheim/Gerns- dem vorausschaubaren Verkehrsbedarf durch sie
heim, bei Altrip, Speyer-Nord, Roppenheim, Baden- voll erfüllt werden. Aber wir haben bei den Pro-
Baden und Ottenheim-Gerstheim. Das sind 14 Brük- gnosen, die für diese Trasse, wie man sie sich den-
ken, die in der Planung noch vorgesehen sind. ' kann, angestellt worden sind, einen täglichen
Die Rheinbrücken bei Bingen, Altrip und Speyer- Verkehr von 6- bis 8000 Kraftfahrzeugen für das
Nord sollen im 1., die Rheinbrücke Neuwied im 1. Jahr 1990 ermittelt. Dies rechtfertigt gegenwärtig
oder 2. Fünfjahresplan verwirklicht werden. Was nicht die Entscheidung für den Bau einer Autobahn.
die Abwicklung des Neubaues der übrigen von mir Im übrigen wird die Bundesstraße 15 von Weiden
soeben genannten Brücken betrifft, so kann beim aus nach Norden über eine verhältnismäßig lange
derzeitigen Stand des 2. Ausbauplanes noch nichts Strecke als Autobahn gebaut. Es geht dann darum,
Konkreteres über den zeitlichen Ablauf der Bautätig- künftig am jeweiligen Stand des vorausschaubaren
keit gesagt werden. Hierfür müssen zunächst die Verkehrsaufkommens die Entscheidung zu prüfen,
Ergebnisse der zur Zeit noch laufenden Verhandlun- ob es nur eine gut ausgebaute Bundesfernstraße ist
gen mit den jeweiligen Auftragsverwaltungen der oder ob das Verkehrsaufkommen uns anhält, daraus
Länder über die Dringlichkeitseinstufung der einzel- eine Autobahn zu machen.
nen Objekte abgewartet werden.
Präsident von Hassel: Eine zweite Zusatzfrage,
Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, der Herr Abgeordneter Weigl.
Abgeordnete Josten.
Weigl (CDU/CSU) : Herr Bundesminister, soll das
Josten (CDU/CSU) : Herr Minister, entsprechen Verkehrsaufkommen der alleinige und ausschlag-
Ihre jetzt genannten Zahlen den Vorstellungen, die gebende Faktor sein, oder würden Sie nicht auch
von Ihrem Hause bereits zur Zeit der letzten Regie- die Zonenrandlage dieses Gebietes und die Brücken-
rung vertreten wurden? funktion in die Tschechoslowakei hinein als maß-
gebende Gründe für einen Autobahnbau berück-
Leber, Bundesminister für Verkehr und für das sichtigen?
Post- und Fernmeldewesen: Die Zahlen, die ich ge-
nannt habe, entsprechen den Planungen des nächsten Leber, Bundesminister für Verkehr und für das
Ausbauplanes, der von 1971 bis 1985 durchgeführt Post- und Fernmeldewesen: Die Autobahn, die in die
wird, einschließlich der sechs Brücken, die jetzt in Tschechoslowakei hineinführt, ist im Bau begriffen.
Arbeit sind. Es sind 14 plus 6, also 20 Rheinbrücken Sie kommt von Nürnberg und wird bei Waidhaus
in Arbeit. hoffentlich einmal nach Prag weitergeführt werden.
Die Frage, die Sie hier stellen, ist nicht die einer
Präsident von Hassel: Ich rufe die Frage 42 Ost-West-Verbindung, sondern einer Süd-Nord-Ver-
des Abgeordneten Weigl auf: bindung im Zuge der Bundesstraße 15. Dafür ist
Bis wann kann mit dem Beginn des Autobahnbaues Weiden— ausschließlich das gegenwärtige und das künftige
Hof gerechnet werden?
Verkehrsaufkommen ausschlaggebend. Aus anderen
Ist der Abgeordnete im Saal? — Zur Beantwortung Gründen kann man Investitionsentscheidungen, die
Herr Bundesminister Leber. Milliardengröße haben, nicht treffen.

Leber, Bundesminister für Verkehr und für das Präsident von Hassel: Ich rufe Frage 43 des
Post- und Fernmeldewesen: Bei den Untersuchungen Abgeordneten Fellermaier auf:
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969 299
Präsident von Hassel
Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß die Ferien-
ordnung 1970, die von der Kultusministerkonferenz beschlossen
einmal mitten in die Woche legen. Bei rechtzeitiger
wurde, wieder zu wenig Rücksicht auf die Erfordernisse des Ankündigung wirkt das genausogut und positiv wie
Verkehrs nimmt, nachdem die drei großen Bundesländer Bayern,
Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen nahezu gleichzeitig am Wochenende.
mit den Sommerferien beginnen?
Ein Weiteres. Diese Ferienpläne müssen nicht nur
Zur Beantwortung der Herr Bundesminister. national abgestimmt werden, sondern wir haben
eine europäische Feriensituation. Hier bedarf es
Leber, Bundesminister für Verkehr und für das also auch der nachhaltigen Abstimmung der Ferien-
Post- und Fernmeldewesen: Ich beantworte die termine mit unseren Nachbarländern, mit denen
Frage mit Ja. Die Bundesregierung teilt Ihre Auffas- wir in dieser Frage sehr verzahnt sind. Ich darf hier
sung, Herr Kollege. Deshalb habe ich im Auftrag der nur an die skandinavischen Länder, die Deutschland
Bundesregierung den Herrn Ministerpräsidenten des zum Teil als Transitland betrachten, und an die
Landes Nordrhein-Westfalen gebeten, den Sommer- Beneluxländer erinnern.
ferienplan 1970 im Lande Nordrhein-Westfalen
möglichst auf den 2. Juli vorzuverlegen. Ich bin in Präsident von Hassel: Eine weitere Zusatz-
Ergänzung dessen, was ich soeben gesagt habe, in frage, Herr Abgeordneter Fellermaier.
der Lage, Ihnen mitzuteilen, daß im Land Nord-
rhein-Westfalen auf meine Bitte hin gestern der
Fellermaier (SPD) : Herr Minister, würden Sie
Beschluß gefaßt worden ist, den Ferientermin
- auf
mir zustimmen, wenn ich formuliere, daß nicht nur
den 17. Juli vorzuverlegen. Dies ist eine Vorver-
Bundesregierung und Bundestag, sondern auch die
legung um eine ganze Woche. Ich halte diesen Vor-
deutsche Öffentlichkeit erwarten, daß die Kultus-
schlag, auch wenn man alles abwägt und sich andere
ministerkonferenz endlich eine langfristige Lösung
günstige Möglichkeiten wie der 2. Juli angeboten
im Interesse der Verkehrsteilnehmer wie auch der
hätten, für eine sehr wirkungsvolle Entzerrung des
betroffenen Eltern und Schüler ausarbeitet?
Ferienverkehrs, den wir im Juli zu erwarten haben.

Leber, Bundesminister für Verkehr und für das


Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, Herr Post- und Fernmeldewesen: Sie haben recht, Herr
Abgeordneter Fellermaier. Abgeordneter. Die deutsche Öffentlichkeit erwartet
das. Es ist aber sehr mühevoll, mit den Kultusmini-
Fellermaier (SPD) : Herr Minister, würden Sie stern darüber einig zu werden. Ich selbst habe das
mir zustimmen, daß es sicher auch begrüßenswert ohne Erfolg versucht und darf bei der Gelegenheit
wäre, wenn die großen Länder Baden-Württemberg auf folgendes hinweisen. Die Mitteilung, die ich
und Bayern, in denen die Ferien am gleichen Tage heute in einer Bonner Zeitung gelesen habe, ist nicht
beginnen, ebenfalls den Ferienbeginn auseinander richtig. Der letzte Ferientermin ist nicht in meiner
zögen, weil ihr Verkehr über eine einzige Autobahn Anwesenheit und mit meiner Zustimmung, sondern
gen Süden rollt, nämlich die Autobahn Karlsruhe- in meiner Abwesenheit und gegen meinen Wider-
Stuttgart—Ulm--München? spruch beschlossen worden.
Ich bin sehr froh, daß ich Ihnen eine hoffnungs-
Leber, Bundesminister für- Verkehr und für das volle Mitteilung machen kann, die mir der Herr
Post- und Fernmeldewesen: Ich bin Ihrer Auffas- Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen
sung, Herr Kollege, und bin auch der Meinung, daß gestrnabdmTlfogechta.Ermi
einige Länder — ich will mich hier gar nicht auf gesagt, daß er sich bemühen wird, die Ferienrege-
bestimmte Länder einlassen, um nicht Streit auszu- lung künftig durch die Ministerpräsidenten vor-
lösen — gut daran täten, auch einmal etwas nachzu- nehmen zu lassen und sie nicht mehr in dem Zustän-
geben und nicht darauf zu bestehen, daß ihre Ferien digkeitsbereich der Kultusminister zu belassen.
immer im Juli beginnen. Wir werden nur dann eine
(Beifall bei der SPD.)
sachgerechte Ferienlösung haben, wenn wir dabei
folgende Probleme ins Auge fassen:
Präsident von Hassel: Meine Damen und Her-
1. eine Erweiterung des Zeitraumes, d. h. einen frü- ren, ich glaube, daß Sie mir zugeben, daß diese
heren Beginn der Ferien, nach Möglichkeit ab Mitte Fragen ausreichend beantwortet worden sind. Die
Juni, und das Ende der Ferien etwa um Mitte Sep- weiteren drei Fragesteller lasse ich nicht zu; wir
tember; kommen sonst mit unseren Fragen nicht von der
2. daß große Länder dabei überlegen, ob es nicht Stelle.
möglich ist, statt das ganze Land an einem Tage in
die Ferien zu schicken, ein solches Land unter Um- Die nächste ist die Frage 44 des Abgeordneten.
ständen in zwei Ferienbereiche aufzuteilen — nach Fellermaier:
meiner Auffassung ist das möglich, ohne daß den Welche Erfahrungen brachte das zeitweilige Verkehrsverbol
für LKWs auf bestimmten Bundesautobahnen und Bundesfern-
Dingen Gewalt angetan wird —; straßen an einzelnen Ferientagen des Jahres 1969?

3. bedarf der Ferienplan als solcher einer guten Zur Beantwortung der Herr Bundesminister.
Abstimmung, damit nach Möglichkeit keine Bünde-
lung von Ferienterminen vonstatten geht. Hier Leber, Bundesminister für Verkehr und für das
wehre ich mich dagegen, daß der Ferienbeginn Post- und Fernmeldewesen: Das LKW-Fahrverbot
immer mit dem Wochenende identisch sein muß. während der Hauptreisezeit dieses Jahres hat sich
Man kann ihn zum Zwecke der Verzahnung auch bewährt. Im Gegensatz zu den Vorjahren war der
300 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969

Bundesminister Leber
Verkehrsablauf auf den meisten Autobahnen flüs- über das öffentliche Fernsprechnetz um gebühren-
sig. Die statistische Auswertung der Unfallentwick- pflichtige Leistungen der Deutschen Bundespost. Es
lung durch das Statistische Bundesamt ist leider hat sich bisher noch niemand bereitgefunden, diese
noch nicht abgeschlossen. Nach den vorläufigen Un- Kosten anstelle der Fernsprechteilnehmer zu über-
fallzahlen aus sieben Bundesländern ist die Zahl nehmen.
der Unfälle auf dem gesamten Straßennetz an den Die Bundesregierung sieht gegenwärtig keine
fünf Wochenenden mit LKW-Fahrverbot gegenüber Möglichkeit, in absehbarer Zeit auf den Bundesstra-
der Vergleichszeit des Vorjahres um 7% leicht ange- ßen Notrufsäulen zur Verfügung zu stellen, weil die
stiegen. Dies ist der normale Trend aller Jahre. Die fernmeldetechnischen und betrieblichen Vorausset-
Zahl der bei diesen Verkehrsunfällen im ganzen zungen vorerst noch nicht gegeben sind und aus
Getöteten liegt jedoch um 13 % niedriger als im finanziellen Gründen zur Zeit auch nicht geschaffen
Vorjahr. Dies ist bei der erheblichen Zunahme des werden können.
Verkehrs ein beachtenswert positives Ergebnis.
Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, Herr
Präsident von Hassel: Keine Zusatzfrage. Abgeordneter Mertes.
Ich rufe die Frage 45 des Abgeordneten Mertes
auf: Mertes (FDP) : Herr Bundesminister, da die Bun-
Welche Stellungnahme gibt die Bundesregierung zu der Kritik
des Allgemeinen Deutschen Automobilclubs an der -mangelhaften despost gerade aus dem Fernsprechverkehr Über-
Unfallhilfe auf den Straßen und Autobahnen in der Bundes-
republik Deutschland ah, insbesondere dazu, daß die Kompetenz- schüsse erzielt, frage ich: Wäre es aus humanen
frage zwischen Bund und Ländern nach wie vor nicht geklärt sei? Gründen nicht möglich, daß die Notrufnummer ko-
Zur Beantwortung der Herr Bundesminister. stenlos angewählt werden kann?

Leber, Bundesminister für Verkehr und für das Leber, Bundesminister für Verkehr und für das
Post- und Fernmeldewesen: Nach dem Grundgesetz Post- und Fernmeldewesen: Herr Kollege Mertes, ich
sind die Bundesländer für den Unfallrettungsdienst bin zur Zeit dabei, die Kostengröße zu ermitteln,
zuständig. Ich sehe aus meiner verkehrspolitischen und habe mir vorgenommen, daß der Herr Bundes-
Verantwortung im Unfallrettungsdienst eine Auf- minister für Verkehr mit dem Herrn Bundespost-
gabe der Verkehrssicherheit. Ich bin darum bemüht, minister darüber in Kürze mal ein Gespräch führen
in fachlicher Zusammenarbeit mit den Bundeslän- wird.
dern und auch mit Gremien der Verkehrsmedizin (Heiterkeit.)
den Unfallrettungsdienst den modernen Anforderun
gen anzupassen. Trotz der verhältnismäßig gering- Präsident von Hassel: Ich rufe die Frage 58
fügigen Haushaltsmittel, die mir für diese Zwecke des Abgeordneten Dr. Arnold auf:
zur Verfügung stehen, habe ich eine Reihe von pro-
Stimmt die Bundesregierung der Einführung eines privaten
gressiven Entwicklungen eingeleitet. Ich begrüße Fernsehens in der Bundesrepublik Deutschland neben den be-
die Kritik des ADAC, weil sie meine Bemühungen stehenden Programmen der öffentlich-rechtlichen Anstalten
grundsätzlich zu?
um eine bundeseinheitliche Koordinierung des Un-
fallrettungswesens hervorhebt und auch unterstützt. Zur Beantwortung der Herr Bundesminister.

Präsident von Hassel: Keine Zusatzfrage. Leber, Bundesminister für Verkehr und für das
Ich rufe die Frage 46 des Herrn Abgeordneten Post- und Fernmeldewesen: Die Bundesregierung
Mertes auf: ist, wie der Herr Bundeskanzler in seiner Regie-
Welche konkreten Schritte hat die Bundesregierung unter- rungserklärung zum Ausdruck gebracht hat, der
nommen, um eine einheitliche Notrufnummer für das gesamte
Telefonnetz der Bundesrepublik Deutschland, die kostenlos an- Auffassung, daß neue technische Möglichkeiten im
gewählt werden kann, ebenso zu erreichen wie die Ausstattung
der Bundesstraßen nach dem Vorbild der Autobahnen mit Notruf-
Fernsehen zum besten Nutzen der Gesellschaft, vor
säulen? allem auch für Bildungsaufgaben, verwendet wer-
Zur Beantwortung der Herr Bundesminister. den. In jedem Fall sind dabei die Interessen der
Öffentlichkeit vorrangig zu sichern.
Leber, Bundesminister für Verkehr und für das Nach den Bestimmungen des Grundgesetzes, wie
Post- und Fernmeldewesen: Die Deutsche Bundes- sie vom Bundesverfassungsgericht im Fernsehurteil
post hat vor mehr als 15 Jahren die Fernsprechruf- interpretiert
- worden sind, liegt die Gesetzgebungs
nummern 110 für Notdienste der Polizei und 112 für und Verwaltungsbefugnis für Rundfunksendungen
Notdienste der Feuerwehr festgelegt. Die Fern- ausschließlich bei den Bundesländern. Das schließt
sprechanschlüsse mit der Rufnummer 110 können in nicht aus, daß die Bundesregierung gemeinsam mit
jedem Ortsnetz bereitgestellt werden. Auch für Orts- den Bundesländern die Möglichkeiten prüft, die sich
netze mit zweistelligen Rufnummern, die bisher aus den aufgezeigten Zielvorstellungen ergeben.
von dieser Regelung ausgenommen waren, sind Dabei wäre auf der Grundlage der sich abzeichnen-
kürzlich von der Deutschen Bundespost Sonderlö- den technischen Entwicklungen eine Gesamtlösung
sungen vorgeschlagen worden, die es gestatten, auch zu erarbeiten, die den sich stellenden Anforderun-
dort die Notrufnummer 110 einzuführen. gen gerecht wird.
Die Forderung nach gebührenfreien Notrufen ist
schon oft gestellt worden. Bei den Notrufen handelt Präsident von Hassel: Zu einer Zusatzfrage
es sich aber genauso wie bei sonstigen Gesprächen Herr Abgeordneter Dr. Arnold.
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969 301

Dr. Arnold (CDU/CSU) : Herr Bundesminister, Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage des
wie ist es mit den technischen Einrichtungen? Ist Abgeordneten Dr. Arnold.
es so, daß man hier seitens des Bundes schon jetzt
die Technik zur Verfügung stellen könnte, oder ist Dr. Arnold (CDU/CSU) : Herr Bundesminister,
man zu diesem Zeitpunkt noch nicht so weit? können Sie noch einmal sagen, wann mit der Kon-
ferenz, die darüber entscheiden wird, zu rechnen ist?
Leber, Bundesminister für Verkehr und für das
Post- und Fernmeldewesen: Die Einrichtungen sind Leber, Bundesminister für Verkehr und für das
noch nicht im vollen Sinne ausgereift, sondern sind Post- und Fernmeldewesen: Sie ist für 1971 vorge-
in Berlin noch im Versuchsstadium, so daß ich von sehen.
einer ausreichenden Erprobung gegenwärtig noch
nicht ausgehen kann. Präsident von Hassel: Keine weiteren Fragen.
Damit sind wir am Ende der Fragen aus Ihrem Ge-
schäftsbereich, Herr Bundesminister, angelangt. Ich
Präsident von Hassel: Eine zweite Zusatzfrage, danke Ihnen für die Beantwortung.
Herr Abgeordneter Dr. Arnold.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers
für Städtebau und Wohnungswesen auf. Zunächst
Dr. Arnold (CDU/CSU) : Könnten Sie in etwa
die Frage 47 des Abgeordneten Müller (Mülheim) :
angeben, Herr Bundesminister, bis wann damit ge-
rechnet werden kann? Ist der Bundesregierung die Entscheidung des Bundesverwal-
tungsgerichts (AZ VIII C 54/68) bekannt, wonach „auch einem
Empfänger von Sozialhilfe . . . der staatliche Wohngeldzuschuß
nicht verweigert werden darf"?
Leber, Bundesminister für Verkehr und für das Zur Beantwortung Herr Bundesminister Dr. Lau-
Post- und Fernmeldewesen: Ich hoffe, daß das in ritzen.
absehbarer Zeit der Fall sein wird. Aber so, wie
das mit Versuchen ist, läßt sich nie ein genaues Dr. Lauritzen, Bundesminister für Städtebau
Datum nennen. und Wohnungswesen: Herr Präsident, ich bitte, die
Fragen 47 und 48 im Zusammenhang beantworten
Präsident von Hassel: Ich rufe die Frage 59 zu dürfen.
des Abgeordneten Dr. Arnold auf:
Ist die Bundesregierung insbesondere bereit, in Zukunft sende-
Präsident von Hassel: Keine Bedenken. Ich
technische Einrichtungen für Gesellschaften des privaten Rechts rufe auch die Frage 48 des Abgeordneten Müller
zur Verfügung zu stellen, wenn diese die Voraussetzungen des
Fernsehurteils des Bundesverfassungsgerichts vorn 28. Februar (Mülheim) auf:
1961 erfüllen?
Wird die Bundesregierung aus diesem Urteil Folgerungen
ziehen?

Leber, Bundesminister für Verkehr und für das


Post- und Fernmeldewesen: Wenn die bei der Be- Dr. Lauritzen, Bundesminister für Städtebau
antwortung der vorigen Frage angesprochenen und Wohnungswesen: Der Bundesregierung ist be-
rechtlichen und praktischen Fragen geklärt sind, kannt, daß das Bundesverwaltungsgericht mit Be-
wird es in Zukunft möglich sein, sendetechnische schluß vom 14. November 1968 dem Bundesverfas-
Einrichtungen zur Verfügung zu stellen. Da die dem sungsgericht die Frage vorgelegt hat, ob die das
Rundfunk bisher zur Verfügung stehenden Fre- Verhältnis zwischen Wohngeld und Sozialhilfe
quenzbereiche durch die vorhandenen Ton- und regelnde Vorschrift des Wohngeldgesetzes mit dem
Fernseh-Rundfunkprogramme voll belegt sind, ist es Gleichheitssatz des Grundgesetzes vereinbar ist.
nur möglich, diese sendetechnischen Einrichtungen Das Wohngeldgesetz schließt in seiner geltenden
in dem neu zu erschließenden 12-Gigahertz-Bereich Fassung einen Teil der Sozialhilfeempfänger vom
zu betreiben. Der Zeitpunkt, zu dem diese Einrich- Wohngeld aus. Die Auffassung des Bundesverwal-
tungen von der Bundespost an Interessenten über- tungsgerichts, die es zu seinem Vorlagebeschluß an
lassen werden können, hängt einmal ab von der das Bundesverfassungsgericht veranlaßt hat, ist
Liefermöglichkeit der deutschen Industrie und zum nicht verbindlich. Die Entscheidung über die Ver-
zweiten von der Entscheidung der Funkverwal- fassungsmäßigkeit einer Vorschrift trifft allein das
tungskonferenz im Jahre 1971. Die Industrie ist zur Bundesverfassungsgericht. Das Bundesverfassungs-
Zeit noch nicht in der Lage, sendetechnische Einrich- gericht hat bisher noch nicht entschieden. Nach mei-
tungen in diesem Frequenzbereich zu liefern. Die ner Information ist jedoch mit einer Entscheidung
Funkverwaltungskonferenz wird darüber zu ent- noch in diesem Jahr zu rechnen. Wenn die Ver-
scheiden haben, welcher Teilfrequenzbereich aus fassungswidrigkeit des § 29 festgestellt werden
dem 12-Gigahertz-Bereich für den Rundfunk ver- sollte, wird die Bundesregierung anregen, die Vor-
fügbar sein wird. schrift entsprechend zu ändern.
Die Deutsche Bundespost hat die theoretischen Unabhängig von der zu erwartenden verfassungs-
Untersuchungen zur Erschließung des 12-Gigahertz- gerichtlichen Entscheidung prüft die Bundesregie-
Bereichs für den Rundfunk abgeschlossen. In einem rung schon jetzt, ob durch die beabsichtigte Novelle
Versuchsnetz, das, wie ich soeben sagte, in Berlin zum Wohngeldgesetz alle Sozialhilfeempfänger in
errichtet worden ist, werden durch Messungen die den Kreis der Wohngeldberechtigten einbezogen
theoretischen Ergebnisse überprüft. werden können.
302 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969

Präsident von Hassel: Zu einer Zusatzfrage außerhalb des Wohnheimbaus durch Bereitstellung
der Abgeordnete Müller (Mülheim). besonderer Bundesdarlehen zu fördern.

Mü ller (Mülheim) (SPD): Ist damit zu rechnen, Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, Herr
daß eine Pauschalierung in Betracht gezogen wird, Abgeordneter Zebisch.
weil die Forderungen der Betroffenen ja über län-
gere Zeit zurückreichen? Zebisch (SPD) : Herr Minister, ist die heutige
Antwort das Ergebnis der Überprüfung, welche Ihr
Dr. Lauritzen, Bundesminister für Städtebau Haus mir in der vergangenen Legislaturperiode ver-
und Wohnungswesen: Wir werden uns bei der No- sprochen hat?
velle insbesondere darum bemühen, eine bessere
verwaltungsmäßige Praxis mit diesem Gesetz zu er- Dr. Lauritzen, Bundesminister für Städtebau
reichen und dabei den Gedanken der Pauschalie- und Wohnungswesen: Ja, das ist die Überprüfung,
rung ganz allgemein stärker als bisher in dem Ge- über die wir uns unterhalten haben. Leider fehlt
setz zu berücksichtigen. es hier, Herr Abgeordneter, etwas an der Mitwir-
kung der Länder. Ich habe deswegen nur ein Land
nennen können.
Präsident von Hassel: Keine Zusatzfrage. Ich
rufe die Frage 49 des Abgeordneten Zebisch
- auf:
Präsident von Hassel: Eine zweite Zusatzfrage,
Gibt es für die Bundesregierung eine Möglichkeit, nach dem
Wohngeldgesetz oder durch Zuschuß an Hauseigentümer zum Herr Abgeordneter Zebisch.
Ausbau von Studentenzimmern außerhalb des studentischen
Wohnungsbaus die durch jüngste Untersuchungen festgestellte
drückende Wohnungsnot bei den Studenten zu mildern? Zebisch (SPD) : Haben Sie von den anderen ange-
Zur Beantwortung der Herr Bundesminister. sprochenen Ländern einen abschlägigen Bescheid zu
diesem Fragenkomplex bekommen?

Dr. Lauritzen, Bundesminister für Städtebau


und Wohnungswesen: Nach dem Wohngeldgesetz Dr. Lauritzen, Bundesminister für Städtebau
wird Wohngeld nicht gewährt für Wohnraum, der und Wohnungswesen: Wir stehen noch mit ihnen
von Familienmitgliedern bewohnt wird, die vom in Verhandlungen, um auch sie für diese besondere
Familienhaushalt nur vorübergehend abwesend sind. Förderungsmaßnahme zu gewinnen.
Das bedeutet, daß ledige Studenten im allgemeinen
kein Wohngeld erhalten, Nur wenn Anhaltspunkte Präsident von Hassel: Ich danke Ihnen für die
) dafür vorliegen, daß der ledige Student nicht mehr Beantwortung der Fragen, Herr Bundesminister.
zum Familienhaushalt seiner Eltern gehört, wird ein
Wohngeldanspruch anerkannt. Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundeskanzlers
und des Bundeskanzleramtes auf, zunächst die
Die Frage nun, inwieweit allen in der Ausbildung
Frage 50 der Abgeordneten Frau Funcke:
befindlichen Jugendlichen — nicht nur Studenten —
ein Zuschuß zu den Wohnkosten gewährt werden Ist die Bundesregierung bereit, die Nachrichtenspiegel und
ähnliches Informationsmaterial des Presse- und Informations-
kann, wird seit längerer Zeit mit den zuständigen amtes, die bisher nur Mitgliedern der Regierungsparteien zur
Länderministern beraten. Wegen des Sachzusam- Verfügung gestellt wurden, auch den Mitgliedern der Opposition
zugänglich zu machen?
menhangs zwischen Wohn- und Ausbildungskosten
ist auch die Kultusministerkonferenz mit der Frage Die Fragestellerin hat sich mit schriftlicher Beant-
befaßt. wortung einverstanden erklärt. Die Antwort des
Staatssekretärs Ahlers vorn 12. November 1969 lau-
Ich meine, bei der Ausbildungsförderung sollten
tet:
auch die Kosten für eine auswärtige Unterbringung 1. Die Nachrichtenspiegel und sonstiges Informationsmaterial
berücksichtigt werden, weil bei der Bemessung die- des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung sind
allen Abgeordneten zur Verfügung gestellt worden, die um
ser Leistungen vom Gesamtaufwand des Auszubil- Belieferung gebeten haben. Zwischen Mitgliedern der Regie-
rungsparteien und der Oppositionsparteien wird selbstver-
denden ausgegangen werden sollte. Von dem Ergeb- ständlich auch in Zukunft kein Unterschied gemacht.
nis dieser Beratungen, bei denen natürlich auch die 2. In Abstimmung mit den Pressestellen der Fraktionen wird
finanziellen Auswirkungen bedacht werden müssen, zur Zeit die Möglichkeit geprüft, den bisherigen Verteiler zu
erweitern, weil das Presse- und Informationsamt seine Ar-
wird es abhängen, ob den in der Ausbildung befind- beitsergebnisse noch mehr als bisher allen Abgeordneten zur
Verfügung stellen will. Zu diesem Zweck wird den Abgeord-
lichen Jugendlichen einschließlich der Studenten neten demnächst ein Satz Nachrichtenmaterial zugeleitet wer-
durch Wohngeld oder über die Ausbildungsförde- den, damit sie selbst entscheiden können, welches Material
regelmäßig geliefert werden soll. Das Presse- und Informa-
rung geholfen werden kann. f wird sich bemühen, die dann möglicherweise au
tionsamt
tauchenden Probleme der Vervielfältigung und der Vertei-
Darüber hinaus ist die Bundesregierung sehr dar- lung zusammen mit den Pressestellen der Fraktionen zu
lösen.
um bemüht, durch die Bereitstellung von zusätz-
3. Die bisherige Praxis wurde bereits insoweit ergänzt, daß
lichen Bundesmitteln dazu beizutragen, daß die allen Fraktionsvorsitzenden des Deutschen Bundestages sowie
dem Vorsitzenden der Landesgruppe der CSU, dem Herrn
Wohnraumversorgung der Studierenden entschei- Bundestagspräsidenten und den Bundeskanzlern a. D. Erhard
dend verbessert wird. Das wird zwar im wesent- und Kiesinger die Ergebnisse der vom Presse- und Informa-
tionsamt durchgeführten Meinungsumfragen zur Verfügung
lichen durch den Bau von Studentenwohnheimen zu gestellt werden.
erreichen sein. Ich bin aber bemüht — und werde
das auch in Zukunft bleiben --, wie wir das mit Ich rufe die Frage 51 des Abgeordneten Matthöfer
Erfolg schon im Land Niedersachsen praktiziert auf:
ist bei der Geschäftsverteilung der Bundesregierung festgelegt
haben, die Schaffung von Wohnraum für Studierende worden welches Ministerium federführend verantwortlich ist für
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969 303
Präsident von Hassel
die Änderung des Nato-Statut-Zusatzabkommens, hier besonders
Artikel 56, und des Unterzeichnungsprotokolls zum Zusatzabkom-
Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, Herr
men zu Artikel 56 Abs. 9? Abgeordneter Matthöfer.
Der Fragesteller ist im Saal. Zur Beantwortung
Herr Bundesminister Ehmke. Matthöfer (SPD) : Herr Minister, ist Einigung
erzielt worden über eine Gleichstellung in bezug auf
Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf- Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte der Be-
gaben: Bei der Neuregelung der Ressortzuständig- triebsräte, wie sie etwa auch bei der deutschen Bun-
keiten im Zusammenhang mit der Bildung der Bun- deswehr bestehen?
desregierung bestand keine Veranlassung, Herr Ab-
geordneter, eine von der bisher gegebenen Feder- Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf-
führung des Auswärtigen Amtes abweichende Re- gaben: Herr Abgeordneter, ich bitte um Verständ-
gelung betr. die Änderung des von Ihnen genannten nis dafür, daß ich bis zur Paraphierung über den
Abkommens festzulegen. Inhalt der Vereinbarung hier keine Auskunft geben
möchte. Ich möchte abwarten, bis der endgültige
Auf Grund von Weisungen, die im Frühsommer
Text festliegt.
dieses Jahres von dem damaligen Bundesminister
des Auswärtigen erteilt wurden, sind die Verhand-
lungen mit den Entsendestaaten, die auf eine Ände- Präsident von Hassel: Eine zweite Zusatzfrage,
rung des Art. 56 des NATO-Statut-Zusatzabkom- Herr Abgeordneter Matthöfer.
mens abzielten, in der vergangenen Woche zum
Abschluß gebracht worden. Vorbehaltlich der Ar- Matthöfer (SPD) : Wird es nach der Paraphierung
beiten eines besonderen Redaktionsausschusses noch weitere zeitraubende Schritte geben müssen,
kann bis Ende dieses Jahres mit der Paraphierung die vor dem Inkrafttreten dieser Regelungen liegen?
einer entsprechenden Vereinbarung gerechnet wer-
den. Die Unterzeichnung der Änderungsvereinba- Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf-
rung dürfte dann Anfang 1970 erfolgen. gaben: Das kann ich Ihnen im Augenblick noch nicht
sagen.
Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, Herr
Abgeordneter Matthöfer. Präsident von Hassel: Eine weitere Zusatz-
frage, Herr Abgeordneter Köppler.
Matthöfer (SPD) : Sind beide Fragen zusammen
beantwortet worden? Köppler (CDU/CSU) : Herr Bundesminister, ist
die Bundesregierung bereit, diesem Haus und seinen
Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf- zuständigen Ausschüssen unmittelbar nach Para-
gaben: Nein. phierung dieses Abkommens den Inhalt bekanntzu-
geben?
Präsident von Hassel: Ich rufe die Frage 52
des Abgeordneten Matthöfer auf: Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf-
Hat der Bundeskanzler der neuen Bundesregierung von seiner gaben: Selbstverständlich.
Richtlinienkompetenz Gebrauch gemacht und das beauftragte
Bundesministerium mit klaren Anweisungen hierzu ausgestattet,
mit dem Ziel, die unter Frage 51 angesprochenen Zusatzverein-
barungen dahin gehend zu ändern, daß keine rechtliche Benach-
Präsident von Hassel: Eine weitere Zusatz-
teiligung der Beschäftigten bei den Stationierungsstreitkräften frage, Herr Abgeordneter Borm.
mehr übrigbleibt?

Zur Beantwortung, Herr Bundesminister. Borm (FDP) : Herr Minister, wird die Bundes-
regierung ihr Augenmerk darauf richten, daß auch
Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf- die Berliner Arbeitnehmer bei den auswärtigen
gaben: Zusätzliche Weisungen des Herrn Bundes- Streitkräften in die neuen Regelungen einbezogen
kanzlers wären bei dem von mir zur vorangegan- werden, die für die Arbeitskräfte in der Bundes-
genen Frage dargelegten Sachstand verhandlungs- republik getroffen werden?
taktisch nicht sinnvoll. Der Stand der inzwischen
materiell abgeschlossenen Verhandlungen mit den
Entsendestaaten läßt insgesamt eine befriedigende Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf-
Regelung der anhängigen Fragen, insbesondere hin- gaben: Ich will gern noch einmal prüfen, ob sich in
sichtlich der Rechte der Betriebsvertretungen der dieser Hinsicht besondere Probleme ergeben haben.
bei den Stationierungsstreitkräften beschäftigten
deutschen Arbeitnehmer, erwarten. Präsident von Hassel: Ich danke Ihnen für die
Im übrigen darf ich in diesem Zusammenhang Beantwortung, Herr Bundesminister.
darauf hinweisen, daß sich ein auf Grund eines Kabi- Ich rufe die Fragen aus dem Geschäftsbereich des
nettbeschlusses vom 19. März dieses Jahres beim Bundesministers der Finanzen auf. Zunächst kom-
Bundesministerium des Innern gebildeter besonde- men wir zur Frage 63 des Abgeordneten Ollesch:
rer interministerieller Arbeitskreis weiterhin um die
Können die Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherungen
Fragen der sozialen Sicherheit der betroffenen Ar- die vom 1. Januar 1970 an auf 2,50 DM erhöhte Rezeptgebühr
beitnehmer bemüht. Dieser Arbeitskreis wird schon beim Lohnsteuerjahresausgleich bzw. in der Einkommensteuer-
erklärung geltend machen, und welche Form des Nachweises
in nächster Zeit wieder zusammentreten. empfiehlt die Bundesregierung dafür?
304 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969
Präsident von Hassel
Zur Beantwortung Herr Parlamentarischer Staats- von 1000 DM auf 6000 DM erhöht, die Beschwerde
sekretär Reischl. I an den Bundesfinanzhof eingeschränkt werden.
Ob der Gesetzentwurf in der gleichen Form oder
Dr. Reischl, Parlamentarischer Staatssekretär in einer anderen Form von der Bundesregierung
beim Bundesminister der Finanzen: Herr Kollege, vorgelegt wird, hängt in erster Linie von der Ent-
Rezeptgebühren, die Mitglieder der gesetzlichen scheidung des ressortmäßig in Zukunft zuständigen
Krankenversicherung vom 1. Januar 1970 an in Höhe Bundesministeriums der Justiz ab, das diese Ent-
von 2,50 DM zu entrichten haben, gehören zu den scheidung in einer Gesamtschau für die obersten
allgemeinen Krankheitskosten, die bei der Einkom- Bundesgerichte wird treffen müssen. Ein solches Ge-
mensteuer oder Lohnsteuer stets in ihrer tatsäch- setz könnte eine erhebliche Minderung der Rechts-
lichen Höhe als außergewöhnliche Belastung geltend mittel an den Bundesfinanzhof zur Folge haben und
geltend gemacht werden können. Allerdings kann damit auch für eine beschleunigte Abwicklung der
eine Ermäßigung der Einkommensteuer oder der Rückstände sorgen.
Lohnsteuer nur dann gewährt werden, wenn die
außergewöhnlichen Belastungen im Sinne des § 33
Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, Herr
des Einkommensteuergesetzes insgesamt die nach
Abgeordneter
Dr.Hause(Sbch)CU/: Dr. Hauser (Sasbach)
dem Einkommen und dem Familienstand gestaffelte
sogenannte zumutbare Eigenbelastung übersteigen.
Die zumutbare Eigenbelastung ergibt sich aus der
HerStaskä,wnichtmögldeBFHbszur
Tabelle, die in § 64 der Einkommensteuer-Durch-
Vorlage eines neuen Gesetzes zu veranlassen, im
führungsverordnung und § 25 Abs. 4 der Lohn-
steuer-Durchführungsverordnung enthalten ist. Da- Rahmen seiner Möglichkeiten darauf zu sehen, daß
nach beträgt z. B. die zumutbare Eigenbelastung bei in noch stärkerem Maße als bis dahin echte Muster-
Steuerpflichtigen, die für zwei Kinder Kinderfrei- prozesse geführt werden, um durch die Veröffent-
beträge erhalten und die ein steuerpflichtiges Ein- lichung der Urteile zu erreichen, daß die Einlegung
kommen von mehr als 6000 DM haben, 4 v. H. des von Rechtsmitteln oder Beschwerden ähnlicher Art
steuerpflichtigen Einkommens. überflüssig wird?

Für den steuerlichen Nachweis der Rezeptgebühr


Dr. ReiSChl, Parlamentarischer Staatssekretär
genügt eine entsprechende Quittung der Apotheke,
beim Bundesminister der Finanzen: Herr Kollege,
bei der das ärztlich verordnete Arzneimittel gekauft
das wäre ein sehr schöner Weg. Es steht ihm jedoch
worden ist.
die richterliche Unabhängigkeit entgegen, die ja
bekanntlich irgendwie geartete Weisungen seitens
Präsident von Hassel: Keine Zusatzfrage. des Ministeriums an den Gerichtshof ausschließt.
Ich rufe die Frage 64 des Abgeordneten Dr. Hau- Aber ich halte es durchaus für möglich, daß in einem
ser (Sasbach) auf: Gespräch mit dem Präsidenten des Bundesfinanzhofs,
Welche Maßnahmen wird die Bundesregierung ergreifen, um das der Bundesjustizminister dann sicherlich führen
der oft vorgetragenen Klage über die jahrelange Prozeßdauer wird, in geeigneter Weise daraum gebeten wird,
bei Revisionen in der Finanzgerichtsbarkeit zu begegnen, nach-
dem laut „Die Welt" vom 17. Oktober 1969 fast die Hälfte aller durch entsprechende Bearbeitung diesem Anliegen
im Jahre 1968 vom Bundesfinanzhof entschiedenen Fälle langer
als drei Jahre anhängig waren? Sorge zu tragen. Ein Bedenken allerdings gibt es,
das auch Sie kennen: daß die Leute Anspruch dar-
Zur Beantwortung Herr Parlamentarischer Staats- auf haben, daß ihre Prozesse in der Reihenfolge be-
sekretär Dr. Reischl. handelt werden, in der sie beim Gericht anhängig
werden.
Dr. Reischl, Parlamentarischer Staatssekretär
beim Bundesminister der Finanzen: Die Frage des Präsident von Hassel: Eine weitere Zusatz-
Herrn Kollegen Hauser beantworte ich wie folgt. frage, der Abgeordnete von Bockelberg.
Die Überlastung des Bundesfinanzhofs und die
daraus sich ergebende große Anzahl der bei ihm
anhängigen unerledigten Fälle beruhen im wesent- von Bockelberg (CDU/CSU) : Steht das Bundes-
lichen darauf, daß die Revision an den Bundes- finanzministerium nicht auf dem Standpunkt, daß die
finanzhof schon bei der verhältnismäßig niedrigen Erhöhung der Streitwertgrenze einer Rechtsverwei-
Revisionssumme von 1000 DM ohne das Filter gerung denen gegenüber gleichkommt, deren Fälle
einer entsprechend den anderen Gerichtszweigen nicht über diese Streitwertgrenze hinausgehen?
vorgeschalteten Berufungsinstanz zulässig ist. Ferner
ist die Beschwerde an den Bundesfinanzhof gegen Dr. Reischl, Parlamentarischer Staatssekretär
die Beschlüsse der Finanzgerichte bisher in weit- beim Bundesminister der Finanzen: Ich darf hierzu
aus größerem Umfang als die Beschwerde an die meine persönliche Meinung sagen, weil ich ja als
obersten Bundesgerichte der anderen Gerichtszweige amtierender Vorsitzender des Rechtsausschusses
gegeben. damals mit diesem Gesetz zu tun hatte: Wir hatten
Zur Entlastung des Bundesfinanzhofs hatte die erhebliche Bedenken, ob eine solch große Erhöhung
Bundesregierung bereits in der 5. Legislaturperiode überhaupt möglich ist.
den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der
Finanzgerichtsordnung — Drucksache V/3196 — vor- Präsident von Hassel: Ich kann keine weite-
gelegt. Die Streitwertgrenze für die Revision sollte ren Zusatzfragen zulassen; Sie haben nur eine.
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969 305
Präsident von Hassel
Die Frage 65 des Abgeordneten Dr. Müller (Mün- (l essen Anwendung unangemessene Verzögerun-
chen) : gen bei der Reisendenabfertigung ausschließt.
Halt die Bundesregierung eine Änderung der Zollordnung für
notwendig, die es ermöglicht, auch in Zukunft Ski aus Österreich
zollfrei einzuführen?
Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, der
Ist der Abgeordnete im Saal? — Zur Beantwor- Abgeordnete Dr. Müller (München).
tung, Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr.
Reischl. Dr. Müller (München) (SPD) : Herr Staatssekre-
tär, im Hinblick darauf, daß gerade die bayerischen
Dr. Reischl, Parlamentarischer Staatssekretär Skifahrer zu einem sehr großen Prozentsatz öster-
beim Bundesminister der Finanzen: Herr Präsident, reichische Marken benützen, glaube ich, wird es
ich wäre dankbar, wenn ich die beiden Fragen, die nicht möglich sein, den Reiseverkehr flüssig abzu-
zusammengehören, im Zusammenhang behandeln wickeln. Wie stellt es sich die Bundesregierung vor,
dürfte. daß an einem Wochenende die Skier überprüft wer-
den, die auf den Autos an den Grenzübergängen
zurückgebracht werden?
Präsident von Hassel: Keine Bedenken. Dann
rufe ich noch die Frage 66 des Abgeordneten Dr.
Müller (München) auf: Dr. Reischl, Parlamentarischer Staatssekretär
beim Bundesminister der Finanzen: Wenn die Rei-
Ist sich die Bundesregierung darüber im klaren, daß eine An-
wendung der neuen Bestimmungen der Zollordnung zu einer senden die Skier mit hinübergenommen haben, dür-
Vergrößerung des Verkehrschaos an den deutsch-österreichischen
Grenzübergängen führen würde und zu einer entscheidenden Er-
fen sie sie auch wieder mit zurücknehmen, auch
schwerung des Tourismus bedragen würde, die sich mit dem wenn das österreichische Marken sind. Ich habe das
Streben nach einem vereinten Europa nicht vereinbaren läßt?
Gefühl, daß das bisher in einer ganz brauchbaren
Weise gehandthabt worden ist, sonst hätte es ja
Dr. Reischl, Parlamentarischer Staatssekretär wohl schon Verzögerungen gegeben.
beim Bundesminister der Finanzen: Erstens. Die
Zollfreiheit für Reisebedarf, der aus Drittländern Präsident von Hassel: Ich rufe die Frage 67
eingeführt wird, ist seit dem 1. September 1969 durch des Abgeordneten Wendt auf:
Gemeinschaftsrecht verbindlich geregelt. Nach der
Hält es die Bundesregierung der Sache nach für sinnvoll und
Verordnung des Rates der EWG Nr. 1544/69 vom gerechtfertigt, daß Lotterien, wie beispielsweise die jetzt aus-
laufende von der ARD für die „Stiftung Deutsches Hilfswerk"
23. Juli 1969 sind Reisemitbringsel bis zu einem veranstaltete Fernsehlotterie, die ausschließlich karitativen
Gesamtwert von 25 Rechnungseinheiten gleich Zwecken dient und deren erklärtes Ziel die Linderung sozialer
Härten ist, mit 16 2/3% Lotteriesteuer belastet werden?
100 DM zollfrei. Der Wert der persönlichen Reise-
ausrüstung eines inländischen Reisenden bleibt da- Ist der Abgeordnete im Saal? —

bei außer Ansatz, soweit er sie aus dem Inland mit-


genommen hatte. Diese Regelung hat zur Folge, daß Dr. Reischl, Parlamentarischer Staatssekretär
Waren der persönlichen Ausrüstung — z. B. auch beim Bundesminister der Finanzen: Herr Präsident,
Skier — eines inländischen Reisenden verzollt wer- ich wäre dankbar, wenn ich auch diese Fragen ge-
den müssen, wenn sie in einem Drittland erworben meinsam beantworten dürfte.
worden sind und einen höheren Wert als 100 DM
haben ; innerhalb der Wertgrenze bleiben sie zoll- Präsident von Hassel: Keine Bedenken; ich
frei. rufe auch noch die Frage 68 des Abgeordneten
Die Bundesregierung hat keine Möglichkeit, von Wendt auf:
der gemeinschaftsrechtlichen Regelung abweichende Ist die Bundesregierung gegebenenfalls bereit, sich bei den
Ländern dafür zu verwenden, daß diese Steuer erlassen, zu-
Bestimmungen zu treffen. mindest aber erheblich gesenkt wird?

Zweitens. Die früheren innerstaatlichen Zollvor-


schriften sahen Zollfreiheit für im Ausland beschaff- Dr. Reischl, Parlamentarischer Staatssekretär
tes Reisegerät eines Inländers für den Fall vor, daß beim Bundesminister der Finanzen: Es ist zutreffend,
die Beschaffung der Waren im Ausland nachweisbar daß Lotterien und Ausspielungen zu gemeinnüt-
nach Antritt der Reise notwendig geworden war zigen, mildtätigen oder kirchlichen Zwecken grund-
und daß die Waren nachweisbar schon außerhalb sätzlich der Lotteriesteuer unterliegen. Von der
des Zollgebiets auf der Reise gebraucht worden Besteuerung ausgenommen sind derartige Lotterien
waren. Lediglich diese Möglichkeit ist nunmehr ent- und Ausspielungen nur, wenn der Gesamtpreis der
fallen. Die Bundesregierung befürchtet nicht, daß Lose 12 000 DM nicht übersteigt. Diese Steuerbe-
diese Änderung die Freizügigkeit des Reiseverkehrs freiung kann jedoch bei der von Ihnen genannten
an den deutsch-österreichischen Grenzübergängen Fernsehlotterie wegen des größeren Volumens
beeinträchtigen und den Tourismus erschweren keine Anwendung finden.
könnte. Die bisherigen Erfahrungen lassen nicht den In den letzten Jahren ist wiederholt angeregt
Schluß zu, daß die Neuregelung zu derartigen worden, Lotterien und Ausspielungen zu gemein-
Schwierigkeiten führen wird. Die Grenzzollstellen nützigen, mildtätigen oder kirchlichen Zwecken all-
sind bestrebt, so zügig wie möglich abzufertigen. gemein von der Lotteriesteuer freizustellen. Hier-
Die Eingangsabgaben werden im Reiseverkehr bei gegen haben sich aber die Länder ausgesprochen,
nicht zum Handel oder zur gewerblichen Verwen- denen bekanntlich die Verwaltung und das Auf-
dung bestimmten Waren im Werte bis zu 240 DM kommen der Lotteriesteuer zusteht. Sie haben dar-
grundsätzlich nach einem Pauschaltarif erhoben, auf hingewiesen, daß Lotterien und Ausspielungen
306 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969
Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Reischl
grundsätzlich nur genehmigt werden, wenn der Präsident von Hassel: Ich lasse nur eine Zu-
Ertrag für Zwecke verwendet wird, die allgemeiner satzfrage zu, Herr Krammig, damit wir zum Ende
Billigung sicher sind. Das sind aber eben diese kommen. Bitte schön, Herr Krammig!
Lotterien und Ausspielungen, die gemeinnützigen,
mildtätigen oder kirchlichen Zwecken dienen, so daß Krammig (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, darf
eine Befreiung dieser Lotterien von der Besteuerung ich Ihren Worten entnehmen, daß in der Bundes-
oder eine Senkung des Steuersatzes zu ganz erheb- regierung im Augenblick konkrete Vorstellungen
lichen Steuerausfällen führen würde. Es ist daher darüber noch nicht bestehen?
nicht anzunehmen, daß die Länder der gewünschten
Regelung zustimmen werden.
Dr. Reischl, Parlamentarischer Staatssekretär
Unter diesen Umständen halte ich es — um damit beim Bundesminister der Finanzen: Herr Kollege
Ihre zweite Frage zu beantworten — für wenig Krammig, solche können schon deswegen nicht be-
erfolgversprechend, mich in dem von Ihnen ge- stehen, weil wir in dieser sehr schwierigen Frage
wünschten Sinne an die Länder zu wenden. auf den Bericht der Steuerreformkommission warten.

Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, Herr Präsident von Hassel: Ich rufe die Frage Nr. 70
Abgeordneter Wendt. des Abgeordneten Krammig auf:
Haben die Bundesländer inzwischen ihre bei der Verabschie-
dung des Umwandlungsteuergesetzes im Bundesrat gegebenen
Wendt (SPD) : Herr Staatssekretär, sind Sie mit Zusagen hinsichtlich der Grunderwerbsteuerbefreiung verwirk-
mir der Meinung, daß das Argument eines Steuer- licht?

ausfalls die Besteuerung nicht begründen kann? Zur Beantwortung der Parlamentarische Staats-
sekretär Dr. Reischl.
Dr. Reischl, Parlamentarischer Staatssekretär
beim Bundesminister der Finanzen: Es fällt mir Dr. Reischl, Parlamentarischer Staatssekretär
schwer, hierzu etwas zu sagen, weil ja eben gar beim Bundesminister der Finanzen: Ich beantworte
nicht der Bund von einem etwaigen Steuerausfall die Frage wie folgt.
betroffen wäre, sondern die Länder, und es auf
Entsprechend der von den Herren Finanzministern
deren Zustimmung ankommt.
und Finanzsenatoren gegebenen Zusage haben die
Länder in Zusammenarbeit mit dein Bundesfinanz-
Präsident von Hassel: Ich rufe die Frage 69 ministerium einen gemeinsamen Gesetzentwurf
des Abgeordneten Krammig auf: über Grunderwerbsteuerbefreiung bei Änderung
Ist die Bundesregierung der Meinung, daß ein Weg gefunden
werden muß, um Steuerarten, insbesondere die Gewerbe- und
der Unternehmensform erstellt.
die Lohnsummensteuer, abzubauen, die sich wettbewerbsverzer-
rend innerhalb der EWG auswirken, weil sie nur in der Bundes- Nach diesem Gesetzentwurf soll die Grunderwerb-
republik Deutschland vorhanden sind, und wenn ja, wie beab- steuerbefreiung für alle Vorgänge gelten, die nach
sichtigt die Bundesregierung, den Steuerausfall bei Bund, Län-
dern (Umlage) und den Gemeinden qualitativ und quantitativ zu dem Umwandlungsteuergesetz ertragsteuerlich be-
ersetzen?
günstigt sind. Die Befreiung soll rückwirkend in
Zur Beantwortung Herr Staatssekretär Dr. Reischl. Kraft treten. Andererseits soll sie ebenso wie die
Gesellschaftsteuerbefreiung nach § 29 des Umwand-
Dr. Reischl, Parlamentarischer Staatssekretär lungssteuergesetzes bis zum 31. Dezember 1972 be-
beim Bundesminister der Finanzen: Die Schaffung fristet werden.
eines wettbewerbsneutralen Steuersystems inner-
Der Entwurf, der zur Ergänzung des Umwand-
halb der EWG gehört zu den Zielen der Gemein-
lungsteuergesetzes erforderlich ist, liegt in einigen
schaft. Die Bundesregierung wird auch im Rahmen
Ländern den Parlamenten, in den anderen Ländern
der für diese Legislaturperiode vorgesehenen gro-
noch den Kabinetten vor. Die Bundesregierung kann
ßen Steuerreform prüfen, ob und gegebenenfalls
im Augenblick nicht übersehen, wann mit der Ver-
welche Schritte schon jetzt zu diesem Ziel getan
kündung der Landesgesetze gerechnet werden
werden können. Dazu gehört auch die Frage einer
kann. Sie hat jedoch keinen Zweifel an dem guten
Senkung der Gewerbesteuer nach Ertrag und Ka-
Willen der Länder und hofft auf einen zügigen
pital und der Lohnsummensteuer.
Gang des Gesetzgebungsverfahrens.
Wegen des auch für die Zukunft zu erwartenden
hohen Finanzbedarfs von Bund, Ländern und Ge- Präsident von Hassel: Eine letzte Zusatzfrage,
meinden müssen die durch eine etwaige Senkung Herr Abgeordneter Krammig.
der Gewerbesteuer und der Lohnsummensteuer be-
dingten Einnahmeausfälle auf andere Weise gedeckt
Krammig (CDU/CSU) : Ist Ihnen bekannt, Herr
werden. Auch über die Frage der Ausgleichsmaß-
Staatssekretär, daß die erste Lesung des Gesetz-
nahmen kann nur im Zusammenhang mit der entwurfs im Landtag Nordrhein-Westfalen gestern
Steuerreform entschieden werden.
gescheitert ist?
Die Bundesregierung wird zunächst den Bericht
der Steuerreformkommission abwarten, bevor sie zu Dr. Reischl, Parlamentarischer Staatssekretär
diesen Fragen Stellung nimmt. Sollten die Gemein- beim Bundesminister der Finanzen: Das ist mir aus
den betroffen werden, wird sie selbstverständlich der Zeitung bekannt. Allerdings scheint mir der
auch bemüht sein, einen qualitativ gleichwertigen dortige Gesetzentwurf wesentlich weiter gegangen
Ersatz für etwaige Einnahmeausfälle zu schaffen. zu sein als der gemeinschaftlich vereinbarte.
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969 307

Präsident von Hassel: Wir sind damit am Ende großen Themen der Friedenssicherung, der Bünd-
der Beantwortung der Fragen aus dem Geschäfts- nisse und der zwischenstaatlichen Beziehungen in
bereich des Bundesministers der Finanzen. Ich danke nie gekannter Weise mit den wissenschaftlichen und
Ihnen für die Beantwortung, Herr Parlamentarischer technischen Entwicklungen verbunden sind.
Staatssekretär Dr. Reischl. Die Fragestunde ist be-
endet. Wir müssen, wie ich glaube, die Komplexität die-
ser Sachfragen und der politisch wirksamen Motive
Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf: sehr genau erkennen. Die so häufig geübte isolierte
Große Anfrage der Fraktion der CDU/CSU Betrachtung und Bewertung dieses Vertrages unter
betr. Atomwaffensperrvertrag nur einer Überschrift wird seinen Chancen und sei-
nen Gefahren nicht gerecht.
— Durcksachen VI/1, VI/50 —
Ich eröffne die Aussprache und teile dazu fol- (Beifall bei der CDU/CSU.)
gendes mit. Die Fraktion der CDU/CSU hat bean- Er entsprang den Verhandlungen der Genfer Ab-
tragt, daß für ihre beiden Hauptredner je 30 Minu- rüstungskonferenz. So ist er von vielen außerhalb
ten statt für den ersten 45 und für den zweiten und innerhalb Deutschlands als ein sichtbares Ergeb-
15 Minuten zur Verfügung gestellt werden, zusam- nis ihrer langen und so oft enttäuschenden Beratun-
men 60 Minuten. Die beiden Hauptredner haben je gen begrüßt und bejaht worden.
30 Minuten. — Ich erteile das Wort dem Abgeord-
neten Dr. Stoltenberg. Wir wissen freilich, daß sein Inkrafttreten nicht
Abrüstung der Nuklearmächte bedeuten würde.
Seine Wirkungen beschränken sich auf die nicht-
Dr. Stoltenberg (CDU/CSU) : Herr Präsident! nuklearen Staaten und deshalb ist er im Vorfeld der
Meine Damen und Herren! Die erste parlamenta- eigentlichen Abrüstung angesiedelt. Es bleibt das
rische Initiative im 6. Deutschen Bundestag war Ziel der Verhinderung des Entstehens neuer natio-
diese Große Anfrage zum Atomwaffensperrvertrag. naler Nuklearmächte im Interesse der Verringerung
Sie folgte damit unmittelbar Ankündigungen nam- von Konfliktgefahren und die Hoffnung, Verhand-
hafter sozialdemokratischer Politiker vor der Wahl lungen der Weltmächte über eine reale Rüstungs-
des Bundeskanzlers, eine neue Bundesregierung aus beschränkung mögen bald möglich sein. Alle demo-
SPD und FDP werde den Nichtverbreitungsvertrag kratischen Parteien in Deutschland stimmen diesen
demnächst unterschreiben. Dies hat unter anderem Zielen zu und teilen diese Hoffnung. Es bleibt aller-
der Kollege Helmut Schmidt am 2. Oktober bei dem dings zu prüfen, inwieweit der konkrete Vertrags-
Jahreskongreß der Labour Party in Blackpool er- text ihnen gerecht werden kann, ohne neue Span-
klärt. Die Regierungserklärung und die schriftliche nungen zu erzeugen.
Antwort der Bundesregierung auf diese Große
Anfrage wandeln diese Aussage etwas ab. Es wird (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. Barzel:
unter Hinweis auf die Kabinettsbeschlüsse vom Sehr wahr!)
13. August von gewissen notwendigen Klärungen
Der vorgesehene Verzicht der nichtnuklearen
und Verhandlungen gesprochen. Dennoch haben
Staaten auf die Entwicklung und den Erwerb von
sich die neue Koalition und die neue Regierung auf
eine baldige Unterzeichnung des Vertrages festge- Atomwaffen ohne Gegenleistung der Nuklearmächte
legt. Dies ist eine folgenschwere Ankündigung. etwa auf dem Gebiet der Abrüstung hat zahlreiche
ernste Fragen aufgeworfen, von denen ich einige
Wir begrüßen es dabei, daß die Bundesregierung nennen möchte.
in den letzten Tagen alle Fraktionen dieses Hauses
durch den Bundeskanzler selbst und sachverständige Erstens. Werden alle wesentlichen Staaten diesen
Beamte über den Stand ihrer Gespräche und Über- Grundsatz akzeptieren, der bestehende Machtver-
legungen informiert hat. Aber es hätte dem häufig hältnisse und Machtgefälle fixiert? Anders gespro-
zitierten Willen zur Gemeinsamkeit in lebenswich- chen: hat dieser Vertrag die Chance, einen uni-
tigen Fragen besser entsprochen, wenn vor öffent- versellen Charakter zu gewinnen? — eine der ent-
lichen Festlegungen im Ausland und Inland eine scheidenden Voraussetzungen für die Erreichung sei-
wirkliche Diskussion mit uns und mit allen im Für ner Ziele.
und Wider der Argumente geführt worden wäre. (Sehr wahr! bei der CDU/CSU.)
(Beifall bei der CDU/CSU.) Zweitens. Welche Wirkungen hat das national-
Wir hoffen, daß dieses Versäumnis in den Ausschüs- staatliche Prinzip dieses Vertrages in den unter-
sen des Bundestages jedenfalls teilweise ausgegli- schiedlichen Rechten und Pflichten der Partner auf
chen werden kann. die übernationalen Institutionen, auf die Bündnisse
unter dem Vorzeichen der Sicherheit und auf die
Die politische Einzelbewertung des Nichtverbrei- neuen völkerrechtlichen Zusammenschlüsse in Poli-
tungsvertrags ist sehr schwierig. Wohl in keinem tik, Wissenschaft und Wirtschaft vor allem für uns
internationalen Vertragswerk der Vergangenheit im freien Europa?
verbinden sich völkerrechtliche, außen- und sicher-
heitspolitische Fragen so eng mit sehr komplizierten Diese zentrale Frage verschärft sich außerordent-
und zugleich bedeutenden wissenschaftlichen, tech- lich durch die Einseitigkeit der Kontrollverpflichtun-
nischen und industriellen Problemen. Insofern kann gen auch im friedlichen Bereich der Forschung und
dieser Text als bezeichnend für einen neuen Ab- Industrie;
schnitt der Geschichte angesehen werden, in dem die (Abg. Dr. Barzel: Sehr wahr!)
308 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969
Dr. Stoltenberg
sie sollen auf Drängen der Sowjetunion gegen einen Der Vertrag ist achtzehn Monate nach seiner Ausfer
zunächst viele .Jahre von den Vereinigten Staaten tigung und Auflage zur Unterschrift bisher nicht in
vertretenen Standpunkt nur den nichtnuklearen Kraft getreten. Vor allem haben ihn zwei der fünf
Staaten auferlegt werden, während die militärischen Nuklearmächte und die Mehrzahl der sogenannten
Atommächte hiervon freibleiben. Schwellenmächte bis heute nicht unterzeichnet.
Drittens. Ist in dem Vertragstext der Bereich der (Abg. Dr. Barzel: Sehr wahr!)
friedlichen Forschung und Entwicklung von dem Es sind dies Staaten mit sehr unterschiedlichen
militärischen Sektor begrifflich eindeutig geschieden außenpolitischen und verfassungsmäßigen Voraus-
und in der Praxis ohne Differenzen und damit ohne setzungen: China, Indien und Pakistan, Japan,
neue schwere Spannungen sachlich klar unterscheid- Australien und Südafrika, Brasilien, Argentinien
bar? und Chile, Israel und die arabischen Staaten, um
Viertens. Ist es technisch möglich, den Fluß und nur einige zu nennen. Zu den Mitgliedern der Ver-
Verbleib spaltbaren Materials in allen nichtnuklea- einten Nationen, die bisher abseits stehen, gehören
ren Staaten so umfassend und wirksam zu kontrol- übrigens auch die Ukraine und Weißrußland,
lieren, daß keine Behinderungen und Wettbewerbs- (Hört! Hört! bei der CDU/CSU)
nachteile gegenüber den Atommächten auftreten,
und sind eindeutige Regelungen für die Kosten der ein sehr bezeichnender Sachverhalt für die Eigenart
Kontrolle erzielt oder erreichbar? der sowjetischen Politik und die moralische Legiti-
- mation ihrer Anschuldigungen gegen andere.
Fünftens schließlich: Was bedeutet dieser Vertrag
im Gesamtzusammenhang der Weltpolitik und vor (Beifall bei der CDU/CSU.)
allem auch unserer Beziehungen zur Sowjetunion? In Westeuropa sind neben der Bundesrepublik
Im Lichte dieser Fragen sind manche deutliche Frankreich, die Schweiz, Spanien und Portugal dem
Verbesserungen im vorliegenden Vertragstext vom Vertrag nicht beigetreten aus sehr unterschiedlichen
politischen Voraussetzungen und Erwägungen. Ein
Juni 1968 gegenüber dem ersten gemeinsamen Ent-
wurf der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion Blick auf unser Nachbarland, die Schweiz, und die
dortige Diskussion macht deutlich, wie abwegig das
vom Dezember 1966 erzielt worden. Hierin stimmen
auch in Deutschland gelegentlich verwandte Kli-
wir mit einigen Hinweisen der Bundeseregierung in
schee von den friedlichen und fortschrittlichen Staa-
ihrer schriftlichen Antwort vom 7. November über-
ten als den Signatarmächten und den rückschritt-
ein. Wir können mit Befriedigung sagen, wie sehr
lichen, machtorientierten Staaten als den Abseits-
dies auch den Bemühungen der deutschen Politik der
stehenden ist.
letzten Bundesregierung der Großen Koalition zu
verdanken ist. Wir fügen freilich, ohne unbescheiden Die strikte Ablehnung des Vertrages durch einige
zu sein, hinzu, daß es dabei wesentlich die von uns, wichtige Staaten — nicht alle der genannten haben
der CDU/CSU, begonnene kritische Diskussion im endgültig votiert — wird ihn in der vorausschau-
Winter 1966/67 war, baren Zukunft nicht zur universellen Wirkung
kommen lassen. Die Vorhersage der Regierung in
(Beifall bei der CDU/CSU)
ihrer schriftlichen Antwort auf unsere Große An-
die mühsam und gegen viel Widerstreben allmählich frage, eine deutsche Unterschrift werde dieses Ziel
mehr Verständnis für die sachlichen Einwände und der Universalität in erreichbare Nähe bringen, trifft
mehr Engagement in der Vertretung unserer Ge- ganz gewiß nicht zu, ist eine völlige Verkennung
sichtspunkte bewirkt hat. der Situation in einer Reihe bedeutender Staaten.
Aber im Gegensatz zur Bundesregierung sehen (Beifall bei der CDU/CSU.)
wir nicht, daß die erreichten Fortschritte im Text und
Wir nehmen diesen schweren Mangel unter den für
vor allem in den Interpretationen jetzt die Ankün-
uns vorgegebenen außenpolitischen Bedingungen
digung einer unmittelbar bevorstehenden deutschen
nicht zum Anlaß, für ein definitives deutsches Nein
Unterschrift rechtfertigen.
zu plädieren.
(Beifall bei der CDU/CSU.) (Abg. Wehner: Da kann ich nur lachen!)
Schon eine flüchtige Lektüre zeigt, wie stark meh- — Es steht Ihnen frei, zu lachen, Herr Kollege Weh-
rere zentrale Punkte des Vertrages durch mühsam ner. Es steht Ihnen auch frei, hier bessere Argu-
zwischen Ost und West ausgehandelte Kompromiß mente vorzutragen. Aber Sie müssen es schon er-
Formulierungen bestimmt sind. Sie erlaub en tragen, daß wir hier unsere Meinung sagen,
eneinfürustagbHdhn,rtie
sieabrnchdmutgSaerKonsli- (lebhafter Beifall bei der CDU/CSU — Zu
nen noch keineswegs. Deshalb sind auch nach den ruf des Abg. Wehner)
jüngsten Konsultationen weitere Klärungen in zähen die Sie in den Kabinettsberatungen der letzten drei
und geduldigen Verhandlungen erforderlich. Jahre etwas ernster gewürdigt haben, als Sie es
Wir stehen dabei — im Gegensatz zu früheren, mit Ihren Zwischenrufen hier tun.
wiederholten Warnungen und Prophezeiungen füh- (Erneuter Beifall bei der CDU/CSU.)
render Sozialdemokraten und auch mancher deut-
Aber die ganz besondere Bedeutung, die der
scher Publizisten — nicht unter einem Zeitdruck oder
deutschen Entscheidung zukommt, für uns und auch
vor der Gefahr der Isolierung.
in der Sicht anderer, gibt uns die Chance und die
(Beifall bei der CDU/CSU.) Verpflichtung, alle politischen Möglichkeiten bis
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969 309
Dr. Stoltenberg
\)
zur vollen und eindeutigen Klärung unserer legiti- mahnen, bisher wenig Interesse an dieser detail-
men Interessen vor einer abschließenden Würdi- lierten Erarbeitung einer europäischen Position zei-
gung auf das nachdrücklichste zu nutzen. gen.
(Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Leider wahr!)
Hier nenne ich als erstes unsere Europapolitik auf
der Grundlage der völkerrechtlich geltenden un- Sicher liegt die spezielle Verantwortung für dieses
zweideutigen Verträge über den Gemeinsamen Versäumnis nicht bei uns. Aber es war auch in der
Markt und Euratom und, damit eng verbunden, un- Bundesrepublik in den letzten Jahren nicht immer
sere wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Be- einfach, die entscheidende Bedeutung der euro-
lange. In Europa haben wir seit 1956 durch die Rö- päischen Gemeinschaften und den Rang der euro-
mischen Verträge die Grenzen der Nationalstaaten, päischen Verträge im Zusammenhang mit der Be-
ihre Rechts- und Wirtschaftsordnung nicht nur ver- wertung des Atomwaffensperrvertrages genügend
bal, sondern praktisch überschritten: Freizügigkeit, deutlich zu betonen.
Niederlassungsfreiheit, Wettbewerbsgleichheit,
Nichtdiskriminierung, schrittweise Rechtsanglei- (Beifall bei der CDU/CSU.)
chung sind essentielle und unverzichtbare Wesens- 1956 hat Konrad Adenauer unmittelbar nach dem
merkmale der neuen europäischen Gemeinschaften, Fallen des Besatzungsstatuts in den Römischen Ver-
sind Grundrechte ihrer Bürger geworden. trägen erreicht, daß alle Mitgliedstaaten der euro-
(Beifall bei der CDU/CSU.) - päischen Gemeinschaften unabhängig von ihrer mili-
tärischen Stellung die gleichen Rechte und Pflichten
Deshalb ist jeder Versuch, diese Gemeinsamkeit
für Wissenschaft und Industrie übernehmen.
und Gleichberechtigung im Bereich der Wissenschaft
und Wirtschaft, der friedlichen Zusammenarbeit und (Beifall bei der CDU/CSU.)
des Wettbewerbs innerhalb der Gemeinschaften
direkt oder indirekt anzutasten, für uns inakzepta- Die Integration war das entscheidende Mittel zur
bel. Überwindung der Schatten der Vergangenheit, des
Mißtrauens und der Ressentiments. Es gibt keinen
Das rein nationalstaatliche Prinzip des Nichtver- Grund und keine Rechtfertigung, 1969 dieses zen-
breitungsvertrages in der höchst problematischen trale Prinzip der gleichen Rechte und Pflichten in
Rechtsungleichheit von Atomwaffenmächten und Wissenschaft und Industrie für die Gemeinschaft und
Nicht-Nuklearwaffen-Staaten auch im friedlichen in einem weiteren Europa auch nur im geringsten
Bereich steht in einer Grundspannung zu diesen einzuschränken.
modernen, zukunftweisenden Strukturen, die Nicht-
(Beifall bei der CDU/CSU.)
nuklearmächte und Atommächte in Europa gleichbe
rechtigvn. Deshalb haben wir in der letzten Bundesregierung
(Beifall bei der CDU/CSU.) bis in die Beratung des August hinein einer völligen
Klärung dieser europäischen Fragen vor einer ab-
Deshalb wurde ja so hart um die Formulierung des schließenden Bewertung des Vertrages zentrale Be-
Kontrollartikels 3 gerungen. Sie ermöglicht jetzt deutung beigemessen. Dieses Ziel ist bis heute nicht
auch einer Gruppe von Staaten, gemeinsame Ver- erreicht, nicht in den Gemeinschaften und trotz ge-
träge mit der Internationalen Atomenergieorgani- wisser weiterer Fortschritte in den Konsultationen
sation abzuschließen. Sie ermöglicht die Einschaltung der letzten Wochen auch noch nicht voll in der Hal-
von regionalen Kontrollsystemen, ohne sie aber als tung unserer wichtigsten Verbündeten, der Ver-
rechtlichen Anspruch zu garantieren. einigten Staaten von Amerika und Großbritanniens.
Wir sind uns über den Grundsatz der Aufrecht- Deshalb war es ein Fehler, daß die neue Bundes-
erhaltung des europäischen Kontrollsystems in die- regierung ohne Diskussion mit uns eine relativ kurz-
sem Hause immer einig gewesen. Aber die schon fristige deutsche Unterschrift in Aussicht stellte,
vor langer Zeit entwickelten deutschen Vorstellun- ohne den Zeitpunkt zu kennen, zu dem sich die Mit-
gen über die Einzelheiten einer solchen Regelung gliedstaaten der Gemeinschaft und die anderen in
— hier liegen die Kernpunkte im Detail —, die allen Punkten endlich verbindlich äußern.
exakten Garantien für die Vermeidung von diskri- (Beifall bei der CDU/CSU.)
minierenden Doppelkontrollen, die ganz genaue
Begrenzung der Aufgaben der Wiener Behörde auf Ich warne dabei erneut vor dem wieder diskutier-
eine Verifikation der Ergebnisse ohne zusätzliche ten Gedanken, wesentliche Klärungen, die jetzt mög-
Kontrollen sind bis heute nicht im ausreichenden lich sind, in die Zeit nach der Unterschrift und vor
Umfang international abgesichert. So ist es bestür- der Ratifizierung zu verlegen.
zend, daß sich noch nicht einmal die Mitgliedstaaten (Abg. Rawe: Sehr wahr!)
der Gemeinschaft trotz der intensiven Bemühungen
der Kommission über sehr allgemeine Grundsätze Dieses von einigen anderen Staaten gewählte Ver-
hinaus auf eine verbindliche Position in diesen fahren würde unsere Verhandlungsposition nicht
wesentlichen Einzelfragen eines Kontroll- und Veri- stärken, sondern schwächen.
fikationsmechanismus einigen konnten. Frankreichs (Beifall bei der CDU/CSU.)
prinzipielle Ablehnung des ganzen Vertrages hat
diese Lage natürlich objektiv erschwert. Aber es ist Es wird der Bedeutung dieser Fragen für die Ge-
erstaunlich, daß auch die Regierungen von solchen meinschaft nicht gerecht und widerspricht übrigens
Mitgliedstaaten, die einen baldigen deutschen Bei- auch dem völkerrechtlichen Grundsatz, daß eine
tritt wünschen und gelegentlich auch öffentlich an- Regierung Verträge nur in voller Kenntnis ihrer
310 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969

