Sie sind auf Seite 1von 66

Plenarprotokoll 12/7

D eutscher Bundesta g
Stenographischer Bericht

7. Sitzung

Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991

Inhalt:

Tagesordnungspunkt 1: Müller (Pleisweiler) SPD (nach § 28 Abs. 2


Aussprache zur Erklärung der Bundesre GO) 263 D
gierung Dr. Ullmann Bündnis 90/GRÜNE (Erklärung
Dr. Schäuble, Bundesminister BMI . . . . 227A nach § 31 GO) 264 C
Dr. Penner SPD 231D Gansel SPD (Erklärung nach § 31 GO) . 264D
Dr. Kinkel, Bundesminister BMJ 234 D Möllemann FDP (Erklärung nach § 31 GO) 265B
Dr. Laufs CDU/CSU 236D
Dr. Graf Lambsdorff FDP (Erklärung nach
Weiß (Berlin) Bündnis 90/GRÜNE . . 237 B § 31 GO) 265 C
Gerster (Mainz) CDU/CSU . . . . 238D, 246D
Dr. Heuer PDS/Linke Liste 239B Zusatztagesordnungspunkt:
Erste Beratung des von den Fraktionen
Frau Köppe Bündnis 90/GRÜNE 240A der CDU/CSU und FDP eingebrachten
Thierse SPD 242B, 245D Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
der Beitragssätze in der gesetzlichen
Dr. Laufs CDU/CSU 241 C Rentenversicherung und bei der Bundes--
Dr. Geißler CDU/CSU 245B anstalt für Arbeit (Drucksache 12/56)
Dr. Ullmann Bündnis 90/GRÜNE 246B Dr. Blüm, Bundesminister BMA 266A
Graf von Schönburg-Glauchau CDU/CSU 246 C Büttner (Ingolstadt) SPD 268A
Dr. Graf Lambsdorff FDP 247A
Heyenn SPD 268 B
Dr. Knaape SPD 248A
Schreiner SPD 268D, 277 A
Dr. Brecht SPD 250A
Frau Matthäus-Maier SPD 250 B Dr. Blüm CDU/CSU 269A, 2798

Frau Dr. Däubler-Gmelin SPD 251A Gibtner CDU/CSU 269 C


Dr. Graf Lambsdorff FDP 254A Frau Dr. Babel FDP 271 D
Scharrenbroich CDU/CSU 255A Frau von Renesse SPD 273 C
Geis CDU/CSU 255 D
Frau Bläss PDS/Linke Liste 274 A
Frau Dr. Götte SPD 256D
Dr. Graf Lambsdorff FDP 275 A
Frau Jelpke PDS/Linke Liste 257 C
Fuchtel CDU/CSU 275 A
Kleinert (Hannover) FDP 259A
Dr. Riege PDS/Linke Liste 260 D Frau Schenk Bündnis 90/GRÜNE . . . 277 B

Bohl CDU/CSU 261D Andres SPD 277 D


II Deutscher Bundestag — 12. Wahlpe riode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991

Zusatztagesordnungspunkt: Frau Hasselfeldt, Bundesminister BMG . 287 A


Erste Beratung des von den Fraktionen Büttner (Ingolstadt) SPD 287 C
der CDU/CSU und FDP eingebrachten
Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Ä n-
derung des Fünften Buches Sozialgesetz- Nächste Sitzung 288 D
buch (Drucksache 12/57)
Jagoda CDU/CSU 280 D Anlage 1
Dr. Knaape SPD 282 C
Liste der entschuldigten Abgeordneten . 289* A
Dr. Thomae FDP 283 D
Frau Dr. Fischer PDS/Linke Liste . . . 284 A
Anlage 2
Peter (Kassel) SPD 284 D
Frau Schenk Bündnis 90/GRÜNE . . . 286B Amtliche Mitteilung 289 * D
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991 227

7. Sitzung

Bonn, den 1. Februar 1991

Beginn: 9.01 Uhr

Präsidentin Dr. Süssmuth: Guten Morgen, meine nicht nur für einige Wochen das notwendige Ver-
Damen und Herren. Die Sitzung ist eröffnet. ständnis und auch die notwendige Aufmerksamkeit
Wir fahren mit Punkt 1 der Tagesordnung fort: zu haben, sondern sich darauf einzurichten, daß diese
Sicherheitsmaßnahmen für einen längeren Zeitraum
Aussprache zur Erklärung der Regierung. notwendig sind. Wir werden die Aufmerksamkeit un-
Ich darf daran erinnern, daß wir gestern für die heu- serer Bürgerinnen und Bürger für einen längeren Zeit-
tige Aussprache eine Dauer von drei Stunden be- raum in Anspruch nehmen müssen.
schlossen haben.
Es wird vor terroristischen Bedrohungen niemals
Das Wort hat der Bundesminister Schäuble. eine absolute Sicherheit geben. Aber das Menschen-
mögliche wird von den Sicherheitsbehörden des Bun-
des und der Länder getan. Darauf können unsere Mit-
Dr. Schäuble, Bundesminister des Innern: Frau Prä- bürger vertrauen. Ich denke, wir sollten uns vor allen
sidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dingen darüber klar sein, daß wir den Terroristen
Der Krieg am Golf, die Entwicklung in der Sowjet- dadurch keine Erfolgschance geben, daß wir dem
union und in Osteuropa, die Vollendung der deut- Druck, der Einschüchterung, der Verbreitung von
schen Einheit und die europäische Einigung sind die Angst und Panik nicht nachgeben.
Schwerpunkte der Aussprache zur Regierungserklä-
rung des Bundeskanzlers, und sie werden auch die (Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Sehr richtig!)
innenpolitischen Arbeiten und Debatten der nächsten Im übrigen zeigt sich angesichts der vielfältigen
Monate und Jahre prägen. Deswegen möchte ich Herausforderungen der Sicherheitslage in diesen Ta-
dazu einige Bemerkungen machen. gen und Wochen, wie gut und notwendig es ist, daß
Wir können leider nicht ausschließen, daß die Aus- wir im Sicherheitsverbund von Bund und Ländern den
wirkungen des Krieges am Golf nicht auf die Golf- Bundesgrenzschutz als eine vor allem verbandsmäßig
region beschränkt bleiben. Saddam Husseins Aufruf organisierte Polizei des Bundes haben, auf die wir
zur weltweiten Begehung terroristischer Gewaltta- auch in Zukunft nicht verzichten können und nicht
ten, insbesondere gegen Personen und Einrichtungen verzichten wollen.
der unmittelbar in den Konflikt verwickelten Staaten,
(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der
hat bei mehreren den Sicherheitsbehörden bekannten
SPD)
nahöstlichen terroristischen Gruppierungen Gehör
gefunden. Wir nehmen diese Drohungen ernst. Der Wegfall der Grenzschutzaufgaben an der ehema-
Die Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern ligen innerdeutschen Grenze — eine der erfreulich-
haben sich seit Wochen auf diese Situation vorberei- sten Entwicklungen der letzten Jahre und Jahrzehnte
tet. Seit dem Ausbruch des Krieges sind auf allen Ebe- — sowie die Verringerung der Grenzschutzaufgaben
nen die Sicherheitsmaßnahmen zusätzlich verstärkt an den Grenzen zu Ost- und Südosteuropa — dem
worden. In enger Abstimmung insbesondere mit ame- ehemaligen Eisernen Vorhang, der es heute zum
rikanischen und britischen Stellen werden die Ein- Glück nicht mehr ist — dürfen nicht zu der Annahme
richtungen der betroffenen Staaten in besonderem verleiten, wir bräuchten den Bundesgrenzschutz nicht
Maße bewacht, und auch an den Außengrenzen der mehr. Er hat in diesem Sicherheitsverbund vielfältige
Bundesrepublik Deutschland wird intensiver kontrol- Aufgaben.
liert. Gerade in diesen Wochen machen die Polizeien des
Vor allem für den Bereich des zivilen Luftverkehrs Bundes und der Länder erneut die Erfahrung, daß wir
wurden vielfältige zusätzliche Sicherheitsmaßnah- beinahe schon an der Grenze der Belastbarkeit ange-
men ergriffen, die natürlich auch Beeinträchtigungen langt sind. Wir können und werden auf den Bundes-
für die Bürger, die Reisenden, bedeuten, insbeson- grenzschutz nicht verzichten. Wir wollen ihm im Inter-
dere zeitliche Verzögerungen. Aber ich denke, daß esse der inneren Sicherheit weitere Aufgaben in der
unsere Bürgerinnen und Bürger Verständnis für diese Kompetenzordnung des Grundgesetzes zuweisen.
Maßnahmen haben. Ich appelliere schon heute an sie, Wir wollen die bundespolizeilichen Aufgaben nach
228 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991

Bundesminister Dr. Schäuble


dem Grundgesetz möglichst auf den Bundesgrenz- Bund hat Personalkostenzuschüsse für die Abord-
schutz konzentrieren. nung von Mitarbeitern aus den Kommunalverwaltun-
gen in den alten Bundesländern gewährt. Ich würde
Beim Aufbau einer neuen Grenzschutzorganisation
mir allerdings wünschen, daß die für solche Personal-
in den fünf neuen Ländern haben wir die Aufgaben
kostenzuschüsse zur Verfügung gestellten Mittel in
der Bahnpolizei und die Aufgaben zum Schutz des
einem höheren Maße in Anspruch genommen wür-
Luftverkehrs bereits auf den Grenzschutz übertragen.
den, als es bisher der Fall ist.
In den nächsten Wochen und Monaten wollen wir
dafür rasch die gesetzlichen Grundlagen schaffen. Die Mit dem Dank an alle, die sich bisher für die Arbeit
Bundesregierung wird die entsprechenden Gesetz- in den fünf neuen Ländern zur Verfügung gestellt
entwürfe vorlegen, damit wir auch in den elf al- haben, möchte ich den Appell verbinden, daß diese
ten Bundesländern bundespolizeiliche Aufgaben Möglichkeiten noch mehr genutzt werden. Wir müs-
— Bahnpolizei und Schutz des Luftverkehrs - auf sen jetzt wirklich sehr schnell und unbürokratisch das
den Bundesgrenzschutz übertragen können. Ich bitte Menschenmögliche tun, um leistungsfähige Verwal-
das Hohe Haus schon heute um eine zügige Beratung tungen in den fünf neuen Ländern aufzubauen.
dieser Gesetzentwürfe und um Zustimmung zu ihnen,
(Beifall hei der CDU/CSU, der FDP, der SPD
damit wir diese Aufgaben auf den Bundesgrenzschutz
und beim Bündnis 90/GRÜNE)
konzentrieren können.
Wir haben im Herbst vergangenen Jahres eine
Diese veränderten Rahmenbedingungen für den
Clearing-Stelle zwischen Bund und Ländern unter
Bundesgrenzschutz werden zur Folge haben, daß wir
Einbeziehung der kommunalen Spitzenverbände ge-
in der Organisation und Dislozierung der Verbände
schaffen, um diese Verwaltungshilfe zu organisieren.
wie auch der Dienststellen des Bundesgrenzschutzes
Wir führen nahezu regelmäßig Konferenzen in allen
zu einer grundsätzlichen Überprüfung kommen wer-
fünf neuen Ländern durch, zu denen wir die Bürger-
den. Ich glaube, daß wir hei der anstehenden Neuor-
meister und Landräte aller Landkreise und großen
ganisation alle einzeldienstlichen und verbandspoli-
Kreisstädte einladen. In der kommenden Woche wird
zeilichen Aufgaben des Bundesgrenzschutzes auf re-
wieder ein solches Treffen stattfinden.
gionaler Ebene jeweils unter einem behördlichen
Dach zusammenfassen sollten. Auch dies wird ge- Ich möchte vor allem auch die zusätzlichen Mitar-
wisse Umschichtungen unvermeidlich machen. Es beiter und die zusätzliche Verwaltungskraft, die dem
wird auch die Frage nach den künftigen Standorten Bundesinnenminister durch die Auflösung des Bun-
der Verbände und Einrichtungen des Bundesgrenz- desministeriums für innerdeutsche Beziehungen zu-
schutzes zu stellen sein. Eine Arbeitsgruppe bereitet wächst, dazu nutzen, ganz unbürokratisch Beratungs-
derzeit entsprechende Vorschläge vor, die ich dem stäbe aufzubauen, die in den fünf neuen Ländern, in
Hohen Haus so rasch wie möglich vorlegen möchte. den 200 Landkreisen. Städten und Gemeinden regel-
Ich bin der Meinung, daß die Zusammenführung von mäßig zur Verfügung stehen. So wollen wir ohne allzu
einzeldienstlichen und verbandlichen Komponenten kleinliche Rücksicht auf Zuständigkeiten unsere Be-
bei der neuen Aufgabenstellung des Bundesgrenz- ratung und unsere Hilfe in allen Ländern anbieten.
schutzes eine effizientere Form der Organisation sein damit nicht die Klagen, die aus allen Ländern und
kann und sein wird. Deshalb möchte ich diese grund- Landkreisen zu hören sind, weiterhin ihre Berechti-
sätzliche Neuorganisation in die Wege leiten. gung haben, sondern so rasch wie möglich Abhilfe
geschaffen wird und damit wir die notwendigen
Wir müssen in den fünf neuen Bundesländern nicht
Transmissionsriemen haben, um hierbei zu schneller
nur den Bundesgrenzschutz aufbauen, sondern eine
Hilfe zu kommen. -
der zentralen Aufgaben der Innenpolitik in diesen
Jahren ist auch der Aufbau einer leistungsfähigen Ein großes Problem ist natürlich die Herstellung
Verwaltung in den fünf neuen Ländern, in den Städ- einheitlicher Bezahlungsverhältnisse zwischen den
ten, Gemeinden und Landkreisen. Bund und Länder elf alten und den fünf neuen Ländern. Da wir am
haben vielfältige Hilfe geleistet. Aber wir wissen, daß Beginn einer schwierigen, komplizierten Tarifrunde
zu den Engpässen bei der raschen Herstellung ein- für den öffentlichen Dienst in allen 16 Ländern stehen,
heitlicher Lebensverhältnisse im vereinten Deutsch- möchte ich die Gelegenheit nutzen, an alle Beteilig-
land die noch nicht ausreichende Leistungsfähigkeit ten, an che Arbeitgeber wie an die Gewerkschaften, zu
der Verwaltung in den fünf neuen Ländern gehört und appellieren, in den Tarifverhandlungen das Ziel der
daß uns noch große Anstrengungen bevorstehen. Wir Herstellung einheitlicher Bezahlungsverhältnisse in
müssen in den fünf Ländern für die Städte, Gemein- kurzer Zeit nicht aus den Augen zu verlieren, aber
den und Landkreise das notwendige Personal zur Ver- zugleich in diesen Tarifverhandlungen das notwen-
fügung stellen. dige Augenmaß auch für die elf alten Bundesländer zu
zeigen, weil wir ohne dieses Augenmaß dieses Ziel in
Ich möchte bei dieser Gelegenheit doch darauf hin-
kurzer Zeit nicht erreichen können.
weisen, daß der Bund im Bereich der Bundesverwal-
tung bereits im vergangenen Jahr für etwa 15 000 (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der
Beschäftigte in den fünf neuen Ländern Aus- und SPD)
Fortbildungsmaßnahmen durchgeführt hat. Dies
Mir liegt daran, bei dieser Gelegenheit erneut dar
zeigt, welch große Anstrengungen in der kurzen Zeit
out hinzuweisen, daß gerade der Prozeß der Vereini-
unternommen worden sind, die fortgesetzt werden
gung unseres deutschen Vaterlandes im vergangenen
müssen.
Jahr viele Kritiker der Leistungsfähigkeit des öffent-
Bund, Länder und Kommunen haben Personal für lichen Dienstes widerlegt hat. Ich denke, unser öffent-
die fünf neuen Länder zur Verfügung gestellt. Der licher Dient in alien seinen Teilen hat gerade im ver-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991 229

Bundesminister Dr. Schäuble


gangenen Jahr seine ungewöhnliche Leistungsfähig- noch daran, daß im Briefkopf einer damals bedeuten-
keit unter besonderen Herausforderungen und auch den Persönlichkeit zunächst der Titel „Generalsekre-
seine Flexibilität bewiesen. Dafür möchte ich allen tär der SED" und erst danach, also an zweiter Stelle,
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern meinen Respekt „Vorsitzender des Staatsrats der DDR" stand. Deshalb
und meinen Dank sagen. müssen diese Akten in das Bundesarchiv übergeführt
werden.
(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und SPD)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, zur Ge- bei Abgeordneten der SPD)
winnung der Zukunft im vereinten Deutschland und
Was das Vermögen der SED und der anderen Par-
zur raschen Lösung der Probleme wird uns in den
teien sowie Massenorganisationen anbetrifft, so hat
kommenden Monaten und Jahren auch noch ein
bereits die Regierung der DDR nach dem 18. März
Stück weit die Vergangenheit im Bereich der Innen-
eine unabhängige Kommission eingerichtet, die einen
politik beschäftigen. Wir haben im Zuge der Ratifizie-
Bericht über diese Vermögenswerte erstellen soll. Wir
rungsdebatte zum Einigungsvertrag im vergangenen
haben im Einigungsvertrag die Voraussetzungen da-
Jahr in diesem Hohen Hause verabredet, daß wir als-
für bestätigt und übernommen, daß diese Vermögen,
bald in der neuen Legislaturperiode eine gesetzliche
soweit sie unrechtmäßig zustande gekommen sind, in
Grundlage für die Behandlung der Stasi-Akten mit-
öffentliches Eigentum, verwaltet durch die Treuhand-
einander schaffen wollen. Ich möchte die notwendi-
anstalt, übergeführt werden. Es wird sorgfältig zu er-
gen Gespräche mit den Fraktionen des Hauses unver-
mitteln sein — daran wird gearbeitet —, daß nur das
züglich aufnehmen. Der Herr Bundeskanzler hat in
Vermögen, das die Parteien und Massenorganisatio-
der Regierungserklärung angekündigt, daß wir die
nen nach materiell rechtsstaatlichen Grundsätzen er-
notwendigen Formulierungshilfen seitens der Bun-
worben haben, diesen Organisationen zur Verfügung
desregierung erarbeiten. Sie werden in wenigen Wo-
gestellt werden kann. Das andere wird über die Treu-
chen zur Verfügung stehen. Ich hoffe, daß wir im
handanstalt zur Beseitigung der Schäden verwendet
Innenausschuß bald miteinander darüber reden, und
werden, die der Sozialismus in diesem Teil Deutsch-
hoffe auch, daß wir uns in diesen Fragen der beson-
lands in 40 Jahren angerichtet hat.
deren Schwierigkeiten und der besonderen Verant-
wortung bewußt sind. Es handelt sich ja ein Stück weit (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
um die Quadratur des Kreises: Wir müssen uns auf der bei Abgeordneten der SPD)
einen Seite davor hüten, alle Kraft nur auf die Bewäl- Wir werden — auch das gehört in den Bereich der
tigung der Vergangenheit zu konzentrieren; aber wir Innenpolitik — nicht nur in Deutschland keine Gren-
müssen auf der anderen Seite Grundlagen schaffen, zen mehr haben, sondern sind dabei, zumindest in
um Gegenwart und Zukunft meistern zu können. dem Teil Europas, der in der Europäischen Gemein-
Zu dem Bedrückendsten, was uns der Machtkom- schaft zusammengefaßt ist, ab Ende 1992 ein Europa
plex in der früheren DDR, der Machtkomplex der ohne Grenzen zu sein. Manche besorgen, daß aus dem
SED-Führung und der Staatsapparat, hinterlassen Wegfall der Grenzkontrollen ein Verlust an Sicher-
hat, gehören diese unsäglichen Aktenbestände mit heit entstehen könnte. Ich habe diese Sorgen nicht;
Dossiers über 4 Millionen Bürger der früheren DDR ich teile sie nicht.
und 2 Millionen Bundesbürger. Welch entsetzliches (Sehr richtig! bei der CDU/CSU)
Unheil und welche fast unauflösbare Vermischung
zwischen Tätern und Opfern sich aus diesen Akten Meine Überzeugung ist, daß die großen Bedrohungen
ergibt, zeigt sich daran, daß jetzt die Täter zu Bela-
-
für die innere Sicherheit, die organisierte Kriminalität,
der internationale Terrorismus und der Drogenhan-
stungszeugen gegenüber den Opfern zu werden dro-
hen. Das haben wir in den vergangenen Wochen del, schon heute ohne Behinderung durch die beste-
schon gesehen. Wir sollten uns vor Selbstgerechtig- henden Grenzen und Grenzkontrollen arbeiten.
keit hüten, aber wir sollten auch alles tun, um Nut- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
zung, Aufbewahrung und Sicherung der personenbe- ordneten der SPD und der FDP)
zogenen Daten und Unterlagen des ehemaligen Mini-
Meine Überzeugung ist, daß der Wegfall der Grenz-
steriums für Staatssicherheit so umfassend zu regeln,
kontrollen die polizeiliche Zusammenarbeit in Eu-
daß die gemeinsame Zukunft im vereinten Deutsch-
ropa ganz zwangsläufig verstärken muß und wird und
land durch diese Akten keinen Schaden leiden
daß wir auf dem Weg über eine verstärkte polizeiliche
kann. Zusammenarbeit auch bei Wegfall der Grenzkontrol-
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der len in Europa zu einem Mehr an Sicherheit kommen
FDP) werden. Aber es ist ganz klar: Wir brauchen diese
verstärkte institutionelle Zusammenarbeit in Eu-
Wir wollen die Akten der SED und der Massenorga- ropa.
nisationen der früheren DDR in das Bundesarchiv
Frau Präsidentin, ich bitte bei dieser Gelegenheit
überführen. Wir denken, daß bei der Struktur der frü-
um Nachsicht dafür, daß ich der Debatte nicht bis zum
heren DDR die Akten dieser Organisationen minde-
Schluß folgen kann, weil ich heute noch im Verlauf
stens so sehr staatlichen Akten sind, die der Aktenver-
des weiteren Vormittags mit meinem neuen französi-
waltung durch das Bundesarchiv zuzuführen sind, wie
schen Kollegen zusammentreffen möchte. Ich bitte
die staatlichen Akten als solche, also die Akten der
dafür schon jetzt um Verständnis und Nachsicht.
Regierungsstellen. Denn in Wahrheit waren die
Dienststellen der SED die eigentlichen Machthaber, Nicht nur in Westeuropa werden die Grenzen weg-
also mehr als die Regierungsstellen. Ich erinnere mich fallen. Wie ich schon gesagt habe: Auch der Eiserne
230 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991

Bundesminister Dr. Schäuble


Vorhang ist entfallen. Damit sind die Grenzen zwi- chen, die Bekämpfung der Ursachen der Flüchtlings-
schen Ost und West nicht mehr trennend. Sie halten ströme in den Herkunftsländern ist.
uns nicht mehr auf. Auch diese erfreuliche Entwick-
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP
lung hat Kehrseiten für die Innenpolitik, beispiels-
und beim Bündnis 90/GRÜNE — Dr. Penner
weise die, daß im vergangenen Jahr 1990 193 000
[SPD]: Das ist wohl wahr!)
Menschen als Asylbewerber in der Bundesrepublik
Deutschland Zuflucht gesucht haben. Das ist die Wir werden diesen Weg konsequent weiterverfol-
höchste Zahl, die wir in der Bundesrepublik Deutsch- gen. Wir haben die Möglichkeiten der Beschleuni-
land jemals seit dem Zweiten Weltkrieg hatten. gung von Asylverfahren mit der Gesetzgebung der
vergangenen Legislaturperiode im wesentlichen aus-
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, ich bin geschöpft. Wir haben auch erreicht, daß die Verfahren
dafür, daß wir uns vor jeder Illusion schützen. In einem für einen großen Teil der Asylbewerber inzwischen
Europa, in dem die Unterschiede zwischen Arm und nur noch wenige Tage bis einige Wochen dauern.
Reich, in dem das Gefälle in wirtschaftlicher, sozialer Aber das Problem ist alleine damit nicht zu lösen. Wir
und auch noch in politischer Hinsicht so groß ist, wie werden mit diesem Problem weiter zu leben haben,
es noch heute zwischen Ost- und Westeuropa ist, in und wir werden darauf zu achten haben, daß die Bun-
einer Welt, in der die Spannungen zwischen Süd und desrepublik Deutschland ein ausländerfreundliches
Nord so groß sind, wie sie heute sind, und eher größer Land in der Mitte Europas bleibt. Das ist ein Ziel, dem
werden, als sie heute sind, werden die Flüchtlings- wir mit dem neuen Ausländerrecht, das zum 1. Januar
ströme und die Wanderungsbewegungen eher zu- als in Kraft getreten ist, ein ganzes Stück weit entgegen-
abnehmen. In einer Welt, in der wir offene Grenzen in gekommen sind.
Europa wollen, müssen wir damit rechnen, daß sehr
Zu dem Ziel, ausländerfreundlich zu bleiben, gehört
viele Menschen weiterhin im prosperierenden Teil
auch — darüber haben wir oft gesprochen, meine Da-
Europas und speziell in Deutschland Zuflucht suchen
men und Herren — , daß man die Menschen weder
werden. Das ist eine der großen europäischen Heraus-
tatsächlich noch in ihren Erwartungen und Ängsten
forderungen an die Innenpolitik.
überfordern darf. Deswegen appelliere ich an uns alle,
daß wir den Stimmungsschwankungen nicht nachge-
Ich bin ganz sicher, daß wir diese Aufgaben national ben, daß wir den Menschen aber auch nicht das Ge-
und allein nicht bewältigen können, sondern daß die fühl verweigern, daß dieser Rechtsstaat ein hand-
Wanderungsströme, die Ströme von Asylbewerbern
lungsfähiger bleibt und daß er entschlossen bleibt, das
nur in einer europäischen Dimension bewältigt wer-
Mögliche zu tun, um Bedrohungen, die die Bürger
den können. Deswegen hat die Koalition verabredet, empfinden, rechtzeitig zu bekämpfen. Wir dürfen die
daß wir eine europäische Lösung, eine Harmonisie- Bürger in ihren Gefühlen nicht schutzlos lassen. Wir
rung des Asylrechts in Europa auf der Grundlage der dürfen allerdings auch nicht den Schwankungen der
Genfer Flüchtlingskonvention anstreben. Ein Europa jeweiligen Stimmungslage opportunistisch nachge-
der offenen Grenzen ist ohne eine Harmonisierung ben. Der Staat muß beide Aspekte berücksichtigen
des Asylrechts, der Asylpraxis und der Asylpolitik auf und darf die Bürger nicht überfordern. Das gilt nicht
europäischer Ebene überhaupt nicht denkbar. Das
nur für Asylbewerber; das galt, wenn ich daran erin-
heißt, daß wir bis 1992 die entsprechenden rechtli- nern darf, vor einem Jahr für Übersiedler aus der da-
chen Voraussetzungen schaffen müssen und schaffen maligen DDR, und das galt gestern und gilt heute wie
werden. morgen auch für die Deutschen und Deutschstämmi-
gen aus den Aussiedlungsgebieten in Osteuropa
- und
Die Genfer Flüchtlingskonvention ist die materielle in der Sowjetunion.
Grundlage für eine Harmonisierung des europäischen
Asylrechts. Ob sich daraus verfassungsrechtliche (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Konsequenzen für die Bundesrepublik Deutschland Die Koalition hat sich dafür entschieden, Art. 116
ergeben oder nicht, darüber sind die Meinungen der
des Grundgesetzes nicht zu ändern.
Verfassungsrechtler geteilt. Ich denke, wir sollten den
verbleibenden Zeitraum nutzen, um darüber Klarheit (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
zu schaffen. Aber Einigkeit besteht darüber, daß kein der FDP)
europäisches Land für sich alleine mit diesen Heraus-
Ich denke, daß das der richtige Weg ist und daß die
forderungen fertig werden kann. Deswegen glaube
Erfahrungen mit den Übersiedlern aus der damaligen
ich, daß der Weg zu einer Europäisierung der ist, den
DDR im vergangenen Jahr jedem von uns auch zei-
wir in den kommenden Jahren mit Entschiedenheit
gen, daß es richtig ist, das Tor nicht zuzuschlagen,
gehen müssen.
sondern offenzulassen und zugleich dafür zu arbeiten,
daß die Ursachen der Wanderungsbewegungen auch
Ich begrüße sehr, daß die Flüchtlingskonzeption
für Deutsche beseitigt werden. Wir haben damit ge-
der Bundesregierung in Europa zunehmend Unter- genüber den Deutschen, die in Polen leben, im ver-
stützung findet. In der vergangenen Woche gab es in
gangenen Jahr durchaus erste Erfolge gehabt. Auch
Wien eine große Konferenz des Europarates über die
der Strom von Aussiedlern aus Rumänien hat sich in
Wanderungs- und Flüchtlingsbewegungen in Europa.
der zweiten Hälfte des vergangenen Jahres verrin-
Dabei hat sich gezeigt, daß der Grundgedanke unse-
gert.
rer Flüchtlingspolitik zunehmend Unterstützung ge-
winnt, daß nämlich noch so effiziente Kontrollen an Wir wollen entschieden, mit aller Kraft und allen zur
den Grenzen das Problem nicht lösen, sondern daß Verfügung stehenden Mitteln auf diesem Weg weiter-
letztlich das Entscheidende die Beseitigung der Ursa arbeiten: das Tor für alle Deutschen, für die wir eine
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991 231