Dr. Stoltenberg
Konsequenzen und in der Absicht unterschreibt, den Das sind einige der Fragen, die sich heute in die
Ratifikationsvorgang auch zu bewirken. ser Zwischenbilanz für uns stellen. Zu anderen, die
ich nur andeutete, wird vor allem mein Kollege
(Lebhafter Beifall bei der CDU CSU.)
Kurt Birrenbach eingehender sprechen.
Alles, was jetzt festgelegt werden kann, muß auch
Meine Damen und Herren, ich möchte zum Ab-
geklärt werden.
schluß folgendes sagen. Wir veranschlagen die ein-
(Erneuter Beifall bei der CDU/CSU.) gangs genannten Perspektiven der Verringerung von
Hier geht es nicht um technische Details, wie ich es Konfliktgefahren und der Hoffnung auf spätere Ab-
in der Sprache der Diplomaten so oft in den letzten rüstungsgespräche, die sich jetzt ankündigen, sehr
Jahren gehört habe, sondern um Kernfragen recht- hoch. Dies rechtfertigt das Bemühen der Bundesre-
licher, wissenschaftlicher und industrieller Natur. gierung, intensiv zu verhandeln, um die Vorausset-
zungen für einen möglichen deutschen Beitritt zu
(Erneuter Beifall bei der CDU/CSU.) klären. Er bliebe, wie deutlich wurde, auch dann
Deutschlands Wissenschaft und Wirtschaft kann noch eine schwere Entscheidung mit manchen Hypo-
auf diesem Schlüsselgebiet der Zukunft keine Dis- theken, wenn in den genannten Punkten befriedi-
kriminierung hinnehmen. Dies gilt für die Situation gende Interpretationen erzielt werden. Dies ist nach
innerhalb der Gemeinschaften, gegenüber möglichen unserer Überzeugung aber nur möglich, wenn die
neuen Mitgliedsländern, aber auch im weltweiten deutsche Entscheidung bis zum Schluß der Verhand-
-
Maßstab. Die Bereitschaft der USA und Großbritan- lungen offenbleibt und zugleich glaubwürdig er-
niens, den friedlichen Bereich ihrer Forschung und kennbar wird, daß wir unter den genau genannten
Technik freiwillig den gleichen Kontrollen zu unter- Bedingungen und Voraussetzungen — aber auch nur
werfen, ist wichtig und hilfreich. Wir wissen aber so — zum Beitritt bereit sind.
nicht, ob die Wiener Agentur dieses Angebot mit (Beifall bei der CDU/CSU.)
seinen beträchtlichen finanziellen und organisatori-
schen Konsequenzen überhaupt annimmt. Hieran Diese ganz entschiedene Verhandlungsführung ist
gibt es gewisse Zweifel. auch deshalb notwendig, um jedermann klarzu-
machen, daß neue internationale Verträge, die sich
Eine solche Regelung löst auch nicht die Probleme,
etwa auf den Gebieten der biologischen und chemi-
die aus der strikten Weigerung der Sowjetunion
schen Entwicklung fern am Horizont ankündigen,
erwachsen, das gleiche zu tun, und auch nicht mög-
keinerlei diskriminierende Regelungen für den fried-
liche Wettbewerbsnachteile gegenüber anderen Staa-
lichen Bereich mehr enthalten dürfen und substan-
ten, die dem Vertrag überhaupt nicht beitreten.
tielle Konzessionen aller, auch der Sowjetunion, er-
) Solche Nachteile können aus perfektionistischen
fordern.
Kontrollvorstellungen erwachsen, die es hier und
da gibt, vor allem aber auch aus dem immer noch (Beifall bei der CDU/CSU.)
ungeklärten Problem der Kosten. Ich sehe bisher Weil dies so ist, können wir keinen Terminzwang
nicht, wie die erforderlichen Beschlüsse über die vertragen, für den es in der internationalen Behand-
sprunghaft wachsenden Kontrollkosten in den Orga- lung des Vertrags auch keinen Anlaß gibt.
nen der Wiener Organisation zustande kommen sol-
len, wenn eine Reihe wichtiger Mitgliedstaaten der (Abg. Dr. Barzel: Sehr wahr!)
Organisation den Vertrag und damit die Kontroll- Wir fordern den Bundeskanzler auf, bei der bevor-
und Kostenregelung ablehnt und andere keine Kon- stehenden europäischen Gipfelkonferenz diesen
trollen für sich zu übernehmen brauchen. Punkt auf die Tagesordnung zu setzen und mit Nach-
Wir haben mit der vor allem in Karlsruhe geför- druck für eine gemeinsame Haltung der Mitglied-
derten Entwicklung der instrumentierten Spaltstoff- staaten der Gemeinschaft in jenen Fragen einzu-
Fluß-Kontrolle bei Reaktoren die Chance bedeuten- treten, die ihre wechselseitigen Verpflichtungen auf
der Vereinfachungen. Aber ihre Übertragung auf die Grund der Römischen Verträge berühren. Es müßte
industriellen Bereiche der Brennelementfabrikation uns alle in diesem Hause zutiefst beunruhigen, wenn
und der Wiederaufarbeitung ist schwierig und noch wir Europäer nicht einmal dort mehr handlungs-
nicht abschließend geklärt. Diese Fragen berühren fähig sind, wo die Verträge klar und unsere Interes-
die Industrie, die ihre Sorgen wiederholt in Deutsch- sen identisch sind.
land öffentlich geäußert hat, noch stärker als die
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Forschung. Aber auch unter den Wissenschaftlern
gibt es weiterhin Bedenken, ob die unklaren Formu- Jedermann kann auch hier mit unserem entschie-
lierungen des Vertrages Anlaß bieten, bestimmte denen Engagement für die Sache Europas, für die
Disziplinen wie z. B. die in Deutschland bedeutsam volle Freiheit unserer Forschung, unserer Wissen-
entwickelte Fusionsforschung ungerechtfertigter- schaft und Industrie und für das Fernziel einer wirk-
weise in die Nähe militärischer Entwicklungen zu lichen Abrüstung rechnen.
rücken und sie damit zu beeinträchtigen. Leider kön-
nen wir nicht bei allen Vertragspartnern völlig aus- (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU.)
schließen, daß ihre neu erworbenen Rechtspositio-
nen gegenüber uns auch einmal ein Instrument wer- Präsident von Hassel: Das Wort hat der Abge-
den, das dazu benutzt wird, Spannungen zu ver- ordnete Flämig für die Fraktion der Sozialdemokra-
größern, und nicht dazu, sie abzubauen. tischen Partei. Für diesen Redner hat die Fraktion
(Beifall bei der CDU/CSU.) 25 Minuten Redezeit beantragt.
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969 311

Flämig (SPD): Herr Präsident! Meine Damen pretationen herausgeholt hat wie die Bundesrepu-
und Herren! Was der Kollege Stoltenberg hier aus- blik, und das kommt allen zugute. Der Text ist jetzt
führte, insbesondere seine grundsätzliche Bejahung nicht mehr zu ändern. Über 90 Staaten haben unter-
des Atomwaffensperrvertrags, klingt schon etwas schrieben, nahezu 40 haben ratifiziert.
anders als das, was man bisweilen draußen im Lande
hörte. Ich will nicht in die Prophetie einsteigen, Herr
(Sehr richtig! bei der SPD. — Widerspruch Kollege Dr. Stoltenberg, wie Sie es vorhin getan
bei der CDU/CSU.) haben. Aber es spricht doch einiges für das, was die
Bundesregierung sagt: daß in absehbarer Zeit die
Wir Sozialdemokraten nehmen das zur Kenntnis. Zahl 40 erreicht ist und damit der Vertrag in Kraft
Aber wir stellen fest, daß wir in wesentlichen Punk- tri.
ten anderer Auffassung sind. (Abg. Dr. Stoltenberg: Das habe ich nicht
(Anhaltende Zurufe von der CDU/CSU.) bestritten!)
Wir glauben, daß die Verhältnisse jetzt so sind, daß Wer angesichts dieser Sachlage noch immer
die Unterschrift gerechtfertigt ist. Eben weil wir „Super-Versailles" sagt, der unterstellt doch, daß
gegen die Ausbreitung von Atomwaffen sind, gerade mehr als 90 Länder der Erde für ein „Super-Ver-
weil wir sichergestellt wissen wollen, daß die sailles" und damit genauso töricht sind, wie man es
deutsche Teilnahme an der friedlichen Nutzung der unserer Bundesregierung unterstellt.
-
Kernenergie nicht behindert wird, insbesondere weil
(Beifall bei der SPD. — Zurufe von der
wir Europa stärken und die Euratom in die welt-
CDU/CSU. — Zuruf von der Mitte: Billiger
weite internationale Atomenergiekommission in
geht es nicht!)
Wien eingebaut wissen wollen, sind wir für die
baldige Unterzeichnung des Atomwaffensperrver- Hier ist vorhin von dem verstorbenen Altbundes-
trages. kanzler Adenauer gesprochen worden.
(Beifall bei der SPD.)
(Unruhe in der Mitte.)
Das ist kein Paradoxon. Wir haben uns vorgenom-
men, die Begründung für das, was ich eben sagte, Seine Beurteilung bezog sich auf die ursprüngliche
ebenso wie Sie es tun, in einigen Abschnitten vorzu- Fassung des Vertrages. Es wäre interessant, aber es
tragen. Lassen Sie mich einiges zu dem ausführen, ist müßig, heute sich darüber Gedanken zu machen,
was in der Anfrage mit „friedlicher Nutzung der was der alte Herr wohl sagen würde, wenn er die
Kernenergie" umschrieben ist. heutige Fassung läse.
Ich möchte zunächst vorausschicken, daß die Sor- (Anhaltende Unruhe bei der CDU/CSU.)
gen der Industrie, der Wissenschaft, der Forschung
Immerhin ist heute — auch dank deutscher Initia-
und der Politiker gegen die ursprüngliche Fassung
tive in die Präambel der Grundsatz aufgenommen
des Vertrages auch unsere Sorgen waren. Auch für
worden, daß die Vorteile der friedlichen Nutzung
uns war die ursprüngliche Fassung nicht annehmbar,
der Kerntechnik inklusive aller technischen Neben-
Herr Dr. Stoltenberg.
produkte allen Vertragsparteien für friedliche
(Zurufe von der CDU CSU: Doch! — Das ist Zwecke zugänglich sein sollen. Es ist geklärt, daß
aber ganz neu! — Weitere Zurufe von der in Verfolg dieses Grundsatzes alle Vertragsparteien
CDU CSU.) am weitestmöglichen Austausch wissenschaftlicher
— Das ist keineswegs neu. Wir haben von vorn- Informationen zur Weiterentwicklung und Anwen-
herein für Verhandlungen plädiert und haben diese dung der Kernenergie für friedliche Zwecke teilneh-
Verhandlungen nicht nur angekündigt, sondern ins- men. Ich erinnere an den Art. IV, der damals nicht
besondere unser damaliger Außenminister Brandt existierte, wo es steht, daß der Vertrag nicht so aus-
hat diese Verhandlungen konsequent geführt. zulegen sei, als würden unveräußerliche Rechte aller
Vertragsparteien beeinträchtigt, unter Wahrung der
(Beifall bei den Regierungsparteien.) Gleichbehandlung die Erforschung, Erzeugung und
Der Erfolg dieser Verhandlungen liegt doch vor Verwendung der Kernenergie für friedliche Zwecke
aller Augen. zu entwickeln. Und es steht darin, daß alle Ver-
(Lachen und Zurufe von der CDU/CSU.) tragsparteien sich verpflichten, den weitestmöglichen
Austausch von Ausrüstungen, Material und wissen-
Der Vertrag in seiner heutigen Fassung ist doch schaftlichen und technologischen Informationen zur
ganz wesentlich anders als seine ursprüngliche Fas- friedlichen Nutzung der Kernenergie zu erleichtern,
sung. und daß alle Vertrag sparte ien berechtigt sind, daran
(Beifall bei den Regierungsparteien.) teilzunehmen. Das ist doch nicht abzustreiten. Meine
Das verdanken wir nun einmal auch unserem da- Damen und Herren, das sind doch Vorteile!
maligen Außenminister und heutigen Bundeskanzler Es gehört eine ganze Portion Ignoranz dazu, in
Brandt und — das möchte ich in diesem Zusammen- einer Zeitung, die Ihnen, meine Damen und Herren
hang sagen — auch der Tätigkeit seiner Botschafter von der CSU, sehr nahe steht, zu schreiben:
Schnippenkötter, Bahr, Roth usw.
Die wichtigsten Folgen des Atomsperrvertrages
(Unruhe bei der CDU/CSU.) würden ungeheuer sein. Die Gefährdung der
Es steht doch fest, daß kein anderes nichtnukleares Arbeitsplätze, die Kontrolle der deutschen In-
Land so viel an Vertragsverbesserungen und -inter dustrie, die ungeklärten Kostenfragen würden
312 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969

Flämig
die deutsche Position auf dem Weltmarkt ent- Produktion behindern oder verteuern. Die Konkur-
scheidend treffen. renzsituation auf dem Weltmarkt sei heikel, wenn
nicht alle, mit denen wir auf dem Weltmarkt kon-
Und dann das Allerschlimmste:
kurrierten, den gleichen Kontrollen unterworfen
Und wieder wird es ein Sozialdemokrat sein, seien, oder gar, wenn der Kontrollierte noch die
der einen verhängnisvollen Vertrag unter- Kontrolle bezahlen solle. Meine Damen und Herren,
schreibt. wir entnehmen aus der Antwort der Bundesregie-
(Hört! Hört! bei der SPD.) rung, daß diese Frage doch weitgehend geklärt ist.
Beim Versailler Vertrag spielte der SPD-Kanzler Es soll aus dem Gesamtbudget der IAEO bezahlt
Bauer diese tragische Rolle, — — werden.
Jede Kontrolle im Betrieb bedeutet eine gewisse
(Glocke des Präsidenten.)
Belästigung. Deswegen — das sehen wir ein — ist
die Industrie gegen eine Doppelkontrolle. Im übri-
Präsident von Hassel: Einen Augenblick, Herr gen: wir haben ja jetzt schon eine Art Doppelkon-
Abgeordneter. Darf ich bitten, die Unterhaltung hier trolle, so ganz nebenbei. Wir haben neben der
vorn an der Regierungsbank und auch im vorderen Euratom-Buchkontrolle noch die weitgehenden bila-
Teil des Saales einzustellen. Wer Rücksprachen zu teralen Kontrollen seitens der Lieferländer bzw. der
erledigen hat, den bitte ich, sich etwas nach hinten Lieferfirmen.
zu begeben.
Die Opposition spricht in diesen Tagen gern da-
(Beifall. — Abg. Schwabe: Den Satz bitte von, was geschieht, wenn wir den Atomwaffen-
noch einmal vorlesen!) sperrvertrag unterschreiben. Man muß auch einmal
davon sprechen, was geschieht, wenn wir den Ver-
Flämig (SPD) : Ja, es ist vielleicht notwendig, den trag jetzt nicht unterschreiben.
Satz noch einmal im Zusammenhang zu genießen:
(Beifall bei den Regierungsparteien.)
Beim Versailler Vertrag spielte der SPD-Kanzler
Jeder Fachmann weiß, daß es in der Bundesrepu-
Bauer diese tragische Rolle. Jetzt ist Willy
blik Kernkraftwerke gibt, daß sie hier entwickelt
Brandt in seine Fußtapfen getreten.
und gebaut werden, die nicht auf der Basis des Na-
Meine Damen und Herren, so etwas kann man tururans arbeiten, sondern mit angereichertem
schlicht und einfach mit Brunnenvergiftung um- Uran. Die Anreicherung ist ein komplizierter tech-
schreiben. nischer Vorgang. Das gehört nicht hierher. Aber wir
(Beifall bei den Regierungsparteien.) wissen, daß der Löwenanteil des angereicherten Ma-
terials zur Zeit aus den USA kommt. Der schöne
Wir haben uns überzeugt: was sagt die betroffene
Traum einer eigenen Anreicherungsanlage, einer
Industrie dazu? Was sagt die Wissenschaft dazu?
Gasultrazentrifuge, wird sich wahrscheinlich eines
Gewiß, das ist in der Stellungnahme des Deutschen
Tages verwirklichen. Aber selbst die Fachleute sa-
Atomforums niedergelegt. Wir sind der Sache nach- gen uns: Es wird 1972/73 werden, bis der Bau einer
gegangen, Herr Kollege Memmel. Auch wir sind in solchen Anlage überhaupt in Angriff genommen
die USA gefahren, und es ist müßig, festzustellen, werden kann.
wer in wessen Fußtapfen getreten ist. Wir haben
Gespräche mit der Industrie geführt und haben zu In Amerika habe ich in Gesprächen erfahren: Sie
brauchen in der Bundesrepublik den Atomwaffen-
unserer Freude und Überraschung gesehen, daß es
wesentliche Gesichtspunkte f ü r die jetzige Unter- sperrvertrag nicht zu unterschreiben; es genügt,
wenn Sie sich den Kontrollbestimmungen unterwer-
zeichnung des Vertrages auch in der Industrie gibt.
fen. Meine Damen und Herren, das heißt doch aber,
Die Industrie sieht z. B. ein, — — die Nachteile in Kauf nehmen, ohne die Vorteile,
(Zuruf von der CDU/CSU: „Welche?" von denen ich vorhin gesprochen habe, irgendwie
„Schuhwarenindustrie?") auch zu genießen.
— Nicht die Schuhwarenindustrie, sondern die be- (Zustimmung bei den Regierungsparteien.)
troffene Nuklearindustrie. Wenn die Bundesrepublik kein Vertragspartner ist,
(Heiterkeit.) gibt es eben weiter bilaterale Kontrollen, und die
sind auch nicht gerade schön und erstrebenswert.
— Das erheitert Sie anscheinend kolossal. -- Ich
habe selber Gespräche geführt, meine Damen und Jederzeit könnte der US-Kongreß ein Gesetz an-
Herren. Sie stellen sich hier so hin, als seien Sie der kündigen, das sich auf Nichtunterzeichnerstaaten
alleinige Vertreter gewisser Industrieinteressen. Ich des Atomwaffensperrvertrags bezieht. Dann müß-
muß Ihnen sagen: uns liegt das Vorankommen in der ten die Lieferfirmen für angereichertes Material ab-
Wirtschaft, insbesondere auch in der Nuklearindu- warten, dann würde eben der Nachschub auf einmal
strie, genauso am Herzen wie Ihnen. stocken. Das wäre ein Risiko für die Elektrizitäts-
versorgungsunternehmen. Ein Tag Verzögerung im
(Beifall bei den Regierungsparteien.)
Kernbrennstoffnachschub würde für ein normales
Mir ist gesagt worden: Die Industrie sieht ein, daß Elektrizitätsversorgungsunternehmen einen Ausfall
eine Kontrolle notwendig ist für den Transport, die von 300 000 DM bedeuten. Im Monat wären das
Herstellung, die Lagerung, die Verwendung und die 10 Millionen DM. Das haben wir nachgerechnet,
Wiederaufarbeitung von spaltbarem Material. Die Herr Martin. Allein diese Möglichkeit würde doch
Industrie sagt: Das darf aber nicht über Gebühr die ein konservatives Elektrizitätswerk davon abhalten,
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969 313
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jene 600 bis 800 Millionen DM für ein Kernkraft- Im übrigen ist doch die Praxis der Wiener Be-
werk zu investieren, zumal sich in unserem Raum hörde so, daß Kontrolleure zurückgewiesen werden
auch noch Erdgas, 01 und Kohle anbieten. können, die den Kontrollierten nicht passen. Darüber
hinaus bin ich der Auffassung — von diesem Argu-
Das bedeutet also: die Nichtunterzeichnung führt
im Ausland und im Inland zu Unsicherheit auf dem ment sollte man bei Gelegenheit auch einmal Ge-
Markt. Das wären schlechte Grundlagen für eine brauch machen —, daß hier das Motto gilt: Wer sich
Auftragserteilung für Atomreaktoren oder Brenn- selbst nicht kontrollieren läßt, hat auch andere nicht
elemente. Auch wenn wir nicht unterzeichneten, zu kontrollieren, wenigstens nicht bei uns.
würden wir trotzdem, wie gesagt, durch bilaterale (Beifall bei den Regierungsparteien. —
Verträge überwacht, und es gäbe doch keine Unab- Lachen und ironischer Beifall bei der CDU/
hängigkeit. Ein Manager — nicht ein „Schuhfabri- CSU.)
kant", meine Damen und Herren, wie Sie mir vorhin
zugerufen haben, sondern ein Mann, der selber da- Herr Dr. Stoltenberg hat gesagt, die Sache sei
mit zu tun hat, unter Umständen nicht mit der europäischen Integra-
(Zurufe von der Mitte) tion vereinbar. Er hat aber nicht gesagt — obwohl er
es als langjähriger Fachminister weiß —, daß die
der in seinem Betrieb Brennelemente herstellt — Euratom-Kommission die Mitgliedsländer ange-
hat mir gesagt: Wir können und wollen Anreiche- schrieben und ihnen empfohlen hat, den Vertrag zu
-
rungsanlagen, die nicht überwacht werden, nicht be- unterschreiben, allerdings unter Vorbehalt. Wörtlich
treiben. Wir wollen uns nicht dem Vorwurf ausset- steht in dem Schreiben — ich habe es doch auch
zen, wir wollten eine Kontrolle vermeiden; denn gelesen —:
wir haben nichts zu verbergen.
Die Doppelkontrolle soll durch ein Nachprüfungs- Es besteht keine Unvereinbarkeit zwischen den
abkommen, ein sogenanntes Verifikationsabkom- Zielen des Nichtverbreitungsvertrages und
men, vermieden werden. Das ist nicht nur notwen- Euratom.
dig, um die Doppelkontrolle zu vermeiden, sondern (Abg. Dr. Stoltenberg: Aber das ist doch ein
auch deshalb, um nicht jene europäische Zusammen- unvollständiges Zitat!)
arbeit aufs Spiel zu setzen, von der Sie, Herr Kol-
lege Stoltenberg, gesprochen haben, nicht zuletzt — Moment, es heißt weiter:
auch — das gebe ich zu — wegen Frankreich. Unser Die Kommission betrachtet den Abschluß eines
Nachbar will den Vertrag nicht unterzeichnen. Aber Nachprüfungsabkommens Euratom — IAEO als
er hat erklärt, daß er sich in allen Punkten so ver- geeigneten Weg, die erforderlichen Garantien
halten wolle, als hätte er unterzeichnet, nämlich zu erlangen.
konform.
Die Kommission sagt, es sei notwendig, die Unter-
(Lachen und Zurufe von der CDU/CSU.)
zeichnung unter dem Vorbehalt zu machen,
-- Die Erklärung liegt vor. Frankreich hat sich im
daß Art. 3 des Vertrages erst in Kraft tritt,
übrigen der Euratom-Kontrolle unterworfen. Schon
wenn im Sinne dieses Artikels ein Abkommen
aus diesem Grunde müssen wir an einer Aufrecht-
geschlossen ist, das die Wahrung der Rechte
erhaltung der Euratom-Kontrolle interessiert sein.
und der Pflichten der Mitgliedstaaten und der
Es geht also darum, die Brüsseler Kommission Gemeinschaft laut Euratom-Vertrag garantiert.
und die Wiener Organisation zu einem Überein-
Jetzt ist das Zitat vollständig.
kommen zu bringen. Das wird geschehen, sobald die
Bundesrepublik unterzeichnet hat. Es wäre töricht, Die Kommission besteht darauf, daß die fünf
so zu tun, als sprächen andere Gründe gegen die Mitgliedstaaten, die hier betroffen sind, gemeinsam
Kontrolle durch die Wiener Behörde, die übrigens vorgehen. Sie sagt allerdings am Schluß des Briefes
vor wenigen Tagen 28 Kontrolleure angestellt hat, auch:
darunter auch Deutsche. Eine Ratifizierung oder zumindest eine Hinter-
(Zuruf von der Mitte: Sowjetrussen!) legung der Ratifikationsurkunden soll aufge
— Das ist doch eine Weltorganisation. Selbstver- schoben werden, bis zufriedenstellende Abkom-
ständlich sind darin auch Sowjetrussen; ich komme men zwischen Euratom und der Wiener Be-
sofort darauf. hörde erreicht sind.
Wir wollen im Gouverneursrat Sitz und Stimme Italien, Belgien, die Niederlande, Luxemburg haben
haben, in dieser Weltorganisation zur friedlichen unterzeichnet. Wir sollten jetzt nachziehen, um die
Nutzung der Kernenergie. Dazu brauchen wir die Gleichheit herzustellen.
Mehrheit der 102 Stimmen in dieser Organisation. (Beifall bei den Regierungsparteien.)
Die kriegen wir nicht, wenn wir uns isolieren. Die
kriegen wir auch nicht, wenn wir die Internationale Über das Wie muß verhandelt werden. Aber dazu
Atomenergieorganisation in Wien so hinstellen, als braucht doch die Euratom ein Mandat, meine Damen
sei sie eine Art Schnüffelorganisation. Fachleute und Herren, d. h. sie braucht eine Willenserklärung
haben mir gesagt, der Einwand der Industriespio- der fünf Regierungen, dem Vertrag beizutreten. Die
nage sei geradezu lächerlich; eine Industriespionage Schlange beißt sich doch in den Schwanz, wenn wir
sei nicht auf Kontrolleure aus Wien angewiesen. Das sagen:
glaube ich auch nicht. (Abg. Windelen: Schlangen haben überhaupt
(Abg. Wehner: Sehr wahr! Sehr richtig!) keinen Schwanz!)
314 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969

Flämig
Keine Unterschrift, ehe die Beteiligung der Euratom- ses Vertrages klargemacht. Man spricht von den
Kommission geklärt ist! und wenn die Kommission wirtschaftlichen Nachteilen, man spricht von den
sagt: Keine Verhandlungen über die Klärung ohne möglichen wissenschaftlichen Nachteilen, aber völlig
Mandat! verschüttet worden ist der Gedanke, daß dieser Ver-
trag auch positive Seiten hat. Ich halte es für ange-
(Abg. Haase [Kassel]: Wo fängt bei der
messen, darauf hinzuweisen, welche positiven Ele-
Schlange der Schwanz an? — Abg. Wehner:
mente in diesem Vertrag enthalten sind.
Wo bei Ihnen der Humor anfängt!)
— Das finden Sie sehr lustig, Herr Haase. Sie ver- Als das atomare Wettrüsten Mitte der 50er .Jahre
stehen natürlich sehr viel davon. zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjet-
union begann, verstärkte sich gleichzeitig auch die
(Heiterkeit bei der SPD.)
Angst der Weltbevölkerung vor dem Atomkrieg.
Meine Damen und Herren, wir führen heute Die Tests von A- und Wasserstoffbomben vertieften
keine Ratifikationsdebatte. Wir haben hier im diese Angst, denn man sah, welche unheimlichen
Grunde genommen nur über die Anfrage und die Wirkungen diese neuen Massenvernichtungsmittel
Antwort der Regierung zu reden. Die grundsätz- dann haben werden, wenn sie einmal auf die Bevöl-
lichen Fragen werden noch in einer Ratifikations- kerung abgeworfen werden. Insbesondere bei uns
debatte besprochen. Aber wir Sozialdemokraten in der Bundesrepublik war die Angst groß, und
meinen, die Zeit für eine Vertragsunterzeichnung zwar deshalb, weil wir gerade an der Nahtstelle
sei gekommen. Was vor der Unterschrift geklärt wer- zwischen Ost und West liegen und durch unsere
den konnte, ist geklärt. Was noch geklärt werden geographische Lage im Hinblick auf einen Atom-
muß, kann erst geklärt werden, wenn die Bundes- krieg in einer besonderen Gefährdung sind. Es be-
republik die Unterschrift leistet, denn die Kommis- steht die Möglichkeit, daß bei einer atomaren Aus-
sion braucht ein Mandat. Das letzte Wort wird einandersetzung das deutsche Volk ausgerottet
immer noch der Bundestag haben, wenn eine be- wird.
friedigende Klärung herbeigeführt ist, d. h. Aner-
kennung der Euratom-Kontrollen, Nichtdiskriminie- Das war zu einer Zeit, als die gegenseitige Hoch-
rung durch Kontrollen etc. und die Kostenfrage. rüstung auf diesem Gebiet besonders in Gang war.
Erfreulicherweise konnten wir aber feststellen, daß
Eine rasche Unterzeichnung des Vertrages be- damit auch das atomare Patt entstand, d. h. daß den
schleunigt die Euratom-interne Vorbereitung und Großmächten klar war, daß sie niemals diese Waf-
hilft auch, die Fragen zu klären, die in dem Fragen- fen würden einsetzen können, wenn sie sich nicht
katalog des Deutschen Atomforums noch offen sind. selbst vernichten wollen. Es blieb aber die Gefahr
Den Vertrag nicht unterschreiben bedeutet, die Soli- übrig, daß die Großmächte durch kleinere Mächte,
darität mit anderen Euratom-Partnern zu verletzen. die in Besitz von Atomwaffen kommen, in eine
Den Vertrag nicht unterschreiben bedeutet, Wasser atomare Auseinandersetzung gezogen werden könn-
auf die Mühlen derjenigen zu gießen, die da be- ten. Diese Gefahr ist groß, und das veranlaßte
haupten, wir wollten Atomwaffen herstellen oder selbstverständlich auch die Großmächte, sich darüber
uns wenigstens die Möglichkeit dazu offenhalten. Gedanken zu machen, wie man das verhindern
(Widerspruch bei der CDU/CSU.) kann. Deshalb war ein legitimes Interesse der Groß-
mächte vorhanden, eine Regelung zu finden, die die
Den Vertrag nicht unterschreiben heißt, die Herstel- Verbreitung der Atomwaffen auf weitere Nationen
ler von Kernkraftwerken und von Brennelementen, möglichst nicht zuläßt.
die mit angereichertem Uran arbeiten, in eine Si-
tuation der Unsicherheit zu bringen und ihre Exi- Meine sehr verehrten Damen und Herren, stellen
stenz zu gefährden. Den Vertrag nicht unterschrei- Sie sich vor, daß diese Atomwaffen z. B. im Nahen
ben heißt die Bemühungen der Euratom um ein Osten an die Nationen verbreitet worden wären,
Nachprüfungsabkommen zunichte machen. Selbst seinerzeit im Kongo, an Nigeria, ganz gleich wo!
das Deutsche Atomforum hat offengelassen, ob die Die Verantwortung, die mit dem Besitz von Atom-
ungeklärten Fragen vor oder nach der Unterschrift waffen verbunden ist, auch im Hinblick auf das
geklärt werden sollen, hat also die Unterschrift eigene Volk, ist so entscheidend groß, daß es in der
selbst, genauso wie Sie — das habe ich heute mit Tat nur so sein kann, daß eine wirklich verantwor-
Freude gehört —, nicht in Frage gestellt. Wir sind tungsvolle Regierung alles tun wird, in der Lage
der Auffassung, die Zeit ist reif für die Unterschrift, zu sein, diese Fragen zu meistern.
weil die Nachteile der Nichtunterzeichnung größer
sind als die Vorteile. Es liegt aber auch im Interesse der kleineren
Mächte, eine Nichtverbreitung der Atomwaffen an-
(Beifall bei den Regierungsparteien.)
zustreben. Es war der irische Chefdelegierte Frank
Aiken, der bereits im Oktober 1959 in den Verein-
Präsident von Hassel: Das Wort hat der Abge- ' ten Nationen einen entsprechenden Antrag ein-
ordnete Dr. Rutschke. brachte, der dann von der UNO-Delegation Irlands
in ihrem Entschließungsentwurf vom 17. November
Dr. Rutschke (FDP) : Herr Präsident! Meine sehr 1961 den Vereinten Nationen zur Beschlußfassung
verehrten Damen und Herren! Die Auseinanderset- vorgelegt und am 4. Dezember 1961 angenommen
zungen der letzten Monate und -- ich möchte fast wurde. Es waren also nicht die Großmächte, sondern
sagen — Jahre um diesen Vertrag haben der Öffent- die Initiative für diesen Sperrvertrag ging von
lichkeit eigentlich nur die negativen Elemente die- einem kleineren Land aus.
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Dr. Rutschke
Es entstanden langwierige Verhandlungen. Der Die zweite Frage ist, ob die friedliche Nutzung der
Kollege Flämig hat schon darauf hingewiesen, daß Atomenergie durch diesen Vertrag weiterhin garan-
der ursprüngliche Vertragstext entscheidend ver- tiert bleibt, ferner, ob die wissenschaftliche For-
ändert werden konnte. Wir danken es der damaligen schung durch Kontrollen eventuell behindert werden
Bundesregierung, daß sie sich energisch für unsere könnte. Ganz törichte Leute sind der Meinung, der
Interessen eingesetzt hat und daß wir den nunmehri- wichtigste Punkt sei, daß durch die Kontrolleure der
gen Vertragsentwurf haben, der eine ganz entschei- IAEO „Spionage" betrieben werden könnte. Ich
dende Verbesserung im Vergleich zu dem ursprüng- habe jedenfalls in den Wahlversammlungen dieses
lichen Text ausweist. Argument der Spionage immer als Nummer eins
Die Reaktionen auf den nunmehr vorliegenden entgegengehalten bekommen. Geradezu lächerlich
dieser Gedanke! Herr Kollege Flämig hat darauf
Vertrag sind unterschiedlich gewesen. Franz Josef
schon die notwendige Antwort gegeben.
Strauß und der „Bayern-Kurier" waren sich in dem
Fall ausnahmsweise einmal einig. Sie sagten, das Ein weiterer Nachteil könnte die doppelte Kon-
sei ein „kosmisches Versailles". trolle durch Euratom und IAEO, die Wiener Behörde,
(Heiterkeit bei Abgeordneten der Regie sein.
rungsparteien.)
Ich. glaube, daß bis auf den letzten Punkt, nämlich
Die Atomindustrie fürchtete gewisse Nachteile im den der Doppelkontrolle durch Euratom und IAEO,
-
Wettbewerb. Nun, das war zu prüfen. Andere, die durch die Regierung in der Ihnen vorliegenden
den Vertrag mehr von der politischen Seite betrach- Drucksache Nr. 50 alle Fragen, soweit sie über-
teten, waren der Meinung, dadurch werde eine Fixie- haupt befriedigend zu beantworten sind, eine be-
rung der Unterscheidung zwischen Nationen er- friedigende Antwort gefunden haben.
ster und zweiter Klasse entstehen: Nationen, die
über Atomwaffen verfügen, und solche, die nicht Es steht eindeutig im Vertrag, daß die friedliche
über Atomwaffen verfügen. Nutzung nicht behindert wird und die wissenschaft-
Meine Damen und Herren, das ist leider richtig. liche Forschung garantiert bleibt. Nun sagen Sie,
Es ist leider auch festzustellen, daß wir nicht unter meine Damen und Herren von der CDU/CSU, es
den Mächten der Nummer eins sind. Wir dürfen komme auf die Auslegung dieses Vertrags an, und
dabei aber nicht völlig vergessen, daß sich in der Teufel stecke bekanntlich im Detail. Da möchte
Deutschland ein machtbesessener Abenteurer durch- ich Sie darauf hinweisen, daß man natürlich sowohl
setzen konnte und die deutsche Geltung und das von der einen wie von der anderen Seite alles in
deutsche Ansehen in der Welt verspielt hat. einen Vertrag hineingeheimnissen kann. Auf der
einen Seite können die Russen durch Auslegung
(Beifall bei den Regierungsparteien.) unter Umständen etwas in diesen Vertrag hinein-
Die Konsequenz daraus ist eben die, daß wir nicht geheimnissen, was gar nicht darin steht. Dann sähen
mehr zu den Mächten der Nummer eins gehören, sie sich aber immerhin etwa 100 Nationen gegen-
sondern daß wir uns selber in die Lage einer Macht über, die im Hinblick auf den Wortlaut des Vertra-
der Nummer zwei gebracht haben. Das sollte man ges einen anderen Standpunkt einnähmen.
bei den Betrachtungen im Hinblick auf den Atom-
sperrvertrag auch nicht völlig vergessen. Aber auch Sie von der CDU/CSU geheimnissen in
diesen Vertrag Sie tun es kräftig — Auslegungs-
(Zustimmung bei den Regierungsparteien.) befürchtungen hinein, die Sie nach meinem Empfin-
Hitlers unverantwortliche Machtpolitik ist auch jetzt den durch den Text des Vertrages nicht rechtfertigen
wieder ein Stein, der auf unserem Wege liegt. Denn können. Es scheint mir doch der Überlegung wert zu
wir müssen mit besonderer Vorsicht auch an diese sein, daß Sie uns damit keinen Gefallen tun, sondern
Fragen herangehen; wir können nämlich leicht in im Gegenteil vielleicht andere auf Gedanken brin-
einen falschen Ruf kommen. Kollege Flämig hat gen, auf die sie möglicherweise noch gar nicht ge-
bereits angedeutet, daß uns die Verweigerung der kommen sind.
Unterschrift so ausgelegt werden könnte, als streb-
(Lachen bei Abgeordneten in der Mitte.)
ten wir nach Atomwaffen. Das tun wir mit Sicher-
heit nicht. Allerdings dürfte ein ehemals sehr promi- Wenn es ein Vertrag zwischen der UdSSR und der
mentes Regierungsmitglied dann in England nicht Bundesrepubli k allein wäre, würde ich Ihre Beden-
so viel Andeutungen machen, daß auch die Bundes- ken, Herr Kollege Stoltenberg, natürlich teilen kön-
republik an dem Besitz von Atomwaffen beteiligt nen, denn dann wäre er nur ein zweiseitiger Ver-
sein wolle. Ich glaube, daß er damit unseren Inter- trag, und die Auslegung läge dann immer zwischen
essen nicht nützt. zwei Vertragspartnern. Da es sich aber um einen
(Beifall bei den Regierungsparteien.) Vertrag zwischen mehr als 100 Nationen handelt,
Meine Damen und Herren, was ist an diesem Ver- können Sie doch nicht allein die Auslegungen, die
trag auszusetzen? — Er beinhaltet zunächst einmal die Sowjetunion unter Umständen vornehmen könn-
den Verzicht auf Atomwaffen. Das ist für uns kein te, als Maßstab für diesen Vertrag nehmen.
Opfer, denn wir haben bereits auf Atomwaffen ver- (Abg. Dr. Barzel: Sprechen Sie ruhig weiter
zichtet und wollen dabei auch bleiben. In unserer so ins Protokoll!)
strategischen und geographischen Lage tun wir gut
daran, nicht danach zu streben, irgendwie Atomwaf- Auf der anderen Seite stehen doch 100 Nationen,
fen in unseren Besitz zu bekommen. die nicht daran interessiert sein können, unbegrün-
316 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969
Dr. Rutschke
dete und einseitige Auslegung in dieser Form zu zu liefern, die entweder Mitglied dieses Vertrags-
unterstützen. werks sind oder sich zumindest den Kontrollbestim-
(Beifall bei der FDP. — Abg. Dr. Barzel: mungen unterwerfen. Das würde also bedeuten, daß
Ganz unwichtig, wie die Sowjetunion inter wir zwar dem Vertrag — wenn es nach Ihnen
pretiert?!) ginge — nicht beitreten, weil wir die wissenschaft-
liche Forschung — —
— Aber meinen Sie, Herr Barzel, daß die USA un- (Zurufe von der CDU/CSU: Wer sagt denn
wichtig sind, die auf der anderen Seite stehen? das? — Abg. Kiep: Das hat kein Mensch
(Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. gesagt!)
Dr. Barzel: Nein!) — Gut, ich will es gerne verbessern. Es bestünde
— Nun, bitte, das ist doch die entscheidende Frage. also, solange wir diesem Vertrag nicht beigetreten
Sie halten sich immer nur an das, was eventuell die sind, die Schwierigkeit, daß Art. III Abs. 2 Anwen-
Sowjetunion sagen könnte. Die Regierung hat mit dung findet, daß wir entweder kein spaltbares Ma-
den Vereinigten Staaten verhandelt und hat Zusa- terial mehr bekommen — denn auf der anderen Seite
gen bekommen. Die ignorieren Sie offensichtlich. verpflichten sich ja auch die Geberländer dieses
Das ist nicht in Ordnung. Materials, sich an die Bestimmungen des Vertrags
zu halten — oder daß wir uns den Kontrollbestim-
Vizepräsident Frau Funcke: Herr Kollege mungen unterwerfen müssen, die uns nach Ihrer
- Meinung ja so besonders drücken. Und dann sind
Rutschke, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
wir diesem Art. III Abs. 2 des Vertrages, also der
Kontrolle, zwar unterworfen, können aber die Vor-
Dr. Barzel (CDU/CSU) : Herr Kollege Rutschke, teile, die in den späteren Artikeln, auf die Kollege
ich darf Sie nur herzlich fragen, ob Sie auch das Flämig hingewiesen hat, in diesem Vertrag enthal-
Argument in Ihre Betrachtung einbezogen haben, ten sind, nicht in Anspruch nehmen. Auch das stimmt
daß die Bundesrepublik Deutschland dem Westen also in Ihrer Argumentation nicht ganz; ich wäre
gegenüber solche Verzichte bereits definitiv erklärt Ihnen dankbar, wenn vielleicht einer der Kollegen
hat. von der CDU/CSU einmal darauf einginge, wie er
sich das vorstellt.
Dr. Rutschke (FDP): WEU-Vertrag, ja!
Vizepräsident Frau Funcke: Gestatten Sie
Dr. Barzel (CDU/CSU) Und haben Sie in Ihre eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Giulini?
Betrachtung einbezogen, daß das politisch einzig
Neue die Übernahme einer solchen Verpflichtung Dr. Rutschke (FDP): Ja, bitte, Herr Kollege!
gegenüber der Sowjetunion ist und daß deshalb die
Interpretation durch diese Macht, die eine der vier
für Deutschland verantwortlichen Mächte ist, für die Dr. Giulini (CDU/CSU) : Herr Kollege Rutschke,
wie erklären Sie es sich dann, daß die Ukraine und
Bundesrepublik Deutschland von besonderem Rang
Weißrußland, die ja in der UNO eine Stimme als
ist?
selbständige Staaten haben, diesen Vertrag nicht
unterschrieben haben?
Dr. Rutschke (FDP) : Herr Kollege Barzel, ich
stimme Ihnen insofern nicht zu, als Vertragspartner
100 Nationen und nicht nur die Bundesrepublik und
Dr. Rutschke (FDP) : Soweit mir bekannt ist,
hat die Sowjetunion auch für diese Staaten mit
die Sowjetunion sind.
unterschrieben.
(Beifall bei den Regierungsparteien.)
(Zurufe von der CDU/CSU: Nein!)
100 Nationen stehen auf der anderen Seite. Sie
werden sich sicherlich wehren, wenn durch ein einzi- Aber darauf kann ich Ihnen keine genaue Antwort
ges Mitglied — nehmen Sie die Ostblockstaaten geben; das gebe ich Ihnen ehrlich zu. Mir ist jedoch
meinetwegen dazu, davon kann man ja wohl im bekanntgeworden, daß die Sowjetunion diesen Ver-
allgemeinen ausgehen — eine einseitige Auslegung trag auch für diese Staaten verbindlich mit unter-
gegeben wird. Es unterliegt also keinem Zweifel, schrieben hat.
daß ein sehr starkes Gegengewicht vorhanden ist
und sich die Weltmeinung auch in dieser Hinsicht Dr. Giulini (CDU/CSU) : Darf ich dann nur fra-
durch die Zahl derjenigen, die anderer Meinung gen: Ist Ihnen bekannt, daß die Sowjetunion auf
sind, beeindrucken läßt. Befragen antwortet, daß der weißrussische Staat und
der ukranische Staat keine Atomwaffen besitzen
Meine Damen und Herren, es wurde viel davon und deshalb nicht zu unterschreiben brauchen?
gesprochen, daß die wissenschaftliche Forschung und
die friedliche Nutzung der Atomenergie beeinträch-
tigt werden könnten. Das hat auch der Kollege Flä- Dr. Rutschke (FDP) : Das ist mir nicht bekannt,
aber man könnte vielleicht davon ausgehen, daß die
mig angedeutet. Ich kann Sie in diesem Zusammen-
Ukraine und Weißrußland nicht eigene, sondern nur
hang nur auf Art. III Abs. 2 des Vertrages verwei-
im Rahmen der Sowjetunion Atommächte sind.
sen. Wie Sie wissen, bekommen wir, wenn wir die-
sem Vertrag nicht beitreten, keine Lieferungen Meine Damen und Herren! Nun zu dem Einwand
spaltbaren Materials mehr; denn alle Mächte, die — man hat ihn draußen in der Bevölkerung viel
Liefermächte sind, verpflichten sich, nur an Staaten gehört —, daß dann, wenn dieser Atomwaffensperr-
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969 317
Dr. Rutschke
vertrag in Kraft träte und die Kontrollen installiert Vizepräsident Frau Funcke: Das Wort hat (1
würden, die sowjetischen Kontrolleure bataillons HerBundsmitSchl.
weise kommen und vom Speicher bis zum Keller-
raum alles untersuchen würden, was in einem Atom- Scheel, Bundesminister des Auswärtigen: Frau
reaktor so vor sich geht. Auch diese Vorstellung ist Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine
falsch. Wir können jederzeit ohne Angabe von Herren! Herr Kollege Dr. Stoltenberg hat zu Beginn
Gründen Kontrolleure zurückweisen. Und wir könn- seiner Bemerkungen bemängelt, daß sich Vertreter
ten — der Kollege Flämig hat darauf hingewiesen der Regierungsparteien zum Termin der Unterzeich-
— sagen, daß wir uns nur von Kontrolleuren kon- nung geäußert haben. Wir haben nichts anderes ge-
trollieren lassen, deren Länder bereit sind, sich auch tan, Herr Kollege Stoltenberg, als das, was auch Sie
kontrollieren zu lassen. Damit würde unter Umstän- in der Vergangenheit getan haben. Was den Termin
den kein sowjetischer Kontrolleur jemals in ein angeht, so haben wir uns präzise an das gehalten,
deutsches Atomwerk kommen können. Das ist durch- was auch Sie gesagt haben, z. B. in Wien am 14. Mai
aus möglich, und man sollte es nicht anders darstel- dieses .Jahres, nämlich daß gegen Ende des Jahres
len. der Vertrag wohl unterzeichnet werden könnte,
Es werden nun Einwände in Fülle gemacht — auch wenn bestimmte Dinge geregelt seien; und um die
in Ihrer Schriftlichen Großen Anfrage, meine Damen Regelung dieser Fragen geht es. Daß wir am Ende
und Herren; und Sie haben sich selbst darüber Ge- vielleicht zu unterschiedlichen Überzeugungen kom-
danken gemacht —, die darauf hinzielen, -was ge- men, ob die Beantwortung der Fragen im Sinne der
schehen würde, wenn die NATO aufgelöst wird. Fragesteller ist, das will ich einmal dahingestellt
Nun halte ich die Auflösung der NATO für nicht so sein lassen.
akut. Selbst wenn ein Staat innerhalb der NATO
nun einen anderen Weg geht — wir hoffen, daß er Aber der Vertrag hat eine lange Geschichte. Am
wieder den Weg zurück findet —, muß ja deshalb 16. Dezember 1966 wurde der Bundesrepublik
nicht die NATO insgesamt aufgelöst werden. Sie Deutschland der Text der Art. I und II eines Nicht-
haben sich also auch darüber Gedanken gemacht; verbreitungsvertrages, über die sich die amerikani-
und die Regierung hat in ihrer Antwort auf die sche und die sowjetische Delegation der Genfer Ab-
Große Anfrage der CDU/CSU ja gesagt, daß es rüstungskonferenz geeinigt hatten, übermittelt. Von
dann möglich wäre, den Art. X des Atomwaffen- diesem Tage an war die Bundesregierung in den
sperrvertrages in Anspruch zu nehmen. Das ist Prozeß der Entstehung des NV-Vertrags einge-
durchaus eine Lösung, die sich anbietet. Aber ich schaltet und mit seinen Problemen insgesamt kon-
glaube nicht, daß die Amerikaner auch nur das frontiert. Fast drei Jahre sind seitdem vergangen.
I geringste Interesse daran haben könnten, Mittel- Man wird also, wenn die Bundesregierung in Kürze
europa preiszugeben. Das ist doch eine Vorstellung, zu einer abschließenden Würdigung des Vertrages
die sehr weit hergeholt ist. kommen will, nicht gut behaupten können, dazu
sei es noch zu früh.
Vom Deutschen Atomforum sind sehr seriöse und
ernst zu nehmende Fragen gestellt worden. Ich hatte (Beifall bei der FDP. — Abg. Wehner:
an sich die Absicht, sie noch einmal zu verlesen. Sehr wahr!)
Aber im Hinblick auf die Kürze der Zeit möchte ich Man wird ebensowenig von hektischer Eile oder
Sie auf die Antwort der Regierung verweisen. Ich Überstürzung sprechen können.
glaube, daß die Fragen bis auf einen Tatbestand,
Euratom-Kontrolle und Kontrolle durch die Wiener (Beifall bei den Regierungsparteien.)
Behörde, so beantwortet worden sind, daß man Ein Blick auf die dreijährige Geschichte der deut-
durch die Beantwortung befriedigt sein kann. schen Bemühungen um den NV-Vertrag und um die
Zur Information sollte man sich auch immer wie- Schaffung der notwendigen Voraussetzungen für den
der ins Gedächtnis zurückrufen, daß bereits 93 Staa- Beitritt der Bundesrepublik zeigt, daß die Zeit bis
ten diesen Atomwaffensperrvertrag unterschrieben zum Kabinettsbeschluß vom 13. August 1969 redlich
und 21 ihn bereits ratifiziert haben. Im übrigen be- und mit anerkennenswertem Erfolg genutzt worden
deutet die Unterschrift ja nicht die Ratifizierung. ist. Die Maßstäbe für die endgültige Bewertung des
Dieser Vertrag erhält nicht schon durch die Unter- NV-Vertrags wurden in diesem Hause schon am
schrift Gültigkeit für uns, sondern erst durch die Ra- 27. April 1967 gesetzt, und diese Maßstäbe fanden
tifizierung. Hier haben wir eine genügende Spanne die Zustimmung aller Parteien des Bundestages:
Zeit, um uns in den Verhandlungen entsprechend 1. ungehinderte Nutzung der Kernenergie zu fried-
zu verhalten und die letzten noch offenen Fragen lichen Zwecken, 2. deutliche Verbindung zur allge-
zu klären. meinen Abrüstung in der Welt, 3. Gewährleistung
der Sicherheit, 4. keine Beeinträchtigung regionaler,
Ich bin der Meinung, meine Damen und Herren,
d. h. in unse re m Falle europäischer, Einigungsbe-
daß im Interesse der Bundesrepublik die Unterschrift
unter diesen Vertrag vollzogen werden sollte. Wir strebungen. An diesen vier Kriterien haben sich die
Bemühungen der Bundesregierungen, den NV-Ver-
sind aber gleichfalls der Meinung, daß alle Fragen,
trag anzunehmen, orientiert.
die erst nach Unterzeichnung dieses Vertrages ge-
löst werden können, dann in Verhandlungen mit Erstens zur friedlichen Nutzung: Als Industrie-
Entschiedenheit aufgegriffen werden sollten, um zu nation, die auf dem Gebiet des Baues von Atom-
einem befriedigenden Ergebnis zu kommen. kraftwerken erhebliche Anstrengungen gemacht hat,
(Beifall bei den Regierungsparteien.) um den Vorsprung anderer Staaten aufzuholen, und
318 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969

Bundesminister Scheel
die heute beachtliche Exportinteressen zu wahren kannt sind und die zum größten Teil bereits auf der
hat, haben wir uns besonders bemüht, Forschung, Konferenz der Nicht-Nuklearwaffen-Staaten öffent-
Entwicklung und friedliche Nutzung der Kernenergie lich bekanntgegeben wurden. Sie bilden einen Teil
vor Risiken zu bewahren. Nicht zuletzt auf Grund der Note, die bei Unterzeichnung den Depositar-
deutscher Vorschläge wurden in der Präambel ver- mächten und den anderen Regierungen übergeben
sprochen und im operativen Teil des Vertrages zu- werden soll. Schließlich hat selbst die Sowjetregie-
gesichert: keine Beeinträchtigung von Forschung, rung auch uns gegenüber wiederholt versichert
Entwicklung und Nutzung der Kernenergie für fried- zuletzt in einem Papier, das sie am 6. November die-
liche Zwecke, Förderung des Austauschs von Infor- ses Jahres überreicht hat , daß keinem Land für
mationen und Material, Teilhabe an den Vorteilen, die Forschung, Entwicklung und Nutzung der Kern-
die die Kernwaffenstaaten aus der Entwicklung und energie für friedliche Zwecke Hindernisse in den
Produktion von Kernwaffen zugunsten friedlicher Weg gelegt werden dürfen.
nuklearer Tätigkeiten ziehen, d. h. Teilhabe an dem
Die Bundesrepublik Deutschland ist in diesen Fra-
sogenannten „spin-off", wie das in der modernen
gen nicht allein. Ihre Interessen stehen im Einklang
Technikersprache heute wohl heißt, dann Beschrän-
mit den Interessen aller nichtnuklearen Industrie-
kung der Kontrolle auf den Vertragszweck, Prinzip
staaten. Die rasche Erfüllung der Versprechen und
der instrumentierten Spaltstoff-Fluß-Kontrolle an
Verpflichtungen zur Förderung der friedlichen Nut-
bestimmten strategischen Punkten zunächst als
zung der Kernenergie bei den Nichtnuklearen würde
Zielvorstellung in der Präambel, später auch
- Über-
der allgemein geforderten Ausgewogenheit der Ver-
nahme dieses Prinzips in den operativen Teil für
pflichtungen im NV-Vertrag wenigstens in dieser
das Kontrollverfahren —, ferner Möglichkeit des
Hinsicht Rechnung tragen. Sie könnte die auch von
Verifikationsabkommens zwischen Euratom und der
uns für die -Wirksamkeit des Vertrages als notwen-
Internationalen Atomenergieorganisation in Wien,
dig herausgestellte weltweite Annehmbarkeit för-
keine Kosten für Forschung und Entwicklung, sowie
dern.
die Nichtdiskriminierung bei den Kernsprengdien-
sten für friedliche Zwecke. Wesentlich für unsere Wissenschaft und Nuklear-
In dieser Zeit sind durch Verhandlungen aus dem wirtschaft bleibt die Ausgestaltung der Kontrolle,
Vertrag Bestimmungen, die wir nicht haben wollten, die sich ja nur im friedlichen Bereich abspielt. Die
herausgefallen, nämlich die Erwähnung von Anla- Kontrollfrage ist im NV-Vertrag nicht abschließend
genkontrollen im Text des Vertrages heute geregelt. Der Vertrag verweist auf die hierüber mit
scheint das technisch auch gar nicht mehr nötig zu der Wiener Atomenergieorganisation abzuschließen-
sein —, dann die sogenannte Guillotine, d. h. keine den Abkommen. Der Vertrag ermöglicht jedoch wirt-
automatische Einführung von Kontrollen durch die schaftlich unschädliche Sicherungsmaßnahmen durch
Internationale Atomenergieorganisation im Euratom- das Prinzip der instrumentierten Spaltstoff-Fluß-Kon-
Bereich. trolle an bestimmten strategischen Punkten, wie wir
es gefordert haben. Dieses Prinzip ist auch im opera-
Zusätzlichen Schutz bieten die amerikanischen tiven Teil des Vertrages, der die Durchführung der
klassischen Interpretationen. Für den friedlichen Be- Sicherungsmaßnahmen behandelt, verankert.
reich sind dies die ersten beiden klassischen Inter-
pretationen. Darüber hinaus gibt es weitere ameri- Der NV-Vertrag läßt auch ein euratomvertrags
kanische Interpretationen und Zusicherungen in gerechtes Verifikationsabkommen zwischen der
Briefen an den Bundeskanzler und den Bundesaußen- Europäischen Atomgemeinschaft und der Wiener
minister, in anderen diplomatischen Schriftstücken Atomenergiebehörde zu. Allerdings enthält er keine
und in den offiziellen Erklärungen vor dem amerika- Garantie für ein solches Abkommen. Um die Wah-
nischen Senat. rung der Rechte und Pflichten, die den Mitglied-
staaten von Euratom und der Gemeinschaft aus den
Ich möchte noch die Äußerung des amerikanischen
Römischen Verträgen erwachsen, zu sichern, soll die
Chefdelegierten in der NV-Debatte der Vereinten
Ratifizierung des NV-Vertrages in gemeinsamem
Nationen besonders erwähnen, daß z. B. der mög-
Vorgehen aufgeschoben werden, bis ein zufrieden-
liche Reaktor der Zukunft, der auf der Basis der
stellendes Abkommen mit der internationalen Atom-
kontrollierten thermo-nuklearen Fusion arbeiten
energieorganisation zustande gekommen ist. Die
würde— Herr Kollege Stoltenberg hat soeben dar-
vier nichtnuklearen Euratommitglieder, die den
auf hingewiesen — , vom NV-Vertrag nicht betroffen
NV-Vertrag bereits unterzeichnet haben — also
ist.
außer Frankreich und uns alle —, haben den Ratifi-
Ferner gibt es die amerikanische und die britische kationsaufschub wie vereinbart bei der Ratifizierung
Zusage, für den eigenen zivilen Bereich die Kontrol- erklärt. Die Bundesregierung würde bei ihrer Unter-
len der Internationalen Kernenergieorganisation zu- zeichnung das gleiche tun.
zulassen, amerikanische Zusicherungen hinsichtlich
der ungehinderten Belieferung von Euratom mit Frankreich, das als Kernwaffenstaat am nicht-
spaltbarem Material auch bei deutschen Reaktor- diskriminierenden Euratom-Sicherungssystem wei
exporten und schließlich die Zusage der baldigen weiterhin in vollem Umfange teilnimmt, hat bei der
Aufnahme von Gesprächen mit Euratom zur Liberali- Behandlung der Euratom betreffenden Fragen aus
sierung der bestehenden Lieferverträge zwischen dem NV-Vertrag stets eine verständnisvolle Hal-
Euratom und den Vereinigten Staaten von Amerika. tung eingenommen und uns das bis in die jüngste
Zur Abrundung hat die Bundesregierung nun Zeit hinein in Gesprächen über diesen Punkt ver
eigene Interpretationen beschlossen, die Ihnen be sichert.
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Borin, Mittwoch, den 12. November 1969 319
Bundesminister Scheel
Die Bundesregierung wird weiterhin durch kon Internationalen Atomenergieorganisation gewesen
struktive Mitarbeit dazu beitragen, daß das bei der ist, die Kosten durch die Organisation tragen zu las-
europäischen Zusammenarbeit auf nuklearem Gebiet sen. Diese Meinung wird von den wesentlichen
bisher Erreichte nicht beeinträchtigt, sondern nach Partnerstaaten dieser Organisation geteilt, auch
Möglichkeit gefestigt und ausgebaut wird. Eine heute. Ich habe besonders erwähnt — weil das von
nächste Gelegenheit, dazu Stellung zu nehmen, wird Ihnen doch immer gefragt wird —, daß auch die
die Gipfelkonferenz in Den Haag bieten. Sowjetunion heute diese Meinung teilt und daß sie
uns das in einem Papier am 6. November dieses
(Abg. Wehner: Sehr gut!)
Jahres, also vor wenigen Tagen, noch einmal wie-
Durch die deutsche Unterschrift wird nach Auffas- derholt hat. Im übrigen sind auch Länder, die den
sung der neuen Bundesregierung die Gemeinsamkeit NV-Vertrag ablehnen oder ihm sogar kritisch gegen-
der Euratom-Mitglieder verstärkt werden. Hierdurch überstehen, an der Kontrolle beteiligt. So haben
werden die Aussichten auf befriedigende Ergebnisse Länder wie Indien, Brasilien und Argentinien Siche-
in den kommenden Verhandlungen zwischen Brüssel rungsabkommen mit der internationalen Organisa-
und Wien eher gestärkt. tion geschlossen. Durch ihre Nichtteilnahme am Ver-
(Zustimmung bei den Regierungsparteien.) trag würde sich ihre Situation hinsichtlich der Kon-
trolle und insoweit auch hinsichtlich der Kosten,
Die Gemeinsamkeit der Euratom-Partner ist die nämlich der Erstellung des Budgets der Organisa-
Grundlage der bisher erzielten Ergebnisse gewesen.
- tion, nicht wesentlich ändern, da die Budgetverab-
Je fester und je vitaler die Gemeinsamkeit ist, desto schiedung durch die Mehrheit der Mitglieder erfolgt.
besser werden die Interessen der Mitglieder der Ge-
meinschaft auch in Zukunft gewahrt werden können, Der NV-Vertrag ist ein Nichtrüstungsvertrag, dem
um so bereiter werden wir auch die befreundeten eine Leistung der Nichtkernwaffenstaaten, nämlich
Staaten finden, die sich für eine Förderung des Ab- ihr Verzicht auf Herstellung und Erwerb von Kern-
kommens zwischen Brüssel und Wien ausgesprochen waffen, zugrunde liegt. Mit dem Vertrag werden
haben. Ich glaube, daß wir uns über die bestehenden dagegen nicht die Gefahren beseitigt, die sich für die
Unsicherheiten und die nun einmal auf uns zurollen- Völkergemeinschaft aus dem Vorhandensein von
den Probleme bei der Kontrolle weitgehend einig Kernwaffen ergeben.
sind. Sie sollten weder verborgen noch verkleinert (Abg. Wehner: Sehr wahr!)
werden; sie sollten aber auch nicht unsere Ent- Die überwiegende Mehrheit der Nichtkernwaffen-
schlossenheit zu weiteren Fortschritten auf diesem staaten teilt mit uns die Auffassung, daß der NV-
Gebiet bremsen. Es kommt hinzu, daß bei der Kon- Vertrag ein Schritt auf dem Weg zu echten Rüstungs-
trolle die entscheidenden Probleme unabhängig von begrenzungen und Abrüstungsmaßnahmen sein muß.
der deutschen Unterschrift unter diesen Vertrag Auf die Bemühungen der Nichtnuklearen geht die
gelöst werden müssen. Einfügung des Art. 6 in den Vertragstext zurück.
Jetzt ein kurzes Wort zu den Kosten der Kon- Das mag, wenn Sie es lesen und die Durchsetzbarkeit
trolle. Nach der bisherigen Praxis bei Euratom und in Rechnung stellen, wenig sein. Aber ich bitte sich
auch in der Internationalen Atomenergieorganisa- doch einmal klarzumachen, daß dies überhaupt der
tion trägt die Organisation die durch ihre Tätigkeit erste Vertrag in der langen Geschichte der Ab-
anfallenden Kosten von Kontrollen. Dies ist unbe- rüstungsgespräche und -verhandlungen ist, in dem
stritten, und auch die sowjetische Regierung hat sich die Kernwaffenmächte in einem operativen Teil und
dafür ausgesprochen, daß die Kosten einer solchen nicht nur in der Absichtserklärung verpflichtet wer-
Kontrolle aus dem Haushalt gedeckt werden. den, in redlicher Absicht Verhandlungen über wirk-
same Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen
Wettrüstens zu führen.
Vizepräsident Frau Funcke: Herr Bundes-
minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des (Zustimmung bei der SPD.)
Herrn Abgeordneten Stoltenberg? Der NV-Vertrag ist heute der einzige praktische
Hebel, die Kernwaffenmächte zu echten Abrüstungs-
Scheel, Bundesminister des Auswärtigen: Bitte maßnahmen zu drängen. Und wer die letzte Sit-
sehr! zungsperiode des Genfer Abrüstungsausschusses
verfolgt hat, der weiß, daß die dort vertretenen
Nichtkernwaffenstaaten von dieser Möglichkeit im
Dr. Stoltenberg (CDU/CSU) : Sind Sie bereit, Vertrag hinreichend Gebrauch gemacht haben.
Herr Bundesminister, Ihre Ansicht, daß das unbe-
stritten sei, noch einmal kritisch zu prüfen im Hin- Aus der besonderen geographischen Lage der
blick auf Erklärungen einer Reihe von bedeutenden Bundesrepublik und aus der Integration der deut-
Staaten, die Mitglieder der IAEO sind, aber dem schen Streitkräfte in das westliche Bündnis, aber
Vertrag nicht beitreten wollen, daß sie nicht bereit auch als Folge unseres bereits 1954 ausgesprochenen
seien, Kontrollkosten für Aufgaben zu übernehmen, freiwilligen Verzichts auf die Herstellung von Kern-
die sie selbst der Substanz nach nicht akzeptieren waffen ergeben sich nun für uns als Nichtkernwaf-
könnten? fenmacht im Zusammenhang mit dem NV-Vertrag
spezifische Sicherheitsprobleme. Auch in dieser
Scheel, Bundesminister des Auswärtigen: Ich Hinsicht haben die Bemühungen der Bundesregie-
kann mich, Herr Kollege Stoltenberg, bisher darauf rung zu wichtigen Ergebnissen geführt. Um mit dem
beziehen, daß es die Regel in Euratom und in der für uns Wichtigsten anzufangen: die Vereinbarkeit
320 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969

Bundesminister Scheel
auch der nuklearen Sicherheitsvorkehrungen des rufenden Intervention die Sicherheit der Bundesrepu-
Bündnisses mit dem NV-Vertrag wurde durch ent- blik berühren könnte, sind wir, wie wir in der Be-
sprechende amerikanische Interpretationen festge- antwortung der Anfrage schon gesagt haben, durch
stellt. Auch ist nach der Erklärung des damaligen die NATO und die unzweideutigen Erklärungen der
amerikanischen Verteidigungsministers Clifford, die amerikanischen, der britischen und der französischen
in den Hearings des Senats im Juli 1968 bestätigt Regierung vom September 1968 geschützt. Unsere
wurde, die Weiterentwicklung der nuklearen Ver- Sicherheit ist ja durch unser Bündnis garantiert, in
teidigungsvorkehrungen innerhalb des Bündnisses dem wir Mitglied sind, nicht etwa durch Verträge
nicht behindert, auch wenn sie auf anderen techni- oder Abmachungen, die wir mit der Sowjetunion ge-
schen Voraussetzungen beruhen. schlossen hätten.
In diesem Zusammenhang sollte ich vielleicht Auf das politische Problem der Natur der Bezie-
eine kurze ergänzende Bemerkung zu dem machen, hungen zwischen der Bundesrepublik und der So-
was in der Antwort auf die Große Anfrage der wjetunion, das sich uns angesichts des sowjetischen
Fraktion der CDU/CSU in puncto Interpretationen, Vorbehalts stellt und das nicht auf den NV-Vertrag
ihren Wert und ihre Rechtsverbindlichkeit gesagt beschränkt ist, komme ich nachher noch einmal in
worden ist. Die erwähnten amerikanischen Interpre- anderem Zusammenhang zurück.
tationen gelten im besonderen für den Bereich des Das letzte der am 27. April 1967 verkündeten
atlantischen Bündnisses. Es ist ihnen von keiner Kriterien, die ich soeben verlesen habe, forderte,
-
Seite widersprochen worden. Aber selbst wenn daß der NV-Vertrag die europäischen Einigungsbe-
irgendein NV-Vertrags-Partner Widerspruch dage- strebungen nicht beeinträchtigen dürfe. Daß der NV-
gen erheben wollte oder gar erheben sollte, so Vertrag politischen Formen eines mehr oder weniger
würde man sich damit zwar auseinanderzusetzen engen Zusammenschlusses europäischer Staaten nicht
haben, es würde aber kein Jota an der Effektivität im Wege steht, bedarf keiner weiteren Begründung,
der amerikanischen Interpretationen ändern. Ent- da der Vertrag ausschließlich den Gegenstand der
scheidend bleibt allein, daß innerhalb des atlanti- horizontalen Nichtweitergabe regelt. Im Zusammen-
schen Bündnisses Einmütigkeit über die Vereinbar- hang mit dem NV-Vertrag interessiert also lediglich
keit der Sicherheitsarrangements mit dem NV-Ver- die Frage nach dem Kernwaffenstatus einer sich zu-
trag besteht. sammenschließenden Gruppe europäischer Staaten
Sehr beschäftigt hat uns die Gültigkeit des in im Lichte der Bestimmungen des Vertrages.
Art. 2 der Satzung der Vereinten Nationen veran- Die Lehre von der Staatensukzession, auf den NV-
kerten Verbots der Anwendung oder Androhung Vertrag angewandt, besagt, daß keine verbotene
von Gewalt. Das Ergebnis unserer Bemühungen — Übertragung von Kernwaffen oder der Verfügungs-
mit anderen Staaten zusammen noch in der letzten gewalt darüber, sondern Rechtsnachfolge vorliegt,
Phase der Fixierung des Vertragstextes — war die wenn eine Föderation an die Stelle einer Gruppe
Einfügung des dreizehnten Präambelsatzes des NV- von Staaten tritt, unter denen auch Kernwaffenstaa-
Vertrages und als Ergänzung dazu die Annahme ten waren. Zudem kann ein Staatenzusammenschluß
der Resolution der Vollversammlung der Vereinten der Forderung nach Nichtweitergabe in besonders
Nationen vom 12. Juni 1968, mit der die Annahme deutlicher Weise Rechnung tragen, wenn er zur Ver-
des Vertrages empfohlen wurde und aus der ich den minderung der Zahl von Kernwaffenstaaten führt.
einschlägigen Text hier zitieren möchte: Als Ergebnis entsprechender Verhandlungen bekräf-
Die Vollversammlung bekräftigt, daß im In- tigt die sechste der amerikanischen Interpretationen,
teresse des Friedens und der Sicherheit zwi- daß die Vereinigten Staaten von Europa den Nu-
schen den Völkern sowohl Kernwaffen- wie klearstatus im Wege der Rechtsnachfolge erhalten
Nichtkernwaffenstaaten die Verantwortung ha- können, wenn sich unter den Gliedern der Födera-
ben, im Einklang mit den Grundsätzen der Sat- tion ein Kernwaffenstaat befindet.
zung der Vereinten Nationen zu handeln, wo-
nach die souveräne Gleichheit aller Staaten zu Vizepräsident Frau Funcke: Herr Bundes-
respektieren ist, wonach die Staaten sich in den minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn
zwischenstaatlichen Beziehungen der Andro- Birrenbach?
hung oder Anwendung von Gewalt zu enthalten
haben und wonach internationale Streitfälle mit Scheel, Bundesminister des Auswärtigen: Bitte!
friedlichen Mitteln beizulegen sind.
Da die Bundesrepublik nicht Mitglied der Verein- Dr. Dr. h. c. Birrenbach (CDU/CSU): Herr Bun-
ten Nationen ist, muß es als Fortschritt gewertet desaußenminister, ist Ihnen bekannt, daß nach der
werden, daß in den Gesprächen mit der Sowjet- Aufgabe der Entwürfe von März 1966 und Ende 1965
union die ausdrückliche Einbeziehung der Bundes- das Kriterium für die Weiterverbreitung, daß keine
republik in den Genuß der Resolution 255 festge- zusätzliche Nuklearmacht geschaffen werden soll,
stellt und auch noch einmal schriftlich fixiert worden durch die Entwürfe vom Herbst 1966 aufgegeben
ist. Wie Sie wissen, ist die uneingeschränkte Gültig- worden ist, das heißt, daß die Voraussetzung, von
keit des Art. 2 für die Bundesrepublik durch den der Sie soeben gesprochen haben, gar nicht mehr
Interventionsanspruch in Frage gestellt, den die besteht?
Sowjetunion unter Verweisung auf die Art. 53 und
107 geltend machen zu können glaubt. Soweit die Scheel, Bundesminister des Auswärtigen: Nein,
Perspektive einer sich auf die Art. 53 und 107 be Herr Kollege Birrenbach. Ich wiederhole, daß in der
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969 321

Bundesminister Scheel
noch gültigen sechsten amerikanischen Interpreta- Das Bundeskabinett hat sich am 13. August mit
tion — sie ist nicht ungültig, sondern noch gültig den Fragen befaßt, die von den beteiligten Ressorts
die Vereinigten Staaten von Europa den Nuklear- als noch klärungsbedürftig bezeichnet worden waren
status als Rechtsnachfolger einer Staatengruppe er- und für die das Auswärtige Amt Vorschläge unter-
halten können, unter der sich ein Nuklearstaat be- breitet hatte. Die Verhandlungen mit der amerika-
findet. Ohne Frankreich und England — das sind ja nischen Regierung, mit denen das Auswärtige Amt
Nuklearstaaten — kann man sich eben keine euro- vom Kabinett beauftragt worden war, wurden am
päische Föderation vorstellen. Damit ist ganz klar 29. Oktober auf dem Hintergrund dessen, was in der
gesagt, daß eine europäische Einigung, wenn sie Regierungserklärung vom 28. Oktober zum Vertrag
einen entsprechenden Föderationsgrad allerdings festgestellt worden war, aufgenommen und am
hat, als Rechtsnachfolger ohne weiteres in -die 31. Oktober abgeschlossen. Die amerikanische Regie-
Rechte eines Nuklearstaates nach dem Vertrag ein- rung hat für unser Anliegen großes Verständnis ge-
tritt. zeigt. Ich zögere nicht, das Ergebnis, wenn ich es an
Man hat nun bedauert, daß die Interpretation den vom Kabinett gebilligten Vorschlägen messe,
einen sehr hohen Föderationsgrad als Kriterium für als gut zu bezeichnen. In der schriftlichen Beantwor-
die Nachfolge aufstellt und daß dadurch die Mög- tung der Großen Anfrage der CDU/CSU-Fraktion
lichkeit entfällt, eine integrierte Nuklearstreit- wurde auf das Ergebnis dieser Verhandlungen Bezug
macht als zusätzlichen Faktor für den Einigungs- genommen. Gleichlaufend zu den Verhandlungen
prozeß in Europa zu gewinnen, also sozusagen bevor mit der Regierung der Vereinigten Staaten fand eine
die Föderation besteht, oder dadurch, daß man eine erneute Fühlungnahme mit der sowjetischen Regie-
Föderation in Europa durch die Bildung einer nukle- rung statt. Die Vorsitzenden der Fraktionen des
aren Streitmacht der jetzigen Staaten befördern Bundestages sind über das Gesamtergebnis unter-
möchte. richtet.

Die Bundesregierung ist in diesem Zusammenhang Ich möchte an dieser Stelle meine Aussagen zum
der Auffassung: solange die NATO in der bisherigen Fragenkomplex der Sicherheit wiederholen und ver-
Form existiert, wäre die Forderung, daß es auf dem vollständigen. Es geht hierbei um das vielbeschwo-
Wege hin zu den Vereinigten Staaten von Europa rene Sicherheitsrisiko, das sich für die Bundesrepu-
eine eigenständige europäische nukleare Streitmacht blik aus der unterschiedlichen Laufdauer des Ver-
geben solle oder sogar müsse, politisch außerordent- trags einerseits und des Nordatlantikpaktes ande-
lich gefährlich. Sie würde den Einigungsprozeß nicht rerseits ergeben könnten. Ich bin weit davon ent-
fördern, sondern geradezu verhindern. fernt, das Problem auf die leichte Schulter zu neh-
(Beifall bei den Regierungsparteien.) men. Alle Absicherungen gegen mögliche Gefahren
setzen den Fortbestand des Bündnisses voraus. Aber
Die Erfahrungen, die wir bereits in unserem Bündnis ich meine, meine Damen und Herren, es ist an der
mit dem Projekt der MLF gemacht haben, sollten Zeit, bei der Beantwortung dieser Frage, die auch
uns davon bewahren, diesen Weg zu beschreiten Gegenstand der Großen Anfrage ist, die Dinge in
oder gar von deutscher Seite vorzuschlagen, wie es der richtigen Perspektive zu sehen. Eine Auflösung
geschehen ist. Keine andere europäische Regierung der NATO oder ihre Schrumpfung in einem die
hat bisher einen solchen Vorschlag unterbreitet oder Sicherheit wirklich gefährdenden Umfang bedeutet
wird das nach unserer Meinung tun. für uns wie für alle Mitglieder den Fortfall des
nuklearen Schutzes, der die Grundlage unserer
Außerdem könnte Europa, wenn es sich dazu ent-
Sicherheit ist. Das Risiko, daß das Eintreten eines
schließen sollte, jederzeit ein dem gegenwärtigen
solchen doch sicherlich sehr hypothetischen Falles
NATO-System vergleichbares System aufstellen, in-
für uns schon heute mit sich brächte, ergibt sich dar-
dem es die europäischen Kernwaffenstaaten instand
aus, daß unser 1954 ausgesprochener Verzicht auf
setzt, Europa so gut wie möglich nuklear zu vertei-
die Herstellung von Kernwaffen unserer Verteidi-
digen, ohne daß Kernwaffen auf Nichtkernwaffen-
gungsmöglichkeiten beschränkt hat. Träte der NV-
staaten übertragen werden, genauso wie das in der
Vertrag in Kraft, so entfiele auch die Möglichkeit
NATO jetzt der Fall ist.
für uns, Kernwaffen zu erwerben. Jedenfalls dürften
(Abg. Dr. Apel: Sehr richtig!) uns keine abgegeben werden. Diese von mir durch-
Auf die Situation, die sich aus einer Auflösung aus nicht unterschätzte Gefahr würde durch den
Nichtbeitritt der Bundesrepublik zum Vertrag aller-
der NATO ergeben würde, möchte ich in diesem Zu-
sammenhang nicht eingehen, sondern nachher noch dings um nichts vermindert. Andererseits wird das
einmal zurückkommen. Risiko durch unseren Beitritt zum NV-Vertrag kaum
vermehrt, sofern wir entschlossen sind, in dem zur
Wenn wir noch die nicht unwichtigen Ergebnisse Diskussion stehenden hypothetischen Fall von der
in Verfahrensfragen hinzufügen, dann ist das, meine Möglichkeit des Art. X des Vertrages Gebrauch zu
Damen und Herren, in großen Zügen die Bilanz des- machen, nämlich als Vertragspartner zurückzutreten.
sen, was deutscherseits in unermüdlichen Verhand-
lungen und Gesprächen bis zum Kabinettsbeschluß (Abg. Dr. Hammans: Wohin?)
vom 13. August 1969 erreicht wurde. Ich möchte hier
ausdrücklich erklären, daß alle, die daran beteiligt — Das sagt der Vertrag. Das können wir jederzeit.
waren, auch diejenigen, die durch kritische Fragen Art. X gibt uns in diesem Falle die Möglichkeit,
daran beteiligt gewesen sind, Anerkennung ver- durch einfachen Entschluß und die Bekanntgabe die-
dienen. ses Entschlusses vom Vertrag zurückzutreten. Sie
322 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969

Bundesminister Scheel
müssen den Vertrag nur einmal durchlesen; dann Wenn ich nun die vier Kriterien nehme und daran
werden Sie das gleich finden. das Erreichte messe, so ergibt sich, glaube ich, daß
die für eine solche Würdigung des Vertrages not-
(Abg. Dr. Hammans: Wohin zurücktreten?) wendigen Voraussetzungen gegeben sind.
Darauf komme ich noch. Das hat aber nichts mit Erstens. Die ungehinderte Nutzung der Kern-
dem Vertrag zu tun. Wir sprechen ja jetzt nur über energie zu friedlichen Zwecken ist gesichert. Die
den Vertrag. Wie wir unsere Sicherheit garantiert noch ausstehende Lösung der Kontrollprobleme wird
sehen wollen, ist ein zweites Problem. bis zur Ratifikation erfolgen. Die Bundesregierung
Es ist die Absicht der Bundesregierung, bei der wird bei Unterzeichnung eine entsprechende Erklä-
Unterzeichnung zu erklären, daß das Fortbestehen rung über den Aufschub der Ratifikation bis zum
der NATO oder eines entsprechenden Sicherheits- Abschluß eines befriedigenden Verifikationsabkom-
systems Voraussetzung unseres Beitritts ist. Sollte mens abgeben.
also der Fall, den ich genannt habe, jemals eintre-
ten, wird es Sache der dann amtierenden deutschen Vizepräsident Frau Funcke: Herr Bundes-
Regierung sein, gemeinsam mit anderen befreunde- minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage von
ten Staaten die Maßnahmen zu treffen, die für die Herrn Abgeordneten Stoltenberg?
gemeinsame Sicherheit dann erforderlich sein wer-
den. Heute für einen solchen Fall bereits Abspra-
chen treffen zu wollen hieße, jeder zukünftigen Scheel, Bundesminister des Auswärtigen: Ja,
Regierung die Hände binden. Das kann man ja gar bitte, wenn von meiner Zeit etwas abgerechnet
nicht. Man kennt ja die Situation zu einem zukünf- wird. Ich wollte nämlich in zwei Minuten mit meinen
tigen Zeitpunkt, der sehr hypothetisch ist, nicht. Ausführungen am Ende sein.

An dieser Stelle möchte ich Zweifel, die durch das


Eingehen auf diesen Fall der Auflösung der NATO Dr. Stoltenberg (CDU/CSU) : Ich werde mich
überhaupt entstehen könnten, ausräumen. Die Bun- kurz fassen. Besteht nicht ein klarer Widerspruch
desregierung ist überzeugt, daß die NATO so lange zwischen Ihrer ersten Feststellung, daß die ungehin-
existieren wird, wie die Spannungsherde in Europa derte, d. h. keiner Diskriminierung unterworfene
fortbestehen. Die Bundesregierung wird ihrerseits Forschung und Entwicklung gesichert ist, und Ihrer
treu zu den Verpflichtungen gegenüber dem Bündnis zweiten Feststellung, daß die Kontrollprobleme noch
stehen. geklärt werden können? Denn gerade aus der Un-
klarheit im Zusammenhang mit den Kontrollpro-
Meine Damen und Herren, gehen wir nun dazu blemen kann ja die Gefahr der Diskriminierung er-
über, eine Gesamtbilanz aufzustellen, wie sie sich wachsen.
im Augenblick darstellt. Eine Vorbemerkung dazu. (Beifall bei der CDU/CSU.)
Schon jeder bilaterale Vertrag ist ein Kompromiß.
Um wieviel mehr gilt das für ein Vertragswerk
zwischen Partnern so verschiedener Struktur und so Scheel, Bundesminister des Auswärtigen: Herr
verschiedener Interessenlage, wie es die bisher 93 Kollege Stoltenberg, ich darf in diesem Zusammen-
Unterzeichner sind! hang wiederholen, daß dieses nicht allein unser
Problem ist, sondern das Problem der Euratom-
In diesem Zusammenhang möchte ich auf eine Be- Mächte, die mit uns gemeinsam bei der Unterzeich-
merkung des Herrn Kollegen Dr. Stoltenberg sagen, nung des Vertrages einen Vorbehalt dergestalt
daß ich eine Information darüber habe, daß von den machen, daß erst ein im Sinne von Euratom liegen-
wichtigen Schwellenmächten auch Japan eine Ent- des Verifikationsabkommen beschlossen werden
scheidung vorbereitet, den Vertrag zu unterzeichnen. muß, bevor die Ratifikation vorgenommen wird.
Das hat der japanische Wissenschaftsminister gestern Darin liegt die Sicherheit auf dem Gebiete, das Sie
seinem deutschen Kollegen mitgeteilt. Wie die jetzt angesprochen haben.
Schweiz zu der Unterzeichnung steht, wissen Sie (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg.
genausogut wie ich. Natürlich gibt es gewisse Zu- Dr. Heck: Das muß vor der Unterschrift
sammenhänge zwischen ihrer Entscheidung und den geschehen!)
Entscheidungen anderer wichtiger Staaten, die noch
ausstehen, darunter der Entscheidung der Bundes- — Ich bekomme den Zwischenruf: Das muß vor der
republik Deutschland. Unterschrift geschehen! Vor der Unterschrift wird
Euratom mit der Internationalen Atombehörde gar
Die Elle, mit der das Schlußergebnis unserer Be- nicht verhandeln können. Wir müssen doch endlich
mühungen gemessen werden muß, können also nicht einmal zu Verhandlungen kommen.
die Maximalforderungen nur eines einzigen prä- (Beifall bei den Regierungsparteien.)
sumptiven Vertragspartners sein. Von unseren
Maximalforderungen her betrachtet, müssen wir sa- Ich weiß gar nicht, warum ausgerechnet das Parla-
gen — ich habe gar keinen Grund, das zu verschwei- ment, das nämlich die internationalen Verträge zu
gen —, daß wir in diesem oder jenem Punkt gern billigen hat, auf sein Recht der Ratifikation so wenig
ein Mehr aufzuweisen gehabt hätten. Bei der Schluß- Gewicht legt und auf das Recht der Regierung zu
bilanz haben wir nicht mehr nach dem Wünschens- unterzeichnen so viel Gewicht legt.
werten zu fragen, sondern zu prüfen, ob das für den (Beifall bei den Regierungsparteien. —
Schutz unserer Interessen Notwendige getan ist. Unruhe bei der CDU/CSU.)
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969 323
Bundesminister Scheel
Das Parlament hat es in der Hand, dazu Stellung lichen Verbündeten und mit der Sowjetunion auf un-
zu nehmen. absehbare Zeit vor uns hergeschoben wird. Im Westen
Ich will fortfahren, meine Damen und Herren. müßten berechtigte Zweifel an der Ernsthaftigkeit un-
serer Friedenspolitik entstehen. Das deutschameri-
Zweitens. Die Verbindung zwischen dem Vertrag kanische Verhältnis würde einer wachsenden Be-
und der allgemeinen Abrüstung ist so deutlich und lastung ausgesetzt, vor allen Dingen auch im Hin-
so verpflichtend hergestellt, wie realistisch von blick auf die beginnenden amerikanisch-sowjetischen
Vertragstexten erwartet werden kann. Gespräche über die Begrenzung der Atomrüstung.
Drittens. Unsere Sicherheit ist zwar nicht in allen Der Zusammenhalt in der NATO würde geschwächt
Fällen durch Rechtstitel garantiert, aber gegen Rück- werden.
fälle in Gewaltpolitik gibt es keine Rechtstitel. Das (Abg. Dr. Barzel: Würden Sie nicht die
wissen wir aus der Vergangenheit sehr genau. Güte haben, mit spitzem Bleistift zu
zeichnen!)
(Abg. Dorn: Sehr richtig!)
Die Verhandlungen im Rahmen der Europäischen
Wir sind heute und für die voraussehbare Zukunft Atomgemeinschaft über die Grundlagen für ein
durch solide Bündnisabsprachen gesichert. Es gilt, Verifikationsabkommen würden erheblich erschwert
diese Bündnisabsprachen lebendig und wirksam zu werden. Der Nichtbeitritt könnte den Abschluß eines
erhalten. befriedigenden Verifikationsabkommens zwischen
-
Viertens. Die europäischen Einigungsbestrebun- Euratom und der Internationalen Behörde in Frage
gen werden durch den Vertrag nicht behindert. Die stellen, ja, er wird ihn in Frage stellen. Die Bereit-
Möglichkeit der nuklearen Rechtsnachfolge eines schaft vieler Länder, mit uns auf nuklearem Gebiet
föderierten europäischen Staates ist festgestellt. Bis zusammenzuarbeiten, würde geschwächt werden.
zum Zustandekommen eines solchen Staates sind Außerdem würde natürlich eine Kampagne Ost-
wir durch die NATO geschützt. Danach ist eine wirk- europas eine leichte Zielscheibe haben, eine leich-
same Nuklearverteidigung denkbar, ohne daß es tere als jetzt,
der Integration bedarf. Ein zu lautes Rufen nach (Zurufe von der CDU/CSU: Genau, wenn Sie
einer integrierten europäischen Nuklearstreitmacht so sprechen! Nach einer solchen Rede ja!)
erweckt den Eindruck deutscher Kernwaffenambi-
tionen und könnte dadurch den Weg nach Europa Schließlich, meine Damen und Herren, würde der
geradezu verbauen. Spielraum unserer eigenen Politik, vor allen Dingen
der Spielraum unserer Deutschland- und unserer
(Beifall bei Abgeordneten der SPD.) Osteuropa-Politik, eingeschränkt werden.
Meine Damen und Herren, wenn ich diese Bilanz Das ist die Bilanz, die sich heute für uns darstellt.
für eine abschließende Würdigung vor der Unter- Die Bundesregierung wird das Für und Wider, auch
zeichnung des Vertrages ziehe, so ist dabei klar, im Lichte der heutigen Diskussion des Deutschen
daß zwischen Unterzeichnung und Ratifikation noch Bundestages, sorgfältig abwägen, und danach wird
einiges zu tun bleibt; aber das haben wir ja nie sie ihre Entscheidung treffen.
verschwiegen. Die Schlußbilanz für die Ratifikation
(Beifall bei den Regierungsparteien.)
wird noch einige zusätzliche Posten auf der Haben-
seite aufweisen müssen, darunter das, was Herr
Kollege Stoltenberg soeben gesagt hat. Vizepräsident Frau Funcke: Das Wort hat
Herr Bundesminister Professor Leussink.
Meine Damen und Herren, für uns alle, für die
letzte Bundesregierung ebenso wie für die jetzige,
Dr. Ing. Leussink, Bundesminister für Bildung
-
lautete die Frage, die sich am 16. September 1966 zum
und Wissenschaft: Sehr verehrte Frau Präsidentin!
erstenmal stellte, zu keinem Zeitpunkt, ob die Bun-
Meine Damen und Herren! Bereits vor meinem Ein-
desrepublik dem NV-Vertrag beitreten solle. Nur
tritt in die Bundesregierung habe ich mich — wie
Illusionisten halten den Nichtbeitritt für eine echte
sicher sehr viele andere interessierte Bürger — mit
Alternative. Ein Land, dessen Regierung von Anfang
den technischen und den wissenschaftlichen Aspek-
an dem Grundgedanken des Vertrages zugestimmt
ten des Sperrvertrages beschäftigt; nach Eintritt in
hat und jahrelang aktiv an dem Zustandekommen
die Bundesregierung selbstverständlich in besonde-
mitgearbeitet hat, dessen Regierung sich mit ande-
rem Maße. Ich habe eine Reihe von Kernphysikern,
ren Nichtnuklearen intensiv und mit Erfolg um Ver-
und zwar von solchen, die auch über den technisch
besserungen des Vertragstextes bemüht hat, durch
industriellen Bereich genau Bescheid wissen, befragt.
Verhandlungen mit den Verbündeten zusätzliche
Das haben vor mir sicher auch schon andere getan.
Interpretationen zur Sicherung erreicht hat, würde
Ich möchte hier vorläufig keine Namen nennen, bin
sich in Ost und in West dem Verdacht aussetzen,
aber selbstverständlich gern bereit, es zu tun, wenn
nicht nur dem Vertrag nicht beitreten, sondern ihn
es von Ihnen gewünscht wird. Alle Unterhaltungen
zu Fall bringen zu wollen, wenn es noch lange haben mir bestätigt, daß für den Fortschritt in der
zögerte, diesen Vertrag durch seine Regierung un- Kernforschung und in der Kerntechnik, besonders
terzeichnen zu lassen. auch, wenn wir an die vor uns liegenden Entwick-
Ich darf zum Schluß auf die ernsten Nachteile hin- lungen denken, die Vorteile eines Beitritts zum
weisen, die einträten, wenn die Entscheidung über Sperrvertrag größer sind als die Nachteile. Man
die Unterzeichnung nach feststehendem Vertragstext befürwortet darüber hinaus überwiegend auch eine
und nach Abschluß der Gespräche mit unseren west- baldige Unterschrift.
324 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969
Bundesminister Dr. Ing. Leussink
-

Die Ansichten der Kernphysiker, besonders auch beizutreten, besonders auch dann nicht, wenn die
derer, die sich mit der technischen Weiterentwick- bereits in der Antwort der Bundesregierung und in
lung und Ausnutzung dieses Zweiges der Natur- den weiteren Mitteilungen von heute definierten
wissenschaften befassen, gehen etwa in folgende Vorbehalte gemacht werden, die vor Ratifizierung
Richtung: Ohne Teilnahme am Sperrvertrag be- befriedigend geklärt werden müssen.
schränken wir uns die Möglichkeiten der Zukunft Meine Gesprächspartner waren auch gar nicht so
ganz empfindlich. Das trifft schon zu für das unmit- sehr um die Komplexe besorgt, die man mit der
telbar vor uns liegende Stadium der technischen verkürzten Formel von der möglichen Industrie-
Ausnutzung und Anwendung von Schnellen Brütern spionage oder der Behinderung des Außenhandels
und Hochtemperatur-Reaktoren. Die Kernfusion wird umschreiben kann. Professor Mandel vom Rheinisch-
sicher nur international zur technischen Reife ge- Westfälischen Elektrizitätswerk hat dazu bekannt-
bracht werden können, wenn überhaupt. Es ist schon lich in einer Zeitschrift im April dieses Jahres be-
fraglich, ob das unter Beschränkung auf die west- reits gesagt: „Ich glaube nicht an Atomspionage."
liche Welt allein überhaupt noch geschehen kann. Herr Abgeordneter Rutschke hat dazu soeben Aus-
Es sieht so aus, als ob große unterirdische Spren- führungen gemacht.
gungen, etwa unter der Arktis, sich zu einem kon-
trollierten und wirtschaftlichen Verfahren zur Ge- Man darf sich den Abfluß von Know-how über-
winnung zum Beispiel von hochangereichertem Uran haupt nicht so einfach vorstellen. Die Entwicklungen
oder zur Aluminiumgewinnung entwickeln ließen. gehen heute weitgehend offen vor sich. Zum Bei-
-
Daran werden wir nur innerhalb des Sperrvertrages, spiel ist in Jülich seit etwa vier Jahren laufend ein
ganz sicher nicht außerhalb des Sperrvertrages teil- Amerikaner bei der Entwicklung und beim Betrieb
nehmen können. des Prototyps des Kugelhaufenreaktors nach Schul-
ten dabei. Die Jülicher begrüßen den damit vorhan-
Die Ausnutzung der Atomenergie ist in der Zu- denen Erfahrungsaustausch. Übrigens beruht die
kunft wahrscheinlich gar nicht einmal die wichtigste Anwesenheit dieses Amerikaners auf Lieferbedin-
technische Anwendung von Naturwissenschaft — gungen für Kernmaterial, die die USA heute einsei-
und nicht einmal die gefährlichste. Viele Naturwis- tig festlegen.
senschaftler halten es — ihre Verantwortung gegen-
über der Menschheit ernst nehmend; auch ich nehme Herr Kollege Stoltenberg hat mit einem gewissen
diese Verantwortung sehr ernst — deshalb für ein Schlenker auf die naturwissenschaftlichen Dinge hin-
Gebot der Stunde, mit weltweiten Kontrollmaßnah- gewiesen, die immer in der Sprache der Diplomaten
men auf den Gebieten der naturwissenschaftlichen vorgetragen werden; man könnte auch sagen: in
Anwendungen jetzt zu beginnen, seien die Bedin- der Sprache des Geisteswissenschaftlers. Ich stehe
gungen des ersten Schritts auch nicht ganz ideal. als Techniker der Sprache der Naturwissenschaftler
vielleicht etwas näher. Aber von den Einzelheiten,
(Beifall bei den Regierungsparteien.) Herr Kollege Stoltenberg, verstehen wir doch beide
Dem, was hier vorhin über die zukünftigen Bedin- gleich viel, nämlich nichts.
gungen solcher Kontrollverfahren von Herrn Kolle- (Beifall bei den Regierungsparteien.)
gen Dr. Stoltenberg gesagt worden ist, stimme ich
Wir müssen uns schon an die Fachleute halten, und
voll zu. Es ist auch das Ziel der Bundesregierung.
das tue ich auch. Es handelt sich leider um eine
Vielleicht wird nun der eine oder andere sagen, Mischung von wissenschaftlich-technischen mit all-
das sei ja wieder einmal alles futurologisch. Der gemeinpolitischen Aspekten.
Herr Außenminister hat bereits von meiner gestri
gen Unterhaltung mit dem japanischen Minister Vizepräsident Frau Funcke: Herr Bundes-
für Wissenschaft und Technologie, Herrn Kiuchi, minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
berichtet und dabei auch gesagt, daß er uns in den
Stand gesetzt hat, öffentlich davon Gebrauch zu ma-
chen, daß die japanische Regierungspartei, nämlich
Dr. Ing. Leussink, Bundesminister für Bildung
-

und Wissenschaft: Wenn ich meinen Gedanken zu


die liberale, beschlossen hat, dem Sperrvertrag
Ende geführt habe. — Dann muß die eine Seite
beizutreten. Allerdings hat sie noch keinen Beschluß
auch möglichst sauber dargestellt werden. Darum
über den Zeitpunkt gefaßt.
sollten wir uns gemeinsam bemühen. — Bitte!
(Zuruf von der CDU/CSU: Genau das ist
es! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU.)
Dr. Stoltenberg (CDU/CSU) : Ist Ihnen entgan-
Kehren wir also zum Heute zurück! Um auch die gen, Herr Bundesminister, daß ich nicht von natur-
Gesichtspunkte der im Deutschen Atomforum mit wissenschaftlichen Fachfragen gesprochen habe —
vertretenen Wirtschaftskreise aus erster Hand zu was mir nicht zukommt und was ich in den letzten
erfahren, habe ich mich am Vormittag des vergange- Jahren immer vermieden habe —, sondern von Or-
nen Samstags mit einigen prominenten Vertretern ganisations-, Kontroll- und Rechtsvereinbarungen,
dieser Industrie, der Atomindustrie —auch hier bin ,die in der Tat der Urteilsfähigkeit dieses Hohen
ich, wenn es gewünscht wird, gern bereit, Namen Hauses und aller seiner Mitglieder unterliegen?
zu nennen —, über die wissenschaftlichen, techni-
(Beifall bei der CDU/CSU.)
schen und industriellen Probleme des Sperrvertrags
unterhalten. Zunächst ist auch dort ganz klar gewor-
den, daß keiner der hieran Beteiligten es überhaupt Dr. Ing. Leussink, Bundesminister für Bildung
-

als Denkmöglichkeit betrachtet, dem Vertrag nicht und Wissenschaft: Mir ist nicht entgangen, daß man
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969 325
Bundesminister Dr.-Ing. Leussink
das nur immer als eine Mischung von, wie ich schon schen Punkten haben ihren Niederschlag auch in
sagte, wissenschaftlich-technischen mit allgemein- einer Anzahl von Arbeitstagungen der Wiener Be-
politischen Aspekten betrachten kann und daß wir hörde, der IAEO, gefunden und dazu geführt, daß
uns gemeinsam bemühen müssen, diese eine Seite, das Prinzip jetzt allgemein grundsätzlich Zustim-
die ja rational erfaßbar ist — die andere doch offen- mung findet. Übrigens ein sehr schönes Beispiel
sichtlich nicht —, so sauber wie möglich herauszuar- dafür, wie erfolgreich ein zielbewußtes Projektfor-
beiten. schungsunternehmen sein kann. Wir liegen auf die-
Wenn man wirklich hinter die wesentlichen Be- sem Spezialgebiet heute zweifellos an der Spitze
sonderheiten solcher komplizierten Anlagen, wie in der Welt.
sie bereits die heutigen Reaktoren, ganz besonders Die Spezialisten unseres Hauses und die Karls-
aber die zukünftigen darstellen, kommen will, dann ruher rechnen damit, daß in der Zeit bis zum Beginn
bedarf es schon der kontinuierlichen Beschäftigung der Kontrollmaßnahmen das Prinzip der Kontrolle
einer großen Zahl, nämlich einer Zahl von -zig an strategischen Punkten so entwickelt werden kann,
Spezialisten auf den verschiedensten Gebieten für daß keine Behinderung der Industrie mehr vorhan
eine längere Zeit, nämlich für Monate. Mit bloßem den ist und daß bis dahin für eine Reihe von Anla-
Hinschauen und mit der berühmten Geheimkamera gen die erforderlichen Instrumente vorhanden sein
ist da heute wirklich nicht mehr viel zu machen. werden, um die Kontrolle an den strategischen Punk-
Es ging meinen Gesprächspartnern von der - Indu- ten automatisieren zu können. Das ist ja doch das
strie aber, wie ich sagte, gar nicht so sehr um die- große Ziel. Entscheidend dafür, daß die Kontrolle
sen Aspekt, sondern es ging ihnen besonders um nicht zu einer Behinderung und zu einer Gefährdung
die Erhaltung von Euratom. Dies war für mich um industrieller Interessen führt — das wollen wir doch
so mehr beeindruckend, als dies mit der Haltung alle gemeinsam nicht —, ist eben die Kontrolle an
der Bundesregierung — wie diese inzwischen ge- strategischen Punkten. Wenn sich die Kontrolle auf
nügend klargemacht haben dürfte — voll überein- wenige solche Punkte beschränkt, besteht zu Be-
stimmt, denn hinsichtlich einer befriedigenden Lö- fürchtungen, die Kontrollen könnten mißbraucht
sung der Frage der Verifikation und der damit zu- werden, wahrlich kein Anlaß mehr. Nach einer ge-
sammenhängenden Euratom-Fragen sind die Vor- wissen Zeit, die je nach Anlage verschieden sein
behalte der Bundesregierung zweifellos am schärf- kann, ja sein muß, wird es möglich sein, diese Kon-
sten formuliert. trollen weitgehend zu automatisieren; und die Prä-
Zusammenfassend möchte ich sagen, daß mich die ambel zum Vertrag — das muß man doch auch sa-
Unterhaltung mit den Vertretern der einschlägigen gen — spricht sich bereits ausdrücklich für ein sol-
) deutschen Industrie am Samstag davon überzeugt ches Verfahren aus.
hat, daß es mehr Gründe dafür gibt, den Sperrver- Wichtig für unsere Industrie und auch für die
trag jetzt bald zu unterzeichnen, als dagegen Forschung ist für die nächste vor uns liegende Zeit
(Beifall bei den Regierungsparteien) die Frage der Befreiung der Lieferabkommen von
und daß man die notwendige weitere Klärung der jetzt vorhandenen politischen und administrativen
Zeit bis zur Ratifizierung überlassen kann. Beschränkungen. Sie wissen, daß wir jedenfalls hin-
Die Interessen der Industrie und Wissenschaft sichtlich des Bezuges von angereichertem Uran noch
nicht nur in Deutschland, sondern ebenso in den auf längere Zeit von den Vereinigten Staaten ab-
industrialisierten Nichtkernwaffenstaaten wie auch hängig sein werden. Diese Lieferungen finden jetzt
in den USA und im Vereinigten Königreich gehen im Rahmen des USA-Euratom-Grundabkommens
dahin, daß die Kontrollen, die auf Grund oder aus vom Juni 1960 statt; Herr Abgeordneter Flämig hat
Anlaß des Vertrags durchgeführt werden, Forschung, darauf bereits hingewiesen. Dieses Abkommen reicht
Entwicklung und Produktion nicht hindern, sondern bis 1995. Die in dem Abkommen festgesetzten
nur dazu bestimmt sind, die Abzweigung spaltbaren Höchstmengen von jetzt 215 t Uran 235 entsprechen
Materials für militärische Zwecke zu verhindern. voraussichtlich nur dem Bedarf der Gemeinschaft
Der Herr Außenminister hat diese Fragen hier schon bis in die 70er Jahre hinein, aber sicher nicht dem
in der notwendigen Breite behandelt. bis 1995. Hier rechnet man mit einem Bedarf der
Gemeinschaft etwa in der Größenordnung von 1000 t
Es ist auch schon darauf hingewiesen worden, daß
Uran 235. Die Gemeinschaft wird nach Auffassung
es vornehmlich den deutschen Bemühungen zu ver-
der Bundesregierung dann, wenn der politische
danken ist, daß der Vertrag nicht die Anlagenkontrolle,
Wille der Mitgliedstaaten erkennbar ist, dem Ver-
sondern die Kontrolle des Spaltstoffflusses vorschreibt.
trag beizutreten, d. h. wenn auch die Verifikations-
Das ist eine ganz wesentliche Unterscheidung. Dabei frage positiv gelöst ist, leichter die unbedingt not-
soll diese Kontrolle an den berühmten „strategi- wendig werdende Erhöhung des Liefervolumens
schen Punkten" durchgeführt werden. Dieses Kon- durchsetzen können.
trollprinzip hat — unabhängig von seiner grund-
sätzlichen Festlegung im Vertrag — in den letzten Aber es geht nicht einmal in erster Linie um die
Jahren zunehmend Anerkennung gefunden. Hierfür absoluten Mengen. Der Beitritt zum Vertrag nach
waren die bei der Gesellschaft für Kernforschung Erfüllung der Voraussetzungen des Ratifikations-
in Karlsruhe unter wesentlicher Förderung durch vorbehalts wird es zulassen, die Liberalisierung der
meinen Herrn Amtsvorgänger vorgenommenen Ar- Lieferbedingungen mit weit größerer Aussicht auf
beiten am Projekt Spaltstoffflußkontrolle von beson- Erfolg als bisher zu betreiben. Unsere Industrie ist
derer Bedeutung. Die deutschen Bemühungen zur an der Liberalisierung der bestehenden Lieferver-
Einführung des Systems der Kontrolle an strategi träge mit den USA besonders interessiert, und sie
326 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969

Bundesminister Dr.-Ing. Leussink


muß es sein. Es kann auch nicht zweifelhaft sein, Bundesregierung in Abstimmung mit anderen Staa
daß die Amerikaner schon nach Unterzeichnung des ten unterwirft, entsprechen der erklärten Politik der
Vertrages durch die Bundesrepublik eher geneigt Bundesregierung, die darauf gerichtet ist, die Ver-
sein werden, über eine Erhöhung der Liefermengen, breitung von Kernwaffen nicht zuzulassen.
aber auch über eine Liberalisierung der Lieferbedin- Nachdem die gelbe Lampe hier schon wieder ein-
gungen mit der Gemeinschaft zu sprechen. Denn die mal aufleuchtet, Frau Präsidentin, möchte ich mich
Gemeinschaft kann sich dann darauf berufen, daß nur noch auf folgende Bemerkungen beschränken:
die von den USA verfolgten Ziele der Nonprolife-
ration durch den Vertrag selbst erreicht werden und Ich möchte gerne noch einmal darauf hinweisen,
daß es deshalb dann nicht mehr notwendig ist, wie daß wir uns bewußt sein sollten, was für beeindruk-
bisher die Lieferverträge mit Bedingungen zu be- kende Exporterfolge die deutsche Atomindustrie
lasten, die in erster Linie eingeführt wurden, um heute schon erreicht hat, obwohl sie bisher schon
die Lieferverträge selbst als Mittel zur Verhinde- einer internationalen Kontrolle unterlag. Nicht aber
rung einer Proliferation zu benutzen. Das ist doch, unterlagen dieser Kontrolle eine Reihe mit ihr kon-
schlicht gesagt, der heutige Zustand. kurrierender Industriefirmen anderer Staaten. Die-
sen ungleichen Zustand haben wir doch heute. Jüng-
Die Bundesregierung ist angesichts der Haltung ste Beispiele dafür sind die Lieferung eines produk-
der anderen Nichtkernwaffenstaaten der Gemein- tiven Kernkraftwerks nach Atucha in Argentinien
schaft davon überzeugt, daß bei positivem Ausgang und eines Unterrichtsreaktors nach Argentinien. In
-
der Verifikationsverhandlungen die Gemeinschaft beiden Fällen hat Argentinien die Kontrolle durch
durch den Vertrag nicht gefährdet wird. Daß Frank- die IAEO in Wien akzeptiert, obwohl dieses Land
reich zwar sich selbst nicht der Verifikation unter- bekanntlich noch nicht zu den Unterzeichnern des
werfen wird — wir haben es gehört —, aber dem Vertrages gehört und es auch fraglich zu sein
Abkommen insbesondere nach Vorliegen der deut- scheint, ob es unterzeichnen wird. — Bitte, Herr
schen Unterschrift keine Hindernisse entgegenset- Stoltenberg!
zen wird, dürfte feststehen. Gilt der Vertrag für die
Nichtkernwaffenstaaten der Gemeinschaft und be- Dr. Stoltenberg (CDU/CSU) : Darf ich Sie dar-
steht die Euratom-Kontrolle in Frankreich fort, so auf hinweisen, Herr Kollege Leussink, daß das
sind keine Schwierigkeiten zu erwarten, weil der zweite ein Geschenk der Bundesregierung ist, das
freie Verkehr zwischen allen Staaten der Gemein- ich in Buenos Aires überreicht habe, und daß es
schaft einschließlich Frankreich nach den Bestimmun- im Gegensatz zum ersten nicht ganz in diese Argu-
gen des Vertrages keinen Beschränkungen unterlie- mentation hineinpaßt?
gen wird und die Wettbewerbsgrundlage grund-
sätzlich gleich ist. Die gemeinsamen Anlagen, die
wir haben, können fortbestehen, neue können ge- Dr.-Ing. Leussink, Bundesminister für Bildung
gründet werden. und Wissenschaft: Ich mache das Fragezeichen noch
selber daran, Herr Kollege, und nehme das zur
Dagegen muß befürchtet werden, daß der gemein- Kenntnis.
same Kernenergiemarkt zerstört wird, wenn die (Zurufe von der CDU/CSU.)
Bundesrepublik trotz befriedigender Lösung des Ve-
Abgesehen davon, daß auch dieses Geschenk der
rifikationsproblems dem Vertrag nicht beitreten
Bundesregierung der Kontrolle unterliegt, ist das
sollte; denn dann gäbe es innerhalb der Gemein-
Verhältnis dieses kleinen Unterrichtsreaktors — er
schaft nicht weniger als drei Kategorien nebeneinan-
kostet, glaube ich, etwa 600 000 DM — zum Reaktor
der: Neben dem Kernwaffenstaat Frankreich würde
in Atucha so klein, daß selbst dieser Hinweis
es dann in der Gemeinschaft noch zwei weitere
die Aussagekraft der Sätze, die ich gesprochen habe,
Kategorien geben, nämlich Vertragsstaaten und
kaum beeinträchtigen kann.
Nichtvertragsstaaten. Im Verhältnis zu diesen wür-
den die Exportbeschränkungen des Art. II Abs. 3 (Beifall bei den Regierungsparteien.)
des Vertrages gelten. Das würde den Gemeinsamen Angesichts der von deutscher Seite abzugebenden
Markt auf dem Gebiete der Kernenergie auf die Interpretationen, deren Wert vor allen Dingen darin
Dauer nach meiner Meinung mit Sicherheit zerstö- liegt, daß sie mit den Interessen und den Erklärun-
ren. gen aller anderen industrialisierten Staaten über-
Nach den Washingtoner Gesprächen haben wir einstimmen, und auf Grund der Verhandlungsergeb-
jetzt die Sicherheit, daß jede Vertragspartei im nisse in Washington bin ich davon überzeugt, daß
Lichte bestehender Absprachen für sich festlegt, die deutsche Unterschrift nicht zu einer Beeinträch-
welche Ausrüstungen und Materialien beim Export tigung der deutschen Forschung und Entwicklung
den Kontrollvoraussetzungen unterliegen. Auch da- für unsere friedlichen Nukleartätigkeiten führen
mit wurde — es ist bereits gesagt — eine wesent- wird.
liche, und zwar berechtigte, Forderung der deutschen (Beifall bei den Regierungsparteien.)
Exportindustrie erfüllt.
Es muß daran erinnert werden, daß der Export Vizepräsident Frau Funcke: Das Wort hat der
von Kernmaterial und bestimmten Ausrüstungs- Abgeordnete Birrenbach.
gegenständen aus der Bundesrepublik auch jetzt
schon, und zwar aus Gründen, die wir alle hier, Dr. Dr. h. c. Birrenbach (CDU/CSU) : Frau Prä-
glaube ich, voll anerkennen, nicht völlig frei ist. sidentin, meine Damen und Herren! Nach dem Kol-
Die freiwilligen Beschränkungen, denen sich die legen Stoltenberg ist es meine Aufgabe, die Konse-
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969 327

Dr. Dr. h. c. Birrenbach


quenzen des Vertrages im Sicherheitsbereich und in der politischen Abhängigkeit der Bundesrepublik
den europäischen Einigungsbestimmungen im allge- von der Sowjetunion als einer Siegermacht des zwei-
meinen darzustellen. Die CDU/CSU-Fraktion setzt ten Weltkrieges, die Gefährdung des Zusammen-
sich nach wie vor, wie unser Fraktionsvorsitzender halts des Bündnisses sowie gleichzeitig die Begren-
am 29. Oktober noch erklärt hat, für eine Fortset- zung des politischen und militärischen Zusammen-
zung der von den früheren Bundesregierungen ge- schlusses in Europa. Wenn der sowjetische Minister-
führten Friedens- und Verständigungspolitik ein. präsident Kossygin am 9. Februar 1967 erklärte, die
Nach wie vor unterstützen wir den Grundsatz der Bundesrepublik müsse den Vertrag unterschreiben,
Nichtverbreitung von Kernwaffen, wie dies schon in (Hört! Hört! bei der CDU/CSU)
der Friedensnote vom 25. März 1966 zum Ausdruck
gebracht worden ist, und halten vorbehaltlos an dem ob sie wolle oder nicht,
Verzicht auf die Produktion von Kernwaffen fest, (erneute Rufe bei der CDU/CSU: Hört! Hört!)
der im Zusammenhang mit dem Deutschlandvertrage
festgelegt ist. so geht es ihm in erster Linie um diese beiden ersten
(Beifall bei der CDU/CSU.) Artikel des Vertrags.

Aber mit dem Beitritt zum Nichtverbreitungsvertrag Lassen Sie mich nun zum Sicherheitsbereich kom-
übernimmt die Bundesrepublik erstmalig formell men. Die erste Frage, die sich ergibt, lautet: was
Verpflichtungen gegenüber der Sowjetunion auf ist überhaupt Weiterverbreitung? Die' Art. I und II
- sind alles andere als klar. Aus diesem Grunde haben
dem zentralen Gebiet der Sicherheitspolitik, unserer
Wirtschaft und unserer Wissenschaft, Die Über- uns die Vereinigten Staaten Interpretationen gege-
nahme von Verpflichtungen ist aber nur möglich, ben. Sechs Interpretationen sind in der NATO offen
wenn die Sowjetunion uns als gleichberechtigten gelegt und sind durch die Offenlegung im Senat
Partner anerkennt, gleichzeitig Teil der legislative history des Vertra-
ges der Vereinigten Staaten geworden. Die Sowjet-
(Sehr gut! bei der CDU/CSU) union hat keine dieser Erklärungen bestätigt, ob-
für den die Regeln des Völkerrechts über das Verbot wohl sie ihr offiziell mitgeteilt worden sind.
von Gewalt, Drohung und Erpressung uneinge- (Hört! Hört! bei der CDU/CSU. — Zuruf des
schränkt und vorbehaltlos gelten. Abg. Dr. Rutschke.)
(Beifall bei der CDU/CSU.) Die Interpretationen erfahren so natürlich eine
Die Bestimmungen der Art. I und II sind nach starke Verfestigung, solange nicht, meine Herren
einer Erklärung des sowjetischen Abrüstungsbevoll- von der FDP, die Sowjetunion vor ihrer eigenen
mächtigten in Genf im Februar 1966 Kernstück des Ratifikation diesen Interpretationen widerspricht.
Vertrages. Dabei geht es der Sowjetunion in erster
Wir sind der Meinung, Herr Bundesaußenminister,
Linie um die Unterschrift der Bundesrepublik. Die
daß die Bundesregierung ihre Entscheidung über die
USA sind primär daran interessiert, die Weiterver-
Unterzeichnung des NV-Vertrages nicht vor einer
breitung nuklearer Waffen auf weltweiter Basis zu
Ratifikation dieses Vertrages durch die Sowjetunion
verhindern. Sie sehen konkrete Gefahren vielmehr
fällen sollte,
im Nahen Osten und in Asien. Auf Grund der (Beifall bei der CDU/CSU)
allianzinternen Bindungen in Europa haben die USA
stets die sowjetische These bestritten, daß der Pro- da erst dann sichergestellt werden kann, daß diese
liferationsherd in Europa bestehe, und zwar in der den amerikanischen Interpretationen nicht wider-
Bundesrepublik. sprochen hat, und nicht schon, wenn erst gute
Unsere Situation auf dem Gebiet der Sicherheit ist Gründe für eine solche Annahme bestehen, wie es
viel schwieriger als auf dem Gebiet der friedlichen heißt.
Nutzung der Kernenergie. Wir liegen an der Demar-
kationslinie. Unser Land ist geteilt. Unser natür- Vizepräsident Frau Funcke: Herr Kollege, ge-
liches Streben nach Selbstbestimmung wird von statten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten
einem Kernwaffenstaat als aggressiv und revisio- Raffert?
nistisch bezeichnet.
(Hört! Hört! bei der CDU/CSU.) Raffert (SPD) : Herr Birrenbach, ist Ihnen klar,
daß Sie sich mit dieser Erklärung, die Sie soeben
Gegen diese sogenannte aggressive Politik richtet abgegeben haben, in Widerspruch befinden zu einem
sich, wie die Sowjetunion erklärt, der Atomsperr- Beschluß der Interparlamentarischen Union vom letz-
vertrag.
ten Freitag in Neu-Delhi, dem alle Abgeordneten
(Zustimmung bei der CDU/CSU.) der CDU, die dort vertreten waren, zugestimmt
Es ist klar, daß durch den Beitritt zum NV-Vertrag haben,
die Sowjetunion mittelbar einen Einfluß auf die (Hört! Hört! bei der SPD)
innere Struktur des Bündnisses und des europäi- nämlich daß die Mitglieder der Interparlamentari-
schen Zusammenschlusses von morgen gewinnt. Es schen Union — das sind alle Mitglieder dieses Hau-
besteht insofern ein fundamentaler Unterschied zu ses — ihren Einfluß auf die Regierungen dahin-
den allianzinternen Abkommen wie etwa zu dem der gehend geltend machen sollen, daß der Vertrag über
WEU. Nonproliferation sowohl unterzeichnet wie ratifi
Die Sowjetunion verfolgt mit diesem Vertrag ein ziert werden sollte, sofern das bisher noch nicht
doppeltes Ziel: die Zementierung und den Ausbau stattgefunden haben sollte? Darf ich Sie darauf auf-
328 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969

Raffert
merksam machen, daß die Möglichkeit, dagegen zu lich, weil dieser politische Dissens stillschweigend
stimmen, bestanden hat. Es gab 18 Enthaltungen, in Kauf genommen wurde. Die Ersetzung des ameri-
eine Gegenstimme. Alle Mitglieder der CDU, die kanischen Entwurfs vom August 1965 und März
dort waren, haben zugestimmt. 1966 durch den Vertragstext vom Herbst 1966 war
(Zurufe von der CDU/CSU.) ohnehin schon gravierend genug, weil man das
Prinzip der Beschränkung des Verbots der Prolife-
ration auf nationale Verfügungsrechte aufgegeben
Dr. Dr. h. c. Birrenbach (CDU/CSU) : Herr Kol- hat. Das ist an sich schon ein ernstes Problem. Zwar
lege, ich spreche hier im Namen der CDU/CSU-Frak- haben die USA ihren NATO-Partnern zum Begriff
tion. Die mir nicht bekannten Erklärungen in Neu- „Verfügungsgewalt" Interpretationen vorgelegt,
Delhi sind in diesem Zusammenhang nicht relevant. diese aber nicht in der Ratifikationsdebatte des
(Beifall bei der CDU/CSU. — Lachen bei der Senats offengelegt. Sie sind also nicht Teil der so-
SPD.) genannten „legislative history of the treaty" ge-
Aber selbst bei simultaner Ratifikation und falls worden.
die Sowjetunion vorher nicht widerspricht, wird die (Abg. Dr. Barzel: Sehr wahr!)
Sowjetunion damit noch nicht de jure gebunden. Der Dissens in einer Kernrfage eines Vertrages,
Diese Tatsache trifft keinen Staat mehr als uns. Das der praktisch auf unbegrenzte Zeit geschlossen ist,
werden auch Sie nicht bezweifeln. wird so zu einer seiner Grundlagen. Über diesen
- Dissens können selbst die Interpretationen 2 bis 6
Vizepräsident Frau Funcke: Herr Kollege, ge- gefährdet werden. Wenn ein Land Verträge gewis-
statten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeord- senhaft erfüllen muß, dann die Bundesrepublik. Wir
neten Wienand? haben ein vitales Interesse daran, uns mit der So-
wjetunion über die großen Fragen der deutschen
Politik zu verständigen.
Dr. Dr. h. c. Birrenbach (CDU/CSU) : Bitte!
(Abg. Schwabe: In welcher Form?)
Wienand (SPD) : Herr Kollege Birrenbach, sollten Darum ist es wichtig, Verträge mit gerade dieser
wir uns nicht nach Möglichkeit befleißigen, auch Macht nur dann zu unterzeichnen, wenn sie präzise
hier dafür Sorge zu tragen, daß die Mitglieder die- formuliert sind und einverständlich ausgelegt wer-
ses Hohen Hauses, die von uns zur Interparlamen- den.
tarischen Union geschickt werden, dort wenigstens (Beifall bei der CDU/CSU.)
mit Würde ihre Haltung vertreten können? Das mögliche Opfer eines Dissenses wären weni-
(Beifall bei der SPD.) ger die mächtigen Vereinigten Staaten als die ver-
wundbare Bundesrepublik. Es bedarf daher einer
Dr. Dr. h. c. Birrenbach (CDU/CSU) : Herr Kol- sehr sorgfältigen Abwägung, welches der entstehen-
lege, ich antworte Ihnen darauf: die Interessen der den Risiken um des Friedens willen das größere ist.
Bundesrepublik als Ganzes, wie wir sie sehen, Wir erwarten von der Bundesregierung eine er-
scheinen mir noch einen Vorrang vor dieser Frage schöpfende Aufklärung über diesen Punkt in einer
zu verdienen. geschlossenen Arbeitssitzung des Auswärtigen Aus-
schusses und des Verteidigungsausschusses.
(Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. Bar
zel: Keine Zwischenfrage mehr! Sie haben Jeder in diesem Hause wird sich darüber klar sein,
zwei Stunden geredet!) daß weder die Bundesrepublik noch unsere euro-
päischen Partner bereit wären, den NV-Vertrag zu
Beabsichtigt die Bundesregierung — so stelle ich unterschreiben, wenn die NATO nicht bestünde, die
die Frage —, die Sowjetunion über den Gehalt die- uns den Schutz der amerikanischen Weltmacht bietet.
ser Interpretation zu konsultieren? Ich gebe Ihnen Der NATO-Vertrag ist, wie Sie wissen, seit 1969
zu, daß die Frage zwei Seiten hat, die ernsthafte kündbar, der NV-Vertrag durch einfache Mehrheit
Beachtung verdienen. Nur muß uns die Bundes- über die 25jährige Laufdauer hinaus praktisch auf
regierung sagen, was sie aus ihrer Verantwortung unbegrenzte Zeit verlängerbar. Das einzige Element
heraus tut, wenn die Ratifikation nicht gleichzeitig der Sicherheit, das wir hier vor uns sehen, ist die
erfolgt oder wenn die Sowjetunion später Einwände Rede des amerikanischen Außenministers vom 2. Ok-
erhebt. tober 1968 vor der UNO. Dabei ist von einer feier-
Dieses Interpretationsproblem erfährt eine wei- lichen Verteidigungsverpflichtung der USA in Europa
tere Komplizierung. In den klassischen Interpre- die Rede, die insbesondere die Sicherheit der Bun-
tationen 2 bis 6 steckt die Definition eines Begriffes, desrepublik und West-Berlins einschließt, bis „der
bei dem zwischen den USA und der Sowjetunion Moment kommt, wenn die deutsche Nation in Frie-
ein potentieller Dissens besteht und über den, auch den und Freiheit in einem gesicherten Europa wie-
auf Wunsch der Bundesrepublik, nur in vertrau- dervereinigt werden kann".
lichen Ausschüssen beraten werden sollte. Damit (Sehr gut! bei der CDU CSU.)
wird das Kernproblem des Vertrages berührt.
Das hat der neue amerikanische Außenminister am
(Beifall bei der CDU/CSU.) 15. Februar in einer allgemein gehaltenen Erklärung
Es geht um die Definition des Begriffs der Verbrei bestätigt, in der er sich alle Äußerungen der vor-
tung. Die Einigung zwischen den USA und der So herigen Verwaltung zu eigen gemacht hat. Die Bun-
wjetunion über den geänderten Text war nur mög desregierung bietet uns dafür ein Rücktrittsrecht.
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969 329

Dr. Dr. h. c. Birrenbach


Was nützt der Bundesrepublik aber schon ein Rück- vergleichbarer Größe hat einen Vorbehalt bei
trittsrecht bei Wegfall des NATO-Vertrages? Kann Unterzeichnung des Vertrages eingelegt.
es sich die Bundesrepublik überhaupt leisten — wie
(Zwischenruf von der SPD.)
Sie in Ihrer schriftlichen Äußerung erklären —, in
einer gefährlichen Konstellation von diesem Ver- Die kleineren EWG-Staaten sind mit der Bundes-
trage zurückzutreten? republik nicht vergleichbar. Sie sind weder Gegen-
(Sehr wahr! bei der CDU/CSU.) stand der Anfeindungen durch eine Nuklear-Welt-
macht, noch würde ihnen der Rücktritt ernstlich ver-
Wohin soll sich die Bundesrepublik eigentlich zu- wehrt werden. Die beiden der Bundesrepublik ver-
rückziehen? gleichbaren Staaten in Europa sind aber Kernwaffen-
(Beifall bei der CDU/CSU.) mächte. Ob diese beiden Mächte aber das Rennen
In eine nationale Option wohl nicht; das wissen wir um die vertikale Proliferation allein mit den beiden
alle, das ist undenkbar, und das wünschen wir alle Supermächten auf die Dauer durchhalten, ohne auf
nicht. ganz Europa angewiesen zu sein, scheint heute schon
(Erneuter Beifall bei der CDU/CSU.) zweifelhaft. Die europäische Entwicklung kann also
auf längere Dauer gar nicht übersehen werden. Der
Die einzige Möglichkeit, die dann bleibt, ist eine Verweis übrigens in der europäischen Option auf
gemeinsame Lösung europäischer Natur. Es gibt die Staatensukzession ist eine völkerrechtliche
keine andere. Die zeitliche Diskrepanz in der Lauf- Selbstverständlichkeit, — vielleicht nicht für die So-
dauer ist so gravierend, daß es sich die Bundes- wjetunion. Aber in Europa geht es — das möchte
republik einfach nicht leisten kann, den ernsthaften ich dem Herrn Bundesaußenminister sagen — gar
Versuch zu unterlassen, eine der Rusk-Rede äqui- nicht einmal erstrangig um die Frage, ob Europa
valente Erklärung der neuen Regierung der Ver- Nuklearmacht werden soll oder nicht. Viel akuter
einigten Staaten anzustreben. ist die Tatsache, daß die Sowjetunion jede Stufe der
Einigung Europas auf militärischem Gebiet, auch auf
(Beifall bei der CDU, CSU.)
konventionellem Gebiet, als Beginn eines „Zugangs"
Jede Schwächung der NATO oder nur der Glaub- der Bundesrepublik zu nuklearen Waffen ansehen
würdigkeit der Garantie der USA und jeder Fort- wird, selbst wenn diese nur zu Verteidigungs-
schritt der europäischen Einigung werfen früher oder zwecken dienen.
später das Problem der europäischen Option auf.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Die Bundesregierung gibt zu, daß die Interpreta-
Gerade die NATO-interne und europainterne
tion Nr. 6 über den Wortlaut des Vertrages hinaus-
Selbstbindung des Westens gegenüber Deutschlands
geht. Der ursprüngliche amerikanische Entwurf vom
Nichtbeteiligung an nuklearen Arrangements ir-
August 1965 war ungleich günstiger als der heutige
gendwelcher Art ist doch das Zentrum der ganzen
Vertragstext. Die amerikanische Interpretation er-
sowjetischen Nichtverbreitungspolitik.
schwert die Situation insofern, als sie die Über-
tragung aller Funktionen der Außen- und Verteidi- Diese europäische Option wird um so verständli-
gungspolitik auf den neuen Bundesstaat fordert. Das cher, falls später rein defensive Waffen entwickelt
ist gewiß politisch unrealistisch; insofern stimme ich werden sollten, zur Verteidigung gegen die Mittel-
mit dem Bundesaußenminister überein. Aber auch streckenraketen der Sowjetunion an ihrer West-
hier spielt der Dissens, von dem ich eben gespro- grenze — zumal der Vertrag gar nicht zwischen
chen habe, eine sehr gravierende Rolle. defensiven und offensiven Waffen unterscheidet.
Die Bundesregierung erklärt nun, die Interpreta- Aus diesem Grunde fragen wir die Bundesregie-
tion entspreche der heutigen Lage und der voraus- rung, ob sie ebenso wie Italien bereit ist, für den
sichtlichen Entwicklung. Aber wie sieht denn die Fall der Unterzeichnung und Ratifikation des Ver-
Konstellation der Mächte in der Welt in zwei oder trages einen Vorbehalt in der Frage der europä-
drei Jahrzehnten aus, — bei einem Vertrag, der auf ischen Option, insbesondere auch für rein defensive
Jahrzehnte abgeschlossen ist? Wo steht dann europäische Kernwaffen, einzulegen, dessen Formu-
Europa? Wo stehen dann die Vereinigten Staaten? lierung nicht restriktiver ist, als es der Wortlaut
Wissen Sie das, meine Damen und Herren von der des Vertrages erfordert, und diesen Vorbehalt von
Bundesregierung? den Vereinigten Staaten und den europäischen Part-
nern bestätigen zu lassen.
(Unruhe bei den Regierungsparteien.)
(Sehr gut! bei der CDU/CSU)
Vizepräsident Frau Funcke: Herr Abgeordne- Die Sowjetunion droht der Bundes re publik auf
ter Birrenbach, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Grund der Art. 53 und 107 und des Potsdamer Ab-
kommens mit „Zwangsmaßnahmen" — wie sie
sagt —, d. h. einer Intervention politischer wie
Dr. Dr. h. c. Birrenbach (CDU/CSU) : Ich habe
militärischer Natur, im Falle einer — ich zitiere —
nur eine kurze Redezeit; ich kann nicht alle Zwi-
„Wiederaufnahme der aggressiven Politik der Bun-
schenfragen gestatten.
desrepublik". Dabei bezeichnet die Sowjetunion als
Wenn der Bundesaußenminister auf die Zurück- „aggressive Politik" allein schon das Verlangen
haltung der anderen EWG-Partner Bezug nimmt, so nach Selbstbestimmung und sogar die Ostpolitik der
antworte ich ihm folgendes. Auch Italien — ein Staat Großen Koalition.
330 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969

Dr. Dr. h. c. Birrenbach


Dieses Recht nimmt die Sowjetunion in Anspruch aufhört und daß abgesehen von der Problematik
bis zum Abschluß eines Friedensvertrages. Da die- der Vier-Mächte-Verantwortung für Deutschland
ser aber unabsehbar ist, ist der sowjetische Inter- und Berlin, die Bundesrepublik den gleichen Status
ventionsanspruch praktisch zeitlich illimitiert. im Verhältnis zur Sowjetunion gewinnt wie alle
Die westlichen Regierungen bestreiten die Rechts- übrigen Staaten der Erde. Dazu reicht aber die Be-
gültigkeit des sowjetischen Interventionsanspruchs. schränkung auf Abs. 13 der Präambel nicht aus. Es
geht nicht nur darum, daß im Rahmen dieses Ver-
Falls ein solcher überhaupt bestünde, könnte er nur
trags nicht Gewalt angewandt oder damit gedroht
kollektiv geltend gemacht werden. Bei einseitiger
werden soll, sondern daß Art. 2 der Charta der
Intervention wäre der Bündnisfall gegeben. So die
Vereinten Nationen Grundlage der gesamten Bezie-
Erklärung der Drei Mächte vom September vorigen
hungen der Bundesrepublik zur Sowjetunion wird.
Jahres.
Das ist das Problem.
Die Sowjetunion, Herr Bundesaußenminister, hat
(Beifall bei der CDU/CSU.)
am 6. Februar zur militärischen Frage erklärt, die
Resolution 255 des Sicherheitsrates, betreffend die Die Bundesregierung hat nach ihrer Erklärung den
Sicherheitsgarantie des Sicherheitsrates, sei auch auf Wunsch, den Komplex der Feindstaatenartikel, so-
die Bundesrepublik anwendbar. Aber übersehen wir weit er über den NV-Vertrag hinausgeht, im Rah-
dabei nicht, daß die Sowjetunion mit einem einfa- men künftiger Gewaltverzichtsverhandlungen zu be-
chen Veto diese Sicherheitsgarantie praktisch
- hin- reinigen. Dazu muß ich Ihnen folgendes sagen. Der
fällig machen kann! NV-Vertrag beinhaltet auf Grund von Abs. 13 den
(Beifall bei der CDU/CSU.) Gewaltverzicht. Dieser ist an die Stelle einer opera-
tiven Bestimmung gegen Drohung und Gewalt ge-
Im übrigen wäre das konventionelle Risiko gar nicht treten. Das war der Sinn der ganzen Verhandlungen.
abgedeckt; und ist das nicht ebenso entscheidend? Wenn wir aber den fundamentalen, über den NV-
(Abg. Dr. Barzel: Sehr wahr!) Vertrag hinausgehenden Gehalt der Feindstaaten
artikel in Gewaltverzichtsverhandlungen ausräumen
Soweit der militärische Aspekt. Die Bundesrepu-
wollen — so wie die Bundesregierung es wünscht —,
blik wäre also gesichert durch den NATO-Vertrag,
so ist unsere Verhandlungsposition ungleich schwä-
solange dieser besteht.
cher als beim NV-Vertrag.
Die Bundesregierung hat aber recht, neben der
(Beifall bei der CDU/CSU.)
rein militärischen Intervention ein zusätzliches
höchst gravierendes politisches Problem zu sehen, Jedermann, auch die Sowjetunion, weiß, daß die
welches die Natur der Beziehungen zur Sowjetunion Bundesrepublik weder die Absicht noch die Mög-
im allgemeinen und nicht nur in bezug auf den lichkeit hat, sie anzugreifen. Wenn aber die Unter-
NV-Vertrag berührt. Die Erklärung ist richtig. Es schrift unter den NV-Vertrag für die Sowjetunion
ist aber darauf hinzuweisen, daß der NV-Vertrag entscheidend für den ganzen Vertrag ist, dann ist es
grundlegend die Beziehungen der Bundesrepublik doch wohl ratsam, beim NV-Vertrag und nicht bei
zur Sowjetunion auf dem Gebiet der Sicherheit, der künftigen Gewaltverzichtsverhandlungen anzuset-
Wirtschaft und der Wissenschaft verändert. zen.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
(Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Sehr richtig!)
Aus unserer tiefen Sorge vor möglichen politi-
Die Bundesregierung hat nach ihrer schriftlichen
schen Drohungen auf Grund dieser Artikel, selbst
Erklärung die Absicht, zur Geschäftsgrundlage der
wenn das militärische Risiko abgedeckt wäre — ich
Unterzeichnung des Vertrages eine Erklärung zu
sage: wäre —, möchten wir die Bundesregierung
machen, wonach Abs. 13 der Präambel im Rahmen
ermutigen, in eindeutiger Form der Sowjetunion
des NV-Vertrages einschränkungslos für die Bun-
desrepublik wie für die übrigen Staaten gilt. Eine die Frage nach einer einschräkungslosen und vor-
solche Erklärung stellt die Bundesrepublik aber behaltlosen Anwendung des Art. 2 der Charta der
Vereinten Nationen im Gesamtbereich der Bezie-
nicht auf die gleiche Stufe mit allen Mitgliedstaaten
hungen beider Nationen vorzulegen, sobald alle an-
der Vereinten Nationen. Auch die Resolution der
Vollversammlung hebt den Vertrag nicht auf —; sie deren Fragen mit dem Westen geklärt und gelöst
sind. Diese Frage vor der Unterzeichnung zu klären,
involviert auch nicht den Verzicht der Sowjetunion
ist von großer Bedeutung; denn jetzt ist unsere Posi-
auf die Ausübung des von ihr behaupteten generel-
tion noch stärker.
len Interventionsrechtes, selbst wenn die Erklärung
ein Schritt in der rechten Richtung wäre. Sie deckt In dem von mir behandelten Bereich der Sicher-
ebensowenig das Risiko einer politischen Einmi- heit und europäischen Einigung — damit komme ich
schung der Sowjetunion in die inneren Angelegen- zum Schluß — sind im Rahmen des NV-Vertrags
heiten der Bundesrepublik, wie z. B. die Drohung noch so fundamental wichtige Klärungen vorzuneh-
wegen der NPD es zeigt. men, daß der Vertrag heute noch nicht unterschrifts-
reif ist. Unterblieben oder mißlängen diese Klärun-
Was die Bundesregierung verlangen müßte, wäre
gen, würde die Spannung in Europa nicht vermin-
eine klare Anerkennung der Sowjetunion, daß alle
Rechte aus dem NV-Vertrag der Bundesrepublik in dert, sondern erhöht. Kann dies der Sinn des Ver-
trags sein? Diese Frage stellen heißt, sie verneinen.
gleicher Weise wie allen übrigen Vertragsmächten
zustehen, darüber hinaus, daß nach Unterzeichnung (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Wehner:
und Ratifikation des Vertrages das Gerede, die Bun- Das ist ja zum Lachen! — Weitere Zurufe
desrepublik suche Zugang zu nuklearen Waffen, von der SPD.)
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969 331

Vizepräsident Frau Funcke: Meine Damen meine Aufgabe. Ich werde später auf sie zu sprechen
und Herren, wir treten jetzt in die Mittagspause kommen.
ein.
Zunächst möchte ich einiges über diesen Vertrag
Die Sitzung ist bis 15 Uhr unterbrochen. sagen, was ins Grundsätzliche geht. Ich glaube, wir
alle sollten uns hier an die Genesis, an die Vorge-
(Unterbrechung schichte dieses Vertrages erinnern. Sie beginnt mit
von 12.53 Uhr bis 15.00 Uhr.) der irischen Erklärung von 1961, setzt sich in den
Entwürfen der USA und der Sowjetunion aus den
Vizepräsident Dr. Jaeger: Die unterbrochene Jahren 1965 und 1966 fort und dann weiter in den
Sitzung wird fortgesetzt. verschiedenen Entwürfen, die schließlich zu dem
Zu einer Erklärung nach § 36 der Geschäftsord- endgültigen Vertrag führten. Ich glaube, kein Ver-
nung hat der Abgeordnete Dr. Stoltenberg das trag in der Nachkriegszeit hat eine derartig inten-
Wort. sive Behandlung gefunden wie gerade dieser Ver-
trag, und über kein Vertragswerk der Nachkriegs-
zeit ist so intensiv — gerade von deutscher Seite —
Dr. Stoltenberg (CDU/CSU) : Herr Präsident!
verhandelt worden, um Verbesserungen des Textes
Meine Damen und Herren! Der Herr Bundesminister
zu erreichen, um einen Zusammenhang und einen
des Auswärtigen hat zu Beginn seiner Rede auf
Zusammenhalt mit den Interessen unserer Verbün-
eine Äußerung hingewiesen, die ich am 14. Mai in
deten und den weiteren betroffenen Staaten dieser
Wien gemacht haben soll: Eine Entscheidung der
Bundesregierung über den Vertrag sei Ende des Erde, die keine Nuklearmächte sind, herzustellen.
Jahres möglich, wenn die Konsultationen fortge- Kein Vertrag hat schließlich durch die Änderungen,
die während der verschiedenen Etappen vorgenom-
führt würden.
men worden sind, im Endeffekt so viele positive
Ich möchte zu diesem Hinweis folgendes erklären. Ergebnisse gebracht.
Ich habe am 14. Mai in Wien als Bundesminister für
wissenschaftliche Forschung ein internes amtliches Man sollte das sehen und zur Kenntnis nehmen.
Gespräch mit dem Generaldirektor der Internationa- Man sollte vor allen Dingen auch auf das, was früher
len Atomenergie-Organisation, Herrn Eklund, ge- war, Bezug nehmen. Es ist nicht ganz fair und nicht
führt, an dem von jeder Seite je ein Beamter teil- ganz korrekt, wenn man, wie es der Herr Kollege
genommen hat. Herr Eklund hat mich in diesem Birrenbach getan hat, etwa auf frühere Entwürfe
Gespräch nach dem möglichen Zeitpunkt der Ent- der Jahre 1965 und 1966 Bezug nimmt und dann aus-
scheidung der Bundesregierung gefragt. Ich habe schließlich den Artikel herausgreift, der in bezug auf
ihm daraufhin — in voller Übereinstimmung mit einen einzigen Punkt liberaler war. Aber wir alle
dem, was ich hier heute für meine Fraktion gesagt erinnern uns doch, daß unsere Hauptsorge in der
habe — geantwortet, daß eine Entscheidung dann Vergangenheit und vor allen Dingen in jenen Jah-
erfolgen könne, wenn alle offenen Punkte befriedi- ren eben die war, daß der Kontrollartikel, daß jene
gend geklärt seien. Das könne Ende dieses Jahres Artikel, die sich auf die wirtschaftliche Nutzung und
sein; das könne aber auch — da die Voraussetzun- ihre mögliche Behinderung bezogen, damals ganz
gen nicht von uns abhängen — später sein. anders aussahen. Wir müssen heute das Verhand-
Ich halte es nun — das möchte ich zum zweiten lungspaket sehen, das am Ende dieser Verhandlun-
sagen — für ein nicht unbedenkliches Verfahren, gen herausgekommen ist. Dieses Verhandlungspaket
wenn aus solchen internen amtlichen Gesprächen ist insgesamt befriedigend, wenn auch kein Maßan-
früherer Mitglieder der Bundesregierung auf der zug, wie es Herr Birrenbach offenbar erwartet hat.
Grundlage der vorliegenden internen amtlichen Be- Aber das scheint nun einmal das Schicksal von
richte der Beamten hier so zitiert wird. In diesem Vorlagen in der Politik und das Schicksal vieler
Falle können auch die früheren Mitglieder der Bun- politischer Vorgänge überhaupt zu sein.
desregierung bei parlamentarischen Auseinander-
setzungen in diesem Hause nicht weiter jene Zu- Ich würde diesen Atomwaffensperrvertrag ganz
rückhaltung in ihrem amtlichen Wissen aus dem gerne mit der Regierung vergleichen, die wir von
Kabinett und ihrer Amtszeit üben, die ihnen an 1966 bis 1969 hatten.
sich die Interessen dieses Staates auferlegen. (Abg. Dr. Stoltenberg: Ich würde sagen,
(Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Köppler: das ist kein schmeichelhafter Vergleich für
Merkwürdiger Stil! — Zuruf von der CDU/ die Regierung!)
CSU: Und dann noch vom Außenminister!)
- Ich glaube, der ist ganz schmeichelhaft. Auch
diese Regierung wurde nicht allzusehr geliebt, aber
Vizepräsident Dr. Jaeger: Wir fahren in der sie wurde von vielen für notwendig gehalten, un d
Aussprache fort. Das Wort hat der Abgeordnete sie hat nach Meinung vieler ganz vernünftige Er-
Dr. Bußmann. gebnisse erzielt. Dennoch finden sich vor allen Din-
gen in der letzten Phase dieser Regierung manche
Dr. Bußmann (SPD) : Herr Präsident! Meine Da- Schönheitsfehler. Trotzdem ist das Ergebnis, das
men und Herren! Es ist für mich — insbesondere als erzielt wurde, unter dem Strich gesehen — vor allen
Neuling — nicht ganz einfach, jetzt auf die Rede Dingen für uns, wenn wir es einmal parteipolitisch
des Kollegen Birrenbach sozusagen in kontrollierter sehen — positiv gewesen. Ich glaube, im Sinne einer
Reaktion zu antworten. Aber das ist ja nun einmal solchen politischen Bewertung sollte man auch ein-
332 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969

Dr. Bußmann
mal auf den Atomwaffensperrvertrag eingehen und Souveränität verfügen, und den anderen gibt, die
nicht hier lediglich den Maßnanzug — — zwar im Gedankenspiel und in den Berechnungen
der Großen eine Rolle spielen, die aber nichtsdesto-
(Abg. Dr. Heck: Die parteipolitische
weniger auch völkerrechtlich schließlich einen ande-
Nützlichkeit!)
ren Rang einnehmen werden, weil die Welt so ist
— Die parteipolitische Nützlichkeit sehe ich beim und nicht so, wie sie vielleicht sein sollte.
Atomwaffensperrvertrag überhaupt nicht.
(Abg. Dr. Stoltenberg: Aber er schafft einen
(Abg. Dr. Dr. h. c. Birrenbach: Glauben Sie, Unterschied im friedlichen Bereich, den es
daß der Ausdruck aus der Konfektion hier nicht gibt und nicht geben muß! Das ist
sehr zweckentsprechend ist?) der Punkt!)
— Nein, Sie haben vollkommen recht. Das ist sicher-
lich auch kein Konfektionsanzug, aber das ist ein — Über den friedlichen Bereich möchte ich nicht
Kompromiß, der nach vielen Verhandlungen zu- sprechen, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil
stande gekommen ist. Dieser Kompromiß ist das, ich davon nicht genügend verstehe und das genauso
was möglich und erreichbar war, aber kein Ideal. wie Professor Leussink lieber den Fachleuten über-
So ist es ja allgemein bei Kompromissen, ganz lasse. Sie wissen genau, Kollege Stoltenberg, daß
gleich, unter welchen politischen Gruppierungen man es zahlreiche Äußerungen durchaus prominenter
diese Kompromisse schließt. Wissenschaftler gibt, die sagen, daß ein breites
Spektrum der wissenschaftlichen friedlichen For-
Aber es gibt ja noch andere Dinge, die über diesen schung auf dem Gebiet der Atomenergie sehr viel
Vertrag zu sagen sind. Der Kollege Stoltenberg hat mehr Möglichkeiten bietet als das Gebiet der krie-
in seiner grundsätzlichen Bewertung vor allen Din- gerischen Forschung, und Sie wissen ebensogut, daß
gen ein Problem angeschnitten, nämlich das Problem nach Meinung des amerikanischen Außenministers
der Universalität dieses Vertrages, das durch die Rusk der Ertrag der kriegerischen Forschung
essentielle Ungleichheit der Teilnehmerstaaten die- — wenn ich das einmal so nennen darf — gegen-
ses Vertrages verletzt werde. Das mag formal durch- über dem Ertrag der friedlichen Forschung als, wie
aus richtig sein. Allerdings sollten wir die Welt so es wörtlich heißt, unendlich klein zu bezeichnen ist.
sehen, wie sie ist, und nicht so, wie wir sie uns Ich möchte mich auf diesen Streit nicht einlassen;
wünschen. Das stammt übrigens von Kennedy, ist das sollten die Techniker unter sich austragen. Aber
also zitierbar. Wenn wir die Welt so sehen, wie sie zur Universalität dieses Vertrages und zur essen-
Ist, müssen wir feststellen, daß sicher mit den klassi- tiellen Ungleichheit der Staaten müßte einfach ge-
schen Völkerrechtsregeln der Staatengleichheit die sagt werden, was ist auf dieser Erde.
Problematik von Kernwaffenbesitz und -verzicht
weder erfaßt noch gelöst werden kann. Wer bestrei- Weiterhin wird natürlich gegen den Vertrag ein-
tet denn heute schon, daß die Nuklearwaffen den gewendet, daß er kein wirklicher Beitrag zur Abrü-
Charakter des Krieges und den Charakter der Welt- stung ist. Kollege Stoltenberg hat mit Recht gesagt:
politik nicht nur quantitativ, sondern grundlegend er ist eine Vorform, eine Vorstufe, er befindet sich
geändert und die klassischen Regeln von Krieg und im Vorhof der Abrüstung, ist aber selber noch
Frieden auf den Kopf gestellt haben?! Diese Revo- keine Abrüstung. Nun, seit wir Ende der 50er Jahre
lution wirkt sich auch entscheidend die neuen Ideen der Rüstungskontrolle, Rüstungs-
beschränkung und Abrüstung entwickelt haben, wis-
(Abg. Dr. Dr. h. c. Birrenbach meldet sich zu sen wir, daß der eigentlichen Abrüstung das Institut
einer Zwischenfrage) der Rüstungskontrolle vorauszugehen hat, das zu-
— Moment, ich führe das eben zu Ende — auf an- nächst einmal Rüstungen stabilisiert auf dieser
dere Bereiche des zwischenstaatlichen Zusammen- Welt, bis dadurch eine Basis geschaffen wird, die
lebens aus. Der Atomwaffensperrvertrag verdeut- es eventuell möglich macht, daß es weitergeht. Wir
licht sehr anschaulich, in welch starkem Maße die hoffen ja zuversichtlich, daß es weitergeht.
nukleare Revolution die politisch-rechtliche Grund-
lage der Staatengemeinschaft verändert. Es liegt im Wir sind froh darüber, daß am nächsten Montag
Wesen der nuklearen Waffen, daß der Begriff der in Helsinki die Vorgespräche über die Begrenzung
Gleichwertigkeit, sei es hinsichtlich der Waffen, der strategischer Waffensysteme beginnen sollen. Wir
militärischen Macht oder des Status der Länder nicht wissen nicht, wo sie enden. Wir wissen auch, Herr
mehr den überkommenen normativen Wert haben Zimmermann, welche Problematik das unter Um-
ständen für uns mit sich bringt und daß wir uns
kann.
wahrscheinlich im Verteidigungsausschuß und in an-
Es erscheint gegenüber einer allzu starken emotio- deren Ausschüssen oft darüber zu unterhalten haben
nell bedingten Wertung eines Atomwaffensperrver- werden. Aber hier ist gewissermaßen von seiten
trages notwendig, darauf hinzuweisen, daß der Ver- der Atommächte eine Vorleistung geschehen, indem
trag nicht eigentlich die Aufteilung der Welt in die sie den Anfang machen, ohne daß wir Endgültiges
Habenden und Nichthabenden schafft, sondern daß darüber aussagen, ohne daß wir schon jetzt endgül-
er lediglich einen bestehenden, allgemein hingenom- tig dazu Stellung nehmen können; denn eben da
menen Tatbestand besiegelt und ihn in eine völker- sind Dinge drin, über die wir heute, ohne daß Er-
rechtliche Norm faßt. Darum kommen wir nicht her- gebnisse irgendwelcher Art vorliegen, noch gar
um. Das ist doch nun einmal die Situation dieser nicht reden können. Aber der Anfang ist gemacht,
Welt, daß es den Unterschied zwischen den Super- und sowohl den Bedingungen des operativen Teils
mächten, die über das letzte Mittel der nationalen des Vertrages als auch den Bedingungen der Prä-
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969 333
Dr. Bußmann
ambel, daß eben diese Wandlungen eingeleitet wer- Kündigungsfrist in Frage gestellt werden kann,
den sollen, ist in etwa Genüge getan worden. während der Atomwaffensperrvertrag zunächst für
25 Jahre gilt. Der Zusammenhang ist nicht so recht
Wir werden bei der Überprüfungskonferenz fest-
ersichtlich. Natürlich hängt die Sicherheit der Bun-
stellen können, inwieweit das zum Erfolg geführt
desrepublik Deutschland von der NATO ab. Aber
hat und inwieweit sich diesen ersten Gesprächen
sie würde von der NATO auch dann abhängen,
andere angeschlossen haben. Aber hier ist, wie der
wenn es keinen Atomwaffensperrvertrag oder ir-
Außenminister gesagt hat, ein wirksamer oder, bes-
gendwelche Rüstungskontrollabkommen in Mittel-
ser gesagt, der einzige Hebel der Nichtnuklearen
europa gäbe.
gegenüber den Supermächten überhaupt, auf dem
(Beifall bei der FDP.)
Gebiete der Abrüstung irgend etwas zu bewirken.
Das muß doch einfach so gesehen werden. Wir sind auf dieses Bündnis angewiesen, und wir
müssen eben alles tun, um es zu stärken.
Am Beitrag des Kollegen Birrenbach hat mich
eigentlich die Tendenz gestört, die — etwas grob- Man kann sogar einen Umkehrschluß ziehen: daß
schlächtig vielleicht — ausgedrückt werden kann als der Atomwaffensperrvertrag geeignet sein kann,
Mißtrauen in unsere Verbündeten, insbesondere in den Zusammenhalt dieses Bündnisses zu verstärken.
unseren amerikanischen Verbündeten und die Denn wenn wir erklären — wie es unsere Bundes-
Dauerhaftigkeit seiner Sicherheitsgarantie. genossen ebenfalls getan haben — daß mit Ablauf
,

(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU.) des NATO-Vertrages bzw. einer vorzeitigen Auflö-
sung des Bündnisses in seiner derzeitigen Form die
— Entschuldigen Sie, Herr Birrenbach. Ich habe kein europäische Sicherheit vital gefährdet würde, und
Manuskript, aber ich habe Gott sei Dank Ihr Ma- — zurückgreifend auf Art. 10 — der Rücktrittsfall ge-
nuskript vorliegen. Wenn man sich das im einzelnen geben sei, dann kann man auch sagen, daß der
ansieht, kann man eigentlich zu keinem anderen Atomwaffensperrvertrag, an dessen Erhaltung die
Ergebnis kommen, als daß die Sowjetunion mit die- Weltstaatengemeinschaft und die europäischen Staa-
sem Vertrag durchaus hinterhältige und für uns ten in starkem Maße interessiert sind, erhalten
nicht sehr angenehme Zwecke verfolgt, daß sich bleiben muß und mit ihm die NATO, weil die Welt-
aber die Amerikaner, gewissermaßen als tumbe To- staatengemeinschaft hierauf großen Wert legt. Er
ren, auf diesen Vertragszweck einlassen, ohne die ist auf diese Art gewissermaßen die Umklammerung
Problematik im einzelnen zu erkennen. der NATO und — das ist kein entscheidender Punkt
(Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. — auch eine Grundlage für den Zusammenhalt der
Köppler: Herr Bußmann, ein bißchen unter westlichen Allianz.
dem Strich! — Abg. Dr. Stoltenberg: Da tun Zur europäischen Option! Die Möglichkeiten der
Sie Kurt Birrenbach doch etwas unrecht! — europäischen Option sind in der sechsten amerika-
Weitere Zurufe von der CDU/CSU.) nischen Interpretation dargelegt worden. Es ist
— Natürlich ohne Manuskript. Das hier ist nämlich sicherlich richtig, wenn Herr Kollege Birrenbach sagt,
Herrn Birrenbachs Manuskript. es sei eine glatte Selbstverständlichkeit, daß nach
den Regeln der Staatensukzession ein neu entstehen-
(Abg. Köppler: Das er nicht benutzt hat!) des Völkerrechtssubjekt, das im Besitz der auswär-
— Gut, einverstanden. tigen und der Verteidigungsgewalt ist, dann die
Rechte seiner Einzelstaaten übernehmen kann. Aber
Das gleiche gilt in starkem Maße von den Dar-
genau das ist es, was wir im Augenblick und wahr-
legungen, die sich auf den Begriff „Verfügungsge-
scheinlich auf lange Zeit als die alleinige Möglichkeit
walt" bezogen. Man sollte doch einfach sehen, daß
in bezug auf ein vereinigtes Europa ansehen.
der Begriff „Verfügungsgewalt" in den amerikani-
schen Interpretationen — ich meine jetzt die Inter- Wir sollten uns doch nichts vormachen. Wer zu
pretationen 1 bis 6 — in einer Weise erläutert wor- diesem Zeitpunkt und in absehbarer Zukunft einen
den ist, daß die bisherigen Arrangements in der Vorschlag in Europa vorbrächte, der darauf hinaus-
NATO nicht gefährdet werden. Der englische liefe, eine gemeinsame EVG, eine gemeinsame Euro-
Außenminister Mulley hat im Unterhaus dazu wei- päische Verteidigungsgemeinschaft zu schaffen, die
tergehende Erklärungen abgegeben. gleichzeitig im Besitz von Atomwaffen wäre und
(Abg. Dr. Dr. h. c. Birrenbach: Staatsminister!) ein gemeinsames Verfügungsrecht hätte, der würde
jedenfalls Europa zuverlässig verhindern. Nach dem
— Richtig: Staatsminister Mulley hat dazu weiter- Willen unserer Verbündeten, nach dem erklärten
gehende Erklärungen abgegeben, die uns bei der Willen etwa des französischen Staatspräsidenten
öffentlichen Erörterung des Begriffs ,,Verfügungs- sind der Besitz und die Verfügungsgewalt an Atom-
gewalt" jedenfalls weiterhelfen. Darauf sollten wir waffen das I-Tüpfelchen der Souveränität und kön-
uns beziehen. In den demnächstigen Verhandlun- nen erst in dem Augenblick übertragen werden,
gen des Verteidigungsausschusses und des Aus- wenn die Gesamtsouveränität auf ein neues Völker-
wärtigen Ausschusses werden die Einzelheiten über rechtssubjekt übergeht, und keinen Moment vorher.
die Verabredungen ja noch dargelegt, soweit noch Wir kennen die Vorschläge von General de Gaulle
Erläuterungen nötig sind. aus dem Jahre 1964, die natürlich auf eine
Die NATO-Laufzeit wurde im einzelnen ange- Europäische Verteidigungsgemeinschaft hinausliefen,
sprochen. Dabei wurde betont, daß es nun einmal aber doch eine solche, die auf dem Prinzip der
so ist, daß die NATO nach Ablauf ihres zwanzig- Arbeitsteilung basierte, wo die einen die konventio-
jährigen Bestehens gewissermaßen mit einjähriger nelle und die anderen die atomare Komponente
334 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969