Bundesminister Dr. Schäuble


besondere Verantwortung haben, offenlassen, aber schneller, dramatischer Veränderungen und großer
zugleich mit den Heimatstaaten, mit Polen, mit Rumä- sozialer und wirtschaftlicher Spannungen nicht leich-
nien, mit der Sowjetunion, dafür arbeiten, daß die ter geworden. Eine solche Zeit schneller Veränderun-
Deutschen in der Heimat, in der ihre Väter und Vor- gen und großer Spannungen vermag die Ängste der
fahren seit Generationen leben, eine Zukunft haben, Bürger zu schüren, und Ängste sind immer ein
weil etwa die Sowjetunion ärmer wäre, wenn die Ruß- schlechter Ratgeber, auch für die innere Sicher-
landdeutschen in der Sowjetunion eine Heimat nicht heit und das friedliche Zusammenleben. Deswegen
mehr haben könnten, und weil eine gute Hilfe für die appelliere ich an uns alle, daß wir uns unserer Verant-
Sowjetunion in ihren Schwierigkeiten dazu beitragen wortung bewußt bleiben, solche Ängste nicht zu schü-
könnte, daß die Rußlanddeutschen auch in Zukunft in ren — nicht dadurch, daß wir opportunistisch Stim-
ihrer angestammten Heimat leben können. Wir ver- mungen nachgeben, aber auch nicht dadurch, daß wir
meiden aber Torschlußpanik nur, wenn klar ist, daß den Menschen das Gefühl vermitteln, wir würden sie
diese größer, stärker und verantwortungsvoller ge- schutzlos lassen, dieser Staat würde seine Verantwor-
wordene Bundesrepublik Deutschland auch in Zu- tung für den Schutz der Bürger nicht mit aller Ent-
kunft Deutschen ihr Recht auf Heimat nicht verwei- schiedenheit ernst nehmen.
gert und sich ihrer Solidarität hier wie auch in der Aber ich möchte auch darauf hinweisen, daß wir in
Heimat drüben nicht entzieht. den vergangenen Jahren bei der Bewältigung dieser
Wenn wir diesen Weg gehen, haben wir eine bes- Aufgaben erfolgreich gewesen sind. Denn wenn man
sere Chance, mit den Sorgen fertig zu werden, die sich einmal vorstellt, daß allein in meiner kurzen
viele sowohl im Vertriebenenbereich als auch bei den Amtszeit als Innenminister seit dem April 1989 etwa
Aussiedlern haben. Ich sage noch einmal: Die Erfah- 2 Millionen Menschen in die damalige Bundesrepu-
rungen des vergangenen Jahres sollten uns ermuti- blik Deutschland, in die elf alten Bundesländer, neu
gen, diesen auch nicht immer populären Weg ent- gekommen sind, dann haben wir diese Herausforde-
schieden und mutig weiterzugehen. rungen eigentlich mit geringen inneren Schwierigkei-
ten und Auseinandersetzungen bewältigt, wie auch
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der Prozeß der Wiedervereinigung unseres Vaterlan-
Wenn ich davon gesprochen habe, daß wir nicht des — bei allen Schwierigkeiten, die bleiben und die
bereit sind, Art. 116 unseres Grundgesetzes zu än- ich nicht gering, sondern hoch einschätze — doch im
dern, so gehört in diesen Zusammenhang auch ein Grunde mit geringen inneren Auseinandersetzungen
Wort dazu, daß wir die Kriegsfolgengesetzgebung bewältigt worden ist. Ich bin immer dafür, daß man
zum Abschluß bringen müssen und daß wir insbeson- trotz der Sorgen auch daran erinnert, was gut gelun-
dere im Zusammenhang mit den Entschädigungsfra- gen ist. Wir sollten uns nicht zu klein machen.
gen, die sich uns in bezug auf die fünf neuen Länder (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
auch nach dem Einigungsvertrag stellen, zu einer Ab- Ich würde zum Schluß gern ein persönliches Wort
schlußgesetzgebung für den Lastenausgleich kom- sagen. Frau Präsidentin, meine Damen und Herren,
men müssen und kommen werden. Wir werden die ich habe in den zurückliegenden Wochen und Mona-
entsprechenden Vorschläge in absehbarer Zeit erar- ten bis in diese Tage hinein von vielen Kolleginnen
beiten. Im übrigen müssen wir unsere Anstrengungen und Kollegen und vom Hohen Hause insgesamt viel
zu einer Hilfe für die Deutschen in ihrer angestamm- Zuspruch erfahren. Ich möchte die Gelegenheit nut-
ten Heimat verstärken. zen, mich dafür in aller Form zu bedanken. Es hat mir
Ich möchte daher auch angesichts der Aufgaben, geholfen, und ich möchte meinen Dank dafür in der
die dem Innenministerium durch die Auflösung des Zukunft abstatten, indem ich versuche, so- gut ich
Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen kann, meinen Beitrag zu der demokratischen Ausein-
zugewachsen sind, im Innenministerium eine eigene andersetzung für unseren freiheitlichen Rechtsstaat
Abteilung einrichten, die sich mit den Problemen der zu leisten, im sachlichen Streit, wo immer dies nötig
Vertriebenen und mit den Problemen und der Hilfe ist, im demokratischen Miteinander, wo dies möglich
für die Menschen in den Aussiedlungsgebieten be- ist, aber immer in der gemeinsamen Verantwortung
schäftigt, damit wir unsere Arbeit verstärken und kon- für die Sicherheit und das Recht unserer Bundesrepu-
zentrieren können. blik Deutschland und für den Frieden und die Freiheit
unserer Bürger.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, ich
würde bei dieser Gelegenheit gerne all denjenigen (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und
meinen Dank und meinen Respekt sagen, die als Ver- der FDP — Beifall bei der SPD, beim Bünd
triebene hier in der Bundesrepublik Deutschland oder nis 90/GRÜNE sowie bei Abgeordneten der
als Deutsche in den ehemaligen deutschen Gebieten PDS/Linke Liste)
seit 40 Jahren einen Beitrag zum Frieden in Europa
leisten und die wir brauchen, wenn wir eine dauer- Präsidentin Dr. Süssmuth: Herr Bundesminister,
hafte Friedensordnung in einem Europa ohne tren- wir danken Ihnen für Ihren Einsatz; das darf ich im
nende Grenzen für die Zukunft gewährleisten wol- Namen des ganzen Hauses sagen.
len. Ich erteile jetzt Herrn Abgeordneten Penner das
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Wort.
bei Abgeordneten der SPD)
Das friedliche Zusammenleben der Bürger in einem Dr. Penner (SPD) : Frau Präsidentin! Meine sehr ver-
freiheitlichen Rechtsstaat zu sichern, das ist ja die Auf- ehrten Damen und Herren! Die Schwerpunkte der
gabe der Innenpolitik. Diese Aufgabe ist in einer Zeit Innenpolitik werden, soweit vorhersehbar, bestimmt
232 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991

Dr. Penner
sein von den Konsequenzen des sich vereinigenden Deshalb können und wollen wir uns nicht abschot-
Deutschlands, des immer mehr Staatlichkeit anneh- ten.
menden EG-Europas sowie den Folgen sich auflösen-
Gewiß, es gibt Brüche. Westeuropa erwartet von
der Staats- und Gesellschaftsordnungen in Osteu-
uns eher, daß wir die EG-Außengrenzen, d. h. unsere
ropa.
Ostgrenze, absichern. Auch darauf bleibt die Union
Um mit dem letzteren zu beginnen: Jahrelang er- eine Antwort schuldig. Nach unserer Einschätzung
schien die Weltflüchtlingsbewegung für Europa und diente das mittlerweile jahrelange Gezetere gegen
damit auch für uns Deutsche als ein Geschehen, das den Artikel 16 wohl denn auch eher als Schlagstock in
weit entfernt, in Asien und Afrika, stattfand und uns der innenpolitischen Auseinandersetzung.
Europäer spürbar lediglich in seinen Ausläufern mit (Beifall bei der SPD und des Abgeordneten
steigenden Zahlen von Asylbewerbern wie auch an- Dr. Ullmann [Bündnis 90/GRÜNE])
deren Menschen auf der Flucht erreichte. Das ist seit
Jahr und Tag anders. In Rumänien, in Jugoslawien, Bis zum heutigen Tage hat die Union keinen förm-
besonders in der Sowjetunion, offenkundig aber auch lichen Antrag auf Änderung des Grundrechts auf Asyl
immer noch in Polen gärt es. Bittere Not und Angst im Deutschen Bundestag eingebracht, geschweige
treibt die Menschen ungeachtet unterschiedlicher denn zur Abstimmung gestellt.
Nationalität, unterschiedlicher Herkunft aus ihrem (Dr. Laufs [CDU/CSU]: Aber im Bundesrat
Land, das auch Heimat ist, dorthin, wo sie hoffen, daß durch das Land Baden-Württemberg!)
es ihnen besser ergehe. Viele entsinnen sich alter Bin-
dungen zum Westen und machen sich auf den Weg. — Nein, solche Verengungen bringen uns nicht wei-
Sie kommen auch zu uns. 400 000 Aussiedler waren es ter. Wir brauchen Lösungen und keine Dummschwät-
allein im Jahre 1990 gegenüber 40 000 im Jahre 1986, zereien.
vier Jahre zuvor. Im Vergleich: Knapp 200 000 Asyl-
(Beifall bei der SPD — Lachen und Beifall bei
bewerber haben wir im Jahre 1990 gezählt.
der CDU/CSU)
Kein Zweifel, Europa ist in Bewegung geraten, und Es geht auch um eine zeitgemäße Anpassung des
wenn nicht alle Zeichen trügen, werden wir, die wir Aussiedler- und Staatsangehörigkeitsrechts. Wir sind
hier leben, Zeugen einer neuen Völkerwanderung in deshalb der Auffassung:
Europa. Wir werden uns nicht darauf verlassen kön-
nen, daß es bei jenen 2 bis 3 Millionen Rußlanddeut- Erstens. Artikel 116 Grundgesetz ist auf das Staats-
schen oder den 250 000 Rumäniendeutschen oder den gebiet der Bundesrepublik Deutschland zu begren-
polnischen Oberschlesiern bleiben wird. Es interes- zen.
siert diese Menschen wenig, ob sie als Asylbewerber, Zweitens. Der Begriff des Statusdeutschen ist zu
Flüchtlinge, De-facto-Flüchtlinge, Aussiedler oder streichen.
rechtlich anders bei uns eingestuft werden. Sie kom-
men einfach. Das war in den 80er Jahren nicht an- Drittens. Damit verbunden müßte ein neues Staats-
ders. angehörigkeitsgesetz mit Übergangsvorschriften und
Einbürgerungsrichtlinien geschaffen werden.
Ich frage Sie von der CDU/CSU: Glauben Sie wirk-
Viertens muß das Bundesvertriebenengesetz so no-
lich allen Ernstes, daß Sie durch eine bloße Änderung
velliert werden, daß unter dem Gesichtspunkt des
des deutschen Asylrechts auch nur die europäische
Vertrauensschutzes nur noch diejenigen Volkszuge-
Flüchtlingsbewegung stoppen könnten, als ob es kein
hörigen den Vertriebenenstatus erwerben können,
zusammenwachsendes Europa gäbe, das wegen der
die bisher keine zumutbare Möglichkeit hatten, in das
durchlässigen Grenzen zumindest ein einheitliches
Bundesgebiet auszusiedeln.
Recht in Europa nahelegt, als ob es den KSZE-Prozeß
nicht gäbe, dessen langjährige Ablehnung durch die (Beifall bei der SPD)
CDU/CSU Bundeskanzler Kohl Ende vergangenen
Jahres als Fehler eingeräumt hat? Eben diese Abma- Natürlich — das hat der Bundesminister des Inne-
chungen über die Sicherheit und Zusammenarbeit in ren mit Recht hervorgehoben — kommen wir auch
Europa, die jetzt ja auch Bestandteil der Politik der nicht um eine Europäisierung des Flüchtlings- und
Union sind, und, darauf aufbauend, die Freund- Asylrechts herum. Aber all diese rechtlichen Bemü-
schaftsverträge mit der Sowjetunion und Polen stellen hungen, gleichviel, ob sie das Asylrecht betreffen, ob
auch zum Osten hin die Signale für Freizügigkeit zwi- sie das Flüchtlingsrecht betreffen, ob sie das Aussied-
schen den Völkern auf Grün. lerrecht betreffen, ob sie anderes Recht betreffen, all
diese Bemühungen werden nie und nimmer reichen.
(Beifall bei der SPD) Wir müssen mitwirken, daß die Menschen in den Aus-
wanderungsländern Hoffnung schöpfen können und
Auf Rot stehen unter der Ägide des KSZE-Regimes auf der Grundlage dieser Hoffnung dann auch dablei-
umgekehrt die Zeichen für eine restriktive Visapoli- ben.
tik.
Wir hoffen, daß dies nun auch endlich die Regie-
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, wir rung begreift. Die Worte von Schäuble geben dazu
haben den osteuropäischen Nachbarn mehr Öffnung, Anlaß.
mehr Hilfe und mehr Gemeinsamkeit versprochen,
(Beifall bei der SPD)
auch deswegen, weil sie die deutsche Einigung unge-
achtet böser geschichtlicher Erfahrungen mit einem Wir laden die Koalitionsparteien und auch andere ein
großen Deutschland vertrauensvoll begleitet haben. mitzumachen. Es geht schließlich um Sorgen, die alle-
Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991 233

Dr. Penner
— Bund, Länder und Gemeinden, und zwar unabhän- aktiven Polizeidienst entlassen. Das ist künftig nach
gig von parteipolitischer Couleur - drücken. unseren Maßstäben nicht mehr verantwortbar.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die (Beifall bei der SPD)
rein innenpolitischen Fragen dürfen nicht außen vor
Denn in der alten Bundesrepublik dauert die Ausbil-
bleiben. Zunächst macht die Vereinigung beider Teile
dung drei Jahre. Für uns heißt das: Die Polizei der fünf
Deutschlands natürlich eine Verfassungsdiskussion
neuen Bundesländer muß wenigstens für eine Über-
unabweislich. Gewiß, das Bonner Grundgesetz ist ein
gangszeit in die Ausbildungsprogramme der westli-
höchst geglücktes Verfassungswerk. Aber gerade
chen Bundesländer einbezogen werden.
weil das so ist, sollten wir für Ergänzungen und An-
passungen offen sein, die im Zuge der Vereinigung, Auch die Ausstattung muß verbessert werden. Es
aber auch nach den Erfahrungen der vergangenen geht einfach nicht an, daß die Kriminellen über mo-
40 Jahre wichtig werden können. Wir werden uns dernste technische Mittel verfügen, während die Poli-
darüber noch im einzelnen unterhalten müssen. zei in den fünf neuen Bundesländern mit völlig anti-
quiertem technischen Gerät arbeiten muß.
Über diesen mehr prinzipiellen Fragen dürfen wir
das Naheliegende und Praktische nicht vergessen. Es (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/
wird in den fünf neuen Bundesländern nur schwerlich GRÜNE)
vorwärtsgehen, solange es nicht intakte Verwaltun- Mit dem Rechenschieber fängt man keine Computer-
gen gibt. Dafür ist Sachkunde erforderlich; und die kriminellen! Die SPD-Bundestagsfraktion fordert die
kostet um so mehr, je geringer das Angebot ist. Bundesregierung auf, an den guten Erfahrungen des
Eine Qualifizierungsoffensive, die allerdings kurz- gemeinsamen Programms von Bund und Ländern für
fristig nicht greifen kann, ist unumgänglich. Ebenso die innere Sicherheit zu Beginn der 70er Jahre anzu-
müssen alle öffentlichen Verantwortungsbereiche der knüpfen und zu handeln.
Bundesrepublik, nämlich Bund, Länder und Gemein- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir
den, noch mehr als bisher mit Personal bis hin zur verschweigen nicht, daß auch in der alten Bundesre-
Entsendung ganzer Ämter, der sogenannten Organ- publik nicht alles zum besten steht, daß gerade die
leihe, helfen. Personallage bei der Polizei unbefriedigend ist. Immer
Doch damit nicht genug. Bei einem rasant anstei- wieder sind es Haushaltsprobleme, die notwendige
genden Preisniveau in der alten DDR, von dem auch Entscheidungen verhindern. Wie dem auch sei: Kern-
die Mieten nicht verschont bleiben werden, sind Ge- aufgaben der hoheitlichen Tätigkeit — dazu gehört
hälter und Einkommen von gut einem Drittel der Be- die polizeiliche — dürfen dabei nicht auf der Strecke
züge in der Bundesrepublik kaum verantwortbar, und bleiben.
zwar auch im Interesse einer zügigen Konsolidierung Es gibt keinen Grund, beim Thema innere Sicher-
der Lebensverhältnisse in den fünf neuen Bundeslän- heit selbstzufrieden zu sein. Seit 1982 werden Jahr für
dern. Jahr 4,2 Millionen bis 4,3 Millionen Straftaten verübt.
Dabei denkt der Innenpolitiker natürlich mit ernster Beim Straßenraub sind sogar massive Steigerungsra-
Sorge — mit besonders ernster Sorge - an die Lage ten festzustellen.
der Polizei. Wer mit knapp der Hälfte der Bezüge sei- Auch die Aufklärungsquote ist unbefriedigend. Seit
nes westlichen Kollegen auskommen muß, ist nicht so der Wende 1982 stagniert sie zwischen 45 % und 50 %.
ausgestattet, wie es die häufig schwere Aufgabe, aber Dies wird auch dem selbstgerechten Anspruch der
auch die Fürsorgepflicht des Dienstherrn gebietet. CDU/CSU, gewissermaßen Gralshüter der inneren
Sicherheit zu sein, nicht gerecht.
(Beifall bei der SPD)
Die ständig steigende Zahl der Drogentoten ist be-
Wir stellen fest: Die deutsche Einheit hat auf dem
sorgniserregend. 1 480 Todesopfer haben wir im ver-
Gebiet der inneren Sicherheit in den fünf neuen Bun-
gangenen Jahr gezählt. Offenbar ist es immer noch
desländern zu erheblichen Problemen geführt. Kenn-
nicht gelungen, den Drogenkonsum gesellschaftlich
zeichnend hierfür sind nicht nur die beinahe bürger-
zu ächten. Das wird ein Thema sein, das uns auch
kriegsähnlichen Szenen beim Fußballspiel Sachsen
künftig immer wieder begleiten wird. Ich neige dazu:
Leipzig - Berlin Ende vergangenen Jahres in Leipzig.
Wir sollten uns darauf konzentrieren, die Drogenpro-
Es ist kein Vorwurf, aber fest steht es doch: Beinahe
duzenten und die Drogenhändler mit aller Härte des
hilflos stehen die Polizeibehörden im Osten neuen
geltenden und noch zu schaffenden Rechts zu verfol-
Formen der Kriminalität gegenüber. Ich nenne hier
gen und zu bestrafen. Die Drogenkonsumenten hin-
nur die Wirtschaftskriminalität. Ich erwähne die Um-
gegen sind nach meiner festen Überzeugung eher ein
weltkriminialität, die Eigenturnskriminalität und die
Fall für den Arzt, nicht aber für Staatsanwaltschaft
wachsende Drogenkriminalität.
und Polizei.
Mit Recht fordert die Gewerkschaft der Polizei ein
(Beifall bei der SPD)
Sofortprogramm „Innere Sicherheit" f ür die fünf
neuen Ländern. Hauptbestandteil eines solchen So- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Natür-
fortprogramms muß eine intensive Ausbildungs- und lich muß auch das Datenschutzrecht fortgeschrieben
Qualifizierungsoffensive für Polizisten sein. Bisher werden. Wir brauchen ein Geheimschutzgesetz für
wurden die Polizisten der ehemaligen DDR nach ei- Sicherheitsüberprüfungen, wir brauchen ein Perso-
nem sechsmonatigen Grundlehrgang hei der Schutz- nalaktengesetz und auch neue Gesetze für Statisti-
polizeibehörde und einem sechsmonatigen Praktikum ken. Leider gibt es auch keine Maßnahmen zur Ver-
bei der Verkehrs- und Transportpolizeischule in den besserung des Datenschutzes in der Wirtschaft. Die
234 Deutscher Bundestag — 12. Wahlpe ri ode - 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991

Dr. Penner
Banken verfügen über eine Unzahl persönlicher Da- Der Verfassungsschutz darf keine polizeilichen oder
ten, die Versicherungen verfügen über eine Unzahl polizeiähnlichen Tätigkeiten ausüben. Er ist darauf
persönlicher Daten, die Detekteien und Auskunfteien auch gar nicht vorbereitet.
nicht zu vergessen. Diese Daten sind Persönlichkeits- Noch eines will ich sagen: Wer der Vorfeldbe-
rechte. Mit diesen Daten kann man nicht nach freiem obachtung das Wort redet, der nimmt in Kauf, die
Belieben im rechtsfreien Raum hantieren. Ganz nach- Bundesrepublik Deutschland gewissermaßen zu einer
drücklich fordern wir, daß die Arbeitnehmerdaten Dependance der Firma Pinkerton zu machen. Das ver-
wiksamer als bisher rechtlich geschützt werden. fassungsrechtlich abgesicherte Trennungsgebot zwi-
(Beifall bei der SPD) schen Verfassungsschutz und Polizei hat sich be-
währt.
Es gibt ein Sonderproblem — der Minister hat es
(Beifall bei der SPD und des Abg. Dr. Hirsch
angesprochen —, das uns noch lange beschäftigen
[FDP])
wird. Es ist der Umgang mit den sogenannten Stasi-
Akten. Unsere Vorstellungen sind klar: Wenn jemand gefragt ist, dann sind es die Polizei und
der Zoll. Beide bringen einschlägige Erfahrungen mit.
Erstens. Die am 12. Dezember 1990 erlassene vor- Wenn sich der BND im Ausland bei der Nachrichten-
läufige Benutzerordnung muß durch ein Gesetz abge- sammlung verstärkt des Waffen- und Drogenthemas
löst werden. annehmen würde, stünde das auf einem anderen
Zweitens. An der Institution des Sonderbevollmäch- Blatt. Hier stellt sich der Kompetenzkonflikt nicht.
tigten ist festzuhalten. Die Kontrolle der Dienste kann nicht so bleiben wie
Drittens. Das heute bestehende Auskunftsrecht ist bisher. Die Aufsplitterung der parlamentarischen
zu einem Einsichtsrecht zu erweitern. Kontrollmöglichkeiten dient der Sache nicht. Das
PKK-Gesetz ist dringend novellierungsbedürftig. Es
Viertens. Die Nutzung für nachrichtendienstliche geht um mehr Konzentration, aber auch um mehr Effi-
Zwecke ist strikt auszuschließen. zienz der Kontrolle. Als völlig untauglich hat sich die
Fünftens. Bei der Sicherheitsüberprüfung sind Aus- gesetzlich vorgesehene Berichtspflicht der Bundesre-
künfte allenfalls der Einstellungsbehörde, nicht aber gierung erwiesen. Der Berichtsrahmen wird durch das
dem Verfassungsschutz zu erteilen. Akzeptabel ist Gesetz in das Ermessen der zu kontrollierenden Bun-
das Interesse der Dienste für hauptamtliche Mitarbei- desregierung gestellt. Was die strikte Geheimhaltung
ter des früheren MfS. der PKK anbetrifft, habe ich bisweilen den Eindruck,
daß das meiste bereits offenkundig ist und diese Of-
Sechstens. Dem Sonderbevollmächtigten ist ein fenkundigkeit lediglich geheimgehalten werden
Herausgabeanspruch einzuräumen, um die bereits in soll.
den Besitz anderer Behörden gelangten Akten des
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD)
MfS wieder zusammenzuführen. Es kann ja nicht sein,
daß die in aller Welt herumvagabundieren. Tatsächliche Kontrolle ist gefragt. In diesem Sinne
werden wir uns konstruktiv an der Novellierung des
Bei den Akten der Blockparteien und der Massen- PKK-Gesetzes beteiligen, die ja auch die Koalition als
organisationen der früheren DDR ist differenziertes notwendig ansieht. Anders ist es nicht zumutbar, sich
Vorgehen empfehlenswert. Da die SED und die ihr als Parlamentarier an dem Scheinunternehmen Kon-
zuzuordnenden Ablegerparteien Teil des staatlichen trolle der Dienste zu beteiligen. Darüber kann auch
Ganzen waren, kann für sie das Parteienprivileg des das pompöse Wahlverfahren für die Mitglieder der
Grundgesetzes nicht generell gelten. PKK nicht hinwegtäuschen.
(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ (Beifall bei der SPD)
GRÜNE) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wie
Soweit Parteiakten Staatsangelegenheiten enthalten, immer ist die Innenpolitik vielfältig und manchmal
müssen sie wie Staatsakten behandelt werden. Wo auch ein steiniges Feld. Gegensätze mit der Koalition
sich Nähe zur Stasi-Tätigkeit ergibt, gehören sie zum werden unvermeidlich sein. Wir wollen uns wie früher
Aktenbestand der Stasi. Nur insoweit, als es sich um um Genauigkeit und Nüchternheit bemühen. Wir
Parteivorgänge nach dem Verständnis des Grundge- — und ich ganz persönlich — freuen uns, daß der Bun-
setzes oder des Parteiengesetzes handelt, greift das desinnenminister Wolfgang Schäuble wieder dabei
Parteienprivileg. ist. — Schönen Dank.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Wort noch zu den Diensten. Da die kommunistische des Bündnisses 90/GRÜNE und der CDU/
Drohkulisse nicht mehr existiert, entfällt ein wesentli- CSU)
cher Teil der Aufgabenstellung von BfV und BND. Das
heißt im Ergebnis Personal- und Aufwandsreduzie- Präsidentin Dr. Süssmuth: Das Wort hat der Bun-
rung. Wir Innenpolitiker von der SPD lehnen es ab, desminister der Justiz, Herr Kinkel.
das Bundesamt für Verfassungsschutz statt dessen mit
der Bekämpfung illegalen Waffenexports und inter-
nationaler Bandenkriminalität und dabei besonders Dr. Kinkel, Bundesminister der Justiz: Frau Präsi-
dentin! Meine Damen und Herren! Ich hätte mir sehr
des Drogenhandels beauftragen zu wollen.
gewünscht, mein neues Amt als Bundesjustizminister
(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ in einer Zeit antreten zu können, die weniger von
GRÜNE — Gerster [CDU/CSU]: Da kommt Gewalt und Unrecht erfüllt ist. Wir alle sind mit großen
die ganze doppelte Moral zum Ausdruck!) Hoffnungen in dieses Jahr gegangen: Die Teilung
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991 235