Dr. Bußmann
darzustellen hatten. Das ist sogar noch restriktiver Es gibt keine einseitige Intervention irgendeiner
als die Regelungen, die wir zur Zeit innerhalb der Macht. Außerdem sollten wir uns, wenn wir hier
atlantischen Allianz, innerhalb unseres Bündnisses schon juristische Scheinprobleme hochspielen, in der
haben mit dem Besitz von Trägerwaffen auf der Realpolitik vor allen Dingen darüber klar sein, daß
einen Seite und der Verfügungsgewalt bzw. dem Be- Interventionen im allgemeinen überhaupt nicht auf
sitz von atomaren Sprengköpfen auf der anderen Grund einer Rechtsgrundlage geschehen, sondern
Seite; ich meine, bei unseren amerikanischen Ver- auf Grund nackter Gewalt.
bündeten.
(Beifall bei den Regierungsparteien.)
Die europäische Option — wenn sie so offen-
Ich möchte mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten
bleibt, wie es der Vertrag vorsieht — entspricht den
zum Schluß ein kurzes Zitat bringen, das die gegen-
realen Bedingungen, die sich augenblicklich in
wärtige Diskussion und die Diskussion der letzten
Europa stellen. Wir sollten diese Bedingungen so
Jahre sehr gut umreißt und das bezeichnend für
akzeptieren, wie sie sind.
das Klima dieser Diskussion hier in diesem Hause
Es ist heute morgen häufig darauf hingewiesen und anderswo sein sollte. Da heißt es:
worden, daß überhaupt keine Aussagen darüber
Die Bundesregierung ist grundsätzlich an einer
möglich sind, wie es denn etwa in 10, 15 oder 20 Jah-
internationalen Nichtverbreitungsregelung in-
ren aussehen werde. Wenn das stimmt, dann stimmt
teressiert, da sie auf diesem Gebiet bereits be-
es erst recht für die Möglichkeit eines ABM-Systems,
- deutsame Vorleistungen gemacht hat. Sie hat
das ebenfalls angesprochen wurde. Jeder weiß, daß
in den Pariser Verträgen des Jahres 1954 auf
nach dem gegenwärtigen Stand der Technik und auf
die Produktion von Kernwaffen auf eigenem
lange Zeit hinaus ein ABM-System, wie es die Tech-
Boden verzichtet. Die Bundesregierung hat in
niker augenblicklich in anderen Staaten in der Pla-
der Friedensnote vom 25. März 1966 den Ver-
nung haben, auf Grund der geringen Vorwarnzeiten,
zicht auf den Erwerb nuklearer Waffen in Aus-
auf Grund der geringen Distanzen für Mitteleuropa
sicht gestellt. Sie hat sich mit dem Abschluß des
und insbesondere für die Bundesrepublik eine glatte
Euratom-Vertrages für die friedliche Entwick-
Unmöglichkeit wäre. Wir müssen allerdings, wenn
lung der Kernenergie einer internationalen
das Projekt ABM-System erwogen wird, auch davon
Kontrolle unterworfen. Die Bundesrepublik ist
ausgehen, daß ein ABM-System unter den Bedin-
daher daran interessiert, daß alle übrigen Staa-
gungen der gegenwärtigen Arrangements innerhalb
ten sich entsprechenden Beschränkungen unter-
der NATO, d. h. der Arrangements: Trägerwaffen
werfen. Eine unkontrollierte Verbreitung von
auf der einen Seite bzw. bei der einen Gruppe, Ver-
nuklearen Waffen auf individuelle Staaten muß
fügungsgewalt über atomare Sprengköpfe auf der
die internationale Friedensordnung gefährden.
anderen Seite oder bei der anderen Gruppe, möglich
Aus dieser Perspektive heraus sollte die Dis-
wäre. Dadurch würden uns keine entscheidenden
kussion über den jetzt vorliegenden Atomsperr-
Wege versperrt.
vertrag in der Bundesrepublik geführt werden.
Ein letztes Problem in diesem Zusammenhang wa-
ren die Interventionsklauseln der Charta der Ver- Dieses Zitat stammt aus einem Aufsatz „Zur Proble
einten Nationen, die immer wieder angesprochen matik des Atomsperrvertrages, kurze Zusammenfas
wurden. Ich glaube, wir sollten um der Ehrlichkeit sung für Wahlkampfzwecke" von Dr. Birrenbach
zueinander willen auch darauf hinweisen, daß MdB.
diese Interventionsklauseln von der anderen Seite (Heiterkeit und Beifall bei der SPD.)
— und damit meine ich in diesem Fall die Sowjet- Ich würde trotzdem sagen, dieses Zitat sollte den
union — nur in einen Zusammenhang mit deutscher Geist gerade der Diskussion in dieser Situation
Politik im Dialog über den gegenseitigen Gewalt- beherrschen, da wir darüber zu befinden haben,
verzicht und nie in einen Zusammenhang mit dem wann und unter welchen Umständen wir Entschlüsse
Atomwaffensperrvertrag gebracht wurden. Wir ha- fassen über die Unterzeichnung dieses Vertrages
ben diesen Zusammenhang in unserer Diskussion und über die spätere Ratifizierung, vor der aller-
nun einmal hergestellt. Darüber sollte gesprochen dings noch eine ganze Reihe Vorbedingungen er-
werden, und darüber müssen eindeutige Erklärun- füllt sein sollen. Im Sinne des Zitates wäre also die
gen erfolgen. Aber kann es eindeutigere Erklärun- Diskussion zu führen.
gen geben als die unserer Verbündeten, insbeson-
Das Ergebnis der bisherigen Diskussion auf inter-
dere der Amerikaner und der Franzosen, die erklärt
nationaler Ebene entspricht weitgehend dem, was
haben, daß der Bündnisfall gegeben sei, wenn auf
der Außenminister der vorherigen Regierung am
Grund einer Intervention die territoriale Integrität
der Bundesrepublik Deutschland verletzt werde? 27. April 1967 vor dem Deutschen Bundestag als
vier Kriterien aufgestellt hat, nach denen man sich
Hier liegt unsere Garantie und sonst nirgendwo.
auf jeden Fall zu entscheiden habe. Damals wurde
Die übrige Rechtsbewertung dieser Artikel ist gesagt, als erstes müsse die ungehinderte Nutzung
vom Außenminister der vorigen Regierung mit der Kernenergie zu friedlichen Zwecken gesichert
Recht als überständig und obsolet bezeichnet wor- sein. Als zweites müsse eine deutliche Verbindung
den. Diese Artikel geben kein einseitiges Interven- zur allgemeinen Abrüstung erkennbar sein. Das
tionsrecht, sondern sie geben nur eine mehrseitige dritte sei die Gewährleistung unserer Sicherheit. Und
Form des Rechts, das sich auf Nichtanrufung des das vierte bedeute, daß keine Beeinträchtigung re-
Sicherheitsrats bezieht. gionaler, in unserem Fall europäischer, Einigungs-
(Sehr richtig! bei der SPD.) bestrebungen gegeben sein dürfe.
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969 335

Dr. Bußmann
Nach unserer Meinung sind diese Kriterien in Auch ich möchte mich mit den Argumenten und
der jetzigen Situation nach den langen Verhand- Argumentationen des Kollegen Birrenbach ausein-
lungen, die in der Vergangenheit geführt worden andersetzen. Ich bin fast unglücklich, daß ein Teil
sind, erfüllt. Wir können in eine abschließende dessen, was ich mir aufgeschrieben hatte, Kollege
Diskussion eintreten. Im Interesse unserer Außen- Bußmann schon vorweggenommen hat. Herr Kollege
politik müssen wir auch den Weg für eine end- Birrenbach hat im Duktus seiner Rede den NV-Ver-
gültige Entscheidung freigeben. Denn wer sich mit trag als eine Sache dargestellt, die die Sowjetunion
dem beschäftigt, was die internationale Presse und zur Knebelung der Bundesrepublik Deutschland er-
was mancher Staatsmann auch in der westlichen funden habe. Mein Kollege Rutschke und soeben
Welt heute sagt, der muß feststellen, daß heute auch Herr Dr. Bußmann haben auf den Hergang hin-
schon in immer stärkerem Maße darauf hingewiesen gewiesen, wie es zu diesem Vertrag gekommen ist;
wird, daß die Staaten der Welt auf die Entschei- ich brauche das nicht zu wiederholen.
dung der Bundesrepublik warten. Ich möchte etwas anderes hinzufügen. Unter
Es besteht der Verdacht, daß bei einer even- Punkt 5 der Großen Anfrage der CDU/CSU-Fraktion
tuellen Ratifikationsverweigerung der Sowjetunion wird gefragt, welchen universalen Charakter dieser
mit dem Hinweis darauf, daß die Bundesrepublik Vertrag habe, wenn die Bundesrepublik ihm nicht
ja nicht bereit sei, bindende Erklärungen über ihren beitrete. Damit wird doch schon gesagt, daß auch
Beitritt abzugeben, die Schuld am Scheitern dieser von Ihnen, meine Damen und Herren von der CDU/
Rüstungskontrollabmachung insgesamt der Bundes- CSU-Fraktion, der universale Charakter dieses Ver-
republik Deutschland in die Schuhe geschoben wird. trages anerkannnt wird. Folglich kann er kein In-
strument mehr zur Knebelung der Bundesrepublik
Dann wäre das Ergebnis ein Dissens mit unseren
durch die Sowjetunion sein.
westlichen Verbündeten und das Verbauen jeder
Verständigungspolitik und jeder Entspannungspoli- Ich bin auch sehr froh, daß Kollege Bußmann auf
tik gegenüber den osteuropäischen Staaten und der die Frage der Abrüstung, di e mit diesem Vertrag
Sowjetunion. Das sollten wir sehen, und daran soll- verbunden ist, eingegangen ist. Wir wissen alle aus
ten wir denken. Wir haben hier eine Verantwor- der Erfahrung langer Zeiten, daß man zur Abrüstung
tung, die sich wahrscheinlich auf die nächsten Jahre nur in kleinen Schritten kommen kann. Es muß aber
und Jahrzehnte bezieht. In diesem Sinne sollte die unterstrichen werden, daß der Vertrag deswegen
Diskussion geführt werden. Ich hatte den Auftrag, bejaht werden muß, weil er für diejenigen, die
in diesem Sinne hier den Standpunkt der sozial- keine nuklearen Waffen besitzen, einen gewissen
demokratischen Bundestagsfraktion in der Frage der Hebel bedeutet, um auch in der Frage der Abrüstung
Sicherheit zu vertreten. auf dem Gebiet der Nuklearwaffen weiterzukom-
men. Insbesondere ist die Möglichkeit der Überprü-
(Beifall bei den Regierungsparteien.) fung nach einer bestimmten Zeit, ob dieser Vertrag
seinen Zweck erreicht hat, hier von besonderer Be-
Vizepräsident Dr. Jaeger: Das Wort hat der deutung.
Abgeordnete Schultz. Der Kollege Birrenbach hat von der Sowjetunion
in einer ganzen Reihe von Punkten bindende Erklä-
Schultz (Gau-Bischofsheim) (FDP) : Herr Präsi- rungen vor Unterzeichnung des Vertrages gefordert,
dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! durch die die Nichtdiskriminierung der Bundesrepu-
Es ist mir eine besondere Freude, Ihnen, Herr blik Deutschland klargestellt werden soll. Meine
Kollege Dr. Bußmann, zu Ihrer Jungfernrede meine Frage, die ich dazu stellen möchte, ist: Hat nicht die
Glückwünsche aussprechen zu können. Sowjetunion im Februar 1969 gegenüber der dama-
ligen Bundesregierung erklärt, daß die Bundesrepu-
(Beifall bei den Regierungsparteien.) blik Deutschland mit der Übernahme der Pflichten
Es freut mich besonders, daß wir nun in Zukunft des Vertrages auch in die vollen Rechte des Ver-
nicht gegeneinander die Klingen zu kreuzen haben, trages gleichberechtigt eintrete? Diese Frage ist, so-
sondern miteinander fechten können. Vielleicht hat viel ich weiß, im Auswärtigen Ausschuß, dem ich
das Haus gemerkt — ich kenne Sie ja schon aus Ihrer nicht angehörte und angehöre und der ein vertrau-
vorhergehenden Arbeit verhältnismäßig gut —, daß licher Ausschuß ist, erörtert worden. Frage: Reicht
Sie ein ernstzunehmender Mann sind, der in den das nicht aus, oder was muß noch mehr getan wer-
Bundestag gekommen ist, worüber wir uns alle nur den? Wenn mehr getan werden muß, dann frage ich
freuen können. mich: Warum hat die Regierung der Großen Koali-
tion die Zeit seit Februar nicht genutzt, um die von
(Beifall bei den Regierungsparteien.)
Herrn Birrenbach heute gewünschten weiteren bin-
Mit besonderer Freude habe ich natürlich Ihr denden Erklärungen zu bekommen?
Wort von der „Arbeitsteilung" aufgenommen. Ich
(Beifall bei der FDP.)
denke aber an die Arbeitsteilung innerhalb des
Bündnisses bezüglich der atomaren und konventio-
nellen Komponente. Sie wissen, daß hier noch ge- Vizepräsident Dr. Jaeger: Herr Abgeordneter
wisse Divergenzen zwischen den beiden Koalitions- Schultz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn
partnern vorhanden sind. Ich hoffe, daß wir noch Abgeordneten Birrenbach? — Bitte.
die Gelegenheit haben werden, Sie von unserer
richtigen Meinung zu überzeugen. — Das nur neben- Dr. Dr. h. c. Birrenbach (CDU/CSU) : Herr Kol-
bei, möchte ich sagen, zwischen uns beiden. lege, im Gegensatz zu Ihnen ist die jetzige Bundes-
336 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969

Dr. Dr. h. c. Birrenbach


regierung auch der Meinung, daß es zwei Komplexe Dr. Dr. h. c. Birrenbach (CDU/CSU) : Herr Kol -

gibt: den Komplex des Verzichts auf Gewaltandro- lege Schultz, da der § 13 der Präambel das Problem
hung innerhalb des NV-Vertrages und jenen Gewalt des Gewaltverzichts behandelt, aber eben nur im
verzichtskomplex, der für die Beziehungen zwischen Rahmen des NV-Vertrages, erhebt sich die zweite
der Sowjetunion und der Bundesrepublik allgemein Frage, ob die Rückfrage an die Sowjetunion, die
gilt. sich auf die Gesamtbeziehungen zwischen der So-
(Zurufe von der SPD: Frage!) wjetunion und der Bundesrepublik erstreckt, im Rah-
men des NV-Vertrages oder in Gewaltverzichtsver-
— Ist Ihnen klar, daß sie in bezug auf den ersten
handlungen behandelt werden soll, und da bin ich
Teil befriedigt ist mit der Erklärung des sowjetischen
der Meinung, daß der beste Hebel der NV-Vertrag
Botschafters vom 6. Februar, daß sie aber für den
ist.
zweiten Teil eine Regelung im Rahmen der Gewalt-
verzichtsverhandlungen anstrebt?
(Abg. Mischnick: Das ist kein Widerspruch!) Vizepräsident Dr. Jaeger: Der zweite Satz
war nicht mehr zulässig.

Vizepräsident Dr. Jaeger: Herr Birrenbach,


hoffentlich war der Charakter der Frage den Kol- Schultz (Gau-Bischofsheim) (FDP): Ich bin nicht
legen deutlicher als mir. Ihrer Meinung, Herr Kollege Birrenbach. Ich glaube,
- daß man schrittweise vorgehen muß. In der Prä-
(Heiterkeit.) ambel des Vertrages ist bezüglich der Nichtgewalt-
androhung von Nuklearbesitzern gegenüber Nicht-
Schultz (Gau-Bischofsheim) (FDP) : Herr Kollege nuklearbesitzern etwas gesagt, in diesem speziellen
Birrenbach, wenn ich richtig verstanden habe, sind Bereich. Die Frage des Gewaltverzichts und der In-
auch Sie der Meinung, daß bezüglich der Nichtdis- terventionsartikel ist ein zweites Problem, das im
kriminierung der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der Verhandlungen über den Gewaltver-
NV-Vertrag die Dinge in Ordnung sind, daß aber zicht erledigt werden muß. Hier kann ich Ihnen
die Frage der Gewaltverzichtserklärungen und der also nicht folgen.
damit zusammenhängenden Interventionsartikel
Herr Kollege Birrenbach, Sie hatten erklärt, daß
nicht in Ordnung ist. Das war doch die Meinung, die
Herr Kossygin gesagt habe, die Bundesrepublik
Sie soeben vertreten haben?
Deutschland werde unterzeichnen müssen, ob sie
wolle oder nicht, und Sie haben hier sehr deutlich
3) Dr. Dr. h. c. Birrenbach (CDU/CSU): Ich muß die Meinung vertreten, daß die Sowjetunion eine
das jetzt in eine Frage fassen, was sehr schwierig harte, unversöhnliche Haltung gegenüber der Bun-
ist. desrepublik einnehme, wenn ich das einmal so pau-
schal sagen darf. Heißt das nicht mit anderen Wor-
ten, daß Verhandlungen mit der Sowjetunion über-
Vizepräsident Dr. Jaeger: Anders geht es
haupt keinen Sinn haben? Zum Schluß kommen Sie
nicht.
dann aber zu der Bemerkung, daß offene Fragen
zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der
Dr. Dr. h. c. Birrenbach (CDU/CSU) : Nein. — Sowjetunion vor der Unterzeichnung des Vertrages
Haben Sie mir damit nicht zugegeben, durch die Bundesregierung geklärt werden müssen.
Da habe man noch die Kraft, etwas zu ändern oder
(Lachen und Zurufe von der SPD)
Interpretationen zu bekommen.
daß es für diese Frage zwei Komplexe gibt, nämlich
einerseits den Komplex des NV-Vertrages und zwei- Nun frage ich Sie: Wenn es doch gar keinen Sinn
tens den Komplex der allgemeinen Beziehungen der hat, überhaupt mit der Sowjetunion zu verhandeln,
Bundesrepublik zur Sowjetunion?
(Sehr richtig! bei der FDP — Abg. Dr.
Dr. h. c. Birrenbach: Das haben Sie unter
Schultz (Gau-Bischofsheim) (FDP) : Selbstver- stellt!)
ständlich gebe ich Ihnen zu, daß es diese zwei warum soll man eigentlich die Unterzeichnung des
Probleme nebeneinander gibt. Aber sie stehen gar Vertrages davon abhängig machen?
nicht, was weiß ich, im Gegensatz zueinander, son-
dern das sind eben zwei verschiedene Probleme, und (Beifall bei der FDP.)
es ist ganz sicher, daß im Rahmen des Gewaltver-
zichts, den die Bundesregierung anstrebt, die Frage Ich sehe also in diesem Bereich Ihrer Rede keine
der Interventionsartikel erledigt werden muß. Das zwingende Logik. Nach meiner Auffassung bleibt
ist aber ein anderes Problem, über das wir heute die Stärke der Bundesrepublik, diese oder jene
nicht sprechen. Wir sprechen heute über den NV- Interpretation zu bekommen, immer gleich, gleich-
Vertrag. gültig, ob die Fragen vor Unterschrift oder nach
(Beifall bei der FDP.) Unterschrift geklärt werden.
(Widerspruch in der Mitte.)
Vizepräsident Dr. Jaeger: Gestatten Sie eine
zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schultz? — Ich bin sogar der Meinung — und nun korrigiere
Bitte. ich mich selber —, daß wir nach der Unterschrift
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969 337

Schultz (Gau-Bischofsheim)
größere Möglichkeiten und einen größeren Spiel jenem Gremium so eindeutig zu sein, daß es hier
raum als vorher haben. Aber das ist meine Ansicht. eben zutrifft, daß man dort so und hier anders ge-
redet hat.
(Abg. Dr. Dr. h. c. Birrenbach: Auch gegen
über der Sowjetunion?) Aber lassen Sie mich noch zu einer zweiten Stil-
frage des Hohen Hauses kommen. Wir haben ja
—AuchgenübrdSowjtui.Eskmdan
glücklicherweise seit der neuen Koalition und der
nur auf die Verhandlungsführung an.
neuen Regierung ein vollbesetztes Haus. Es wäre
Nun hat der Kollege Dr. Barzel meinen Freund natürlich sehr schön, wenn bedeutende Männer die-
Rutschke gefragt, ob nicht bekannt sei, daß die ses Hohen Hauses das, was sie zu den in Rede ste-
Bundesrepublik Deutschland freiwillig auf ABC- henden Problemen zu sagen haben, auch in diesem
Waffen nur gegenüber dem Westen verzichtet habe, Hohen Hause sagten
jetzt komme der Osten hinzu. Man müßte sich also
(Abg. Wehner: Sehr wahr!)
noch einmal erinnern, was Rutschke dazu gesagt
hat. Ich frage einfach: Galt denn damals, als wir und nicht draußen in entsprechenden Artikeln ver-
1954 durch die damalige Bundesregierung und den öffentlichten.
Bundeskanzler Adenauer diesen Verzicht ausgespro- (Beifall bei den Regierungsparteien.)
chen haben, dies in der Tat nur gegenüber dem
Westen? Ich war bisher immer der Meinung, das Ich habe hier eine dpa-Meldung vor mir liegen,
sei eine allgemein verbindliche Erklärung- für die und darin schreibt der Kollege Franz Josef
Bundesrepublik insgesamt gewesen. Strauß, der heute nicht dasein kann

(Beifall bei den Regierungsparteien.) (Zuruf rechts: Weshalb? — Zurufe von der
SPD: Hört! Hört!)
Ich warne davor, jetzt solche Fragen zu stellen. Denn
dann würde sich die Diskussion über all diese Pro- — nein, nicht „Hört! Hört!", sondern weil er im
bleme der Option für nukleare Waffen oder nicht Genesungsurlaub ist, zu dem wir ihm, glaube ich,
plötzlich in einem ganz anderen Licht darstellen, alle besten Wünsche übermitteln —,
und die Erklärungen der früheren Bundesregierun- (Abg. Wehner: Sehr wahr!)
gen, daß von uns keine Option angestrebt werde,
er schreibt in diesem Artikel,
würden plötzlich keine Grundlage mehr haben. Das
kann doch gar nicht so sein, wie das hier durch diese (Zurufe von der FDP: Wo?)
Frage hochgekommen ist. — einem Artikel im „Bayern-Kurier",
(Beifall bei den Regierungsparteien.) (Lachen bei den Regierungsparteien)
1) Ich glaube, wir müssen uns von dieser Frage sehr nach der dpa-Meldung —, dieser Vertrag sei durch-
distanzieren. aus geeignet, „uns langfristig gesehen in eine
Es ging in der Debatte heute früh auch um die schwierige wirtschaftliche Situation zu bringen". Er
Glaubwürdigkeit. Ich muß schon sagen, wir sollten sagt weiter:
in der Tat hier im Hohen Hause genau dieselbe Die angeblich neuen Interpretationen, welche
Haltung wie in internationalen Gremien einneh- die neue Regierung in Washington und Moskau
men, insbesondere wenn in den internationalen Gre- erreicht hat, dienen also nur als Feigenblatt, um
mien Politiker der Opposition — ohne Zweifel von den ursprünglichen Entschluß zu einer Unter-
Rang und Namen — dabei sind. schrift zu rechtfertigen.
(Zuruf von der FDP.)
Die dpa-Meldung schließt mit dem Zitat:
Die Namen braucht man ja wohl nicht zu nennen,
Brandt, ein großer Meister der unverbindlichen
es kann joder nachlesen, wer an dem entsprechenden
Ausdrucksweise, pflegt die Tugend der Zwei-
Tag entschuldigt gewesen ist.
deutigkeit, die in diesem Fall zum Laster wird.
Hier wäre aber Eindeutigkeit erforderlich.
Vizepräsident Dr. Jaeger: Herr Abgeordneter Ich muß schon sagen, solche Aussagen, insbesondere
Schultz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Ab-
die letzte, die ich hier verlesen habe, gehören eigent-
geordneten Dr. Lenz? — Herr Abgeordneter Dr.
lich in die Vorwahlkampfzeit. Nach der Wahl sollten
Lenz!
wir uns etwas anders ausdrücken.
(Beifall bei den Regierungsparteien.)
Dr. Lenz (Bergstraße) (CDU/CSU) : Herr Kollege
Schultz, sind Sie nicht mit mir der Auffassung, daß Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich muß
man sehr wohl für die grundsätzliche Unterzeich- leider schließen; die rote Lampe leuchtet auf. Ich
nung des Atomwaffensperrvertrages eintreten, aber hätte noch manches zu sagen.
die Unterschrift dennoch von gewissen Klärungen Ich möchte zum Abschluß die Meinung meiner
durch die Bundesregierung abhängig machen kann? Fraktion wie folgt darlegen. Wir sind der Auffas-
(Zustimmung bei der CDU/CSU.) sung, daß die Nichtunterzeichnung durch ausdrück-
liche Willenserklärung kaum schlechter sein kann
als ein formales Offenlassen der Entscheidung, mit
Schultz (Gau-Bischofsheim) (FDP): Das kann man
selbstverständlich, Herr Kollege Dr. Lenz, aber in welchen Gründen auch immer.
diesem Fall schien mir die Zustimmung in eben (Beifall bei den Regierungsparteien.)
338 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969

Vizepräsident Dr. Jaeger: Das Wort hat der liche Antwort der Bundesregierung nichts. Die bis-
Abgeordnete Dr. Kliesing. herige Debatte hat, was die Beiträge der Bundesre-
gierung betrifft, an dieser Feststellung nicht viel
Dr. Kliesing (Honnef) (CDU/CSU): Herr Präsi- geändert.
dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Die Fragen lauten: Bringt uns der Vertrag dem
Gegenstand unserer Debatte ist noch aktueller ge- Ziel einer Abrüstung tatsächlich näher? Gehen die
worden, als zu erwarten war, und zwar dadurch, daß Atommächte in diesem Vertrag klare Verpflichtun-
die Mitglieder des Hohen Hauses heute morgen er- gen ein, den Rüstungswettlauf zu stoppen und die
fahren haben, daß die Eröffnung von Gewaltver- vorhandenen Vorräte an Massenvernichtungsmit-
zichtsverhandlungen mit der Sowjetunion, bei denen teln zu verringern? Ist im Falle einer Nichtabrüstung
das heutige Thema hoffentlich auch eine große Rolle der Vertrag — etwa nach fünf Jahren — praktisch
spielen wird, in aller Kürze bevorsteht. Leider haben revidierbar? Erhöht oder vermindert eine baldige
die Mitglieder des Hohen Hauses diese Nachricht Unterschrift der Bundesregierung unter diesen Ver-
nicht zuerst hier aus dem Munde des Herrn Außen- trag ihre Möglichkeiten, auf eine rasche effektive
ministers erhalten, weil er es vorgezogen hat, diese Abrüstung hinzuwirken? — Das sind die eigentli-
Mitteilung gestern auf einer Pressekonferenz zu ma- chen Fragen, und weder die Bundesregierung noch
chen, obwohl er wußte, daß sich dieses Hohe Haus das Parlament haben das Recht, ihnen aus dem Weg
heute zu einer außenpolitischen Debatte zusammen- zu gehen und statt dessen eine Atmosphäre der
finden würde. Ich bedauere das sehr. Wunschträume und Illusionen aufzubauen.
(Zuruf von der Mitte: Ein neuer Stil!) (Beifall bei der CDU/CSU.)
Ich möchte den Herrn Außenminister, da er heute Die Präambel und Art. VI des Vertrages geben
morgen das Verhältnis von Regierung und Parla- eine eindeutige Auskunft: Die Atommächte gehen
ment in einem Nebensatz apostrophiert hat, bitten, keinerlei Verpflichtung zum Rüstungsstopp oder
hinsichtlich der Gestaltung dieses Verhältnisses in gar zur Abrüstung ein. Weder erfüllt der Vertrag
der Zukunft in bezug auf die stilistische Handha- die Forderung der für sein Zustandekommen grund-
bung unser Bedauern zur Kenntnis zu nehmen. legenden Resolution der Vereinten Nationen vom
19. November 1965, der Vertrag müsse ein annehm-
Vizepräsident Dr. Jaeger: Herr Abgeordneter bares Gleichgewicht gegenseitiger Verpflichtungen
Dr. Kliesing, gestatten Sie eine Zwischenfrage des der Atommächte und der Nichtnuklearen sowie
Abgeordneten Wischnewski? einen tatsächlichen Schritt zur Verwirklichung all-
gemeiner, insbesondere nuklearer Abrüstung ent-
Dr. Kliesing (Honnef) (CDU/CSU) : Nein, ich halten, noch ist es den Nichtnuklearstaaten, wie
möchte im Augenblick keine Zwischenfragen beant- Italien, Schweden, Rumänien, Indien oder Brasilien,
worten, und auch nicht den Bemühungen — diese seien hier
(Zurufe von der SPD: Aha!) anerkannt — der Bundesregierung auf der Genfer
Abrüstungskonferenz gelungen, ihre Vorstellung
da es sich hier um ein Anliegen handelt, das weni-
durchzusetzen, im Vertragstext müsse der Ver-
,
ger den Koalitionspartner als den Herrn Bundes-
pflichtung der Nichtatomstaaten zu horizontaler
außenminister persönlich angeht.
Nichtverbreitung eine entsprechende Verpflichtung
(Abg. Wischnewski: Aber man darf doch der Atommächte zu vertikaler Nichtverbreitung
fragen, ob Sie die Regierungserklärung und Abrüstung gegenüberstehen.
gelesen haben!)
(Abg. Bußmann: In Art. VI steht aber — —)
In der Öffentlichkeit ist es in der letzten Zeit
— Ich komme noch darauf.
üblich geworden, die Forderung nach einer baldigen
Unterschrift der Bundesrepublik unter den Atom- Mit Recht stellte der brasilianische Außenminister
sperrvertrag dadurch zu popularisieren und zu pro- in der UNO fest, der Vertragsentwurf lasse jegliche
pagieren, daß man der Bevölkerung sagt, damit reale und greifbare Verpflichtung der Kernwaffen-
werde ein Klima des Vertrauens, eine Atmosphäre staaten auf weitere Schritte zur teilweisen oder voll-
des Wohlwollens geschaffen, als ob die Unterschrift ständigen nuklearen Abrüstung vermissen. Das ist
der Bundesregierung gewissermaßen das Tor zum der Tatbestand, und daran ändert auch der Hinweis
goldenen Zeitalter der Abrüstung aufstieße. Daher auf Art. VI nichts, in dem sich die Verhandlungs-
haben wir in unserer Großen Anfrage den Zusam- parteien lediglich zu — wie es dort heißt — ehrlich
menhang zwischen dem Sperrvertrag und der Ab- gemeinten Verhandlungen verpflichten, der also
rüstung, für die wir alle eintreten und von der so bezüglich der Abrüstung nur eine Absichtserklä-
viel für die Sicherung des Friedens abhängt, zur rung, eine Erklärung des guten Willens darstellt
Diskussion gestellt. Leider ist der schriftliche Dis- ohne irgendeine weiterreichende Verpflichtung.
kussionsbeitrag, den die Bundesregierung in ihrer
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Artwort leistet, dürftig und enttäuschend. Er be-
schränkt sich nämlich im wesentlichen auf die Er- Außerdem bleibt gerade im Zusammenhang mit
innerung an frühere Resolutionen und auf die An- Art. VI festzustellen, daß jeder Verhandlungspart-
kündigung einer weiteren, daran anknüpfenden ner bei den Verhandlungen auf Grund Art. VI in
Willenserklärung. Zu den eigentlichen Fragen, die , der Beurteilung der Frage, ob er solche Verhand-
der Vertrag und die deutsche Unterschrift im Hin- lungen tatsächlich in redlicher Absicht führt, sou-
blick auf die Abrüstung aufwerfen, sagt die schrift- verän ist.
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969 339
Dr. Kliesing (Honnef)
Im übrigen gibt es kein Indiz dafür, daß , die Vor den Genfer Verhandlungen über den Ver-
Kernwaffenmächte etwas anderes zum Maßstab ihrer tragstext, nämlich im Jahre 1966, äußerte sich in
Rüstungs- und Abrüstungspolitik machen als ihre diesem Zusammenhang einer der engagiertesten
eigenen Interessen, und zwar so, wie sie diese Inter- Vertreter dieses Vertrages, der damalige Ab
essen in den wechselnden weltpolitischen Konstel- rüstungsbeauftragte und heutige Europaminister der
lationen in souveräner Entscheidung selbst beur- britischen Regierung, Lord Chalfont, auf einem
teilen. Wer z. B. die Vorbereitung der amerika- Symposium in Kanada wie folgt:
nisch-sowjetischen Vorgespräche in Helsinki über
Es wäre gewiß töricht, von seiten der Nuklear-
eine Rüstungsbegrenzung lediglich auf dem Gebiet
mächte glauben zu wollen, die anderen Länder
strategischer Raketen verfolgt hat, weiß doch, daß
würden sich zu einem Verzicht bereit erklären,
die eigentlichen Motive dieser Informationsgesprä-
wenn nicht ein Anfang mit der atomaren Ab-
che — so sagt man amerikanischerseits neuerdings
rüstung gemacht würde.
— handgreifliche Notwendigkeiten praktischer Ver-
nunft und parallele Interessen der beiden Groß- Und an einer anderen Stelle fuhr er fort:
mächte sind, nicht aber eine Rücksichtnahme auf Tatsächlich müßte ein solcher Vertrag nicht nur
das Sicherheitsbedürfnis ,der Nichtnuklearen. das Einfrieren der Nukleararsenale, sondern
Hier muß ich mich an Herrn Bußmann wenden. eine effektive Verringerung der Rüstungen mit
Herr Kollege Bußmann, Sie haben im Zusammen-
- sich bringen.
hang damit gesagt: Wir hoffen, daß es weitergeht. Und in einer Schlußbetrachtung kam er zu der Fest-
Es muß aber doch erst einmal anfangen, und ein stellung:
Hinweis auf Helsinki hilft doch gar nicht. Es ist
mir unverständlich, wie Sie die bevorstehenden eine eingehende Analyse der Probleme einer
Informationsgespräche als eine „Vorleistung" be- vertraglich vereinbarten Atomwaffensperre
trachten können. Das stellt die Dinge nun wirklich wird die Tatsache zu berücksichtigen haben, daß
auf den Kopf. Im Zusammenhang mit dem Atom- ein derartiger Vertrag nicht isoliert gesehen
sperrvertrag sind wir doch diejenigen, und zwar werden kann, sondern im Gesamtrahmen von
alle Nichtnuklearstaaten, von denen eine Vorlei- miteinander verzahnten Maßnahmen der Rü
stung gefordert wird, und nicht die Atommächte, stungskontrolle und Abrüstung steht.
die ja ausdrücklich von jeglicher Vorleistung aus- So hörte man es 1966. Eine Analyse des Vertrags
genommen werden. Dafür stellen Informationsge- textes vermittelt uns heute die traurige Erkenntnis,
spräche in Helsinki wohl keinen Ersatz dar. daß von all dem praktisch nichts übriggeblieben ist.
(Beifall bei der CDU/CSU.) Herr Bundeskanlzer, Sie haben nun im SPD-
Gelegentlich hört man nun, man könne Hoffnung Pressedienst vom 31. Januar dieses Jahres geschrie-
auf eine Konferenz setzen, die laut Vertrag fünf ben — und haben damit eine Formulierung des
Jahre nach Inkrafttreten zusammentreten soll. Kollegen Eppler aus dem vorigen Jahr aufgegrif-
Meine Damen und Herren, wenn man bis dahin fen —:
nicht zu einer wirklichen Abrüstung gekommen ist, Der Vertrag — unvollkommen, wie er sein mag
wird auch diese Konferenz nichts anderes tun als — ist heute der praktische Hebel für das Be-
alle vorhergehenden Konferenzen, nämlich Resolu- mühen um nukleare Abrüstung geworden.
tionen verabschieden, so wie es beispielsweise die
Genfer Abrüstungskonferenz ohne bisher sichtbaren Der Herr Bundesaußenminister hat heute morgen
Erfolg getan hat. diese Ihre damalige Formulierung wörtlich über-
nommen, interessanterweise lediglich unter Weg-
Was schließlich die Möglichkeit einer Vertrags-
lassung der Parenthese: „unvollkommen, wie er" —
änderung angeht, so wissen wir alle, daß nach
der Vertrag— „sein mag". Ich muß feststellen, daß
Art. VIII jede Atommacht ein Vetorecht dagegen
ich in dieser Frage völlig entgegengesetzter Auf-
hat. Das heißt mit anderen Worten, wer bis dahin
fassung bin. Ich meine vielmehr, daß die Bundes-
die Abrüstung verhindert hat, wird es mittels dieses
regierung bis zur Unterzeichnung des Atomsperr-
Vetorechts auch dann tun. Die Formulierung des
vertrages gerade mit ihrer in Aussicht gestellten
Art. VI zeigt eindeutig, daß sich die Kernwaffen-
Unterschrift vielleicht letztmalig über eine politisch
mächte in der Abrüstungsfrage die Hände nicht
wirksame Möglichkeit verfügt, von ihren nuklearen
haben binden lassen, und man kann ihnen noch nicht
Partnern eine Gegenleistung konkreter Abrüstungs-
einmal einen Vorwurf machen, sie hätten diese ihre
verpflichtung zu fordern.
Absicht verheimlicht.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Unsere Forderung nach Abrüstung muß in einem
vernünftigen Verhältnis zu unserem Sicherheitsbe- Die Bundesregierung hat also, Herr Bundeskanzler
dürfnis stehen, weil unsere eigene Sicherheit ab- — um bei Ihrem Vergleich zu bleiben —, bis zur
hängt von der glaubhaften Bündnisverpflichtung Unterschrift einen Hebel in der Hand und würde mit
einer der beiden großen Kernwaffenmächte, nämlich einer voreiligen Unterschrift diesen Hebel, der zu
der Vereinigten Staaten. Diese Frage ist in anderem einer nuklearen Abrüstung angesetzt werden
Zusammenhang zu debattieren; hier genügt die könnte, ohne Gegenleistung verschenken.
nüchterne Feststellung, daß dieser Vertrag nach (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU.)
seinem Text und nach seinen Anlagen die Chancen
einer nuklearen Abrüstung nicht erhöht. Dafür gibt Es ist einfach nicht ersichtlich, womit wir die
es kein Indiz. Nuklearmächte, insbesondere die Sowjetunion, un-
340 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969

Dr. Kliesing (Honnef)


sererseits zu einer späteren Abrüstungsverpflich- Volk, wenn Sie ihm die Unterschrift der Regierung I
tung bewegen könnten, wenn wir uns einmal in die erklären wollen, hinsichtlich des Abrüstungsver-
politische und rechtliche Bindung dieses Vertrages trages, des Atomsperrvertrages keine Allgemein-
begeben haben. heiten. Sprechen Sie bitte nicht von unbeweisbaren
klimatischen und atmosphärischen Zukunftserwar-
Es ist erstaunlich, wie wenig sich manche Vor-
tungen, sondern bleiben Sie bei der konkreten
kämpfer von Frieden und Abrüstung in der Diskus-
Wahrheit dessen, was der Text des Vertrages sagt,
sion über diesen Vertrag zum Anwalt der Nicht-
nuklearen gemacht haben und wie wenig sie sich (Abg. Dr. Apel: Das ist ja toll! — Weitere
gegenüber den Supermächten als berufene Vor- Zurufe von der SPD)
kämpfer des Junktims von Nichtverbreitung und damit Sie in unserem Volke keine falschen Hoffnun-
Abrüstung erwiesen haben. Denn in Wirklichkeit gen erwecken und damit nicht der Illusion, daß eine
erhöht der Atomsperrvertrag nicht die Chancen der Abrüstung komme, die grausame Enttäuschung eines
Abrüstung, sondern er mindert sie, wenn wir mit un- unvermindert fortgesetzten Rüstungswettlaufs folgt.
serer Unterschrift das einzige Mittel, das wir haben,
um die nukleare Abrüstung in Gang zu bringen, aus (Beifall bei der CDU/CSU.)
der Hand geben.
Nun gibt es Leute, die die Illusion propagieren, Vizepräsident Dr. Jaeger: Das Wort hat der
wenn wir den Vertrag einmal ohne Gegenleistung
- Herr Bundeskanzler.
unterzeichnet hätten, würde das „Klima des Ver-
trauens" als Vorstufe der Abrüstung entstehen. Es Brandt, Bundeskanzler: Herr Präsident! Meine
gibt kein Indiz dafür, daß solch ein Optimismus be- Damen und Herren! Diese Bundesregierung hat wie
rechtigt ist. Erinnern wir uns: Die Tinte der deut- ihre Vorgängerin den Vertrag über die Nichtver-
schen Unterschrift unter dem Teststopp-Vertrag war breitung von Atomwaffen mit der Gewissenhaftig-
noch nicht trocken, als der sowjetische Außenmi- keit, zu der sie verpflichtet ist, im Lichte der deut-
nister bei der UNO eine unerhört aggressive Rede schen Interessen geprüft. Das Hohe Haus wird diese
gegen die Bundesrepublik hielt und damit eine Prüfung formal zwar erst bei der Ratifizierung vor-
jahrelange weltweite und geradezu ungeheuerliche zunehmen haben, aber niemand wird die Bedeutung
Diffamierungskampagne gegen die Bundesrepublik der heutigen Debatte unterschätzen. Zur Prüfung im
forcierte. Lichte der deutschen Interessen gehörte selbstver-
Und wie war es im vorigen Jahr? Am 1. Juli 1968 ständlich auch die Frage nach den möglichen Folgen
legte u. a. die Sowjetunion diesen Vertragstext vor. eines deutschen Nein. Solche Folgen würden gewiß
Wie lange dauerte es denn, bis sie das, was in der nicht ohne Wirkung auf die Interessen der Bundes-
Präambel als Absichtserklärung steht, schon dreimal republik bleiben. Ich will das hier nicht ausmalen.
gröblich verletzt hatte, nämlich durch den Einmarsch Wenn ich das, was bisher in dieser Debatte vor-
in die Tschechoslowakei, durch die Interventionsbe- gebracht wurde, richtig verstanden habe, hat sich
hauptung gegenüber der Bundesrepublik und durch bisher kein Verfechter eines Nein zu Wort gemeldet.
die Breschnew-Doktrin?! Trotz allem, was unterschiedlich betrachtet wird,
Wer die Abrüstung also tatsächlich fördern will ging es in dieser Debatte bisher — ich kann mich
und die Dinge nüchtern sieht, muß davon ausgehen, nur auf die Debatte, die in diesem Hause geführt
daß man nichts erhält, wenn man alles, was man hat, wird, beziehen — nicht eigentlich um das Ob, son-
vorher ohne Gegenleistung verschenkt. Abrüstung dern um das Wann
setzt nämlich zweierlei voraus: erstens die erkenn- (Abg. Dr. Barzel: Um das Wie! — Abg. Dr.
bare Bereitschaft zum Verzicht auf imperialistisches Marx [Kaiserslautern] : Und um die Bedin
Machtstreben und zweitens eine positive Einstel- gungen!)
lung zur Forderung nach gegenseitiger Kontrolle und um das, was mit dem Blick auf den dem einen
von Abrüstungsmaßnahmen. Beide Voraussetzun- oder anderen geeignet erscheinenden Zeitpunkt noch
gen fehlen in der sowjetischen Politik völlig, und es geschehen sollte.
gibt kein Anzeichen dafür, daß sich durch eine bal-
dige deutsche Unterschrift grundsätzlich etwas daran Wenn ich mir wiederum überlege, was bisher in
ändern würde. der Debatte vorgebracht worden ist, dann ist es nicht
ganz leicht, festzustellen, was nun eigentlich noch
Es werden sicherlich andere Motive als das der geklärt werden soll. Da muß ich zunächst eine proze-
Abrüstung für die Entscheidung der Bundesregie- durale Frage behandeln. Als ich heute früh Herrn
rung maßgeblich sein. Worum es mir hier geht, ist, Kollegen Stoltenberg zuhörte, hätte ich fast den Ein-
zu verhindern, daß man dem deutschen Volke, das druck bekommen können, als wollte er sagen — er
die Abrüstung mit Recht so sehnlich und ehrlich
wollte es so sich sicher nicht sagen —, es sei unver-
wünscht, den Vertrag dadurch schmackhaft machen antwortlich oder rechtlich höchst anfechtbar, be-
will, daß man ihm vormacht, eine baldige deutsche stimmte Klärungen in den Zeitabschnitt — ganz be-
Unterschrift werde uns dem goldenen Zeitalter der
wußt überlegt — zwischen Unterschrift und Ratifizie-
Abrüstung näherbringen.
rung zu verlegen. Wenn dies die Auffassung sein sollte,
Herr Bundeskanzler, Sie haben in Ihrer Regie- dann war dies jedenfalls nicht die Auffassung von
rungserklärung gesagt: Wir werden dem kritischen Herrn Kollegen Birrenbach im Sommer dieses Jahres.
Bedürfnis nach Information Genüge tun. Ich nehme Herr Kollege Birrenbach hat am 16. Juni dieses Jahres
Sie hier beim Wort. Sagen Sie bitte dem deutschen in einem längeren, sachlich sehr fundierten Schrift-
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Bundeskanzler Brandt
stück — wie das immer in seinen Schriftstücken ist — jedenfalls als meine Auffassung und die der Regie-
a n den Herrn Bundeskanzler, das mir auch zur Kennt- rung, daß wir es nicht für realistisch halten und aus
nis kam, ausgeführt, wie er die Verhandlungslage deutscher Sicht auch nicht für klug halten, zu diesem
sah, und hat in diesem Brief gesagt: „Ich bin der Punkt und zu dieser Frage über das hinauszugehen,
Auffassung — was in der einschlägigen amerikanischen Interpreta-
(Abg. Dr. Dr. h. c. Birrenbach: Das war doch tion gesagt ist,
vertraulich!) (Beifall bei den Regierungsparteien)
— Nein, das kann schon deshalb nicht vertraulich nämlich darüber, welchen Grad der Organisiertheit
sein, weil es auf eine vertrauliche Kabinettsvorlage Europa aufweisen muß, um über eine eigene Atom-
von mir Bezug nimmt, die aber inzwischen längst streitmacht zu verfügen.
offen ist, Herr Kollege Barzel.
Der dritte Komplex ist nun eben der, den ich
(Abg. Dr. Barzel: Eine Korrespondenz, soeben andeutete: die sich aus den Art. 53 und 107
Herr Bundeskanzler!) ergebende Problematik, von der diese Regierung
— Dann zitiere ich nicht, sondern sage, worum es meint — und ich sage noch einmal: wie die vorige
in der Sache geht. Herr Kollege Birrenbach hat da- meinte —, daß darüber abschließend im Zusammen-
mals die Auffassung vertreten, daß es zahlreiche hang mit dem Gewaltverzicht und nicht im Zusam-
menhang mit dieser Materie gesprochen werden
Fragen gibt, die erst nach der Unterzeichnung des
sollte.
Vertrages in Verhandlungen mit unseren Partnern
eine Regelung finden können, während es andere Übrigens in diesem Zusammenhang, Herr Kollege
gibt, die vorher geklärt werden müssen, und zwar Kliesing: Sie hatten soeben den Herrn Außenmini-
hat er solche mit dem Blick auf die Vereinigten Staa- ster gerügt, weil die Zeitungen über etwas berichten,
ten und andere mit dem Blick auf die Sowjetunion was er gestern gesagt hat über vorgesehene Ge-
genannt — dies ist der Punkt, auf den es mir ankam, spräche teils mit der Regierung der Sowjetunion,
doch nicht darauf, irgendeinen Brief vorzulesen, teils mit der Regierung der Volksrepublik Polen.
Herr Kollege Barzel —, weil die vorige Bundesregie- Dazu darf ich nun sagen: in der Regierungserklärung,
rung diese Erwägungen voll in ihre Überlegungen die dem Hause am 28. Oktober vorgetragen worden
einbezogen hatte. Jener Katalog über noch zu klä- ist und die zwei Tage lang debattiert wurde, steht
rende Fragen, den das Kabinett am 13. August auf- in meiner Zusammenfassung als Punkt 4:
stellte, enthält fast alle Punkte, die damals der Kol- Die Bundesregierung wird demnächst das so-
lege Birrenbach vorbrachte, der Katalog enthielt wjetische Aide-mémoire zum Thema Gewalt-
aber nicht die jetzt erneut vorgebrachte Vorstellung, verzicht beantworten und einen Termin für die
daß der Komplex, der sich aus den Art. 53 und 107 von der Sowjetunion angeregten Verhandlun-
der Charta der Vereinten Nationen ergibt, in diese gen in Moskau vorschlagen.
NV-Debatte mit der Sowjetunion einbezogen wer-
den sollte. Ich sage in diesem Augenblick gar nicht Und in Punkt 5:
— darauf komme ich gleich erst —, was meiner Mei- Sie wird der Regierung der Volksrepublik Polen
nung nach richtig oder falsch ist, ich sage nur: Diese einen Vorschlag zur Aufnahme von Gesprächen
Regierung ist wie ihre Vorgängerin zu dem Ergeb- zugehen lassen.
nis gekommen, dem Rat, den Herr Kollege Birren- Genau dies hat der Außenminister gestern mit Zei-
bach damals gegeben und heute wiederholt hat, tungsleuten erörtert, und dies bedurfte keiner ergän-
nicht folgen zu sollen. Das muß ja nun nicht bedeu- zenden Darstellung vor dem Plenum des Bundes-
ten, daß er unrecht hat, er hat nur unserer Meinung tages.
nach hierzu ein Verfahren vorgeschlagen, dem wir
uns wie die vorige Regierung nicht angeschlossen
haben. Vizepräsident Dr. Jaeger: Herr Bundeskanz-
ler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeord-
Wenn man vom Beiwerk absieht, geht es im we- neten Dr. Barzel?
sentlichen um drei Sachpunkte, von denen die Kolle-
gen gemeint haben, diese müßten nun noch weiter
geklärt werden. Der erste ist der Komplex der Brandt, Bundeskanzler: Bitte!
Verifikation. Das darf ich einfach feststellen, ohne
Argumente, die schon vorgebracht worden sind, vor Dr. Barzel (CDU/CSU) : Herr Bundeskanzler,
allem auch von dem Herrn Außenminister, hier aus- würden Sie es nicht für förderlich gehalten haben,
drücklich zu wiederholen. Die Regierung ist hier der nachdem in der Debatte über die Regierungserklä-
Meinung, Herr Kollege Stoltenberg, daß die deut- rung Einzelheiten zu diesen beiden Punkten auf
sche Unterschrift, eine nicht zu weit hinausgezö- Wunsch der Regierung nicht erörtert worden sind,
gerte deutsche Unterschrift, erst die Voraussetzung wenn über diese beiden Punkte Montag abend bei
dafür schafft, dem Kooperationsgespräch bei Ihnen durch den
Herrn Außenminister berichtet worden wäre und die
(Beifall bei den Regierungsparteien)
Opposition nicht gestern über diese Frage unklare
das mit unseren Euratom-Partnern in Wien gemein- Zeitungsmeldungen hätte lesen müssen?
sam verhandeln zu können.
Zweiter Komplex: europäische Option. Da gehen Brandt, Bundeskanzler: Ich kann Ihnen insofern
die Meinungen wohl etwas auseinander. Ich sage nicht ganz recht geben, Herr Kollege Barzel, als die
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Bundeskanzler Brandt
Zeitungen zur Sache wirklich nichts anderes sagen, 1 tik zusammen. In Wirklichkeit handelt es sich um
als am 28. Oktober gesagt worden ist. Ich kann tatsächliche oder vermeintliche Übel, mit denen wir
Ihnen zweitens nicht ganz recht geben, weil das Ge- es auch dann zu tun hätten, wenn über NV über-
spräch vom Montagabend ja Gott sei Dank nicht das haupt nicht debattiert werden würde. Man kann
letzte gewesen sein wird, das die Spitze der Regie- eben wirklich fragen, ob es besser stehen würde
rung mit den Herren Fraktionsvorsitzenden geführt um den Frieden in der Welt, um die Einigung Euro-
hat. pas, um die Fragen unserer Nation, um die Chancen
(Beifall bei den Regierungsparteien.) unserer friedlichen Nutzung der Kernenergie, wenn
es diese NV-Debatte, die Debatte um das Zustande-
kommen dieses Vertrages nicht gäbe. Dann stünde
Vizepräsident Dr. Jaeger: Eine Zusatzfrage.
es um all diese Dinge natürlich nicht besser.
Dr. Barzel (CDU/CSU) : Darf ich den letzten Satz Aber nun will ich zugeben, daß sich nicht nur bei
so verstehen, Herr Bundeskanzler, daß Sie selber uns, sondern auch an manchen anderen Stellen in
das Bedürfnis empfinden, über diese beiden Fragen der Welt mit dem Nichtverbreitungsvertrag Hof-
so bald wie möglich auch mit der Opposition zu nungen und Befürchtungen verbinden und daß in
sprechen? der internationalen Debatte frühzeitig zwei Denk-
richtungen hervorgetreten sind.
Brandt, Bundeskanzler: Genau das hatte - ich so- Die eine Denkrichtung ist der Auffassung, daß ein
eben sagen wollen. solcher Vertrag die Privilegien einiger weniger be-
(Beifall bei den Regierungsparteien.) vorrechtigter Staaten verfestigt, daß diese den ande-
ren Staaten legitime Selbstverteidigungsmittel vor-
Dr. Barzel (CDU/CSU) : Ich bedanke mich sehr enthalten und deren Souveränität zu diesem Zweck
herzlich. beschränken möchten. Der Vertrag, so hört man
— ich sage noch einmal: nicht nur bei uns —, sei
Vizepräsident Dr. Jaeger: Eine Zwischenfrage Ausdruck einer Überheblichkeit der Kernwaffen-
des Abgeordneten Dr. Kliesing. mächte, er sei nicht ausgewogen, sei eine ungeheuer-
liche Zumutung einiger weniger an die überwie-
gende Mehrheit der Staaten.
Dr. Kliesing (Honnef) (CDU/CSU) : Herr Bundes-
kanzler, da Sie mich selbst angesprochen haben, Die andere Denkrichtung sieht in dem Vertrag
möchte ich Sie fragen: Ist es Ihnen entgangen, daß einen Ausdruck gemeinsamer, wenn auch gewiß
ich nicht so sehr nach diesen Verhandlungen mit noch recht unzulänglicher Bemühungen, mit den Pro-
Moskau an sich gefragt und da keineswegs das Ver- blemen der modernen Welt fertigzuwerden. Die an-
halten des Herrn Bundesministers kritisiert habe, dere Denkrichtung meint, in dieser Zeit veränderten
sondern daß das Neue, was durch die Pressekonfe- sich die Beziehungen der Völker zueinander stärker
renz eingeführt worden ist, laut dpa doch ist, daß als je zuvor, und Begriffe wie „Macht" und „Sicher-
nach Andeutungen von Bundesaußenminister Walter heit" gewönnen eine neue Qualität. Die Nichtver-
Scheel diese Verhandlungen praktisch vor der Tür breitung von Kernwaffen ist aus dieser Sicht ein
stehen, daß er angekündigt hat: in aller Kürze? Das und jetzt wiederhole ich, was vorhin von Herrn
war das Neue, was, wie ich vorhin gesagt habe, die Kliesing zutreffend zitiert wurde —, wenn auch
Aktualität der heutigen Debatte gesteigert hat. noch so unzulängliches Instrument auf dem Wege
zur Sicherung des Friedens in der Welt und einer
Brandt, Bundeskanzler: Ich glaube, darüber weltweiten Sicherheit, weil hierdurch doch die Ge-
brauchen wir uns weiter gar nicht zu streiten; wir fahr verringert werden kann, daß eine dieser Waf-
haben ja auch noch nicht ernsthaft gestritten. In der fen durch Zufall, durch bösen Willen oder Fehlkal-
Regierungserklärung stand: demnächst, Herr Kol- kulation zum Einsatz kommt. Anhänger dieser Denk-
lege. Das ist auch von heute aus gesehen nicht eine richtung würden es gewiß begrüßen, Herr Kollege
Festlegung auf morgen früh; aber demnächst, nicht Kliesing, wenn man schon zu einem überzeugende-
irgendwann in einer fernen Zukunft. ren Ergebnis gelangt wäre und heute schon eine
unmittelbare Beschränkung der nuklearen Rüstun-
Meine Damen und Herren! Auch die vorhergehen-
gen derer, die sie haben, eintreten würde. Aber, so
den drei Bundesregierungen haben — das muß noch wird man hinzufügen dürfen, der Vertrag stellt als
einmal in Erinnerung gerufen werden — zur Nicht- Kompromiß das unter den gegebenen Umständen
verbreitung von Atomwaffen eine grundsätzlich Optimale dar. Fast jeder Vertrag ist ein Kompromiß;
positive Haltung eingenommen. Die Bundesregie-
das gilt schon bilateral und multilateral erst recht.
rung hat schon unter den Kanzlern Adenauer, Erhard
und Kiesinger ihr Interesse an einem weltweit an- Auch die Bundesregierung ist sich wie wohl alle
nehmbaren Vertrag betont und sich bemüht, auf die Partner dessen bewußt, daß der Vertrag ein mühsam
Vertragsgestaltung Einfluß zu nehmen. Es kann nach erzielter Kompromiß ist, ein Kompromiß zwischen
dem Verlauf der Debatte für mich auch keinem Kernwaffenmächten, Nichtkernwaffenmächten, sich
Zweifel unterliegen, daß diese positive Grundhal- konfrontierenden Allianzen, ungebundenen Ländern,
tung von den Fraktionen des Hauses weiter mitge- Entwicklungsländern und hochindustrialisierten
tragen wird. Staaten.
Im übrigen wird wohl niemand so tun wollen, als Ein Kompromiß kann niemanden voll befriedigen.
hingen alle Übel dieser Welt mit der NV-Problema Das liegt in seinem Wesen. Aber im ganzen ist die-
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Bundeskanzler Brandt
ser Vertrag doch ein hoffnungsvoller Versuch, der gemeinschaft für den Vertrag entschieden hat, so
Versuch der Staatengemeinschaft — es sind jetzt gewiß nicht wegen einer antideutschen Einstellung.
schon an die hundert Staaten, und es werden mehr Alle diese Länder nehmen, sofern sie — und das
werden —, einiger ihrer besonders komplizierten sind die allermeisten — Nichtkernwaffenmächte
Probleme gemeinsam Herr zu werden. sind, die gleichen Beschränkungen auf sich wie wir.
Nun ist in den acht Jahren intensiver Verhand- Auch das muß hier einmal festgehalten werden.
lungen nach menschlichem Ermessen alles ausdisku- (Beifall bei den Regierungsparteien.)
tiert, was an Implikationen zu bedenken war. Die Hinzu kommt, daß die Bundesrepublik Deutsch-
Verhandlungsgeschichte kaum eines anderen Ver- land — was in diesen Zusammenhang gehört —
tragswerks kann mit diesen acht Jahren verglichen 1954 auf Herstellung und Verwendung von atoma-
werden. Alle oder fast alle denkbaren Fragen ren, biologischen und chemischen Waffen verzichtet
sind in den beteiligten Ländern und in internatio- hat. Insoweit kann man sagen, ein weltweiter Ver-
nalen Organisationen aufgeworfen, verhandelt und trag bringt die anderen Länder, die vielen, die heute
beantwortet worden. Bei vollem Respekt vor der noch nicht Kernwaffenmächte sind, dortin, wo wir
hier weitergehenden Debatte im Deutschen Bundes- bereits seit langem stehen. Das ist die Lage.
tag: auch in der heutigen Debatte dieses Hohen
Hauses werden kaum noch wirklich neue Gesichts- (Beifall bei den Regierungsparteien.)
punkte aufkommen können. - Noch deutlicher: dieser Vertrag mit all seinen Un-
(Zustimmung bei der SPD.) zulänglichkeiten ist für uns in größerem Maße als
für irgendeinen anderen ein Element der Gleich-
Meine Damen und Herren, von einer überhasteten berechtigung der Bundesrepublik Deutschland.
Behandlung kann nun wahrhaftig keine Rede sein.
Da denke ich nicht nur an die acht Jahre der inter- (Beifall bei den Regierungsparteien.)
nationalen Debatte, sondern auch an die drei Jahre Im übrigen will ich hier in aller Deutlichkeit
seit jenem 16. Dezember, als der damalige Außen- festhalten, daß ich mich vor und nach meiner Wahl
minister Dean Rusk mich in Paris in die dortige zum Bundeskanzler konsequent an die vier Maß-
amerikanische Botschaft bat und mir und damit der stäbe gehalten habe, die ich im April 1967 an dieser
Bundesregierung den ersten Entwurf der Amerika- Stelle aufstellen durfte, Der Außenminister hat sich
ner und der Russen zu den Art. I und II zur Kenntnis ausführlich darauf bezogen. Ich brauche mich darauf
brachte. Das sind drei lange Jahre gewesen. Ich muß jetzt nur zu berufen. Ich möchte hier aber auch nicht
auf Grund meiner Kenntnis der Materie sagen, daß unausgesprochen lassen, daß die Bundesregierung
uns ein Hinauszögern des jetzt möglichen und fälli- bei den Verbündeten, vornehmlich bei den Vereinig-
gen Schrittes keinen Vorteil, sondern eher Nachteile ten Staaten von Amerika, aber auch bei anderen
bringen könnte. befreundeten Nationen, für ihre Wünsche großes
(Beifall bei den Regierungsparteien.) Verständnis gefunden hat. Ich hielte es für unange-
messen, auch nicht dies anerkennend vor dem Deut-
Es ist gesagt worden — Herr Kollege Kliesing —, schen Bundestag zu würdigen.
man sollte in diesem Hohen Haus und damit zu-
gleich in der deutschen Öffentlichkeit keine Illusio- (Beifall bei den Regierungsparteien.)
nen wecken, sondern über das sprechen, um das es Weil die Verbündeten und gerade auch der
wirklich geht. Da lassen Sie mich auch den Punkt er- Hauptverbündete sich soviel Zeit genommen haben,
wähnen, der immer wieder — wenn auch nicht konnte die Bundesregierung, obgleich nicht in Genf
heute — in der Debatte hochkommt, als stecke da- an der Abrüstungskonferenz beteiligt, auf die Ge-
hinter so etwas wie ein Stück eines antideutschen staltung des Vertragswerks Einfluß nehmen. Der
Komplotts. Meine Damen und Herren, die Initiative Vertagisjzndleruspügich
— darauf hat Herr Kollege Rutschke heute morgen Entwurf. Er läßt sich nicht mehr mit den ersten
schon hingewiesen — ging damals bekanntlich von Fassungen vergleichen. Hinzu kommen die Interpre-
den Iren aus, vom neutralen Irland, dem man alles tationen, und was sonst noch inzwischen zu diesem
andere als Deutschfeindlichkeit nachsagen kann. Ir- Vertragswerk gehört.
land brachte 1961 eine entsprechende Resolution in
den Vereinten Nationen ein. Die ganz überwiegende Der Bundesminister des Auswärtigen hat in Er-
Mehrheit aller Staaten hat diese Initiative begrüßt gänzung der schriftlichen Beantwortung der Großen
Anfrage der CDU/CSU bereits erläutert, aus wel-
und die Resolution gutgeheißen. Es trifft also schon
von diesem Ausgangspunkt her einfach nicht zu, chen Gründen die Bundesregierung nach den jüng-
sten Verhandlungen vor allem mit den USA, aber
daß es sich hier um eine Art von Verschwörung der
Weltmächte oder anderer gegen uns Deutsche ge- auch mit der Sowjetunion der Auffassung ist, daß
unsere Belange, mit denen wir im übrigen nicht
handelt habe. Wir sollten uns insoweit auch nicht
allein stehen, nunmehr geschützt sind, soweit es
falsch einrangieren und uns auch nicht von Zwangs-
vorstellungen leiten lassen. — diese Hinzufügung ist wichtig — überhaupt mit
Vertragsworten, Interpretationen und Erklärungen
(Beifall bei den Regierungsparteien.) möglich ist.
Ich habe selbst immer bedauert, daß die im Prin- Ich will jetzt nicht darüber streiten, ob es richtiger
zip positive Haltung, die schon frühere Bundes- gewesen wäre, schon etwas eher zu einer abschlie-
regierungen zeigten, durch Schlagworte wie „ato- ßenden Würdigung zu gelangen. Meine Meinung
mare Komplizenschaft" oder „Super-Jalta" grob ent- dazu habe ich früher gesagt. Ich meine, wir sollten
stellt wurde. Wenn sich die Mehrheit der Staaten uns alle bemühen, den Eindruck von Rechthaberei
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Bundeskanzler Brandt
zu vermeiden. Deshalb will ich nicht auf dem herum- In diesem Punkte hat der Kollege Birrenbach eine
reiten, was auch schon früher dazu hätte gemacht Auffassung vertreten, die nicht neu ist — ich deutete
werden können. Allerdings zeigen die Tatsachen, es schon an , die er schon früher vorgebracht hat
wie sie mir vorliegen, was wir in den letzten Wo- und die das Kabinett unter Bundeskanzler Kiesinger
chen geklärt haben, das hätten wir auch schon ein sich nicht zu eigen gemacht hat. Ich lehne sie in
bißchen früher klären können, dieser Form zu diesem Zeitpunkt oder, besser ge-
sagt, in diesem Zusammenhang auch ab. Die gegen-
(Abg. Wehner: Sehr wahr!)
wärtige Bundesregierung hält es wie ihre Vorgän-
wenn wir es hätten klären wollen. Wir sind jeder gerin nicht für opportun, diese Frage im Zusammen-
sachlichen Frage und Anregung nachgegangen nach hang mit dem NV-Vertrag abschließend klären zu
den Beschlüssen des vorigen Kabinetts, und wir wollen.
denken auch heute nicht daran, diese Sache auf die
Wir haben von der Sowjetunion — das darf ich
leichte Schulter zu nehmen. Wir wissen, mit diesem
nun aber hinzufügen — in der Tat etwas bekommen,
Vertrag werden wir alle leben müssen.
Herr Kollege Birrenbach. Wir haben es schriftlich,
Herr Kollege Birrenbach hat in diesem Zusam- in einer verpflichtenden Form, daß auch die Sowjet-
menhang eine Anzahl von Sorgen ausgesprochen. union die Bundesrepublik Deutschland als ein Land
Ich hoffe, daß für Sie, verehrter Herr Kollege, und betrachtet, für das ebenso wie für jeden anderen
andere, die Ihre Sorgen teilen, meine sich darauf Partner des NV-Vertrages das Recht auf Selbstver-
jetzt beziehenden Ausführungen nicht ohne - Belang teidigung gilt. Das steht in der Resolution 255 des
sein werden. Zunächst einmal beinhaltet der deut Sicherheitsrates, und dies gilt im Verständnis der
sche Beitritt zum NV-Vertrag, daß die Bundesrepu- Sowjetregierung auch für uns, obwohl wir bekannt-
blik Deutschland in der Tat indirekt gegenüber der lich nicht Mitglied der Vereinten Nationen sind.
Sowjetunion, wie es gegenüber den drei Westmäch-
ten schon direkt geschehen ist, auf den Besitz und Wenn man nun sagt, da gebe es bekanntlich doch
darüber hinaus den Erwerb von Atomwaffen ver- die Möglichkeit des Vetos im Sicherheitsrat, dann
zichtet. Nach bisherigem Stand hat die Sowjetunion antworte ich: natürlich gibt es die; das wird auch
gar nicht damit gerechnet, daß wir uns um den Er- durch den NV-Vertrag nicht abgeschafft. Aber ich
werb bemühen würden. Aber davon geht keiner der füge hinzu: ich verlasse mich, wenn von der Sicher-
drei Beteiligten aus. Das ist die Lage. Die Bundes- heit der Bundesrepublik Deutschland heute und mor-
regierung hält diese zusätzliche Festlegung nicht für gen die Rede ist, in der Tat nicht auf diese Resolu-
ein Unglück, sondern eben dies entspricht ihrem tion des Sicherheitsrates,
Willen, und hierin sind wir uns sicher alle einig. (Sehr gut! bei der CDU/CSU)
Herr Kollege Birrenbach hat dann die Forderung sondern ich verlasse mich auf das Bündnis, wenn es
aufgestellt, daß die Grundlage unseres Verhältnisses um die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland
zur Sowjetunion die volle Gültigkeit des Art. 2 der geht.
Charta der Vereinten Nationen sein sollte. Mit die- (Beifall bei den Regierungsparteien und
ser Forderung stimme ich überein und stimmt die bei Abgeordneten der CDU/CSU.)
Regierung überein, für die ich spreche. Dabei wis- In Verbindung mit einem Teil der Ausführungen
sen wir, Herr Kollege Birrenbach, daß auch gegen- des Kollegen Kliesing zu eben diesem Punkt kann
über den drei Westmächten die Art. 53 und 107 der ich dem Hohen Hause mitteilen, daß die von der
Charta der Vereinten Nationen noch auf dem Papier früheren amerikanischen Regierung abgegebene Er-
stehen, jedenfalls nicht einmal durch den Deutsch- klärung, Interventionen, gleichgültig, mit welcher
landvertrag, wenn man es so nennen will, außer Begründung und unter welchem Vorwand sie statt-
Kraft gesetzt worden sind. Wir haben uns aller- finden, stellten den Bündnisfall dar, gegenüber der
dings mit unseren westlichen Verbündeten darüber gegenwärtigen Bundesregierung voll bestätigt wird.
verständigt, daß sie sich auf diese Artikel nicht mehr Der amerikanische Außenminister wird bei der deut-
berufen werden. Das ist die Veränderung, die dort schen Unterschrift eine entsprechende Erklärung ab-
eingetreten ist. geben. Ebenso wird die amerikanische Auffassung
(Abg. Dr. Dr. h. c. Birrenbach: Entscheidend! vom Zusammenhang zwischen NV-Vertrag und
— Abg. Dr. Stoltenberg: Entscheidende Ver NATO erneut bestätigt werden.
änderung!)
Ein kleiner Irrtum war heute früh entstanden,
Der Genauigkeit halber sage ich nicht nur dies Herr Kollege Birrenbach. Nicht die Bundesregierung
zur Charakteristik der Lage, sondern schließe daran hatte den Wunsch geäußert, zu ein paar zusätzlichen
an: ich gehe davon aus, daß der Kollge Birrenbach Aspekten den Ausschüssen Aufklärung zu geben,
genauso wie ich selber wünscht, daß wir unser Ver- sondern dies war ein Wunsch, der von verbündeter
hältnis zur Sowjetunion auf eine adäquate Basis Seite — wenn man so sagen darf: hauptverbündeter
stellen. Seite — uns gegenüber geltend gemacht worden
(Abg. Dr. Dr. h. c. Birrenbach: Einverstan war.
den! Eindeutig!) (Abg. Dr. Dr. h. c. Birrenbach: Ich habe dies
aus Delikatesse so gesagt!)
Das ist die Aufgabe. Dies ist aber nach unserer
Überzeugung nicht im NV-Vertrag zu regeln. --- Vielen herzlichen Dank.
(Abg. Dr. Dr. h. c. Birrenbach: Da liegt der Sie sprachen dann auch von der Befürchtung,
Unterschied!) der NV-Vertrag könnte das Bündnis zerstören. Ich
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Bundeskanzler Brandt
hoffe, ich kann diese Ihre Befürchtung durch fol- nicht nur um eine Hoffnung ärmer, sondern auch mit
gendes ausräumen: Genau an dem Tag, an dem Sie unserer Meinung im Bündnis alleinstehen, und das
diese Befürchtung aussprechen, erreicht mich zu möchte ich auch nicht bei der Behandlung dieser
meiner Freude aus Washington die Nachricht meines Frage.
Kollegen Verteidigungsminister, der dort das (Beifall bei den Regierungsparteien.)
schwierige Geschäft von Herrn Kollegen Schröder Im übrigen fürchte ich, daß Herr Kollege Kliesing
in bezug auf die NPG, die Nuclear Planning Group, übersehen hat, daß die wichtigen Fragen, die er
weiterführt. Die Herren, die dort mit ihm sind, sa- vorgebracht hat, im Katalog der beiden Fraktionen,
gen, man habe gerade in der jetzigen Situation, in Ihrer Fraktion und der SPD-Fraktion, vom Frühjahr
diesem Augenblick, einen Fortschritt in bezug auf enthalten waren und dort auch im einzelnen beant-
dieses Stück gemeinsamer Verteidigungspolitik er- wortet wurden. Sie waren jetzt nicht Gegenstand der
zielt, einen Fortschritt auf der 6. Tagung, wie er bei Großen Anfrage und fanden deshalb auch keine
den fünf voraufgegangenen leider noch nicht zu er- Erwähnung in der Antwort der Bundesregierung.
zielen gewesen war. Seither hat sich zu diesem Komplex, Herr Kollege
Im übrigen will ich auch gar nicht — wenn wir Kliesing, nur geändert, daß am 17. November die
über diese Fragen etwas hinwegdenken — meinen Gespräche in Helsinki beginnen. Wer die Ungleich-
Zweifel angesichts der Frage verhehlen, ob Kern- heit zwischen Kernwaffenmächten und Nichtkern-
waffenbesitz für die Jahre, in die wir hineingehen, waffenmächten im Prinzip ablehnt — was man gern
überhaupt wünschenswert oder nützlich ist. Kern- möchte —, der muß im Prinzip den NV-Vertrag
waffenfreiheit kann, wenn es die Sicherheitslage ablehnen. Aber das tun wir doch alle miteinander
zuläßt, auch als Privileg gesehen werden. Der Be- nicht.
richt des Generalsekretärs der Vereinten Nationen Wir haben ein ganz spezifisches Interesse daran,
über die Folgen des Besitzes und des Einsatzes von gerade auf nuklearem Gebiet Fehldeutungen der
Kernwaffen vom 10. Oktober 1967 sieht es so. deutschen Politik auszuschließen. Dies gilt übrigens
Meine Damen und Herren, Macht und Sicherheit, gerade auch in Verbindung mit dem Begriff „Ver-
ihre Interdependenz, ihre Relativierung und Neu- fügungsgewalt", zu dem die Regierung in ihrer
definition in dieser Welt sind erst noch richtig zu Antwort eine besondere Feststellung getroffen hat.
erfassen. Da sind wir alle wohl noch erst dabei, Ich bitte zu würdigen, was in diesem Zusammen-
das in den Griff zu bekommen, wenn es uns gelingt, hang in bezug auf die Allianz festgestellt worden
und zu den nationalen und kollektiven Interessen ist und daß wir hierzu in den Ausschüssen gern
sind diese Faktoren in eine aktuelle Beziehung zu noch ergänzende Auskünfte geben wollen. Ich füge
setzen. Dies ist übrigens eines der wichtigsten Auf- die herzliche Bitte hinzu, die Bedeutung dieser De-
gabengebiete für die deutsche Friedensforschung, batte nicht zu reduzieren, einmal zu reduzieren
von der in der Regierungserklärung die Rede war. durch unangebrachtes Mißtrauen gegenüber unse-
Die Bundesregierung begreift ihre positive Hal- ren Verbündeten und andererseits durch den Ein-
tung zum Nichtverbreitungsvertrag jedenfalls als druck, als seien wir doch auf etwas aus, was wir
Beitrag zu einer umfassenden nüchternen, illusions- erstens gar nicht wollen und was uns zweitens
keiner gibt.
losen — jawohl — Friedenspolitik, die natürlich
aber nicht im Alleingang zum Erfolg geführt werden (Beifall bei den Regierungsparteien.)
kann. Vor allem die Kernwaffenmächte sind aufge- Wir haben ein besonderes Interesse an der Ko-
fordert, konkrete Schritte zu tun, um durch eine ver- operation mit anderen Staaten, die als Nichtkern-
einbarte Begrenzung und Reduzierung ihres nuklea- waffenmächte in einer vergleichbaren Situation sind.
ren und konventionellen Potentials die Welt siche- Daß unsere Haltung zum NV-Vertrag dem Frieden
rer zu machen. Unsere Aufgabe und die Aufgabe und der Entspannung dienen soll, dürfte nirgends
aller Nichtkernwaffenstaaten ist es, sie aus dieser angezweifelt werden können.
Verpflichtung nicht zu entlassen. Gerade deshalb
begrüße ich im Anschluß an das, was der Kollege Als der italienische Außenminister im Januar die-
Bußmann gesagt hat, auch meinerseits die am ses Jahres in gleicher Angelegenheit vor sein Par-
17. November in Helsinki beginnenden Gespräche lament trat, da sagte er, er sei überzeugt, Italien
zum Thema SALT, wie die Angelsachsen sagen, werde durch seinen Beitritt zu diesem Vertrag nicht
d. h. die Gespräche über die Begrenzung strategi- schwächer, sondern in Wirklichkeit stärker werden.
scher Rüstungen. Dasselbe gilt nach meiner Überzeugung auch für
die Bundesrepublik Deutschland.
Ich verstehe die Skepsis von Herrn Kliesing nach
all dem, was unsere Generation erlebt hat. Diejeni- (Lebhafter Beifall bei der SPD. — Beifall
gen von uns, die alt genug sind, haben davon noch bei Abgeordneten der FDP.)
ein bißchen aus der Zeit zwischen den beiden Welt-
kriegen mitbekommen, und dann kam all das andere Vizepräsident Dr. Jaeger: Das Wort hat der
dazu. Ich verstehe die Skepsis, und trotzdem ist Abgeordnete Dr. Barzel.
dies ein möglicher Einstieg.
(Abg. Wehner: Sehr wahr!) Dr. Barzel (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Ich möchte mich an dieser Stelle
Trotzdem darf man nicht auf die Möglichkeit ver- der Debatte auf wenige Punkte beschränken; den
zichten, daß dies zu einem praktischen Hebel werden übrigen Fortgang der Debatte werden andere, sach-
könnte. Wenn wir darauf verzichteten, würden wir verständigere Kollegen bestreiten.
346 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969

Dr. Barzel
Wir begrüßen, daß in der nächsten Woche in Hel- ganz ruhig zu sagen, daß ich das für überflüssig
sinki die SALT-Gespräche beginnen, und wir hoffen, hielt, weil dafür in diesem Hause kein Adressat
daß sie ein Klima schaffen, in dem der Abbau von vorhanden ist, wie Ihnen, Herr Bundeskanzler, be-
Spannungen in Mitteleuropa erleichtert werden kannt sein muß; ich weiß nicht, wen Sie damit ge-
kann; denn dies bleibt die Hauptsorge der Deut- meint haben — eine Mahnung ausgesprochen. Die
schen. deutsche Politik müsse, so sagten Sie, „Fehldeutun-
gen vermeiden", und zwar vor allem auf dem
Herr Bundeskanzler, zu einigen Punkten dessen,
atomaren Gebiet.
was Sie hier vorgetragen haben! Erstens. Sie haben
in einem Ihrer ersten Sätze gesagt, dieser Bundes- (Sehr gut! bei der SPD.)
tag werde „formal" erst bei der Ratifizierung votie- — Lassen Sie mich doch dazu etwas sagen! Es ist,
ren. Das ist ein interessanter Satz. Das bedeutet, denke ich, hilfreich für Deutschland, wenn sich die
daß diese Debatte einen großen Rang bekommt, und Opposition hier so einläßt. — Wir müssen, so sagte
daß bedeutet zugleich, welcher Rang der Absicht der der Kanzler, den Eindruck vermeiden, als sei die
Bundesregierung zukommt, bald — „zügig", wie Sie Bundesrepublik Deutschland auf etwas aus, was sie
uns gesagt haben — eine Unterschrift zu leisten. nicht bekommen werde. So ungefähr hieß es.
Dies zwingt natürlich die Opposition, die Punkte, in
Herr Bundeskanzler, wen meinen Sie eigentlich
denen sie Bedenken hat, entweder in diesem Hause
damit? Dieses Haus, der vorige 5. Bundestag, hat
voll auszusprechen oder sie im Ausschuß zu erör-
am 26. September 1968 einstimmig — ich darf für
tern. Es zwingt die Opposition auch, weiterhin da-
die Fraktion der CDU/CSU des 6. Deutschen Bundes-
von auszugehen, daß das gilt, worin wir übereinge-
tages sagen, daß dieses Votum unverändert fort-
kommen sind, nämlich: daß die Bundesregierung
gilt —folgendes beschlossen.
warten wird, bis dieses Haus und seine Ausschüsse
ihre Befassung mit der Sache abgeschlossen haben. (Vereinzelter Beifall bei der CDU/CSU.)
Das erscheint mir sehr wichtig. Ich darf es mit Genehmigung des Herrn Präsidenten
Der bisherige Gang der Debatte und Ihre Inter- zitieren — es handelt sich um die berühmte Ent-
vention eben, Herr Bundeskanzler, machen doch schließung, die hier oft eine Rolle gespielt hat —:
deutlich, daß noch manches zu besprechen ist. Ich Der Deutsche Bundestag tritt für internationale
will manche Frage hier gar nicht stellen. Aber ich Vereinbarungen über gleichwertige Maßnahmen
meine, wir müßten doch etwas mehr wissen über zur Rüstungskontrolle, Rüstungsbegrenzung und
die Frage, was mit der Sowjetunion im Zusammen- Abrüstung ein. Die Bundesrepublik Deutschland
hang mit diesem Thema besprochen worden ist, was hat gegenüber ihren Bündnispartnern auf die
noch besprochen werden soll, was nicht mit der Herstellung von atomaren, biologischen und
Sowjetunion besprochen worden ist oder nicht mit chemischen Waffen verzichtet und sich ent-
der Sowjetunion besprochen werden soll. Auch das sprechenden internationalen Kontrollen unter-
kann in den Ausschüssen geschehen, wenn dies ge- worfen. Sie strebt keine nationale Verfügungs-
wünscht wird. gewalt über Atomwaffen und keinen nationalen
Besitz an solchen Waffen an.
Wir begrüßen, daß die Regierung erklärt hat, sie
werde alles, was die Opposition — sei es hier, sei Dies gilt für uns fort, und deshalb war diese Mah-
es im Ausschuß, sei es in anderen Gesprächen — nung sicherlich an eine Adresse außerhalb des Hau-
hierzu sagt, würdigen und in ihre Entscheidung ein- ses gerichtet.
beziehen. Im Hinblick auf diese Erklärung findet (Beifall bei der CDU/CSU.)
die Debatte am heutigen Tag statt. Ich denke, sie ist Unsere Besorgnis, Herr Bundeskanzler und Herr
bis zur Stunde eine Debatte, in der sachlich gerun- Außenminister, ist folgende. Das Neue dieses Ver-
gen wird, in der Argumente pro und kontra auf den trags — ich sage das in NV-Debatte auf NV-Debatte
Tisch gelegt werden, in der die eine Frage beant- für diese Fraktion — ist doch, daß wir eine rechts-
wortet worden ist, die andere noch nicht, in der förmliche Verpflichtung auch gegenüber der Sowjet-
aber eine abschließende Würdigung noch nicht mög- union eingehen.
lich ist,
(Sehr richtig! in der Mitte.)
(Sehr richtig! in der Mitte)
Die Frage, die wir zu stellen haben werden, heißt:
weil noch nicht alles ausgesprochen und noch nicht
Ist diese Verpflichtung so konkret und so bekannt
alles mitgeteilt worden ist.
und so unzweideutig, daß eine Situation entsteht, in
Wenn Sie, Herr Bundeskanzler, wirklich eine der ein definitives Urteil für jeden, der bei einem
breite Basis für diese Politik suchen, müssen Ihre praktisch unbefristet geltenden Vertrag Verantwor-
Anstrengungn breit, geduldig, sachlich und so sein, tung für kommende Generationen übernimmt, mög-
daß man Argument für Argument nehmen und es lich ist?
dann als erledigt oder nicht erledigt betrachten
Sehen Sie, Herr Kollege Raffert, wenn ich den
kann, um zu einer abschließenden Gesamtwürdi-
Vorzug gehabt hätte, mit Ihnen und mit anderen
gung zu kommen.
in Neu-Dehli gewesen zu sein, hätte der Vorsitzende
(Beifall bei der CDU/CSU.) der Bundestagsfraktion der CDU/CSU entsprechend
Das ist das eine, was ich hier sagen wollte. den Einlassungen dieser Fraktion und beider Par-
teien bei der IPU natürlich ja zur Nonproliferation
Das zweite. Der Herr Bundeskanzler hat am Schluß gesagt. Aber das heißt doch nicht, daß für Deutsch-
seiner Ausführungen — Sie werden mir erlauben, land alle Voraussetzungen erfüllt sind; denn dies
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969 347
Dr. Barzel
ist das einzige Land der Welt, das sich einer Inter- Brandt wünscht eine Verbesserung der NV-
ventionsanmaßung der Sowjetunion ausgesetzt Regelung auf eine Zeit nach der Unterzeichnung
sieht. Dieses Thema muß vom Tisch, meine Damen des Vertrages vertagen zu wollen. Ich bin dem-
und meine Herren. gegenüber der Auffassung, daß es zwar zahl-
(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU. —Abg. reiche Fragen gibt, die erst nach der Unterzeich-
Raffert: Was hat denn das mit dem Ver nung des Vertrages in Verhandlungen mit unse-
trag zu tun, Herr Barzel? Das steht so oder ren Partnern eine Regelung finden können, daß
so darin!) aber andererseits gewisse Punkte bereits vor
Unterzeichnung des Vertrages — sei es mit
— Was das mit dem Vertrag zu tun hat? Das ist in unseren westlichen Partnern, insbesondere den
der Debatte deutlich geworden, und es wird weiter Vereinigten Staaten, sei es mit der Sowjet-
deutlich werden, Herr Raffert; wir führen die De- union — verhandelt werden müssen.
batte.
(Zuruf von der SPD.) So weit dieses Zitat.

— Ich habe jetzt nicht die Absicht, eine Zwischen- Wenn jemand genau wissen möchte, welche Fra-
frage zu gestatten, und bitte sehr um Verständnis. gen vorher und welche nachher zu verhandeln sind,
dann möchte ich bitten, Herr Bundeskanzler, in dem
(Erneuter Zuruf von der SPD.) Vermerk über das Gespräch mit der Fraktion der
-
— Es ist das zweite Mal, daß ich eine Zwischenfrage CDU/CSU bei Ihnen als Außenminister nachzu-
ablehne. Ich habe sie einmal einem Kollegen, als sehen — ich glaube, vom April —, wo ganz genau
eine persönliche Sache zu bereinigen war, abgelehnt. gesagt ist, welche Fragen vor einer etwaigen deut-
Ich möchte hier in Ruhe noch ein paar Punkte an- schen Unterschrift und welche hinterher zu klären
sprechen. Die Redezeit für die Opposition ist an seien. Eines kann ich hier schon sagen: es war und
diesem Tage knapp genug. Das haben Sie früher oft ist die unveränderte Auffassung der Bundestags-
genug beklagt. fraktion der CDU/CSU, daß vor einer definitiven
(Lachen bei der SPD ) Festlegung der deutschen Haltung die Frage, die der
Bundeskanzler Kiesinger „unser Verhältnis zur So-
Der dritte Punkt, Herr Bundeskanzler — und ich wjetunion" genannt hat und über die mein Freund
sehe dabei auch den Herrn Außenminister an im Guttenberg nachher im einzelnen sprechen wird, ge-
Hinblick auf das, was er über eine Wiener Erklä- klärt sein muß.
rung meines Freundes Stoltenberg gesagt hat, wozu
Herr Stoltenberg sich mit Recht geäußert hat —: Der Der vierte Punkt. Ich habe leider der Jungfern-
Bundeskanzler fing an, von einem Brief meines Kol- rede des sozialdemokratischen Kollegen Bußmann
legen Birrenbach zu sprechen, und hat das dann nur am Lautsprecher zuhören können. Ich fand, es
freundlicherweise nicht ganz zu Ende geführt. Es ist war eine bedeutsame Rede. Ich möchte auf diese
sicher nicht Ihre Absicht, aber bei denen, die zu- Rede zurückkommen, Herr Bußmann, weil es be-
hören, und die Vorgänge dieser Jahre und Monate deutsam war und weil dort ein Satz war — —
nicht kennen, wird so der Eindruck erweckt: Na, ist (Zuruf von der SPD.)
das eigentlich alles so eine Richtung, und wird über-
all dasselbe gesagt? — Es ist wohl nicht Ihre Ab- — Er hört es in der Übertragung; ich mache gar
sicht, aber der Eindruck könnte entstehen. Damit er keinen Vorwurf. — Er sagte — und da stimme ich
nicht entsteht, Herr Bundeskanzler, habe ich mir — nicht mit ihm überein —, wir sollten hier „nicht
und dies ist ein Kompliment für das Archiv der Bun- juristische Scheinprobleme hochspielen". Er hat dem
destagsfraktion der CDU/CSU — den Brief von das gegenübergestellt, was er „Realpolitik" nannte.
Herrn Birrenbach vom 16. Juni beschafft. Und da Was sind juristische Scheinprobleme? Ich möchte
dieser Brief — — einmal Herrn Bußmann eine Frage stellen. Vielleicht
antwortet jemand anders ; das beste wäre natürlich,
(Zurufe von der SPD.) Sie würden antworten, Herr Bundeskanzler, aber
— Sicherlich, es ist etwas anderes, wenn ein Ab- ich will es einmal so herum versuchen. In Art. II
sender die Ermächtigung gibt, einen Brief zu ver- dieses Vertrages wird beschrieben, welche Ver-
lesen, als wenn ein Empfänger von einem Brief Ge- pflichtung wir übernehmen, und ich darf mit Geneh-
brauch macht. — Da dieser Brief, wie es ausdrücklich migung des Präsidenten diesen Artikel in die De-
heißt, im Auftrag des Fraktionsvorsitzenden ge- batte einführen:
schrieben worden ist, möchte ich mit Genehmigung Jeder Nichtkernwaffenstaat, der Vertragspartei
des Herrn Präsidenten einige Sätze aus diesem Brief ist, verpflichtet sich, Kernwaffen und sonstige
—vorlesen. Es heißt — Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt
(Wiederholte Zurufe von der SPD.) darüber von niemandem unmittelbar oder mit-
telbar anzunehmen, . .
— Haben Sie nicht gemerkt: es ist etwas anderes,
wenn Sie mir einen Brief schreiben, was Sie dann Wenn mir in diesem Hause jemand sagen kann, was
mit dem Brief machen, oder wenn ich als Empfänger definitiv dies sei, die mittelbare Verfügungsgewalt
hingehe. Das ist ein Unterschied. Ich glaube, das ist zu erlangen, dann wäre ich dankbar. Dies ist nämlich
klar. — Es heißt dort: nicht ein „rechtliches Scheinproblem", sondern dies
ist der Kern des Vertrages!
Die Vorschläge der Kabinettsvorlage von Bun
desaußenminister Brandt scheinen mir im gan (Beifall bei der CDU/CSU.)
zen gesehen nicht annehmbar zu sein. Herr Was ist dies, meine Damen und Herren?
348 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969

Dr. Barzel
Was passiert in dem Fall — und ich gehe jetzt überhaupt eine gute Basis. Da heißt es dann auf
gar nicht einmal auf den europäischen Vorbehalt Seite 201: „Verträge im Rechtssinne sind rechtlich
ein, über den meine Freunde sprechen werden; aber erhebliche Konsenserklärungen." Konsens heißt also
es ist eine fundamentale Frage —, was ist, wenn im Zustimmung. Meine Damen und Herren, ist es ei-
Sinne dieses Vertrages Kernwaffenstaaten und gentlich wirklich ein Fortschritt, wenn wir es hier
Nichtkernwaffenstaaten sich im Zuge künftiger Ent- mit einer Sache zu tun haben, wo .ein Konsens über
wicklungen — in 10, in 15 Jahren; dieser Vertrag einen Dissens zur Geschäftsgrundlage wird? Das
dauert ja so lange — zu einer Gemeinsamkeit in der ist eine Frage, und ich glaube, sie so zu formulie-
Politik zusammenfinden wollen, die etwas anderes ren entspricht der Zurückhaltung, die wir uns hier
ist als die Staatensukzession? Ist dann dieses Zu- vorgenommen hatten. Aber da in der allgemeinen
sammenkommen und dieses Versuchen, gemeinsame Rechtslehre — und da hört es auch schon auf — der
Politik in einem gemeinsamen Ministerrat zu ma- „error in substantia", d. h. der Irrtum über den
chen, etwa die Nähe der indirekten Verfügungsge- Gegenstand selbst, nicht nur als Motiv beachtlich
walt? ist, sondern ein potentieller Anfechtungsgrund ist,
möchte ich gern, daß in diesem Hause und in der
Ich habe den deutschen Text zitiert, weil alle, die
deutschen Politik niemand diesen potentiellen An-
mit dem englischen umgehen, den Begriff der Kon-
fechtungsgrund wird finden können, weil er hier
trolle hier gewöhnlich verwechseln. „Kontrolle" ist
etwa einen Beschluß mit einem „error in Substantia"
Art. III ; und „Verfügungsgewalt" ist Art. I und II
gefaßt hat. Deshalb wollen wir die „substantia"
und heißt im Englischen „control". Das- ist ein gro-
gründlich in den Ausschüssen erörtern.
ßer Unterschied. Was ist möglicher Zugang zu in-
direkter Kontrolle? Das ist eine Frage, die beant- (Beifall bei der CDU/CSU.)
wortet werden muß. Meine Damen und Herren, wir sprechen hier
Sehen Sie, Herr Bußmann, mein Kollege Birren- sonst oft von Friedensordnung. Das heißt: Herr-
bach hat — was wir in anderen Zusammenhängen schaft des Rechts, oder das heißt im Sprachgebrauch,
unendlich oft getan haben — davon gesprochen: wenn ich es richtig verstanden habe: Vertragt euch!
Pacta sunt servanda; Verträge sind zu halten. Und Also: Wenn ihr euch vertragt, euch an die Ver-
gerade die Deutschen haben allen Anlaß, überhaupt träge haltet, gibt es Frieden. Das meint „Herrschaft
nie wieder den Schatten eines Verdachts, eines des Rechts".
Zweifels aufkommen zu lassen, daß sie irgendeine Meine Damen und Herren, deshalb kann man
Unterschrift dolos leisten würden. Das aber setzt rechtliche Fragen in einem solchen Zusammenhang
doch voraus, daß 'der Inhalt eines Vertrages be gar nicht „hochspielen" und sie gegen eine ver-
stimmt ist und daß alle die, die ihm zustimmen sol- meintliche „Realpolitik" setzen. Politik für Deutsch-
len, wissen, welche Verpflichtungen sie wirklich land heißt das Recht ganz ernst nehmen
übernehmen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
(Beifall bei der CDU/CSU.)
und eine Verpflichtung, die wir eingehen sollen,
Meine Damen und Herren! Das Völkerrecht, mit unbegrenzt eingehen sollen, ganz, ganz ernst neh-
dem wir es zu tun haben, setzt ja nicht Normen, men und sich nicht selbst, Herr Bundeskanzler, unter
sondern lebt im Grunde aus Verabredungen, und einen zeitlichen Zugzwang setzen.
die kommen ja nicht gegen einen zustande. Deshalb
ist es ein geltender Satz der allgemeinen Völker- (Anhaltender lebhafter Beifall bei der
CDU/CSU.)
rechtslehre, daß für die Interpretation und Beurtei-
lung völkerrechtlicher Verträge auch das heranzu-
ziehen ist, was sich im Zivilrecht in der Welt als Vizepräsident Dr. Jaeger: Das Wort hat der
allgemeine Rechtslehre entwickelt hat. Ich möchte Herr Bundesminister des Auswärtigen.
das jetzt noch sagen, um dem ohnehin beschäftig-
ten Herrn Bundeskanzleiminister Ehmke vielleicht Scheel, Bundesminister des Auswärtigen: Herr
noch etwas in seiner juristischen Eigenschaft zu tun Präsident, ich will in diesem Augenblick nur auf
zugeben. ganz wenige Bemerkungen des Kollegen Dr. Barzel
(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU.) eingehen. Zunächst einmal hat Herr Dr. Barzel wie-
der auf die Erklärung von Herrn Dr. Stoltenberg
— Das ist ein positives Wort, meine Damen und von heute mittag zurückgegriffen. Herr Dr. Stolten-
Herren. — Ich habe gesternabend, weil ich dachte, berg, Sie haben erklärt, ich hätte, als ich Ihre Auf-
daß so etwas kommen könnte, in einer Rechtsquelle fassung über den Termin einer möglichen Unter-
nachgelesen, die für jeden Juristen, wenn er Poli- schrift unter den NV-Vertrag hier genannt habe,
tiker ist und gelegentlich seinen Verstand wieder vertrauliche Berichte verwendet. Das ist nicht der
juristisch einrichten muß, nützlich ist. Herrn Jahn Fall. Ich habe mich auf offen geführte Unterhaltun
geht's noch nicht so ; er ist Justizminister; aber an- gen und bekannte Erklärungen von Ihnen bezogen,
deren Juristen geht es so: Wenn man immer in der und ich habe ja auch nur zur Sache etwas gesagt.
Politik ist, muß man gelegentlich den juristischen
(Abg. Dr. Stoltenberg: Das trifft nicht zu!)
Verstand wieder einrichten. Und dazu sind es, glaube
ich, hervorragende Übungen, wenn man bei Sohm in Ich bin der Meinung, daß Sie, Herr Dr. Stoltenberg,
den „Institutionen des Römischen Rechts" nachliest. auch gar nicht etwa bestreiten wollen, daß Sie
Da wird vieles wieder klar, und das ist auch völlig -- wie wir es als eine reale Möglichkeit betrach-
unbestritten, daß ist auch europäisch, und das hat tet haben, daß der Vertrag Ende dieses Jahres un-
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969 349

Bundesminister Scheel
terschrieben wird. Es ist ja auch kein Geheimnis, welchem Zeitpunkt der Vertrag nicht mehr maß-
daß man diese Meinung hat vertreten können, wenn gebend wäre.
die Einschränkung gemacht wird — und Sie haben 6. Der Vertrag behandelt
sie gemacht —: wenn alle die Dinge geklärt sind,
die es zu klären gilt. — das ist das, was Herr Dr. Barzel speziell wissen
will —
Die unterschiedliche Auffassung ergibt sich also nicht das Problem der europäischen Einheit und
letztlich daraus, ob man mit den Klärungen, die wir würde die Rechtsnachfolge eines neuen föderier-
in der Zwischenzeit haben erreichen können, zu- ten europäischen Staates in den Nuklearstatus
frieden ist oder nicht. Sie werden möglicherweise eines seiner schon vorher vorhandenen Be-
nicht damit zufrieden sein. Wir dagegen werden standteile nicht ausschließen. Ein neuer föde-
bei der endgültigen Abwägung der Pro und Kontra rierter europäischer Staat müßte die Kontrolle
des Vertrages möglicherweise mit diesen Klärungen über alle Aufgaben im Bereich seiner äußeren
zufrieden sein. Darin besteht der Unterschied. Mehr Sicherheit ausüben einschließlich der Verteidi-
wollte ich auch damit nicht gesagt haben, Herr gung und aller die äußere Sicherheit betreffen-
Kollege Stoltenberg. den außenpolitischen Angelegenheiten,
Ich möchte jetzt gleich auf den letzten Punkt, — das ist der hohe Stand an Föderation, den ich für
den Herr Dr. Barzel hier erwähnt hat, zu sprechen eine solche Entwicklung bejahe —
kommen. Er brachte seine Sorge zum Ausdruck, die
brauchte jedoch nicht so zentralisiert zu sein,
Verfügungsgewalt könnte nicht recht definiert wor-
daß er sämtliche Regierungsaufgaben über-
den sein. Hier muß ich Ihnen einige Passagen vor-
nähme. Während der Vertrag die Rechtsnach-
lesen. Ich glaube, das ist auch für die Kollegen, die
folge seitens eines solchen föderierten Staates
diesen Text noch nicht kennen, nützlich. Zu dem
nicht behandelt, würde er der Weitergabe von
von Herrn Dr. Barzel angesprochenen Thema liegt
Kernwaffen oder der Verfügungsgewalt darüber
eine sehr umfassende Antwort unserer amerika-
an irgendeinen Empfänger einschließlich eines
nischen Verbündeten vor. Dort heißt es:
multilateralen Gebildes entgegenstehen.
1. Der Vertrag befaßt sich nur mit dem, was
Das heißt mit anderen Worten, es muß ein bestimm-
untersagt, und nicht mit dem, was erlaubt ist.
ter Grad an Föderation erreicht sein, und ich meine,
Das ist, glaube ich, ein entscheidender Bestandteil. das ist gut so. Es heißt aber außerdem, daß vorher
2. Er untersagt, Kernwaffen, das bedeutet jede andere Form von Sicherheit in der gleichen
Bomben und Sprengköpfe Weise geregelt werden kann, wie sie jetzt innerhalb
unseres Bündnisses geregelt ist, nämlich dadurch,

— ich sage hinzu: sonst nichts daß die Staaten, die Atomwaffen besitzen, in den
oder die Verfügungsgewalt darüber, an irgend- Stand versetzt werden, eine wirkungsvolle Vertei-
einen Empfänger weiterzugeben. Er untersagt digung zu betreiben, und daß den Beteiligten, die
ferner die Weitergabe sonstiger Kernspreng- nicht Atomwaffenstaaten sind, der Zugang zu den
körper, weil ein für friedliche Zwecke bestimm- Waffen blockiert wird, so wie es jetzt geschieht.
ter Kernsprengkörper als Waffe verwendet oder Meine Damen und Herren, ich darf jetzt vielleicht
unschwer für eine derartige Verwendung her- zu ein paar anderen Punkten kommen, nur ganz
gerichtet werden kann. wenigen, zunächst zum Verfahren. Herr Dr. Barzel,
Darüber ist heute morgen eine umfassende Diskus- Sie haben gesagt, daß es Ihnen darauf ankäme, bis
sion geführt worden. zur Unterschrift ein sehr sorgfältiges Verfahren
durchzuführen. Nun ist die Unterschrift unter die-
3. Er behandelt nicht und untersagt daher nicht
sen Vertrag ganz unbestritten nicht Sache einer Ent-
die Weitergabe nuklearer Träger oder Träger-
scheidung des Bundestages, sondern einer Entschei-
systeme oder der Verfügungsgewalt darüber an
dung der Bundesregierung. Wir haben es für richtig
irgendeinen Empfänger, solange eine solche
gehalten, die Unterschrift unter diesen Vertrag nicht
Weitergabe Bomben oder Sprengköpfe nicht ein-
zu beschließen, solange der Bundestag nicht ausführ-
schließt.
lich über diesen Vertrag diskutieren konnte. Das hat
Die augenblickliche NATO-Regelung wird also über- er jetzt getan bzw. ist dabei, es zu tun. Er hat diese
haupt nicht betroffen. Diskussion auf der Basis der Großen Anfrage der
4. Er behandelt nicht alliierte Konsultationen CDU/CSU-Fraktion begonnen. Erklärungen über die
und Planungen auf dem Gebiet der nuklearen Verhandlungen mit der Sowjetunion über diesen
Ve rt e idigung, solange daraus keine Weitergabe Kompl ex sind nun heute hier gegeben worden. Dar-
von Kernwaffen oder der Verfügungsgewalt über hinaus kann es keine geben. Ich darf noch ein-
darüber resultiert. mal darauf hinweisen, daß der Komplex der Art. 53
und 107 in zukünftige Verhandlungen mit der So-
Die augenblickliche Regelung ist also gedeckt. wjetunion hineingeschoben wird, die nicht mit dem
5. Er behandelt nicht Regelungen über die NV-Vertrag in Verbindung stehen. Wir haben von
Dislozierung von Kernwaffen auf alliiertem der Sowjetunion erstens eine zufriedenstellende
Hoheitsgebiet, da diese keine Weitergabe von Erklärung über den ganzen Bereich der friedlichen
Kernwaffen oder Verfügungsgewalt darüber Anwendung der Kernenergie und der Freiheit in der
einschließen, sofern und solange nicht eine Ent- Wissenschaft und der Entwicklung und der Wirt-
scheidung, Krieg zu führen, getroffen wird, in schaft auf diesem Gebiete bekommen. Zweitens ha-
350 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969

Bundesminister Scheel
ben wir eine völlig ausreichende Erklärung über den pretation der Vereinigten Staaten eine einheitliche
Komplex der Kosten der Kontrollen bekommen. Hier Auffassung zustande gekommen ist, der sich alle
kann ich nur sagen: Daß der Vertrag mit der Inter- NATO-Partner angeschlossen haben: Der Sicher-
nationalen Atomenergieorganisation noch nicht ge- heitsfall, der Bündnisfall würde in dem gleichen
schlossen ist, liegt ja zum Teil daran, daß wir noch Augenblick eintreten, in dem eine andere Macht
nicht die Unterschrift unter den Vertrag gesetzt von außen die Sicherheit der Bundesrepublik ge-
haben, denn erst danach wird Euratom in der Lage fährden würde. Das ist doch allein der Kern, auf
sein, das Verifikationsabkommen mit der Internatio- den es ankommt. Das haben wir erreicht, und das ist
nalen Behörde zu verhandeln. Das bedingt sich ge- das Entscheidende.
genseitig.
Daß wir ein Verifikationsabkommen haben wol- Vizepräsident Dr. Schmid: Gestatten Sie eine
len, in dem auch die Kostenfrage in unserem Sinne Frage?
geregelt ist, versteht sich. Das gilt aber auch für die
anderen Atomländer. Insoweit haben wir hier Scheel, Bundesminister des Auswärtigen: Nein,
Verbündete in der Sache. Alle haben bei ihrer ich will Herrn Barzels Fragen beantworten. Es
Unterschrift darauf hingewiesen, daß eine Ratifi- kommt nämlich jetzt noch der zweite Punkt.
kation erst in Frage kommt, wenn das Verifikations- Herr Barzel hat in diesem Zusammenhang gesagt,
abkommen, also auch die Frage der Kosten, zu- daß die Interventionsanmaßung der Sowjetunion
friedenstellend geregelt ist. -
gesehen werden müsse. Das ist ja in einem engen
Weiter hat die Sowjetunion eine Erklärung ab- Zusammenhang zu sehen. Herr Dr. Barzel, die Inter-
gegeben über die Entschließung 255 der Vereinten ventionsanmaßung der Sowjetunion kann man nun
Nationen. Hier gibt es die bekannte Einschränkung, weiß Gott nicht durch die Verweigerung der Unter-
die heute auch von dem Herrn Bundeskanzler noch schrift unter diesen NV-Vertrag abwehren. Das sind
einmal eingehend dargestellt wurde. Aber erstens zwei unterschiedliche Bereiche. Ich wiederhole, daß
können wir hier nichts weiteres erwarten — nicht auf der einen Seite unsere Sicherheit durch das Bünd-
zuletzt auch mit Nutzen für uns —, weil ja das nis garantiert ist, dem wir angehören, und nicht
Vetorecht jedes Mitgliedes des Sicherheitsrates der durch Abmachungen mit der Sowjetunion, daß aber
Vereinten Nationen in jedem Fall und immer ge- auf der anderen Seite Verhandlungen mit der So-
geben ist, und zweitens berührt das nicht unsere wjetunion geführt werden müssen, die den Status
Sicherheit; denn unsere Sicherheit wird nicht durch der Bundesrepublik gegenüber der Sowjetunion be-
eine Entschließung der UNO garantiert, sondern rühren, wenn es nämlich darum geht, die Art. 53
ganz allein durch die Wirksamkeit des Bündnisses, und 107 aus der Welt zu schaffen und die Bundes
dem wir angehören. republik in den vollen Genuß des Art. 2 der UNO-
Charta zu bringen. Das ist unsere Absicht bei den
Herr Dr. Barzel hat nun gesagt, das Neue
Verhandlungen, die wir in der Zukunft führen wol-
dieser Diskussion und dieses Vertrages sei, daß es
len.
sich hier zum erstenmal um eine rechtsförmliche
Verpflichtung der Bundesrepublik gegenüber der Dies zunächst zu den Bemerkungen, die Herr Bar-
Sowjetunion handle. Damit, Herr Dr. Barzel, ver- zel zur Sicherheit gemacht hat.
fälschen Sie den Sinn dieses Vertrages doch um (Beifall bei den Regierungsparteien.)
einiges. Denn hier handelt es sich nicht um einen
Vertrag zwischen der Bundesrepublik und der
Sowjetunion, sondern es handelt sich um einen Vizepräsident Dr. Schmid: Das Wort hat der
Abgeordnete Freiherr von Guttenberg.
multilateralen Vertrag, dem schon 93 Länder an-
gehören.
(Abg. Dr. Barzel: Ich habe doch nur von
Freiherr von und zu Guttenberg (CDU/CSU) :
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
einer Verpflichtung gesprochen! — Abg.
möchte einige Worte zu dem sagen, was man viel-
Dr. Dr. h. c. Birrenbach: Aber die Sowjet
leicht die politsich-geschichtliche Räson dieses Ver-
union ist doch Partner dieses Vertrages!
trags nennen kann. Ich stimme dabei zunächst voll
Das ist doch das Problem!)
mit dem überein, was der Herr Bundeskanzler hier
— Natürlich. Es sind aber auch noch andere Part- gesagt hat, daß nämlich das eigentliche Kriterium
ner dieses Vertrages. Herr Dr. Birrenbach, unsere für die Bewertung dieses Vertrags selbstverständlich
Sicherheit wird in diesem Bereich überhaupt nicht die Frage danach ist, ob er den deutschen legitimen
berührt, weil unsere Sicherheit nicht von diesem Interessen mehr nützt oder mehr schadet.
Vertrag abhängt.
Meine Damen und Herren, es liegt ein konkreter
(Abg. Dr. Dr. h. c. Birrenbach meldet sich Vertrag vor. Das ist eine gute Sache, weil es näm-
zu einer Zwischenfrage.) lich davor schützt, eine abstrakte Diskussion um das
Es kommt doch darauf an — Herr Dr. Birrenbach, Prinzip der Nichtverbreitung zu führen, bei der dann
ich möchte das jetzt zu Ende führen —, daß unsere die einen die Kalten Krieger und die anderen die
Vertragspartner in dem Sicherheitsbündnis, dem wir Verständigungssucher sind etc. Dies alles paßt nicht
angehören, in ihrer Definition der Bestimmungen mehr vor den Hintergrund dieses konkreten Ver-
des Vertrages mit uns eine gemeinsame Meinung trages.
haben und daß sie innerhalb dieses Bündnisses diese Ich möchte aber einem widersprechen, was der
Meinung vertreten. Nun ist es so, daß in der Inter Herr Bundeskanzler hier gesagt hat. Er war der
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969 351
Freiherr von und zu Guttenberg
Meinung, daß wir heute alle zusammen nicht mehr Eine zweite Frage. Wir alle — und das ist hier in
vor der Frage stehen, o b , sondern nur mehr vor allen Reden zum Ausdruck gekommen — sehen in
der Frage, wann dieser Vertrag unterschrieben der NATO die Grundlage unserer Sicherheit. Ist
werden sollte; nur über dieses Wann gebe es ver- dieser Vertrag ein Schritt zur Stärkung unserer
schiedene Meinungen. Herr Bundeskanzler, ich Sicherheit, also zur Stärkung der NATO? Lassen
glaube, Sie haben die Einlassungen meiner Partei- Sie mich Sie alle daran erinnern, daß der amerika-
freunde mißverstanden. Uns geht es nicht nur um nische hohe Beamte, der diesen Vertrag ausgehan-
das Wann, uns geht es um konkrete Klärungen kon- delt hat, vor einigen Jahren selbst geschrieben hat,
kreter Punkte. daß dieser Vertrag eine „gewisse Erosion" der
(Beifall bei der CDU/CSU.) Bündnisse zur Folge haben werde; ein Zeugnis, das
man nicht so einfach überspringen sollte.
Wir sind nicht der Meinung, daß alles bereits ge-
klärt sei. Lassen Sie mich hinzusetzen: nach meiner Mei-
nung begründet dieser Vertrag eine zusätzliche Ab-
Mit Ihnen, Herr Bundeskanzler, sind auch meine
hängigkeit der europäischen nichtnuklearen Partner
Freunde und ich der Meinung, daß es ein ganz gro-
von der großen Nuklearmacht USA. Wenn Kennedy
ßes, gewichtiges Argument für diesen Vertrag gibt,
recht hatte, der gesagt hat, ein gesundes Bündnis
nämlich daß er ein Hemmnis gegen die Verbreitung
müsse auf gegenseitiger Abhängigkeit beruhen,
von Atomwaffen ist. Das begrüßen wir. Aber wir
- dann gilt auch vice versa, daß die Stärkung einseiti-
sagen: Hemmnis, wir sagen gewiß nicht: Garantie.
ger Abhängigkeit in der Tat die Gefahr einer gewis-
Und wir setzen die legitime Frage dazu, ob die Mit-
sen Erosion bedeutet.
tel und Methoden richtig sind, die nach dem Vertrag
zur Erreichung dieses Zieles angewendet werden Ein Drittes. Dieses ganze Haus sucht Entspannung.
sollen. Ist dieser Vertrag ein Schritt zur Entspannung? Ich
fürchte im Gegenteil, — und ich werde noch einiges
Lassen Sie mich noch eine Vorbemerkung machen.
darüber sagen — daß dieser Vertrag von der So-
Ich habe wenig Verständnis für das Argument, das ,

wjetunion sehr bald als Instrument ihrer Kampagne


hier bei manchen Sprechern der Regierungsparteien
gegen uns und damit als ein Mittel zu vermehrten
durchgeklungen ist, daß wir uns durch eine Verzöge-
Spannungen verwendet werden wird.
rung oder gar eine Nichtunterschrift in die Isolie-
rung brächten, daß wir damit Munition für eine geg- Ein Viertes. Dieses Haus strebt nach einer euro-
nerische Propaganda schüfen. Solche Argumente päischen Friedensordnung. Ist dieser Vertrag ein
liegen am Rande; und ich möchte hinzusetzen, daß Schritt zu zusätzlicher europäischer Friedenssiche-
die Substanz eines 25jährigen Vertrages — so lange rung? Diese Frage stellen heißt, darauf hinweisen
soll er ja laufen — gewichtiger ist als eine momen- zu müssen, daß im vergangenen Jahr die Kernwaf-
tane Klimaverbesserung, die man vielleicht errei- fenmacht Sowjetunion kurz nach ihrer Unterschrift
chen kann. unter diesen Vertrag den Nichtkernwaffenstaat
CSSR manu militari oder „in brüderlicher Hilfe",
Zudem, meine Damen und Herren — und das
wie es dann genannt wurde, überfallen hat.
meine ich sehr ernst —, wer aus solchen Gründen,
nämlich aus der Befürchtung einer möglichen Isola- Ein Fünftes. Wir alle wünschen die Einheit Euro-
tion, für diesen Vertrag plädiert, plädiert in Wahr- pas. Ich will nicht wiederholen, was gesagt wurde.
heit gegen ihn. Denn ein Vertragsvorschlag, der Aber ich bestreite, daß dieser Vertrag als solcher ein
eine solche Zwangslage, der eine solche Beschnei- Mittel zur Förderung der europäischen Einigungs-
dung der Handlungsfreiheit bedeutete, wäre ein politik ist. Ich befürchte leider im Gegenteil, daß von
schlechter Vertragsvorschlag. diesem Vertrag, der das nationalstaatliche Prinzip
(Beifall bei der CDU/CSU.) erneut und verstärkt in die europäische Diskussion
einführt, gegenläufige Tendenzen ausgehen werden.
Wir haben den Vertrag ganz nüchtern auf dem Hin-
tergrund der großen Ziele zu prüfen, die dieses Lassen Sie mich sechstens sagen: Wir alle hoffen
ganze Haus gemeinsam verfolgt. auf Verbesserung unseres Verhältnisses zur Sowjet-
union und haben also die Frage zu stellen: Ist dieser
Wir alle wünschen Abrüstung. Ist dieser Vertrag
Vertrag geeignet, diese Beziehungen zu verbessern?
ein Schritt zur Abrüstung? Ich will nicht wieder-
Dazu nun einiges im Detail.
holen, was Kollege Kliesing und andere hier ge-
sagt haben. Aber ich glaube nicht, daß dieser Ver- Hier, im deutsch-sowjetischen Verhältnis liegt
trag als Schritt zur Abrüstung bezeichnet werden nach meiner Meinung das zentrale Problem, das wir
kann; denn mehr als eine relativ unverbindliche bei diesem Vertrag sehen müssen. Alle anderen Pro-
Willenserklärung der Großmächte ist in diesem Ver- bleme betreffen auch andere Nichtkernwaffenstaa-
trag nicht enthalten. ten. Hier, beim deutsch-sowjetischen Verhältnis,
geht es um ein spezifisch deutsches Problem. Hier
Herr Außenminister, wenn Sie in einer Ihrer Ein-
müssen wir entscheiden, und hier kann uns niemand
lassungen vorhin gesagt haben, daß dieser Vertrag
anders die Entscheidung abnehmen.
der einzige Hebel sei, mit dem wir, die Nichtnuklea-
ren, atomare Abrüstung erreichen könnten, dann Der Herr Bundeskanzler nannte diesen Vertrag
kann ich nur antworten: Alle Nichtnuklearen legen einen optimalen Vertrag. Herr Bundeskanzler, ich
diesen Hebel in dem Augenblick aus der Hand, in bestreite, daß dieser Vertrag für uns Deutsche in un
dem sie ihre Unterschrift leisten. Dies gilt nicht nur serer speziellen Situation wirklich ein optimaler
für uns, dies gilt für alle Nichtnuklearen. Vertrag ist.
352 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969

Freiherr von und zu Guttenberg


Wie sieht denn die deutsche Situation aus? Der Der Herr Bundeskanzler sagt, in der Geschichte
Herr Bundeskanzler sprach von Zwangsvorstellun- dieses Vertrages seien manche Verbesserungen er-
gen, die da irgend jemand haben soll. Herr Bundes- reicht worden. Dem stimme ich zu und setze hinzu,
kanzler, es ist keine Zwangsvorstellung, daß nur die daß hieran der letzen Regierung der Großen Koali-
Bundesrepublik einen essentiellen, die nationale tion ein gerüttelt Maß an Dank zu schulden ist.
Existenz der Deutschen berührenden Konflikt mit (Beifall bei der CDU/CSU. — Lachen bei
der Sowjetunion hat. Herr Bundeskanzler, es ist der FDP.)
keine Zwangsvorstellung, daß außerhalb Osteuropas
nur die Bundesrepublik expressiv verbis in die In- Aber wenn das auch stimmt, dann stimmt leider
terventionszone der Sowjetunion einbezogen wird. auch das Gegenteil, nämlich daß es in der Behand-
lung dieses Vertrages gewisse Phasen gab, bei denen
(Beifall bei der CDU/CSU.)
in entscheidenden Punkten von den Amerikanern
Herr Bundeskanzler, es ist keine Zwangsvorstellung, und anderen für uns bessere Formulierungen vorge-
daß nur die Bundesrepublik von der Sowjetunion schlagen waren, Formulierungen, die dann aber
ausdrücklich als ein Staat minderen Rechts behan- unter dem Eindruck des sowjetischen Njet leider
delt wird. Und, Herr Bundeskanzler, es ist auch verschlechtert worden sind.
keine Zwangsvorstellung, daß die Sowjetunion nur
(Abg. Wehner: Wem gilt dieser Vorwurf,
von der Bundesrepublik behauptet, daß bereits gel-
Herr Kollege?)
tende Abmachungen ihr, der Bundesrepublik, eine
-
Rechtspflicht zum Vertragsbeitritt auferlegten. Meine — Herr Wehner, ich mache hier gar keinen Vorwurf.
Damen und Herren, wenn die Sowjetunion von uns
(Abg. Wehner: Das wollte ich nur fest
sagt, wir seien durch andere Abmachungen bereits
gestellt wissen!)
rechtlich verpflichtet, dem Vertrag zuzustimmen,
dann allerdings handelt die Sowjetunion nur kon- — Ich versuche hier mit aller Nüchternheit die Ge
sequent, wenn sie sagt, daß dies dann keine deut- fahren darzustellen, die es in diesem Vertrage gibt.
sche Leistung sei, und wenn sie jede Gegenleistung (Sehr richtig! bei der CDU/CSU. — Lachen
verweigert. Von uns wird Leistung verlangt. Was bei der SPD.)
die Sowjetunion leistet, sehe ich bis heute nicht.
Ich habe gesagt, daß ich dankbar dafür sei, daß die
Herr Bundeskanzler, Sie haben in diesem Zusam- vergangene Regierung viel erreicht habe, daß aber
menhang gesagt, im Grunde vollzögen mit diesem entscheidende Punkte noch der Klärung bedürften,
Vertragswerk andere doch nur, was wir, die Deut- z. B. die Frage: Wird die Sowjetunion es schon unter
schen, bereits vorgeleistet hätten. Herr Bundes- den Begriff „indirekte Verfügungsgewalt" einord-
kanzler, ich bin anderer Meinung; denn es ist ein nen, wenn in der Bundesrepublik spaltbares Material
qualitativer Unterschied, daß wir gestern bestimmte für friedliche Zwecke produziert werden wird? Wird
Verzichte unseren westlichen Alliierten gegenüber die Sowjetunion schon von indirekter Verfügungs-
geleistet haben und heute gefragt werden, solche gewalt reden, wenn in der Bundesrepublik technische
Verzichte der Sowjetunion gegenüber zu leisten. Weiterentwicklungen auf dem nuklearen Gebiet
Man kann darüber nicht so leicht hinweggehen, wie gefunden werden sollten? Wird die Sowjetunion
es der Herr Außenminister gemacht hat. Meine von indirekter Verfügungsgewalt sprechen, wenn
Damen und Herren, hier fordert die zweite Welt- innerhalb der NATO neue interne Beratungen über
macht der Erde von uns, von dem Mittelstaat Bun- gemeinsame strategische Fragen durchgeführt wer-
desrepublik, eine auf eine Generation hinaus dauern den?
sollende Verpflichtung, mit der sie unter anderem (Abg. Dr. Rutschke: Schauen Sie doch mal in
ein Mitspracherecht zu erlangen sucht in unseren den Vertrag rein, da steht es doch!)
eigenen Verhältnissen innerhalb der NATO, inner-
Meine Damen und Herren, ich hole mir diese Frage
halb Europas und innerhalb der Bundesrepublik
nicht sozusagen aus der Luft. Ich habe gute Gründe
selbst. Dies ist ein Novum.
zu dieser Sorge. Bereits 1963 gab es einen sowjeti-
(Beifall bei der CDU/CSU. — Widerspruch schen Protest gegen die Zusammenarbeit der Firma
bei der SPD.) Siemens mit der französischen Atomkommission.
– Meine Damen und Herren, man kann füglich die 1968 gab es die Behauptung der „Prawda" — das
Gefahr nicht bestreiten, daß dieser Vertrag von der heißt ja „Wahrheit", wie wir wissen —, daß das
Sowjetunion vorrangig als ein Instrument ihrer deutsch-britisch-holländische Ultrazentrifugenprojekt
Deutschlandpolitik angesehen wird. Hier, scheint ein Hintertürchen für die Deutschen bedeute, um
mir, liegt der Grund dafür, daß die Sowjetunion be- sich Atomwaffen zu verschaffen.
wußt— und ich weiß, was ich sage (Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)
(Abg. Wienand: Hoffentlich!)
Am 28. Januar 1967 wie am 8. Dezember 1968 gab
eine klare Definition jenes entscheidenden Ver- es Noten der Sowjetunion mit der Beschuldigung,
tragsbegriffes verweigert hat, von dem vorhin der daß die Bundesrepublik bereits an der industriellen
Kollege Dr. Barzel sprach. Es ist der Sowjetunion Basis der Atomwaffen arbeite. Ich habe daher kei-
und ihrer Intervention zuzuschreiben, daß wir heute nen Zweifel — —
keine klare und verbindliche Interpretation dessen
(Glocke des Präsidenten.)
haben, was „Proliferation" eigentlich nach diesem
Vertrag sein soll, was also unter „mittelbarer oder — Sie mahnen mich, Herr Präsident; ich werde mich
unmittelbarer Verfügungsgewalt" zu verstehen sei. kurz fassen.
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969 353

Vizepräsident Dr. Schmid: Das rote Licht hat rungsfraktionen die Große Anfrage zum Atomwaf-
Sie gemahnt! fensperrvertrag zu begründen, nebenbei wohl in
einer Weise, die, wie Herr Kollege Barzel damals sagte,
Freiherr von und zu Guttenberg (CDU/CSU) : auch in seiner Sicht fair gewesen ist. Aber ich habe
Ich habe daher keinen Zweifel an der Berechtigung das Gefühl, verehrter Herr Kollege von Guttenberg,
dieser Voraussage: Sollten diese unklaren Ver- daß vieles von dem, was Sie heute gesagt haben,
pflichtungsbestimmungen so bleiben, fürchte ich, daß eigentlich besser in die damalige Debatte gepaßt
in Verbindung mit der sowjetischen Interventions- hätte als in die heutige. Warum? Weil Sie im Grunde
anmaßung, von der die Rede war, für die sowjeti- immer noch darüber argumentiert haben, ob dieser
sche Politik unüberschaubare Möglichkeiten stän- Vertrag an sich gut oder weniger gut sei, während
diger Interventionsversuche unter dem Schein des die Frage hier und heute doch lautet, ob diese Re-
Rechtes dieses Vertrages eröffnet werden. Wenn gierung gut daran tut, einen Vertrag, der von der
man uns sagt, daß der Wunsch nach Klarheit diesen Mehrzahl der Länder dieser Erde und unserer Ver-
Vertrag gefährde, dann antworten wir, daß ein bündeten bereits unterschrieben ist, ebenfalls zu
unklarer Vertrag uns gefährdet; und dies scheint unterschreiben. Dies ist eine völlig andere Aus-
mir für uns das Wichtigere zu sein. gangsstellung. Ich will das an einigen Beispielen
zu klären versuchen.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Sie, Herr Kollege von Guttenberg, haben gesagt,
Der Herr Bundeskanzler hat gefragt, was- noch zu Sie könnten sich — vielleicht ist das nicht genau
klären sei. Ich kann hier keinen erschöpfenden zitiert; dann können Sie mich korrigieren — nichts
Katalog mehr aufstellen. Ich will nur sagen: sicher anderes vorstellen, als daß eben dieser Vertrag, wie
die Frage des Gewaltverzichts, also die Frage immer man ihn interpretiere, doch wohl zu einer
dessen, was ich hier als Interventionsanmaßung der Erosion unseres Bündnisses führe. Habe ich Sie rich-
Sowjetunion bezeichnet habe. Ich widerspreche der tig verstanden?
These, daß man diese Problematik von der Proble- (Zurufe von der Mitte.)
matik des NV-Vertrages trennen solle oder könne.
(Beifall bei der CDU/CSU.) Freiherr von und zu Guttenberg (CDU/CSU):
Wer diese beiden Dinge trennt, begibt sich des Herr Kollege, Sie haben mich insoweit nicht richtig
einzigen Hebels, des einzig wirklichen Mittels, das verstanden, als ich hier einen Amerikaner zitiert
wir haben — wenn wir überhaupt eines haben —, habe.
um bei der Sowjetunion Interesse daran zu wecken,
sich uns gegenüber auf eine ernsthafte Gewalt- Dr. Eppler, Bundesminister für wirtschaftliche
verzichtspolitik einzulassen. Zusammenarbeit: Gut. Aber, verehrter Herr Kollege,
(Glocke des Präsidenten.) Sie haben sich doch mit diesem Zitat dem Sinne nach
identifiziert. Sie haben diese Befürchtung. Verstehe
— Ich bin am Ende, Herr Präsident, und darf noch ich Sie richtig? — Herr Kollege, ich wäre schon dank-
vier Schlußsätze sagen: Mir scheint, daß in der bar, wenn Sie mir jetzt zu erkennen gäben, ob ich
feindseligen Haltung der Sowjetunion gegenüber Sie richtig verstanden habe.
uns und unseren legitimen Zielen das eigentlich
entscheidende Kriterium für die Bewertung dieses
Freiherr von und zu Guttenberg (CDU/CSU) :
Vertrages liegen muß. Wir, meine Freunde und ich, Herr Kollege Eppler, ich kann meine Antwort nun
hielten es für eine grobe Selbsttäuschung, wollte nicht in Frageform kleiden, wenn Sie mich fragen.
irgend jemand glauben, daß unsere Unterschrift Mit Genehmigung des Herrn Präsidenten will ich
unter den Vertrag ein Mittel sein könne, um dieses gern antworten.
deutsch-sowjetische Verhältnis zu verbessern. Um-
gekehrt wird ein Schuh daraus: Ich habe gesagt, Herr Kollege Eppler, daß nach
meiner Auffassung alles, was die einseitige Ab-
(Abg. Wehner: Was für ein Schuh?) hängigkeit der Europäer stärkt, nicht zugunsten des
wenn sich die Sowjetunion wirklich und tatsächlich Bündnisses gewertet werden könne, und ich habe
bereit fände, ihr Verhältnis zu uns entscheidend zu mich dabei eines Zitats von Präsident Kennedy be-
revidieren und auf eine neue Grundlage zu stellen dient.
— Stichwort: Gewaltverzicht —, wären auch wir
bereit, über vieles mit uns reden zu lassen, auch Dr. Eppler, Bundesminister für wirtschaftliche
über diesen Vertrag. Zusammenarbeit: Verehrter Herr Kollege, dann habe
(Beifall bei der CDU/CSU.) i ch Sie d o ch d urchau s richtig verstanden, und ich
muß Ihnen zugestehen, daß, wenn dieses Argument
vor zwei Jahren gekommen wäre, ich möglicher-
Vizepräsident Dr. Schmid: Das Wort hat Bun- weise gesagt hätte: ja, so könnte das sein. Nur ist
desminister Dr. Eppler. doch heute die Frage nicht mehr die, ob dieser Ver-
trag an sich, ob die Existenz dieses Vertrages der
Dr. Eppler, Bundesminister für wirtschaftliche NATO nützt oder schadet, sondern jetzt ist doch
Zusammenarbeit: Herr Präsident! Meine sehr ver- die Frage, ob es für die NATO, nachdem die mei-
ehrten Damen und Herren! Wir haben heute schon sten NATO-Mitglieder bereits unterschrieben ha-
mehrfach von jenem 27. April 1967 gesprochen, an dem ben,
ich die Ehre hatte, für die beiden damaligen Regie (Abg. Dr. Rutschke: Sehr richtig!)
354 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969
Bundesminister Dr. Eppler
besser oder schlechter ist, wenn auch wir noch un- Dr. Eppler, Bundesminister für wirtschaftliche
terschreiben. Zusammenarbeit: Bitte, Herr Kollege!
(Beifall bei den Regierungsparteien.)
Dr. Dr. h. c. Birrenbach (CDU/CSU) : Herr Bun-
Es könnte ja durchaus so sein, Herr Kollege, daß desminister Eppler, würden Sie mir zugeben, daß es
Sie im Prinzip recht haben, daß vielleicht sogar der ein Unterschied ist, ob einerseits die Sowjetunion
NATO das Leben erleichtert werden würde, wenn den Art. 2 vorbehaltlos für uns anerkennt oder
dieser Vertrag nicht da wäre. Aber im Augenblick andererseits die Vereinigten Staaten bereit wären,
ist dies nicht die Frage, sondern die Frage ist, wie einen von der Bundesrepublik eingelegten Vorbe-
wir die Geschlossenheit der NATO, nachdem es die- halt über eine europäische Option zu indossieren
sen Vertrag gibt, aufrechterhalten können. Das ist oder nicht?
das Thema.
(Beifall bei den Regierungsparteien.) Dr. Epp ler, Bundesminister für wirtschaftliche
Zusammenarbeit: Verehrter Herr Kollege, ich bin
Genau dasselbe gilt für Europa, Herr Kollege. Ich
gerade dabei, ein Wort noch zu der europäischen
habe genau mitgeschrieben, was Sie hier gesagt
Option zu sagen. Wenn wir von Ihrer Prämisse
haben. Vielleicht habe ich mich geirrt; dann lasse
ausgehen, also so tun, als ob wir jetzt zu entschei-
ich mich auch korrigieren. Sie haben gesagt: Ich
den hätten, ob es diesen Vertrag geben soll oder
bestreite, daß dieser Vertrag als solcher ein Mittel
nicht, dann könnte man natürlich so argumentie-
zur Stärkung der Einheit Europas ist. — Hier möchte
ren: das, was praktisch möglich ist in Europa —
ich Ihnen, verehrter Herr Kollege, voll zustimmen.
ganz unabhängig davon, ob wir es wünschen oder
Dieser Vertrag als solcher ist sicherlich nicht dazu
nicht —, wird durch diesen Vertrag erlaubt. Er
gemacht, Europa zu stärken. Nur ist das nicht die
erlaubt zwei Dinge in bezug auf Europa und die
Frage, vor der wir heute stehen. Die Frage, vor der
europäische Verteidigung — darüber sind wir uns
wir heute stehen, lautet doch, ob es für Europa bes-
doch wohl einig —: 1. Er erlaubt Regelungen in
ser ist, wenn es nur zwei Kategorien von Staaten
Europa, die analog dem sind, was wir heute in
innerhalb der EWG und von Euratom gibt — einen
der NATO haben, d. h. also Regelungen, wo eine
Staat, der Nuklearmacht ist und dem Vertrag nicht
der bisherigen Atommächte die volle Verfügungs-
beitritt, und fünf Staaten, die nicht militärische Nu-
gewalt über die Sprengkörper behält, andere aber
klearmächte sind und dem Vertrag beitreten —,
— eventuell in einem europäischen Arrangement —
oder ob es besser ist für Europa, wenn es noch eine
eigene Trägerwaffen haben. Darüber sind wir uns
dritte Kategorie gäbe, nämlich einen Staat, der auch
doch einig: dies erlaubt der Vertrag. Herr Birren-
nicht Nuklearmacht ist, aber dem Vertrag nicht bei-
bach nickt, Sie, Herr von Guttenberg, schütteln den
tritt; und da sind wir nun eben, verehrter Herr Kol-
Kopf.
lege, der Meinung, daß dies Europa in keinem Fall
(Abg. Dr. Dr. h. c. Birrenbach: Erlaubt er!)
dienlich sein kann.
— Herr Birrenbach sagt, es sei so.
Vizepräsident Dr. Schmid: Gestatten Sie eine
Zwischenfrage? Vizepräsident Dr. Schmid: Gestatten Sie eine
Zwischenfrage?
Freiherr von und zu Guttenberg (CDU/CSU) :
Dr. Eppler, Bundesminister für wirtschaftliche
Herr Kollege Eppler, würden Sie mir zustimmen,
Zusammenarbeit: Bitte!
wenn ich sage, daß ich vorhin einen ganzen Katalog
von Fragen gestellt habe, die zu nicht gerade sehr
attraktiven Antworten zugunsten dieses Vertrages Freiherr von und zu Guttenberg (CDU/CSU) :
geführt haben, daß ich am Ende aber meine Ent- Herr Kollege Eppler, ich möchte an Sie die Frage
scheidung zu der Sache selbst nicht von diesen ein- stellen, ob Sie mir darin zustimmen, daß der Vertrag
zelnen Punkten abhängig gemacht habe, sondern selbst über diese Frage nichts sagt, daß wir hier von
vielmehr als den Hauptpunkt unser Verhältnis zur Interpretationen abhängig sind und daß hinsichtlich
Sowjetunion bezeichnet habe? der Frage der unmittelbaren Verfügungsgewalt noch
eine Interpretationslücke bleibt, die im Ausschuß
genauer behandelt werden soll?
Dr. Eppler, Bundesminister für wirtschaftliche
Zusammenarbeit: Verehrter Herr Kollege, darüber
Dr. Eppler, Bundesminister für wirtschaftliche
bin ich mir durchaus im klaren, und ich habe das Zusammenarbeit: Aber, verehrter Herr Kollege von
auch mit großer Genugtuung vermerkt. Mir geht
Guttenberg, ich bin mit Ihrem Kollegen Birrenbach
es nur darum, daß wir hier keine abstrakte Debatte
einig, daß auch die relativ ungünstige Interpretation,
darüber führen, ob ein solcher Vertrag eine schöne
die die Amerikaner uns auf diese Frage gegeben
oder weniger schöne Sache ist. Vielmehr geht es
haben, diese Lösung jedenfalls erlaubt.
darum, wie wir hier und heute zu entscheiden haben.
Die zweite Lösung, die erlaubt ist — darüber
Schließlich noch ein weiterer Punkt.
wurde vorhin gesprochen —, wäre die Verfügung
einer europäischen Föderation, wenn sie einen be-
Vizepräsident Dr. Schmid: Gestatten Sie eine stimmten Föderationsgrad erreicht hat, über gemein-
Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Birren- same eigene Atomwaffen. Herr Kollege, dies sind
bach? die beiden Möglichkeiten, die der Vertrag offenläßt.
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969 355
Bundesminister Dr. Eppler
Meine Frage wäre nun, ob denn das, was dazwi- ersten Kategorie und welcher der acht Schwellen-
schen liegt, praktisch überhaupt denkbar ist, ob Sie staaten der zweiten Kategorie und welcher der Pro-
sich ernsthaft vorstellen können, daß es jemals duzenten von Uran, von denen bisher nur einer den
einen französischen Präsidenten oder einen engli- Vertrag unterschrieben hat, hat die Unterzeichnung
schen Premierminister geben könnte, der die Ver- des Vertrags unterlassen, weil wir noch nicht die
fügungsgewalt über die französischen oder briti- Unterschrift geleistet haben? Würden Sie das einmal
schen Atomwaffen aus der Hand geben würde, ehe sagen.
es eine volle Föderation in der Verteidigungspolitik
in Europa gibt? Deshalb finde ich: wenn man davon
Dr. Eppler, Bundesminister für wirtschaftliche
ausgeht, Herr Kollege Birrenbach und Herr Kollege
Zusammenarbeit: Herr Kollege Birrenbach, ich habe
von Guttenberg, dann erlaubt der Vertrag auch nach
vor einiger Zeit versucht, die völlig anderen Zahlen
der restriktiven Interpretation, die wir haben, die
bezüglich der Schwellenmächte erster und zweiter
Dinge, die faktisch einmal möglich sein könnten,
Kategorie, die in Ihrer Großen Anfrage stehen, zu
und er verbietet die, von denen ich mir beim besten
eruieren und feststellen, wer dort womit gemeint
Willen nicht vorstellen kann, daß sie jemals möglich
sei. Nun bringen Sie plötzlich wieder völlig andere
werden.
Zahlen für die Schwellenmächte. Jedenfalls bestehen
Nun ist aber die Frage gar nicht mehr so gestellt. doch gerade bei Ihnen Zweifel daran, daß der Ver-
Sie sprechen von einer europäischen Option, als ob trag einen universalen Charakter bekommen wird.
alle anderen Europäer diese Option auch möchten. Meine Frage lautet, was es negativ für die Ab-
Was hilft uns hier das Debattieren über eine euro- rüstungsgespräche bedeuten würde, wenn Ihre Zwei-
päische Option, wenn vier europäische Staaten be- fel zu Recht bestünden.
reits unterschrieben und mindestens drei davon Schließlich ein Letztes. Meine Damen und Herren,
klargemacht haben, daß sie auf diese Option nicht heute ist mehr oder weniger implizit, aber auch
den geringsten Wert legen? explizit von der Diskriminierung gesprochen wor-
(Abg. Freiherr von und zu Guttenberg: Der den, die darin liegt, daß die einen etwas behalten.
Vertag dauert 25 Jahre!) das sie haben, und die anderen auf etwas verzichten,
Deshalb bleibt festzustellen, daß heute eine andere das sie nicht haben. Zweifellos liegt hier ein Stück
Diskussionsgrundlage gegeben ist als die, ob eine Diskriminierung, wenn man so will, vor. Nur bitte
europäische Option an sich wünschenswert wäre ich Sie, Herr Kollege von Guttenberg, dieses Thema
oder nicht. dann auch einmal umgekehrt zu durchdenken. Wenn
wir so argumentierten, müßten wir sagen: Letztlich
Noch ein Weiteres. Herr Kollege von Guttenberg, hat jeder Staat, jeder souveräne Staat, ein Recht
Sie haben gesagt, Sie bezweifelten, daß dieser Ver- auf diese Waffen.
) trag ein Schritt zur Abrüstung sei. Ich glaube, wir
alle können daran zweifeln. Keiner von uns hat es (Abg. Freiherr von und zu Guttenberg: Das
in der Tasche, daß dies so ist. hätten Sie sich sparen sollen!)

(Abg. Freiherr von und zu Guttenberg: Ich — Ich habe nicht gesagt, daß Sie so etwas sagen;
habe noch mehr gesagt!) aber das ist doch die letzte Konsequenz. Hier kom-
— Gut, schön! men wir zu dem, was der Herr Bundeskanzler vor-
hin gesagt hat, nämlich daß sich manche unserer
(Abg. Freiherr von und zu Guttenberg: Ich Begriffe, z. B. Souveränität, Diskriminierung usw.,
habe gesagt, daß wir den Hebel aus der plötzlich an einer Realität stoßen, mit der man in
Hand geben!) denltzJahr iseundrtch-
Ich bitte Sie, doch einmal darüber nachzudenken: nen muß, wo nämlich, wenn wir mit den Begriffen
Da wir heute nicht über die Existenz des Vertrags, der Souveränität und der Diskriminierung arbeiten,
sondern über unseren Beitritt zu diesem Vertrag zu schließlich eine Welt entsteht, in der immer mehr
debattieren haben, dürfte doch die Frage nicht nur Staaten über nukleare Waffen verfügen. Ich habe
lauten: Ist dieser Vertrag — mit mehr oder weniger das Gefühl, wir sollten unsere Kinder nicht in eine
Sicherheit — ein Schritt zur Abrüstung, sondern sie solche Welt hineinwachsen lassen, weil eine andere
müßte auch lauten: Was bedeutet es für die anson- Welt einigen Begriffen, in denen wir alle aufge-
sten immer wieder versuchten Abrüstungsgespräche, wachsen sind, nicht ganz entspricht.
wenn der Vertrag, nachdem er einmal so weit ge- (Beifall bei der SPD.)
diehen ist, nun doch in seiner Universalität zum
Scheitern gebracht wird? Ich meine, ein Scheitern
des Vertrags in seiner Universalität wäre in jedem Vizepräsident Dr. Schmid: Das Wort hat der
Fall ein Rückschritt auf dem Weg zur Abrüstung, Abgeordnete Jung.
unabhängig davon, ob die Unterschrift unter den
Vertrag automatisch ein Fortschritt in Richtung auf Jung (FDP) : Herr Präsident! Meine sehr geehrten
die Abrüstung ist. Damen und Herren! Bei so manchem Beitrag des
heutigen Nachmittags hatte ich den Eindruck, daß
Vizepräsident Dr. Schmid: Herr Abgeordneter insbesondere Kollegen aus der CDU/CSU-Fraktion
Birrenbach, eine Zwischenfrage. Positionen bezogen haben, die zeitlich ein, zwei
oder gar drei Jahre zurückliegen, ganz so, als ob es
Dr. Dr. h. c. Birrenbach (CDU/CSU) : Herr Bun- in der Zwischenzeit nicht Hearings, internationale
desminister, welcher der vier Schwellenstaaten der Besprechungen und Klärungen auch im Kabinett ge-
356 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969
Jung
geben hätte. So hat Herr Kollege Stoltenberg heute Dr. Dr. h. c. Birrenbach (CDU/CSU) : Herr Kol-
früh die Forderung aufgestellt, daß wesentliche lege, ist Ihnen bekannt, daß in dem Statut der
Fragen politischer, wirtschaftlicher, industrieller und IAEO in Wien auch die Prüfung von Anlagen vor-
wissenschaftlicher Natur noch geklärt werden müs- gesehen ist?
sen, weil bisher ungeklärt. Er bezweifelte auch, daß
dieser Vertrag die Chance hat, einen universellen
Jung (FDP) : Ich komme gleich darauf, Herr Kol-
Charakter zu bekommen. Ich glaube, diese Frage lege Birrenbach. Es ist nicht nur die Prüfung von An-
könnte man am besten durch ein Beispiel beantwor- lagen darin enthalten, sondern auch die Prüfung von
ten, indem man den Vergleich mit dem Vertrag Plänen von Anlagen. Ich werde nachher in die De-
über die UNO heranzieht. Wer unter den Vorbedin- tails gehen, was ich leider heute bei Herrn Kollegen
gungen, die mit denen vergleichbar sind, die Herr Stoltenberg vermißt habe.
Kollege Stoltenberg aufgestellt hat, in die UNO will,
müßte dann auch die Forderung erheben, daß er den (Beifall bei der FDP.)
ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrats gleichge- Herr Kollege Stoltenberg sprach auch davon, daß
stellt sei. Das ist bekanntlich nicht möglich. Trotz- die Situation Frankreichs unklar sei. Frankreich ist
dem ist der universelle Charakter der UNO unbe- als eine der Atomwaffenmächte nicht daran interes-
streitbar. siert, diesen Vertrag zu unterschreiben — das ist
kein Geheimnis —, aber Frankreich hat bisher in
Nun fordern Sie, Herr Kollege Stoltenberg — er der Euratom auch nie die Politik des leeren Stuhls
ist im Moment nicht hier —, die volle und eindeu- betrieben, war also am gemeinsamen Handeln und
tige Klärung zu Fragen, die aber leider nicht prä- an den gemeinsamen Beratungen von Euratom be-
zise umrissen waren, zu Fragen aus technischer, teiligt. Frankreich bleibt ja auch mit seiner Nuklear-
wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Sicht. Für forschung für friedliche Zwecke in dem Euratom-
einen ehemaligen Forschungs- und Wissenschafts- Kontrollsystem, so daß sich die Frage der unter-
minister fand ich die Formulierungen doch bemer- schiedlichen Behandlung von EWG-Partnerstaaten
kenswert vage. Ich hatte den Eindruck, daß viel- hier überhaupt nicht stellt. Wie ich die Sache sehe,
mehr Zuflucht zu emotionalen Argumenten gesucht werden wir nach Annahme des Verifikationsabkom-
wurde. Naturwissenschaftler wollen aber Fakten mens durch die Wiener Behörde ja auch in diesem
und keine Phänomene. Ich hoffe, daß Herr Kollege Euratom-Kontrollsystem bleiben.
Stoltenberg in der Ausschußberatung die Fragen
präzisiert. Das ist schon deswegen notwendig, da- (Abg. Dr. Dr. h. c. Birrenbach meldet sich zu
mit nicht der Verdacht entsteht, daß mit dieser un- einer Zwischenfrage.)
bestimmt umrissenen Formulierung „nach voller — Bitte schön, Herr Kollege Birrenbach!
und eindeutiger Klärung" eigentlich eine gewisse
Verzögerungstaktik bemäntelt werden soll.
Dr. Dr. h. c. Birrenbach (CDU/CSU) : Herr Kol-
lege, ist Ihnen klar, daß der Begriff der Verifikation
Herr Kollege Stoltenberg hat zunächst einmal die
Europapolitik herangezogen, die Kontrollartikel, bis heute noch nicht eindeutig festgelegt ist, daß
EWG, Euratom und das Verhältnis zu IAEO. Aus also die Möglichkeit besteht, daß die Verifikation in
dem Vertrag geht doch eindeutig hervor, daß die Wahrheit eine Doppelkontrolle bedeutet und daß
europäischen Kontrollsysteme aufrechterhalten diese Kontrolle nicht von Partnern — wie in der
werden können und daß eine Doppelkontrolle, wie EWG —, sondern von dritten und vierten Mächten,
befürchtet wird, ganz einfach nicht eintreten kann, darunter Mächten des Ostblocks, ausgeübt wird?
wenn die Wiener Behörde die Verifikation annimmt.
Es gibt doch keinen Zweifel daran — und das ist Jung (FDP) : Herr Kollege Birrenbach, es ist mir
auch in den Hearings von Senator Fulbright, an de- vollkommen klar, daß der Verifikationsbegriff bis-
nen auch die Secretaries of State Rusk und Nitze her noch nicht eindeutig festgelegt ist. Allerdings
teilnahmen, bei der Gegenüberstellung der Kontroll- muß ich Sie darauf hinweisen, daß diese Definition
systeme klargeworden —, daß das Kontrollsystem der Verifikation bisher deswegen unmöglich war,
in Euratom wesentlich schärfer und wesentlich weit- weil wir den Vertrag ja noch nicht unterschrieben
gehender ist als das Kontrollsystem in der IAEO. haben und weil wir überhaupt noch nicht in Ver-
Von daher gibt es doch gar keinen Zweifel, daß die handlungen eintreten konnten.
Wiener Behörde mit diesem Verifikationsabkom-
(Beifall bei der FDP. — Abg. Dr. Dr. h. c.
men einverstanden sein wird. Was die Frage der
Birrenbach: Sagenhaft! — Zuruf des Abg.
Rückläufigkeit der Kontrolle angeht, so gibt es doch
auch eindeutige Aussagen — Herr Kollege Stolten- Balkenhol.)
berg weiß das ganz genau —, daß in jedem Fall — Natürlich, so ist es, Herr Kollege Balkenhol. Sie
z. B. bei Lieferung von Reaktoren oder Material ein müßten sich mit der Materie ein bißchen mehr be-
Safeguard Agreement abgeschlossen wird; in die- schäftigen; dann würden Sie das auch feststellen.
sem Safeguard Agreement ist schon jetzt konkret (Abg. Dr. Dr. h. c. Birrenbach: Das tun wir
die Rückweisung von Kontrollinspektoren möglich. seit sechs Jahren!)
(Abg. Dr. Dr. h. c. Birrenbach meldet sich zu Nach Ihrer Meinung müßten die Kernfragen recht-
einer Zwischenfrage.) licher, wissenschaftlicher und industrieller Natur
geklärt werden. Es wurde gesagt, insbesondere
— Bitte schön, Herr Kollege Birrenbach! sollte geklärt werden, ob die Wiener Behörde diese
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969 357

Jung
Verifikation annimmt. Das kann ich doch nur in dem Herren, ist es natürlich richtig: Kosten der Kon-
Sinne verstehen, daß die bisherigen Kontrollsysteme trolle können nicht auf einzelne Industriezweige
— Herr Kollege Birrenbach, ich komme nun auf die allein abgewälzt werden.
Details zu sprechen — möglicherweise nicht den Er- Herr Kollege Stoltenberg sprach auch von den
fordernissen der kommerziellen kerntechnischen In- biologischen und chemischen Entwicklungen, die sich
dustrie entsprechen. Das Kontrollsystem der IAEO fern am Horizont abzeichnen. Er befürchtet, daß
ist gewissermaßen noch ein Relikt aus der Zeit, in diese Entwicklungen durch den NV-Vertrag beein-
der die Entwicklungs- und Forschungsanlagen durch trächtigt werden. Ich meine, es ist doch unbestritten
die IAEO überwacht wurden. Damals war das für — und Herr Kollege Stoltenberg müßte das besser
uns im übrigen recht günstig. Sie wissen ja: Aus- wissen —, daß in den Hearings, aber auch in der
tausch von Erfahrungen und auch von Informationen. Unterrichtung des Kabinetts — wenn ich mich recht
Meine Damen und Herren, in einer Zeit aber, in der entsinne, war das Anfang August — gerade diese
wir uns bemühen, Datenbanken anzulegen, von Frage geklärt wurde, daß nämlich die friedliche
denen die Daten von allen möglichen Leuten abge- Nutzung dieser Entwicklung uneingeschränkt und
rufen werden können, kann doch das alte Argument ohne diskriminierende Formulierungen in der Zu-
der Industriespionage nicht mehr recht glaubhaft kunft auch für uns möglich sein wird. Die schweren
sein. Herr Professor Leussink hat heute nachmittag wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Schäden, die
auch zu diesem Thema einige Ausführungen ge- er anführte, kann ich nur so interpretieren, daß er
macht, die das beleuchten. befürchtet, daß wir, wenn wir den Vertrag unter-
schrieben haben, nicht in Länder liefern könnten, die
Ich gebe zu, daß in der Frage des know how die
ihrerseits den Vertrag nicht unterschrieben haben,
bisherige Kontrolle möglicherweise Schwächen hat;
und daß Lieferungen z. B. Frankreich oder China
aber nicht nur in dieser Frage, sondern besonders
vorbehalten bleiben. Für Frankreich hat Herr Berard
auch in der Frage der Kosten, auf die ich nachher
eindeutig und verbindlich erklärt, daß Frankreich
noch kommen will. Die bisherige Kontrolle nach
dies nicht tun werde. Auch der Hinweis auf Nieder-
IAEO geschieht ja so, daß einmal die Buchführung,
lassungsfreiheit und Wettbewerbsgleichhkeit zieht
zum anderen die Anlage — wie Sie, Herr Kollege
einfach nicht, weil, wie ich ja vorhin schon sagte,
Birrenbach, sagten — aber, was nun wirklich der
Frankreich hinsichtlich der friedlichen Nutzung in
kritische Punkt bei dieser Kontrolle ist, auch die
der Euratomkontrolle verbleibt. Es ist mir bisher
Pläne der Anlage kontrolliert werden können. Aber
nicht bekannt, ob China so attraktiv ist, daß Ab-
es ist doch unbestritten, daß gerade jetzt in der
wanderungen aus unserem Bereich erfolgen.
IAEO dieses Kontrollsystem neu überdacht wird;
neu überdacht deswegen, weil es sich in der Folge- Ich meine also, daß es gerade im Interesse und
zeit mit unendlich hohen Kosten darstellen wird. Es zum Nutzen unserer Wissenschaft und Wirtschaft
liegt also im Interesse der IAEO, diese Kontrolle wäre, wenn wir den Vorschlägen der Regierung
effektiver zu gestalten. Da ist erkennbar — auch folgten. Vorhin wurde schon angedeutet— Herr
das hat Herr Professor Leussink heute schon er- von Guttenberg sprach davon —, daß wir in der
wähnt —, daß nach den ersten Analysen gerade Zusammenarbeit in einer Gemeinschaft mit Holland
unser deutsches System, das bei der GfK in Karls- und Großbritannien neue Zentrifugen entwickeln.
ruhe in Entwicklung ist, immer mehr Anklang findet. Wir sind also nicht mehr ausschließlich auf den
Die IAEO wird gar nicht darum herumkommen, neue Lizenznachbau angewiesen. Wir haben ein Inter-
Kontrollsysteme einzuführen, weil sie dem Druck esse daran, zu exportieren und in den Kreis derer,
ihrer Mitglieder folgen muß, dem Druck, der sich die in diesem NV-Vertrag künftig zusammen-
ganz einfach aus der Kostenexpansion ergibt. geschlossen sind, einzutreten. Ich meine, es ist
doch entscheidend, daß wir aus der Ecke, in der
Damit komme ich zur Kostenfrage, die heute auch wir unser derzeit befinden und in die wir uns
von Herrn Kollegen Stoltenberg gestellt wurde. Sie möglicherweise selber begeben haben, herauskom-
wissen, in Abs. 6 der Präambel ist der Begriff der men, um mehr in die Mitte zu gleichen Partnern
„strategischen Punkte" oder der „Schlüsselpunkte" zu treten. Damit nutzen wir unserer Volkswirtschaft
definiert. Das sind also beispielsweise die Punkte: und dienen dem Ziel einer friedlichen Entwicklung
Eingang bei der Anlage, Produkt und Abfall. Diese und einer wirksamen Abrüstung.
Schlüsselpunkte können nach dem GfK-System auto-
(Beifall bei den Regierungsparteien.)
matisch überwacht werden, und dies schon zu einem
sehr frühen Zeitpunkt, wenn auch die Möglichkeit
d e r g a nzen Ko n trolle der Anlagen nach diesem GIN - Vizepräsident Dr. Schmid: Das Wort hat der
System sicher noch einige Jahre dauern wird. Aber Abgeordnete Wischnewski.
dadurch werden eben die Kosten in Grenzen gehal-
ten. Herr Kollege Flämig hat ja bereits erläutert, Wischnewski (SPD) : Herr Präsident! Meine sehr
daß die Kosten von der Gemeinschaft zu tragen sind, verehrten Damen und Herren! Wenn wir die De-
die Kosten, die 1 % der Stromerzeugungskosten für batte von heute morgen rückschauend betrachten,
den Gesamtbereich der Kontrolle betragen, die sich müssen wir feststellen, daß es nicht sehr viel neue
jedoch unterschiedlich darstellen im Brennstoffkreis, Argumente, die uns zu einer anderen Einstellung
wo — zugegeben — die Brennelementeindustrie mit bewegen könnten, gegeben hat. Ich möchte aller-
5 bis 10 % am höchsten durch Kosten der Kontrolle dings eins in aller Deutlichkeit sagen, ich sehe
belastet wäre, wenn diese nicht auf die Gemeinschaft einen gewissen Widerspruch zwischen dem, was der
umgelegt werden würden. Da, meine Damen und Kollege Dr. Barzel, und dem, was der Kollege von
358 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969