Bundesminister Dr. Kinkel


Deutschlands ist überwunden. Der KSZE-Prozeß ist Heute ist es unsere Aufgabe, die Hinterlassenschaft
abgeschlossen. Wir durften glauben, vor einer Zeit des des SED-Unrechts aufzuarbeiten. Wir stehen, ich
Friedens und des Rechts zu stehen. Aber es ist anders stehe als neuer Bundesjustizminister vor der großen
gekommen. Die Welt wird von einer Welle des Un- Aufgabe, das verlorengegangene Vertrauen der Men-
rechts erschüttert. Die Verbrechen Saddam Husseins schen zueinander, das Vertrauen in den Staat und in
sind auch eine Niederlage des Rechts. Recht ist eben den Rechtsstaat neu aufbauen zu müssen. Dehler
nicht nur innerstaatliches Recht. sagte damals, dieses Vertrauen sei durch eine verbre-
cherische Zeit des Unrechts erschüttert worden. Glei-
In den baltischen Republiken müssen die Men-
ches ist in der ehemaligen DDR geschehen. Minister-
schen um die Rechte kämpfen, die bereits die ameri-
präsident Biedenkopf hatte recht, als er gestern sagte,
kanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 als un-
daß das Ausmaß des geschehenen Unrechts täglich
antastbar und selbstverständlich definiert hat.
leider deutlicher und schrecklicher werde. Ich habe
(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten als Bundesjustizminister Akten und Vorgänge aus der
der CDU/CSU) früheren DDR übernommen, bei denen es mir im
wahrsten Sinne des Wortes schlecht geworden ist.
Aber das Recht ist eine mächtige Kraft. Ich jeden- Darüber wird noch an anderer Stelle zu sprechen
falls baue darauf, wir sollten darauf bauen, daß es sich sein.
letztlich durchsetzen wird.
Die tiefgreifende Verunsicherung der Menschen,
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) die aus der jahrelangen Rechtlosigkeit, Bespitzelung
Unrecht kann nur durch Recht überwunden werden. und Bevormundung resultiert, muß abgebaut werden.
Damit meine ich nicht nur Gesetze und Verordnun- Die Sehnsucht nach dem Recht war eine der großen
gen. Recht ist mehr: Recht ist, so Radbruch, Wille zur Triebkräfte für die Revolution. Die Menschen hoffen
Gerechtigkeit. Auf diesen Willen zur Gerechtigkeit nun in den fünf neuen Ländern auf den Rechtsstaat.
kommt es an. Mit ihm müssen wir versuchen, dem Sie müssen, wie ich sagte, wieder Vertrauen zueinan-
Unrecht entgegenzutreten. der finden. Diese Hoffnungen müssen und werden wir
einlösen.
Neben Recht und Freiheit zählt der Frieden zu unse-
ren höchsten Werten. Der Einsatz für den Frieden ver- Die zentrale rechtspolitische Aufgabe der nächsten
dient deshalb immer Achtung und Respekt. Er ist ein vier Jahre wird deshalb — so jedenfalls sehe ich es —
Wert an sich. der Aufbau des Rechtsstaates in den neuen Bundes-
ländern sein. Kein Mensch würde verstehen, wie ich
(Frau Dr. Götte [SPD]: Ach nee!) schon an anderer Stelle gesagt habe, wenn wir unser
Gerade weil wir in unserem Jahrhundert Erfahrungen fein austariertes und ausgebautes Rechtssystem in
so entsetzlicher Art gemacht haben, müssen wir die- den alten Bundesländern weiter ausziseliert aufbauen
jenigen verstehen, die den Krieg als Mittel der Politik würden, während wir in den fünf neuen Bundeslän-
total und endgültig ablehnen. Aber richtig ist eben dern eine absolut defizitäre, katastrophale Lage ha-
ben.
auch, daß das Recht dem Unrecht nicht weichen darf.
Aggression darf nicht belohnt werden; Aggression Der wirtschaftliche Aufbau ist gewiß ungeheuer
darf nicht siegen. Wenn das Recht nicht entschieden wichtig. Für die betroffenen Menschen aber sind die
verteidigt wird, zerfällt es und verliert seine bewußt Rechtsstaatsprobleme mindestens von gleichem Ge-
seins- und handlungsbildende Kraft. wicht. Das ist für uns in den Altländern nicht so ganz
einfach zu verstehen, weil wir nach 40 Jahren geleb-
Ich meine allerdings, daß jede Diskussion dort auf- -
hört, wo unter der Decke von Friedensdemonstratio- tem Rechtsstaat alles als absolut selbstverständlich
empfinden.
nen klar Antiamerikanismus betrieben wird.
Es geht um den Aufbau einer demokratischen Ju-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
stiz in den neuen Bundesländern, die dafür sorgt, daß
Wir verdanken den Amerikanern außerordentlich die Bürger wieder zu ihrem Recht kommen; denn
viel. Sie haben sich für unser Recht und für unsere Recht sichert Freiheit, und nur Recht führt zur Freiheit
Freiheit in der Vergangenheit in besonderem Maße und zum Vertrauen der Menschen untereinander. Die
eingesetzt. Justiz muß von Richtern und Staatsanwälten befreit
werden, die dem SED-Regime als Steigbügelhalter
Dasselbe gilt für unsere Solidarität mit Israel, die
gedient haben und sich als Instrument der Unterdrük-
vor allem auf seiten der Israelis viel Kraft gekostet hat,
kung mißbrauchen ließen. Wer sich allerdings nichts
bis es zum Aufbau unseres gegenwärtigen Verhältnis-
zuschulden kommen ließ, kann auch bleiben. Kenn-
ses kam. Ich sage klar: Dieses Verhältnis darf nie wie-
zeichen des Rechtsstaats ist individuelle Gerechtig-
der getrübt werden. keit.
Vor 40 Jahren hat Thomas Dehler als erster Bundes-
Wir brauchen eine Fülle von neuen Richtern, Staats-
minister der Justiz dem damaligen Bundestag seinen anwälten, Rechtspflegern, Geld aus den Altländern,
ersten Bericht über die Aufgaben des Justizministe-
Fortbildungshilfe, technische Hilfe, kurz: eine gewal-
riums vorgetragen. Die Wiederherstellung der tige Unterstützung in der Praxis. Ich habe in den ver-
Rechtseinheit und die Erneuerung des Rechtsbewußt-
gangenen Monaten versucht, einiges anzuschieben,
seins war damals sein Thema. Damals ging es darum,
und werde meine ganze Kraft diesen Fragen wid-
das Recht der westlichen Besatzungszonen zu verein- men.
heitlichen und es von den Resten des NS-Unrechts zu
befreien. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
236 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991

Bundesminister Dr. Kinkel


Wir brauchen für den Neubeginn vor allem aber Viele Menschen wurden an Körper, Geist und Seele
auch Kraft, Verständnis und Solidarität. Ich warne gebrochen. Sie sind heute alt, einige sind gestorben.
gerade in dem Bereich, über den ich spreche, vor Keine moralische Rehabilitierung und kein Geld ver-
Überheblichkeit, auf die die Menschen in den neuen mag hier mehr zu helfen. Als Justizminister verspre-
Bundesländern zu Recht hochempfindsam reagieren. che ich den Opfern an dieser Stelle, alles in meiner
Ich warne vor gönnerhafter, meist übrigens nur Macht Stehende zu tun — wie es bereits der Ausschuß
scheinbarer Überlegenheit. Deutsche Einheit anläßlich der Beratung des Eini-
gungsvertrages gefordert hat — , um hier zu helfen.
(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten
Mit der Arbeit an einem Rehabilitierungsgesetz ha-
der SPD)
ben wir im Justizministerium bereits begonnen.
Wir hatten das Glück, meine Damen und Herren, auf Aber ich bitte die betroffenen Opfer zugleich ganz
der richtigen Seite zu sein und ab 1949 einen freien herzlich — ohne hier irgend etwas verdrängen zu wol-
und demokratischen Staat aufbauen zu können. len — , uns Vertrauen zu schenken und sich nicht in
Wir bekamen auch — das wird heute leicht verges- Bitterkeit zu verhärten. Wir müssen dieses Mal unsere
sen — nach der Zeit des Unrechtsstaates, nach der Vergangenheit rechtzeitig bewältigen. Wir müssen
Nazizeit, 1945 die Chance, die schwierigen Spielre- unseren inneren Frieden finden und die Kraft zur Aus-
geln der Demokratie und der Sozialen Marktwirt- söhnung aufbringen. Die Kräfte für die Zukunft wer-
schaft einzuüben. Zu diesen Spielregeln gehört die den sonst nicht frei, und wir schleppen die Lasten der
Achtung vor der Meinung des anderen, gehören Tole- Vergangenheit sonst immer weiter mit uns herum.
ranz und die ständige Bereitschaft zum Dialog. Im Ich komme zum Schluß: Von ganz entscheidender
Umgang miteinander können und müssen wir jetzt Bedeutung sind die offenen Vermögensfragen. Über
unter Beweis stellen, wie ernst es uns mit diesen Spiel- eine Million Anträge liegen bei den 213 Landratsäm-
regeln ist. tern und den 34 kreisfreien Städten. Wir müssen mit
Wir stehen heute vor der schweren Aufgabe, die Personal, Technik, Soft- und Hardware versuchen,
verheerende Hinterlassenschaft der SED aufzuräu- das möglichst rasch in den Griff zu bekommen, ebenso
men. Das Unrecht hat ja nicht nur 40 Jahre gedauert; die gigantischen Probleme der Treuhandanstalt.
es hat leider Gottes auch alle Bereiche des Lebens Deshalb erarbeiten wir zur Zeit mit großem Nach-
erfaßt. Gleich nach dem Kriege wurden die Menschen druck das Gesetz zur Beseitigung von Hemmnissen
deportiert, interniert und durch die sowjetischen Mili- bei der Privatisierung von Unternehmen. Dieses Ge-
tärtribunale verurteilt. In den Jahren 1945 bis 1949 setz wird bereits am 6. Februar im Bundeskabinett
wurden viele Menschen ohne jeden Grund aus dem beraten und diesem Hohen Hause in Kürze vorlie-
Lande gejagt und um ihr Vermögen gebracht. Der gen.
Vorwurf, sie zählten zu den Kriegsschuldigen oder Der demokratische Rechtsstaat ist keine Parteiensa-
den Naziaktivisten, war eine Lüge. che. Um ihn erfolgreich aufzubauen, müssen wir alle
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der gemeinsam zusammenwirken. Ich möchte Sie deshalb
CDU/CSU) heute auch in meiner neuen Funktion nachdrücklich
Ihnen wurde allein zum Verhängnis, daß sie einer bitten, mit mir diese großen Aufgaben in Angriff zu
Gesellschaftsschicht angehörten, der die kommunisti- nehmen. Ich brauche Sie alle. Ich brauche zur Mitwir-
sche Ideologie das Existenzrecht absprach. kung und zur Bewältigung dessen, was vor uns liegt,
gerade im rechtsstaatlichen Bereich vor allem den
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deutschen Bundestag.
Republikflüchtlingen und verurteilten Regimegeg- Vielen Dank.
nern hat die DDR ihr Eigentum rigoros entzogen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
West-Eigentümer unterlagen einer subtilen Enteig- bei Abgeordneten der SPD)
nungspraxis.
Unrecht hat die SED aber nicht nur am Vermögen
Präsidentin Dr. Süssmuth: Das Wort hat der Abge-
der Betroffenen begangen; das Regime hat systema-
ordnete Herr Laufs.
tisch Menschen zerbrochen und Lebensschicksale
zerstört. Kritiker wurden strafrechtlich verfolgt, in
psychiatrische Anstalten gesperrt, an Ausbildung und Dr. Laufs (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Da-
Fortkommen gehindert. men und Herren! Aus der Fülle der anstehenden Pro-
Aber — auch das gehört zur Tragik der deutschen bleme kann ich nur einige Stichworte herausgrei-
fen.
Geschichte in diesem Jahrhundert — wir können das
geschehene Unrecht nicht ungeschehen machen. Um Ein großes Thema der Innen- und Rechtspolitik sind
die Einheit unseres Vaterlandes zu gewinnen, mußten die im Einigungsvertrag aufgezeigten und für die Eu-
wir im Einigungsvertrag schweren Herzens auf die ropäische Politische Union erforderlichen Ergänzun-
Rückgängigmachung der Enteignungen der Jahre gen und Änderungen des Grundgesetzes. Das infor-
1945 bis 1949 verzichten. Das ist uns und — das melle gemeinsame Gremium aus Mitgliedern des
möchte in an dieser Stelle auch einmal deutlich sa- Bundestages und des Bundesrates sollte rasch gebil-
gen — mir als dem verantwortlichen Verhandlungs- det werden.
führer außerordentlich schwergefallen. Ich möchte Unsere Position ist klar: Wir wollen keine neue Ver-
mit Nachdruck sagen, daß Ausgleichsleistungen bald fassung. Wir lehnen eine Totalrevision des Grundge-
kommen müssen. setzes ab.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991 237

Dr. Laufs
Wir sagen auch: Keine Experimente mit Staatsziel- Zum Asylrecht, Herr Kollege Penner, stimmen wir
bestimmungen. Wir setzen uns für ein Staatsziel Um- Ihnen zu: Es muß europäisch harmonisiert werden.
weltschutz ein, aber wir lehnen die Aufnahme weite- Nur wie soll das ohne Änderung des Art. 16 unseres
rer Staatsziele in das Grundgesetz ab. Konkurrierende Grundgesetzes gehen? Für uns ist diese Anpassung
Interessen können nicht gleichermaßen mit Vorrang unserer Verfassung unumgänglich.
verfassungsrechtlich ausgestattet werden. Über Prio- Meine Damen und Herren, eine schwere Bürde ist
ritäten müssen wir uns politisch auseinandersetzen. die Hinterlassenschaft des ehemaligen Ministeriums
Wir halten auch nichts von Experimenten mit dem für Staatssicherheit. Es ist gewiß gegenwärtig richtig,
Volksentscheid. In den häufig auftretenden hysteri- Auskünfte an Betroffene aus den Archiven des Son-
schen Stimmungslagen — was haben wir denn ande- derbeauftragten zunächst nur in den Fällen zu ertei-
res in diesen Wochen? — könnten vernünftige plebis- len, die zur Wiedergutmachung, Rehabilitierung,
zitäre Beschlußfassungen nicht erwartet werden. Wir Strafverfolgung und Abwehr von Gefahren unerläß-
wollen keinen Rückfall in die Demokratie der lich und unaufschiebbar sind. Diese vorläufige enge
Straße. Begrenzung für Auskünfte und Nutzung muß aber so
(Zuruf von der SPD: Das ist doch unerhört! — bald wie möglich aufgehoben werden.
Weitere Zurufe von der SPD und vom Bünd Aus den Archiven des Sonderbeauftragten müssen
nis 90/GRÜNE) alle Betroffenen die sie betreffenden Auskünfte erhal-
— Ich will Ihnen sagen, was ich damit meine: Der ten können, damit sie die Chance zur Aufarbeitung
saarländische Ministerpräsident hat dieser Tage die des Unrechts und zur Rehabilitierung haben. Dieses
Bevölkerung und seine Staatsbeamten dazu aufgeru- allgemeine Auskunftsrecht könnte zeitlich befristet
fen, auf die Straße zu gehen und sich an einer Anti- werden, damit die Akten, die dann keine weitere Be-
kriegsdemonstration zu beteiligen. Dies findet unsere deutung mehr haben, vernichtet werden können. Wir
Kritik. werden für eine endgültige Benutzerordnung bald
(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord eine gesetzliche Grundlage schaffen. Unbefugter Um-
neten der FDP) gang mit diesem verfassungswidrigen Material und
unbefugter Besitz von Stasi-Akten sind unter emp-
Dieser Aufruf ist amtswidrig und gegen den repräsen-
findliche Strafe zu stellen.
tativen Parlamentarismus gerichtet.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Wie werden prüfen, in welchem Umfang der Son-
Präsidentin Dr. Süssmuth: Herr Abgeordneter derbeauftragte bei der Ermittlung gegen Straftäter
Laufs, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeord- mitzuwirken hat. Wegen der Vernetzung aller Vor-
neten Weiß? gänge müssen Zugangsmöglichkeiten zu anderen
DDR-Aktenbeständen eröffnet werden.
Dr. Laufs (CDU/CSU): Ja, bitte schön. Es ist eine vordringliche Aufgabe der neuen rechts-
staatlichen Justiz, diejenigen in einem fairen Prozeß
Weiß (Berlin) (Bündnis 90/GRÜNE): Sie sagten, Sie abzuurteilen, die sich schwer gegen die Grundsätze
möchten keinen Rückfall in die Demokratie der des Rechtsstaats und der Menschenrechte vergangen
Straße. Sind Sie auch der Auffassung, daß es falsch haben. Es geht nicht darum, im Westen moralisch
gewesen ist, daß die Bürgerinnen und Bürger der DDR Gericht zu halten. Es geht um die Wiedergewinnung
im Herbst 1989 auf die Straße gegangen sind, um ihre des inneren Friedens, um die Bewältigung eines
Demokratie zu erkämpfen? -
schrecklichen Zeitabschnittes deutscher Geschichte.
(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, der SPD Die ganze Wahrheit muß ans Licht; sonst wird es kei-
und der PDS/Linke Liste) nen Frieden geben.
Alle Stasi-Grausamkeiten, alle Arten von Stasi-Un-
Dr. Laufs (CDU/CSU): Herr Kollege Weiß, exakt das taten müssen dokumentarisch beispielhaft an konkre-
will ich nicht sagen, sondern ich sage: Eine Regierung ten Einzelfällen offengelegt werden,
hat sich mit politischen Fragen im Parlament ausein-
anderzusetzen — nicht durch die Mobilisierung der (Glos [CDU/CSU]: Sehr wahr!)
Straße. Sie müssen doch von der parlamentarischen auch die Fälle tragischer Verstrickung, wo Opfer zu
Ordnung hier in der Bundesrepublik Deutschland Tätern und Täter zu Opfern wurden. Erste vereinzelte
ausgehen. Ich möchte auch hinzufügen: Das Parla- Publikationen sind da. Wir ermutigen Verlage, betrof-
ment darf nicht zum Ort der Demonstration mit Ker- fene Bürger und Schriftsteller zu dieser exemplari-
zen, Flugblättern und Pflanzen werden. schen Aufarbeitung des Stasi-Terrors.
(Beifall bei der CDU/CSU) Zu den weiteren vordringlichen Aufgaben gehört
Mit der CDU/CSU wird es keine Grundgesetzände- vor allen Dingen der grundlegende Neuaufbau der
rung geben, die unsere repräsentative parlamentari- Verwaltung in den neuen Ländern. Wir können nicht
sche Verfassung unterminiert. darauf vertrauen, daß Gesetze und Programme allein
(Beifall bei der CDU/CSU) die Wirklichkeit verändern. Ohne erfahrene und lei-
stungsfähige Beamte und Angestellte geht es nicht.
Präsidentin Dr. Süssmuth: Herr Abgeordneter Der Bundesinnenminister hat auf die Probleme hinge-
Laufs, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage? wiesen.
Aus dem Sonderfonds des Bundes für Neueinstel-
Dr. Laufs (CDU/CSU): Nein. lungen westdeutscher Bewerber in Gemeinden der
238 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991

Dr. Laufs
neuen Länder in Höhe von 10 Millionen DM ist im mit besonderen Volksgruppenrechten versehen, ohne
Jahre 1990 nicht eine Mark abgeflossen. Für die Diskriminierung leben können. Dies wird auch ver-
50 Millionen DM im Haushalt 1991 liegen bis jetzt traglich mit unseren östlichen Nachbarn festzuschrei-
lediglich 74 Anträge vor. Wenn Programme nicht grei- ben sein.
fen, müssen sie geändert werden. Die zuständigen Außerdem müssen wir die Hilfe in den Aussied-
Stellen in den neuen Ländern ersticken bereits in An- lungsgebieten beträchtlich verstärken. Mit Paketen,
trägen zur Regelung offener Vermögensfragen, ohne medizinischer Hilfe und deutschen Schulbüchern —
daß — abgesehen von der Eingangsbestätigung — so notwendig das alles ist — darf es nicht getan sein.
greifbare Fortschritte vorliegen. Es gibt weitere be- Wir halten es für erforderlich, daß den Deutschen in
drückende Beispiele. Schlesien, im Banat, in Kasachstan eine echte Per-
Es ist wahrlich an der Zeit, daß unsere Anstrengun- spektive zum Bleiben geboten wird. Unsere Hilfe muß
gen massiv verstärkt und die Verwaltungen in den sich deshalb auch auf den Aufbau landwirtschaftli-
neuen Ländern auch von unten in ihrer Alltagsarbeit cher, handwerklicher, gewerblicher Existenzen er-
eingewiesen und unterstützt werden. strecken.
(Beifall bei der CDU/CSU) Ich könnte mir vorstellen, daß eine vom Bund geför-
derte Entwicklungsagentur neben den Landsmann-
Meine Damen und Herren, ein Anliegen von außer- schaften und den karitativen Organisationen diese
ordentlicher Bedeutung ist die Bekämpfung der orga- Hilfeleistungen vor Ort in die Tat umsetzen könnte.
nisierten Kriminalität. Wir sehen sehr ernst und ein- (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord
dringlich unsere Pflicht, die letzten Schlupflöcher für
neten der FDP)
illegale Exporte und militärischen Mißbrauch von In-
dustriegütern zu stopfen. Wir haben in den vergange- Darüber hinaus halte ich es für notwendig, daß wir
nen zwei Jahren das Außenwirtschaftsrecht mit fünf in den nächsten Jahren die deutsche Kultur aus den
Novellen und 26 Verordnungen verschärft. Gebieten jenseits von Oder und Neisse nicht nur in
Museen, Hochschulen oder in ostdeutschen Heimat-
Ich möchte hier auf einen inneren Zusammenhang stuben im Bundesgebiet fördern, sondern auch aktiv
mit der Bekämpfung auch der internationalen Ban- zur Bewahrung deutscher Kulturgüter in Osteuropa
denkriminalität, der Rauschgift- und Wirtschaftsver- beitragen. Zum Beispiel sollten wir Initiativen zum
brechen hinweisen. Der Gesetzentwurf zur Bekämp- Wiederaufbau des Domes in Königsberg fördern oder
fung der organisierten Kriminalität liegt auf dem im schlesischen Kreisau eine würdige Gedenkstätte
Tisch. Er ändert u. a. das Strafgesetzbuch bei der Ein- zur Erinnerung an die Widerstandskämpfer schaf-
führung der Vermögensstrafe, bei der Erweiterung fen.
des Verfalls von Vermögensgegenständen und bei der
Beschlagnahme von Gegenständen, die dem Verfall (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord
unterliegen. neten der FDP)
Meine Damen und Herren, der Prozeß der deut-
Eine Beteiligung des Verfassungsschutzes an der
schen Einheit wurde weltweit nicht zuletzt deshalb
Aufklärung illegaler Exporte ist verfassungsrechtlich
mit Sympathie begleitet, weil die beiden Rundfunkan-
höchst brisant. Wenn wir aber einen effektiven
stalten des Bundes, nämlich die Deutsche Welle und
Rechtsschutz wollen, ist eine mit besonderen Kontrol-
der Deutschlandfunk, mit ihrer Arbeit dazu beigetra-
len versehene Beteiligung des Verfassungsschutzes
gen haben. Wir danken ihnen dafür. Die Deutsche
nicht nur zweckmäßig, sondern auch erforderlich.
Welle als deutsche Stimme in der Welt sollte noch lei-
(Beifall bei der CDU/CSU) stungsfähiger werden, könnte mit echten -Fernsehka-
pazitäten ausgestattet werden. Der Deutschlandfunk
Dann aber spielen auch die Regelungen des Gesetz-
sollte in einer zweckmäßigen Organisationsform fort-
entwurfs zur Bekämpfung der organisierten Krimina-
bestehen. Die Bundesregierung sollte die Novelle
lität über den Einsatz verdeckter Ermittler oder aku-
zum Bundesrundfunkgesetz so bald wie möglich vor-
stischer und optischer Überwachungsgeräte eine legen.
maßgebliche Rolle. Wir sollten diese Thematik im Zu-
sammenhang beraten. Wir müssen sie mit aller Nüch- Meine Damen und Herren, die Aufgaben im Be-
ternheit, mit Augenmaß und mit großer Sorgfalt erör- reich der Innen- und Rechtspolitik sind gewaltig. Wir
tern. werden sie Schritt für Schritt angehen und meistern.
Wir sind glücklich, daß unser Partner im Innenmini-
Es ist nicht sinnvoll, das Außenwirtschaftsrecht sterium wieder Wolfgang Schäuble ist.
ganz gesondert zu behandeln.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
(Hinsken [CDU/CSU]: Sehr richtig!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Herr Kollege Penner, es genügt nicht, anklagend die
furchtbaren Verbrechen zu bejammern. Wir hier sind
gefordert, wirksame Instrumente zur Bekämpfung be- Präsidentin Dr. Süssmuth: Das Wort zu einer Kurz-
reitzustellen. Sie sind dazu offensichtlich nicht be- intervention hat der Kollege Gerster.
reit.
Meine Damen und Herren, in den letzten drei Jah- Gerster (Mainz) (CDU/CSU): Frau Präsidentin!
ren sind gut 1 Million Aussiedler aus Ost- und Süd- Meine Damen, meine Herren! In der Anfangspassage
osteuropa zu uns gekommen. Wir treten nachdrück- der Ausführungen des Kollegen Laufs ging es um das
lich dafür ein, daß diese Deutschen in ihrer ange- Demonstrationsrecht. Ich glaube, daß möglicher-
stammten Heimat als Minderheiten geschützt und, weise etwas Mißverständliches hängengeblieben ist,
Deutscher Bundestag — 12. Wahlpe ri ode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991 239
Gerster (Mainz)
was der Kollege Laufs so aber mit Sicherheit nicht oder werden sie bestimmt von Partnerschaft, von dem,
gemeint hat. was einst „Zusammenwachsen" genannt wurde? Si-
(Zurufe von der SPD) cherlich hat der Prozeß der Vereinigung, der dann
zum Anschluß wurde, schon vieles in der ersten Rich-
— Ich kenne den Kollegen Laufs mit Sicherheit besser tung bestimmt. Dennoch meine ich, daß der Prozeß
als Sie. Er ist nicht nur Mitglied meiner Fraktion, son- umkehrbar ist. Lassen Sie mich dies an einer Frage
dern auch meiner Arbeitsgruppe. Ich weiß, daß er im deutlich machen, nämlich an der Frage der „Abwick-
Hinblick auf Grundrechte und Menschenrechte kei- lung" im öffentlichen Dienst. Art. 13 des zweiten
nerlei Belehrung bedarf. Staatsvertrages und die entsprechenden Bestimmun-
Meine Damen, meine Herren, selbstverständlich gen in der Anlage I sehen vor, daß in allen Einrichtun-
akzeptieren wir alle in vollem Umfang das Demon- gen der DDR, die nicht von Bund oder Land übernom-
strationsrecht. Wir sind stolz auf die friedlichen De- men werden, die Mitarbeiter in den Wartestand und
monstrationen, die im letzten Jahr in der DDR zur dann, wenn sie nicht übernommen werden, in die
Demokratisierung und auch zum Fall der Mauer ge- Arbeitslosigkeit gehen. Das Arbeitsrecht findet keine
führt haben. Mehr noch: Wir als CDU/CSU haben auf Anwendung. Das betrifft Staatsapparat, Wissenschaft,
Grund zahlreicher Anlässe demonstriert, so z. B. we- Gesundheitswesen und Kultur gleichermaßen. Betrof-
gen Afghanistan, wegen Solidarno ść und wegen vie- fen sind unter vielen anderen die Hochschule für Kör-
ler anderer Anlässe. Ich habe am letzten Samstag in perkultur, die Theater der Kinder und Jugend in Leip-
Bonn an einer Demonstration pro Israel teilgenom- zig und Halle, ein sächsisches Institut für Pflanzen-
men. Es gibt viele Anlässe. Klar ist — das wurde vom schutz und auch das Regierungskrankenhaus. Zum
Kollegen Laufs auch deutlich gemacht — , daß das Teil werden nur Teile von Einrichtungen abgewickelt.
Demonstrationsrecht aber auch sehr leicht mißbraucht Dabei werden sie — wie etwa Fakultäten der Univer-
wird. Es wird z. B. mißbraucht, wenn der saarländi- sitäten — in Wirklichkeit gar nicht aufgelöst. Der
sche Ministerpräsident seine Beamten mehr oder we- Lehrbetrieb geht weiter. Es findet eine sofortige Neu-
niger deutlich auffordert, sich an einer Demonstration gründung statt. Nur: Die Wissenschaftler sind ihrer
auf den Straßen zu beteiligen. Arbeitsrechte beraubt. Es geht um Sozial-, Geistes-
(Widerspruch bei der SPD — Dr. Ullmann und Naturwissenschaftler, Künstler und Mediziner; es
[Bündnis 90/GRÜNE]: Das gehört nicht zur geht um über 100 000 Intellektuelle.
Sache!) Diesen groben Maßnahmen folgt dann die Feinar-
Es wird leider Gottes auch mißbraucht, wenn z. B. beit mit Fragebögen bei der Wiederbewerbung. Sie
kleine Kinder, die die Tragweite einer Demonstration erstreckt sich auf die Hunderttausende von Angehöri-
nicht überblicken können, bewußt in einer Demon- gen des öffentlichen Dienstes.
stration eingesetzt werden.
Wir bestreiten nicht die Notwendigkeit der Bestra-
(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord fung vergangenen Unrechts. Hier geht es aber um
neten der FDP) etwas anderes. Nachträglich sollen 2,3 Millionen Mit-
Ferner wird es mißbraucht, wenn diejenigen Men- glieder und Funktionäre der SED, 500 000 Mitglieder
schen, die nach dem Gasangriff Saddam Husseins und Funktionäre der anderen Blockparteien und wei-
gegen die Kurden im eigenen Land und nach dem tere Millionen Mitglieder und Funktionäre von Mas-
Überfall auf Kuwait geschwiegen haben, nun plötz- senorganisationen an einer für sie überhaupt nicht
lich die Alliierten, die die UNO-Beschlüsse durchset- geltenden Verfassung gemessen werden. Für sie sol-
zen wollen, einseitig an den Pranger stellen. Gegen len die Maßstäbe des Berufsverbots angewandt wer-
-
den. Jedem von ihnen muß aber nach dem Scheitern
diesen Mißbrauch des Demonstrationsrechts hat sich
der Kollege Laufs aus gutem Grund gewandt. Natür- des DDR-Sozialismus das Recht eingeräumt werden,
lich will die CDU/CSU-Fraktion nicht nur das Recht aus diesem Vorgang für viele sehr schmerzhafte
auf Demonstrationsfreiheit verteidigen, sondern sie Schlußfolgerungen zu ziehen. Die heutige Beurtei-
will es selbst auch in Anspruch nehmen, um in der lung muß an heutiges Verhalten anknüpfen.
Öffentlichkeit auch für die eigenen politischen Mei- Die Praxis in der ehemaligen DDR verstößt nach
nungen einzutreten. meiner Ansicht gegen mehrere Gebote des Grundge-
Ich bedanke mich. setzes. Sie verstößt aber auch gegen die Gebote poli-
(Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Penner tischer Vernunft. Eine wirkliche Vereinigung leidet
[SPD]: Ich sage: Mainz bleibt Mainz!) Schaden, wenn das intellektuelle Potential dort in ho-
hem Maße aus ideologischen Gründen, aber auch aus
einfachen Gründen der Konkurrenz — ein Institut für
Präsidentin Dr. Süssmuth: Das Wort hat nun der Pflanzenschutz und ein Institut für chemische Techno-
Abgeordnete Herr Heuer. logie genügen — ausgeschaltet wird.
Meine Damen und Herren, gestern hörte ich, daß
Dr. Heuer (PDS/Linke Liste): Frau Präsidentin! sich Björn Engholm geweigert hat, Herrn Ortleb als
Meine Damen und Herren! Die Hauptfrage für die Minister für Bildung und Wissenschaft zu akzeptieren,
Gestaltung der Beziehungen zwischen den beiden weil er dem DDR-System angehört habe.
Teilen Deutschlands ist heute: Stehen sie unter dem Ich hoffe — damit möchte ich schließen — , daß es
Gesetz des Verhältnisses von Siegern und Besiegten uns gemeinsam gelingen wird, mit dem Erbe des Kal-
im innerdeutschen kalten Bürgerkrieg, ten Krieges, mit einem Demokratieverständnis, das im
(Marschewski [CDU/CSU]: So ein eigenen Wertesystem dem politischen Gegner keinen
Quatsch!) Platz auf der gemeinsamen Grundlage der Verfassung
240 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991