Wischnewski
Guttenberg gesagt hat. Der Kollege Dr. Barzel hat Freiherr von und zu Guttenberg (CDU/CSU) :
gesagt, von welch entscheidender Bedeutung das Stimmen Sir mir zu, Herr Kollege Wischnewski, daß
Recht für die deutsche Politik ist, und ich glaube, von allen 15 NATO-Staaten nur die Bundesrepublik
wir stimmen ihm alle zu. Wenn dem so ist, Herr das von mir vorhin beschriebene besondere Verhält-
Kollege Guttenberg, dann kann man mit den Formu- nis zur Sowjetunion hat?
lierungen und Auslegungen des Vertrages nicht so
leichtfertig umgehen, wie Sie das hier teilweise Wischnewski (SPD) : Ich darf in diesem Zusam-
getan haben. menhang in einigen Sätzen mehr folgendes sagen
(Oh-Rufe bei der CDU/CSU. — Weitere — und darin ist auch die Antwort auf Ihre Frage
Zurufe von der CDU/CSU: Wo denn? — enthalten —: die Bundesregierung hat in ihrer
Abg. Freiherr von und zu Guttenberg Regierungserklärung zum Atomsperrvertrag gesagt:
meldet sich zu einer Zwischenfrage.) Die Bundesregierung wird den Vertrag über
die Nichtverbreitung von Atomwaffen unter-
zeichnen, sobald entsprechend den Beschlüssen
Vizepräsident Dr. Schmid: Gestatten Sie eine
der letzten Bundesregierung die noch ausstehen-
Zwischenfrage?
den Klärungen herbeigeführt sind.
Die Bundesregierung — ich spreche jetzt von der
Wischnewski (SPD) : Herr Kollege von
- Gutten letzten Bundesregierung — hat den Katalog der noch
berg, ich will das auch gleich begründen. Sie haben ausstehenden Klärungen in ihrem Kabinettsbeschluß
von der Weiterentwicklung der Nuklearwissenschaft vom 13. August 1969 zusammengefaßt, und in der
gesprochen und gefragt, ob man das nicht ein- Großen Anfrage der CDU/CSU-Fraktion ist dieser
schränken könnte, obwohl Sie genau wissen, daß Kabinettsbeschluß vom 13. August auch ausdrücklich
sich der Vertrag ausschließlich mit Waffen und aufgeführt. Die neue Bundesregierung hat die Zwi-
Sprengkörpern beschäftigt. Das ist ganz ausschließ- schenzeit genutzt, um alle Fragen, die damals zur
lich und eindeutig so festgelegt. Debatte gestanden haben, insbesondere mit den Ver-
Sie haben — um ein Zweites zu nennen — von einigten Staaten zu klären. Und wenn ich die Ant-
einem Mitspracherecht der Sowjetunion in unseren wort der Bundesregierung richtig verstanden habe,
eigenen Verhältnissen gesprochen, obwohl Sie ge- werden wir in einer wichtigen Frage auch noch in
nau wissen, daß — wenn Sie die Kontrolle meinen den beiden zuständigen Ausschüssen eine entspre-
— erst durch die Vereinbarungen von Euratom und chende Auskunft erhalten.
Wiener Behörde diese Frage im Interesse der Bun-
desrepublik endgültig geregelt werden kann, um Vizepräsident Dr. Schmid: Gestatten Sie eine
zu verhindern, daß solche, die sich nicht selbst Zwischenfrage des Abgeordneten Stoltenberg?
kontrollieren lassen, bei uns kontrollieren können.
Lassen Sie mich eine für mich ganz entscheidende Dr. Stoltenberg (CDU/CSU): Ist Ihnen, wenn
Frage ansprechen. Herr Kollege von Guttenberg, Sie Sie den Kabinettsbeschluß zitieren, Herr Kollege
haben in besonders starkem Maße von unserer Wischnewski, nicht bekannt, daß in ihm vorgesehen
Sicherheit gesprochen und haben in diesem Zusam- war, eine gemeinsame Haltung der Mitgliedstaaten
menhang die Frage des Bündnisses angesprochen. der Europäischen Gemeinschaft zu den Einzelheiten
Für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland des Kontrollverfahrens vor der abschließenden Wür-
sind zwei Dinge von entscheidender Bedeutung: digung herbeizuführen, und entnehmen Sie nicht
erstens eine aktive Friedenspolitik und zweitens dieser Debatte, daß das bis zum heutigen Tage nicht
— wie Sie sehr richtig gesagt haben — das Bündnis. geschehen ist, so daß also Ihre Wertung insofern
falsch ist?
(Abg. Freiherr von und zu Guttenberg: Da (Beifall bei der CDU/CSU.)
habe ich den Bundeskanzler zitiert!)
Hier haben wir die Situation des Bündnisses zu be- Wischnewski (SPD) : Herr Kollege Dr. Stolten
trachten, Herr von Guttenberg. Von 15 Mitgliedern berg, ich bin Ihnen für diese Frage ganz besonders
dieses Bündnisses haben 12 den Vertrag in der dankbar.
Zwischenzeit unterzeichnet. Sie wissen genauso wie (Lachen bei der CDU/CSU.)
ich, daß Frankreich eine besondere Haltung ein- Eine Rücksprache mit Mitgliedern der Kommission
nimmt. Es bleiben zu dieser Stunde lediglich übrig
der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft — Sie ha-
die Bundesrepublik und Portugal. Ich möchte hier ben ja ohne weiteres die Möglichkeit, das zu tun —
in aller Deutlichkeit sagen, ich habe nicht den Ein-
wird auch Ihnen beweisen, daß durch unsere Haltung
druck, daß wir einen positiven Beitrag leisten, wenn
eine Reihe von entscheidenden Fragen als Vorberei-
wir uns innerhalb des Bündnisses noch lange in der
tung für die Einnahme einer gemeinsamen Haltung
augenblicklichen Situation befinden. bisher nicht geklärt werden konnte. Ich würde wirk-
lich empfehlen, daß Sie in dieser Frage mit den Mit-
Vizepräsident Dr. Schmid: Gestatten Sie eine gliedern der Kommission Rücksprache nehmen, die
Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Guttenberg? ausdrücklich sagen, daß wegen der Haltung der Bun-
desregierung in der Vorbereitung auf die notwendi-
gen Gespräche mit der Wiener Behörde bisher nur
Wischnewski (SPD) : Bitte, Herr Kollege von i einige wenige technische Fragen, nicht aber die
Guttenberg! entscheidenden Fragen geklärt werden konnten.
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969 359

Vizepräsident Dr. Schmid: Gestatten Sie eine noch geklärt werden müssen — in dieser Hinsicht
Zwischenfrage? stimmen wir ja völlig überein, daß noch ein paar
Probleme zu klären sind —, können erst eindeutig
geklärt werden, wenn die Bundesregierung ihre
Dr. Stoltenberg (CDU/CSU): Darf ich Sie darauf Unterschrift geleistet hat. Zwischen der Unter-
hinweisen, Herr Kollege Wischnewski, daß diese schriftsleistung und der Ratifizierung des Vertrages
Wertung in keiner Weise den Tatsachen entspricht, wird genügend Zeit sein, die Fragen, die noch der
weil die Bemühungen der Kommission, eine gemein- Klärung bedürfen und die erst dann geklärt werden
same Haltung der Mitgliedstaaten zu erreichen — können, auch endgültig zu klären. Mir scheint es
unabhängig von der Frage einer deutschen Unter- deshalb notwendig zu sein, daß die Bundesregie-
schrift , nicht an der Haltung der früheren oder rung dieses Abkommen bald unterschreibt, um in
jetzigen Bundesregierung gescheitert sind, sondern unserem eigenen Interesse die Zeit zwischen Unter-
an der Haltung anderer Mitgliedstaaten, die dies zu schriftsleistung und Ratifizierung so schnell wie
verantworten haben und nicht wir, so daß wir die möglich nutzen zu können.
Verantwortlichkeiten nicht verwischen sollten?
Herr Kollege Birrenbach — Herr Kollege Barzel
(Beifall bei der CDU/CSU.) hat es nachher erfreulicherweise ein wenig anders
dargestellt — hat zu dem Stellung genommen, was
unsere Kollegen alle gemeinsam bei der Inter-
Wischnewski (SPD) : Herr Kollege Dr.- Stolten-
parlamentarischen Union gemacht haben. Dazu las-
berg, bevor wir diese Debatte begannen, sind meine
sen Sie mich bitte noch ein Wort sagen, weil ich
politischen Freunde und ich darum bemüht gewesen,
nicht möchte, daß der Eindruck entsteht, daß die
in Brüssel den letzten Stand der dortigen Situation
Stellungnahme von Parlamentariern in solchen in-
zu klären. Dort ist auch von den Mitgliedern der
ternationalen Gremien wie der IPU hier vielleicht
Kommission, die aus der Bundesrepublik kommen,
nicht die notwendige Bedeutung haben. Die Frage
noch einmal eindeutig auf die Lage hingewiesen
wird bei der Interparlamentarischen Union schon
worden, wobei natürlich nicht gesagt worden ist,
langer als ein Jahr behandelt. Eine wichtige Ent-
daß die Schuld bei uns liegt. Die anderen — bis
scheidung ist bereits im Frühjahr dieses Jahres bei
auf Frankreich — haben in dieser Frage ihre Ent-
der Ratssitzung der Interparlamentarischen Union
scheidung bereits getroffen.
gefallen, als man zu diesen Fragen in bezug auf
Hier ist vorhin in der Debatte gesagt worden, daß Unterschrift u n d Ratifizierung schon Stellung ge-
die Gipfelkonferenz ein Anlaß dazu sein könnte, nommen hatte. Der Deutsche Bundestag ist dort
eine Reihe von Fragen in Vorbereitung der Ge- durch den Vorsitzenden des Auswärtigen Aus-
spräche zu klären, die zwischen Euratom und der schusses des Deutschen Bundestages in entscheiden-
Wiener Behörde stattzufinden haben. Dazu möchte dem Maße vertreten worden. Wir sollten daran
ich ausdrücklich sagen, daß das nur begrüßt werden denken, welche Haltung der Kollege Dr. Kopf in
kann und daß es ein besonders günstiger Anlaß dieser Frage eingenommen hat, wenn wir, verehrter
ist, dies jetzt zu tun. Herr Kollege Dr. Birrenbach, hier die Tätigkeit von
Parlamentariern in solchen Gremien beurteilen.
Alle Fragen, die in dem Kabinettsbeschluß vom
(Abg. Dr. Jaeger meldet sich zu einer Zwi
13. August behandelt waren, sind soweit sie mir
schenfrage.)
bekannt sind, mit der Beantwortung der Großen
Anfrage der CDU/CSU angesprochen, mit Ausnahme
dessen, was die Bundesregierung noch für die bei- Vizepräsident Dr. Schmid: Gestatten Sie eine
den Ausschüsse in dieser Frage vorgesehen hat. Zwischenfrage von Herrn Dr. Jaeger?
Ich möchte hier ausdrücklich feststellen, daß sich die
vorige Bundesregierung — das ist schon mehrere
Wischnewski (SPD): Das gilt nicht nur für die
Male gesagt worden —, in hervorragender Weise
Ratssitzung, sondern das gilt auch für die Plenar-
darum bemüht hat, den ursprünglichen Text zu ver-
sitzung, in der alle Kollegen dieses Hauses eine
bessern, und daß diese Bundesregierung in der
gemeinsame Haltung eingenommen haben und in
kurzen Zeit, die seit dem 13. August zur Verfügung
der die Frage der baldigen Unterschrift und der bal-
gestanden hat — nach der Regierungsbildung —
digen Ratifizierung angesprochen wurde. Ich
wesentliche Fragen insbesondere mit den Vereinig-
schneide diese Frage hier an, weil niemals der Ein-
ten Staaten geklärt hat. Ich darf hier auch ganz
druck entstehen darf, daß wir zu Hause eine an-
deutlich zum Ausdruck bringen, wir haben in den
dere Sprache führen als draußen. Das allerdings
Fragen, die mit unserem bedeutendsten Verbünde-
könnte der Bundesrepublik sehr schaden.
ten in der Zwischenzeit geklärt werden konnten —
ich nehme an, daß wir darin gänzlich übereinstim- (Beifall bei den Regierungsparteien.)
men —, völliges Vertrauen zu den Vereinigten
Staaten. Erst vor wenigen Tagen hat zwischen den
Vizepräsident Dr. Schmid: Das Wort hat der
Beauftragten der Bundesregierung und dem Außen-
Abgeordnete Stücklen.
minister der Vereinigten Staaten ein Gespräch statt-
gefunden, in dem die für uns wesentlichen Fragen
noch einmal ausdrücklich bestätigt worden sind. Aus Stücklen (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine
dieser Sicht gibt es in dieser Stunde keine Mög- sehr verehrten Damen und Herren! Für die Fraktion
lichkeiten, andere Fragen zu klären. Die Fragen, die der CDU/CSU gebe ich folgende Erklärung ab.
360 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969

Stücklen
Die Fraktion der CDU/CSU hält es vor einer ab- (Wuppertal), Rollmann, Orgaß, Dr. Probst,
schließenden Würdigung des Nichtverbreitungsver- Müller (Berlin), Wohlrabe und Genossen ein-
trages für erforderlich: gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
1. eine gemeinsame Haltung der Mitgliedstaa- rung des Wohngeldgesetzes
ten der europäischen Gemeinschaften in den — Drucksache VI/2
Einzelfragen der Rechtsstellung der Gemein- 4. Erste Beratung des von den Abgeordneten
schaften, der vollen Anerkennung des Eura- Geisenhofer, Dr. Riedl (München), Dr. Probst
tom-Kontrollsystems, der Vermeidung von und Genossen eingebrachten Entwurfs eines
Doppelkontrollen und der Beschränkung der Gesetzes zur Änderung des Wohnungsbin-
IAEO auf eine Verifikation der Ergebnisse dungsgesetzes 1965
herbeizuführen;
— Drucksache VI/3
2. die Unterstützung weiterer Länder für diese
Punkte zu gewinnen; 5. Erste Beratung des von den Abgeordneten
Geisenhofer, Dr. Riedl (München) und Ge-
3. die volle Gleichstellung der deutschen fried-
nossen eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
lichen Forschung und Industrie durch geeig-
über das Verbot der Zweckentfremdung von
nete Interpretationen und angemessene Ko-
Wohnraum
stenregelungen zu sichern;
— Drucksache VI/13
-
4. die Entscheidung der Bundesregierung über
die Unterzeichnung des Nichtverbreitungs- 6. Erste Beratung des von den Abgeordneten
vertrages nicht vor einer Ratifikation dieses Geisenhofer, Dr. Riedl (München) und Genos-
Vertrages durch die Sowjetunion zu fällen, sen eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
da erst dann sichergestellt werden kann, daß Gesetzes zur Änderung mietpreisrechtlicher
diese den amerikanischen Interpretationen Vorschriften
nicht widersprochen hat; — Drucksache VI/14
5. geeignete Schritte zu ergreifen, um auszu- 7. Erste Beratung des von den Abgeordneten
schließen, daß in den entscheidenden Punk- Geisenhofer, Dr. Riedl (München), Rollmann,
ten des Vertrages ein Dissens in der Inter- Orgaß und Genossen eingebrachen Entwurfs
pretation zwischen den Vereinigten Staaten eines Gesetzes zur Änderung mietrechtlicher
und der Sowjetunion entsteht; Vorschriften
6. die amerikanische Regierung zu bitten, die — Drucksache VI/15 —
Erklärung des Außenministers der Vereinig- Ich nehme an, daß zumindest die Punkte 3 bis 7
) ten Staaten vor den Vereinten Nationen einheitlich begründet werden. — Welche Punkte
vom 2. Oktober 1968 über die andauernde wollen Sie begründen?
Sicherheitsgarantie der USA durch die ame-
rikanische Regierung ausdrücklich zu wie- (Abg. Geisenhofer: Die Tagesordnungs
derholen; punkte 3, 4 und 6! Zu den Tagesordnungs
punkten 5 und 7 wird Herr Dr. Riedl
7. die Sowjetunion aufzufordern, in eindeuti-
sprechen!)
ger Form ohne Einschränkung die Anwen-
dung des Art. II der Charta der Vereinten — Sie wollen hintereinander sprechen? — Dann er-
Nationen im Gesamtbereich der Beziehun- teile ich Ihnen das Wort zur Begründung. Abgeord-
gen der Bundesrepublik zur Sowjetunion neter Geisenhofer!
anzuerkennen;
8. die europäische Option, insbesondere für de- Geisenhofer (CDU/CSU): Herr Präsident, ich
fensive europäische Kernwaffen, offenzuhal- bitte Sie, die Tagesordnungspunkte 3, 4 und 6 ge-
ten. meinsam behandeln zu dürfen. Es sind dies die
Wir legen Wert auf eine eingehende Beratung Drucksachen VI/2, VI/3 und VI/14.
dieser Fragen in den zuständigen Ausschüssen des Meine Damen und Herren, die Anliegen der von
Deutschen Bundestages. Wir fordern die Bundes- mir zu behandelnden drei Gesetzentwürfe sind be-
regierung auf, sich im Sinne dieser Erklärung zu reits in der 198. Sitzung des 5. Deutschen Bundes-
verhalten. tages zur Sprache gekommen. Was den Entwurf
(Beifall bei der CDU/CSU.) eines Gesetzes zur Änderung des Wohngeldgeset-
zes betrifft, darf ich annehmen, daß in diesem Hause
Vizepräsident Dr. Schmid: Ich habe keine Einigkeit darüber besteht, daß das Wohngeldgesetz
Wortmeldungen mehr. Niemand wünscht mehr das vom Jahre 1965 nun endlich den veränderten Ver-
Wort? — Dann ist dieser Punkt der Tagesordnung hältnissen angepaßt werden muß. Wir bedauern
erledigt. zutiefst, daß ein ähnlicher Vorschlag, den wir im
Nunmehr kommt eine Reihe von Punkten, die sich vergangenen Herbst im 5. Deutschen Bundestag
alle miteinander mit Wohngeld, Wohnungswesen, gemacht haben, im Ausschuß gescheitert ist.
Mietpreisvorschriften und Mietrechtsvorschriften be-
Ich darf auch annehmen, daß in diesem Hohen
fassen: Hause Übereinstimmung darüber besteht, daß die
3. Erste Beratung des von den Abgeordneten Mieten schneller und höher gestiegen sind als die
Geisenhofer, Dr. Riedl (München), Dr. Schmidt Einkommen, die Löhne und Gehälter. Gerade in den
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969 361
Geisenhofer
Großstädten, in den Millionenstädten tritt diese Mieten haben sich bei 4 DM pro Quadratmeter ein-
Diskrepanz deutlich und erschreckend zutage. gependelt. Im freifinanzierten Wohnungsbau werden
(Anhalte Unruhe.) bereits Mieten von 6, 7 und 8 DM verlangt. Das ist
einfach nicht tragbar.

Vizepräsident Dr. Schmid: Meine Damen und Eine rasche und fühlbare Erhöhung des Wohn-
Herren, ich bitte, Platz zu nehmen und allenfalls geldes ist auch deswegen notwendig, weil, wie wir
notwendige Privatgespräche draußen zu führen. glauben, selbst nach der Verabschiedung des
Städtebauförderungsgesetzes die Mietpreise nicht
sinken werden; wir sind schon froh, wenn sie nicht
Geisenhofer (CDU/CSU) : Um die Folgen dieser weiter steigen.
unguten Entwicklung zu beseitigen oder zumindest
Bei Annahme unseres Gesetzentwurfes kann auch
zu mildern, sieht der Antrag der CDU/CSU vor, daß
damit gerechnet werden, daß der Andrang auf Sozial-
in wesentlichen Bereichen Verbesserungen einge-
wohnungen nachläßt. Es werden nämlich die Mieter,
führt werden. Ich darf hier betonen, daß die ge-
die in freifinanzierte Wohnungen abgedrängt wer-
samte CDU/CSU-Fraktion einmütig hinter diesem
den und dort eine sehr hohe Mietbelastung überneh-
Gesetzentwurf zur Wohngelderhöhung steht.
men müssen, ihre Anträge auf Zuweisung von So-
Die Verbesserungsvorschläge betreffen im we- zialwohnungen zurücknehmen, wenn sie auch im
sentlichen folgende Positionen: 1. Erhöhung der- Ein- freifinanzierten Wohnungsbau ein erhöhtes Wohn-
kommensgrenze von 750 DM auf 900 DM, 2. eine geld bekommen. Umgekehrt kann damit gerechnet
lineare Senkung der Tragbarkeitssätze um 1 %, werden, daß Mieter von Sozialwohnungen, die bes-
3. die Erhöhung der Mietobergrenze im Althaus- sere Wohnungen im freifinanzierten Wohnungsbau
bereich und im freifinanzierten Wohnungsbau und anstreben, Sozialwohnungen freigeben.
4. die Erweiterung der zuschußfähigen Wohnflächen Über die Höhe der Kosten, die unser Gesetzesvor-
von 5 bis 10% vor allem bei kinderreichen Fami- schlag verursachen wird, können wir keine konkre-
lien. Um die Ungerechtigkeiten gegenüber kinder- ten Angaben machen. Ich darf aber in diesem Zu-
reichen Familien zu beseitigen und um dem Grund- sammenhang auf den zweiten Wohngeldbericht der
satz der Verwaltungsvereinfachung Rechnung zu Bundesregierung verweisen. Wir wissen, daß von
tragen, sieht unser Gesetzentwurf die Streichung 21 Millionen Haushaltungen in der Bundesrepublik
der Kappungsvorschrift des § 10 Abs. 2 vor. Ferner Deutschland ungefähr 700 000 Haushaltungen — das
ist vorgesehen, daß der Wohngeldversagungsgrund, sind rund 3 % — Wohngeld beziehen. Die Wohn-
der bisher schon bei 5000 DM Erspartem bestand, geldzuschüsse betragen ungefähr 511 Millionen DM.
erst bei Vermögensteuerpflichtigkeit eintritt. Selbst wenn die Kosten unserer Gesetzesvorlage den
Meine sehr verehrten Damen und Herren, unser Betrag von 200 Millionen DM übersteigen, müssen
Gesetzentwurf soll bewirken, daß einkommen wir um der sozialen Gerechtigkeit willen dazu ja
schwache Familien, Rentner, Pensionäre und Kinder- sagen, denn es geht hier darum, den hart bedräng-
reiche stärker als bisher in den Genuß des Wohn- ten Mietern in diesen Bereichen tatsächlich eine
geldes kommen. Vor allem sollen zukünftige Miet- Hilfe zu geben. Die ungerechtfertigten und unsozia-
erhöhungen durch unseren Gesetzentwurf die Rent- len Mietbelastungsquoten von jetzt 30, 40 und mehr
ner und Bezieher kleiner Einkommen nicht mehr Prozent müssen beseitigt werden. Aber auch die un-
treffen, weil das Wohngeld ihnen jegliche Erhö- berechtigten Mietvorteile — ich denke an die soge-
hung der Mieten abnimmt. nannten fehlbelegten Sozialwohnungen — müssen
Ferner wollen wir erreichen — und das ist erst- in diesem Hohen Hause einmal diskutiert werden,
malig —, daß auch Bezieher mittlerer Einkommen, und das Problem muß im Ausschuß angegangen
die in freifinanzierte Wohnungen mit hohen Miet- werden.
lasten abgedrängt sind, in den Genuß des Wohn- Unser Gesetzentwurf berücksichtigt weitgehend
geldes kommen. Es soll erreicht werden, daß für die Erfahrungen, die im zweiten Wohngeldbericht
eine dreiköpfige Familie, die heute bei einem Netto- niedergelegt sind. Im Ausschuß muß auch geprüft
einkommen von 1000 DM monatlich in München für werden, ob Empfänger von Sozialhilfe in das Wohn-
eine Wohnung von 75 bis 80 qm à 5 DM 400 DM geldgesetz einbezogen werden können.
Miete zu zahlen hat — mit Licht und Heizung sind Zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung
das insgesamt 500 DM—, diese Mietlast wesentlich des Wohnungsbindungsgesetzes 1965 — Druck-
gesenkt wird. Wegen dieser hohen Mietlast besteht sache VI/3 — kann ich mich kurz fassen. Dieser
in München in Tausenden von Familien große Ver- Gesetzentwurf ist mit keinen Kosten verbunden und
bitterung. Diese Mietbelastung ist einfach untragbar. beschränkt sich auf München. Damit wollen wir der
Wir wollen einen Tragbarkeitssatz von 21% errei- besonderen Wohnungssituation in München gerecht
chen. Dieser wäre zumutbar. In dem geschilderten werden. Es soll erreicht werden, daß das Amt für
Modellfall wäre das eine Monatsmiete von ungefähr Wohnungsfragen in München wieder mehr bei der
210 DM. Vergabe von Sozialwohnungen mitwirkt. Ferner soll
Der Einwand, daß durch die Erhöhung der Miet- erreicht werden, daß die Wohnrechtbescheinigung
obergrenzen die Hausbesitzer, also die Vermieter, nach § 5 des Wohnungsbindungsgesetzes nur dann
angereizt werden könnten, die Miete auf diese Höhe in München gilt, wenn sie beim Amt für soziale
anzuheben, ist nicht stichhaltig. Im Althauswoh- Wohnungsfragen ausgestellt ist. Damit wollen wir
nungsbau sind in München die Sechszimmerwoh- den stürmischen Andrang auf Sozialwohnungen wie-
nungen bereits von der Preisbindung frei, und die der einigermaßen in den Griff bekommen.
362 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969

Geisenhofer
Der letzte Gesetzentwurf, den ich zu begründen des Gesetzes bekommen sollen, sie auch noch er-
habe, betrifft das Zweite Gesetz zur Änderung miet halten und ob diese Hilfe ausreichend ist.
preisrechtlicher Vorschriften. Dieser Gesetzentwurf Die SPD-Bundestagsfraktion ist der Auffassung,
sieht eine Verlängerung der Preisbindung, die in daß das Wohngeldgesetz in seiner gegenwärtigen
München am 31. Dezember 1970 zu Ende ginge, für Form durch die Entwicklung der letzten Jahre über-
zwei Jahre über die Olympiade hinweg bis zum holt worden ist und daß wir es einer generellen
31. Dezember 1972 vor. Gleichzeitig soll den Vermie- Durchsicht und einer generellen Verbesserung unter-
tern, den Hausbesitzern, eine Anhebung der Mieten ziehen müssen. Wir haben diese unsere Absicht
um 10 % gestattet werden. auch bereits bei der Haushaltsplanberatung im März
In München sind Angebot und Nachfrage auf dem 1969 angekündigt.
Wohnungsmarkt nicht ausgeglichen. Vielmehr ste- Wir stehen also der Tendenz Ihres Antrags Druck
hen sie in krassem Widerspruch zueinander. Jährlich sache VI/2 mit Sympathie gegenüber, da er unsere
ziehen fast 40 000 Menschen zu. Nach der letzten Ankündigungen aufnimmt. Jedoch sind wir im Ge-
Wohnzählstatistik besteht in München ein Woh- gensatz zu Ihnen, Herr Kollege Geisenhofer, nicht
nungsfehlbestand von 19 000 Wohnungen. Das ist der Auffassung, daß es damit getan ist, die materiel-
ein rechnerisches Defizit von 4,5 °/o. Nach diesem len Leistungen des Gesetzes zu verbessern, sondern
Defizit müßte München eigentlich noch schwarzer wir meinen, daß das Gesetz gleichzeitig auch ver-
Kreis sein. Unser Gesetzentwurf sieht - nicht die einfacht werden muß. Sie werden sich vielleicht an
Rückkehr zur Wohnungszwangswirtschaft vor. Wir unsere Beratungen im Ausschuß erinnern und wer-
wollen aber durch die Preisbindung für weitere den wissen, wie wir gesucht und darum gerungen
zwei Jahre die Mieter vor Mißbrauch, vor überhöh- haben, jeder besonderen Situation, die eintreten
ten Mieten schützen. Andererseits wollen wir die könnte, größtmögliche Gerechtigkeit widerfahren zu
Hausbesitzer durch die 10%ige Erhöhung der Mie- lassen. Das hat das Gesetz nicht gerade einfach ge-
ten davor bewahren, daß ihr Althaus-Eigentum zer- macht. Wir haben dabei einem anderen berechtigten
fällt. Anliegen vielleicht nicht genügend Rechnung tra-
Diese Maßnahme wird auch deshalb notwendig, gen können: daß der Bürger schnell zu seinem Geld
weil sich der Wohnungsbedarf in München durch die kommen will. Wir werden also das Verfahren ver-
Olympiade stark erhöhen wird. Um Angebot und einfachen müssen, auch unter Inkaufnahme des Um-
Nachfrage auf dem Wohnungssektor wenigstens bis standes, daß dann vielleicht nicht jeder Einzelfall in
Ende 1972 ausgleichen zu können, bitten wir die letzter Perfektion vorgeregelt werden kann.
Bundesregierung, den Wohnungbau in München so
3) zu unterstützen, daß wenigstens 10 000 Sozialwoh- Vizepräsident Dr. Schmid: Gestatten Sie eine
nungen jährlich erstellt werden können. Zwischenfrage?
Ich schlage vor, die Gesetzentwürfe den zuständi-
gen Ausschüssen zu überweisen, und bitte um Ihre Dr. Czaja (CDU/CSU): Frau Kollegin, stimmen
Zustimmung. Sie mit mir darin überein, daß eine Vereinfachung
aber nicht zu einer Verschlechterung für ausge-
(Beifall bei der CDU/CSU.) sprochene Härtefälle führen darf?

Vizepräsident Dr. Schmid: Meine Damen und Frau Meermann (SPD) : Selbstverständlich, Herr
Herren, die Gesetzentwürfe, die jetzt begründet
Kollege. Wir entscheiden über diese Vereinfachun
worden sind, sind in der Tagesordnung als Punkte
gen ja auch nicht heute, sondern wie ich Sie kenne,
3, 4 und 6 aufgeführt. Ich eröffne jetzt die Aus- Herr Czaja, werden wir im Ausschuß noch lange
sprache zu diesen Punkten 3, 4 und 6. Diskussionen mit Ihnen darüber haben.
Das Wort hat Frau Meermann. Wir Sozialdemokraten haben deshalb im März
dieses Jahres vorgeschlagen — weil wir beides tun
Frau Meermann (SPD) : Herr Präsident! Meine müssen: das Gesetz materiell verbessern und es
sehr verehrten Herren und Damen! Ich möchte einige gleichzeitig praktikabler machen —, daß wir uns,
Anmerkungen zum Antrag Drucksache VI/2 machen, sobald der Bericht der vom Wohnungsbauminister
den der Herr Kollege Geisenhofer soeben begründet einberufenen Kommission zur Vereinfachung des
hat. Wohngeldgesetzes vorliegt, an diese Arbeit machen.
Herr Kollege Geisenhofer, wann immer dieses Das ist jetzt der Fall. Wir können nun eine um-
fassende und solide Arbeit leisten und können auch
Haus wohnungspolitische Debatten geführt hat und
die Erfahrungen der Länder und Gemeinden mit
wie unterschiedlich auch unsere Meinungen in Ein-
heranziehen.
zelfragen gewesen sein mochten, über eins waren
sich die Sprecher aller drei Fraktionen in den letz- Vielleicht haben einige Kollegen der CDU/CSU
ten Jahren eigentlich immer einig: daß das Wohn- ähnliche Überlegungen gehabt, nämlich die Kolle-
geld als ein ganz wichtiges Instrument fortschritt- gen, die den uns vorliegenden Antrag nicht unter-
licher Wohnungsbaupolitik erhalten bleiben muß. schrieben haben. Es muß doch auffallen, daß ein
Daher sind wir alle in diesem Hause verpflichtet, Antrag von bemerkenswert großer finanzieller
von Zeit zu Zeit zu untersuchen, ob bei veränderten Konsequenz von einer bemerkenswert kleinen
Einkommensverhältnissen, veränderten Baupreisen Gruppe unterschrieben worden ist. Persönlich
und veränderten Mieten die Menschen, die die Hilfe möchte ich meiner Freude darüber Ausdruck geben,
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969 363
Frau Meermann
daß aus diesem Antrag eine starke Anerkennung Mick (CDU/CSU) : Frau Kollegin Meermann, wa-
der sozialdemokratischen Wirtschafts- und Finanz- ren wir nicht gemeinsam der Meinung, daß wir mit
politik spricht. Denn es ist noch gar nicht so lange diesem völlig neuartigen Gesetz gemeinsam Erfah-
her — im Herbst 1966 —, daß der damalige Finanz- rungen sammeln müßten, um es dann laufend zu
minister, der der antragstellenden Gruppe, die im verbessern?
wesentlichen aus süddeutschen Gefilden kommt,
auch aus anderen Gründen nahesteht, der Auffas-
Frau Meermann (SPD) : Ja, Herr Kollege Mick.
sung war, daß er den Wohngeldempfängern eine
Ich habe auch ausdrücklich gesagt, daß ich mit der
ganz erhebliche Kürzung der staatlichen Hilfe zu-
Tendenz des Antrags einverstanden bin. Ich komme
muten müsse.
aber nun zu einigen Bedenken.
(Abg. Jacobi [Köln/Iserlohn] : Sehr gut!)
In dem Antrag sind einige Ungereimtheiten, Herr
Wir haben damals einige Mühe gehabt, dem Finanz- Kollege. Ich sehe z. B. eine offensichtliche Unge-
minister gegenüber durchzusetzen, daß am Wohn- reimtheit darin, daß Sie eine erhebliche Anhebung
geld nicht gerüttelt werden darf und daß das Wohn- der Mietobergrenzen für Altbauwohnungen in
geld seinen sicheren Platz in der Finanzplanung Städten mit über 1 Million Einwohnern vorsehen.
haben muß. Heute haben Sie einen nur sehr unzu- Das sind nur drei Städte in der Bundesrepublik:
reichenden Versuch gemacht, etwas zur finanziellen Berlin, Hamburg und München. In München gibt es
-
Seite Ihres Antrages zu sagen. Soweit ich unterrich- zur Zeit noch gebundene Mieten für Altbauwohnun
tet bin, hat der Herr Wohnungsbauminister Berech- gen. So liegt z. B. die gebundene Miete für eine Alt-
nungen anstellen lassen, nach denen der Antrag so, bauwohnung ohne Bad und Heizung der obersten
wie er vorliegt, etwa 500 Millionen DM jährlich für Ausstattungskategorie ich habe mich ausdrück-
Bund und Länder gemeinsam kosten wird. — Aber lich erkundigt — monatlich bei 1,98 DM pro qm. Sie
wahrscheinlich sind Sie der Auffassung, daß der möchten ja auch, daß das vorläufig so bleibt.
sozialdemokratische Finanzminister das schon ir- (Abg. Geisenhofer meldet sich zu einer
gendwie schaffen wird. Zwischenfrage.)
Wir werden uns im Ausschuß noch im einzelnen
über Ihre Vorschläge unterhalten und insbesondere — Ich möchte den Gedanken erst zu Ende führen. -
die Frage prüfen müssen, ob außer den generellen Sie haben nämlich in Ihrem Gesetzentwurf — Druck-
Verbesserungen für diejenigen Gruppen, für die sache VI/14 — vorgesehen, daß in München die ge-
Sie besondere Maßnahmen ins Auge gefaßt haben, bundenen Mieten erst ab 1. Januar 1971 um 10 %
vielleicht noch Wirksameres getan werden kann. Ich erhöht werden können. Wenn Sie aber in dem an-
denke hier vor allem an die Alleinstehenden in den deren Antrag eine Festlegung der Mietobergrenze
unteren Einkommensgruppen. 1968 lag das monat- für solche Wohnungen auf 3 DM verlangen, muß das
liche Einkommen bei über 40 % der alleinstehenden natürlich bei demjenigen Hausbesitzer, der nicht
Mietzuschußempfängern unter 300 DM. Dabei han- ständig mehrere Gesetze miteinander vergleicht, die
delt es sich im wesentlichen um alleinstehende Vorstellung erwecken, daß er eigentlich seine ge-
Frauen. Diese sind auch von der Wohnflächenbe- bundene Miete um über 50 % erhöhen könnte. Das
grenzung in besonderem Maße betroffen, weil sie führt aber zu einer Beunruhigung in Brennpunkten
häufig in größeren Wohnungen zurückbleiben und des Wohnungsbedarfs, und einen solchen stellt
geeignete kleine Wohnungen nicht in ausreichender München schließlich dar. Vor einer derartigen Be-
Zahl zur Verfügung stehen. Ich habe jetzt diese unruhigung wollen wir sowohl den Mieter als auch
den Vermieter schützen.
Gruppe herausgegrifffen, bin aber mit Ihnen der
Ansicht, daß wir z. B. auch die Wohngeldsituation
der jungen und kinderreichen Familien verbessern Vizepräsident Dr. Schmid: Eine Zwischen-
sollten. Sie haben dazu einige recht interessante frage!
Vorschläge gemacht.
Ich muß es mir versagen, auf- Ihre Vorschläge im Geisenhofer (CDU/CSU) : Frau Kollegin, darf
einzelnen einzugehen. Wir sind heute in der ersten ich fragen: Ist Ihnen nicht bekannt, daß es in Mün-
Lesung, und diese soll nicht allzu lang sein. Ich chen 30 000 Altbauwohnungen gibt, 6-Zimmer-Woh-
muß auch die Versuchung unterdrücken, auf alle nungen, die bereits frei, also nicht mehr preisge-
Forderungen einzugehen, die jetzt in Ihrem Antrag bunden sind und bei denen sich der Mietpreis bei
erscheinen und die Ihre Fraktion, als Sie die Re- 4 DM eingependelt hat, so daß eine Erhöhung über
gierung stellten, uns Sozialdemokraten abgelehnt die Obergrenze, die wir festlegen, hinaus gar nicht
hat. mehr möglich ist?
(Abg. Jacobi [Köln/Iserlohn] : Sehr richtig!)
(Abg. Jacobi [Köln/Iserlohn] : Das sollte nicht
Ich darf z. B. an die Kappungsvorschrift erinnern, legalisiert werden!)
die Sie jetzt beseitigen wollen. Auf Grund dieser
Kappungsvorschrift wird in der Tat oftmals mit der Frau Meermann (SPD) : Es ist ein Unterschied,
linken Hand ein Teil dessen wieder weggenommen, Herr Kollege, ob sich ein hoher Preis mißbräuchlich
was die rechte gewährt hat. so entwickelt hat oder ob wir ihn hier als etwas
Normales ansehen. Wir sollten im Gesetz eine miß-
Vizepräsident Dr. SChmid: Eine Zwischen- bräuchliche Entwicklung nicht nachträglich sanktio-
frage, Herr Abgeordneter Mick. nieren, wenn dadurch Anregung zu weiteren Miet-
364 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969

Frau Meermann
preiserhöhungen gegeben wird, die Sie ja ausdrück- Frist, die Sie vorgesehen haben. Es ist doch ganz
lich nicht wollen. klar, daß die Bevölkerungszunahme Münchens, die
in diesem Jahre eine Höhe von 50 000 erreichen
(Beifall bei der SPD.)
wird, bis zu den Olympischen Spielen und darüber
Ich kann durchaus verstehen, Herr Kollege, daß hinaus noch weiter ansteigen wird. Das heißt also,
Sie sich bei diesem Antrag etwas vom olympischen daß sich die Probleme in München verschärfen und
Eifer haben leiten lassen. Sie wollten schnell in die nicht entschärfen werden. Aus diesem Grund halten
Öffentlichkeit, und das verstehe ich. Aber in die- wir die Frist bis 1972, die Sie für die Verlängerung
sem Punkt und auch in einigen anderen hat Ihr der Mietpreisbindung vorgesehen haben, nicht für
Eifer der Gründlichkeit ein bißchen geschadet. Ich ausreichend, und wir werden unsererseits mit einem
habe bei der Lektüre an einen Ausspruch denken Antrag kommen, der über diese Frist hinausgeht.
müssen, den Fritz Reuter seinem Onkel Bräsig in Im übrigen werden wir einen Antrag vorlegen,
den Mund gelegt hat, nämlich: „In die Fixigkeit, der für die Münchner Mieter eine Reihe weiterer
da bist du mich über, aber in die Richtigkeit, da Verbesserungen vorsieht. Aber darauf kann heute
bin ich dich über." bei der ersten Lesung dieses Gruppenantrags nicht
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD.) eingegangen werden.
Wir werden bei der Behandlung dieser Gesetzes- Wir sind überdies 'der Meinung, 'daß es nicht gut
novelle beides tun müssen: bald und richtig novel- ist, wenn man die Frage des Schutzes des Mieters
lieren. bei der Umwandlung von Mietwohnungen in Ei-
gentumswohnungen nur für München regeln will.
Die SPD-Bundestagsfraktion stimmt der Ausschuß- Wir glauben, daß diese Sache bundeseinheitlich zu
überweisung zu. regeln ist, da die daraus resultierenden Schwierig-
(Beifall bei der SPD.) keiten kein Münchener Spezifikum sind.
(Abg. Jacobi [Köln/Iserlohn] : Sehr richtig!)
Vizepräsident Dr. Schmid: Meine Damen und
Als Münchener Abgeordneter möchte ich meinen
Herren, ich möchte nicht, daß eine Verwirrung ent-
kurzen Ausführungen noch folgendes hinzufügen.
steht. Wir haben die Punkte 3, 4 und 6 begründen
Wir hätten es sehr begrüßt, wenn Sie bereit gewe-
lassen; dazu hat Frau Meermann gesprochen. Will
sen wären, vor allen Dingen die Abgeordneten der
noch ein Mitglied des Hauses zu diesen drei Fra-
CSU, die in München wohnen, mit uns über diese
gen sprechen? — Herr Schmidt (München) !
Frage zu sprechen und nicht hier einen Antrag ein-
zureichen, der, wie aufgezeigt und wie die Kollegin
Schmidt (München) (SPD) : Herr Präsident! Meine Meermann schon ausgeführt hat, eine Reihe von
Damen und Herren! Die Wohnungssituation in Mün- Ungereimtheiten enthält und die Beseitigung der
chen macht es sicher erforderlich, daß in diesem Schwierigkeiten auf dem Münchener Wohnungs-
Hause schnell Abhilfe geschaffen wird. Aus diesem markt nicht erleichtert, sondern die Lösung dieser
Grund begrüßen wir es grundsätzlich, daß von einer Fragen noch erschwert. Aus diesem Grunde haben wir
kleinen Zahl von Abgeordneten der Fraktion der zwar nichts dagegen, daß die Anträge dem Aus-
CDU/CSU ein solcher Antrag eingebracht wurde. schuß überwiesen werden; wir hoffen aber im In-
Wir dürfen allerdings nicht vergessen, daß die teresse 'der Münchener Mieter, daß erheblich besse-
Situation, die in München entstanden ist, zum gro- re Vorschläge in diesem Hause angenommen wer-
ßen Teil darauf zurückzuführen ist, daß eben in den, als sie in dem vorgelegten Gruppenantrag ent-
diesem Hause von einem Minister, der Ihrer Frak- halten sind.
tion angehörte und als Abgeordneter angehört, und (Beifall bei der SPD.)
von dieser Fraktion selbst eine völlig falsche Poli-
tik betrieben worden ist.
Vizepräsident Dr. Schmid: Meine Damen und
(Beifall bei der SPD.) Herren, wir können dem Kollegen Schmidt (Mün-
chen) zu seiner Jungfernrede gratulieren und ihn
Es wäre allerdings erheblich besser gewesen, wenn
als Vorbild für freies- Sprechen nehmen; (Beifall)
viele der Unterzeichner dieses Antrags im Dezem-
oder sagen wir lieber: für Nichtablesen.
ber 1968 dem Antrag der SPD zugestimmt hätten,
den Mieterschutz in München zu verlängern. Dann Herr Abgeordneter Wurbs!
hätte es dieser Debatte heute meines Erachtens
nicht bedurft. Wurbs (FDP) : Herr Präsident! Meine sehr ge-
(Beifall bei der SPD.) ehrten Damen und Herren! Die CDU und Herr Kolle-
ge Geisenhofer hat ja ausdrücklich betont, daß es
Es ist keine Schande, wenn man einen politischen
sich bei diesen Gesetzentwürfen nicht um Abge-
Fehler wiedergutmachen will; im Gegenteil, es ehrt
ordnetenanträge oder Gruppenanträge, sondern um
diejenigen, die das tun. Aus diesem Grunde freuen
Gesetzentwürfe der gesamten CDU/CSU-Fraktion
wir uns über den Versuch, in diesem Antrag eine
handelt.
Lösung zu finden. Allerdings glaube ich, daß man
hier unterstreichen muß, was die Kollegin Meer- Diese Gesetzentwürfe, die hier zur Beratung an-
mann gesagt hat: dieser Antrag hat sehr unter der stehen, haben einen wohnungspolitischen Tatbe-
Eile gelitten, mit der er vorgelegt wurde. Das gilt stand zum Gegenstand. Es würde in der ersten Le-
nicht nur für die Frage des Wohngeldes. Es gilt sung zu weit gehen, wenn man auf die einzelnen
auch für die Frage der Mietpreisbindung und für die Vorlagen im Detail zu sprechen käme; aber gestat-
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969 365
Wurbs
ten Sie mir bitte, daß ich ein paar kurze Bemerkun- zuziehen. Ich bezweifle aber, ob durch diese Ge-
gen mache. setzesvorlage eine grundlegende Änderung der
Wohnungsmarktlage erreicht werden kann. Die von
Vizepräsident Dr. Schmid: Gestatten Sie eine der CDU/CSU eingebrachte Gesetzesvorlage löst bei
Zwischenfrage des Abgeordneten Geisenhofer? meinen Parteifreunden und mir Bedenken aus, denn
sie zielt ja auf die Wiedereinführung der Woh-
nungszwangswirtschaft ab, nachdem das Wohnungs-
Wurbs (FDP): Bitte schön!
bewirtschaftungsgesetz mit dem 31. Dezember 1968
ausgelaufen ist.
Geisenhofer (CDU/CSU) : Kollege Wurbs, Sie
haben mich wahrscheinlich mißverstanden. Ich habe
ausdrücklich gesagt, daß die Verbesserung des Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-

Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?


Wohngeldgesetzes einstimmig von der CDU/CSU-
Fraktion mitgetragen wird. Ich habe mich auf dieses
Gesetz bezogen. Wurbs (FDP) : Bitte schön!

Wurbs (FDP) : Gut; dann habe ich das mißver- Dr. Böhme (CDU/CSU) : Ist Ihnen bekannt, daß
standen. Es bezieht sich nur auf das Wohngeld- dieses Thema hier zur Zeit gar nicht zur Diskussion
gesetz. Ich bedanke mich. - steht, daß der Gesetzentwurf über das Verbot der
Zweckentfremdung von Wohnraum nicht aufgerufen
Ich darf zunächst zum Gesetzentwurf zur Än-
derung des Wohngeldgesetzes einige Anmerkungen ist?
machen. Ich glaube, das war eines der wichtigsten
sozialpolitischen Gesetze, die überhaupt vom Bun- Wurbs (FDP): Ich darf mir aber doch erlauben,
destag verabschiedet worden sind. Ziel dieses Ge- als Sprecher der FDP zu diesen Punkten einige An-
setzes war es, infolge der Freigabe der Mietpreis- merkungen zu machen. Sie werden Gelegenheit
bildung auftretende Härten im wesentlichen auszu- haben, nachher noch zu diesen Punkten Stellung zu
gleichen und darüber hinaus jeder Familie einen nehmen. Ich wollte es mir ersparen, ein paarmal
angemessenen Wohnraum zu schaffen. nach hier oben zu gehen, um auf Ihre Gesetzent-
würfe einzugehen. Ich glaube das doch in einem ab-
Alle drei Fraktionen haben in den einschlägigen handeln zu können.
Ausschußberatungen die Meinung vertreten, daß
dieses Gesetz an das derzeitige Preisniveau an- Noch ein Wort zur Änderung mietpreisrechtlicher
gepaßt werden sollte und daß es einer Novellierung Vorschriften. Es liegen drei Gesetzentwürfe vor —
bedürfe. Die Erfahrungen haben gezeigt, daß das ich möchte sie hier gleich zusammen behandeln —,
Gesetz sehr schwerfällig zu praktizieren ist und daß die im wesentlichen die Aussetzung und Verlänge-
neben der materiellen Verbesserung selbstverständ- rung der Schlußtermine für Berlin und München vor-
lich auch Verbesserungen der Verfahrensvorschrif- sehen. Sämtliche Entwürfe zielen darauf ab, die
ten erfolgen müßten. Mietpreisbindung über einen gewissen Zeitpunkt
hinaus — in diesem Falle über das Jahr 1972 hin-
Wir haben neben den soeben von mir angeführten aus — zu verlängern. Ich deutete ja eben schon an,
Punkten noch ein weiteres Anliegen: bei der No- daß sich München in einer besonderen Situation
vellierung des Gesetzes vor allen Dingen auch die befindet. Wir haben in den Ausschüssen noch ge-
Belange der Rentner und Sozialhilfeempfänger mehr nügend Zeit, die Probleme eingehend zu beraten.
zu berücksichtigen.
Wesentlich anders stellt sich für mich die Situation
Es ist das gute Recht der Opposition, Gesetz- Berlins dar. Die Mietpreisbindung läuft dort mit dem
entwürfe vorzulegen; aber es ist auch die Pflicht der Ende dieses Jahres aus. Es erscheint mir daher Eile
Regierung, sich über die finanziellen Auswirkungen geboten, das Gesetz noch rechtzeitig zu verabschie
und Konsequenzen klarzuwerden. den. Ich verkenne keineswegs die Schwierigkeiten
(Abg. Jacobi [Köln/Iserlohn]: Das ist selbst der betroffenen Städte. Ich gebe aber zu überlegen,
Pflicht der Opposition!) oh dem Wohnungsmarkt mit der Verlängerung der
Schlußtermine wesentlich geholfen wird und ob die
Wir werden sehr sorgfältig zu prüfen haben, ob die
Situation auf diese Weise wesentlich verbessert
finanzielle Lage es zuläßt, den zusätzlichen Finanz-
werden kann. Ich möchte hier die Anregung wieder-
bedarf, der sich in einer Größenordnung von etwa
holen, die ich bereits 1968 gegeben habe: In den
500 Millionen DM bewegt, in der mittelfristigen
betroffenen von mir angeführten Städten etwas
Finanzplanung zu berücksichtigen.
mehr über den verstärkten sozialen Wohnungsbau
(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Schmitt zu tun.
Vockenhausen.) Wir sollten uns bei der Beratung dieser Gesetz-
entwürfe auch überlegen, ob man nicht — wenn wir
Meine Damen und Herren, eine weitere Bemer-
diese Schlußtermine jetzt wieder verlängern — ein
kung zu dem Gesetzentwurf über das Verbot der
für allemal mit dieser Verlängerung einen Schluß
Zweckentfremdung von Wohnraum. Ich verkenne
strich unter diese Entwicklung setzen sollte.
keineswegs, daß sich München in einer besonderen
Situation befindet. Die letzten Statistiken, die ich Noch eine Schlußbemerkung zu einem weiteren
zu Rate gezogen habe, sagen aus, daß im Laufe Punkt, der heute abend zur Diskussion steht, und
eines Jahres etwa 50 000 Menschen nach München zwar zu den mietrechtlichen Vorschriften. Es geht im
366 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969
Wurbs
wesentlichen darum, § 565 BGB und §§ 721 und 794 a gegeben hat, überein, daß die Vereinfachung zu kei
ZPO zu ändern. Ich melde hier schon heute erheb- nen Verschlechterungen gerade für die einkommens-
liche Bedenken an, denn durch die Änderung dieser schwächsten Schichten führen darf?
Paragraphen scheint mir eine künftige Veräußerung
doch sehr erschwert zu werden, was auch auf die
Mobilität des Wohnungseigentums entsprechend Dr. Lauritzen, Bundesminister für Städtebau und
Einfluß haben würde. Ich glaube, die bisher gelten- Wohnungswesen: Herr Abgeordneter Czaja, wir
den Kündigungsfristen dürften — vor allem nach sehen in der Novelle einen wichtigen Schritt der
Modifizierung der Sozialklausel — in den hier in Sozialreform, d. h. nicht eine Verschlechterung, son-
Betracht kommenden Fällen ausreichen. Wir werden dern nach Möglichkeit eine Verbesserung der Lei-
uns vorbehalten, im Ausschuß ergänzende Anträge stungen des Gesetzes.
und Entwürfe vorzulegen und werden dazu bei- (Beifall bei der SPD.)
tragen, daß diese Gesetzentwürfe zügig bearbeitet
werden. Meine Damen und Herren, es wird in diesem Zu-
(Beifall bei der FDP.) sammenhang auch zu prüfen sein, wie für die Emp-
fänger von Sozialhilfe und Kriegsopferfürsorge eine
Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-
befriedigende Regelung gefunden werden kann. Ge-
Das Wort hat der Herr Bundeswohnungsbauminister. rade darüber hatten wir uns ja heute morgen in der
- Fragestunde unterhalten. Das gilt auch für die andere
Frage aus der Fragestunde von heute morgen, wie
Dr. Lauritzen, Bundesminister für Städtebau und die Mietbeihilfen für Jugendliche, die sich in der
Wohnungswesen: Herr Präsident! Meine sehr ver- Ausbildung befinden, namentlich auch für Studenten,
ehrten Damen und Herren! In seiner Regierungs- geregelt werden können. Dabei sollte nach meiner
erklärung vom 28. Oktober hat der Herr Bundes- Meinung entschieden werden, ob Mietbeihilfen zu
kanzler eine Verbesserung des Wohngeldgesetzes den Ausbildungskosten im Rahmen der Ausbildungs-
als eine wichtige Sozialreform bezeichnet. Zu einer förderung gehören oder ob Beihilfen im Rahmen des
solchen Reform gehören natürlich und sicherlich die Wohngeldgesetzes geleistet werden sollten. Neben
Prüfung und die Beratung der in der Drucksache VI/2 diesen materiellen Fragen steht gleichwertig die For-
behandelten Probleme. Für eine umfassende Novel- derung nach Vereinfachung, Verbilligung und vor
lierung des Wohngeldgesetzes, die von allen Frak- allen Dingen auch Beschleunigung des Wohngeld-
tionen des Hohen Hauses für notwendig gehalten verfahrens. Das Gesetz sollte daher eine Fassung
wird, reicht nach meiner Meinung die Vorlage aber erhalten, die den verstärkten Einsatz elektronischer
noch nicht ganz aus. Es geht doch darum, das Gesetz Datenverarbeitungsanlagen ermöglicht.
den veränderten Einkommens- und Mietverhältnis-
sen anzupassen und die unbilligen Härten zu besei- Meine Damen und Herren, für eine umfassende
tigen, die sich aus der bisherigen Handhabung des Novellierung des Wohngeldgesetzes, wie ich sie für
Gesetzes ergeben haben. Darüber hinaus muß die erforderlich halte, ergeben sich also noch viele Fra-
Novelle nach meiner Meinung durchgreifende Ver- gen, die in der Vorlage Drucksache VI/2 nicht be-
fahrenserleichterungen bringen und auch zu einer rücksichtigt worden sind. Deshalb brauchen wir eine
Senkung des erheblichen Verwaltungsaufwandes umfassende Vorlage, wie sie die Bundesregierung
beitragen. vorbereitet.
Ich habe deshalb eine Novelle zum Wohngeld- Nun noch einen besonderen Hinweis. Da ein sol-
gesetz vorbereiten lassen, die wir in Kürze mit den ches Gesetz der Zustimmung des Bundesrates be-
anderen Bundesressorts und den Ländern abstimmen darf und die Länder die Hälfte der Kosten aus die-
werden. Dabei wird insbesondere die Vereinfachung sem Gesetz zu tragen haben, sollte den Ländern auf
der Einkommensberechnung zu prüfen sein. Hierbei jeden Fall die Möglichkeit erhalten bleiben, bereits
werden die Berechnungsfaktoren besser konkreti- beim ersten Durchgang im Bundesrat dazu Stellung
siert und stärker pauschaliert werden müssen. Um nehmen zu können; denn auch der Bundestag wird
unbillige Härten zu vermeiden, geht es nicht nur um doch darauf Wert legen, die Stellungnahme des
die generelle Herabsetzung der sogenannten Trag- Bundesrates zu kennen, wenn er seine Beratungen
barkeitssätze, es geht vielmehr um gezielte Ver- beginnt.
besserungen bei den unteren Einkommensgruppen
und um eine Entschärfung der sogenannten Kap- Welche finanziellen Mehraufwendungen mit dem
pungsvorschrift. Auch die Vorschriften über die be- Antrag aus der Vorlage VI/2 verbunden sein wer-
nötigte Wohnfläche und über die Miet- und Be- den, dazu äußern sich die Antragsteller leider nicht.
lastungsobergrenzen müssen so zu neuen Grenz- Herr Abgeordneter Geisenhofer hat das ja aus-
werten kombiniert werden, daß dabei unbillige Här- drücklich bestätigt. Nach vorsichtigen Schätzungen
ten für die Mieter vermieden werden. in meinem Hause werden die für Bund und Länder
aus dieser Vorlage zu erwartenden Mehrausgaben
insgesamt etwa 500 Millionen DM betragen. Schon
Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-
daraus ergibt sich doch, daß eine Novelle zum
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wohngeldgesetz mit erheblichen finanziellen Mehr-
Czaja? — Bitte schön! aufwendungen verbunden ist, die im Rahmen der
mittelfristigen Finanzplanung abgesichert sein m ü s-
Dr. Czaja (CDU/CSU) : Herr Minister, stimmen sen. Davon hängt auch die Novellierung des Ge-
Sie mit der Antwort, die Frau Kollegin Meermann setzes ab.
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969 367
Bundesminister Dr. Lauritzen
Es sollte auch nicht Übersehen werden, daß zwi lichen Bedürfnissen unserer Bevölkerung ausgehen.
schen der Gewährung von Wohngeld, die man ge- Nach unserer Auffassung muß der Bau von Wohnun-
legentlich auch „Subjektförderung" nennt, und der gen für kinderreiche Familien, junge Ehepaare, alte
öffentlichen Förderung des Wohnungsbaus, „Objekt- und alleinstehende Menschen sowie körperlich Be-
förderung" genannt, wohnungspolitisch ein enger hinderte besondere Berücksichtigung finden. Die
Zusammenhang besteht. Auch darauf wird Rück- Bundesregierung wird dabei auch in Zukunft die
sicht zu nehmen sein. Denn über das Verhältnis Bildung von Eigentum für breite Bevölkerungs-
von Objekt- und Subjektförderung ist ja gerade in schichten durch die öffentliche Förderung von Eigen-
der letzten Zeit mit Recht lebhaft diskutiert worden. tumswohnungen und Eigenheimen nachdrücklich
Es ist bezeichnend, daß Herr Abgeordneter Geisen- unterstützen.
hofer in diesem Zusammenhang für München ein Wir werden für ein solches Wohnungsbaupro-
besonderes Wohnungsbauprogramm von jährlich gramm auch das Zweite Wohnungsbaugesetz ändern
10 000 Wohnungen gefordert hat. Auch hier besteht müssen, und wir sollten endlich, meine Damen und
also ein unmittelbarer Zusammenhang zu der Vor- Herren, von den starren Bindungen der langen
lage. Dringlichkeitskataloge wegkommen. Wir sollten die-
Lassen Sie mich deshalb darauf Bezug nehmen, ses System, das man gelegentlich — vielleicht etwas
daß der Bundeskanzler in seiner Regierungserklä- diskriminierend — „Töpfchenwirtschaft" genannt
rung angekündigt hat, daß wir ein langfristiges
- hat, verbessern; denn wir müssen zu einer gezielten
Wohnungsbauprogramm aufstellen und mit den Förderung gelangen, die an dem örtlichen Bedarf
Ländern abstimmen werden. Diese Wohnungsbau- ausgerichtet ist und nach den von mir genannten
programm geht davon aus, daß der Wohnungsbau subjektiven Bedarfskategorien flexibel gehandhabt
eine langfristige Aufgabe des Bundes bleiben wird, werden kann. Wir müssen auf jeden Fall aufpassen,
wie es der Jahreswirtschaftsbericht 1968 bereits mit daß wir nicht am Bedarf vorbeibauen. Deswegen
gebührendem Nachdruck betont hat. Dieses Pro- werden wir bei der Novellierung des Bundeswoh-
gramm muß sich an den Ergebnissen der Wohnungs- nungsbaugesetzes auch an eine Änderung der Ein-
zählung von 1968 orientieren und muß nach dem kommensgrenzen denken müssen.
Bedarf ausgerichtet sein. Schon die bisher vorliegen- Ich habe das ausgeführt, meine Damen und Her-
den Einzelergebnisse lassen doch erkennen, daß der ren, um deutlich zu machen, daß die Änderung des
Bedarf höher sein wird, als bisher angenommen Wohngeldgesetzes nicht für sich isoliert betrachtet
wurde. Ich kann im Grunde genommen nur das un- werden darf, sondern daß sie in unsere wohnungs-
terstreichen, was in der Begründung der Vorlage politischen, aber auch in unsere städtebaulichen Ge-
Drucksache VI/2 ausgeführt ist. Ich darf das mit samtvorstellungen einbezogen werden muß. Denn
Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident, kurz zitieren. Es alle diese Vorhaben, die doch mit finanziellen Auf-
heißt in der Begründung zu § 1 Nr. 8: wendungen verbunden sind, müssen im Rahmen
Vor allem in den Großstädten mit einer Million der mittelfristigen Finanzplanung abgesichert wer-
und mehr Einwohnern (Ballungsräume), aber den. Dabei dürfen wir natürlich auch das Städtebau-
auch in anderen Gebieten, entspricht das Ange- förderungsgesetz nicht vergessen, dessen Notwen-
bot an Wohnraum nach wie vor noch nicht dem digkeit ja alle drei Fraktionen dieses Hohen Hauses
vorhandenen Bedarf. wiederholt betont haben.

Ich hätte es allerdings sehr begrüßt, meine Damen Ich halte es für notwendig, auch in diesem Gesetz
und Herren, wenn diese Erkenntnis, die mit meiner einen finanziellen Rahmen der Bundesverpflichtung
Meinung völlig übereinstimmt, von den Antragstel- festzulegen, damit die Länder und Gemeinden sich
lern schon früher vertreten worden wäre. daran orientieren können und so die Möglichkeit
haben, über ihre Prioritäten rechtzeitig und richtig
(Beifall bei der SPD.) zu entscheiden. Weiter halte ich es für notwendig —
auch das gehört nach meiner Meinung in ein solches
Ich glaube, manches Gesetz wäre in diesem Hause Programm —, die Modernisierung und Instandhal-
dann anders ausgefallen, und wir hätten uns in der tung des Althausbesitzes künftig in verstärktem
Gesetzgebung vielleicht besser dem Bedarf anpassen Maße auch über den Rahmen des Städtebauförde-
können. Herr Abgeordneter Schmidt hat nach meiner rungsgesetzes hinaus zu fördern. Hier, meine Damen
Meinung mit Recht darauf hingewiesen. Es muß doch und Herren, möchte ich die wichtigsten Schwer-
das Ziel unserer Wohnungspolitik sein, eine Ver- punkte der zukünftigen Wohnungsbaupolitik sehen,
sorgung am Wohnungsmarkt zu erreichen, die es die doch alle miteinander in einem sehr engen Zu-
jedem Bürger ermöglicht, seine Wohnung frei wäh- sammenhang stehen. Das sollte bei der Beratung der
len zu können, eine Wohnung, die der Größe seiner Vorlage Drucksache VI/2 nicht außer acht gelassen
Familie angemessen ist. Durch entsprechende Ob- werden.
jekt- und Subjektförderung muß zudem sicherge-
stellt werden, daß auch einkommensschwache Mieter Sicherlich wird es sich empfehlen, die Beratung
die Miete für familiengerechte Wohnungen tragen dieser Vorlage im Ausschuß mit den Beratungen der
können. Deshalb ist es eine Aufgabe der öffentlichen angekündigten Regierungsvorlage zu verbinden.
Hand, den öffentlich geförderten Wohnungsbau ver- (Beifall bei den Regierungsparteien.)
stärkt und langfristig fortzusetzen.
Das Wohnungsbauprogramm muß daher von dem Vizepräsident Dr. Schmitt - Vockenhausen:
tatsächlichen örtlichen Bedarf und von den persön Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Gleissner.
368 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969

Dr. Gleissner (CDU/CSU) : Herr Präsident! nungssorgen von Hamburg und München zuein-
Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir, daß ander in ein Verhältnis setzt, dann stellt man auf
ich angesichts dieser Anträge einige Bemerkungen jeden Fall ein ganz großes Gefälle fest. Was zwei-
mache. tens die Statistik betrifft, so wollen wir die Hin-
Sie wissen, daß diese Anträge, so wie sie vorge- weise, die wir kurz vor den Wahlen erhalten haben,
tragen worden sind, mehr oder weniger — das muß daß die Statistik unter Umständen nicht in Ordnung
zugestanden werden — auf eine „Lex München" sei, ernst nehmen. Aber es muß doch erst ernstlich
hinauslaufen, weil wir alle miteinander, ganz gleich, geprüft und geklärt werden, ob es wirklich so ist,
wo wir stehen, um die Erscheinungen auf dem wie es vier Wochen vor den Wahlen hieß, als man
Gebiete des Wohnungsmarkts und um andere so- mit einer voreiligen Vorwegnahme von Zählergeb-
ziale Folgeerscheinungen der hektischen Expansion nissen Politik gemacht hat.
Münchens in Sorge sind. Aber, ich glaube, diese Darauf kommt es jetzt an.
Anträge sagen nichts zur Gesamtproblematik. Des-
wegen ist es richtig, daß wir diese Anträge nicht Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-

allein so stehenlassen. Ich habe selbst einige un- Herr Abgeordneter Dr. Gleissner, gestatten Sie eine
terschrieben. Ich möchte mir keinen Vorwurf machen Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Schmidt
lassen, die Nöte und Sorgen in der Stadt München (München)?
nicht genauso zu sehen wie diejenigen, die politisch
vielleicht anders denken. Aber es wurde - nichts Dr. Gleissner (CDU/CSU) : Bitte!
zur Gesamtproblematik im Raum München gesagt.
Es wurde nichts darüber gesagt, was eigentlich die
Ursachen der Münchener Misere, der ganz beson- Schmidt (München) (SPD) : Herr Dr. Gleissner,
deren Wohnungsnot in München, sind. können Sie vielleicht eine Stimme zitieren, die be-
stätigt, daß Paul Lücke im In- und Ausland für eine
(Zuruf von der SPD.) richtungsweisende und soziale Wohnungsbaupolitik
Lassen Sie mich dazu ein paar Bemerkungen ma- bekannt ist?
chen. Es ist erfreulich, daß die Antragsteller diese (Zurufe von der CDU/CSU.)
Situation nicht abstreiten, daß sie in einer Reihe von
Bemerkungen zum Ausdruck gebracht haben, daß Dr. Gleissner (CDU/CSU): Herr Schmidt, ich
hier eigentlich noch mehr dahintersteckt und daß kann Ihnen jetzt vom Pult weg weder Zeitschriften
vielleicht mit diesen Anträgen, so gut sie gemeint noch Zeitungen aufzählen. Aber ich habe Dutzende
sind, die eigentlichen Probleme, die in diesem solcher Stimmen in Zeitschriften gelesen, und ich
Raum bestehen, nicht gemeistert werden. werde mich bemühen, diese Stimmen beizubringen.
Es ist falsch, wenn man in diesem Zusammen- Darauf können Sie sich verlassen.
hang Herrn Lücke einen Vorwurf macht; denn man (Abg. Dr. Apel: Das war bestimmt im
kann nur sagen: Bundesminister Lücke ist nicht nur ,,Bayern-Kurier" !)
hier in der Bundesrepublik, sondern in Europa und
darüber hinaus durch eine Wohnungspolitik be- — Seien Sie dafür dankbar, gerade die Antragstel-
kannt, die fortschrittlich, modern und sozial war. ler, für die ich volles Verständnis habe — ich habe
die Anträge zum Teil mit unterstützt —, daß wir
(Beifall bei der CDU/CSU. — Lachen bei der die wahre Ursache nicht totschweigen, weil sonst
SPD.) bei den Mietern, bei den 80 000 Wohnungsuchenden
Wenn in Räumen wie München soziale Mißstände in München der Eindruck entsteht, als ob mit diesen
entstehen, dann sind es zum Teil, zumindest in die- Anträgen die Kalamität morgen oder übermorgen
ser Stadt, die ich überschaue, auch die Planungen, beseitigt würde. Gerade deswegen habe ich mich zu
die über das Maß des Möglichen sowohl der Stadt Wort gemeldet, weil zusätzlich zu diesen Anträgen
wie des Staates hinausgehen, wenigstens was das endlich das geschehen muß, was wir schon seit
Tempo betrifft. Jahren in der Bundesrepublik versprechen, nämlich
Raumordnungspolitik. In den Gutachten ist ganz
deutlich geschrieben, was zu tun ist. Da steht drin,
Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-
daß in Räumen wie München die Entwicklung zu
Herr Abgeordneter Dr. Gleissner, gestatten Sie
moderieren ist, um des angewachsenen Nachholbe-
eine Zwischenfrage des Kollegen Apel?
darfs Herr zu werden. Das ist der Kernsatz. Wir
werden das nie ganz erreichen. Aber wir müssen
Dr. Apel (SPD) : Herr Kollege, wie erklären Sie diese Leitlinie für unsere kommunale Entwicklung
sich dann die Tatsache, daß auch Hamburg, wo der zugrunde legen.
Zuzug nicht so gewaltig ist wie bei Ihnen, ent-
Bitte schön, Herr Kollege!
sprechende Probleme hat? Zweitens: Wie werden
Sie mit dem Problem fertig, daß die Statistiken bis
dato alle falsch waren und wir jetzt also zu ganz Ravens (SPD): Herr Kollege Gleissner, habe ich
neuen Zahlen kommen? Sie richtig verstanden: Wollen Sie einen „Visa
zwang" für München einführen?
Dr. Gleissner (CDU/CSU) : Es geht mir nicht
darum, Probleme, die verschiedene Gemeinden ha- Dr. Gleissner (CDU/CSU) : Kein Mensch führt
ben, zu verkleinern. Aber wenn man die Woh einen Visazwang ein, kein Mensch wird in München
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969 369
Dr. Gleissner
ein Zollhaus errichten wollen oder Stacheldraht zie- gebaut worden sind, daß wir in der Bundesrepublik
hen, wie es immer noch heißt, um München abzu- an der Spitze stehen, in der Zahl der Wohnungen
sperren. Aber es gäbe eines: in München nicht alles die wir je tausend Einwohner bereitstellen usw.,
zur gleichen Zeit zu tun, nämlich nicht in einem wenn Sie diese Ergebnisse alle zusammennehmen,
Jahr soundsoviel Arbeitsplätze zu schaffen, wenn müssen Sie sagen: Mehr kann man fast nicht mehr
man weiß, daß 10 000 Arbeitsplätze einfach 30 000, leisten, wenn man die Bauwirtschaft nicht überfor-
40 000 Zuziehende im Gefolge haben. Das wäre dern und die Baukosten und Bodenpreise nicht ver-
möglich. Das haben wir in der Hand. teuern will.
Aber diese Opfer und all die Hilfen waren mehr
Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen: oder weniger umsonst. Wir reden heute genau das
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage? gleiche, was wir vor fünf oder zehn Jahren gere-
det haben, hier und anderswo. Die Wohnungsnot
Dr. Gleissner (CDU/CSU) : Ja, bitte schön. bleibt uns erhalten, weil die einzige Ursache nicht
beim Namen genannt werden darf, nämlich der un-
gesteuerte, ungehemmte Zuzug, ob es um Industrie-
Ravens (SPD) : Habe ich Sie dann richtig verstan-
anlagen geht oder was es sonst an immer neuen
den, wenn ich annehme, daß Sie die Freizügigkeit
Projekten sein mag. Darauf müssen wir zu sprechen
der Unternehmer in der Bundesrepublik einschrän-
kommen.
ken wollen? -
(Abg. Folgen Sie laufen auch nicht mit dem
Dr. Gleissner (CDU/CSU) : Ich habe volles Ver- Grundgesetz unter dem Arm herum, Herr
ständnis, wenn der Unternehmer in Räume geht, die Dr. Gleissner!)
ihm materiell oder aus bestimmten Überlegungen — Das ist ein ganz falscher Einwurf. Das hat mit dem
ganz besonders liegen. Aber wir glauben, daß so- Grundgesetz nichts zu tun. Wir haben freien Zu-
wohl die Kommunen wie der Staat und die Öffent- zug. Aber wir haben auch das Bundesbaugesetz,
lichkeit eine Verantwortung haben, eine übergroße wir haben Raumordnungsgesetze, die ganz genau
Konzentration, besonders wenn man mit den Fol- sagen, welche Grenzen den Gemeinden gegeben
gelasten nicht fertig wird, zu verhindern, um auch sind. Wir haben kein Laissez-faire-Grundgesetz in
den strukturschwachen Gebieten das zukommen zu diesem Sinne, sondern wir haben Begrenzungen, an
lassen, was möglich ist. Das gilt nicht für alle Bran- die wir uns halten müssen, wenn die Raumordnung
chen, daß weiß ich; aber für viele gilt es. nicht eine Farce sein soll und wenn die Raumord
nung nicht von mächtigen Interessenten, vielleicht
Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen: auch einseitig gewerbesteuerlich interessierten Ge
Herr Kollege Dr. Gleissner, genehmigen Sie eine meinden, umgangen werden soll, wenn man die
weitere Zwischenfrage? Nachfolgelasten nicht real einkalkuliert.
Ich glaube, jene, die diese gegenwärtige Entwick-
Dr. Gleissner (CDU/CSU) : Ja, bitte schön. lung im Raum München für schicksalhaft oder fort-
schrittlich halten, irren. Sie sind nämlich in einer
Ravens (SPD) : Herr Kollege Gleissner, teilen Denkungsart festgefahren, die lautet: Es wird immer
Sie meine Auffassung, daß es eigentlich für Attrak- weiter investiert; als Folge davon wollen Tausende
tivität der Stadt München und für eine gute Politik, zuziehen, also müssen wir für Tausende Baugelände
die dort getrieben wird, spricht, daß so viele Unter- bereitstellen. Die wahre Alternative müßte nach
nehmer und so viele Menschen den Wunsch haben, meiner und meiner Freunde Meinung lauten — und
in dieser Stadt zu leben? darauf möchte ich hinaus —: das notwendige Bau-
gelände und die immer kostspieliger werdenden
Dr. Gleissner (CDU/CSU) : Wenn Sie das Lan- neuen Folgeeinrichtungen für Arbeitsplätze und
desarbeitsamt München oder Experten fragen, kön- neuen Zuzug von Tausenden können wir ohne
nen Sie einwandfrei feststellen, daß immer neue ernsten Schaden für die Allgemeinheit — ich möchte
Arbeitsplätze geschaffen und dann die Arbeitskräfte das unterstreichen: ohne ernsten Schaden für die
aus dem In- und Ausland angeworben werden. Ja, es Allgemeinheit — und für die bereits ansässige Be-
ist sogar so, daß Zuziehende, die von anderswo her völkerung nicht mehr bereitstellen, auf keinen Fall
abgeworben werden, Vergünstigungen bekommen in diesem Tempo.
— auch bei der Miete —, die der Ortsansässige nicht Frau Meermann hat mit Recht gesagt, man muß
hat. Dadurch entsteht die besondere Wohnungsnot Unruhen befürchten. Vertreter Münchens sprachen
Münchens. — Ich will das jetzt nicht vertiefen. ebenfalls von Unruhen, die angesichts der Woh-
nungsnot zu befürchten sind. Einige Wochen vor
Aber lassen Sie mich noch eine zweite Bemerkung
den Wahlen hat man sogar gesagt: Warum sind die
machen, die in Verbindung mit den Anträgen steht.
Mieter noch nicht auf die Straße gegangen? — Dann
Ich habe vor mir „Maßnahmen zur Verhinderung
sollte man aber die Expansion nicht stärker ein-
von Wohnungsnotständen in der Landeshauptstadt",
heizen und die Wohnungsnot verewigen!
den „München-Plan". Wenn ich Ihnen vorlesen wür-
de — ich tue es nicht —, was hier von der Stadt
München hochverantwortlich und mit großer Arbeit Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen:
geleistet worden ist, unterstützt vom Staat, wenn Herr Kollege Dr. Gleissner, erlauben Sie eine Zwi-
ich aufzähle, wieviel hunderttausend Wohnungen schenfrage des Kollegen Jacobi?
370 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969