Dr. Heuer
zubilligt, und mit der von Bundespräsident von Weiz- mündigkeit gestoßen. Sie wird darin bestärkt, daß
säcker am 3. Oktober kritisierten Einteilung Ost- und man in Krisenzeiten sein Glück im Privaten suchen
Westdeutscher in mißlungene und gelungene Exi- kann. Das aber genau hat das Unrecht erst über Jahr-
stenzen oder gar in Böse und Gute zu brechen. zehnte gestattet. Wir müssen fragen: Warum hat es so
Ich danke Ihnen. wenig Widerstand gegen die SED-Herrschaft gege-
ben, und wie kann die Bevölkerung der ehemaligen
(Beifall bei der PDS/Linke Liste) DDR wirklich Konsequenzen für ihr jetziges Leben
aus diesen Verstrickungen ziehen?
Präsidentin Dr. Süssmuth: Das Wort hat die Abge-
Bei der Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit
ordnete Frau Köppe.
müssen vor allem drei Probleme im Zusammenhang
gelöst werden. Es sind erstens Regelungen zum Um-
Frau Köppe (Bündnis 90/GRÜNE): Frau Präsiden- gang mit den Stasi-Akten, zweitens Regelungen zur
tin! Meine Damen und Herren! Zu den innenpoliti- Rehabilitierung und drittens Regelungen zur Strafver-
schen Vorhaben gehört u. a. der Umgang mit Un- folgung zu treffen.
rechtshandlungen in der ehemaligen DDR. Hier ist an
erster Stelle die Aufarbeitung der Praxis und Organi- Eine Regelung im Umgang mit den Stasi-Akten
sation der Staatssicherheit zu nennen. Wir, die Abge- muß differenziert, auf die unterschiedlichen Aktenka-
ordneten vom Bündnis 90 und von den GRÜNEN, tegorien bezogen sein. Dabei sind das informationelle
nehmen gern das in der Koalitionsvereinbarung for- Selbstbestimmungsrecht sicherzustellen und ein Ak-
mulierte Angebot an, in Gesprächen mit uns und der teneinsichtsrecht für die Betroffenen zu garantieren.
SPD eine Konzeption für den Umgang mit den Stasi
Die Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer
Akten zu entwickeln. Eine schriftliche Einladung zu
der SED-Herrschaft ist ein beschämendes Kapitel.
solchen Gesprächen ist uns aber bis heute nicht zuge-
Wie will man den Stasi-Opfern verständlich machen,
gangen.
daß sie bis heute auf eine Rehabilitierung und Ent-
Wenn wir allerdings die Ausgangslage dafür be- schädigung warten müssen? Nachdem man im Eini-
trachten, macht sich Bitterkeit breit. Die Forderungen gungsvertrag alle Vorstellungen des Rehabilitie-
der Bürger- und Bürgerinnenbewegung und des zen- rungsgesetzes der DDR gekippt hat, will der Herr
tralen Runden Tisches sind zum größten Teil bis heute Bundeskanzler die Opfer - ich zitiere — „neben den
nicht erfüllt worden. Die Stasi konnte sich weitgehend bestehenden Entschädigungsregelungen soweit mög-
geordnet selbst auflösen. Übriggeblieben ist ein Klima lich berücksichtigen". Bisher gibt es noch nichts außer
der Verdächtigungen. Gelegentlich machen neu auf- den spärlichen Zuwendungen nach dem Häftlingshil-
gedeckte Skandale aus der Ära der Staatssicherheit fegesetz, für jeden Haftmonat 80 DM. Für wochen-
Schlagzeilen in der Tagespresse. Weitestgehend ver- lange Verhöre, Wohnungsdurchsuchungen und be-
schlossen sind die Archive, nicht nur für die For- rufliche Benachteiligungen gibt es nicht einmal eine
schung, sondern auch für die Betroffenen. Entschuldigung. Wenn in der Regierungserklärung
Die notwendige Aufarbeitung der Verflechtung und hierauf nur einige wenige Worte verwandt werden,
Verbrechen der Stasi und anderer Stellen wurde eher um sich ansonsten den Vermögensfragen zuwenden
behindert als gefördert, und dies nicht nur durch den zu können, dann zeigt das, welche unselige Priorität
ehemaligen Innenminister Diestel. An der Verschlep- hier gesetzt wird.
pung der Aufarbeitung haben auch westdeutsche
Stellen entscheidenden Anteil. So hält z. B. die Bun- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und
- der
desregierung, statt öffentliche Aufklärung über ihre PDS/Linke Liste)
Geschäfte mit Herrn Schalck-Golodkowski zu betrei-
Wir sind der Auffassung, es muß auch strafrechtli-
ben, offenbar mittels Bundesnachrichtendienst ihre
schützenden Hände über ihn. Das ist skandalös. che Konsequenzen geben. Verhindert werden muß
aber, daß durch Herausgreifen einiger Schuldiger die
(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, der SPD Gesellschaft aus der Verantwortung entlassen wird.
und der PDS/Linke Liste) Wenn wir vom Umgang mit der Stasi-Vergangenheit
Wir wollen keine Vergangenheitsüberwältigung, sprechen, geht es zudem um berufliche Konsequen-
wie sie vor 40 Jahren beiderseits der Elbe halb staat- zen. Wir wollen nicht, daß ehemalige Mitarbeiter der
lich verordnet, halb dankbar entgegengenommen Stasi neue Gewalt über Schulkinder und Erwachsene
wurde. Wir wissen zu genau, es gab nicht nur einige bekommen.
wenige Täter und im übrigen nur Opfer. Es gab eine
große Verstrickung der gesamten Gesellschaft in das (Beifall im ganzen Hause)
Unrecht. Genau dies aufzuarbeiten, müssen wir der
ostdeutschen und der westdeutschen Gesellschaft er- Wir wollen auch nicht, daß ehemalige höhere Kader
lauben und zumuten, statt ihr per Staatsakt Unwissen- der SED sowie haupt- und nebenamtliche Mitarbeiter
heit, Schweigen und Verdrängung aufzuerlegen. der Stasi heute umstandslos staatliche Posten einneh-
men oder behalten können.
Ich habe mir die Regierungserklärung zu diesem
Bereich sehr genau angesehen. Abgesehen von den (Beifall heim Bündnis 90/GRÜNE, bei der
vielen nebulösen Formulierungen sieht die Art und CDU/CSU, der SPD und der FDP)
Weise der Bewältigung wie folgt aus: Es sollen einige
Hauptschuldige ausfindig gemacht und dem Straf- In diesem Zusammenhang ist auch für uns, für die
recht und anderen Sanktionssystemen überantwortet Bundestagsabgeordneten ein Beschluß wichtig, wo
werden. Die Bevölkerung wird in den Status der Un- nach alle Mitglieder des Bundestages auf eine Zu-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlpe ri ode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991 241

Frau Köppe
sammenarbeit mit der ehemaligen Staatssicherheit Aus dieser Grunderfahrung und aus der Erinnerung
überprüft werden. — das werden Sie verstehen —, daß ich früher als
(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei DDR-Bürger immer mit großem Neid auf die Bundes-
Abgeordneten der SPD) republik geschaut und das Recht auf Demonstration
als eines der wichtigsten Rechte angesehen habe,
Wir brauchen insgesamt sehr genaue Kriterien für
den Anteil an Mitschuld und — umgekehrt — Krite- (Beifall bei der SPD, beim Bündnis 90/
rien für berufliche Positionen, wann man also dafür GRÜNE und bei der CDU/CSU sowie bei
geeignet oder ungeeignet ist. Damit dies wie bei den Abgeordneten der FDP)
Sicherheitsüberprüfungen in der Bundesrepublik verstehe ich nicht, warum im Zusammenhang mit De-
nicht willkürlich und ohne gesetzliche Grundlage ge- monstrationen immer von „Straße" geredet wird. Man
schieht, sollte dazu ein geeignetes Gesetz entworfen kann ja die Meinung derer kritisieren, die auf die
werden. Straße gehen. Dagegen habe ich nichts. Aber warum
Abschließend will ich über zwei innenpolitische sagt man „Straße" ? Ich werde niemals zulassen, daß
diejenigen, die mit mir in Berlin am 4. November, je-
Vorhaben der Bundesregierung sprechen.
nem wichtigsten Tag des Herbstes 1989, demonstriert
Erstens. Die Nachrichtendienste, deren Aufgaben haben — wir waren 500 000 bis 1 Million —, als
durch die Ost-West-Umwälzungen weitestgehend „Straße" bezeichnet werden. Das waren 500 000
entfallen sind und deren Abbau nicht erst seitdem Menschen!
politisch ansteht, sollen nun — im Gegenteil — ausge-
(Beifall im ganzen Hause)
baut werden. Der BND soll Drogengeschäfte aufspü-
ren. Der Verfassungsschutz sucht dringend eine neue
Legitimation, etwa durch Einsatz gegen Waffenhänd- Präsidentin Dr. Süssmuth: Herr Abgeordneter
ler. Diese Forderung nach Übernahme von Polizeiauf- Thierse, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abge-
gaben lehnen wir ab. ordneten Laufs?
(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, bei der
SPD und der PDS/Linke Liste) Dr. Laufs (CDU/CSU): Herr Kollege Thierse, sind
Meine zweite Anmerkung betrifft die geplanten Re- Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß wir alle, auch
gelungen gegen die sogenannte organisierte Krimi- ich persönlich, stolz sind, daß die Menschen in der
nalität. Nebenbei: Niemand weiß offenbar, was alles ehemaligen DDR gegen das totalitäre SED-Regime
darunter fällt. Ich befürchte hier eine überbreite An- friedlich aufgestanden sind, weil es dort die parlamen-
wendung der geplanten Vorschriften. Gerade im Be- tarische Demokratie nicht gab, und wollen Sie bitte
reich der Drogenbekämpfung kommen wir mit straf- erkennen, daß im demokratischen Rechtsstaat die
rechtlichen Regelungen nicht viel weiter, wie uns Durchsetzung eines politischen Willens im parlamen-
viele Länder lehren. Wenn Innenpolitik nicht vor al- tarischen Verfahren zu erfolgen hat?
lem innere Sicherheit sein soll, sondern sich der ge- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU —
sellschaftlichen Entwicklung verpflichtet sieht, muß Zurufe von der SPD und vom Bündnis 90/
sie gesellschaftliche Ursachen z. B. für den Drogenge- GRÜNE)
brauch ins Auge fassen. Zugriffsrechte des Staates
wie die Rasterfahndung und der Einsatz von verdeck- Thierse (SPD): Herr Laufs, ich will gerne zugeben,
ten Ermittlern sind einer demokratischen Gesellschaft daß ich noch nicht so lange bürgerlicher Demokrat bin
unwürdig. wie Sie, sondern halt ein schlichter DDR-Bürger. Aber
Ich danke Ihnen. ich habe immer gedacht, daß zu den großen Werten
(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei der Demokratie gehört, daß die Bürger — sie sind ja
der PDS/Linke Liste sowie des Abg. Kleinert nicht alle im Parlament — das unmittelbare Recht ha-
[Hannover] [FDP]) ben sollten, ihre Meinung zu äußern.
(Beifall im ganzen Hause — Dr. Laufs [CDU/
CSU]: Das wird überhaupt nicht bestritten,
Präsidentin Dr. Süssmuth: Das Wort hat der Abge- wird von mir nicht bestritten!)
ordnete Herr Thierse. Herr Gerster hat es etwas schärfer gesagt. Er nennt
— und das finde ich eher schlimm — die Artikulation
einer von seiner Meinung abweichenden Meinung
Thierse (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Mißbrauch. Das, finde ich, ist schlimm.
Herren! Ich trete hier gewissermaßen als ein retardie-
(Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei
rendes Moment auf, weil ich vorhabe, aus der Sicht
Abgeordneten des Bündnisses 90/GRÜNE)
eines ehemaligen DDR-Bürgers, eines Bürgers aus
den neuen Ländern etwas allgemeiner und grundsätz- Meine Damen und Herren, seit dem 3. Oktober
licher über die Probleme des gesellschaftlichen Zu- 1990, dem Tag der Herstellung der deutschen Einheit,
sammenwachsens in Deutschland zu reden. sind erst knapp vier Monate vergangen. Aber mir
kommt es so vor, als sei dieses geschichtliche Datum
Vorweg zu Herrn Laufs die doch notwendige Be- viel weiter entfernt. Viele Hoffnungen und viele Wün-
merkung, daß auch ich hier nicht stehen würde, wenn sche hat es gegeben. Viele Hoffnungen und viele
es die Demokratie der Straße nicht gegeben hätte. Wünsche sind enttäuscht und guter Wille ist miß-
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ braucht worden. Ich rede noch nicht von der nieder-
GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/ drückenden Fülle der Probleme. Ich rede zunächst
Linke Liste) von bürokratischen Lösungen, von der Sprache der
242 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991

Thierse
Technokraten und Lehrmeister und der Effizienz der Richtig wäre gewesen, den Menschen klar zu sa-
Wahlkampfstrategen. Mich bewegt dabei nicht Neid gen, daß die Bundesrepublik jetzt ein neuer Staat mit
auf wohlfeile Zwischenergebnisse, sondern Trauer: neuen, bisher ungewohnten Aufgaben ist. Ein solcher
Trauer um die spirituelle Substanz der Politik, wie das Appell an die Solidarität der mündigen Bürger in Ost
Max Frisch einmal genannt hat. Damit hat er nicht und West wäre mit Sicherheit verstanden worden.
billiges Pathos gemeint. Er hat gesagt, wenn diese
Substanz fehle, bleibt „Politik als Fortsetzung des Ge- (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/
schäfts mit anderen Mitteln: ein gewisser Wohlstand GRÜNE)
für die meisten als Köder zum Verzicht auf Selbstbe- Statt dessen stehen wir vor der absurden und beschä-
stimmung, die Verkümmerung unserer Humanität in menden Situation, daß der Finanzminister und der
Komforthörigkeit" . Kanzler sagen, es werde auf keinen Fall Steuererhö-
Ich rede von Zeichen verweigerter Solidarität, von hungen für die Einheit, also für die Bewältigung exi-
Engherzigkeit und Kleinkariertheit. Ich rede zum Bei- stentieller Probleme eines guten Drittels der Men-
spiel vom erfolgreichen Erpressungsversuch der west- schen in unserem Lande geben, aber für die Finanzie-
deutschen Pharmaindustrie, von der Verweigerung rung des Krieges am Golf sind Steuererhöhungen
eines Solidaritätsbeitrags, etwa durch den Deutschen vorgesehen. Was glauben Sie, wie die Menschen im
Beamtenbund, der natürlich und naheliegenderweise östlichen Teil Deutschlands darauf reagieren werden?
jedes „einseitige Sonderopfer", wie es dann heißt, Darf ich Ihnen sagen, daß mich persönlich dieser Vor-
ablehnt. Ich rede vom Verteilungskonflikt zwischen gang entsetzt?
den alten und den neuen Bundesländern und — ja —
auch vom Regierungsprogramm. Ich sehe im Westen (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/
nicht sehr viel Bereitschaft zu wirksamem Verzicht. GRÜNE)
Aber ich weiß doch: Solidarität ist nicht nur ein Seit über einem Jahr lehnt die Bundesregierung Steu-
pathetisches Gefühl, sondern etwas handfest Bitteres. ererhöhungen für die Aufgaben der deutschen Eini-
Muß man sie aber deshalb wie ein Finanzbuchhalter gung ab, und jetzt, ganz schnell, so schnell, als hätte
lesen, als eine Zahl mit irgendwelchen Nullen, und, man nur auf eine Gelegenheit gewartet, sollen Steu-
wenn man solidarisch und zugleich clever ist, mit eher ererhöhungen möglich und notwendig sein. Für das
weniger Nullen? friedliche Werk der deutschen Einheit waren sie ein
Robert Leicht schrieb in der „Zeit", es sei beklem- Tabu, für einen Krieg dagegen ist man sofort dazu
mend zu sehen, wie wenig sich die Bonner Routine entschlossen.
durch den Vorgang der Einigung verändert habe. Die
Prioritätenliste habe sich in nichts verschoben und sei (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/
folglich falsch, ja politisch pervers geworden. Keiner GRÜNE — Zurufe von der CDU/CSU)
frage, so Leicht, was in den fünf neuen Ländern zu- Im Osten Deutschlands sind die Folgen des letzten
nächst geschehen müsse, und was danach für unsere furchtbaren Krieges noch nicht überwunden bzw. ist
hergebrachten Pläne übrigbleibe. Statt dessen heiße deren Überwindung noch zu finanzieren. Da sollen
es: erst wir im Westen, dann die im Osten. wir der Finanzierung eines Krieges nebenan zuju-
(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ beln!
GRÜNE)
(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/
Ich rede von der Debatte über die sogenannten Ko- GRÜNE — Zuruf von der CDU/CSU: Für den
sten der Einheit. Bei dieser Debatte tragen die CDU/ -
Frieden! — Zurufe von der FDP)
CSU und die FDP keineswegs allein die Verantwor-
tung für Mißklänge. „Wir sind schnell dabei, Steuern zu erhöhen, um den
Krieg finanzieren zu können. Wir finanzieren den
(Beifall bei der CDU/CSU) Tod, anstatt daß wir das Leben fördern."
Aber für das Ergebnis, das wir heute sehen, tragen Sie
(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/
die Verantwortung allein. Am Anfang stand die Unfä-
GRÜNE — Zuruf von der CDU/CSU: Wir fi
higkeit und die Weigerung, den Bürgerinnen und Bür-
nanzieren die Freiheit der Welt!)
gern noch vor ihrer Wahlentscheidung mitzuteilen,
was auf uns alle zukommt. Das war ein Zitat. Mit diesen Worten kritisierte im
(Dr. Graf Lambsdorff [FDP]: Nein, das stimmt Frankfurter Kaiserdom in der vergangenen Woche der
nicht!) Bischof von Limburg, Franz Kamphaus, die Ankündi-
gung der Bundesregierung. Ich kann ihm nur aus
Dabei ist der Eindruck entstanden, als ob diese Ko- vollem Herzen zustimmen.
sten niemand tragen wolle.
(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/
(Dr. Graf Lambsdorff [FDP]: Das stimmt auch GRÜNE)
nicht!)
Der Eindruck ist hoffentlich falsch. Trotzdem mündete Es ist eine bittere, sehr bittere Konsequenz der deut-
er in die Versicherung, erstens, mit der Einheit werde schen Einheit, die erst durch eine friedliche Revolu-
es niemandem schlechter gehen, und zweitens, es tion möglich wurde, daß wir, die friedlich Hinzuge-
gebe keinen Bedarf für Steuererhöhungen. kommenen, an einem Krieg beteiligt werden.