Jacobi (Köln/Iserlohn) (SPD): Herr Kollege Dr. den Forderungen der Raumordnung Rechnung tragen
Gleissner, darf ich aus Ihren Bemerkungen über und Maßnahmen vermeiden, die den Zuzug und die
Baulandpreise und die damit verbundene Proble- Wohnungsnot geradezu anheizen. Ich habe vor mir
matik den Schluß ziehen, daß Sie bereit sind, an das neue Bauprojekt einer Großfirma. Ich habe vor
Maßnahmen gegen die Bodenspekulation stärker mir den Beschluß Münchens, nach dem ein Groß-
denn bisher mitzuwirken? unternehmen mit 20 000 Arbeitsplätzen — zunächst
(Zuruf von der CDU/CSU: Großunter 10 000, dann auf 20 000 ansteigend — durch „in der
nehmen!) gesetzlich zulässigen Weise" wie z. B. durch groß-
zügige Baugebietsausweisungen gefördert werden
soll. Man hat sogar bei der Staatsregierung den An-
Dr. Gleissner (CDU/CSU) : Darüber können wir trag auf Erlaß der Grunderwerbsteuer gestellt — am
uns unterhalten, wenn wir nicht falsche Vorwürfe 23. 6. 1969 —, was sonst wohl kaum andere Betriebe
machen. Herr Kollege Jacobi, Sie haben vollkom- bekommen. Man braucht sich dann nicht zu wundern
men recht, hier ist eine wichtige, aber auch schwie- über die Folgen. Maßgebliche Stellen des Staates
rige Problemstellung, bei der Sie meine Mithilfe und Organisationen der Bürger haben interveniert
haben werden. und darauf gedrungen, diesen Planungen nicht nach-
(Beifall bei der SPD.) zugeben, sondern sie mit Vorsicht zu überlegen, weil
die Folge ein Zuzug von 80 000 Menschen wäre, weil
Ich möchte noch ein Beispiel hinzufügen, ohne im Raum München bereits 37 203 Arbeitsplätze un-
-
jetzt diese Dinge ausführlich genug begründen zu besetzt sind, weil schon mehr als 80 000 Gastarbeiter
können; sie wären es wert, stärker beachtet zu in München wohnen und weil 80 000 Wohnungs-
werden. Die von der Stadt München ohne Kritik suchende zuerst eine Wohnung brauchen. Ich habe
und Widerstand übernommenen, umstrittenen und mich ebenfalls gegen diese Planungen gewandt. Das
maßlosen Planungs- und Entwicklungszahlen — ist — in der Auseinandersetzung um die Wohnungs-
Prognose-Gutachten August 1962 —, mit denen man not in München — eine konsequente Haltung. Ich
planerisch in Vorlage gegangen ist, mit denen man glaube, der Münchener hat recht, der in einer
trotz Wohnungsnöten — geradezu angereizt hat, Münchener Zeitung geschrieben hat:
haben sich in der Stadt und in den Landkreisen
explosionsartig ausgewirkt mit all den Folgen und Die bisherige Expansionspolitik Münchens
dem permanenten Baudruck, der entstanden ist. kommt geradezu dem Tatbestand eines sozialen
Vergehens gleich, dessen Auswirkungen, ins-
Ich stelle nun die Frage: worauf kommt es im besondere was die Wohnungsnot betrifft, an
Raum München an, worauf kommt es mir und mei- die ortsansässige Bevölkerung Münchens und
nen Freunden beim Abbau beziehungsweise bei der die umgebenden Landkreise weitergereicht wird.
) Milderung der Wohnungssorgen im Raum München Wer die wahren Ursachen der Wohnungsnot
an? Eine der Voraussetzungen ist — das ist die verschweigt und ablenkt, führt Mieter und die
Bitte um das Verständnis, das gerade in sozialer Öffentlichkeit irre und verewigt die Wohnungs-
Hinsicht erforderlich ist —, daß wir einsehen, daß not und die anderen sozialen Folgeerscheinun-
der Raum München nicht gleichzeitig — ich sage gen der Überentwicklung im Raume München.
das nicht vorwurfsvoll, ich weiß, daß die Dinge
nicht idealistisch, sondern realistisch darzustellen Meine Damen und Herren, ich habe das gesagt aus
sind — die belastenden Folgeerscheinungen der Liebe zu München und Oberbayern, aus Interesse an
bisher schon überhektischen Entwicklung meistern einer gesunden Politik und daran, daß München sein
und die kostspieligen und schwierigen Sanierungs- Gesicht nicht verliert und daß München diesen sozia-
aufgaben vom Ausbau der Massenverkehrsmittel len Notständen, die da sind, nicht nur durch diese
bis zur Beseitigung der Wohnungsnot und zur Ab- Gesetzesvorlagen, soweit sie vertretbar sind, son-
wassersanierung bewältigen kann, wenn die Zu- dern auch durch eine Raumordnungspolitik, wie wir
zugsentwicklung im Raum München im bisherigen sie hier im Hause beschlossen haben, Herr wird.
Umfang weitergeht. Die Entwicklung im Raum Mün- (Beifall bei der CDU/CSU.)
chen ist in den letzten Jahren — so sagen es doch
die Leute — ein Faß ohne Boden geworden, wenn
Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-
man zwar immer größere Staatshilfen einsetzt, wenn
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Müller
man rechtlich-politisch Ausnahmeregelungen — oft
(München).
zu Lasten anderer — zu erreichen sucht, aber nicht
gleichzeitig — ich wiederhole und unterstreiche es:
wie es die Raumordnungspolitik fordert — der Auf- Dr. Müller (München) (SPD) : Meine Damen und
blähung und Expansion in diesem Raum gewisse Herren! Haben Sie keine Angst, daß ich sehr lange
Grenzen setzt. Es sage mir niemand, daß die gesetz- zu den Münchener Problemen Stellung nehme. Ich
lichen Voraussetzungen dafür nicht vorhanden habe aber Lust und Liebe, einiges zurechtzurücken,
seien. was Sie, sehr verehrter Herr Kollege Gleissner, hier
gesagt haben.
Ich darf zusammenfassen. Meine Damen und Her-
ren, die Wohnungsnot nimmt kein Ende — das war Sie haben zunächst angedeutet — und Sie sind
vor einiger Zeit eine Überschrift in der „Süddeut- dafür als ein Meister bekannt —, daß wohl die
schen Zeitung" —, sie bleibt uns erhalten, wenn wir schlechte Kommunalpolitik in München, in der eine
nicht die Ursachen des Übels sehen wollen. Sie Partei die Mehrheit hat, der Sie nicht angehören,
bleibt uns erhalten, wenn wir in diesem Raum nicht schuld daran sei, daß eine solche Entwicklung statt-
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969 371
Dr. Müller (München)
findet. Da müßte man meiner Ansicht nach als erstes Dr. Müller (München) (SPD) : Auf diesen Zuzüg-
sehen, daß die Leute nicht gern in diesem Umfange ling wäre ich sowieso noch gekommen, weil ich ihn
in eine Stadt zuziehen würden, wenn dort eine vor kurzem als Wähler in meinem Wahlkreis begrü-
schlechte Politik gemacht würde. Man geht dorthin, ßen konnte.
wo eine gute Politik gemacht wird, man läßt sich dort (Abg. Köppler: Das ist aber ein Irrtum! —
nieder, wo man weiß, daß man für seine Interessen Weitere Zurufe von der CDU/CSU.)
Verständnis findet.
(Zurufe von der CDU/CSU: Schöne Land Vizepräsident Dr. Schmitt - Vockenhausen:
schaft!) Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine weitere
— Bitte, wenn Sie eine Zwischenfrage haben, dann Zwischenfrage des Kollegen Apel?
einigen Sie sich, wer.
Dr. Apel (SPD) : Herr Kollege Müller, können
Vizepräsident Dr. Schmitt - Vockenhausen: Sie mir zustimmen, wenn ich annehme, daß der Zu-
Es haben sich zwei Zwischenfrager gemeldet, als zug nach München auch darauf zurückzuführen ist,
erster der Kollege Ott. daß das bayerische Land ansonsten wirtschaftspoli-
tisch, aber auch kulturpolitisch unterentwickelt ist?
Ott (CDU/CSU) : Herr Kollege Dr. Müller, wür- (Lachen bei der CDU/CSU. — Abg. Köppler:
-
den Sie mir zustimmen, wenn ich behaupte, daß Herr Müller, die Antwort interessiert uns!
einen erheblichen Teil der Konjunkturpolitik in — Weitere Zurufe von der CDU/CSU.)
München wir alle gemeinsam durch unseren Beitrag
zur Olympiade mitbezahlen?
Dr. Müller (München) (SPD) : Lieber Herr Kol-
(Zustimmung bei der CDU/CSU.) lege Apel, das stimmt nicht, daß Bayern unterent-
wichelt ist.
Dr. Müller (München) (SPD) : Wir sind noch (Lachen und Beifall bei der CDU/CSU.)
nicht im olympischen Wettbewerb. Aber wenn wir
über Konjunkturpolitik reden, müßte, glaube ich, — Moment, jetzt klatschen Sie nicht mehr: Unter-
mehr der dafür zuständige Wirtschaftsminister etwas entwickelt ist die Regierung, die wir in Bayern
dazu sagen, der gerade von Ihrer Partei in Bayern haben.
im Wahlkampf wegen seiner Konjunkturpolitik so (Heiterkeit und Beifall bei der SPD.)
schlecht behandelt wurde.
(Abg. Ott: Der ist doch nicht an der Olym Vizepräsident Dr. Schmitt - Vockenhausen:
piade schuld!) Herr Kollege Dr. Müller, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Dr. Gleissner?
Vizepräsident Dr. Schmitt - Vockenhausen:
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine weitere Zwi- Dr. Müller (München) (SPD) : Bitte, gern!
schenfrage des Kollegen Rollmann?
Dr. Gleissner (CDU/CSU) : Herr Dr. Müller, darf
Rollmann (CDU/CSU): Herr Kollege Müller, ich Sie bitten, daß Sie — weil Sie ja als guter Bayer
können Sie sich vorstellen, daß man vielleicht auch gelten wollen, worüber ich mich sehr freue — den
aus anderen Gründen als wegen der Kommunal- Vorwurf, Bayern sei mit Ausnahme von München
politik von Herrn Vogel und der SPD nach München unterentwickelt, noch deutlicher zurückweisen? Und
zieht? darf ich noch eine zweite Frage stellen?

Dr. Müller (München) (SPD) : Ja sicher! Aber Dr. Müller (München) (SPD) : Dann muß ich aber
man zieht sicher nicht nach München, wenn dort eine gleich dazu sagen, Herr Kollege Gleissner: zu dem
schlechte Kommunalpolitik gemacht wird, wenn es stehe ich auch.
einem dort wesentlich schlechter geht.
(Lachen und Zurufe von der CDU/CSU.) Dr. Gleissner (CDU/CSU) : Aber bitte. Gut.
Ein Zweites, Herr Dr. Müller. Es ist einwandfrei
Vizepräsident Dr. Schmitt - Vockenhausen: nachzuweisen — —
Herr Abgeordneter Dr. Müller, gestatten Sie jetzt (Zurufe: Frage!)
eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schmidt
(München) ? — ist es nicht einwandfrei nachzuweisen, Herr. Dr.
Müller, daß mit Ausnahme von Pensionären und
Schmidt (München) (SPD) : Herr Dr. Müller, ist Witwen der Zuzug nach München eine Funktion der
Ihnen bekannt, daß wir in München einen sehr pro- Ausbringung von Arbeitsplätzen ist? Das steht doch
minenten Zuzügling haben, der deswegen zugezogen überall fest. Das ist doch nachzuweisen. Das steht in
ist, weil seine Kinder dort eine hervorragende Gutachten und Enqueten. Zuerst wird die Planung
Schulausbildung genießen können im Gegensatz zu gemacht, dann komt die Folge, der Zuzug.
Rott am Inn, wo dieser prominente Zuzügling her-
stammt, und daß es sich dabei um Franz Josef Strauß Dr. Müller (München) (SPD) : Herr Kollege
handelt? Gleissner, ich gehe gleich noch auf Ihre Frage ein.
(Lachen und Zurufe von der CDU/CSU.) Das stand sowieso auf meinem Spickzettel; denn
372 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969

Dr. Müller (München)


Sie gehen hier immer von Tatsachenbehauptungen sie dort Gelegenheit haben, Arbeit zu finden. Die
aus, die in Wirklichkeit gar nicht stimmen. Vor Strukturpolitik der bayerischen Landesregierung
kurzem hat einer Ihrer Kollegen draußen außerhalb trägt leider nicht dazu bei, daß dieser Zuzug ge-
des Bundestages erklärt, daß die Probleme Mün- stoppt wird und daß man das Grenzlandgebiet Nie-
chens dadurch entstünden — was Sie vorhin auch derbayern, Oberpfalz und Oberfranken mehr indu-
andeuteten —, daß so viele neue Arbeitsplätze striell fördert, damit dort Industrieansiedlung er-
geschaffen würden. Nun habe ich mich gewundert, folgt.
wie es in Ihrer Fraktion Leute gibt, die weder die (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zurufe
Raumordnungsberichte noch den Bericht des Bundes- von der CDU/CSU.)
arbeitsministeriums zur Standortwahl der Industrie-
betriebe in der Bundesrepublik lesen, wo sie lesen Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-

können, daß von allen Ballungsräumen in der Bun- Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
desrepublik der Ballungsraum München den gering- Ott? — Bitte.
sten Ansiedlungsgrad bei neu zuziehenden Betrie-
ben hat. Das ist richtig. Die Tatsache, daß mehr
Ott (CDU/CSU) : Herr Kollege Dr. Müller, ist
Arbeitsplätze in München entstehen, kommt daher,
Ihnen bekannt, daß ein Teil der Leistungsfähigkeit
daß sich die Münchener Industrie gut entwickelt,
der Landeshauptstadt München daher kommt, daß
und das können Sie nicht verhindern, es sei denn,
alle bayerischen Bürger das Leben in München da-
Sie wollten bewußt eine Rezession in der Bundes-
durch angenehm machen, daß sie mit ihren Steuer-
republik herbeiführen.
geldern in München sowohl Universitätskliniken als
(Widerspruch bei der CDU/CSU.) auch Staatstheater, Krankenhäuser und Schulen fi-
Um das ganz klar zu sagen. nanzieren?

(Abg. Rollmann: Das wollen wir nicht!)


Dr. Müller (München) (SPD) : Herr Kollege Ott,
Nach dem Bericht zur Standortwahl — Herr der Herr Bürgermeister der Landeshauptstadt und
Kollege Köppler nickt mit dem Kopf; er kennt den der Stadtrat der Landeshauptstadt München erken-
Bericht sicher — ist es so, daß sich die Großbetriebe nen gerne an, daß die bayerischen Steuerzahler
nicht in München niederlassen, sondern daß sie in etwas dazu beitragen. Aber ich hoffe auch, daß die
andere Ballungszentren ziehen. Das, was Sie, Herr Bevölkerung außerhalb Münchens anerkennt, daß in
Kollege Gleissner, immer wieder auf Versammlun- den Münchener Krankenhäusern der Stadt zu einem
gen im bayerischen Oberland behaupten, wo die sehr hohen Prozentsatz Leute liegen, die bis aus dem
Haberfeldtreiber gegen München zusammenkom- Bayerischen Wald nach München gebracht werden,
men, entspricht leider nicht den Tatsachen. weil man im Bayerischen Wald noch nicht die ent-
sprechenden Krankenhäuser hat, die dort notwendig
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD. — Abg. wären.
Ott meldet sich zu einer Zwischenfrage.)
(Beifall bei der SPD.— Zurufe von der Mitte.)
— Einen kleinen Moment, lassen Sie mich den
Gedanken zu Ende führen. Lassen Sie mich noch eine Bemerkung zu der
Zweigleisigkeit Ihrer Argumentation machen. Ich
Das, was Sie auch noch anführen, nämlich daß las hier in diesem Hause die Frage eines verehrten
eine voreilige Prognostik in München, eine Stadt- Herrn Kollegen aus München, der die Bundesregie-
planung, die in die Zukunft schaut, sozusagen den rung fragte, wann die Bundesregierung endlich ge-
Zuzug hereinholt, kann nicht richtig sein. Eine Vor- nügend Mittel bereitstelle, um Dienstwohnungen in
ausschau ist in der Politik einfach notwendig. Ich München zu bauen und ein europäisches Patentamt
lese immer mit großer Befriedigung jene Teile im nach München zu bringen. Das ist populär, so zu
„Bayernkurier", wo steht, daß sich Bayern zu dem fragen für die im Patentamt. Dann kommt der Kollege
Kalifornien der Bundesrepublik entwickelt, wo sich Gleissner und spricht gegen die bösen Sozialdemo-
die moderne Wachstumsindustrie niederläßt. kraten, die immer alles nach München holen wol-
(Beifall bei der CDU/CSU. — Zuruf von der len, — um das mal ganz klar und deutlich zu sagen.
CDU/CSU. Also doch nicht unterentwickelt!) Ein zweites Beispiel: Es gab in dieser Bundesrepu-
In Ihrer Haus- und Provinzgazette „Bayernkurier" blik einen Bundeslandwirtschaftsminister Ihrer Frak-
tion, der wollte die Fleischforschungsanstalt aus
wird begrüßt, daß Bayern Industrie anzieht, und bei
den Versammlungen auf dem Lande draußen wird Kulmbach nach München verlegen. Es waren die
Münchener Abgeordneten der SPD-Fraktion, die zu-
erklärt
sammen mit anderen hier einen Antrag eingebracht
(Zuruf von der Mitte)
haben, in dem die Bundesregierung gebeten wird,
— Moment, ich komme gleich darauf —, daß Mün- die Fleischforschungsanstalt in Kulmbach zu lassen,
chen einen solchen Wasserkopf bildet und alles an weil dort ein Beitrag zur Strukturpolitik und zur Er-
sich zieht. haltung von Arbeitsplätzen geleistet werden kann,
(Abg. Ott: Stimmt doch! Wollen Sie und sie nicht nach München zu holen. Das ist Tat-
widersprechen?) sache, die Propaganda draußen sieht anders aus.

— Kollege Ott, zwei Beispiele. Warum ziehen die (Beifall bei der SPD.)
Leute nach München? Warum suchen sie Arbeits- Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-

plätze in München? Warum gehen Sie dorthin? Weil Herr Kollege Dr. Müller, gestatten Sie eine Frage?
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969 373

Dr. Gleissner (CDU/CSU) : Lieber Herr Kollege sich mir die Frage, ob man da nicht in der Struktur-,
Dr. Müller, Sie dürften ja wissen: die Forschungs- in der Kulturpolitik in Bayern einiges ändern
anstalt Kulmbach ist ein kleiner Fisch mit einem könnte.
geringen Personalbestand. Ein zweites, Herr Kol- (Zustimmung bei der SPD. — Zurufe von
lege Dr. Müller: Sie dürften auch wissen — und ich der CDU/CSU.)
bitte Sie, das anzuerkennen —, daß ich in dieser
Auseinandersetzung den Mut habe, seit Jahren nicht Ich habe nichts dagegen, daß der Herr Kollege
nur der anderen Seite die Wahrheit zu sagen, son- Strauß hierher nach München zieht. Wenn ich ihn
dern dies auch in den eigenen Reihen tue, und zwar wieder sehe, werde ich ihm sagen, daß er auch zu
ganz deutlich und vernehmlich. den Bösen gehört — von Herrn Gleissner zitiert —,
die in München einen Arbeitsplatz gesucht haben.
Ich bin froh, wenn Kollege Strauß seinen Arbeits-
Dr. Müller (München) (SPD) : Herr Kollege
Gleissner, kleine Fische machen natürlich auch ein platz außerhalb Münchens hat und nicht in München.
großes Netz, das dann gefüllt ist. Man muß an sol- (Heiterkeit und Beifall bei der SPD.)
chen Beispielen zeigen, wie die Tendenz ist. Ich
kann einem Privatunternehmer — das hat Ihnen
Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-
vorhin eine Zwischenfrage schon gezeigt — nicht Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Riedl:
verbieten — Grundgesetz! —, daß er sich -in Mün-
chen niederläßt. Aber ich kann bei einer Regierung
den Antrag stellen, daß sie in ihrer Politik anders Dr. Riedl (München) (CDU/CSU) : Herr Präsident!
verfährt. Das ist auch ein erheblicher Unterschied, Meine Damen und Herren! Ich bedauere eigentlich
den man hier sehen muß. als einer der Antragsteller dieser wohnungspoliti-
schen Anträge, daß — Herr Kollege Dorn, jetzt
Lassen Sie mich zum Schluß kommen; ich habe befinden wir uns einmal ausnahmsweise in Über-
versprochen, nicht lange über diese Münchener einstimmung; ich verwerte jetzt einen Zwischenruf
Probleme hier zu sprechen. von Ihnen — die Diskussion zur Wohnungssituation
(Lachen bei der CDU/CSU. — Abg. Roll in München derart abgeglitten ist.
mann: Dafür war es aber lang!) (Beifall bei der CDU/CSU.)
— Ja, Ihre Zwischenfragen, Kollege Rollmann, mußte Herr Kollege Müller, das, was Sie hier ausge-
ich ja auch mit einkalkulieren, weil Sie offensicht- führt haben, entspricht genau dem, was ich von
lich auch zu denen gehören, die vielleicht nach Mün- Ihnen im Wahlkampf auf von Ihnen fabrizierten
chen ziehen wollen, aber nicht aus den Gründen, Flugzetteln gelesen habe.
die ich vorher genannt habe. (Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von
(Abg. Ott: München, München über alles!) der SPD.)
Aber eine Bemerkung, Herr Kollege Ott, und das
ist die Schlußbemerkung! Erstens ist es nicht richtig
Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfra-


— das war vorhin Ihre Frage —, daß in erster Linie
ge?
junge Leute als Arbeitskräfte nach München ziehen,
sondern der Bevölkerungszuwachs in München —
besorgen Sie sich bitte einmal die Unterlagen beim Dr. Riedl (München) (CDU/CSU) : Bitte sehr!
Statistischen Amt — ist in erster Linie bei den
Über-65-Jährigen. Das sind all die Leute, die Mün- Dr. Müller (München) (SPD) : Herr Kollege Riedl,
chen als ihren Alterssitz gewählt haben, die aus darf ich Sie fragen, ob Ihnen schon bekannt ist, daß
Norddeutschland — das zitiert immer der Herr der Wahlkampf beendet ist.
Gleissner — nach Süddeutschland kommen. Wir
freuen uns darüber, daß sie kommen. Wir freuen Dr. Riedl (München) (CDU/CSU) : Herr Müller,
uns über den Kollegen Rollmann, wenn er kommt. genau diese Frage habe ich Ihnen zu stellen. Die
Wir freuen uns über andere. müssen Sie mir beantworten. Und eines muß ich
(Lachen und anhaltende Unruhe in der auch mit aller Entschiedenheit zurückweisen, daß
Mitte. — Allgemeine Heiterkeit.) Sie nämlich die bayerische Staatsregierung trotz
ihrer national und international anerkannten Lei-
Wir können das selbstverständlich nicht verhindern. stungen derart attackiert haben.
Der Kollege Schmidt hat midi vorhin gefragt, wie (Beifall bei der CDU/CSU. —Oh-Rufe bei
ich dazu stehe, daß ein prominenter Mann Ihrer der SPD. — Abg. Dr. Müller [München] : In
Partei nach München zugezogen ist. Ich freue mich der Außenpolitik, in „South Carolina"!)
über diesen Zuzug. Mein Wahlkreis ist dadurch — Herr Dr. Müller, daß es Ihnen nicht paßt, daß
der Wahlkreis geworden, der die meisten CSU- im Gebiet von Ingolstadt eine derart geglückte In-
Bundestagsabgeordneten hat, — als Bewohner, nicht dustrieansiedlung vollzogen worden ist, kann ich
etwa in der Wahl. Ich freue mich darüber. Aber ich mir natürlich gut vorstellen.
muß natürlich eines sagen. Wenn der Herr Kollege
Strauß, um den es sich hier handelt, erklärt, er (Beifall bei der CDU/CCU.)
gehe von Rott am Inn nach München, damit seine Daß wir in Bayern mit den schwierigen Struktur-
Kinder eine anständige Ausbildung bekommen, stellt problemen fertig werden, Herr Kollege Müller, paßt
374 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969

Dr. Riedl (München)


-terschreiben, und ich lese dann am Freitagabend, als
Ihnen im Hinblick auf die kommende Landtagswahl
sicher auch nicht. ich von Bonn zurück nach München kam, in der
Zeitung über Ihre Absichten,
(Erneuter Beifall bei der CDU/CSU.)
(Hört! Hört! bei der CDU/CSU)
Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-
und Sie verlangen dann von uns, daß wir mitmachen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Ich bin zwar, Herr Kollege Schmidt, absoluter Neu-
Abgeordneten Corterier? ling in diesem Hause.
(Zuruf von der SPD: Das merkt man!)
Corterier (SPD) : Herr Kollege Dr. Riedl, darf
ich Sie fragen, ob Sie in diese „nationale und inter- Trotzdem bin ich der Meinung, daß das parlamen-
nationale Anerkennung" der Leistungen der baye- tarischem und politischem Stil eindeutig wider-
rischen Staatsregierung auch die Leistung des Kul- spricht.
tusministers Dr. Huber einschließen. (Beifall bei der CDU/CSU.)
(Heiterkeit und Beifall bei den Regierungs
parteien.) Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-

Herr Kollege, bitte schön!

Dr. Riedl (München) (CDU/CSU) : Herr - Kollege


Corterier, darf ich Ihnen im Rahmen unseres The- Schmidt (München) (SPD) : Herr Dr. Riedl, haben
Sie nicht gelesen, was in dem Brief stand, nämlich
mas eine sachbezogene Antwort geben, indem ich
daß wir bereit waren, mit Ihnen über den Inhalt
wiederum zurückfrage: Wie erklären Sie sich die
dieser Initiativen zu sprechen?
absolute Überfüllung der Münchner Hochschulen
und Universitäten? Glauben Sie etwa, daß Studenten (Abg. Köppler: Im Anhörungsverfahren —
aus der ganzen Bundesrepublik nur deshalb nach Zuruf von der CDU/CSU: Ihr seid zu spät
München kommen, weil ihnen das Vorgebirge und gekommen!)
der Starnberger See gut gefallen? Ich glaube, daß
auch das eine Anerkennung der Leistungsfähigkeit Dr. Riedl (München) (CDU/CSU) : Herr Kollege
unserer Universität und Technischen Hochschule in Schmidt, selbstverständlich steht das in Ihrem Brief.
München ist. Nur habe ich den Brief erst bekommen, nachdem ich
(Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von darüber etwas in der Zeitung gelesen hatte. Aus die-
der SPD.) sem Grund haben wir nicht mitgemacht.
Bevor ich zur Sache komme, noch dies. (Zurufe von der SPD.)
(Lachen bei den Regierungsparteien. — Meine Damen und Herren, ich darf nun die Dis-
Zuruf von der SPD: „Zur Sache, Schätz kussion, die weit über den Rahmen dessen, was wir
chen!") beabsichtigt haben, hinausgeht, in den Punkten zu-
sammenfassen, die uns, die Antragsteller, bewogen
— Sie werden noch staunen, in welcher Weise ich haben, einige besondere Anträge zugunsten einer
zur Sache komme. Verbesserung der Wohnungssituation in München
Meine Damen und Herren von der Regierungs- zu stellen. Oberster Leitsatz unserer Initiativen war
koalition — ich meine diese Seite; von der anderen, folgender. Unser Ziel und unsere Verpflichtung in
der kleinen Fraktion, hat man in diesem Zusam- diesem Hohen Hause müssen sein, für möglichst
menhang heute noch nicht sehr viel gehört —, mich gleichartige Lebensverhältnisse in unserem Lande
wundert eigentlich etwas, daß Sie sich, seitdem Sie zu sorgen und dort, wo dies bisher nicht der Fall
in der Regierung sitzen, über sozialpolitische Ini- ist, Unterschiede auszugleichen und Verbesserungs-
tiativen von unserer Seite in einer Weise mokieren, maßnahmen zu ergreifen. Dieses Prinzip wird mit
daß ich mich fragen muß, wo Ihre sozialpolitische Recht im Hinblick auf die revierfernen, struktur-
Verantwortung auf diesem Gebiet liegt. schwachen Gebiete seit langem mit gutem Erfolg ver-
folgt. Ich meine, daß wir gerade vom Bund her sehr
(Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von
brauchbare Ansätze für eine sinnvolle Struktur-
der SPD.)
politik in der Bundesrepublik Deutschland gezeigt
haben. Das Leben in den Ballungsräumen unserer
Herr Kollege Schmidt, Sie haben den Antragstel- Groß- und Millionenstädte in Deutschland wird heute
lern, Herrn Kollegen Geisenhofer und mir, vor- umgekehrt zunehmend von Faktoren bestimmt, die
gehalten, daß wir nicht gemeinsam mit Ihnen vor- draußen auf dem flachen Lande, draußen in den
gegangen seien. Herr Kollege Schmidt, dafür gibt Klein- und Mittelstädten, nur noch eine untergeord-
es eine ganz einfache Erklärung. Sie halten an einem nete Rolle spielen, beispielsweise das Problem der
Donnerstag in München eine Pressekonferenz ab, Bewältigung des Massenverkehrs in den Großstädten
erklären der Presse die einzelnen Gesetzesvorhaben, und Ballungsräumen, beispielsweise die Luftver-
die Sie im Deutschen Bundestag einreichen wollen, schmutzung und die Lärmbelästigung und beispiels-
verkünden vor der Presse an diesem Donnerstag, weise die Wohnungssituation.
daß Sie die Gesetzentwürfe in der darauffolgenden
Woche im Deutschen Bundestag einbringen würden, Ich mache mit besonderem Nachdruck auf diesen
übersenden danach dem Kollegen Geisenhofer und Hintergrund aufmerksam, weil meinem Kollegen
mir die Gesetzesvorlagen mit der Bitte, sie zu un Geisenhofer und mir seit Bekanntwerden dieser
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969 375
Dr. Riedl (München)
Gesetzentwürfe hier im Deutschen Bundestag aus im Hinblick auf die Wohnberechtigungsbescheini
allen Fraktionen — ich gebe zu: auch aus unserer gungen gleichbehandelt werden.
Fraktion — immer wieder vorgehalten wurde: „Aha,
(Abg. Liehr: Das ist doch nichts Neues! —
die Münchener Lobby geht wieder einmal um ; man Weitere Zurufe von der SPD.)
will wieder einmal eine Extrawurst für München
braten". — Angesichts dieser von uns ernst genom- Fünftens. Die im Wohngeldgesetz festgesetzten
menen Kritik möchte ich Sie bitten, die Frage der Obergrenzen übersteigen gerade in München die
Wohnungssituation in der bayerischen Landeshaupt- Mieten im frei finanzierten Wohnungsbau, bei den
stadt mit dem nötigen Ernst und — ich muß es Altbauwohnungen und im öffentlich geförderten
gegenüber dem Kollegen Gleissner sagen — auch Wohnungsbau.
mit der notwendigen Sachlichkeit gegenüber den Sechstens, meine Damen und Herren — das muß
sozialen Problemen in der Landeshauptstadt Mün- ich mit aller Deutlichkeit hier sagen —, übersteigt
chen zu diskutieren. das Mietniveau für frei finanzierte Wohnungen in
Weil das in der Diskussion leider etwas unter- München bei weitem die Durchschnittssätze in der
gegangen ist, möchte ich noch einmal schwerpunkt- Bundesrepublik. München ist auf diesem Gebiet ab-
mäßig die Faktoren herausstellen, auf die es meiner soluter Spitzenreiter mit Beträgen zwischen 6 und
Ansicht nach im Augenblick in München auf dem 9 DM pro Quadratmeter.
Wohnungssektor ankommt. -
Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
(Zuruf von der SPD.)
-

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?


— Meine Damen und Herren von der SPD-Fraktion,
ich habe den Eindruck, daß dies bei Ihnen manchmal Dr. Riedl (München) (CDU/CSU) : Bitte sehr!
doch nicht in diesem Umfang bekannt ist, und aus
diesem Grund sage ich Ihnen das ganz eindeutig. Berkhan (SPD) : Herr Kollege, sind Sie bereit,
(Widerspruch bei der SPD.) einem vernünftigen Städtebauförderungsgesetz zu-
zustimmen?
Erstens, Nach den vor kurzem bekanntgeworde- (Beifall bei der SPD.)
nen Wohnungszählergebnissen — das wurde hier
schon gesagt — fehlen in München sage und schreibe
Dr. Riedl (München) (CDU/CSU) : Herr Kollege,
19 434 Wohnungen, was einem Fehlbestand von
Ich bin Ihnen für diese Frage sehr dankbar. Ich bitte
4,5 % entspricht. Ich möchte das dahingestellt sein
nur, mir zu gestatten, am Schluß, wie ich es vorhabe,
lassen, ob die Berechnungsgrundlagen und Berech-
dazu Stellung zu nehmen. Sie werden staunen, in
nungsmethoden diese Zahl noch absolut rechtferti-
welch positiver Weise ich hier meine Aussage
gen. Ich wäre deshalb Ihnen, verehrter Herr Bundes- mache.
minister, auch dankbar, wenn Sie gerade zur Be-
(Beifall.)
rechnungsmethode vor diesem Hohen Hause ein klä-
rendes und daher nützliches Wort sagen könnten.
Demgegenüber ist es aber eine unumstößliche Tat- Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-

Herr Kollege, ich sehe noch eine Wortmeldung des


sache, daß am vergangenen Freitag beim Städtischen
Abgeordneten Jacobi zu einer Zwischenfrage.
Amt für Wohnungsfragen in München der fünfzehn-
tausendste Wohnungssuchende in der bayerischen
Landeshauptstadt registriert wurde. Bis zum Jahres- Dr. Riedl (München) (CDU/CSU): Bitte schön!
ende rechnet man mit einer Gesamtzahl von 18 000
Wohnungsuchenden,. Von 15 000 Wohnungsuchen- Jacobi (Köln/Iserlohn) (SPD) : Herr Kollege, in-
den sind 11 000 Wohnungsnotfälle und 2500 absolut dem ich dankbar zur Kenntnis nehme, was Sie hier
krasse Wohnungsnotstände. zum Teil ausgeführt haben, frage ich Sie, ob Sie
bereit sind, sich darüber zu orientieren — da Sie
Zweitens. In ständig steigendem Maße wird in ja auch nach den Gründen der Mißstände suchen —,
München Altwohnraum zweckentfremdet, so daß — in welchem Umfange ein großer Teil Ihrer Freunde
nicht nur in der Münchener Innenstadt, aber dort früher durch die Gesetzgebung und durch sein Ver-
vor allem — zunehmend Wohnraum verlorengeht. halten zu diesen Mißständen beigetragen hat.
Drittens. Für den einkommenschwachen Teil der
Bevölkerung der bayerischen Landeshauptstadt, der Dr. Riedl (München) (CDU/CSU) : Herr Kollege
nach einer Kündigung seine verhältnismäßig preis- Jacobi, wenn Sie eine „Sippenhaftung für vergan-
werte Wohnung verliert, wird es immer schwieriger, gene Wohnungsbaupolitik" einführen wollen, so
eine etwa gleich billige Ersatzwohnung zu finden. lehne ich das als junger Politiker ab.
Die Hilfe des an sich sehr begrüßenswerten § 556 a (Beifall bei der CDU/CSU.)
BGB reicht hier nicht annähernd aus. Man muß dazu Ich weiß es ganz genau und ich spüre es, daß Ihnen
kommen, daß bei gerichtlicher Kündigung dieser
eine früher gemachte Politik sicherlich zum Teil viel,
Punkt der Ersatzwohnraumbeschaffung bei der Ur-
viel lieber war, und ich weiß es ganz genau — ich
teilsfindung mit berücksichtigt wird.
wiederhole mich jetzt —, daß es Ihren Freunden von
Viertens. Langjährige Münchener Bürger fühlen der SPD in München gar nicht paßt, daß es nun in
sich gegenüber neu zuziehenden benachteiligt, weil der CSU einige Leute gibt,
die Münchener und von auswärts zuziehende Bürger (Zurufe von der SPD: Einige?)
376 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969

Dr. Riedl (München)


die den Finger etwas deutlicher auf die Wunden aller Kollegen in der CSU-Landesgruppe sicher.
legen, als es bisher der Fall war. Aber eines muß ich Hoffentlich haben Sie dieses Bewußtsein der Einig-
Ihnen auch sagen: was der verstorbene Kollege keit in Ihrer Fraktion auch.
Prinz Konstantin von Bayern hier im Deutschen (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU.)
Bundestag auf dem Gebiet der Wohnungspolitik
vertreten hat, hat heute nach wie vor genauso Gel-
Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
tung wie damals.
-

Herr Abgeordneter Dr. Riedl, Ihr Kollege Gleissner


möchte fragen.
Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-

Herr Kollege, darf ich zunächst Ihre Blicke —


Dr. Riedl (München) (CDU/CSU) : Bitte sehr!

Dr. Riedl (München) (CDU/CSU) : Ich komme


Dr. Gleissner (CDU/CSU) : Herr Kollege Riedl,
aber in zeitliche Schwierigkeiten!
wären Sie bereit, Herrn Kollegen Müller zu fra-
gen, wer das Wohngeldgesetz eingeführt hat und
Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-
wie die Abstimmungsverhältnisse damals lagen,
Ich werde das gern berücksichtigen. — Darf ich Ihre und wie es im Ausland mit dem Wohngeldgesetz
Blicke zunächst auf den Kollegen Czaja lenken. im Vergleich zur Bundesrepublik ausschaut?
Würden Sie ihm eine Zwischenfrage genehmigen?
-
Dr. Riedl (München) (CDU/CSU) : Ich glaube
Dr. Riedl (München) (CDU/CSU) : Bitte sehr! zwar, daß dies verfahrensrechtlich gar nicht mög-
lich ist. Aber der Kollege Müller weiß das ganz
Dr. Czaja (CDU/CSU) : Herr Kollege Riedl, wür- genau.
den Sie die Freundlichkeit haben, Herrn Kollegen
Meine Damen und Herren, ich möchte ein ganz
.Jacobi darauf hinzuweisen, daß die SPD in diesem kurzes Wort zur Entwicklung der Wohnungssitua-
Bundestag seit drei Jahren die Verantwortung für tion vom Zuzug her sagen. Im Augenblick findet ein
die Wohnungsbaupolitik trägt? ausgesprochener Run auf München statt. Während
noch im Jahre 1962 mit 36 324 Personen die höchste
Dr. Riedl (München) (CDU/CSU) : Herr Kollege Zuwachs-Jahresrate nach 1945 zu verzeichnen war,
Czaja, dazu bin ich selbstverständlich gern bereit. ist Mitte 1968 bis Mitte 1969 ein Rekordzuwachs
von 43 353 Personen festzustellen gewesen, wobei
Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
- — und das ist das besonders Interessante an dieser
Gestatten Sie nun eine Zwischenfrage des Kollegen Zahl — lediglich 1994 Personen auf den Geburten
Dr. Müller (München)? überschuß, 41 359 Personen aber auf den Wande-
rungsgewinn entfielen.
Dr. Riedl (München) (CDU/CSU) : Bitte sehr!
München hat damit ganz eindeutig die höchste
Dr. Müller (München) (SPD) : Herr Kollege Riedl, Zuwachsrate aller deutschen Städte, Wenn Mün-
würden Sie mir darin zustimmen, daß Ihre Ände- chen auch unter den Millionenstädten der Welt in
rung, daß es jetzt in der CDU/CSU auch einige der unteren Kategorie liegt, hinsichtlich der Zu-
gibt, die hier eine fortschrittliche Wohnungsbau- wachsraten, liegt diese Stadt eindeutig mit an vor-
politik betreiben wollen, bedeutet, daß es leider derster Stelle.
nur einige sind, also eine Minderheit in Ihrer Par- Meine Damen und Herren, ich möchte mich kurz
tei? fassen.
(Beifall bei der SPD.) (Beifall und Zurufe von der SPD.)
— Daß Sie zu sozialpolitischen Vorstellungen der
Dr. Riedl (München) (CDU/CSU) : Herr Kollege
CSU freudig Beifall klatschen, ist für mich als Neu-
Müller, wenn ich mir Ihre Fraktion so anschaue,
ling auch eine sehr interessante Erfahrung.
dann frage ich mich, warum Sie Ihren Antrag, den
Sie vor der Presse schon vor 14 Tagen verkauft Meine Damen und Herren, dieser Zuzug hat drei
haben, nicht heute bereits in diesem Hause als Gründe: erstens die ständig zunehmende Industriali-
ausgedruckte Drucksache vorliegen haben. sierung, zweitens die Faszination der „Weltstadt
mit Herz" und drittens neuerdings — zumindest
(Beifall bei der CDU/CSU.)
indirekt — die Tatsache der Veranstaltung der
Es wäre also viel besser, Herr Kollege Müller, Olympischen Spiele.
wenn Sie nach den Ursachen der Schwierigkeiten
in Ihrer Fraktion fragten. Ich weiß ganz genau, — — Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-

(Zuruf des Abg. Dr. Müller/München.) Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
— Herr Kollege Müller, lassen Sie mich doch einmal
ausreden! Ich bin immer noch in der Beantwortung Dr. Riedl (München) (CDU/CSU) : Bitte schön!
Ihrer Frage. Herr Kollege Müller, ich weiß ganz ge-
nau — und das gebe ich ganz offen zu —, daß Ravens (SPD) : Herr Kollege, auf Ihre Berner-
meine Meinung sich nicht mit der Meinung aller kung bezüglich des Beifalls hin möchte ich Sie fra-
meiner Kollegen in der CSU-Landesgruppe deckt. gen, ob Sie das Aufzählen von Zahlen schon für
Ich bin mir aber der grundsätzlichen Unterstützung sozialpolitische Vorstellungen halten.
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969 377

Dr. Riedl (München) (CDU/CSU): Herr Kollege, Dr. Gleissner (CDU/CSU) : Sind Sie bereit, in
gerade Sie müßten wissen, daß sozialpolitische Vor- Ihre langfristigen Maßnahmen auch Maßnahmen
stellungen nicht von der Auswertung wichtiger Sta- der Raumordnungspolitik hineinzunehmen?
tistiken zu trennen sind. Diese Auswertung prakti-
ziert im übrigen auch der Herr Wohnungsbau- Dr. Riedl (München) (CDU/CSU) : Herr Kollege,
minister tagtäglich gerade im Hinblick auf die Woh- Gleissner, hier ist in erster Linie der Bayerische
nungspolitik, die wir hier in diesem Hause machen Landtag und nicht der Bundestag am Zug. Der Bun-
wollen. destag hat ja das entsprechende Bundesgesetz be-
Meine Damen und Herren, Angebot und Nach- reits verabschiedet.
frage stehen auf dem Wohnungsmarkt in München
in einem krassen Mißverhältnis. Wir müssen hier Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-

kurzfristig, aber auch langfristig etwas tun. Wenn Eine Zwischenfrage des Kollegen Ott.
wir rasch etwas tun wollen, dann sollten wir
die von uns diesem Hause vorgelegten Gesetzent- Ott (CDU/CSU) : Herr Kollege Dr. Riedl, würden
würfe verabschieden. Langfristig — Herr Kollege Sie mir zustimmen, wenn ich behaupte, daß das
Berkhan, jetzt komme ich zur Beantwortung Ihrer Problem der Wohnungsnot in München überhaupt
Frage — brauchen wir ein Städtebauförderungs- kein Problem mehr wäre, wenn die der SPD im
gesetz, das städtebauliche Erneuerungs- und Entwick- Herzen sehr nahestehende größte Wohnungsbau-
lungsmaßnahmen durch ein wirkungsvolles Finan- gesellschaft etwas weniger im Ausland und dafür
zierungsinstrumentarium über einen längeren Zeit- mehr in München gebaut hätte?
raum sichert. Ziel dieses Gesetzes muß es auch sein,
(Heiterkeit bei der CDU/CSU. — Lachen
eine ausreichende Versorgung mit Baugelände zu
bei der SPD. — Abg. Dr. Apel: Das ist ja
vertretbaren Preisen zu gewährleisten.
wohl das Letzte!)
(Beifall bei der SPD: — Abg. Berkhan: Da
werden wir Sie festnageln!) Dr. Riedl (München) (CDU/CSU) : Herr Kollege
— Herr Kollege Berkhan, da können Sie mich auf Ott, das ist eine sehr bedeutsame Frage, über die
jedes Wort festnageln. Ziel des Gesetzes muß es wir uns noch gründlich unterhalten müssen.
weiter sein, die Bodenspekulation zu verhindern. (Lachen bei der SPD.)
Eine solche Regelung, im Rahmen des Art. 14 des
Grundgesetzes, ist aber nur gewährleistet — Herr — Meine Damen und Herren. Ich habe den Eindruck,
Kollege Berkhan, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie daß Sie die „Neue Heimat" in ihrem Gesamtumfang
zuhören würden —, wenn der Schutz des Eigentums noch gar nicht durchschaut haben.
und die Sozialverpflichtung des Eigentums in einem (Abg. Ott: Da geht es nach Karl Marx
ausgewogenen Verhältnis stehen. Ich hoffe, daß und dem Mehrwert!)
das Hohe Haus in Kürze darüber in diesem Sinne
— Herr Kollege Ott, ich wollte diese Antwort nur
entscheiden wird.
zu Ende geben: Das ist eine sehr interessante
Frage, mit der wir uns mit Sicherheit in München
Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
- in Zukunft in stärkerem Maße als bisher befassen
Herr Kollege, der Abgeordnete Ollesch möchte eine müssen. Darauf können Sie sich verlassen. Nur
Zwischenfrage stellen. weiß ich ganz genau, daß das von Ihnen aus uns
gegenüber mit sehr, sehr kritischen Augen beob-
Ollesch (FDP) : Herr Kollege, könnte es Ihnen achtet werden wird.
und den übrigen Kollegen, die vielleicht noch zum
Problem München sprechen möchten, bei der Zeit- Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-

planung hilfreich sein, wenn ich Ihnen erkläre, daß Bitte schön!
meine Sympathie für München langsam im Schwin-
den begriffen ist? Dr. Rutschke (FDP) : Herr Kollege, sind Sie
(Heiterkeit.) nicht mit mir der Meinung, daß es vielleicht zweck-
mäßig wäre, alle diese Fragen zwischen CSU-Abge-
Dr. Riedl (München) (CDU/CSU) : Herr Kollege, ordneten in der Landesgruppe der CSU abzuhan-
als ich vorhin neben Ihnen saß, habe ich allerdings deln?
gemerkt, daß Ihre Mißstimmung gegenüber Mün- (Beifall bei der SPD.)
chen schon einer Zeit entstand, als die Kollegen
von der SPD-Fraktion hier sprachen. Dr. Riedl (München) (CDU/CSU) : Es gehört zum
(Beifall und Heiterkeit bei der CDU/CSU.) Stil dieses Hohen Hauses, daß Fragen, die an den
Redner gestellt werden, auch beantwortet werden.
Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-
(Zurufe.)
Herr Kollege, Herr Abgeordneter Dr. Gleissner hat Die Aufforderung zur Fragestellung und zur Ge-
sich noch zu Wort gemeldet. nehmigung kam ja vom Herrn Präsidenten.

Dr. Riedl (München) (CDU/CSU): Ich lehne keine Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-

Zwischenfrage ab, Herr Präsident. Herr Kollege, ich muß Sie leider noch einmal fra-
378 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969

Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen


gen. Der Herr Kollege Schmidt (München) hat noch entwürfe einzureichen, die auf Punkt und Komma
eine Zwischenfrage. Würden Sie die auch noch einer Gesetzesformulierung standhalten. Ich bin
genehmigen? vielmehr der Meinung, daß es Aufgabe dieses
Hohen Hauses und einzelner Abgeordneter ist, An-
Dr. Riedl (München) (CDU/CSU) : Selbstverständ- träge einzureichen, von denen sie glauben, daß sie
lich. politisch notwendig sind. Und sie sollten hier nicht
den Stil eines Oberlehrers anwenden, der Kritik an
einzelnen Formulierungen übt.
Schmidt (München) (SPD) : Herr Dr. Riedl, wä-
ren Sie bereit, den Fragesteller aus Ihrer Fraktion (Beifall bei der CDU/CSU.)
darauf hinzuweisen, daß es gerade immer die Frak-
Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren von
tion der CSU im Münchner Stadtrat ist, die der
der Opposition — —
Meinung ist, daß die Neue Heimat in München viel
zuviel und nicht zuwenig baut? (Große Heiterkeit bei den Regierungs
parteien.)
(Beifall bei den Abgeordneten der SPD.)
— Sie wußten doch immer, wie schwer das ist; und
Dr. Riedl (München) (CDU/CSU) : Herr Kollege jetzt verlangen Sie von uns, daß wir uns von heute
Schmidt, ich werde den Kollegen die entsprechenden auf morgen umstellen können.
Zeitungsartikel gerne übersenden. -
(Heiterkeit und Zurufe von der SPD.)
Meine Damen und Herren, ich bin am Ende — Ja, uns fällt das schwer.
meiner Ausführungen
Meine Damen und Herren von der Regierungs-
(Beifall bei den Regierungsparteien)
partei,
und wollte nur noch an ein Wort des verstorbenen
(Aha-Rufe bei der CDU/CSU. — Sehr gut!
Kollegen Prinz Konstantin erinnern, das er am
bei der SPD)
6. Dezember 1968 gesagt hat: „Eigentum an Wohn-
raum bedingt besondere soziale Verpflichtungen." Sie sollten sich langsam daran gewöhnen, daß Ihr
Das war für uns der Anlaß, diese Gesetzentwürfe Minister und Sie seit drei Jahren die größte Ver-
vorzulegen. antwortung für die Wohnungsbaupolitik tragen,
(Beifall bei der CDU/CSU.) und sollten nicht so tun, als wenn das, was heute
wohnungspolitisch relevant ist, so in der Steinzeit
Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-
grundgelegt worden wäre. Sie tragen in erster
Meine Damen und Herren, nachdem der amtierende Linie die Verantwortung. Sie müssen sich damit ab-
Präsident schon die Freude hatte, vorhin einen finden, daß Sie mit dieser Verantwortung konfron-
Münchener Abgeordneten zu seiner Jungfernrede zu tiert werden. Sie sollten hier keine Ausweichmanö-
beglückwünschen, tue ich das jetzt für den Kollegen ver machen, sondern sich den Problemen stellen und
Dr. Riedl ebenfalls sehr gern. sich nicht mit der Vergangenheit für das entschuldi-
gen wollen, was heute nicht in Ordnung ist.
(Beifall).
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Das Wort hat der Kollege Mick.
— Keine Zwischenfrage!
Mick (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine sehr (Zurufe von der SPD.)
verehrten Damen und Herren! Ich habe jetzt einige
Verehrter Herr Minister, ich erwarte von Ihnen
Vorstellungen davon, warum man so gerne nach
vor allem eine Initiative; sie ist der Schlüssel zur
München zieht. Ich wäre auch versucht, dort hinzu-
ziehen, um dort Kommunalpolitiker zu werden, denn Lösung der Probleme, die vor allem die bayerischen
die Buntheit dieser Münchner Debatte verführt da- CSU-Kollegen hier in Anträge gekleidet haben. Wir
zu. Ich meine aber, wir sollten diese kommunal- erwarten von Ihnen, daß Sie uns endlich die Fehler-
politische Debatte hier nicht fortsetzen. quellen des Gesetzes über die Statistik betreffend
den Wohnungsfehlbestand in der Bundesrepublik
(Beifall bei Abgeordneten der Regierungs Deutschland aufzeigen und daß sie sich nicht damit
parteien.) begnügen, wenige Wochen vor der Wahl Behaup-
Ich hätte mich auch nicht zu Wort gemeldet, ver- tungen in die Welt zu setzen, ohne zu sagen, wo die
ehrter Herr Minister, wenn Sie nicht einige grund- Fehlerquellen liegen. Darauf warten wir, um auch,
sätzliche Bemerkungen zur Wohnungsbaupolitik im wenn es notwendig sein sollte, die Wohnungspolitik
allgemeinen gemacht hätten. Ich denke auch nicht revidieren zu können, weil das Bessere des Guten
daran, jetzt noch zu versuchen, eine umfassende Feind ist. Dieser Meinung sind wir und waren wir
wohnungspolitische Debatte zu entfesseln. allezeit. Ich glaube, daß wir in dieser Meinung so-
gar manchen Fortschritt auch in der Wohnungspoli-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD.) tik erzielt haben.
Ich glaube aber, einige Ihrer Bemerkungen bedürfen Im übrigen, verehrter Herr Minister, werden wir
doch einer sofortigen Erwiderung. mit wohnungspolitischen Initiativen aufwarten, um
Zunächst einmal, verehrter Herr Minister, glaube Sie zu einer Höchstleistung zu zwingen, um unser
ich, daß es nicht Aufgabe dieses Hohen Hauses oder Konzept in diese Wohnungspolitik einzubringen.
Aufgabe einzelner Abgeordneter ist, hier Gesetz- Wer mich kennt, meine sehr verehrten Damen und
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969 379
Mick
Herren, wird mir noch solche Fragen stellen, wie sie Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-

soeben meinem Vorredner gestellt worden sind. Herr Minister, gestatten Sie zunächst eine Zwi-
(Beifall bei der CDU/CSU.) schenfrage des Kollegen Czaja? — Entschuldigen
Sie, meine Herren, wir müssen ein bißchen nach der
Reihe vorgehen.
Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-

Meine Damen und Herren, wir sind damit am Ende


dieses Abschnitts der Debatte. — Herr Minister, Dr. Czaja (CDU/CSU) : Herr Minister, würden
wenn Sie sich als Regierungsmitglied noch zu Wort Sie mir zugeben, daß Sie von Ihrem Rechtsverord-
gemeldet haben, ist die Debatte wieder eröffnet. Ich nungsrecht nach § 43 Abs. 3 des Wohngeldgesetzes
erteile Ihnen das Wort. hinsichtlich der Festsetzung der Obergrenzen für
Wohngeldleistungen nicht zur rechten Zeit Ge-
Dr. Lauritzen, Bundesminister für Städtebau brauch gemacht haben, und dies, obwohl Sie in den
und Wohnungswesen: Herr Präsident! Meine Damen Jahren 1967 und 1968 den Ansatz im Haushalt für
und Herren! Ich habe in meinen Ausführungen vor- Wohngeld nicht voll verbraucht haben?
hin darauf aufmerksam gemacht, daß eine umfas- (Hört! Hört! und Sehr richtig! bei der
sende Novelle zum Wohngeldgesetz nach meiner CDU/CSU. — Zuruf von der CDU/CSU: So
Meinung mehr Punkte enthalten sollte als diese schlecht war die Politik!)
-
Vorlage. Herr Kollege Mick, das war keine Kritik an
den einzelnen Formulierungen, sondern einfach der
Versuch, einmal umfassend darzustellen, was eine Dr. Lauritzen, Bundesminister für Städtebau
Novellierung des Wohngeldgesetzes erforderlich und Wohnungswesen: Der Ansatz für Wohn-
macht. geld — —
(Abg. Mick: Sie können noch eine (Zurufe von der CDU/CSU.)
Vorlage machen!)
— Ich habe Ihnen doch gesagt, die Vorlage ist in Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-

Arbeit. Ich bin allerdings der Meinung, da die Herr Minister, einen Augenblick! Meine Herren, ich
Länder 50 % der Kosten zu tragen haben, ist es wäre Ihnen dankbar, wenn wir jetzt zunächst die
selbstverständlich, daß man vorher mit ihnen über Antwort abwarten könnten. Ihre Bitte um eine
eine solche Vorlage sprechen muß. Zwischenfrage ist notiert. Bitte, Herr Minister!

) Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:


-
Dr. Lauritzen, Bundesminister für Städtebau
Herr Minister, genehmigen Sie eine Zwischenfrage? und Wohnungswesen: Herr Kollege Czaja, Sie ken-
— Herr Kollege Rollmann, bitte schön! nen die Zahlen ganz genau. Der Betrag, der nicht
ausgenutzt worden ist, hätte doch bei weitem nicht
Rollmann (CDU/CSU) : Darf ich fragen, Herr ausgereicht, um eine wesentliche Verbesserung des
Minister, wann mit Ihrer Vorlage zu rechnen ist Wohngeldgesetzes zu erreichen.
und wie lange die Mieter, die auf eine Verbesse- Zweitens haben Sie alle vergessen, meine Damen
rung des Wohngeldes warten — bereits seit langer und Herren, wie wir 1966/67 hier angefangen haben.
Zeit, wo Sie die Verantwortung tragen —, noch auf
eine Verbesserung des Wohngeldes in unserem (Beifall bei der SPD.)
Lande warten müssen. Wir haben uns sehr bemühen müssen, das Wohn-
geldgesetz überhaupt durchzuhalten. Jetzt, wo die
Dr. Lauritzen, Bundesminister für Städtebau finanzielle Situation anders aussieht, bemühen wir
und Wohnungswesen: Herr Kollege Rollmann, ich uns darum, die notwendigen Verbesserungen nach-
darf die Gegenfrage stellen: Wo wollen Sie die zuholen. So sieht die Sache doch aus.
500 Millionen DM, die die Durchführung Ihrer Vor-
lage kostet, im Rahmen der mittelfristigen Finanz-
planung unterbringen? Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-

Herr Minister, gestatten Sie eine weitere Frage des


(Beifall bei der SPD. — Zurufe von der Kollegen Czaja?
CDU/CSU: Das ist Ihre Sache!)
Hier ist bei der Diskussion über die Regierungser- Dr. Czaja (CDU/CSU) : Herr Minister, würden
klärung sehr viel von solider Finanzpolitik gespro- Sie mir zugestehen, Sie in einer Vo rla ge im
chen worden. Das aber gehört nach meiner Meinung Jahre 1967 seitens der Regierung eine Verschlech-
dazu: terung des Wohngledes beantragt haben und daß
(Zurufe von der CDU/CSU: Dann verspre dies in erster Linie die CDU/CSU-Fraktion in diesem
chen Sie das nicht!) Hause verhindert hat?

Es gehört dazu, daß eine Regierung eine Vorlage (Beifall bei der CDU/CSU.)
mit erheblichen finanziellen Auswirkungen nur
machen kann, wenn die mittelfristige Finanzplanung Dr. Lauritzen, Bundesminister für Städtebau
diese Vorlage absichert. Das gehört zusammen. und Wohnungswesen: Nein, das ist unrichtig! Die
(Beifall bei den Regierungsparteien.) Vorlage stammt vom Finanzminister und hat den
380 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969

Bundesminister Dr. Lauritzen


entschiedenen Widerspruch meiner Parteifreunde selbstverständlich, weil die Länder 50% der Kosten
gefunden. tragen müssen.
(Abg. Dr. Czaja: Aber Sie haben sie hier
vertreten!) Vizepräsident Dr. Schmitt - Vockenhausen:
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
— Ich habe sie hier im Hause nicht vertreten.
Abgeordneten Mick?
(Abg. Dr. Czaja: Aber selbstverständlich
(Abg. Dr. Apel: Jetzt reicht's aber langsam!
haben Sie sie vertreten!)
Diese Komiker da!)
— Nein, ich habe mich ausdrücklich dagegen ge-
wandt.
Dr. Lauritzen, Bundesminister für Städtebau
und Wohnungswesen: An mir liegt es nicht, wenn
Vizepräsident Dr. Schmitt - Vockenhausen: die Beratung lange dauert.
Erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten
Ott?
Mick (CDU/CSU): Herr Minister, sind Sie mit mir
der Meinung, daß in der Vergangenheit aus ähn-
Ott (CDU/CSU) : Herr Minister, da Sie uns fragen,
lichen Gründen wie denen, derentwegen Sie heute
woher das Geld kommen soll, frage ich: Würden Sie
diesen Initiativgesetzentwurf der CDU/CSU nicht in
mir widersprechen, wenn ich die Meinung äußere,
Bausch und Bogen gutheißen können, auch nicht alle
daß es Ihre Pflicht und Aufgabe gewesen wäre, bei
Blütenträume der damaligen Opposition reifen
der Mitwirkung anläßlich der Regierungserklärung
konnten?
darauf zu dringen, daß eine Erhöhung des Wohn-
geldes wichtiger als ein stufenweiser Abbau der
Ergänzungsabgabe ist? Dr. Lauritzen, Bundesminister für Städtebau
und Wohnungswesen: Ich muß darauf hinweisen,
(Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von
was nach meiner Meinung ergänzungsbedürftig ist
der SPD.)
und daß ich das Verfahren für besser halte, wenn
der Bundesrat von vornherein eingeschaltet ist. Das
Dr. Lauritzen, Bundesminister für Städtebau ist in dieser Sache nach meiner Meinung von der
und Wohnungswesen: Ich sehe diesen Zusammen- Natur her gegeben. Deswegen sehe ich den Weg
hang nicht. Ich kann nur sagen, das ist ein sehr über die Regierungsvorlage, die in den Bundesrat
gesuchter Versuch, hier Dinge zu verbinden, die geht, als den besseren Weg an.
gar nichts miteinander zu tun haben.
(Abg. Rollmann: Sie haben in Wirklichkeit
(Beifall bei der SPD. — Zurufe von der kein Geld für irgendeine Verbesserung des
CDU/CSU.) Wohngeldes! Das ist der Witz der Sache,
Herr Minister! Sie haben kein Geld dafür!)
Vizepräsident Dr. Schmitt - Vockenhausen:
— Ich weiß nicht, wie Sie zu dieser Beurteilung
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
kommen. Sehen Sie sich einmal an, welche Vor-
Kollegen Jacobi?
schläge meine politischen Freunde für das Finanz-
programm gemacht haben! 15 % mehr an Jahres-
Jacobi (Köln/Iserlohn) (SPD) : Herr Minister, rate für Wohnungs- und Städtebau. Das ist schon ein
habe ich es recht in Erinnerung, daß die damals dro- wesentlicher Betrag, der dabei eine Rolle spielt. Sie
hende Verschlechterung des Wohngeldes, die vom sehen also durchaus das Bemühen, die Dinge auch
Finanzminister angestrebt worden ist, in einem finanziell abzusichern.
Spitzengespräch der Koalitionsparteien auf Betrei-
(Abg. Rollmann: Sie machen das genauso
ben der SPD behoben werden konnte, daß also die
Gefahr erst durch eine Intervention der SPD besei- wie bei den Rentnern mit den 50 Mark!)
tigt wurde? — Ich habe hier keine Zusage abzugeben, die ich
nicht einhalten kann. Deswegen ist dieser Hinweis
Dr. Lauritzen, Bundesminister für Städtebau völlig unberechtigt.
und Wohnungswesen: Nicht nur das, wenn ich rich- Meine Damen und Herren, ich bin gefragt worden,
tig unterrichtet bin, sondern ich habe mich sehr welcher Zusammenhang mit den statistischen Zah-
nachdrücklich dagegen gewandt und habe noch ver- len besteht, die bisher als erste Ergebnisse der
sucht, die Dinge im Rahmen der Kabinettsberatung Wohnungs- und Gebäudezählung bekanntgeworden
wieder in Ordnung zu bringen. Aber das sind frü- sind. Hier handelt es sich um folgendes: Es hat sich
here Dinge. herausgestellt, daß die sogenannte statistische Fort-
Meine Damen und Herren, die Vorlage, die die schreibung, die die Gebäude und Wohnungen erfaßt
Bundesregierung zu diesem Punkt vorbereitet, ist so und die von einer umfassenden Gebäude- und Woh-
weit fertig, daß sie mit den Ländern in den finan- nungszählung aus dem Jahre 1955 ausgeht, nicht
ziellen Auswirkungen abgestimmt werden kann. mehr mit dem tatsächlichen Bestand übereinstimmt.
Das ist notwendig. Darum kommen wir nicht herum, Das war auch der wesentliche Anlaß dafür, daß wir
weil das Gesetz zustimmungsbedürftig ist und im im Oktober 1968 eine Wohnungs- und Gebäudezäh-
Bundesrat scheitern kann, wenn wir nicht die Zu- lung durchgeführt haben. Darf ich Sie daran erinnern,
stimmung der Länder erhalten. Das ist doch ganz daß dieses Gesetz dreimal im Vermittlungsausschuß
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969 381

Bundesminister Dr. Lauritzen


war und daß wir uns sehr nachdrücklich für dieses Wir haben in den bisher vorliegenden Ergebnissen
Gesetz eingesetzt haben. von 14 Städten, die rund 10 % der Wohnbevölke
rung ausmachen, festgestellt, daß 2,5 % der Mehr
Worauf sind die Fehler zurückzuführen? Die Fort- personenhaushalte noch in Untermiete leben und
schreibung erfaßt den Zugang an neuen Gebäuden rund 3 % der Mieter in unzulänglichen Wohnungen.
und Wohnungen. Aber sie erfaßt nicht zuverlässig Das sind die echten Bedarfszahlen, die uns in Zu-
den Abgang; sie erfaßt nicht die Umwidmung von kunft noch große Sorgen machen werden.
Wohnraum in Büroraum; sie erfaßt nicht die Ge-
bäude, die im Wege von Altstadtsanierungen ver- (Beifall bei den Regierungsparteien.)
schwinden.
(Abg. Mick: Warum ändern Sie das nicht?) Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-

Es liegt eine weitere Wortmeldung vor. Das Wort


— Deswegen haben wir 1968 die umfassende Zäh- hat der Abgeordnete Dr. Czaja.
lung gemacht. Jeder, der die Statistik kennt, weiß,
daß diese Fehlerquellen darin sind. Deswegen darf
er nicht überrascht sein, wenn die Gebäudezählung Dr. Czaja (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine
aus dem Oktober 1968 andere Ergebnisse bringt als Damen und Herren! Der Herr Bundesminister für
die Fortschreibung. Die Fortschreibung muß nach Wohnungswesen hat die Debatte neu eröffnet und
-
einem Jahr immer wieder durch eine Erfassung nach den Gründen der jetzigen Situation und der
korrigiert werden. Wenn man auf Grund von statisti- Notwendigkeit der Anträge gefragt. Es unterliegt
schen Unterlagen politische Entscheidungen trifft, keinem Zweifel — das weiß jeder Fachmann —, daß
dann muß man wissen, welche Fehlerquellen in den der bedeutendste der Anträge der zum Wohngeld-
statistischen Unterlagen drinstecken. Das hat man gesetz ist. Herr Minister, Sie können sich der Ver-
in der Vergangenheit nach meiner Meinung nicht antwortung nicht entziehen — und Sie haben das
genügend berücksichtigt. nicht beantwortet , daß Sie das Verordnungsrecht
nach § 43 Abs. 3 des Wohngeldgesetzes nicht ausge
(Abg. Dr. Czaja: Die Vergangenheit sind die schöpft haben, der Ihnen die Möglichkeit und die
letzten drei .Jahre!) Pflicht gab, die Obergrenze bis zu 33 % über den
Nein, das sind nicht die letzten drei Jahre, son- gewogenen Durchschnitt der Mieten im sozialen
dern das sind die Jahre, in denen über den Schluß- Wohnungsbau hinaufzusetzen. Nach der Statistik
termin beim Abbau der Wohnungszwangswirtschaft Ihres Hauses betragen diese Mieten derzeit
3,10 DM. Das bedeutet, daß Sie mit der Obergrenze
entschieden wurde
mindestens auf 4,30 bis 4,50 DM hätten hinaufgehen
(Beifall bei der SPD — Abg. Dr. Czaja: Das müssen. Das haben Sie nicht getan. Das ist Ihr
war 1960!) schwerer Fehler, den Sie politisch vor diesem Haus
verantworten müssen.
und als mit dem sogenannten rechnerischen Woh-
nungsdefizit gearbeitet wurde; eine Einrichtung, die Sie haben gesagt, der Finanzminister sei schuld.
wir aufgegeben haben. Dabei ging es darum, festzu- Es hat in diesem Hause noch keinen Wohnungsbau-
stellen, wieviel Haushalte es gibt und was eine minister gegeben, der nicht das Ringen um die Fi-
Wohnung im Sinne des rechnerischen Wohnungs- nanzen hätte durchstehen müssen. Ich muß Ihnen
defizits ist. Dafür braucht man nach meiner Meinung sagen: nicht einmal in der Koreakrise ist der öffent-
exakte Unterlagen. Fortgeschriebene Zahlen reichen lich geförderte Wohnungsbau so zurückgegangen
dafür nicht. wie unter Ihnen.
Jetzt stellt sich einfach heraus — die Zahlen sind (Abg. Jacobi [Köln/Iserlohn] : Das war
auch für München genannt worden —, daß die fort- doch Ihre Politik!)
geschriebene Zahl der angeblich vorhandenen Woh-
nungen in München um rund 17 000 höher liegt als Ich darf mich berufen auf die protokollarisch festlie-
die der tatsächlich vorhandenen. Bitte überlegen Sie genden Ausführungen des Kollegen Jacobi vom
einmal, was das bedeutet! Wenn Sie davon aus- 9. Juni 1967, Seite 5572 der Protokolle dieses Hau-
gehen, daß eine Familie etwa drei Personen umfaßt, ses, der Ihnen klar vorgehalten hat — allerdings
dann könnte in den fehlenden 17 000 Wohnungen damals nur in einer zu Protokoll gegebenen Rede,
eine Stadt von 50 000 Einwohnern untergebracht weil er es öffentlich nicht wollte —, daß der soziale
werden. Wohnungsbau mehr denn je in Bedrängnis gerate
und rückläufig sei. Ich darf Sie, Herr Minister, dar-
(Abg. Dr. Czaja: Wo war das Baurechtsamt
auf aufmerksam machen, daß nach den Berichten
in München?)
des Statistischen Bundesamtes der öffentlich geför-
— Das hat mit dem Baurechtsamt nichts zu tun, son- derte Wohnungsbau im Jahre 1968 um 12 % zu-
dern das sind die Fehlerquellen in der Statistik, die rückgegangen ist, und dies, Herr Minister, obwohl
man kennen muß. Sie durch das Zinsanhebungsgesetz erheblich mehr
Rückflüsse zur Verfügung haben. Sie haben hier
(Abg. Dr. Czaja: Dann nennen Sie sie!)
nicht erklärt, wo die Rückflüsse, die für Sie ein Dis-
Meine Damen und Herren, ich will Ihnen noch positionsfonds sind, nun tatsächlich Verwendung
andere Zahlen nennen. Regensburg: minus 6,8 % — finden und wieweit diese Rückflüsse auch für beson-
Herr Kollege Höcherl ist leider nicht da —, Düssel- dere Vorhaben von Mammutunternehmen verwen-
dorf: minus 5,7%, Kaiserslautern: minus 4,9%. det worden sind.
382 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969

Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen: Dr. Czaja (CDU/CSU) : Herr Kollege Jacobi,


Herr Kollege, ich will Sie nur darauf aufmerksam nachdem Sie hier einen schwerkranken Kollegen
machen, daß eine Zwischenfrage gewünscht wird. angesprochen haben
(lebhafte Oho-Rufe von der SPD — Zuruf
Dr. Czaja (CDU/CSU) : Bitte sehr! von der SPD: Was soll denn das?)
— Sie wissen doch noch gar nicht, was ich sagen
Frau Meermann (SPD): Herr Kollege Dr. Czaja,
will —
Sie wissen doch, daß der im Jahre 1967 ausgeführte
(anhaltende Zurufe von der SPD)
Wohnungsbau auf Bewilligungen zurückgeht, die
einige Jahre zuvor erteilt worden sind, also in einer — glauben Sie, daß es nicht stimmt, daß er schwer
Zeit, in der die Sozialdemokraten den Wohnungs- krank ist? —,
bauminister nicht stellten.
(Abg. Jacobi [Köln/Iserlohn] : Was hat das
mit der Sache zu tun, wenn einer Minister
Dr. Czaja (CDU/CSU) : Frau Kollegin Meermann, war? — Weitere Zurufe von der SPD)
ich habe die Zahl von 1968 zitiert — wenn Sie etwas
genauer hingehört hätten — und habe für 1967 glaube ich, daß ich einiges zu den Ursachen der
nur die Ausführungen des Kollegen Jacobi von Ihrer jetzigen Situation sagen muß. Da möchte ich Ihnen
Fraktion zitiert, die er wahrscheinlich wegen der folgendes ins Stammbuch schreiben, Herr Kollege
Sprengkraft dieser Ausführungen nur zu Protokoll Jacobi. Unter dem Kollegen Lücke betrugen die
gegeben und hier nicht vorgetragen hat. Ich habe Mietsteigerungen von 1962 auf 1963 laut Statistik
auch die Seitenzahl dazu angegeben. des Verbandes gemeinnütziger Wohnungsunterneh-
men 6,5 %, von 1964 auf 1965 betrugen sie 6,4 %.
Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-
Nach 1965 war Herr Lücke nicht Minister.
Genehmigen Sie eine weitere Zwischenfrage, und (Abg. Jacobi [Köln/Iserlohn] : Aber er hat
zwar von Herrn Abgeordneten Dröscher? die Gesetze vorbereitet!)

Dr. Czaja (CDU/CSU): Bitte! — Ja, die Gesetze waren 1965 und 1966 in Kraft
getreten.
Dröscher (SPD): Herr Dr. Czaja, können Sie er- Darf ich Ihnen aber jetzt sagen, welche Miet-
läutern, worin der Unterschied in der Öffentlichkeit steigerungen unter Ihrem Minister von 1966 auf
der Aussage besteht zwischen einer Erklärung, die 1967 zu verzeichnen waren?
vom Podium abgegeben wird, und einer Erklärung, (Lebhafte Zurufe von der SPD. — Abg.
die zu Protokoll gegeben wird und die ja genauso Jacobi [Köln/Iserlohn] : Demagoge!)
ins Protokoll kommt?
— Nein, das sind Tatsachen, Herr Kollege; ich lasse
Dr. Czaja (CDU/CSU) : Deswegen habe ich sie diese Tatsachen nicht überschreien. 8,5 %! Und von
zitiert. 1967 auf 1968 10 %, und zwar nicht, Herr Minister,
(Zurufe von der SPD.) wie Sie behaupten, für den frei finanzierten Woh-
nungsbau, sondern ausweislich des Tätigkeits-
— Aber die Aussage ist eindeutig, Herr Kollege berichtes der gemeinnützigen Wohnungsunter-
Dröscher. Ich bitte Sie, auf Seite 5572 nachzulesen. nehmen ausdrücklich bei den öffentlich geförderten
Es ist eine eindeutige Verurteilung der Politik des Wohnungen.
Bundesministeriums für Wohnungswesen von da-
mals. Abg. Dr. Apel meldet sich zu einer
Zwischenfrage.)
(Abg. Jacobi [Köln/Iserlohn] meldet sich
zu einer Zwischenfrage.)
Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-

Herr Abgeordneter!
Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-

Bitte schön, Ihre Zwischenfrage ist genehmigt.