(Dr. Graf Lambsdorff [FDP]: Das ist nicht (Geis [CDU/CSU]: Das ist doch nicht betei
wahr!) ligt, übertreiben Sie doch nicht!)
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991 243

Thierse
— Ich bleibe dabei. Ich halte das für eine Art von Dazu gehört, daß wir die Tatsache nicht verdrän-
Beteiligung. gen, daß die willkommene staatliche Einheit mit einer
sich verschärfenden ökonomischen und sozialen
(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ Spaltung Deutschlands verbunden ist.
GRÜNE)
(Geis [CDU/CSU]: Die wir überwinden wol
Ich bleibe dabei: Gerade jetzt, wo der Krieg ein unent- len, die wir aber nicht durch solches Gerede
rinnbares Faktum ist, dürfen wir uns nicht der notwen- überwinden!)
digerweise alternativlosen Unlogik des Krieges unter-
werfen. Die deutsche Geschichte und erst recht die Diese bestimmt die Alltagserfahrung im Osten
Erfolgsgeschichte der Entspannungspolitik und des Deutschlands, und davon will ich reden.
Herbstes 1989 verpflichten nicht zum Mitmachen, (Geis [CDU/CSU]: Durch solche Reden kön
sondern zu entschlossener Friedfertigkeit. nen wir diese Spaltung nicht überwinden! —
(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ Gegenrufe von der SPD)
GRÜNE) — Entschuldigen Sie, ich reagiere so scharf, weil so-
Das bedeutet nicht Drückebergerei. Das bedeutet wohl in der Regierungserklärung von Helmut Kohl als
nicht, sich herauszuhalten, sondern meint die Ver- auch in der Koalitionsvereinbarung wie in den Reden
pflichtung zu deutschen Beiträgen zur politischen der CDU/CSU-Vertreter nicht vom Ernst dieser Lage
Konfliktlösung, zu immer neuen Versuchen zur Dees- die Rede war, sondern nur in beschönigenden, ver-
kalation des Konflikts, nicht zur Teilnahme an militä- harmlosenden Worten — —
rischer Eskalation. (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/
(Beifall bei der SPD) GRÜNE — Geis [CDU/CSU]: Dann haben
Sie nicht zugehört! Sie verdrehen die Tatsa
Diese meine Haltung schließt folglich ein entschie- chen, Sie machen hier billige Polemik! —
denes Ja zur Unterstützung der Verteidigungsfähig- Duve [SPD]: Haben Sie das gestern bei Bie-
keit Israels ein. Gerade deshalb, weil ich sehr gut ver- denkopf auch gerufen?)
stehe, daß die Israelis nie mehr Opfer sein wollen,
bitte ich um Verständnis dafür, daß Deutsche — viel- — Ich kann das ganz kurz machen und an das an-
leicht nicht alle — nie mehr Täter sein wollen. Ich schließen, was Herr Biedenkopf und Herr Kühbacher
jedenfalls setze Regierungsfähigkeit, Politikfähigkeit, gestern gesagt haben, auf unterschiedliche, aber sehr
Handlungsfähigkeit nicht mit Bereitschaft zum Kriege beredte Weise. Daß ich etwas schärfer rede, werden
gleich. Sie mir vielleicht abnehmen. Das ist keine Polemik
gegen Biedenkopf und Kühbacher, sondern Respekt.
(Beifall bei der SPD und des Abg. Dr. Ull Ich bin ein gelernter DDR-Bürger, ich lebe 40 Jahre
mann [Bündnis 90/GRÜNE]) da, und ich weiß, was ich hierher mitbringe. Ich sehe
Meine Damen und Herren, ich darf noch einmal es als meine Pflicht an, Ihnen auch zu zeigen, wie
Robert Leicht zitieren, wörtlich: „Bonn stellt der vor- schlimm das ist, was wir mitbringen.
maligen DDR den Rechts- und Ordnungsrahmen hin. (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/
Jetzt sollen sich ihre Bürger gefälligst damit zurecht- GRÜNE)
finden, und Geld gibt es gerade so viel, daß es uns
nicht richtig juckt und dort nicht richtig zu Aufständen Nach den gestrigen Reden reicht es, die Stichworte
führt" — eine, wie ich finde, sarkastische, aber zutref- zu nennen und hinzuweisen auf den Zusammenbruch
-
der Wirtschaft in Ost-Deutschland, auf die rasant zu-
fende Beschreibung des Geistes, der Koalitionsverein-
barung und Regierungserklärung bestimmt. nehmende Arbeitslosigkeit, auf die existentiellen
Finanzprobleme der Länder und Gemeinden und auf
(Beifall bei der SPD und des Abg. Dr. Ull die Tatsache, daß durch Beschlüsse der Bundesregie-
mann [Bündnis 90/GRÜNE]) rungen die Lebenshaltungskosten im Osten erheblich
schneller steigen werden als Löhne und Gehälter.
Geschichtlicher Atem jedenfalls durchweht sie nicht
mehr, nur noch ein bedrückendes, dumpfes Bonner Den Subventionsabbau will ich nennen, um wenig-
Lüftchen ist zu verspüren. stens an einem Beispiel deutlich zu machen, was die
Menschen unmittelbar berührt. Der Subventionsab
(Geis [CDU/CSU]: Ziemlich viel Polemik,
bau betrifft insbesondere die Bereiche Energie, Woh-
was Sie jetzt bringen!)
nungswesen, Verkehr und Wasserwirtschaft. Für den
Die Chance eines deutschen Neuanfangs in Solida- Bürger kommt es dabei zu erheblichen Preissteige-
rität wird vertan durch erschreckende Konzeptionslo- rungen. Zum Beispiel kommt es zu einer Verdreifa-
sigkeit, durch Kleinlichkeit, durch unverantwortliche chung bei elektrischer Haushaltsenergie, zu einer
Verharmlosung. Dabei kann die Situation in der ehe- Verdreifachung bis Vervierfachung bei Heizgas, zu
maligen DDR, in den neuen Ländern, nicht drama- einer Vervierfachung der Mietpreise und zu fünfzig-
tisch genug geschildert werden. Es geht allerdings prozentigen Steigerungen der Preise im Personenver-
nicht mehr um die Schuldfrage. Wir sind uns einig, kehr.
daß es das SED-Regime war, das uns dieses schwere
(Geis [CDU/CSU]: Sie vergessen das Wohn
Erbe hinterlassen hat. Aber das Abtragen dieses Er-
geld! — Lachen und Gegenrufe bei der
bes, die Lösung der Aufgaben liegt jetzt in unserer
SPD)
gemeinsamen Verantwortung, und dies muß damit
beginnen, daß wir den dramatischen Ernst der Lage — Das Wohngeld reicht nicht aus, dieses auszuglei-
wahrzunehmen bereit sind. chen.
244 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991

Thierse
Es kommt zu erheblichen Verteuerungen im Nah- Sanierung. Wo Privatisierung der Sanierung dient, ist
verkehr. Ich könnte Ihnen das — ich habe jetzt nicht es gut; aber das ist wahrhaftig nicht immer der Fall.
genug Zeit — zuschicken. Ich habe hier Modellrech- (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/
nungen, was das für ein Rentnerehepaar bedeutet,
GRÜNE)
was das für einen Durchschnittsverdiener, für eine
normale Familie bedeutet. Sie werden in diesem Jahr Ich stimme allen Vorschlägen zu — ich hoffe, sie
erhebliche Einbußen in ihren Lebensmöglichkeiten werden verwirklicht — , die Hilfen zur Ingangsetzung
erleiden. einer demokratischen Verwaltung bei uns verwirkli-
chen können. Ich fordere entschiedene finanzielle
(Zuruf von der CDU/CSU: Der Lebensstan Maßnahmen zur Lebensfähigkeit der Länder und
dard sinkt doch nicht! Das ist doch nicht Kommunen. Das ist bisher nicht ausreichend.
wahr!)
(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/
Ich breche hier mit dem Katalog ab. GRÜNE)
Ich will nur auf die Wirkung verweisen: Die Ost- Ich will noch ein paar Sätze zum Bereich der politi-
West-Wanderung hält unvermindert an. Wir wissen schen Kultur sagen: Hier ist eine Hilfe anderer Art
nicht genau, wie viele Tausende wöchentlich, monat- durchaus gefordert. Einige Redner haben darauf hin-
lich die ehemalige DDR verlassen. Aber wir wissen, gewiesen. Ich kann nur sagen: Ihr Wort in Gottes Ohr.
daß die Zahl der amtlich festgestellten Wahlberech- Es geht hier um den Versuch, daß wir ehemaligen
tigten vom 18. März bis zum 2. Dezember 1990 um DDR-Bürger, die, wie Sie ja wissen, wenige ökonomi-
1,1 Millionen abgenommen hat. Ich glaube nicht, daß sche und soziale Gründe haben, uns als Gleichberech-
in den wenigen Monaten so viele gestorben und so tigte zu erfahren und zu empfinden, im Bereich der
wenige 18 Jahre alt geworden sind. politischen Kultur eine wirkliche Chance haben,
Gleichberechtigte in diesem gemeinsamen Deutsch-
(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ land zu sein. Dazu gehört für mich, daß wir nicht von
GRÜNE) unserer Vergangenheit enteignet werden. Ich emp-
Die Mehrheit aber ist geblieben. Diese Menschen finde die Attacken auf die Behörde von Jochen Gauck
wollen es noch immer versuchen. Sie harren aus in als einen solchen Versuch. Es geht darum, daß wir
miteinander mit ihrer Hilfe unsere eigene Vergangen-
Erwartung einer Chance, sich sinnvoll einzusetzen
und an dem versprochenen wirtschaftlichen und so- heit aufarbeiten können.
zialen Fortschritt mitzuarbeiten. Aber es fehlen bisher Es geht darum, daß wir in einer wirklichen Verf as-
ausreichende Perspektiven und Möglichkeiten. Die sungsdiskussion — nicht, was Sie zugestanden ha-
Zeit der Ankündigungen und des geschichtsbesesse- ben, Herr Laufs, oder was der Herr Bundeskanzler
nen Pathos muß vorbei sein. Es geht jetzt um deutliche zugestanden hat; ein paar kosmetische Änderungen
Zeichen der Ermutigung. Es bedarf konkreter Maß- hält er schon für möglich — die Chance haben, unsere
nahmen, es bedarf praktischer Solidarität. Wo immer negativen und positiven Erfahrungen von 40 Jahren
Regierung und Koalition solche Schritte gehen, wer- Diktatur und anderthalb Jahre demokratischem Auf-
den sie unsere Unterstützung erhalten. bruch einzubringen, zu artikulieren. Wenn man uns
sagt, es könne ein paar kleine kosmetische Änderun-
(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ gen geben, dann haben wir diese Chance nicht.
GRÜNE)
(Beifall bei der SPD, beim Bündnis 90/
Es geht darum — und das sage ich zustimmend, wenn GRÜNE und bei der PDS/Linke Liste -— Ger
denn den Worten Taten folgen sollen —, Arbeitsplätze ster [Mainz] [CDU/CSU]: Wo sind denn Ihre
zu sichern und so schnell wie möglich neue zu schaf- Vorschläge? Werden Sie mal konkret,
fen. bitte!)
(Zuruf von der CDU/CSU: Wir sind dabei!) — Wir haben Vorschläge gemacht.
Es geht darum, jetzt eine aktive Industrie- und Struk- (Zuruf von der CDU/CSU: Wir haben
turpolitik zu entwickeln zur Rettung — so dramatisch 40 Jahre gute Erfahrungen gemacht!)
muß man es nennen — des Industriestandorts östli- — Ich habe 40 Jahre negative Erfahrungen.
ches Deutschland.
(Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Wir ha
Ein solches Konzept, das ich bisher in der Koali- ben 40 Jahre positive Erfahrungen ge
tionsvereinbarung nicht erkenne, setzt voraus, daß macht!)
verläßliche Rahmenbedingungen, also die Entwick-
lung der Infrastruktur, die Klärung der Eigentumsver- — Ja. Ja, so ist es. So treten Sie uns auch gegen-
hältnisse, die Überwindung der Verwaltungsdefizite, über.
die Beseitigung der Umweltschäden, geschaffen und (Zurufe von der CDU/CSU)
Investitionsanreize gewährt werden, die die Defizite
der neuen Länder als Produktionsstandort spürbar Es geht um praktische Solidarität, es geht darum,
ausgleichen. die soziale und psychische Befindlichkeit unserer
neuen Mitbürger zu erkennen und anzuerkennen. Es
Ich erlaube mir hier eine Nebenbemerkung zur muß endlich durch Taten — nicht mehr nur durch Ver-
Treuhandanstalt: Ihre Aufgabe ist nach meinem Ver- sprechungen — der Teufelskreis durchbrochen wer-
ständnis — deswegen haben wir sie eingerichtet — den, in dem die Menschen im östlichen Deutschland
nicht nur Privatisierung, sondern auch und vor allem irrelaufen zwischen übergroßer Hoffnung und Enttäu-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991 245

Thierse
schung, zwischen entschlossenem Aktivismus und wurf der Kriegssteuer ist schwer mit politischer Kultur
lähmender Resignation. Es gibt notwendige Verluste. zu vereinbaren.
Die meisten von ihnen erleben wir mit Erleichterung. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Manche ertragen wir aus Einsicht mit zusammenge-
Die Anstrengungen, die wir gemeinsam unterneh-
bissenen Zähnen.
men, um die Verbündeten zu unterstützen, betrachte
Aber es gibt auch Verluste, die Trauer, Irritation ich als einen Beitrag, den Krieg im Golf so rasch wie
und Verzweiflung hervorrufen. Die DDR war neben möglich beendigen zu können, und infolgedessen als
allem, was in den Mülleimer der Geschichte gehört das Gegenteil von dem, was Sie gesagt haben.
— ich weiß davon genügend Beispiele — , auch ein Ich möchte Sie herzlich bitten, einmal mit uns dar-
Geflecht menschlicher Beziehungen, ein System von
über zu diskutieren, ob dieser ganzen etwas verwir-
Alltagsverhalten und Alltagsverhältnissen, in denen renden Diskussion nicht eine unterschiedliche Bewer-
wir uns zurechtgefunden und als Menschen unsere tung der Wertordnungen zugrunde liegt, von denen
— gewiß problematische — Identität gefunden ha- wir ausgehen.
ben.
(Zuruf von der SPD: Ja! Nur! Natürlich!)
Der jähe Wechsel der jetzt geforderten Umstel-
lungs- und Lernprozesse überfordert viele. Deshalb Ich habe den Eindruck, daß offenbar bei einigen auch
und angesichts der vorhin geschilderten sozialen und in unserem Land die Auffassung vorhanden ist, daß
ökonomischen Erfahrungen muß jetzt eine konkrete der Friede unter allen Umständen ein oberster Grund-
Perspektive für die wirtschaftliche, soziale, kulturelle wert sei.
Entwicklung im Osten Deutschlands eröffnet werden. (Beifall bei der PDS/Linke Liste und bei Ab
Wir verlangen eine Politik, die von dem Grundsatz geordneten der SPD)
getragen wird: erst die im Osten Deutschlands, dann Ich bin der Meinung, daß dies wohl nicht richtig sein
wir im Westen Deutschlands. Eine wirkliche ökonomi- kann; denn wenn dies richtig wäre, dann hätte ja wohl
sche und soziale Umverteilung ist notwendig. Kleiner Adolf Hitler,
geht es nicht, wenn die Einheit Deutschlands wirklich
hergestellt werden soll! (Zuruf von der SPD)
ohne Gegenwehr überhaupt finden zu dürfen, sein
(Beifall bei der SPD)
Unrechtsregime auf der ganzen Welt ausbreiten kön-
Egon Bahr hat kurz nach dem 3. Oktober gesagt: nen.
„Jetzt haben wir die Probleme, die wir uns immer
(Beifall bei der CDU/CSU — Wartenberg
gewünscht haben." Gewiß.
[Berlin] [SPD]: Geißler bleibt Geißler!)
(Zuruf von der CDU/CSU: Egon Sonder Ich bin der Meinung, daß richtiger ist — was im übri-
Bahr!) gen auch die katholische Kirche und die evangelische
Aber die Art, wie sie angegangen werden, entscheidet Kirche vertreten — , daß der Friede die Realisierung
darüber, ob die Mehrheit der Menschen sie als der Grundwerte voraussetzt, daß wahrer Friede nur
wünschbare oder als lästige, ja, als verfluchte Pro- dort gegeben ist, wo Freiheit, Gerechtigkeit und Soli-
bleme erfahren wird. darität vorhanden sind, und daß in Wahrheit erst die-
Angesichts dieser Koalition und angesichts dessen, jenigen für den Frieden eintreten, die mit ihren Bei-
was sie vereinbart hat und wie sie es getan hat, fällt trägen dafür sorgen wollen, daß sich Freiheit, Gerech-
mir nur ein Satz aus Schillers „Räuber" ein: tigkeit und Solidarität in einer bestimmten Region
durchsetzen, z. B. dadurch, daß wir dafür sorgen, daß
Ein großer Moment findet ein kleines Ge- -
Israel frei bleibt.
schlecht.
(Vorsitz: Vizepräsident Klein)
Die Chance eines Neuanfangs in Solidarität, fürchte
Die Freiheit und die Demokratie von Israel wären auf
ich, könnte kleinlich vertan werden.
das schwerste gefährdet, wenn wir in der Bundesre-
(Anhaltender lebhafter Beifall bei der SPD publik Deutschland uns dieser solidarischen Ver-
und beim Bündnis 90/GRÜNE) pflichtung entzögen. Deswegen ist unser Beitrag in
Wahrheit ein Beitrag für den Frieden.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —
Präsidentin Dr. Süssmuth: Das Wort zu einer Kurz- Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Das war
intervention hat der Kollege Dr. Geißler. nichts! — Weitere Zurufe von der SPD)
(Abg. Dr. Geißler geht zum Rednerpult —
Zurufe — Dr. Geißler [CDU/CSU]: Ich kann Vizepräsident Klein: Herr Thierse zu einer kurzen
es doch auch von hier aus machen? Oder?) Replik.
— In der Regel machen wir es vom Platz aus.
Thierse (SPD): Herr Geißler, es mag sein, daß ich —
wenn Sie mir diese Ironie erlauben — als Anfänger
Dr. Geißler (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine noch sehr auf Worte achte.
sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe die Aus-
führungen von Herrn Thierse zur politischen Kultur (Zuruf von der CDU/CSU: Sie wissen genau,
sehr wohl zur Kenntnis genommen. Aber ich finde, der was Sie gesagt haben!)
jetzt wiederholte und gestern von Ihrem Fraktionsvor- Ich denke, das Wort „Kriegssteuer" ist deshalb zutref
sitzenden in der Rede selber doch modifizierte Vor fend, weil die Steuer nicht erhoben worden ist, um das
246 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991

Thierse
Embargo zu finanzieren, das, wie wir wissen, ja auch alle in diesem Hause, die demokratisch gewählt sind,
viel Geld gekostet hat und im Falle seiner Fortsetzung denselben Normen unterstehen. Das sollte nicht in
noch mehr gekostet hätte. Insofern, denke ich, ist der Frage gestellt werden; in keiner Debatte.
Zusammenhang eindeutig und auch von der Regie- (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei
rung immer so genannt worden: Wir brauchen Steu- der SPD)
ern, um unsere aus Ihrer Sicht notwendige Beteili-
Zweitens. Ich muß darauf hinweisen, daß sich nicht
gung an diesem Krieg finanzieren zu können.
nur einige Bischöfe geäußert haben. Die Konferenz
(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch Rabu der katholischen Bischöfe in Amerika hat kritisch Stel-
listik, was Sie da betreiben!) lung genommen gegen ihre Regierung.
Insofern ist der Ausdruck nicht polemisch, sondern (Dr. Geißler [CDU/CSU]: Wir müssen ja auch
nur sehr präzise. kritisch Stellung nehmen!)
(Beifall bei der SPD — Widerspruch bei der Ist das Antiamerikanismus? Der Nationale Rat der Kir-
CDU/CSU — Dr. Göhner [CDU/CSU]: Ein chen in den USA hat Stellung genommen gegen den
interessanter Dissens in Ihrer Partei!) Krieg. Ich habe den Herrn Generalsekretär des Welt-
Lassen Sie mich eine zweite Bemerkung machen. Es kirchenrats um eine Stellungnahme gebeten. Er hat
ist sehr schwierig, sich über Grundwerte zu streiten. Stellung genommen gegen den Krieg. Warum neh-
Ich denke, daß wir — mit Unterschieden — denselben men Christen Stellung gegen diesen Krieg? Weil es
Grundwerten anhängen. Aber Sie kennen das alte zum Frieden keine Alternative gibt, Herr Geißler.
Problem, daß aus denselben Grundwerten noch nicht (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei
die gleichen politischen Konsequenzen gezogen wer- der SPD)
den müssen. Ich habe Bischof Kamphaus, einen ka-
tholischen Bischof, zitiert. Ich könnte Ihnen auch noch Vizepräsident Klein: Herr Abgeordneter Graf von
katholische Bischöfe aus den USA zitieren, die sich Schönburg-Glauchau.
entschieden gegen diesen Krieg gewandt haben.
Ich denke, wir sollten in der gegenwärtigen drama- Graf von Schönburg Glauchau (CDU/CSU): Herr
-

tischen Situation etwas sehr Wichtiges nicht verges- Kollege Thierse, meine erste Intervention ist eine ganz
sen, nämlich die Diskussion in den Kirchen, den friedliche. Ich möchte Sie nur bitten, darüber nachzu-
christlichen Kirchen der Welt, in den letzten zehn Jah- denken, ob es stimmt, daß die zeitliche Abfolge von
ren über die Überwindung des Instituts des Krie- Steuerforderungen etwas mit der Priorität zu tun hat.
ges. Man kann sich sehr gut den Fall vorstellen, daß eine
(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ Familie Besuch erwartet. Es kommen die Liebsten: die
GRÜNE) Eltern, die Kinder. Da sagt die Hausfrau: „Wir haben
Das sollten wir bei diesem Anlaß und gerade jetzt genug eingekauft." Danach kommt ein Zwangsbe-
nicht vergessen, weil wir andernfalls nicht wieder her- such. Da sagt sie: „Hierfür müssen wir tatsächlich
ausfinden könnten, sondern — das habe ich vorhin noch etwas holen gehen."
gemeint — uns alternativlos der Unlogik des Krieges (Beifall bei CDU/CSU — Lachen bei der
unterwürfen. SPD)
(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten Sehen Sie, das ist der Unterschied, ob wir Steuermehr-
des Bündnisses 90/GRÜNE) einnahmen zur Finanzierung der Verhältnisse in un-
serer Heimat oder zur Finanzierung der Abwehr der
-
Angriffe auf Israel brauchen. Das ist keine Frage der
Vizepräsident Klein: Meine Damen und Herren, mir
Priorität, sondern nur eine Frage der zeitlichen Ab-
liegen drei weitere Wortmeldungen für Kurzinterven-
folge gewesen.
tionen vor. Ich finde ja, das belebt die Diskussion; nur
sollten wir die Debatte vielleicht nicht nur in Form von (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Kurzinterventionen fortführen, sondern auch mit der der FDP)
Rednerliste weiterkommen. Diese drei Wortmeldun-
gen werde ich aber noch zulassen. Vizepräsident Klein: Herr Abgeordneter Gerster.
Als erster Herr Dr. Ullmann.
Gerster (Mainz) (CDU/CSU): Herr Kollege Thierse,
ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie zur Kenntnis neh-
Dr. Ullmann (Bündnis 90/GRÜNE): Herr Abgeord-
men wollten, daß ich ausdrücklich gesagt habe, daß
neter Geißler, ich denke, Sie haben jetzt einen ähnli-
chen Versuch unternommen wie bereits mehrere Kol- die Demonstrationsfreiheit für meine Fraktion, für
meine Partei, aber selbstverständlich auch für mich
legen von Ihnen, indem Sie die Gemeinsamkeit der
völlig unantastbar ist, und zwar selbstverständlich ge-
Demokraten, die in diesem Hause herrschen muß und
rade auch dann, wenn möglicherweise die politische
die die Friedensvoraussetzung unserer Debatten ist,
Richtung einer bestimmten Demonstration mir oder
in Frage gestellt haben, indem Sie von verschiedenen
meiner Fraktion nicht paßt. Das habe ich ausdrücklich
Wertordnungen gesprochen haben.
gesagt. Aber ebenso klar muß sein, daß das Grund-
(Dr. Geißler [CDU/CSU]: Das Gegenteil; das recht als solches nicht verbieten kann, einen Miß-
müssen Sie doch wissen!) brauch des Demonstrationsrechts deutlich zu machen
Ich liebe das Wort Wertordnung aus philosophischen und Mißbräuche zu kritisieren. Ich bitte Sie, das Pro-
Gründen nicht; aber da Sie es gebraucht haben, will tokoll zu überprüfen und dann Ihre ungeheuerliche
ich es mir jetzt aneignen. Wir gehen davon aus, daß Behauptung, ich hätte hier so etwas wie ein Gesin-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991 247

Gerster (Mainz)
nungsfreiheitsdemonstrationsrecht gefordert, zurück- Ein Prozent an Parteifunktionären, Bonzen und Schie-
zunehmen. bern, die das Volk unterdrückt haben, das war Ihre
Schönen Dank. Gesellschaftsordnung, Herr Modrow.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
bei Abgeordneten der SPD)
Vizepräsident Klein: Das Wort hat der Abgeordnete Das, was wir an Aufgaben zu lösen haben, ist in
Graf Lambsdorff. Monaten nicht zu schaffen. Aber Herr Thierse, in ei-
nem Punkte korrigieren Sie sich bitte. Ich habe vor der
Wahl landauf, landab in der früheren DDR gesagt: Wir
Dr. Graf Lambsdorff (FDP) : Herr Präsident! Meine gehen, Sie alle gehen — ich kann es Ihnen nicht er-
sehr verehrten Damen, meine Herren! Herr Thierse, sparen — im Jahr 1991 durch das Tal der Tränen. Ich
wer, wie ich es bin, Vorsitzender einer gesamtdeutsch habe nichts von dem versprochen, was Sie hier sagen;
gewordenen Partei ist, der merkt in der Tat recht bald, allerdings mit der einen Einschränkung, daß ich ge-
daß es ein Alltagsverhalten in der früheren DDR gege- sagt habe: Es wird den Rentnern in der DDR vermut-
ben hat, daß es das heute noch gibt, daß viele Erwar- lich ein bißchen besser gehen als vorher und nicht
tungen z. B. an politische Parteien bestehen. Auch die schlechter. Das ist im wesentlichen so gekommen.
viel geschmähten und manchmal zu Unrecht ge-
schmähten alten Blockparteien (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Lachen bei der SPD und beim Bündnis 90/ Herr Thierse, Sie haben die Themen Mieten und
GRÜNE) Energie angesprochen. Aber so wie Sie darf man nicht
waren und sind immer noch Nischen für Menschen, argumentieren.
die sich dort zusammengefunden und ihre Sorgen mit- (Geis [CDU/CSU]: So ist es!)
einander diskutiert haben.
Dann sagen Sie mal bitte, wieviel Prozent des Einkom-
(Zuruf des Abg. Poppe [Bündnis 90/ mens ein DDR-Bürger an Miete für seine traurige Be-
GRÜNE]) hausung hat zahlen müssen und wie die Steigerungen
Wenn ich auf meinem Schreibtisch den täglichen von dieser Basis aus aussehen. Daß das die Menschen
Briefeingang von Menschen sehe, die um ganz prak- plagt, weiß ich auch. Aber argumentieren Sie bitte,
tische Hilfe in ganz praktischen Fragen bitten — Sta- wenn Sie schon in Ökonomie gehen, mit Zahlen und
pel aus der alten DDR, kaum aus der Bundesrepu- intellektuell ehrlich. Das haben Sie heute leider nicht
blik —, dann plagt es mich, daß man diesen Erwartun- getan.
gen nicht gerecht werden kann. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Wir haben im Jahr 1991 erlebt, daß die Euphorie
und die Freude über das Jahr 1990 schnell vergangen Wenn Sie sich — wie wir alle — über die maßlose
sind. Wir haben auch erlebt, daß die Umstellung von Energieverschwendung im privaten Bereich in der
der Planwirtschaft, von der Kommandowirtschaft auf früheren DDR beschweren, dann wissen Sie doch
die Ordnung der Sozialen Marktwirtschaft schwieri- ganz genau, daß das daran liegt, daß das Zeug so gut
ger gewesen ist, als es sich viele von uns gedacht wie nichts kostet und deswegen so verschwendet
haben, und immer noch schwierig ist. Die Stichworte wird.
sind alle gefallen: Eigentumsordnung, Seilschaften, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Verwaltungsproblematik und auch — Herr Thierse,
Sie haben es wiederholt — das Thema der Treuhand- Ich bleibe bei meiner Überzeugung, daß wir die
anstalt. Aufgaben in den fünf neuen Bundesländern lösen
können und werden, obwohl die wirtschaftlichen Rah-
Aber ich widerspreche Ihnen in einem Punkt: Die menbedingungen — auch weltweit — nicht leichter
Treuhandanstalt ist nicht dazu da, zu sanieren und geworden sind. Ich stimme dem zu, was Herr Bieden-
dauerhafte Staatsbetriebe aufzubauen. Sie ist dazu kopf und Herr Kühbacher gestern ebenso wie Sie,
da, zu privatisieren. Die Treuhandanstalt darf auch Herr Thierse, gesagt haben und was breite Meinung
nicht regionalisiert werden und damit unter den im Hause ist: Die Finanzdiskussion zwischen den
Druck regionaler Organisationen und Demonstratio- neuen Ländern auf der einen Seite und den alten Län-
nen geraten. Dann wäre ihre Entscheidungsfähigkeit dern, den Kommunen und dem Bund auf der anderen
völlig dahin. Daß es hier Verbesserungen bedarf, hat Seite ist unerfreulich und zeigt keine Solidarität. Vom
der Bundeskanzler angekündigt; das ist notwendig. Hin- und Herschieben der Beträge auf dem Papier
Wir haben nicht in vollem Umfang gesehen — Herr haben die in Potsdam, Schwerin und Dresden
Biedenkopf hat das gestern gesagt — , was die SED in nichts.
40 Jahren Wirtschafts-, Umwelt- und Gesellschaftspo-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
litik angerichtet hat.
des Abg. Thierse [SPD])
Daß Herr Modrow sich gestern hier hingestellt und
von der Zweidrittelgesellschaft bei uns und von der Hier gibt es auch in der alten Bundesrepublik deut-
Eindrittelgesellschaft in den neuen Bundesländern liche Unterschiede: Was das Land Nordrhein-Westfa-
gesprochen hat, das ist eine Unverfrorenheit von ei- len an Haltung gezeigt und angedeutet hat — Frau
nem Mann, der mit seiner Partei für eine Einprozent- Matthäus-Maier hat es erwähnt — , ist in Ordnung.
gesellschaft eingetreten ist. Was das Land Niedersachsen in dieser Frage anzeigt,
ist überhaupt nicht in Ordnung.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
248 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991

Vizepräsident Klein: Graf Lambsdorff, gestatten Sie auch noch auf diese Weise aufbringen. Da müssen wir
eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Knaape? die Steuern erhöhen. Wir führen eine Grundsatzdis-
kussion, als wenn das eine moralisch schlecht, das
Dr. Graf Lambsdorff (FDP): Ja, wenn es mir nicht andere moralisch gut wäre. Es ist absurd, wie hier dis-
angerechnet wird, da ich sehr knapp mit der Zeit kutiert wird.
bin. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsident Klein: Bitte.


Ich sage in dem Zusammenhang noch einmal
— Herr Modrow hat das ja gestern erwähnt — : Ich bin
nach wie vor heilfroh darüber, daß die 15 Milliarden
Dr. Knaape (SPD): Ich möchte eine Frage zur Treu-
DM Ihnen damals nicht mitgegeben worden sind. Es
hand stellen. In meinen Wahlkreis befindet sich das hätte Ihnen so passen können, die Mittel, die Sie sich
Chemiefaserwerk Tremnitz, das 5 500 Arbeitskräfte aus Bonn hätten mitnehmen können, vor der Volks-
hat. Dieser Betrieb bemühte sich, zu einer Eigensanie- kammerwahl mit segnender Gebärde im Lande zu
rung zu kommen; ein Konzept lag vor. Von der Treu- verstreuen. Die Entscheidung war richtig. Falsch war
hand wurde inzwischen der Verkauf dieses Betriebes nur, daß man Sie damals hierher eingeladen hat.
ausgeschrieben. Das führte dazu, daß die Kredite ge-
strichen wurden. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
CDU/CSU — Zurufe von der PDS/Linke
Vizepräsident Klein: Herr Kollege, das Wesen einer Liste)
Frage besteht darin, daß man eine Frage stellt. Der ehemalige Ministerpräsident Modrow ist der
erste Regierungschef in der deutschen Geschichte
Dr. Knaape (SPD): — Das war die Einleitung. Die — jedenfalls nach meinen historischen Kenntnis-
Frage ist: Privatisierung um jeden Preis, oder sollten sen — , der dem Vertreter einer früheren Siegermacht
bei Betrieben nicht die Eigenbemühungen zur Sanie- einen Brief des Inhalts geschrieben hat: Setz Du mal
rung unterstützt werden? Was sollen wir den Arbei- bei den Beilegungsverhandlungen die von Dir durch-
tern sagen? gesetzte kommunistische Eigentumsordnung durch.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
Dr. Graf Lambsdorff (FDP): Wenn die Eigenbemü-
CDU/CSU)
hungen eine solide finanzielle Grundlage haben und
die wirtschaftlichen Aussichten so gestaltet sind, daß Das schöne Bild des Jahres 1990 hat in den vergan-
man es aus eigener Kraft, etwa mit — ich benutze den genen Wochen in der Tat rasch an Glanz verloren. Es
englischen Ausdruck — Management buy out, schaf- hat sich im Ökonomischen getrübt. Es trübt sich in der
fen kann: Warum dann nicht? Aber das ist eine Frage, Weltwirtschaft. Es wird von Rezession gesprochen.
die von Fall zu Fall geprüft werden muß. Ich kann Wir alle wissen nicht, ob die gestiegenen Risiken be-
Ihnen nur die generelle Antwort geben, daß ich selbst- deuten, daß auch wir sehr bald in stürmische See ge-
verständlich auch das für einen Lösungsansatz raten. Die gestrigen geldpolitischen Beschlüsse der
hielte. Bundesbank sind ein berechtigtes Warnsignal. Kosten
Meine Damen und Herren, wir bleiben dabei, daß müssen unter Kontrolle bleiben. Lohnforderungen,
Steuererhöhungen zur Finanzierung der deutschen die sich auf 10 % und mehr belaufen, passen nicht in
Einheit nicht notwendig waren und nicht notwendig diese Lage. Die öffentlichen Finanzen müssen solide
sind. Ich bleibe dabei: Sie sind ökonomisch falsch, bleiben,
weil sie die Wirtschaft im Westen belasten, deren Lei- (Duve [SPD]: Was heißt „bleiben"?)
stungsfähigkeit wir in den fünf neuen Bundesländern
brauchen. was angesichts der gestiegenen Anforderungen an
den Haushalt am besten durch äußerste Sparanstren-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gungen und erst in letzter Konsequenz durch zeitlich
Herr Thierse, wir führen hier eine sehr deutsche befristete Steuererhöhungen unter Beweis gestellt
Diskussion. Wir haben gesagt: Wir brauchen nicht werden kann.
mehr Steuern. Wir müssen das Geld nehmen, das bei
den alten Bundesländern wegen einer guten Wirt- Aber es kommt ja auch von außen auf uns zu. Die
schaftsentwicklung ohne DDR-Bezüge schon mehr Vorgänge im Baltikum machen uns alle und die Libe-
einkommt, erst recht das Geld nehmen — darin waren ralen ganz besonders betroffen und besorgt. Hitler hat
wir gestern einig —, das wegen der Aufbauarbeit in diese Länder an Stalin verschachert. Wir Deutsche
der DDR zusätzlich hereinkommt. haben deswegen eine besondere moralische Ver-
pflichtung, sie in dem Wunsch zu unterstützen, ihre
Wenn Sie mit einer Steuererhöhung anfangen, dann Unabhängigkeit zu erlangen. Ich glaube, daß wir fest-
werden Sie an diese Gelder überhaupt nicht mehr her- halten sollten: Die Schüsse von Wilna und Riga dürfen
ankommen, weil dann aus Steuererhöhungen finan- nicht wegen des Golfkriegs klammheimlich hinge-
ziert wird und erst recht niemand etwas hergeben nommen werden.
will.
Steuererhöhungen wären ökonomisch falsch. Dabei (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
bleibt es. Wir wissen nicht, wann der Krieg am Golf beendet
Nun stehen wir vor der Situation, daß wir — Sie wird. Den Schlüssel dafür hat der irakische Diktator in
wollen es vielleicht nicht, aber wir halten es für not- der Hand. Er muß die Forderung der UNO nach Räu-
wendig und richtig — Milliarden zusätzlich bezahlen mung Kuwaits erfüllen. Solange dies nicht geschieht,
müssen. Die können wir nun beim besten Willen nicht ist es unsere Aufgabe, zusammen mit anderen dem
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991 249

Dr. Graf Lambsdorff


Völkerrecht Geltung zu verschaffen. Und es ist unsere öffentlicher und gesellschaftlicher Verachtung ausge-
Aufgabe, für die Sicherheit Israels zu sorgen. Die Si- setzt sein.
cherheit Israels muß uns so wertvoll sein wie die Si- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU —
cherheit der Bundesrepublik Deutschland. Das kön- Duve [SPD]: Und diejenigen, die sie vermit
nen Sie nur mit den Amerikanern zusammen, Herr telt haben!)
Thierse, und mit niemandem anders schaffen.
Ich will genau sagen, was ich damit meine: Ich
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — meine nicht nur Strafverfahren. Sie gehören in keinen
Dr. Geißler [CDU/CSU]: Das ist Friedens Industrieverband, in keinen Arbeitgeberverband, in
politik!) keinen Rotary Club, in keinen Lions Club; sie müssen
— Jawohl, es ist Friedenspolitik. heraus aus solchen gesellschaftlichen Veranstaltun-
gen.
In dieser Auseinandersetzung reiht sich bei Herrn
Saddam Hussein Kriegsverbrechen an Kriegsverbre- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU —
chen. Der Mann ist ohne Skrupel. Einen Waffenstill- Poppe [Bündnis 90/GRÜNE]: Und die, die
stand kann und darf es jetzt nicht geben. Er würde nur davon gewußt und nichts getan haben!)
Saddam Hussein nutzen. Er würde mehr Menschen- Es hat bei unseren Freunden im Ausland Irritatio-
leben auf der Seite der alliierten Streitkräfte kosten, nen über die Demonstrationen bei uns gegeben, vor
weil sich Saddam Hussein neu arrangieren könnte, allem über den dabei zunächst zum Ausdruck gekom-
neu befestigen könnte und neu aufmarschieren menen Antiamerikanismus, als ob der Krieg von die-
könnte. sem Land ausgegangen wäre. Herr Thierse, jeder hat
(Frau Dr. Höll [PDS/Linke Liste]: Und die Be das Recht, auf die Straße zu gehen und zu demonstrie-
völkerung? — Weitere Zurufe) ren; darin bin ich mit Ihnen völlig einig. Aber manche
Äußerungen der letzten Tage erinnern schon an das
Hier wurde vorhin bestritten, daß wir Beteiligte sind bittere Wort von Clausewitz: „Der Aggressor ist im-
— ich weiß nicht mehr, welcher Kollege das getan mer friedliebend; er möchte fremdes Territorium be-
hat —. Der Bundeskanzler hat es gesagt, und der Au- setzen, ohne einen Schuß abzugeben."
ßenminister hat es gestern wörtlich gesagt: Wir sind
Partei in diesem Krieg. — So ist es. Es ist traurig ; aber (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
es ist so, und es kann nicht anders sein. Aber wie kann man eigentlich Demonstranten Vor-
würfe machen, wenn uns die SPD-Fraktion heute auf
In diesem Krieg ist unser Platz an der Seite der
Drucksache 12/63 einen Antrag zur Golfkrise zumu-
UNO, an der Seite derer, die dem Aggressor Ein-
tet — lesen Sie ihn bitte alle durch — , in dem der
halt gebieten, vor allem an der Seite der USA, die die
Aggressor Saddam Hussein nicht ein einziges Mal
Hauptlast des Krieges tragen, und an der Seite
erwähnt wird, in dem die Frage der Verantwortlich-
Israels.
keit überhaupt nicht vorkommt?
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
der Abg. Frau Matthäus-Maier [SPD])
Das ist ein Dokument der Verantwortungslosigkeit,
Unsere Verfassung verbietet den Einsatz von Solda- das hoffentlich als ein Dokument der Schande in Ihre
ten außerhalb des NATO-Gebiets. Aber alles andere Parteigeschichte eingehen wird.
müssen wir tun, und wir tun es.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU —
Lügen wir uns über die Türkei doch bitte nichts in Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Dummes
die Tasche. -
Zeug!)
(Duve [SPD]: Genau, Graf Lambsdorff; tun Glücklicherweise hat sich gezeigt, daß bei uns nur
Sie das nicht!) eine Minderheit so denkt und daß bei diesen ersten
— Herr Duve, nun lassen Sie mich erst einmal reden; Demonstrationen nicht die Haltung der Mehrheit der
Sie können ja Zwischenfragen stellen. — Ohne die Deutschen repräsentiert wurde.
Operationsbasis deutscher Flugplätze könnten die Es ist nicht lange her, daß uns Deutschen der Ruf
Alliierten ihren Luftkrieg nicht führen. Sehen Sie ei- des Militarismus vorausging. Daß heute in unserem
nen Unterschied zum Verhalten der Türkei? Lande keine Gewaltgelüste bestehen, daß es keinen
Militarismus mehr gibt, das ist doch positiv zu werten,
Wir haben mit Abscheu und Entsetzen feststellen
und das sollten auch unsere Nachbarn gutheißen.
müssen, daß sich deutsche Firmen am Aufbau des
Aggressionspotentials des irakischen Diktators be- Wir haben verstanden, daß sich nach der Vereini-
teiligt haben. Das hat bei unseren Freunden, vor allem gung Stimmen erhoben, die vor neuer Arroganz der
in Israel, Beklemmung, Empörung und Zorn hervor- Macht in Deutschland gewarnt haben. Die Sorge ist
gerufen. Wir können uns nicht mit dem Hinweis aus unangebracht. Ich verstehe aber nur schwer, daß of-
der Verantwortung ziehen, daß auch andere beigetra- fenbar gerade diejenigen, die bei der Vereinigung vor
gen hätten. neuen Machtambitionen warnten, jetzt ebenso inten-
siv nach deutscher militärischer Präsenz am Golf ru-
Mit Hilfe aus Deutschland wurde der Irak in die fen.
Lage versetzt, Giftgas zu produzieren. Für solches
Handeln gibt es keine Entschuldigung. Wir müssen
uns davor hüten, die gesamte deutsche Industrie zu
ächten. Aber diejenigen, die in skrupelloser Gewinn- Vizepräsident Klein: Herr Abgeordneter, es wird
sucht in diese Geschäfte eingestiegen sind, müssen eine Zwischenfrage erbeten.
250 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991

Dr. Graf Lambsdorff (FDP): Wenn mir die Zeit nicht Vizepräsident Klein: Stellen Sie bitte eine Frage,
angerechnet wird, Herr Präsident, gerne. Frau Kollegin!
(Duve [SPD]: Wir werden Ihnen andere Sa
chen anrechnen!) Frau Matthäus Maier (SPD): Er soll zustimmen, daß
-

— Herr Duve, rechnen Sie fleißig, und dann schicken das da steht, Herr Kollege Präsident. Es heißt hier:
Sie mal das Ergebnis. Zu diesem Zweck fordert er die irakische Füh-
(Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU) rung auf, sofort mit dem Abzug der irakischen
Truppen aus Kuwait zu beginnen, dessen völker-
rechtswidrige Besetzung Ausgangspunkt der jet-
Dr. Brecht (SPD): Graf Lambsdorff, in dem Ent- zigen Konfrontation ist.
schließungsantrag der SPD auf der Drucksache 12/63, Dieses ist doch wohl eindeutig. Oder?
die Sie eben genannt haben, wird im ersten Abschnitt
von der irakischen Führung gesprochen. Glauben Sie,
Dr. Graf Lambsdorff (FDP) : Nein, es ist nicht ein-
daß Herr Saddam Hussein nicht dazugehört?
deutig.
(Duve [SPD]: Sie wollten doch das Stichwort
Dr. Graf Lambsdorff (FDP): Können Sie einmal sa- mit der Schande hier nur hineinbringen, Sie
gen, ob dort irgendein Wort darüber steht, daß er die wollten mit dem Wort „Demagogie" arbei
Verantwortung für diesen Überfall trägt? Es steht dort, ten!)
die irakische Führung solle aus Kuwait ausziehen. — Es ist nicht eindeutig, und ich bleibe bei meiner
(Dr. de With [SPD]: Wir haben doch gesagt: Beurteilung dieses Antrags, Frau Matthäus-Maier.
Das ist ein Rüstungskontrollantrag!) Bevor Herr Duve mich stoppt, da müssen schon ein
—Herr de With, wir kennen doch die Diskussionen in paar andere kommen, verehrter Herr Kollege. Das
Ihrer Partei. Stimmt es, daß Willy Brandt im Vorstand schaffen Sie so schnell nicht. So.
der SPD gesagt hat: Genossen, wir sind im Kriege!? (Beifall bei der FDP)
Oder stimmt das nicht? Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Men-
(Duve [SPD]: Das ist doch fast unter Ihrem schen in unserem Lande haben die neue internatio-
Niveau!) nale Verantwortung, die unserem Land jetzt zuge-
Will das Ihre Partei realisieren oder nicht? Oder wollen wachsen ist, noch nicht in sich aufgenommen; das ist
Sie — wie in der letzten Wochen — mit einem Drittel verständlich. Nach 40 Jahren der politischen Unmün-
Ja, mit einem Drittel Nein und mit einem Drittel Ent- digkeit und politischen Unselbständigkeit ist dies zu-
haltung abstimmen? Sie wissen doch nicht, wo Sie nächst schwer. Aber für unsere Sicherheit gegenüber
politisch stehen. Sie sind völlig orientierungslos. der Bedrohung aus dem Osten stand die Allianz des
Westens. Wir haben uns auf sie verlassen. Wir haben
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) natürlich auch unsere Beiträge geleistet. Wir haben
Ihr Fraktionsvorsitzender spricht sich gegen den diese Sicherheitsgarantie dankbar angenommen.
Waffenstillstand aus, weil er meine Beurteilung Jetzt müssen wir lernen, uns in neuer Verantwortung
teilt. zurechtzufinden, vor allem bei international übergrei-
(Duve [SPD]: So spricht der Mann, der als fenden Konfliktsituationen wie der Golfkrise.
Wirtschaftsminister die freundschaftlichen Dabei brauchen die Menschen bei uns politische
Beziehungen zu Hussein immer wollte!) Führung. Es ist unsere besondere Verantwortung, die
Es war Herr Gansel — der im übrigen die Sache mit -
der Politiker, insonderheit der Bundesregierung, den
mir in Ordnung gebracht hat, was ich dankbar akzep- Menschen im Land diese Führung im Geiste von Frei-
tiere — ,der sich nun gegen den Waffenstillstand aus- heit und Demokratie zu geben. Unser Land und damit
sprach. auch die Bundesregierung stehen nicht nur, so wichtig
das ist, in den fünf neuen Bundesländern, sondern
(Frau Matthäus-Maier [SPD] meldet sich zu auch in diesen Fragen der internationalen Verantwor-
einer Zwischenfrage) tung Deutschlands vor einer Bewährungsprobe, die es
— Ich erteile hier nicht das Wort. zu meistern gilt.
Ich bedanke mich.
Vizepräsident Klein: Der Redner hat noch 20 Sekun- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
den Redezeit.
(Dr. Graf Lambsdorff [FDP]: Die wird ja ver Vizepräsident Klein: Meine Damen und Herren, wir
längert, Herr Präsident!) stehen im Moment vor folgender Situation. Ich habe
— Graf Lambsdorff, wenn Sie eine Zwischenfrage zu- hier die vereinbarte Rednerliste mit einer angeforder-
lassen, stoppen wir die Uhr. ten Redezeit von weiteren 65 Minuten. Rechnen Sie
Zwischenfragen, Applauspausen dazu, dann sind es
(Duve [SPD]: Es wäre besser, Sie würden den 70 Minuten. Wir haben aber für 12 Uhr die namentli-
Lambsdorff stoppen!) che Abstimmung angekündigt.
Inzwischen habe ich zwei weitere Wortmeldungen
Frau Matthäus Maier (SPD): Graf Lambsdorff,
- für Kurzinterventionen. Ich glaube, wir müssen, so
nachdem Sie dem SPD-Antrag hier bewußt einen fal- schmerzhaft ich das empfinde, weil die Kurzinterven-
schen Inhalt unterlegt haben, darf ich Ihnen einfach tion die Diskussion belebt, zu diesem Zeitpunkt mit
den Satz hier vorlesen, der sagt — der Rednerliste weitergehen. Vielleicht gelingt es
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991 251

Vizepräsident Klein
dem einen oder anderen Kollegen, seine Redezeit Jedenfalls ist unser Recht so löcherig wie ein Schwei-
nicht voll in Anspruch zu nehmen; manches läßt sich zer Käse. Die Schweizer Regelungen sind da sehr viel
straffer ausdrücken. effektiver.
Ich gebe deshalb jetzt das Wort der Abgeordneten Herr Minister, wenn Sie das ändern wollen: Unsere
Däubler-Gmelin. Unterstützung haben Sie, wie gesagt. Aber wir beste-
hen darauf, daß im Interesse des inneren Rechtsfrie-
(Dr. Heuer [PDS/Linke Liste]: Herr Präsi
dens und auch um neue Gefährdungen für Bürger-
dent, es ist nur bedauerlich, daß die Strei
rechte und Menschen abzuwehren, und zwar im ge-
chung der Kurzintervention immer gerade
samten geeinten Deutschland, weitere Reformen not-
die PDS betrifft!)
wendig sind. Wir werden unsere Vorschläge auf den
— Sie haben nicht das Wort. Tisch legen.
Frau Däubler-Gmelin. Wir werden einfordern, den Datenschutz weiter
auszubauen. Hier handelt es sich um Bürgerschutz,
nicht um Täterschutz.
Frau Dr. Däubler Gmelin (SPD): Herr Präsident!
- (Beifall bei der SPD)
Meine Damen und Herren! Ich will trotz der, wie ich Wir werden Sie daran erinnern, daß Justizreformen
finde, unnötig scharfen und auch außerordentlich un- notwendig sind. Wir werden auch daran erinnern, daß
gerechten Worte von Graf Lambsdorff in der Schluß sich immer mehr neue Formen des Zusammenlebens
runde versuchen, mit ein paar freundlichen Worten zu durchsetzen und daß es dort auch Schwächere gibt
beginnen, — Kinder, aber auch schwächere Partner — , die des
(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten rechtlichen Schutzes bedürfen.
der FDP) Wir werden auch darauf bestehen, daß wir in den
und zwar an Justizminister Kinkel, den wir zum er- beiden kommenden Jahren den Grundsatz „Recht
stenmal als Minister in diesem Hause gesehen ha- und Hilfen statt Strafe" umsetzen. Darauf haben wir
ben. uns im letzten Sommer im Einigungsvertrag geeinigt.
Ich denke, Sie müssen mithelfen, daß diese Anstren-
(Dr. Göhner [CDU/CSU]: Das stimmt nicht!)
gungen jetzt nicht wieder im Sande verlaufen.
Wir kennen Sie ja aus einer anderen Funktion. Wir
Herr Bundesjustizminister, lassen Sie mich sagen:
schätzen Sie. Wir bieten Ihnen unsere Unterstützung
Wir werden Sie bei all dem, was wir vorhaben, daran
an, und wir hoffen auf eine gute und auch menschlich
erinnern, daß es in diesem Amt große Vorgänger gab,
erfreuliche Zusammenarbeit, etwa wie die es war, die
die wir alle zu den Reformern rechnen. Es waren So-
wir mit Ihrem Vorgänger, dem Kollegen Engelhard, in
zialdemokraten, aber auch Liberale dabei. Das sind
den letzten Jahren hatten.
gute Vorbilder.
(Beifall bei der SPD und des Abg. Kleinert Jetzt komme ich zum Schwerpunkt, der die Regie-
[Hannover] [FDP]) rungserklärung, die Koalitionsvereinbarungen und
Sie wissen, daß das unterschiedliche Auffassungen, auch die Debatte gestern und heute beherrscht hat
auch Kritik, weder an Ihnen noch an dem, was Sie bzw. beherrscht: die Notwendigkeit, daß die Men-
sagen, nicht ausschließt; Sie werden das nicht anders schen in den beiden Teilen Deutschlands nach der
erwarten. staatlichen Einheit zusammenfinden müssen, daß der
Aber lassen Sie mich dem, was Sie hier sagten, hin- staatlichen Einheit jetzt die Einheit der Lebensver-
-
zufügen: Ich war durchaus gespannt darauf, wie Sie hältnisse und vor allen Dingen die Verbesserung der
die Aufgaben der Regierung für die kommenden vier im Osten unseres Landes dramatisch schlechteren Le-
Jahre beschreiben würden, denn zum rechts- und zum bensverhältnisse folgen muß.
innenpolitischen Teil — da widerspreche ich dem Kol- Ich sage nochmals: Die Verträge des letzten Jahres
legen Laufs ganz ausdrücklich — sind die Koalitions- haben manches richtig auf den Weg gebracht. Aber
vereinbarungen und auch das, was der Herr Bundes- ich stelle auch fest: Es wäre gut gewesen, meine Her-
kanzler dazu gesagt hat, außerordentlich dürr. ren von der Regierung, Sie hätten bei der Aushand-
Ich hatte eigentlich erwartet, Sie, Herr Justizmini- lung der Verträge von Anfang an mehr auf das gehört,
ster, würden ein bißchen mehr in die vollen gehen. was wir Ihnen gesagt haben.
Nach dem, was Sie sagten, scheint uns eine Zeit der Ich will nur zwei Beispiele bringen. Viele der Ge-
großen rechtspolitischen Reformen nicht bevorzuste- meinden in den fünf neuen Ländern stehen jetzt vor
hen. Die Drogenbekämpfung, die Bekämpfung der dem finanziellen Ruin. Das haben wir alles schon im
organisierten Kriminalität, der Abbau von Diskrimi- letzten Jahr vorhergesehen. Hätten Sie unseren Mah-
nierungen — z. B. bei § 175 — sind — das wissen wir nungen Raum gegeben,
alles — wichtige Vorhaben. Aber das sind eigentlich
alles Restanten, die nicht erledigt werden konnten, (Zuruf von der CDU/CSU: Dann hätten wir
und zwar einfach deshalb, weil Sie sich bisher nicht die Wiedervereinigung noch nicht!)
einigen konnten. Da wurde viel versäumt. wären die Probleme heute längst nicht mehr so
Mittlerweile ist die Bundesrepublik faktisch zum groß.
Schlußlicht der Drogenbekämpfung in Europa gewor- (Beifall bei der SPD)
den. Das zweite, Herr Bundesjustizminister: Sie weisen
(Beifall bei der SPD) zu Recht darauf hin — jeder tut das — , daß eine
252 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991