Dr. Czaja (CDU/CSU) : Ich werde erst den Ge-
Jacobi (Köln/Iserlohn) (SPD) : Herr Kollege danken beenden.
Czaja, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß
ich Reden in diesem Hause nur dann zu Protokoll Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-

gebe, wenn ich Rücksicht auf die Übermüdung des Bitte! Ich wollte Sie nur aufmerksam machen.
Hauses nehme oder wenn zeitliche Gründe mich dazu
zwingen? Dr. Czaja (CDU/CSU): Der Tätigkeitsbericht der
(Sehr gut! bei den Regierungsparteien.) gemeinnützigen Wohnungsunternehmen für das
Jahr 1968 weist auch klar die Gründe dafür aus,
Darf ich Sie des weiteren bitten, zur Kenntnis zu die Sie, Herr Minister, jedenfalls nicht mit einer
nehmen, daß meine Kritik am Rückgang des Woh- konzertierten Aktion beantwortet haben. Dieser Be-
nungsbaues ihre Wurzel in einer Wohnungsbau- richt weist aus, daß bei den öffentlich geförderten
politik findet, die Ihr Freund Lücke und die Ihre Wohnungen und bei den Gesamtwohnungen aller
Freunde zu verantworten hatten. Unternehmen, die den Verband gemeinnütziger
(Beifall bei der SPD.) Wohnungsunternehmen angehören, 56 % der Miet-
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969 383
Dr. Czaja
steigerungen auf Erhöhung der kommunalen Ge- und falsche Bezugspunkte drin sind, daß die Richtig-
bühren und Umlagen zurückzuführen sind. stellung leider sehr viel Zeit erfordert.
(Abg. Schulte [Unna] : Wissen Sie nicht, daß (Abg. Dr. Czaja: Nennen Sie einen Fehler!)
Sie die ganze Misere herbeigeführt haben?
Können Sie das sagen, ohne rot zu — Darf ich den Satz zu Ende reden; ich habe Sie ja
werden?) auch nicht unterbrochen.
Auch das muß hier gesagt werden. Der Minister (Abg. Dr. Apel: Er hat sich nicht unterbrechen
muß gefragt werden, ob er das Nötige getan hat, lassen!)
um in einer konzertierten Aktion mit Gemeinden — Ja, vielleicht auch.
und Ländern, zu der er in diesem Hause wiederholt
aufgefordert worden ist, diesem Mißstand zu be- Es wird nicht zu vermeiden sein, daß wir im Aus-
gegnen, daß nicht nur einmal im Jahr, sondern schuß einmal darauf zu sprechen kommen, damit
9 bis 12mal Erhöhungen stattfinden. endlich dieses Herumjonglieren mit falschen Zahlen
aufhört. Es ist doch erschütternd, wenn man auch aus
Auch bezüglich der Mammutunternehmen muß dem Munde von Herrn Czaja hört, daß eine Miet-
hier eine Frage gestellt werden. Diese haben ja steigerung von 10 % vorliegen soll. Dabei hat er
ganz große steuerliche Subventionen dadurch er- denselben Fehler gemacht, den auch andere gemacht
halten, daß Sie eine Ermächtigung für den Reichs- haben, nämlich Indexpunkte miteinander zu ver-
-
arbeitsminister des Dritten Reiches dahingehend gleichen. Der Index ist um 10 Punkte gestiegen. Das
ausgeweitet haben, daß diese Unternehmen auch sind aber keine 10 °'o, sondern die Prozentsteigerung
Versorgungsbauten in jeder Form errichten können. beträgt 7,4%. Dieses muntere Spiel möchte ich hier
Wieweit haben diese Mammutunternehmen tatsäch- nicht fortsetzen.
lich stabilisierend auf die Mietpreise gewirkt? Das
alles hat ja nicht Herr Lücke zu verantworten, der (Abg. Dr. Czaja: Würden Sie zugeben, daß es
seit 1965 nicht mehr Wohnungsbauminister ist . unter Lücke nur 6 Punkte gegeben hat?)
Schließlich ist die Frage aufzuwerfen, was Sie — Jetzt will ich Ihnen einmal etwas sagen, Herr
gegen die steigenden Gesamtbaukosten, insbeson- Czaja.
dere auch gegen die vom Verband der gemein- (Abg. Dr. Czaja: Bitte!)
nützigen Wohnungsunternehmen nachgewiesenen — Ich habe hier die Zahlen seit dem Jahre 1948
Steigerungen der Geldbeschaffungs- und Verzin- vorliegen, und danach wird klar ausgewiesen, daß
sungskosten — auch während der Bauzeit — getan bis zum Abbau der Wohnungszwangswirtschaft, also
haben. Auch hier hat es an einer konzertierten bis zum Jahre 1960, die jährliche Mietsteigerung im
Aktion selbst mit den Staatsbanken, aber auch mit Durchschnitt etwa bei 2 bis 3% liegt, und dann
) solchen Banken gefehlt, deren Einlagen nicht vom schnellt sie nach oben und beträgt jedes Jahr min-
Diskontsatz betroffen waren. destens 6 1 /2 %. In den Jahren, in denen besonders
Meine Damen und Herren, das alles zeigt, daß viele Abschlußtermine lagen, liegt sie sogar noch
nicht nur in der vergangenen Regierung, sondern höher.
auch in dieser Regierung der Bundesminister für (Abg. Dr. Klepsch: Wie ist es denn mit den
Wohnungswesen einer der schwächsten Punkte der kommunalen Gebühren?)
Regierung ist.
— Aber ich bitte Sie! Ich weiß nicht, wer von Ihnen
(Zurufe von der SPD.)
in der Kommunalpolitik zu Hause ist. Wie stellen
Er wird hoffentlich endlich zu Taten und nicht nur Sie es sich vor, daß ein Bundesminister auf die
zu Reden schreiten. Tarife der kommunalen Versorgungsunternehmen,
(Beifall bei der CDU/CSU. — Buh-Rufe von der Müllabfuhr und der Kanalreinigung Einfluß
der SPD.) nehmen soll?
(Zurufe von der Mitte.)
Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen
-

Herr Abgeordneter Czaja, wollten Sie die Zwischen- — Nein, das geht nicht.
frage des Abgeordneten Apel beantworten? — Herr (Abg. Dr. Czaja: § 27 der Berechnungs
Abgeordneter Apel, es ist das Recht des Redners, verordnung!)
auf Zwischenfragen nicht einzugehen. — Das geht nicht. Ich habe hier in einer Frage-
Das Wort hat der Herr Bundeswohnungsbaumini- stunde in Aussicht gestellt, mit den zuständigen
ster. Länderministern darüber zu sprechen. Das ist
geschehen. In der letzten Konferenz der Minister
Dr. Lauritzen, Bundesminister für Städtebau und Senatoren für das Bau- und Wohnungswesen
und Wohnungswesen: Herr Präsident! Meine Damen ist sehr eingehend über den Einfluß der kommu-
und Herren! Zu den letzten Bemerkungen des nalen Gebühren und Abgaben auf die Entwicklung
Herrn Abgeordneten erwarten Sie von mir sicherlich der Mieten diskutiert worden. Wir waren uns alle
keine Erklärung. einig, das zu versuchen. Das muß aber über die
Länder und Gemeinden geschehen.
(Beifall bei den Regierungsparteien.)
Dieses ganze Spiel mit Zahlen, Herr Czaja, das (Zurufe von der CDU/CSU.)
Sie hier so munter entwickelt haben, erfordert nun — Wenn Sie das eine konzertierte Aktion nennen
eine lange Erwiderung, weil da derartig viele Fehler wollen, sind wir uns in dem Punkt einig. Das ist
384 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969
Bundesminister Dr. Lauritzen
aber geschehen. Nur dürfen Sie die Möglichkeit, die Deswegen ist eine umfassende Novelle notwendig,
darin liegt, nicht überschätzen. wie ich sie vorhin dargestellt habe. Ich glaube, Sie
werden das im Ernst nicht bestreiten können.
Was die Entwicklung des Bauvolumens angeht,
so ist einfach festzustellen, daß in diesen drei Jah- (Abg. Dr. Klepsch: Wann kommt die denn?)
ren trotz der großen finanziellen Schwierigkeiten, in — Die kommt noch in diesem Jahr, wenn der Finanz-
denen wir uns befanden, das Volumen des sozialen minister mir sagt, wieviel Geld im Rahmen der
Wohnungsbaus gehalten worden ist. mittelfristigen Finanzplanung drin ist.
(Beifall bei der SPD.) (Zuruf von der CDU/CSU: Nehmen Sie die
Ergänzungsabgabe!)
Ihre Statistik enthält leider nicht den zweiten
Förderungsweg. Den haben Sie vergessen. Das sind — Sie waren doch bisher immer gegen die Ergän-
öffentliche Mittel, die in den Wohnungsbau hinein- zungsabgabe. Jetzt sind Sie mit einem Male dafür.
gehen. Ich verstehe ihre Politik nicht mehr.

(Abg. Dr. Czaja: Aber nur für Empfänger (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten
gehobener Einkommen!) der FDP.)
Hier muß im Zusammenhang gesehen werden,
— Das sind mit öffentlichen Mitteln geförderte
welche Mittel für das Wohngeld, welche Mittel für
Wohnungen, die dürfen Sie doch nicht weglassen!
den Wohnungsbau und welche Mittel für die Städte-
Natürlich gehören die dazu! bauförderung zur Verfügung stehen. Dann können
(Abg. Dr. Czaja: Nein, steuerbegünstigt.) wir eine Vorlage machen.

— Nein, das ist nicht steuerbegünstigt; das ist der (Beifall bei den Regierungsparteien.)
zweite Förderungsweg. Die Statistik weist bei dem
mit direkten staatlichen Hilfen geförderten Woh- Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen
-

nungsbau für 1967 198 000 Bewilligungen, für 1968 Meine Damen und Herren, damit stehen wir am
204 000 Bewilligungen aus. Ich habe immer gesagt, Ende der Beratungen der Tagesordnungspunkte 3,
das Volumen sollte 200 000 sein. Da haben wir es! 4 und 6.
Zu dem von den Abgeordneten Geisenhofer, Dr.
(Zuruf des Abg. Dr. Czaja.) Riedl (München), Dr. Schmidt (Wuppertal), Roll-
— Nein, in dem Grad, wie öffentliche Mittel im mann, Orgaß, Dr. Probst, Müller (Berlin), Wohlra-
Sinne des Zweiten Wohnungsbaugesetzes hinein- be und Genossen eingebrachten Entwurf eines Ge-
gehen. Es ist doch eine Rabulistik, wenn Sie jetzt setzes zur Änderung des Wohngeldgesetzes wird
sagen: Das rechne ich hinein und das rechne ich vorgeschlagen, ihn dem Ausschuß für Städtebau und
nicht hinein. Öffentliche Mittel im Wohnungsbau Wohnungswesen und dem Haushaltsausschuß gemäß
haben dazu geführt, daß die Rate von 200 000 Woh- § 96 der Geschäftsordnung zu überweisen. Ich sehe
nungen im Jahr gehalten worden ist. keine anderen Vorschläge; es ist so beschlossen.
Der Antrag der Abgeordneten Geisenhofer, Dr.
Nun noch etwas, Herr Czaja, was wir versucht
Riedl (München), Dr. Probst und Genossen betref-
haben im Ausschuß schon drei Jahre lang deutlich
fend Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
zu machen. Drei Jahre lang haben wir darüber dis-
Wohnungsbindungsgesetzes 1965 soll nach dem
kutiert, daß die Rückflußmittel nicht einen Dispo-
Vorschlag des Ältestenrates dem Ausschuß für
sitionsfonds des Bundeswohnungsbauministers schaf-
Städtebau und Wohnungswesen überwiesen wer-
fen.
den. — Es werden keine anderen Vorschläge ge-
(Zuruf des Abg. Dr. Czaja.)
macht; es ist so beschlossen.
— Nein, das haben alle abgenommen; außer Ihnen Der Antrag der Abgeordneten Geisenhofer, Dr.
haben das alle Mitglieder des Ausschusses akzep- Riedl (München) und Genossen betreffend Entwurf
tiert. Die Mittel sind im Rahmen der mittelfristigen eines Zweiten Gesetzes zur Änderung mietpreis-
Finanzplanung eingeplant und haben zu diesen rechtlicher Vorschriften soll auf Vorschlag des
Bauten geführt, von denen ich soeben gesprochen Ältestenrates dem Ausschuß für Städtebau und Woh-
habe. nungswesen überwiesen werden. — Es werden kei-
Aber nun lassen Sie mich noch etwas sagen. Ich ne anderen Vorschläge gemacht; es ist so beschlos-
würde es für gefährlich halten, eine Änderung des sen.
Wohngeldgesetzes allein auf die Festsetzung der Meine Damen und Herren, zu den Punkten 5 und
Mietobergrenze zu beschränken. Das ist eine ganz 7 der Tagesordnung habe ich eine angenehme Nach-
gefährliche Sache. Das führt zunächst einmal dazu richt für Sie: die verehrten Kollegen aus Hamburg,
— wollen wir es einmal vorsichtig ausdrücken —, Dr. Apel und Rollmann, die sich hierzu zu Wort
daß man sich auf Kosten des Staates über die Miet- gemeldet hatten, haben ihre Wortmeldung zurück-
höhe verständigen kann. gezogen.
(Beifall und Heiterkeit.)
(Beifall bei der SPD.)
Sie erhoffen sicher, daß sich das positiv auf die
Aber was viel gefährlicher ist: das hebt sofort das weitere Beratung des hier schon mehrfach vorge-
Mietniveau. tragenen Anliegens auswirkt. — Somit liegen keine
(Zuruf von der SPD: Da wollen die doch hin!) Wortmeldungen vor. Ich schließe die Beratung.
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969 385
Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen
' Der Antrag unter Punkt 5 — Verbot der Zweck- Koalitionsfraktionen, und zwar wünschen wir die
entfremdung von Wohnraum — soll dem Ausschuß Aufrechterhaltung der §§ 17 und 18 Abs. 2 des Zwei-
für Städtebau und Wohnungswesen überwiesen ten Bundesmietengesetzes. Wir wünschen eine Er-
werden. — Es wird kein anderer Vorschlag ge- höhung nicht nur um 10 % oder 5 %, sondern auch
macht; es ist so beschlossen. um 15 % der Wohnungen mit Zentralheizung.
Schließlich sehen wir die Aufrechterhaltung des Ge-
Der Gesetzentwurf unter Punkt 7 — Änderung schäftsraummietengesetzes als in der Praxis über-
mietrechtlicher Vorschriften — soll dem Ausschuß holt an.
für Städtebau und Wohnungswesen — federfüh-
rend — und dem Rechtsausschuß zur Mitberatung Drittens. Das, was auch unser Antrag nicht ent-
überwiesen werden. — Andere Vorschläge werden hält — das ist eigentlich der Grund dafür gewesen,
nicht gemacht; es ist so beschlossen. daß ich mich noch einmal zu Wort gemeldet habe —
und was nur aus zeitlichen Gründen unterblieben
Wir kommen nun zu Punkt 8: ist, was aber an dieser Stelle von uns nachdrücklich
angesprochen werden soll, ist eine Übergangsrege-
Erste Beratung des von den Fraktionen der lung. Diese Frage muß, auch wenn sie noch so pro-
SPD, FDP eingebrachten Entwurfs eines Zwei- blematisch ist, in den Ausschußberatungen unbe-
ten Gesetzes zur Änderung des Schlußtermins dingt behandelt werden. Über 450 000 Einwohner
für den Abbau der Wohnungszwangswirt-
- Berlins sind 65 Jahre und älter. Sie vor allem leben
schaft und über weitere Maßnahmen auf dem in der Angst, daß die Eingliederung ihrer Wohnun-
Gebiete des Mietpreisrechts im Land Berlin gen in die soziale Marktwirtschaft eine große Zahl
— Drucksache VI/46 — von Kündigungen zur Folge haben könnte mit dem
Ziel, die Mieten unangemessen zu erhöhen. Sie
Heute morgen ist beschlossen worden, neben fürchten, dem Vermieter wehrlos ausgeliefert zu
Punkt 8 folgenden Punkt 8 a auf die Tagesordnung sein und enorme Mieterhöhungen in Kauf nehmen
zu setzen: zu müssen.
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Müller (Berlin), Benda, Dr. Gradl, Wohlrabe Im Hinblick auf die besondere Situation Berlins
betrachten wir es als unsere Pflicht, ihnen diese
und Genossen betreffend Entwurf eines Zwei-
Sorge möglichst zu nehmen.
ten Gesetzes zur Änderung des Schlußtermins
für den Abbau der Wohnungszwangswirt- (Abg. Dr. Klepsch: Sehr gut!)
schaft und über weitere Maßnahmen auf dem
Wir denken dabei an eine Angemessenheitsverord-
Gebiet des Mietpreisrechts im Land Berlin
nung, die für eine bestimmte Übergangszeit Rahmen-
— Drucksache VI/55 — maßstäbe für Mieterhöhungen festlegt, um unge-
Darf ich zunächst fragen, ob zu Punkt 8 das Wort rechtfertigte Mietpreissteigerungen zu vermeiden.
gewünscht wird? — Das ist nicht der Fall. Es ist nach unserer Auffassung z. B. auch nicht einzu
sehen, daß Berliner, die, wie es in der Begründung
Jetzt frage ich, ob zu Punkt 8 a das Wort ge- Ihres Antrags heißt, „ihren ersten Wohnsitz oder
wünscht wird. B Bitte schön, Herr Kollege Müller! ihren Lebensmittelpunkt im übrigen Bundesgebiet
haben", nach wie vor den Mieterschutz genießen
Müller (Berlin) (CDU/CSU) : Herr Präsident! und dazu auch noch durch Mietpreisbindung eine
Meine Damen und Herren! Ich darf zu der Begrün- niedrig gehaltene Miete zahlen. Deren Berliner Woh-
dung des Antrags Drucksache VI/55 nur noch einige nungen sind bestimmt keine Bruchbuden; sonst
wenige Gesichtspunkte nachtragen. Ich hoffe, daß würde man das Mietverhältnis nicht aufrechterhal-
damit nicht wieder erneut eine so scharfe Diskus- ten.
sion heraufbeschworen wird, wie wir sie eben er- Vor allem sollte man aber während einer Über-
lebt haben. gangszeit durch geeignete Maßnahmen verhindern,
(Zuruf von der SPD: Dann hätten Sie so daß eine größere Zahl von Wohnungen zweckent-
vernünftig sein müssen wie die Hambur fremdet wird.
ger!)
Im übrigen hat inzwischen der zuständige Aus-
Zunächst möchte ich mit Genugtuung feststellen schuß des Berliner Abgeordnetenhauses auf Antrag
— auch im Namen meiner Kollegen —, daß die der CDU-Fraktion einen Beschluß gefaßt, wonach der
SPD- und die FDP-Fraktion entgegen dem ursprüng- Senat beauftragt wird — ich zitiere —, „sich beim
lichen Vorschlag des Bausenators von Berlin als Bundesgesetzgeber dafür einzusetzen, daß bei Wirk-
Endtermin für die Mietpreisbindung nicht den samwerden der Wohnungsmarktwirtschaft eine
31. Dezember 1973, sondern den 31. Dezember 1972 Übergangsphase geschaffen wird". Das sollte man
vorschlagen. Das Mieterschutzgesetz soll mit Ab- auch bei den Ausschußberatungen mit berücksich-
lauf desselben Termins auslaufen. Insoweit stimmen tigen.
wir erfreulicherweise überein. Dieser Termin ent-
Wichtiger als all das ist die Schaffung einer ge-
spricht aber im übrigen dem Antrag der CDU-Frak-
nügenden Zahl von Wohnungen, die den heutigen
tion im Berliner Abgeordnetenhaus vom 17. Okto-
Bedürfnissen entsprechen. Dies wird nicht durch Ver-
ber 1969; das darf ich doch hier einmal feststellen.
längerung der Mietpreisbindung allein, sondern auch
Zweitens. Unsere Vorlage Drucksache VI/55 ent- durch Vermehrung qualitativ guten Wohnraums er-
hält nur wenige Abweichungen von der der beiden reicht. Selbst wenn im Jahr 20 000 neue Wohnungen
386 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969

Mü ller (Berlin)
gebaut werden, wird man das in drei Jahren nicht Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-

schaffen. Gestatten Sie bitte eine Zwischenfrage des Abge-


(Zurufe von der SPD.) ordneten Borm?
Von den rund 952 000 Wohnungen Ende 1967 sind
bekanntlich rund 480 000 Wohnungen bis 1918 er- Müller (Berlin) (CDU/CSU) : Ja, bitte.
baut worden.
(Zuruf von der SPD: Das steht doch alles in Borm (FDP) : Herr Kollege Müller, sind Sie be-
unserer Begründung!) reit, zur Kenntnis zu nehmen, daß die Beschlüsse
von Ausschüssen noch nicht die Beschlüsse des zu-
— Ich komme jetzt darauf.
ständigen Gremiums, des Berliner Abgeordneten-
(Abg. Schulte [Unna] : Das Ablesen von hauses, sind und daß allein die maßgebend sind?
Reden ist verboten!)
Müller (Berlin) (CDU/CSU) : Ich stimme Ihnen
Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-
insoweit zu; aber Sie nehmen doch wohl auch von
Herr Kollege, darf ich Sie auf die Bestimmungen in mir entgegen, daß das Abgeordnetenhaus, wenn der
der Geschäftsordnung hinweisen, wonach wir unsere Ausschuß das einstimmig beschlossen hat, diesen
Ausführungen hier in freier Rede vortragen sollen. Empfehlungen wahrscheinlich folgen wird. Wir wer-
-
(Beifall bei der SPD.) den alle diese Bemühungen unterstützen. Ich hoffe,
daß diese Frage im Ausschuß in diesem Sinne mit
Müller (Berlin) (CDU/CSU) : Für meine Begrün- behandelt wird.
dung darf ich mir aber doch ein paar Zahlen notie- (Beifall bei der CDU/CSU.)
ren und darauf Bezug nehmen.
(Abg. Schulte [Unna] : Was haben Sie? Zah Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-

len notiert? Gucken Sie sich das noch ein Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
mal an!)
Es ist vorgeschlagen, den von den Fraktionen der
Von rund 480 000 Wohnungen haben allein SPD und der FDP eingebrachten Entwurf eines Zwei-
276 000 weder Bad noch Innentoilette. Hier liegt ten Gesetzes zur Änderung des Schlußtermins für
das eigentliche Problem, bei dem wir ansetzen den Abbau der Wohnungszwangswirtschaft und
müssen. Der Herr Bundeswohnungsbauminister hat über weitere Maßnahmen auf dem Gebiete des Miet-
heute an anderer Stelle schon darauf hingewiesen. preisrechts im Land Berlin und den Antrag der Ab-
Meine Fraktion wird deshalb Überlegungen an- geordneten Müller, Benda und Genossen, der die
stellen, wie man nicht nur durch langwierige Flä- gleiche Überschrift trägt, dem Ausschuß für Städte-
chensanierungen, sondern mit einem Gesetz zur bau und Wohnungswesen zu überweisen. — Es lie
Verbesserung und Modernisierung erhaltungswürdi- gen keine anderen Vorschläge vor. Es ist so be-
ger Altbauwohnungen weiterkommen kann. schlossen.
(Abg. Schulte [Unna] : Der Redner liest ab!) Ich rufe Punkt 9 der Tagesordnung auf:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der
Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-
SPD, FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-
Herr Abgeordneter Müller, gestatten Sie eine Zwi-
setzes zum Schutz gegen Fluglärm in der Um-
schenfrage?
gebung von Flughäfen
— Drucksache VI/4 (neu) —
Heyen (SPD) : Herr Abgeordneter Müller, ist
Ihnen klar, daß Sie jetzt die Begründung des SPD/ b) Erste Beratung des von der Fraktion der
FDP-Antrags verlesen? CDU/CSU eigebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zum Schutz gegen Fluglärm in der Um-
Müller (Berlin) (CDU/CSU) : Nein. Ich habe ihr gebung von Flughäfen
lediglich einige Zahlen entnommen. — Drucksache VI/7 —
(Zurufe und Lachen bei der SPD.) Der Ihnen vorliegende Gesetzentwurf der Frak-
— Das ist doch wohl mein gutes Recht. Aber diese tionen der SPD und FDP — Drucksache IV/4 (neu) —
Zahlen sind mir aus anderen Unterlagen genauso entspricht den Beschlüssen des Deutschen Bundes-
geläufig gewesen, nicht nur aus Ihrem Antrag. tages der V. Wahlperiode vom 26. Juni 1969. Der
Gesetzentwurf der Fraktion der CDU/CSU — Druck-
In diese Richtung geht auch ein Beschluß des zu- sache VI/7 — schließt sich den Vorschlägen des Ver-
ständigen Ausschusses des Berliner Abgeordneten- mittlungsausschusses vom 16. Juli 1969 an. Über den
hauses, der ebenfalls auf einen Antrag der CDU Bericht des Vermittlungsausschusses — Drucksache
zurückzuführen ist und lautet: Die Modernisierung V/4590 — ist vom Deutschen Bundestag nicht mehr
von Altwohnungen ist durch zusätzliche Mittel und Beschluß gefaßt worden. Deshalb haben sich die
neue gesetzliche Bestimmungen zu fördern. Ein Fraktionen entschlossen, erneut Gesetzentwürfe be-
solches Gesetz sollte aber nicht allein für Berlin treffend Schutz gegen Fluglärm in der Umgebung
gelten, sondern für das ganze Bundesgebiet, obwohl von Flughäfen einzubringen.
man hier wahrscheinlich Berlin einige Prioritäten
einräumen sollte. Das Wort wird nicht gewünscht.
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969 387

Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen


-

Sind Sie mit dem Überweisungsvorschlag des Es wird vorgeschlagen Überweisung an den
Ältestenrates, und zwar an den Innenausschuß — Sonderausschuß für Sport und Olympische Spiele —
federführend —, an den Ausschuß für Jugend, Fa- federführend — und an den Haushaltsausschuß nach
milie und Gesundheit, den Ausschuß für Verkehr § 96 der Geschäftsordnung. — Es liegen keine an-
und für das Post- und Fernmeldewesen, an den deren Vorschläge vor; es ist so beschlossen.
Haushaltsausschuß — mitberatend und gemäß § 96
der Geschäftsordnung —, einverstanden? — Ich höre Ich rufe nunmehr die Punkte 12, 13 und 14 der
keinen Widerspruch; es ist so beschlossen. Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von der Fraktion der
Ich rufe Punkt 10 der Tagesordnung auf:
CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Fünf-
Erste Beratung des von der Fraktion der ten Gesetzes zur Änderung des Wehrsold-
CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gast- gesetzes
stättengesetzes — Drucksache VI/8 —
— Drucksache VI/5 — Erste Beratung des von der Fraktion der
Das Wort wird nicht gewünscht. Der Überwei- CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Fünf-
sungsvorschlag des Ältestenrats: Ausschuß für Wirt- ten Gesetzes zur Änderung des Soldaten-
schaft — federführend —, Rechtsausschuß mitbe- versorgungsgesetzes
ratend. Ich höre keine anderen Vorschläge; es ist — Drucksache VI/10
so beschlossen. Erste Beratung des von der Fraktion der
CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Ge-
Ich rufe Punkt 11 der Tagesordnung auf:
setzes zur Änderung des Bundesbesoldungs-
Erste Beratung des von der Fraktion der gesetzes
CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Ge- — Drucksache VI/9
setzes zur Änderung des Gesetzes über die
Gebühren der Schlachtviehmärkte, Schlacht- Das Wort hat der Herr Abgeordnete Ernesti.
häuser und Fleischgroßmärkte (Fleischmarkt-
hallen)
Ernesti (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine Da-
— Drucksache VI/6 — men und Herren! Lassen Sie mich die drei Gesetz-
Das Wort wird nicht gewünscht. entwürfe kurz begründen.
Wir haben in der letzten Legislaturperiode in die-
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Aus-
sem Hause verschiedene Gesetze verabschiedet, die
schuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten —
insbesondere die Personallage der Bundeswehr ver-
federführend —, Innenausschuß und Ausschuß für
bessern und einen gerechten Lastenausgleich der
Jugend, Familie und Gesundheit mitberatend. — Es
Wehrdienstleistenden und Nichtdienenden unterein-
werden keine weiteren Vorschläge gemacht; es ist so
ander herbeiführen sollten. Wir haben einige Ge-
beschlossen.
setze aber nicht mehr verabschieden können. Wir
Meine Damen und Herren, ich schlage vor, daß wir halten es für dringend geboten, jetzt schon weitere
zunächst alle die Punkte erledigen, die nach den Gesetzentwürfe einzubringen, damit die Ausschüsse
Vorschlägen des Ältestenrates ohne Aussprache beraten können und nicht erst zu warten brauchen,
behandelt werden sollen, und daß ich dann die bis sich der Minister im Hause eingearbeitet hat.
Punkte 12, 13 und 14 aufrufe. Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben
Verständnis dafür, daß wir Ihnen hier eine Zeit der
Ich rufe zunächst Punkt 15 auf: Einarbeitung zubilligen und in der Zwischenzeit eine
Erste Beratung des von der Bundesregierung kleine Formulierungshilfe mit übernehmen.
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
Ein Entwurf eines Fünften Gesetzes zur Ände-
dem Abkommen vom 20. Dezember 1968 zwi-
rung des Wehrsoldgesetzes liegt Ihnen in Druck-
schen der Bundesrepublik Deutschland und
sache VI/8 vor. Es dreht sich hier um das Weih-
dem Kaiserreich Iran zur Vermeidung der
nachtsgeld für Wehrpflichtige.
Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der
Steuern vom Einkommen und vom Vermögen (Zurufe von der FDP.)
— Drucksache VI/16 — Wir drängen darauf, daß dies in den Ausschüssen
Das Wort wird nicht gewünscht. bald beraten wird, damit die Wehrpflichtigen noch
diese Weihnachten ebenfalls ein Weihnachtsgeld
Der Überweisungsvorschlag des Ältestenrates bekommen.
lautet: Finanzausschuß. — Es liegen keine weiteren (Beifall bei der CDU/CSU.)
Vorschläge vor; es ist so beschlossen.
Sie wissen, daß die Weihnachstzuwendungen für den
Ich rufe Punkt 16 der Tagesordnung auf: öffentlichen Dienst laufend erhöht worden sind und
Beratung des Antrags der Fraktionen der daß auch in der Privatwirtschaft Weihnachtsgeld ge-
SPD,FDP, betr. Fußballweltmeisterschaft 1974 zahlt wird. Nur die, die in ein Pflichtverhältnis zum
Staat genommen werden, die Wehrpflichtigen, sind
— Drucksache VI/42 —
von diesem Weihnachtsgeld ausgenommen. Wir
Das Wort wird nicht gewünscht. haben diesen Gesetzentwurf eingebracht, damit die
388 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10, Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12, November 1969

Ernesti
Beratungen sofort beginnen können und die Wehr- Meine Damen und Herren, deswegen haben wir
pflichtigen noch in diesem Jahr in den Genuß eines diese Gesetzentwürfe vorgelegt.
Weihnachtsgeldes kommen können.
Vizepräsident Dr. Schmitt - Vockenhausen:
Meine Damen und Herren, ich komme zur näch- Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
sten Vorlage, Drucksache VI/10: Entwurf eines Fünf-
Jung?
ten Gesetzes zur Änderung des Soldatenversor-
gungsgesetzes. Hier dreht es sich um drei verschie-
dene Fragenkomplexe. Jung (FDP) : Ich wollte nur fragen, Herr Kollege
Ernesti, ob Sie zur Abkürzung des Verfahrens nicht
Zunächst geht es um die Verbesserung des Ruhe- die Begründung des Antrags der FDP, den Sie im
gehaltes. Es ist eine Ungerechtigkeit, daß verschie- vergangenen Jahr abglehnt haben, hier als Begrün-
dene Soldaten — Unteroffiziere wie Offiziere —, die dung Ihrer Anträge vortragen können.
aus Altersgründen vorzeitig in den Ruhestand ver-
setzt werden müssen, ihre Höchstpensionen nicht er- (Heiterkeit und Beifall bei den Regierungs
reichen können. Gegenwärtig ist es so, daß einer, parteien.)
der mit dem 20. Lebensjahr zur Bundeswehr kommt
und als Offizier oder Unteroffizier mit dem 52. Le- Ernesti (CDU/CSU) : Sie haben Gelegenheit, Ihre
bensjahr aus Gründen, die er nicht selbst zu ver- Begründung hier anschließend kundzutun. Ich habe
-
treten hat, in den Ruhestand gehen muß, noch 75 % keine Veranlassung, Begründungen der FDP vor-
erreicht. Kommt er aber mit dem 25. Lebensjahr zur zutragen. Ich trage hier unsere Begründungen zu
Bundeswehr, kann er diese Summe nicht mehr er- den von uns vorgelegten Gesetzentwürfen vor.
reichen, Das führt dazu, daß Leute aus sozialen Meine Damen und Herren, meine Freunde und
Gründen über diese Dienstzeit hinaus im Dienst be- ich werden den Überweisungsvorschlägen des Äl-
halten werden, damit sie den höchsten Prozentsatz testenrates zustimmen. Ich habe die Bitte, daß die
ihres Ruhegehaltes erreichen. Deswegen sind wir Ausschüsses diese Gesetzesvorlagen unverzüglich
der Meinung, daß der § 26 geändert werden sollte, beraten, damit im Sinne der Gerechtigkeit nun auch
so daß in Zukunft auch die Leute, die sich mit 25 den Soldaten geholfen wird.
Jahren noch zum Dienst in der Bundeswehr melden,
75 % als Pension erreichen können. (Beifall bei der CDU/CSU.)
Bei § 38 sind wir der Meinung, daß die Grenze des
Ausgleichsbetrags bei der vorzeitigen Pensionierung Vizepräsident Dr. Schmitt - Vockenhausen:
endlich auch von 8000 auf 12 000 DM erhöht werden Das Wort hat der Herr Abgeordnete Haase.
sollte. Wir wissen, daß es seit 1957 im öffentlichen
Dienst Gehaltserhöhungen von durchschnittlich 50 % Haase (Kellinghusen) (SPD) : Herr Präsident!
gegeben hat, während die Hauptfeldwebel und auch Meine Damen und Herren! Der Herr Kollege Ernesti
die Angehörigen anderer Besoldungsgruppen, die hat zu Beginn seiner Ausführungen geglaubt, dem
schon vorzeitig mit 52 Jahren gehen müssen, nur neuen Verteidigungsminister eine Einarbeitungsfrist
geringe Beträge erreichen und die Grenze von 8000 einräumen zu müssen. Ich meine, er sollte dann auch
DM von ihnen nicht überschritten werden kann. Da- an den Vorgänger von Herrn Schmidt denken und
her sind wir der Meinung, daß dieser Höchstbetrag fragen, ob er seine Ausarbeitungsfrist restlos aus-
auf 12 000 DM erhöht werden sollte. genutzt hat und die ihm erteilten Aufträge erfüllt
hat.
Zu § 63 meinen wir, daß eine Änderung notwendig
ist, weil es gegenwärtig Soldaten, die auf besonders Ich habe hier das Protokoll der 244. Sitzung der
gefährdeten Dienstposten beschäftigt werden, gibt, 5. Wahlperiode vom 27. Juni 1969 vor mir. In
die für den Fall der Invalidität oder deren Familien dieser Sitzung ist ein Entschließungsantrag der FDP-
für den Fall des Todes nicht so gesichert sind, wie es Fraktion einstimmig angenommen worden, mit dem
bei den Jetpiloten der Fall ist. Wir sind der Mei- der damalige Verteidigungsminister beauftragt wor-
nung, daß hier — z. B. bei den Tauchern oder Fall- den ist, das Problem des Weihnachtsgeldes für
schirmspringern — eine Angleichung unbedingt er- Wehrpflichtige zu überprüfen und dem Parlament
forderlich ist, um eine Gerechtigkeit herbeizuführen. entsprechende Vorschläge zu machen. Das ist nicht
geschehen. Sie bringen also nichts Neues, Herr
Die Vorlage Drucksache VI/9 befaßt sich mit der Kollege Ernesti, sondern holen das nach, was Herr
Verzahnung der Hauptfeldwebelstellen nach A 8 mit Schröder versäumt hat.
denen nach A 9. Es ist im öffentlichen Dienst allge-
(Abg. Köppler: Woher wissen Sie das? Wir
mein üblich, daß die Hauptsekretärsstellen zu einem
haben seither nicht mehr getagt!)
bestimmten Prozentsatz mit A 9-Stellen verzahnt
werden können. Für Soldaten war das bisher nicht — Die Regierung hat ja auch während der Parla-
notwendig, weil die Stabs- und Oberstabsfeldwebel mentsferien gearbeitet, und sie hat auch die Pflicht
nach A 9 und A 10 bezahlt wurden. Da diese Lauf- gehabt, zu arbeiten.
bahn — wegen der Einführung der Laufbahn des (Beifall bei den Regierungsparteien.)
militärfachlichen Dienstes — ausläuft, ist es zwin-
gend erforderlich geworden — da viele Hauptfeld- Wir sind der Meinung, daß das Problem einer Weih-
webel jetzt Tätigkeiten ehemaliger Stabsfeldwebel nachtszuwendung an Wehrpflichtige kein neues,
übernehmen —, diese Verzahnung der Stellen in sondern ein sehr altes Problem ist. Wir haben in
eine Größenordnung von 10 % vorzusehen. der Wehrdebatte im Dezember 1967 und auch 1968
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969 389

Haase (Kellinghusen)
darüber gesprochen. Wir haben uns im Ausschuß ren die Höchstgrenze der Pension noch nicht er-
darüber unterhalten und haben den damaligen Ver- reicht hat, hat bis zum 25. Lebensjahr als Beschäf-
teidigungsminister auch im Ausschuß wissen lassen, tigter in der privaten Wirtschaft möglicherweise
daß wir wünschen, daß bis zu diesem Zeitpunkt schon zumindest eine Anwartschaft in der Arbeiter-
beratungs- und beschlußreife Vorschläge vorliegen. rentenversicherung oder in der Angestelltenver-
Jezt kommen Sie mit 'einem Vorschlag, der Weih- sicherung begründet und kann nach dem 52. Lebens-
nachtszuwendung und Verbesserung des Entlas- jahr darauf zurückgreifen. Diese Dinge müssen bei
sungsgeldes kombiniert. Sie wissen also das, was der Beratung im Ausschuß mit erörtert werden,
auf der Grundlage bestimmter Dienstzeiten an wenn wir hier Nägel mit Köpfen machen wollen.
Weihnachtszuwendung oder besonderer Zuwendung Das gleiche gilt für die Anhebung. Hier muß eine
noch nicht ausgezahlt werden kann, dann am Ende Korrektur von 8000 auf 12 000 DM oder eine andere
der Dienstzeit bis zum Höchstbetrag von 240 DM Summe vorgenommen werden. Ich will es einmal
zusätzlich zu dem inzwischen erhöhten Entlassungs- dahingestellt sein lassen, weil hier einfach die Zeit-
geld auszahlen. Wir sind der Meinung, die Dinge verhältnisse die alten Rechtsvorschriften überrollt
müssen auseinandergehalten werden. haben. Hier muß eine Korrektur vorgenommen wer-
den.
Wir stimmen der Absicht der Bundesregierung
zu, das Wehrsoldgesetz dahin gehend zu ändern, daß Zum letzten Punkt, Herr Kollege Ernesti. Wenn
-
in diesem Jahr eine einmalige pauschale besondere wir davon ausgehen, daß, wie Sie in Ihrer Be-
Zuwendung an alle Wehrpflichtigen — ohne Rück- gründung sagen, der Unterschied in der Unfallart
sicht auf die Zeitdauer des geleisteten Grundwehr- für die Gewährung der Unfallentschädigung nicht
dienstes — gezahlt werden kann, weil wir einfach zu rechtfertigen ist, dann gilt dies aber für alle
nicht einzusehen vermögen, warum nach Ihrem Vor- Soldaten, die in der Bundeswehr ihren Dienst lei-
schlag diejenigen grundwehrdienstleistenden Wehr- sten, und nicht nur für die, die gefährdet, beson-
pflichtigen, die am 4. Oktober einberufen worden ders gefährdet oder weniger gefährdet sind. Dann
sind und deswegen eine Dienstzeit von drei Mona- müssen wir das Problem von dieser Seite aufgrei-
ten in diesem Jahr nicht mehr erreichen, in diesem fen und uns überlegen, ob wir eine versicherungs-
Jahr nichts bekommen sollen und und diejenigen, rechtliche oder arbeitsrechtliche Ersatzlösung in der
die kurz vor der Entlassung stehen, das erhöhte Unfallversorgung aller Soldaten einschließlich der
Weihnachtsgeld oder die erhöhte Zuwendung be- Wehrpflichtigen finden,
kommen sollen. Wir neigen der Auffassung der
(Zustimmung bei Abgeordneten der SPD
Regierung zu. und der CDU/CSU)
Das Problem des Entlassungsgeldes wollen wir
anders lösen. Sie kennen unsere Auffassungen. Wir die schwer leiden müssen, soweit Fälle bisher ein-
wollen das Entlassungsgeld Zug um Zug auf einen getreten sind, Todesfälle oder besondere Fälle. Da
Satz — den heutigen Geldwertverhältnissen ent- stimmen wir dann hoffentlich überein und können
sprechend — von etwa 100 DM pro geleisteten das, was Sie hier vorgeschlagen haben — wir haben
Monat Grundwehrdienst erhöhen. Wir wollen dann uns schon einmal im Ausschuß darüber unterhal-
auch in einer Lösung, die im nächsten Jahr vorbe- ten , vielleicht noch mit dem Ziel einer wesent-
reitet werden kann, den Versuch machen und alle lichen Verbesserung und einer vernünftigen Lösung
Vorschläge der Regierung unterstützen, die darauf beraten.
abzielen, eine Weihnachtszuwendung oder beson- Jetzt zu der Frage A 9 für 10% der Hauptfeld-
dere Zuwendung an Wehrpflichtige gesetzlich ein- webel. Wir stehen nach wie vor auf dem Stand-
zuführen. Wir wollen diese wie bei den Beamten punkt, daß mit der Einführung der zusätzlichen Lauf-
und Angsetellten des öffentlichen Dienstes in ein bahn die Dienstposten und damit auch die Dienst-
bestimmtes Verhältnis zum Wehrsold bringen, und grade der Stabs- und Oberstabsfeldwebel auslaufen
zwar auf der Grundlage eines durchschnittlichen und daß im Zusammenhang damit das Ziel verfolgt
Wehrsoldes der Werhpflichtigen, beim Gefreiten werden soll, hier nicht wieder für einen kleineren
oder Obergefreiten vielleicht 50 %, wenn es steigt Teil von 10 °/o eine Sonderlösung zu treffen, son-
in den anderen Bereichen vielleicht 60 oder 70 %. dern dann die verbleibenden fünf Unteroffizier-
Auch hier wollen wir den Versuch machen, den Weg dienstgrade glatt durchzustufen von der A 5 des
der Analogie zu gehen. Unteroffiziers bis zur A 9 des Hauptfeldwebels.
Dann sind wir davon weg. Wir sehen diese Lösung,
Zu dem zweiten Antrag betreffend die §§ 26, 38
die wir mitzumachen bereit sind, nicht als eine
und 63 des Soldatenversorgungsgesetzes. Mit der
endgültige Lösung an, sondern nur als eine Über-
Änderung des § 26 verfolgen Sie das Ziel, den Sol- gangslösung mit dem Ziel, das wir verfolgen. Dar-
daten, die nach den geltenden Vorschriften mit dem über habe ich vor einem Jahr und vor zwei Jahren
52. Lebensjahr aus dem Dienst ausscheiden, eine hier vor diesem Hause meine Ausführungen für die
— an sich noch nicht erreichte — volle Pension zu sozialdemokratische Fraktion gemacht.
gewähren. Das ist eine Frage der Analogie zum
übrigen Beamtenrecht; das ist ein Bruch der Grund- (Beifall bei den Regierungsparteien.)
sätze des allgemeinen Beamtenrechts. Sie müssen
eines dabei bedenken: Wir sind bereit, mit Ihnen
Vizepräsident Dr. Schmitt - Vockenhausen:
im Ausschuß darüber zu reden, Sie müssen aber
Das Wort hat der Abgeordnete Ollesch.
dabei bedenken, Herr Kollege Ernesti, ein Soldat,
der mit dem 25. Lebensjahr eintritt und mit 52 Jah (Zuruf des Abg. Dr. Klepsch.)
390 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969

Ollesch (FDP) : Herr Präsident! Meine sehr ver- Nun zu dem Antrag VI/9! (C
ehrten Damen und Herren! Ja, Herr Kollege Klepsch,
(Abg. Klepsch: Wir werden ja sehen, was
wir haben heute sicher nicht allzuviel dazu beige-
die Regierung macht! — Abg. Haase [Kas
tragen, daß sich die Sitzung bis in die späten Abend-
sel] : Passen Sie auf, daß es Ihnen mit Ihrer
stunden hinzieht. Ich brauche nur an die Stunde vor-
Fürsorge nicht geht wie Herrn Arendt!)
hin zu erinnern, als die Münchner insgesamt ihre
Visitenkarte hier abgaben. — Wissen Sie, Herr Kollege Haase (Kassel), ich bin
(Zuruf von der Mitte.) nicht so ganz neu in diesem Geschäft, sicherlich nicht
jünger als Sie. Konzedieren Sie uns doch die Vor-
Wir freuen uns natürlich über die Aktivität bei den sicht, die Sie in der Beurteilung Ihrer Tätigkeit hier
Kollegen der CDU/CSU-Fraktion, die ja nun nicht für sich in Anspruch nehmen!
die Einarbeitungszeit des Bundesverteidigungsmini-
sters abwarten wollen. Wir freuen uns insbesondere (Abg. Haase [Kassel] : Ich wollte nur war
darüber, weil wir in Ihren Anträgen alte Bekannte nen, Herr Kollege!)
wiederfinden aus der vergangenen Legislaturperiode,
Nun zum Antrag VI/9, dem Entwurf eines Geset-
nämlich Anträge der Freien Demokraten, die Sie
zes zur Änderung des Bundesbesoldungsgesetzes!
damals als Mitglied der Großen Koalition aus diesen Sie wollen nunmehr ein Anliegen, das die Freien
oder jenen Gründen heraus abgelehnt haben. Wir
- Demokraten in den letzten Jahren immer vertreten
werden uns, obwohl Sie es sich sehr einfach machen haben, das Anliegen der Durchforstung unserer Be-
mit Ihrer verteidigungspolitischen Aktivität, bemü- soldungsordnung für die Soldaten, in einem Teil
hen, in den Ausschußberatungen sachgerecht — wie übernehmen. Sie wollen 10 % der Hauptfeldwebel
wir es immer getan haben — Ihre Anträge, die ja auf herausgehobenem Posten nach A 9 bringen.
früher einmal die unseren waren, zu beraten.
(Abg. Haase [Kassel]: Dann werden Sie ja (Abg. Haase [Kassel] : Das ist ein Anfang!)
mithelfen, Herr Ollesch!) Sicherlich, die veränderte Situation auf dem Unter-
Ich kann das etwas näher erläutern. offizierssektor mag dafür eine Begründung sein. Ich
glaube aber, daß wir mit dieser Änderung allein des
Meine Damen und Herren, die Drucksache VI/8
Problems nicht Herr werden.
geht auf eine Entschließung zurück, die dieses Hohe
Haus am 27. Juni 1969 auf Antrag der Freien Demo- (Zurufe von der CDU/CSU: Einverstanden!)
kraten gefaßt hat. Unter dem Entschließungsantrag
Wir sollten uns sehr genau überlegen, was mit dem
steht auch noch mein Name ausgedruckt. Wir sind
Rest derjenigen, die nicht die Möglichkeit haben,
erfreut darüber, daß Sie so schnell reagieren und
Offizier des militärfachlichen Dienstes zu werden,
diese Vorlage gemacht haben. Allerdings ist uns die
Vorlage in der Form einfach nicht ausreichend be- die aber auf Lebenszeit verpflichtet sind und für die
gründet, auch nicht durch die kurzen Ausführungen (Abg. Dr. Klepsch: Das müssen Sie nach
von Ihnen, Herr Ernesti. Sie wollen ja mit der be- links hin sagen!)
sonderen Zuwendung zur Weihnachtszeit — unserer
Meinung nach liegt hier ein besserer Vorschlag der — Herr Klepsch, ich befasse mich doch hier mit
Regierung vor — Ihrem Antrag — entsprechende Dienstgrade zur Zeit
nicht zur Verfügung stehen, geschehen soll.
(Zurufe von der CDU/CSU: Wo?)
-- Sie werden ihn sicherlich in den nächsten Tagen Allerdings darf es auch nicht so sein, daß von
zur Kenntnis nehmen können. unserem Vorhaben, vom Berufsunteroffizier alter
Art abgehen zu wollen, in Zukunft wieder Abstriche
(Abg. Haase [Kassel] : Hoffentlich geht es gemacht werden müssen; denn es war doch allge-
nicht so wie bei den Rentnern!) meine Auffassung, daß mit der Schaffung des Offi-
— Nein, es wird sicherlich nicht so sein wie bei den ziers des militärfachlichen Dienstes die Stellung des
Rentnern. Unteroffiziers auf Lebenszeit alter Art auslaufen
sollte und daß neue Positionen nicht geschaffen wer-
Sie wollen Sonderzuwendungen, ein neues Ent-
den sollten. Uns lag damals daran, Herr Kollege
lassungsgeld einführen, nachdem wir im Zuge der
Stahlberg und Herr Kollege Ernesti, eine klare
Bemühungen um die Herstellung der Wehrgerechtig-
Besoldungsübersicht für die Unteroffiziere zu erhal-
keit vor ganz kurzer Zeit das Entlassungsgeld erhöht
ten, von A 1 durchlaufend bis A 11, und den Haupt-
haben. Sicherlich ist es nicht ausreichend — da
feldwebel generell nach A 9 zu bringen. Wir wollen
stimme ich Ihnen zu —, aber ob die Beträge, die Sie
hoffen, daß nunmehr — ich nehme an, daß wir im
vorschlagen, die haargenau ausreichenden sind, das
Laufe der Zeit mit unserem Koalitionspartner hin-
werden wir in den Ausschußberatungen dann fest-
sichtlich der klaren Durchstufung eine Einigkeit er-
stellen. Sie können überzeugt sein, daß wir uns in
zielen werden — —
der Fürsorge für unsere Soldaten sicherlich nicht von
Ihnen übertreffen lassen. (Lachen und Zurufe von der CDU/CSU. —
(Beifall bei den Regierungsparteien. — Be Abg. Dr. Klepsch: Gehen Sie mal daran!)
tonter Beifall bei der CDU/CSU.) — Doch, doch! Ich bin mir mit Herrn Haase einig
So haben wir es in der Vergangenheit — das kön- darüber; wir waren uns auch schon in der Ver-
nen wir für uns in Anspruch nehmen; es ist nachzu- gangenheit klar darüber, und ich nehme an, daß Sie
weisen — immer gehalten. der neuen Koalition auch aus der Opposition heraus
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969 391
Ollesch
Ihre Hilfestellung in dieser Frage nicht versagen die mittelfristige Finanzplanung einhalten. Aber Sie
werden. können nicht beides fordern und beides zugleich
(Abg. Haase [Kassel] : Nein! Wir sind da kritisieren.
bei! Ausgezeichnet! — Abg. Dorn: So (Beifall bei den Regierungsparteien.)
schnell haben sie gelernt!)
Nun zu dem Antrag Drucksache VI/10. Meine Damen Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen:
und Herren, auch Sie haben da einen Antrag der Herr Abgeordneter Haase möchte eine Zwischen-
letzten Legislaturperiode Wort für Wort wiederauf- frage stellen.
genommen. Das ist Ihr gutes Recht. Ich meine den
Antrag, den Sie gemeinsam mit der SPD Ende 1968 Haase (Kassel) (CDU/CSU) : Herr Minister, eine
gestellt haben. Frage in diesem Zusammenhang. Sie wollen doch
Die Freien Demokraten hatten ja einen ähnlichen auch Steuern senken. Ehe Sie Steuern senken, wäre
Antrag gestellt. Er ging allerdings weiter als der es doch günstiger, hier sozialen Verpflichtungen —
jetzt vorliegende. Wir wollten die Unterschieds- beispielsweise im Zusammenhang mit den Rentnern
beträge zwischen Großeltern und Enkeln und Eltern — nachzukommen, die Sie ja selbst für notwendig
und Kindern abschaffen, den Unterschiedsbetrag, den erachten.
Sie beibehalten wissen wollen. Wir vermögen- alle
nicht einzusehen — die Kollegen der SPD sind der Genscher, Bundesminister des Innern: Herr Kol-
gleichen Meinung —, daß es eine unterschiedliche lege, die Bundesregierung wird in diesem Bereich
Behandlung von Witwen verunglückter Soldaten Vorschläge vorlegen, die es Ihnen schwermachen
gibt. Daß es diese Unterschiedlichkeit nicht gibt, ist werden, zu sagen, wir kämen sozialen Verpflichtun-
ein gemeinsames Anliegen. gen nicht nach. Im übrigen würde ich auch die Ver-
doppelung des Arbeitnehmerfreibetrags als sozial
Allerdings, meine Damen und Herren, gibt es noch durchaus gerechtfertigt betrachten.
mehr besonders gefährdete Posten, als sie auf-
gezählt sind und i n Ihrem Antrag erfaßt werden. (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg.
Darüber werden wir uns zu unterhalten haben, da- Haase [Kassel] : Aber dann haben Sie doch
mit wir endlich gemeinsam einige Schritte in Rich- Geld zur Verfügung!)
tung auf das Ziel tun können, der Wehrgerechtigkeit — Herr Kollege Haase, ich will Ihnen das gern noch
näherzukommen. einmal bei einem besonderen Punkt erläutern. Ich
(Beifall bei der FDP.) möchte gern meinem Vorsatz treu bleiben, sehr
schnell zu Ende zu kommen, aber ich stehe natürlich
gern zu weiteren Auskünften zur Verfügung.
Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen:
Das Wort hat der Herr Bundesinnenminister. Meine Damen und Herren, wir haben also die
Absicht, uns im Bereich der mittelfristigen Finanz-
Genscher, Bundesminister des Innern: Herr Prä- planung zu halten. Wir werden Vorsorge dafür tref-
sident! Meine Damen und Herren! Ich will in der fen, daß die Auszahlung noch mit dem Wehrsold
gebotenen Kürze zu dem Antrag der CDU/CSU für den Monat Dezember erfolgen kann. Ich habe
Drucksache VI/8 Stellung nehmen. mich um die Ermächtigung bemüht, daß diese Aus-
zahlung im Vorgriff auf die gesetzliche Regelung
Verehrte Kolleginnen und Kollegen der Fraktion rechtzeitig angeordnet werden kann. Wir haben,
der CDU/CSU, die Verbindung der Sonderzuwen- wie hier von den Sprechern der Koalition schon dar-
dung für den Monat Dezember mit einem zusätz- gelegt worden ist, mit etwa 70 DM eine Höhe ge-
lichen Entlassungsgeld ist geeignet, die rechtzeitige funden, die nach unserer Meinung der richtigen Lei-
Verabschiedung dieses Gesetzes und die rechtzeitige stung entspricht und die eine personalpolitisch nicht
Auszahlung möglicherweise zu gefährden. Deshalb zu vertretende Differenzierung nach der Dauer des
ist die Bundesregierung der Meinung, daß sie dem Wehrdienstes vorsieht. Denn jeder Wehrpflichtige,
Hohen Hause eine selbständige Novelle vorlegen meine Damen und Herren, der zu Weihnachten z. B.
sollte. Ich rechne damit, daß dieser Gesetzentwurf seinem Beruf nicht nachgehen kann, hat das gleiche
morgen im Kabinett beschlossen werden wird. Der Interesse daran, eine solche Zuwendung zu bekom-
Entwurf hat zudem den Vorteil, daß er sich im Rah- men.
men der mittelfristigen Finanzplanung hält, nämlich
aus den Haushaltsmitteln dieses Jahres bedient wer- Da Sie im Kern der Sache dasselbe verfolgen wie
den kann und sich auch nur auf dieses Jahr bezieht. wir, rechnen wir auf Ihre freudige und schnelle Un-
Sie wissen, daß es diese Regierung gerade mit der terstützung.
Einhaltung der Leitlinien der mittelfristigen Finanz- (Beifall bei den Regierungsparteien.)
planung besonders ernst meint.
(Zuruf von der CDU/CSU: Ist das wirklich Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen:
so? — Weitere Zurufe von der CDU/CSU.) Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr
— Aber, verehrter Herr Kollege, die Entscheidung, Parlamentarische Staatssekretär im Bundesverteidi-
die Sie beklagen, Herr Haase, ist ja gerade aus die- gungsministerium, Staatssekretär Berkhan.
sen Gründen gefällt worden. Sie können nur eines.
Sie können entweder sagen, daß es die Rentner be- Berkhan, Parlamentarischer Staatssekretär beim
kommen sollen, oder Sie können sagen, wir sollten Bundesminister der Verteidigung: Meine sehr ge-
392 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969

Parlamentarischer Staatssekretär Berkhan


ehrten Damen und Herren, darf ich mich erst einmal Ob Ihre Zahl 10 % stimmt, vermag ich im Moment
freundlich dafür bedanken, daß die CDU/CSU be- nicht zu entscheiden. Wir sind, wenn wir das durch-
reit ist, dem Verteidigungsminister — ich habe lei- setzen wollen, an das übliche Beamtenrecht gebun-
der nicht richtig gehört — so eine Art Schonfrist zu- den, und da gibt es, wie Sie wissen, eine Grenze
zubilligen. von 5% im Rahmen einer bestimmten Laufbahn.
Wer es durchsetzen will, sollte sich also vernünfti-
(Zuruf von der CDU/CSU: Einarbeitungs
gerweise an das übliche Recht im öffentlichen Dienst
zeit! — Abg. Wehner: Schonkost!)
anlehnen.
Ich würde sagen, er ist kein tragendes Reh. Sie kön- Ich will über die anderen Teile des Versorgungs-
nen ihn also attackieren. Der Verteidigungsminister rechts nicht reden. Ich mache Sie darauf aufmerk-
ist in der Lage, schon heute funktionsfähig zu sein. sam, daß der Verteidigungsminister erklärt hat, er
Wir sehen mit großem Vergnügen den Beratungen wünsche eine Bestandsaufnahme. Wir sind dabei.
über diese Gesetzentwürfe im Ausschuß entgegen. Bei der Bestandsaufnahme wird man insbesondere
Ich kann Ihnen jedenfalls bestätigen, Herr Ernesti, an der schwierigen Situation der Unterführer der
Sie haben sich sehr schnell auf Opposition einge- Bundeswehr nicht vorbeikönnen. Das alles gehört
stellt. Sie haben sehr schnell gelernt, daß man am in die Sache hinein.
besten fährt, wenn man alte Vorstellungen, die be- (Zuruf von der CDU/CSU: Also doch Ein
-
reits im Ausschuß beraten sind, wieder auf den arbeitungszeit!)
Tisch des Hauses bringt.
Herzlichen Dank, daß Sie zu so später Stunde
Ich hätte nur eine einzige Bitte. Es besteht im noch bereit waren, sich über di e schwierigen Fragen
Verteidigungsministerium die Absicht, das Versor- der Personallage im Bundesverteidigungsministe-
gungsrecht für Soldaten zu novellieren. Es ist immer rium mit mir zu unterhalten.
gefährlich, wenn man vor solchen Novellen die Ro-
(Beifall.)
sinen herausnimmt und in Einzelberatungen schon
zu Gesetzen macht. Ich würde Sie bitten, bei den
Beratungen zu überlegen, ob nicht, wenn wir uns Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen:
auf eine Zeit festlegen, eine Gesamtnovelle für all Meine Damen und Herren, die Überweisungsvor-
diese Fragen vorzuziehen ist. Darüber können wir schläge des Ältestenrats für die Punkte 12, 13 und
dann im Ausschuß reden. 14 liegen vor. Es sind keine anderen Vorschläge ge-
macht worden. Ich darf annehmen, daß ich sie nicht
Ähnlich ist die Situation bei der Anhebung von wiederholen muß. — Es ist nach diesen Vorschlägen
A 8 nach A 9. Wir werden nämlich noch nicht alle beschlossen.
Stabs und Oberstabsfeldwebel in der Funktion von
-

Fachoffizieren sehen. Wir haben dort noch 5000 Wir stehen damit am Ende der heutigen Tages-
Planstellen besetzt. Zur Zeit ist der Zustand, wie ordnung.
er sonst im öffentlichen Dienst ist, daß ein Teil der Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
Unteroffiziere auf Inspektorenbesoldung und sogar destages für Donnerstag, den 13. November, 9 Uhr
auf Oberinspektorenbesoldung Anspruch hat. Im — Fragestunde —, ein.
Grundsatz waren wir uns einig, und wir werden
sehen, was zu machen ist. (Schluß der Sitzung 21.23 Uhr.)
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969 393

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung


Walter Arendt
Liste der beurlaubten Abgeordneten Bundesminister der Verteidigung
Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich Helmut Schmidt
Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit
a) Beurlaubungen
Käte Strobel
Dr. Aachenbach 12.11.
Bundesminister für Verkehr und
Amrehn * 16. 11. für das Post- und Fernmeldewesen
Dr. Dittrich ** 14. 11. Georg Leber
Draeger 12. 11. Bundesminister für Städtebau und Wohnungswesen
Gottesleben 31. 12. Dr. Lauritz Lauritzen
Frau Dr. Henze 14. 11. Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen
Frau Herklotz * 17. 11. Egon Franke
-
Frau Kalinke * 17. 11. Bundesminister für Bildung und Wissenschaft
Prof. Dr.-Ing. Hans Leussink
Frau Krappe 14. 11.
Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit
Lücke (Bensberg) 30. 11.
Dr. Erhard Eppler
Lücker (München) 13. 11.
Bundesminister für besondere Aufgaben
Müller (Aachen-Land) ** 12. 11. Prof. Dr. Horst Ehmke
Petersen * 17. 11.
Dr. Rinderspacher * 14. 11.
Frau Dr. Wolf * 20. 11. Anlage 3
b) Urlaubsanträge
Gegenseitige Vertretung der Bundesminister
Dr. h. c. Strauß 6. 12.
Es werden vertreten: durch:
* Für die Teilnahme an einer Tagung der Interparla-
Der Bundeskanzler den BM des Auswärtigen
mentarischen Union
** Für die Teilnahme an Ausschußsitzungen des Euro-
Der BM des Auswärtigen den BM für wirtschaft-
päischen Parlaments
liche Zusammenarbeit
Der BM des Innern den BM der Justiz
Der BM der Justiz den BM des Innern
Anlage 2 Der BM der Finanzen den BM für Wirtschaft
Der BM für Wirtschaft den BM der Finanzen
Zusammensetzung der Bundesregierung
Der BM für Ernährung, den BM für Wirtschaft
Bundeskanzler Landwirtschaft und
Willy Brandt Forsten

Stellvertreter des Bundeskanzlers und Bundesmini- Der BM für Arbeit und den BM für Jugend,
ster des Auswärtigen Sozialordnung Familie und Gesundheit
Walter Scheel Der BM der Verteidi den BM für Verkehr und
gung für das Post- und Fern-
Bundesminister des Innern meldewesen
Hans-Dietrich Genscher einschließlich der Ver-
Bundesminister der Justiz tretung in der Befehls-
Gerhard Jahn und Kommandogewalt
über die Streitkräfte
Bundesminister der Finanzen
Der BM für Jugend, Fa- den BM für Arbeit
Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. Alex Möller milie und Gesundheit und Sozialordnung
Bundesminister für Wirtschaft Der BM für Verkehr und den BM der Verteidi-
Prof. Dr. Karl Schiller für das Post- und Fern gung
Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und meldewesen
Forsten Der BM für Städtebau den BM für innerdeut-
Josef Ertl und Wohnungswesen sche Beziehungen
394 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969

Der BM für inner- den BM für Städtebau langen, endlich in einem Staatsgebiet mit gesicher-
deutsche Beziehungen und Wohnungswesen ten Grenzen zu leben, wir im Blick auf das gegen-
den BM für besondere wärtige Schicksal unseres eigenen geteilten Volkes
Der BM für Bildung und
Wissenschaft Aufgaben besser als in früheren Zeiten begreifen."

Der BM für wirtschaft den BM des Auswärtigen In ihrer Politik gegenüber ihren östlichen Nach-
liche Zusammenarbeit barn wird die Bundesregierung auch der polnischen
Regierung den Abschluß eines Abkommens vor-
schlagen, durch das auf die Anwendung oder Andro-
hung von Gewalt beiderseitig Verzicht geleistet
wird. Ein solches Abkommen, das die territoriale In-
tegrität eines jeden Vertragspartners berücksichtigt,
Anlage 4 könnte zum Ansatzpunkt für weitere Gespräche wer-
den.
Schriftliche Antwort Was Einzelheiten dieser Gespräche angeht, so
des Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Dahren- bitte ich Sie um Ihr Verständnis, daß die Bundes-
dorf vom 12. November 1969 auf die Mündlichen regierung es nicht für vertretbar hält, ihren durch
-
Fragen des Abgeordneten Dr. Jahn (Braunschweig) die Regierungserklärung eröffneten Verhandlungs-
(Drucksache VI/34 Fragen 12 und 13) : spielraum durch öffentliche Erklärungen selbst ein-
zuengen. Die Bundesregierung betont aber auch
Ist die Bundesregierung der Meinung, daß Verhandlungen über
Grenzfragen im Osten nur durch eine gesamtdeutsche Regierung
hier, daß sie die von seiten des Parlaments ausge-
in Friedensverhandlungen geführt werden können? henden Anregungen vertrauensvoller Fühlungnah-
Ist die Bundesregierung bereit, da für sie das Recht auf nahmen nutzen möchte.
Selbstbestimmung kein Verhandlungsgegenstand ist, dieses Recht
auch für die Wiedervereinigung des dreigeteilten Deutschlands
zu vertreten?

Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß sie


nicht nur berechtigt, sondern im Interesse des Frie-
dens in Europa auch verpflichtet ist, mit ihren öst- Anlage 5
lichen Nachbarn über alle Probleme zu sprechen, die
zur Normalisierung unseres Verhältnisses zu ihnen
und zur Herstellung gut nachbarlicher Beziehungen Schriftliche Antwort
gelöst werden müssen. 25 Jahre nach dem Unglück des Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Arndt
des letzten Krieges ist es an der Zeit, die Hinder- vom 6. November 1969 auf die Mündlichen Fragen
nisse wegzuräumen, die bisher einer deutsch-polni- des Abgeordneten Memmel (Drucksache VI/34 Fra-
schen Verständigung im Wege gestanden haben. gen 30 und 31) :
Wir sind .uns dabei bewußt, daß die Bundesrepu- Beabsichtigt die Bundesregierung, die Kontroverse um die
Auslegung des Bundeswaffengesetzes durch eine Novellierung
blik Deutschland nicht die volle Zuständigkeit in des § 36 zu beenden?
allen Deutschland als Ganzes und Berlin betreffen- Kennt die Bundesregierung die Kritik der Süddeutschen Zei-
den Fragen besitzt. tung vom 27. Oktober 1969, wonach lediglich der Gesetzgeber
zu verurteilen sei, weil er durch eine augenscheinlich in ihren
Konsequenzen nicht zu Ende gedachte waffenrechtliche Verord-
Die Bundesregierung hat in ihrer Regierungserklä- nung diese Rechtsunsicherheit geschaffen hat?
rung bekräftigt, daß das Recht auf Selbstbestim- Der Bundesregierung ist die Kritik der Süddeut-
mung, wie es in der Charta der Vereinten Nationen schen Zeitung vom 27. Oktober 1969 bekannt. Sie
niedergelegt ist und wie es von der gesamten Welt teilt die Auffassung, „daß ein scharfes Vorgehen ge-
für sich in Anspruch genommen wird, auch für das gen Revolverhelden für die Sicherheit der Allge-
deutsche Volk gilt. Das Recht auf Selbstbestimmung meinheit zwingend ist". Sie ist gemeinsam mit dem
wird nirgendwo in der Welt geleugnet, doch gibt es Bundestag und Bundesrat der Ansicht, daß die Vor-
zahlreiche Fälle, in denen Völker oder Volksteile schriften über den Erwerb und das Führen von
an der Ausübung dieses fundamentalen Rechts ge- Schußwaffen auch nach dem Erlaß des Bundeswaffen-
hindert werden. Aus dem Recht auf Selbstbestim- gesetzes strafbewehrt sind.
mung, das die Bundesregierung nicht müde werden
wird, für das ganze deutsche Volk zu fordern, kann Entsprechend dieser Rechtsauffassung hat das
aber keine geeignete Handhabe für die Regelung Landgericht München die Entscheidung des Amts-
territorialer Fragen hergeleitet werden. Dennoch gerichts aufgehoben und betont, daß § 26 Reichs-
werden die Gespräche, die mit der polnischen Regie- waffengesetz teilweise als Landesrecht fortgilt. In
rung in Kürze aufgenommen werden sollen, an der diesem Sinne hat auch das bayerische Oberste
Grenzfrage nicht vorbeigehen können. Die Bundes- Landesgericht geurteilt.
regierung wird sich dabei von der Erkenntnis leiten
lassen, die bereits die frühere Bundesregierung in Im übrigen sehen die künftigen Landeswaffenge-
ihrer Erklärung vom 13. Dezember 1966 wie folgt setze vor, daß der unbefugte Erwerb und das unbe-
ausgesprochen hat: „In weiten Schichten des deut- fugte Führen von Schußwaffen bestraft wird. Mit
schen Volkes besteht der lebhafte Wunsch nach dem Erlaß dieser Gesetze ist in einigen Ländern be-
einer Aussöhnung mit Polen, dessen leidvolle Ge- reits in Kürze zu rechnen; eine Initiative des Bundes-
schichte wir nicht vergessen haben und dessen Ver gesetzgebers ist deshalb nicht erforderlich.
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969 395

Anlage 6 In der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft be-


Schriftliche Antwort darf es noch einer erheblichen Fortentwicklung des
des Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Arndt Gemeinschaftsgedankens, um das notwendige Maß
vom 6. November 1969 auf die Mündliche Frage des an Harmonisierung einer stabilitätsorientierten Wirt-
Abgeordneten Draeger (Drucksache VI/34 Frage 35) : schaftspolitik zu erreichen. Solange wir uns in der
westlichen Welt nicht auf einem gemeinschaftlichen
Ist die Bundesregierung bereit, angesichts der besonderen
Absatzsituation der saarländischen Wirtschaft auf den franzö- Stabilitätspfad bewegen, müßten zumindest die im
sischen Märkten, den saarländischen Unternehmungen im Rah- Statut des Internatioalen Währungsfonds gegebenen
men ihrer Strukturmaßnahmen zusätzliche Erleichterungen und
Hilfen zu gewähren und welche? Möglichkeiten rechtzeitig und entschlossen genutzt
Die Bundesregierung ist weiterhin bereit, der saar- werden. Auch auf der Grundlage dieses Statuts ist
ländischen Wirtschaft im Rahmen ihrer Struktur- nach Übereinstimmung vieler Politiker und Sachver-
maßnahmen eine umfassende Hilfe zu gewähren. So ständiger eine elastischere und weniger abrupte An-
sind in der Zweijahresperiode 1967/68 fast 500 Mio wendung des Wechselkursinstruments möglich.
DM für das Saarland an Bundesmitteln zur Verfü-
gung gestellt worden. 1969/70 werden diese Bundes-
mittel, trotz Beendigung der Konjunkturprogramme Anlage 8
und trotz geringerer Finanzhilfen für den Steinkoh- Ubersicht
lenbergbau, nahezu die gleiche Größenordnung
- er- des Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. von
reichen. Demgegenüber wurden 1965/66 nur 110 Mio Dohnanyi zu der Mündlichen Frage des Abgeord-
DM für das Saarland aufgewendet. neten Jung (Drucksache VI/49 Frage 2) :
Die Bundesmittel für 1969/70 werden weitgehend
Ubersicht
im Rahmen des Aktionsprogramms Saarland-West-
pfalz zum Einsatz kommen. Dieses Programm sieht über die Entwicklung der Zulassungsbeschränkungen
Hilfen für die Errichtung neuer Betriebe wie für die an den Wissenschaftlichen Hochschulen der WS
Erweiterung grundlegende Rationalisierung und Um- 1968/69 und 1969/70 für Studienanfänger 1 )
stellung der altansässigen Unternehmen vor. In sei- (Stand: 1. 10. 1969)
nem Rahmen sollte auch versucht werden, diejeni-
gen Schwierigkeiten zu beseitigen, von denen die Zulassungs
beschränkungen
Saarwirtschaft auf Grund der Änderung in den
Fächer Vorhandene absolut
Wechseikursrelationen berührt werden könnte. Die Fakul
täten
Bundesregierung wird deshalb — im engen Einver- WS WS
1968/69 1969/70
nehmen mit den zuständigen Stellen des Landes —

1 2 3
die weitere Entwicklung sorgfältig beobachten.
Dem Bundesbeauftragten für den Steinkohlenberg- Medizin 23 21 23
bau und die Steinkohlenbergbaugebiete obliegt es, Zahnmedizin 19 17 19
Anträge für eine steuerliche Investitionsförderung
Tiermedizin 4 3 4
auf Grund des § 32 des Kohlegesundungsgesetzes
zu prüfen. Für die saarländische Wirtschaft hat er Pharmazie 17 16 17 2 )

inzwischen Förderungsbescheinigungen für Investi- Psychologie 25 12 14


tionen über einen Gesamtbetrag von 1,7 Mrd. DM Biologie 29 6 18
erteilt. Mikrobiologie 9 1 1
Chemie 31 13 18
Anlage 7 Biochemie 9 — 1
Schriftliche Antwort Lebensmittelchemie 10 — 3
des Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Arndt Geographie 32 4 6
vom 6. November 1969 auf die Mündlichen Fragen Geologie 28 5 3
des Abgeordneten Dr. Pohle (Drucksache VI/34 Fra- Geophysik 14 i
gen 36 und 37):
Mathematik 33 3 8
Welche Bereiche der deutschen Wirtschaft haben im Sinne der
Rede des Bundesministers für Wirtschaft vom 30. Oktober 1969 Mineralogie 28 2 3
gesagt: „Wären wir doch bloß rechtzeitig dem Schiller gefolgt,
dann wäre die Sache billiger."? Physik 31 8 12
Hängt die zukünftige Funktionsfähigkeit des internationalen Astronomie 12 — 1
Währungssystems nicht maßgeblich davon ab, daß einige andere
wichtige Industrieländer eine stabilitätsgerechtere Wirtschafts- Architektur 8 8 8
politik führen und eine Reform des Abkommens von Bretton
Woods erfolgt? Bauing. 8 — 2
Alle Bereiche der deutschen Wirtschaft haben Elektrotechnik 10 5 6
durch die Verzögerung der Aufwertung Nachteile Luftfahrttechnik 2 — 1
erlitten. Eine Aufwertung im Frühjahr, ja noch im 8 — 2
Vermessung
Sommer dieses Jahres, hätte die Preis- und Kosten-
stabilität gesichert. Jura 24 — 1
Betriebswirtschaft 27 2 4
Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß eine
stabilitätsgerechtere Wirtschaftspolitik wesentlich Volkswirtschaft 28 2 4
ist, wenn das derzeitige internationale Währungs- Anglistik 27 2 4
system reibungslos funktionieren soll. Germanistik 28 3 3
396 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. November 1969

Zulassungs
Anlage 9
beschränkungen
Vorhan-
Fächer dene absolut
Fakul- Schriftliche Antwort
täten WS WS
1968/69 1969/ 70
des Bundesministers Leber vom 12. November 1969
1 2 I 3
auf die Mündliche Frage des Abgeordneten Dr.
Geschichte 27 2 2 Schmitt-Vockenhausen (Drucksache VI/49 Frage 38) :
Politologie 23 2 2 Ist die Bundesregierung bereit, mit der Kultusministerkonfe-
renz wegen einer Änderung der Ferienordnung für Sommer 1970
Publizistik 4 — 1 zu verhandeln?

Romanistik 25 2 3 Die Bundesregierung ist bereit, mit der Kultus-


Slawistik 21 — 1 ministerkonferenz wegen einer Änderung der Fe-
Soziologie 23 2 3 rienordnung für Sommer 1970 zu verhandeln.
Theaterwissenschaft 4 — 1 Ich habe im Auftrag der Bundesregierung den
Dolmetscher 3 1 1 Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-West-
ifalen
gen gebeten, in Abstimmung mit der Ständ
1) ohne Konstanz und Ulm, die sich noch im Aufbau be-
Konferenz der Kultusminister der Bundesländer den
finden -
2 ) darunter zwei Hochschulen, deren Fächer zwar voll
Ferienbeginn im Lande Nordrhein-Westfalen mög-
ausgelastet sind, die aber offiziell keine Zulassungs- lichst auf den 2. Juli 1970 festzusetzen. Die gleiche
beschränkung eingeführt haben Bitte habe ich an den Präsidenten der Ständigen
Quelle: Ermittlungen der WRK Konferenz der Kultusminister der Länder gerichtet.

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