Frau Dr. Däubler-Gmelin


Menge von Hindernissen Investitionen für notwen- Arbeit aufnehmen können. Das ist richtig. Wir begrü-
dige Arbeitsplätze in den fünf neuen Bundesländern ßen das selbstverständlich. Wir wissen aber ganz ge-
blockieren, daß die ungeklärten Vermögens- und nau, daß die alten Bundesländer hier schon eine
Eigentumsverhältnisse wirtschaftliche Investitionen ganze Menge tun. Das nehmen wir mit Dankbarkeit
blockieren. Das ist so. zur Kenntnis. Wir wissen aber, daß auch das nicht
reicht, weder von den Zahlen noch von den Unterstüt-
Auch darauf haben wir im letzten Jahr hingewiesen.
zungsmöglichkeiten her.
Wir haben darauf gedrängt, stärker dem Grundsatz
„Entschädigung statt Rückgabe" Rechnung zu tra- Ich hatte erwartet, daß wenigstens Sie, Herr Bun-
gen. Hätten Sie es gemacht, ginge es den Menschen in desjustizminister — wenn sich darüber schon nichts in
den fünf neuen Bundesländern heute besser. Dann der Koalitionsvereinbarung befindet oder auch der
hätte die Treuhandanstalt weniger Probleme. Viele Bundeskanzler nichts dazu sagt — , sagen würden:
Gemeinden und Kreise hätten heute schon mehr Er- Wir unterbreiten jetzt konkrete Angebote, damit nicht
folge zu vermelden, als das bisher der Fall sein Tausende von neuen arbeitslosen Bürgerinnen und
kann. Bürgern in der ehemaligen DDR, die zum Arbeitsge-
richt gehen und ihr Recht suchen, auf den Sankt-Nim-
Gestern haben Ministerpräsident Biedenkopf und
merleins-Tag vertröstet werden
auch der Finanzminister des Landes Brandenburg in
ungewöhnlich eindrucksvoller Weise darauf hinge- (Beifall bei der SPD)
wiesen, wie schwer und wie groß die Probleme gewor-
und damit nicht immer mehr Bürgerinnen und Burger,
den sind und wie wenige Lösungsmöglichkeiten zur
diemanchlvoskrupeGchäftmarn
Verfügung stehen. Ich bin ganz sicher, daß viele Bür-
übers Ohr gehauen werden — das wissen wir — , um-
gerinnen und Bürger aus den alten Bundesländern,
sonst nach Rechtsberatung oder Rechtsschutz su-
die gestern zugehört haben, gar nicht genau wissen,
chen.
wie schwierig die Lebensverhältnisse und wie groß
die Probleme sind, daß z. B. städtische Versorgungs- Ich hatte mir gewünscht, daß Sie sagen: Der Bund
unternehmen, die jeder Bürger und jede Bürgerin tag- ist zusammen mit den Ländern bereit, eine ausrei-
täglich zum Leben braucht, vor dem Aus stehen, wenn chende Anzahl von Richtern und Staatsanwälten, zur
nicht unmittelbar geholfen wird. Hälfte finanziert, in die fünf neuen Bundesländer zu
schicken.
Gestern ist gesagt worden, Hilfe dafür habe Priori-
tät. Gut, wir begrüßen das. Es geht doch aber nicht nur (Wiefelspütz [SPD]: So ist es!)
um diese Soforthilfe in einem Fall, in dem unmittel-
Solange solche konkreten Angebote, auch solche kon-
bare Not am Mann oder an der Frau ist, sondern es
kreten Wege nicht gemacht bzw. aufgezeigt werden,
geht um Konzepte und Wege, die es den fünf neuen
nützen uns schöne Worte relativ wenig.
Bundesländern und ihren Gemeinden ermöglichen,
ihre Probleme aus eigener Kraft und nach eigenen (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Vorstellungen zu lösen, und zwar bald. Diese Mög-
Sie nützen nicht nur uns nicht, sondern vor allem auch
lichkeit müssen wir ihnen verschaffen. Dazu ist die
den Menschen in den fünf neuen Bundesländern we-
Unterstützung nicht nur der Bundesländer, sondern
nig, die ganz besondere und — sage ich einmal —
auch des Bundes erforderlich.
schlimme Erfahrungen mit dem Rechtsstaat machen,
Konzepte für die Gewährung einer solchen langfri- den sie doch eigentlich immer wollten. Der Kollege
stigen Hilfe und dafür, daß man die Probleme selbst Thierse hat darauf doch gerade hingewiesen. Das dür-
lösen kann, ohne weiterhin am Gängelband des We- fen wir doch nicht durchgehen lassen. -
stens oder des Bundes hängen zu müssen, haben wir
Meine Damen und Herren, ich habe schon gesagt:
in der Koalitionsvereinbarung und auch in der Regie-
Wer für Verbesserungen eintritt, der findet unsere
rungserklärung des Bundeskanzlers weitgehend ver-
Unterstützung. Lassen Sie mich noch eines klarstel-
mißt.
len. Bei der Klärung von offenen Rechtsfragen geht es
(Beifall bei der SPD) uns nicht nur um Vermögensfragen, also um Eigen
tum an Häusern, Fabriken, Unternehmen oder Grund-
Auch in der Debatte sind auf die konkreten Vor-
stücken, sondern wir werden auch darauf bestehen
schläge, die wir gemacht haben, auf die vom Frak-
— insofern bin ich für das, was die Kollegin vom
tionsvorsitzenden Vogel erwähnten acht Punkte und
Bündnis 90 gesagt hat, sehr dankbar; denn das gilt
auf die Anregungen von Frau Matthäus-Maier oder
auch für uns — , daß auch die Opfer anderer Verfol-
von Wolfgang Roth oder von den anderen sozialdemo-
gungstaten und Unrechtshandlungen gesehen wer-
kratischen Sprecherinnen und Sprechern, die sich mit
den, daß ihre Schicksale berücksichtigt werden und
anderen Gebieten auseinandergesetzt haben, keine
wir uns um sie kümmern. Wir müssen auch ihre Schä-
Antworten gegeben worden. Ich bedaure das. Ich
den sehen und die Opfer entsprechend entschädi-
bitte Sie darum, diese Anregungen aufzunehmen. Die
gen.
Menschen in den fünf neuen Bundesländern, die Län-
der selbst und die Gemeinden brauchen dringend (Beifall bei der SPD)
Hilfe.
Ich habe in den letzten Tagen einen B ri ef von einem
Nochmals ein Wort zu Ihnen, Herr Bundesjustizmi- alten Sozialdemokraten bekommen, der lange Jahre
nister Kinkel. Sie haben gesagt, Sie würden einen in Bautzen und Workuta gesessen hat. Er wurde auf
Großteil Ihrer Arbeitskraft darauf verwenden, daß in Grund politischer Delikte verurteilt. Er ist nach dieser
den fünf neuen Bundesländern die rechtsstaatlichen langen Haft heute körperbehindert und krank. Nach
Verwaltungen und die Justiz möglichst schnell ihre dem Tode seiner Angehörigen wurde er in ein Heim
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991 253

Frau Dr. Däubler-Gmelin


für geistig Behinderte eingeliefert und ist damit prak- Sie müssen auch vieles ausbaden. Vor den Wahlen
tisch isoliert. gaben Sie das Versprechen: Keine Steuererhöhungen
für die deutsche Einheit. Jetzt müssen Sie das Gegen-
Ich sage Ihnen: Mir ist es genauso wichtig — ja noch teil verantworten: die Erhöhung der Telefongebühren
wichtiger — wie die Rückgabe oder die Entschädi- — das ist ja faktisch eine Steuer — , den Griff in die
gung für verlorengegangenes Vermögen, daß dieser Taschen der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber durch
Mann aus dem Heim kommt. die Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversiche-
(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ rung und noch vieles mehr.
GRÜNE sowie bei Abgeordneten der CDU/ Hinzu kommt noch die Steuer im Zusammenhang
CSU und der PDS/Linke Liste) mit dem Krieg. Ich wähle jetzt diesen Ausdruck ganz
Mir ist es genauso wichtig, daß die Schäden, die sol- bewußt, weil wir gerade darüber geredet haben.
che Opfer des Unrechtsregimes haben, bei uns in den (Dr. Geißler [CDU/CSU]: Er ist besser!)
Vordergrund gestellt werden. Auch das ist für die
Aussöhnung, von der viele gesprochen haben und die Aber ich sage Ihnen, Herr Geißler: Ich halte über-
wir doch in unserem Land wollen, wichtig. haupt nichts davon, einen Begriff wie Golf-Steuer
oder andere verniedlichende Ausdrücke zu wählen;
Wie gesagt, wir vermissen bei Ihnen klare Kon- es sind vielmehr natürlich Steuern, die im Zusammen-
zepte, die über die unmittelbare Hilfe hinausreichen. hang mit dem Krieg erhoben werden sollen.
Wir vermissen auch Wege, auf denen nicht wieder
Löcher aufgerissen werden, wenn denn eines gestopft (Dr. Göhner [CDU/CSU]: Das klingt schon
wird. anders! — Zuruf von der CDU/CSU: Müs
sen!)
Auffällig in der vergangenen Debatte war — lassen
Sie mich das sagen — folgendes. Je weniger Konzepte Dagegen — lassen Sie uns das noch einmal sehr
ersichtlich waren, desto deutlicher und massiver wur- deutlich sagen — richtet sich unsere Ablehnung. Da-
den die Angriffe gegen Sozialdemokraten. Auch die gegen richtet sich im übrigen auch — das wissen
Friedensbewegung hat dazu herhalten müssen. Graf Sie — die Predigt von Bischof Kamphaus, die mein
Lambsdorff, ich verstehe auch Ihre Ausfälle von eben Kollege Thierse gerade zitiert hat. Wir sagen: dies
genau in diesem Sinn. Es hat sich da so eine Art wollen wir nicht; wir lehnen diese Steuer ab.
Gesetzmäßigkeit herausgebildet: Je weniger Kon-
(Beifall bei der SPD)
zepte, desto stärker die Kraftworte.
Jetzt bin ich bei einem zweiten Schwerpunkt, der
(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten viele von uns — ich glaube, die meisten Menschen —
der PDS/Linke Liste) in diesen Tagen bedrückt. Ich meine die Soldaten und
Gestern abend war das bei Bundesminister Blüm Panzer in den baltischen Staaten, die gegen demokra-
ganz deutlich zu verspüren. Er hat natürlich auch eine tisch gewählte Parlamente und Regierungen vorge-
Menge zu kompensieren: weniger Kompetenzen, die hen, aber besonders den schrecklichen Krieg am Golf.
Tatsache, daß die Pflegeversicherung auf das lange Ich sage nochmals: Wir wollen, daß er schnell beendet
Gleis geschoben wurde — das ist ja alles richtig — wird.
und zudem ein Sonderopfer für Arbeitnehmerinnen (Beifall bei der SPD)
und Arbeitnehmer sowie Arbeitgeber zur Finanzie-
rung der deutschen Einheit. Dann muß Herr Minister Ich betone, daß jede Möglichkeit und jede Initiative
Blüm auch noch zugeben, daß er keine Wege und -
zu einem Waffenstillstand, der realistisch ist, ergriffen
keine Konzepte dafür hat, wie den steigenden Zahlen werden muß, um Raum für politische Lösungen zu
von Arbeitslosen in den fünf neuen Bundesländern schaffen. Graf Lambsdorff, ich habe einfach nicht ver-
entgegengewirkt werden kann. standen, warum Sie ausgerechnet in dieser Frage
neue Zwietracht säen wollen, obwohl wir doch im
(Dr. Blüm [CDU/CSU]: Haben Sie schon ein Grunde genommen alle dieser Meinung sind. Ich
mal was von Qualifizierung, ABM und Kurz brauche doch Hans-Jochen Vogels Worte von gestern
arbeit gehört?) nicht zu wiederholen. Er hat klar ausgedrückt, was wir
Jedenfalls war Ihre Rede gestern abend ein einziger meinen. Er hat auch unsere Bereitschaft zur Hilfe für
Ausdruck der aggressiven Hilflosigkeit. Israel deutlich erklärt.
Ich bleibe dabei: Die Debatte hat gezeigt, daß wir
(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/
uns in wichtigen Fragen einig sind, und zwar durch-
GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/
aus über die Parteigrenzen hinweg. Aber ich bleibe
Linke Liste — Lachen bei der CDU/CSU)
auch dabei: In anderen wichtigen Fragen — das war
Ich will gerne zugestehen, daß Sie auch noch eine wohl Ihr Signal, Graf Lambsdorff — sind wir eben
Auflistung von Mängeln und von Problemen mitgelie- nicht einig. Wir betonen: Erstens. Der NATO-Bünd-
fert haben. Bloß sage ich Ihnen: Das reicht heute ein- nisfall liegt nicht vor. Zweitens. Es gibt keine Automa-
fach nicht mehr. tik. Drittens. Über Krieg und Frieden entscheidet aus-
schließlich der Bundestag mit der Mehrheit nach Arti-
Ganz deutlich war es auch bei Ihnen, Herr Bundes- kel 115a des Grundgesetzes, also mit Zweidrittel-
minister Waigel. Auch Sie hatten ja vieles, von dem mehrheit.
Sie ablenken mußten nach der Methode — die wir ja
kennen — „Haltet den Dieb". Sie ist alt. Sie ist zu (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/
durchsichtig, um jetzt noch wirksam zu sein. GRÜNE)
254 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991

Frau Dr. Däubler-Gmelin


Ich hätte es sehr gut gefunden, wenn auch Sie, Graf Jetzt möchte ich fortfahren. Ich hätte es gut gefun-
Lambsdorff, und wenn die Bundesregierung — ich den, wenn im Laufe dieser Debatte die ungerechtfer-
wende mich jetzt an den Bundesinnenminister, aber tigten und harschen Kritiken und Angriffe gegen die
auch an den Bundesjustizminister — daran aber auch Friedensdemonstranten zurückgenommen worden
nicht den Hauch eines Zweifels gelassen hätten. wären.

Vizepräsident Klein: Gestatten Sie eine Zwischen-


(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/
frage des Grafen Lambsdorff? GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/
Linke Liste)
Frau Dr. Däubler Gmelin (SPD): Bitte schön.
- Sie treffen damit Hunderttausende von jungen Men-
schen, die es mit dem Frieden sehr ernst meinen und
Dr. Graf Lambsdorff (FDP): Darf ich, Frau Däubler die sich dieser vermeintlichen und schrecklichen
Gmelin — damit überhaupt kein Zweifel besteht; Sie Logik des Krieges eben nicht beugen wollen. Ich rufe
wollten ihn ja ausgeräumt haben — , Ihnen dreimal ihnen zu: In dieser Haltung haben Sie recht. Bleiben
unterstrichen bestätigen, daß ich diese Ihre Meinung Sie dabei. Wir ermuntern sie ausdrücklich dazu.
nicht teile?
Ich will aber auch noch etwas hinzufügen, gerade
Frau Dr. Däubler Gmelin (SPD): Das ist ein klares
-
auch in Anknüpfung an die Diskussion, die sich durch
Wort. Ich füge nur hinzu, Graf Lambsdorff: Dann wer- die letzten spannenden Interventionen entwickelt
den wir unseren Standpunkt noch deutlicher vertre- hat: Auch einige andere Äußerungen dürfen nicht so
ten: Zunächst politisch, und wenn es sein muß, wenn stehenbleiben. Herr Geißler, der Verteidigungsmini-
ster wird in der Grundwertefrage mit der Äußerung
Sie also bei Ihrer Auffassung bleiben, werden wir zum
Bundesverfassungsgericht gehen. zitiert: Frieden sei kein oberster Grundwert.
(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ (Zuruf von der SPD: Unerhört!)
GRÜNE) Ich habe auch Ihr Interview im Deutschlandfunk ge-
Wohin kämen wir denn, wenn irgend jemand anderes hört, Herr Geißler, wo Sie unter Hinweis auf Thomas
als die freigewählte Volksvertretung der Bundesrepu- von Aquin die Auffassung vertreten haben,
blik Deutschland über diese existentiellen Fragen zu
(Zuruf von der CDU/CSU: Freiheit!)
befinden hätte?
(Beifall bei der SPD) lediglich Gerechtigkeit und Freiheit seien oberste
Grundwerte.
Wohin kämen wir denn, wenn wir der Bundesregie-
rung oder gar einem NATO-Offizier dieses oberste Ich frage Sie: Sind Sie heute wirklich noch nicht
Recht einräumen würden? Das ist auch in anderen weiter? Ist denn die Diskussion der vergangenen
Staaten nicht so. Wenn Sie diese Auffassung nicht tei- 15 Jahre wirklich so spurlos an Ihnen vorbeigegan-
len, dann sollten Sie Ihren Blick nach Großbritannien, gen? Diese Verwirrungen dürfen wir doch nicht län-
nach Amerika oder nach Frankreich richten. Dann ger bestehenlassen. Natürlich sind Freiheit und Ge-
würden Sie sehen, was eine parlamentarische Demo- rechtigkeit oberste Grundwerte. Aber, Herr Geißler,
kratie ist. der Frieden ist es auch.
(Beifall bei der SPD — Roth [SPD]: Dehler (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/
würde sich schämen! — Weiterer Zuruf von GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/
der SPD: Feudalist! — Dr. Briefs [PDS/Linke Linke Liste)
Liste]: Pseudoliberaler!) -
Er ist nicht nur, wie Sie gerade eingewandt haben, ein
Vizepräsident Klein: Frau Kollegin, gestatten Sie politischer Zustand. Genau darin liegt der Fehler.
eine weitere Zwischenfrage? Sie können doch gerade heute, wo wir tagtäglich
sehen, was Massenvernichtungsmittel an Menschen,
Frau Dr. Däubler Gmelin (SPD): Ja.
-
an der Natur und an der Umwelt anrichten, nicht mehr
sagen, Friede sei lediglich ein politischer Zustand.
Dr. Graf Lambsdorff (FDP): Frau Däubler-Gmelin, Friede ist selbstverständlich auch ein oberster Grund-
darf ich Sie bitten, zur Kenntnis zu nehmen, daß un- wert.
sere Position auf der Rechtsauffassung beruht, daß
dieses frei gewählte Parlament diese Entscheidung in (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/
den NATO-Rat — die Zustimmung der Bundesregie- GRÜNE)
rung vorbehalten — übertragen hat? Lassen Sie mich dazu noch eines sagen. Zwischen
(Widerspruch bei der SPD — Wiefelspütz obersten Grundwerten mag es Spannungen geben.
[SPD]: Rechtsauskunft einholen!) Völlig richtig. Aber diese Behauptungen, die ans De-
magogische grenzen und mit denen beabsichtigt
Frau Dr. Däubler Gmelin (SPD): Graf Lambsdorff,
- wird, Menschen, die ehrlich und ernsthaft für den
ich darf Sie daran erinnern, daß Sie sich auch im letz- Frieden eintreten, in eine dubiose Ecke zu rücken,
ten Sommer zu anderen juristischen Fragen noch ein (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist nicht
zweites und ein drittes Mal haben beraten lassen. Das wahr!)
hat bisweilen zu sehr guten Ergebnissen geführt.
Darum bitte ich Sie an dieser Stelle ausdrücklich. sollten wir nicht mehr dulden, die sollten wir gemein-
sam ausschließen.
(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/
GRÜNE) (Beifall bei der SPD)
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991 255

Vizepräsident Klein: Frau Kollegin, gestatten Sie so mehr tun, als wir über die Rolle des geeinten
eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Schar- Deutschlands in der Welt nachdenken wollen.
renbroich? Wir sagen ja zu mehr Verantwortung und auch zu
mehr Pflichten. Wir sind übrigens der Meinung, daß
Frau Dr. Däubler Gmelin (SPD): Einen Moment
-
die Friedenswilligkeit und die Friedensbereitschaft
bitte. ein hervorragendes Pfund sind, mit dem wir wuchern
können, gerade wenn es um die neue Rolle der Deut-
— Ich will Sie noch an einen Erfahrungssatz erin- schen geht. Das ist ein viel besserer Ausgangspunkt
nern, der in unserer Geschichte wirklich bitter gelernt als alles das, was jetzt z. B. in englischen Zeitungen zu
werden mußte. Das ist der Erfahrungssatz, daß Frie- lesen ist — und das ist ein Vorwurf gegen uns — , die
den vielleicht nicht alles sein mag, aber ohne Frieden sich nach einer Nation der Blüchers, Moltkes und
alles nichts ist. Ich glaube, dieser Satz stimmt. Rommels zurücksehnen. Ich möchte wirklich einmal
(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ wissen, was unsere europäischen Nachbarn tatsäch-
GRÜNE) lich täten, wenn sich bei uns heute die Menschen am
Bitte schön. militärischen Denken dieser drei Herren ausrichte-
ten.
(Beifall bei der SPD)
Scharrenbroich (CDU/CSU): Frau Kollegin, um es
Nein, wir müssen die Friedenswilligkeit und die Frie-
jetzt zu präzisieren: Sind Sie denn der Auffassung,
daß man auch die Unfreiheit, die Unterwerfung hin- densfähigkeit zum integralen Bestandteil der Rolle
nehmen muß, nur um den Frieden zu bewahren? Das des geeinten Deutschlands in Europa und auch in der
ist genau die Frage nach der Rangordnung. Welt machen.
Ich denke, im Rahmen unserer Verfassungsdiskus-
(Widerspruch bei der SPD)
sion sollten wir uns über eines klar werden: daß man
über eine Beteiligung z. B. deutscher Soldaten an
Frau Dr. Däubler Gmelin (SPD): Ich hätte mir von
-
Friedensmissionen der UNO nur reden kann, wenn
Ihnen etwas mehr an Seriosität gewünscht. Lassen Sie zuvor im Grundgesetz nicht nur der Verzicht auf A-, B-
mich das einfach sagen. und C-Waffen und der Rüstungsexport verankert
sind, sondern wenn wir zuvor auch mit unseren Part-
(Beifall bei der SPD — Scharrenbroich [CDU/
nern in der NATO und mit unseren Freunden in der
CSU]: Nein, das interessiert uns!) Europäischen Gemeinschaft eine Verständigung dar-
— Sie wissen das aus unserer Zusammenarbeit, Herr über erzielt haben, daß sich im Bereich des Rüstungs-
Kollege, wie ich Sie schätze. exportes wirklich etwas ändert, d. h. daß sie mit uns
Wenn ich sage, Freiheit und Gerechtigkeit sind der Meinung sind, daß strenge Begrenzungen und
oberste Grundwerte, aber auch der Frieden ist ober- Gesetze ohne Schlupflöcher gelten müssen.
ster Grundwert, dann kann es natürlich Spannungen (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
geben. Aber das berechtigt niemanden — auch Sie
nicht — zu derart törichten Unterstellungen.
Vizepräsident Klein: Frau Abgeordnete, Ihre Rede-
(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ zeit ist schon ein gutes Stück überschritten.
GRÜNE — Scharrenbroich [CDU/CSU]:
Nein, das ist keine törichte Frage!)
Frau Dr. Däubler Gmelin (SPD): Herr Präsident, darf
Meine Damen und Herren, wir sollten gemeinsam
-
-
ich den einen Satz beenden? — Ich danke Ihnen
über die Menschen froh sein, die ihre Friedensbereit-
sehr.
schaft zum Ausdruck bringen. Sie schaden dem deut-
schen Ansehen nicht, sondern sie nutzen ihm. Ich darf Ich hätte sehr gerne noch etwas zur Verfassungsdis-
wiederholen: Schaden tun dem deutschen Ansehen kussion gesagt. Das ist mir jetzt wegen der spannen-
diejenigen, die die Geschäfte des Todes betrieben den Diskussion zu den anderen Fragen nicht möglich.
haben und weiter betreiben. Aber ich denke, wir werden in den kommenden Jah-
ren Gelegenheit haben, uns darüber noch auseinan-
(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ derzusetzen. Für uns sind diese Fragen wichtig. Wir
GRÜNE) werden sie mit allem Ernst verfolgen.
Schaden tun dem deutschen Ansehen — hier wird es Herzlichen Dank.
für viele, auch in diesem Hause, sehr viel kritischer,
weil näher —, die das gewußt haben und die sie trotz- (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/
dem mit einem Augenzwinkern haben gewähren las- GRÜNE)
sen, weil es politisch oder wirtschaftlich opportun
war. Vizepräsident Klein: Das Wort hat der Abgeordnete
Nachdem es nach dem Skandal mit der Giftgasfa- Geis.
brik in Libyen nicht möglich war, müssen wir die
Situation heute dazu benutzen, die Schlupflöcher zu- Geis (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr ver-
zumachen. ehrten Damen und Herren! Frau Däubler-Gmelin, der
(Beifall bei Abgeordneten der SPD — Frieden ist ein hoher Wert. Darüber brauchen wir uns
Dr. Geißler [CDU/CSU]: Einverstanden!) hier nicht zu streiten. Friede ohne Freiheit ist aber
Wir müssen das Rüstungsexportverbot in unsere Ver kein Friede.
fassung aufnehmen, Herr Geißler. Wir sollten es um (Beifall bei der CDU/CSU)
256 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991

Geis
Deshalb geht es zunächst um die Freiheit; das ist das, Wir stehen aber erst am Anfang dieser Entwicklung.
was Herr Geißler gemeint hat. Es wäre völlig falsch, die zweifellos verständliche Un-
Wir sind stolz auf unser Demonstrationsrecht, wie ruhe, die verständliche Ungeduld unserer Mitbürger
es in unserem Grundgesetz verankert ist. Ich teile in den fünf neuen Bundesländern in diesem Parlament
überhaupt nicht die Meinung, daß wir jetzt empfind- jetzt auch noch zu schüren und anzuheizen. Das wäre
lich darauf reagieren sollten, wenn draußen junge der falsche Weg. Wir müssen um Geduld werben. Es
Menschen für den Frieden demonstrieren. Solange sie wird nicht möglich sein, den Ausgleich der Lebens-
für den Frieden demonstrieren und nicht gegen die verhältnisse nach 40 Jahren Sozialismus in der vorma-
USA, nicht gegen unsere Verbündeten, nicht gegen ligen DDR von heute auf morgen, in wenigen Wochen
das jüdische Volk, solange sie für den Frieden an sich oder Monaten — nicht einmal in wenigen Jahren —
demonstrieren, kann das nur in Ordnung sein. Dar- zu erreichen. Deswegen müssen wir um Geduld wer-
über müssen wir übereinstimmen. ben. Das ist meiner Meinung nach eine der wichtigen
Aufgaben aller verantwortlichen Politiker.
(Unruhe)
Wer — wie Herr Thierse das getan hat — den Neu-
beginn mit solch bitterer Galle, mit einer solchen, bei
Vizepräsident Klein: Herr Abgeordneter, ich darf weitem überzogenen Polemik
Sie einen Moment unterbrechen.
(Zuruf von der CDU/CSU: Arroganz!)
Meine Damen und Herren, es hat sich offenbar teil-
weise herumgesprochen — jetzt sage ich es offiziell —, — und auch mit Arroganz — von vornherein unmög-
daß die sozialdemokratische Fraktion den Antrag auf lich zu machen versucht, handelt nicht im Interesse
namentliche Abstimmung zurückgezogen hat. der Mitbürger und Mitbürgerinnen der neuen fünf
Bundesländer, sondern handelt dem genau entge-
(Frau Jelpke [PDS/Linke Liste]: Und deshalb gen.
manipulieren Sie so herum? Unverschämt
heit!) (Beifall bei der CDU/CSU)
Um so mehr bitte ich die Kolleginnen und Kollegen, Wir müssen mit mehr Vernunft, mit mehr Rationali-
die im Saal sind, den restlichen Ablauf der Debatte tät die großen Schwierigkeiten, die zweifellos vorhan-
noch einigermaßen konzentriert zu verfolgen. den sind und die niemand leugnet, anpacken und ver-
suchen, sie in Ruhe zu lösen.
Ein großes Problem ist auch, wie wir zu gleichen
Geis (CDU/CSU): Frau Däubler-Gmelin, über den
Frieden entscheidet nicht der Bundestag, wie Sie es Lebensverhältnissen im Bereich des Rechts und der
formuliert haben, sondern über Krieg und Frieden Gerichtsbarkeit kommen. Wir haben große Probleme
bei der Angleichung des Rechts. Hier kann man nicht
entscheidet der Aggressor.
mit dem Rasenmäher vorgehen, hier muß differenziert
(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord werden. Ich stimme mit dem Gedanken überein, daß
neten der FDP) wir das Mietrecht staatlich regulieren müssen, so-
Und der Aggressor ist im Golfkonflikt Saddam Nus- lange es zu sehr auf das Einkommen der Familien
sein. Wir haben im Rahmen des Beitrags der freien drückt. Aber es wäre doch ein völlig falscher Weg,
Völker selbstverständlich unseren Beitrag gegen die- wenn wir dadurch jegliche Privatinitiative verhinder-
sen Aggressor zu leisten. Was wären wir für ein Volk, ten, wenn wir verhinderten, daß Privatkapital auch in
wenn wir hier feige zurückstehen würden? Hier müs- den Wohnungsbau in den neuen Ländern strömt.
sen wir unseren Beitrag leisten. Wenn wir ein zu eingeschränktes Mietrecht haben,
(Beifall bei der CDU/CSU) dann werden wir private Investoren abschrecken,
- und
dann landen wir zum Schluß genau dort, wo der Sozia-
lismus aufgehört hat, nämlich bei der Wohnungs-
Vizepräsident Klein: Herr Abgeordneter, gestatten
zwangswirtschaft, und das kann niemand von uns
Sie eine Zwischenfrage der Frau Dr. Götte?
wollen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Geis (CDU/CSU): Lassen Sie mich doch erst einmal
ein paar Ausführungen machen, und kommen Sie
dann zu Ihrer Frage. Vizepräsident Klein: Herr Abgeordneter, das wäre
Wir haben heute eine sehr polemische Rede von jetzt eine gute Stelle für eine Zwischenfrage.
Herrn Abgeordneten Thierse vernommen.
(Widerspruch und Lachen bei der SPD — Geis (CDU/CSU): Bitte schön.
Zuruf von der SPD: Von Herrn Laufs auch!)
Die Bundesregierung hat es sich zum Ziel gesetzt, in Frau Dr. Götte (SPD): Herr Abgeordneter, ich
den kommenden vier Jahren einen Ausgleich der Le- möchte Sie zu Ihren Eingangssätzen etwas fragen.
bensverhältnisse im östlichen und westlichen Teil un- Wie kommt es denn, daß Sie damals bei der Diskus-
seres Vaterlandes zu finden. Frau Däubler-Gmelin, sion über den § 218 eine persönliche Erklärung abge-
wir haben mit Genugtuung Ihre Ausführung vernom- geben haben, daß Sie es vor Ihrem Gewissen nicht
men, daß die Verträge zur deutschen Einheit des letz- verantworten können, daß Abtreibung stattfindet,
ten Jahres vieles auf den Weg gebracht haben; diese weil es dabei um Leben geht
Ausführung steht insoweit im Gegensatz zu den Aus-
führungen des Abgeordneten Thierse. Daß Sie da und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
dort mit Ihrer Kritik ansetzen, ist das gute Recht der — was wir mit Respekt zur Kenntnis genommen ha
Opposition. ben — , während Sie jetzt keine Bedenken zu haben
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991 257

Frau Dr. Götte


scheinen, wenn es um das Leben von Menschen im fassungsgericht 1975 aufgestellt hat, und bei Berück-
Krieg geht? sichtigung dessen, daß diese Fristenregelung noch
(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten weiter geht als die Fristenregelung, die damals zur
des Bündnisses 90/GRÜNE — Zurufe von der Debatte stand, mit unserem Grundgesetz nicht in Ein-
CDU/CSU) klang ist, dürfte für die meisten wohl außer Zweifel
sein. Deshalb ist es unsere Aufgabe, so schnell wie
möglich Sorge dafür zu tragen, daß wir in diesem
Bereich, wo es um eine elementare Frage geht, wo es
Geis (CDU/CSU): Frau Kollegin, ich finde es schon um Freiheit, wo es um Frieden und wo es um Leben
geradezu unbeschreiblich, daß Sie in einer solchen geht, nicht versagen. Es kommt sehr darauf an, daß
eigentlich schon brutalen Weise versuchen, das eine wir mit größerer Rationalität und weniger Emotionen
gegen das andere so maßlos auszuspielen. Das halte dieses Thema diskutieren und versuchen, hoffentlich
ich für unmöglich. mit einer großen Mehrheit, eine gute Regelung zu fin-
(Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von der den, die dem Schutz des noch nicht geborenen Le-
SPD) bens auch tatsächlich dient.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Zu- Ich danke Ihnen.
sammenbruch des sozialistischen Regimes drüben hat (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord
natürlich auch zu einem Zusammenbruch der Ge- neten der FDP)
richtsbarkeit geführt. Es muß unsere Aufgabe sein,
drüben so schnell wie möglich eine funktionierende
Vizepräsident Klein: Das Wort hat Frau Abgeord-
Gerichtsbarkeit aufzubauen. Dazu ist es notwendig,
daß möglichst viele Juristen aus dem westlichen Teil nete Jelpke.
hinüberwechseln. Es kommt entscheidend darauf an,
daß dies in den nächsten Wochen und Monaten ge- Frau Jelpke (PDS/Linke Liste): Meine Damen und
lingt. Herren! Lassen Sie mich zwei Vorbemerkungen ma-
Art. 5 unseres Einigungsvertrags trägt uns auf, daß chen.
wir uns über die Frage Gedanken machen, wo wir Zum einen: Ich finde es unerträglich, mit welcher
unser Grundgesetz ergänzen können. Ich glaube, daß Arroganz hier einige Herren, insbesondere Herr
niemand — jedenfalls nicht der ganz überwiegende Lambsdorff, über die Bevölkerung der ehemaligen
Teil dieses Hauses — daran denkt, nun an eine Total- DDR sprechen, obwohl sie meines Erachtens über-
revision unseres Grundgesetzes zu gehen. Es ist si- haupt keine Ahnung haben von den wirklichen Pro-
cherlich richtig, daß wir da und dort Verbesserungen blemen, die die Menschen aus der ehemaligen DDR
vorzunehmen haben. Aber wir sollten uns dabei im- zur Zeit haben.
mer dessen bewußt sein, daß wir in einer der freiheit- (Beifall bei der PDS/Linke Liste und bei Ab
lichsten Ordnungen leben, die wir je in unserer Ge- geordneten der SPD)
schichte hatten, und Grundlage dieser Ordnung ist Wenn man hier Zwischenrufe wie „Wohngeld" hört,
unser Grundgesetz. Unser Grundgesetz und die darin wenn die Leute hohe Mieten zahlen müssen, und
niedergelegten Wertvorstellungen haben sich in den nicht gleichzeitig gesagt wird, wie hoch das Wohn-
letzten 40 Jahren hervorragend bewährt. Deshalb geld ist, dann muß man einfach sagen: Das ist einfach
kann es letztlich nur um eine Fortschreibung dieser lächerlich.
Wertvorstellungen in die neue Situation hinein ge-
hen. Meine zweite Vorbemerkung: Ich finde es ebenfalls
-
unerträglich, wie hier Demokratie praktiziert wird.
Bei all den großen Fragen, die im Rahmen der Wie- Seit einer Stunde stehe ich vorn auf der Redeliste.
dervereinigung auf uns zukommen, dürfen wir nicht Aber es gibt hier sehr viele eitle Leute, die unbedingt
vergessen, daß wir auch Aufgaben haben, die schon ins Fernsehen müssen — —

lange Zeit ihrer Lösung harren, und da stimme ich mit


Ihnen überein. Es geht zum Beispiel um den Kampf
Vizepräsident Klein: Frau Abgeordnete, ich darf Sie
gegen die organisierte Kriminalität. Dabei geht es
natürlich um das Problem der Gewinnabschöpfung darauf hinweisen: Wenn Sie damit den amtierenden
und um das Problem einer vernünftigen Regelung Präsidenten kritisieren wollen, entziehe ich Ihnen das
betreffend die Geldwäsche. Hier geht es vor allem Wort.
aber darum, daß wir die Ermittlungsmöglichkeiten (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord
verbessern. Es geht um eine praktikable Regelung der neten der FDP)
Rasterfahndung und um einen Einsatz von Polizeibe- Der Präsident setzt die Reihenfolge der Redner fest.
amten als verdeckte Ermittler. Es geht auch darum, Das ist sein souveränes Recht.
daß wir für einen vernünftigen Zeugenschutz sor-
gen.
Frau Jelpke (PDS/Linke Liste): Das mag ja sein.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin (Zuruf von der CDU/CSU: Es ist so!)
gefragt worden, weshalb ich gegen den Einigungs-
vertrag gestimmt habe. Es ist richtig, daß ich dagegen Aber es gibt auch so etwas wie eine parlamentarische
gestimmt habe. Der Einigungsvertrag gibt uns auf, für Absprache. Das ist beispielsweise auch eben deutlich
den § 218 so schnell wie möglich eine mit unserer Ver- geworden, als es hier um die Intervention ging — —

fassung übereinstimmende Regelung zu finden. Daß


die jetzt in der vormaligen DDR bestehende Fristen- Vizepräsident Klein: Bitte beschäftigen Sie sich
regelung nach den Grundsätzen, die das Bundesver nicht weiter mit diesem Gegenstand!
258 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991

Frau Jelpke (PDS/Linke Liste): Das ist für mich alles begrüßt, gerade von den Damen und Herren der Op-
eine Frage der Demokratie. Das ist hier ja wohl gerade position aus der SPD und der Regierungskoalition.
der Tagesordnungspunkt, oder nicht? Über den BRD-Sicherheitsapparat und seine Prak-
(Beifall bei der PDS/Linke Liste — Zuruf von tiken hingegen wurde nicht geredet, im Gegenteil.
der CDU/CSU: Das müssen gerade Sie uns (Büttner [Garbsen] [CDU/CSU]: Wollen Sie
beibringen!) Stasi und BND vergleichen?)
Als eben jemand von der PDS eine Intervention vor- Eilig wurden in der BRD die Gesetze über die Ge-
tragen wollte, wurde auch das abgeblockt. heimdienste verabschiedet, die ihnen die General-
(Bohl [CDU/CSU]: Das ist eine Frechheit!) vollmacht zur Kontrolle der eigenen Bevölkerung er-
— Ich weiß nicht, was daran eine Frechheit ist. teilten. Die Verabschiedung erfolgte ohne nennens-
werte öffentliche Debatte und fast ohne Widerstand,
leider auch aus der SPD nicht. Das ist kein Wunder. In
Vizepräsident Klein: Frau Abgeordnete, ich weise
der BRD hat sich in den letzten 20 Jahren auch mit
Sie ein letztes Mal darauf hin, daß Sie keine Kritik an
Hilfe der Sozialdemokratie ein Sicherheitssapparat
der Amtsführung des Präsidenten zu üben haben.
entwickelt, den man Überwachungsstaat nennen
(Beifall bei der CDU/CSU) könnte.
(Lachen bei der CDU/CSU — Zuruf von der
Frau Jelpke (PDS/Linke Liste): Ich komme zu mei- CDU/CSU: Sie haben nichts dazugelernt!)
nem Beitrag.
Der Polizei wurden immer mehr Befugnisse übertra-
gen. — Hören Sie richtig zu, dann können Sie hinter-
Vizepräsident Klein: Und von der PDS braucht nie-
her auch argumentieren.
mand in diesem Haus — ausgenommen Sie selbst —
Belehrungen über Demokratie hinzunehmen. Die vorbeugende Verbrechensbekämpfung dient
dem Staat und seinen Organen zu weiteren Eingriffen
(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord
in die Rechte der Bürgerinnen.
neten der FDP sowie des Abg. Weiß [Berlin]
[Bündnis 90/GRÜNE])
Vizepräsident Klein: Frau Abgeordnete, Sie haben
Frau Jelpke (PDS/Linke Liste) : Ich glaube, daß das Ihre Redezeit bereits um 16 Sekunden überschritten.
Haus nicht das Recht hat, permanent die PDS in Sa- Wenn Sie vielleicht zu einem Schlußsatz kommen
chen Demokratie zu belehren. wollen.
(Zurufe von der CDU/CSU: Doch! — Weitere
Zurufe von der CDU/CSU: Aufhören!)
Frau Jelpke (PDS/Linke Liste): Es hätte mich ge-
— Ich werde nicht aufhören. freut, wenn Ihnen so etwas auch bei Frau Däubler
(Zuruf von der CDU/CSU: Ihr habt doch den Gmelin eingefallen wäre, die nämlich um etliche Mi-
Saustall angerichtet!) nuten überzogen hat.
Das müssen Sie sich schon gefallen lassen. Ich komme (Lachen bei der CDU/CSU))
aus dem Westen — um das gleich klarzustellen. Das scheint ebenfalls eine Art von Demokratie hier zu
(Zuruf von der CDU/CSU: Noch schlim sein, daß man uns sofort das Wort abschneidet.
mer!)
Ich werde auch Ihre westliche Politik kritisieren. -
Vizepräsident Klein: Frau Abgeordnete, ich ent-
(Unruhe) ziehe Ihnen jetzt das Wort.
Ich fange jetzt mit meinem Beitrag an: In den ersten
(Beifall bei der CDU/CSU — Frau Jelpke
Monaten des Jahres 1990 entstand in der DDR die
[PDS/Linke Liste]: Ja! — Beifall bei der PDS/
demokratische Kultur der Runden Tische. Das sollten
Linke Liste)
Sie sich besonders — —

Ich gebe jedem Redner, wenn er sich in der Schluß


phase befindet, noch 10, 20, auch 30, 40 Sekunden zu.
Vizepräsident Klein: Verzeihung, Frau Abgeord-
Ich habe Sie ganz höflich darauf hingewiesen, daß Sie
nete, darf ich Sie einen Moment unterbrechen. — Ich
die Redezeit bereits überschritten haben und zu
bitte nun allerdings auch die Kollegen, sich mit ihren
einem Schlußsatz kommen möchten. Sie quittieren
Reaktionen so zu verhalten, daß die Kollegin zu Wort
das mit einer unangemessenen Bemerkung.
kommt.
Ich möchte Sie darauf hinweisen, daß wir uns von
(Beifall des Abg. Wiefelspütz [SPD])
dieser Art des Verhaltens im Parlament unsere Ab-
läufe nicht werden diktieren lassen.
Frau Jelpke (PDS/Linke Liste): Das ist sehr nett. Es
(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord
geht also um die Runden Tische: Diese Runden Tische
neten der FDP — Zuruf von der CDU/CSU:
haben scharf die Staatssicherheit, die massenhafte Er-
fassung jeglicher Opposition, die schmutzige Arbeit Prima!)
der V-Leute verurteilt. Das waren die Themen jener Ich möchte, daß man hier geregelt, vernünftig und fair
Zeit. Sie brachten eine Bewegung der Kontrolle des miteinander umgeht. Das bedeutet auch, daß man ein
DDR-Polizeiapparats, der Zerschlagung der Stasi Stück Rücksicht aufeinander nimmt. Wir nehmen im-
und der Offenlegung ihrer Schnüffelpraxis in Gang. mer auf die Minderheiten ein bißchen mehr Rücksicht
Diese Entwicklung wurde in der BRD damals heftig als die Großen aufeinander. Das gehört zu demokrati-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991 259

Vizepräsident Klein
schen Abläufen. Aber Mißbrauch wird auf jeden Fall Darum müssen wir uns jetzt noch einige Jahre hin-
unterbunden. durch gemeinsam bemühen. Das wird auch gesche-
hen. Das kann nicht mit Ankündigungseffekten, mit
(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord
großartigen Zahlen geschehen, von denen man dann
neten der FDP)
eines Tages eingeholt wird — vielleicht ausschließlich
Ich erteile dem Abgeordneten Kleinert das Wort. zu dem Zweck, daß sich die Häme der Opposition dar-
über ergießt, wenn man sich bei Schätzungen über
die Personalzahlen in der Richterschaft oder in der
öffentlichen Verwaltung um 20 % geirrt hat —; viel-
Kleinert (Hannover) (FDP): Herr Präsident! Meine mehr muß man tun, was gerade irgendwie geht.
sehr verehrten Damen! Meine Herren! Vielleicht ge-
lingt es mir, einige Minuten einzusparen, damit dieje- Ich glaube, der neue Bundesjustizminister, den ich
nigen, die es noch nach anderen Interventionen in diesem Hause sehr herzlich begrüße,
drängt, eine zusätzliche Möglichkeit gewinnen. Ich (Heiterkeit)
will den Erwartungshorizont aber nicht zu hoch span-
nen. Denn einiges muß heute noch gesagt werden. hat die Sache schon richtig angefaßt, indem er gesagt
hat, daß er sich einsetzen will und das Äußerste tun
Das leise Pathos ist besonders gefährlich, Herr will, und nicht etwa angefangen hat, hier buchhalte-
Thierse. — Ich sehe ihn jetzt nicht. — Diese leise Art, risch aufzuzählen,
Philosophien vorzutragen und dann ganz unvermittelt
und überraschend materielle Forderungen anzuknüp- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
fen und sich in diesem Durcheinander als besser dar- was im Soli steht, nur damit sich andere in kleinlicher
zustellen als alle anderen, das ist wahrscheinlich nicht Rechenhaftigkeit hinterher daran reiben können.
das, was uns bei den Aufgaben hilft, die vor uns lie-
gen. Frau Däubler-Gmelin hat zu der Sache einige Worte
gesagt und hat gemeint, der Bund sei hier in der
(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten Pflicht, insbesondere — da sind wir uns in der Sache ja
der CDU/CSU) völlig einig — den dringenden Bedarf bei den Gerich-
Wir müssen ganz, ganz sachlich arbeiten. Ich habe ten, aber auch darüber hinaus in der allgemeinen öf-
sehr wohl verstanden, was hier über den spirituellen fentlichen Verwaltung schneller zu befriedigen, als
Gehalt der Politik gesagt worden ist. Wir Liberalen das zur Zeit — zu unserem Bedauern — noch möglich
sind nicht der Meinung, daß die Politik einen spiritu- erscheine, und da müsse sich der Bund auch finanziell
ellen Gehalt braucht. beteiligen. Ich darf dazu sagen, daß es das Land Nord-
rhein-Westfalen gewesen ist, das in den Beratungen
(Lachen bei der SPD) der Justizministerkonferenz aus verfassungsmäßigen
Das ist sehr schön dichterisch gesagt. Ich glaube, all Bedenken heraus gesagt hat, eine solche Mischfinan-
das, was damit wohl an kultureller, philosophischer, zierung in dem Bereich, in dem die Länder für die
moralischer Selbstverwirklichung gemeint ist, ist Sa- Besoldung auch der zu entsendenden Beamten zu-
che des einzelnen Bürgers. Wir haben dafür zu sor- ständig seien, wolle man nicht hinnehmen. Das ist
gen, daß er die Freiheit hat, sich damit selbst zu be- nicht von uns gekommen. Ich bin der Meinung, man
schäftigen. sollte sich gar nicht so sehr am Detail festbeißen.
Wenn geholfen werden muß, dann wäre ich auch be-
(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten
reit, ungewöhnliche Wege zu gehen, auch wenn es
der CDU/CSU)
dem Herrn Bundesfinanzminister pflichtgemäß - nicht
Wir denken aber gar nicht daran, ihm in diese Dinge unbedingt gefallen sollte.
hineinzureden oder uns gar verantwortlich zu fühlen,
auf diesem Wege irgendwelche Ziele aufzustecken, (Beifall des Abg. Wiefelspütz [SPD])
Fahnen zu schwenken, große Worte zu machen, Aber auch wenn ungewöhnliche Wege gegangen
(Lachen bei der SPD) werden, bleibt eines: Die beschworene Solidarität er-
öffnet ein weites Feld der Tätigkeit, auch für viele der
sondern wir wollen uns lieber mit den konkret anste- SPD angehörende Ministerpräsidenten.
henden Fragen beschäftigen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP)
Die Kassen der Länder in der alten Bundesrepublik
Sicher ist allerdings in diesem Zusammenhang auch erfreuen sich nicht zuletzt deshalb zur Zeit eines hef-
eines. Sicher ist, daß die Bürger in den sogenannten tigen Geklingels, weil die Menschen aus den neuen
fünf neuen Ländern — in der früheren DDR — eben Ländern einen Teil ihrer Kaufkraft — zwangsläufig,
nicht in erster Linie an die Verbesserung ihres finan- weil die Dinge noch nicht richtig zurechtgewachsen
ziellen Status, ihrer Vermögens- und Einkommens- sind — in den Westen leiten. Dann muß das eben auch
lage gedacht haben, sondern daß der Drang nach — wie es andere vorher schon gesagt haben — dort-
Freiheit das Wichtigere gewesen ist. hin zurückkommen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Zurufe von der SPD)
Dazu gehört auch der Drang nach Teilhabe an einer Warum soll man Mischfinanzierungen und rechtlich
vernünftigen, an einer geordneten demokratischen bedenkliche Wege in Aussicht nehmen, wenn es auf
Gesellschaft. Von der soll man nicht zuviel verlangen; andere Weise möglich ist?
von der darf man aber jedenfalls verlangen, daß das,
was Sache des Staates ist, ordentlich geregelt wird. (Beifall bei der FDP — Zurufe von der SPD)
260 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991

Kleinert (Hannover)
Wir haben im Zusammenhang mit den Verhandlun- Es gibt dazu eine schöne Geschichte. Die muß ich mir
gen über die Deutsche Einheit und über diese Ver- hier heute leider ersparen. Ich bin auf Nachfrage be-
träge festzustellen gehabt, daß die Administration reit, sie privat mitzuteilen.
dieser Bundesrepublik auf eine besondere Herausfor- (Heiterkeit)
derung in hervorragender Weise reagiert hat, daß hier Die bevorstehende Last gibt jedenfalls schon Veran-
unglaublich schnell ein gewaltiges Stück Arbeit gelei- lassung, an sehr wichtige Dinge zu rühren. Ich kann
stet worden ist. Dafür danken wir. heute nicht mehr tun, als Sie, meine liebe Kolleginnen
Bei der gleichen Gelegenheit müssen wir feststel- und Kollegen, darauf aufmerksam zu machen, daß die
len, daß es selten eine solche Fülle von Regelungen Idee, Gerichte, obere Bundesgerichte seien hervorra-
gegeben hat, über die wir lieber im Parlament ent- gend oder sogar ausschließlich zur Rechtsfortent-
schieden hätten, die wir aber nur im nachhinein nach wicklung berufen, vernünftigen Grundsätzen der Ge-
dem Motto „Vogel, friß oder stirb!" nur im Ganzen waltenteilung widerspricht.
annehmen oder ablehnen konnten. Das ist eine höchst Auf diesen Pfad werden wir uns auch unter einem
unbefriedigende Situation für das Parlament. noch so großen Aktendruck nicht bringen lassen.
(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
der CDU/CSU) Das ist aber nur ein Beispiel.
Wir haben dieses Verfahren wegen der besonderen Vizepräsident Klein: Herr Abgeordneter, ich bitte
Natur der Herausforderung sehend und wollend ge- Sie, zum Schluß zu kommen.
tragen. Aber nun soll es uns auch Veranlassung ge-
ben, die Rolle des Parlaments wieder besonders sorg- Kleinert (Hannover) (FDP): Zum Schluß, Herr Präsi-
fältig zu wahren und darauf zu achten, daß man nicht dent, möchte ich insbesondere an die Adresse der ver-
aus dem völlig falschen Gedanken, man könne dann ehrten und verehrungswürdigen Frau Kollegin
ja so weitermachen, tatsächlich anfängt, so weiter zu Dr. Däubler-Gmelin sagen, daß man nicht immer ver-
machen. suchen sollte — je besser man es kann, um so weni-
(Beifall bei der FDP) ger —, mit rechtlichen Kriterien alle Fragen zu lösen.
Das gilt sowohl für die Fragen von Krieg und Frieden,
Das möchten wir bei dieser Gelegenheit ganz deutlich die politisch entschieden werden müssen und zu de-
klarmachen. Das ist auch genau das, was die Men- nen nun einmal die Rechtslage das, was Sie gesagt
schen im Zusammenhang mit der Einigung von uns haben, leider nicht hergibt, obwohl wir es — das ist
erwarten. eine ganz andere Frage, über die man gemeinsam
sprechen soll — vielleicht gern anders hätten. Das gilt
Natürlich sind wir dafür, daß demonstriert wird. noch viel mehr für alle Versuche, an einem Grundge-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) setz, das sich bewährt hat und das dazu beigetragen
hat, daß wir alle heute in diesem Parlament zusam-
Nach dem Grundgesetz versammelt man sich im übri- mensitzen können,
gen nicht auf der Straße, sondern unter freiem Him- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
mel.
herumzubasteln, um aus dem Grundgesetz etwa ei-
(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der nen Wunschzettel für den Nikolaus zu machen, . . .
CDU/CSU sowie des Abg. Weiß [Berlin] (Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der
[Bündnis 90/GRÜNE]) CDU/CSU) -
Das ist ein sehr schönes Wort und macht deutlich, was
für eine Fülle von Verwirklichung des Bürgers damit Vizepräsident Klein: Herr Abgeordneter!
gemeint ist.
Kleinert (Hannover) (FDP):... statt zu wissen, daß
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) die entscheidenden Fragen in politischer Verantwor-
tung entschieden werden müssen: die Wohnung, die
Wenn dabei die Sache gelegentlich eher über das Ziel Arbeit, der Unterhalt.
hinausschießt, dann nehmen wir das immer noch viel
lieber in Kauf, als daß wir einmal gestatten würden, Vizepräsident Klein: So viel Freude Sie dem Haus
daß es nicht mehr stattfinden kann. mit ihren Ausführungen bereiten, ist Ihre Redezeit
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der aber gewaltig überschritten.
SPD sowie des Abg. Weiß [Berlin] [Bünd
nis 90/GRÜNE]) Kleinert (Hannover) (FDP): Deshalb wollen wir alle
zusammen auf der soliden Basis, die wir vorgefunden
Es ist jetzt einfach nicht mehr möglich, auf eine haben, ganz behutsam weiterarbeiten.
Fülle von Dingen einzugehen, die sich in diesem Zu- Ich danke Ihnen.
sammenhang jeder für sich ausdenkt und bei denen er
die Möglichkeit sieht, alles das durchzusetzen, was er (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
früher in anderen Zeiten nicht durchsetzen konnte,
wie z. B. der Bundesgerichtshof jetzt schon unter der Vizepräsident Klein: Das Wort hat der Abgeordnete
Last stöhnt, die erst in Zukunft eintreffende Akten dort Dr. Riege.
verursachen werden.
Dr. Riege (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! Meine
(Heiterkeit) Damen und Herren! In der Regierungserklärung ist
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991 261

Dr. Riege
das Verfassungsproblem, zu dem sich eben Kollege die Meldung der Medien von heute früh zutrifft, wo-
Kleinert geäußert hat, sehr lakonisch behandelt wor- nach der Kanzleramtsminister erklärt habe, die Fest-
den. Einige Änderungen des Grundgesetzes werden stellung des Bündnisfalles — und damit die Entschei-
für möglich und sinnvoll gehalten. Das ist, finde ich, dung über Krieg und Frieden — sei allein Sache der
eine Absage an die vielfach erhobene Forderung, daß Regierung, und das Parlament sei davon lediglich zu
sich der neue Souverän nach der Bildung des gesamt- unterrichten, dann ist die Dringlichkeit dieses Gegen-
deutschen Staates seine Verfassung gibt. standes offensichtlich;
Die Position der Bundesregierung hat ihre Logik: siebtens, weiterführende Regelungen zum Frie-
Der Eingliederung, der DDR in die Bundesrepublik densgebot des Grundgesetzes dürfen nicht dazu füh-
entspricht der Standpunkt, daß die Verfassung der ren, daß die verfassungsrechtlichen Wege für den Ein-
Bundesrepublik allenfalls einigen Änderungen unter- satz deutscher Truppen im Ausland geöffnet wer-
zogen werden soll. Insofern wird die Bildung des deut- den;
schen Gesamtstaates etwa den Gründen gleichge- achtens in einer Änderung der Staatsangehörig-
stellt, die zu den bisherigen rund drei Dutzend Grund- keitskonzeption; es darf nicht sein, daß in der Verfas-
gesetzänderungen geführt haben. Das ist nicht akzep- sung so, wie das in Art. 116 der Fall ist, das Deutsche
tabel. Reich in den Grenzen von 1937 fortlebt; der europäi-
sche Frieden braucht auch in dieser Hinsicht einen
Die Übergangsphase, für die das Grundgesetz kon- Schlußstrich unter den Zweiten Weltkrieg.
zipiert worden ist, hat ihren Abschluß gefunden. Nun
muß werden, was im Grundgesetz selbst vorgesehen All das ist auch für die Verfassungen der neuen
ist, nämlich eine Verfassung, die vom gesamten deut- Bundesländer wichtig. Diese werden nur dann in der
schen Volk legitimiert ist. Das gehört zu dem Weg, Bevölkerung lebendig sein, wenn sie aus deren Erfah-
auf dem das vereinte Deutschland zum wirklichen rungen und Wollen erwachsen. Wird, wie erkennbar,
Staat der Deutschen in West und Ost wird. jede neue Idee für den Verfassungsinhalt mit dem
Hinweis darauf getötet, daß sie dem Grundgesetz in
Das ist etwas anderes, als den Geltungsbereich des seiner geltenden Form nicht entspreche, geht vom
Grundgesetzes auf Gebiet und Menschen der neuen Grundgesetz neben unzweifelhaft positiven Wirkun-
Bundesländer auszudehnen. Vor allem ist das mehr gen auch ein deutlich restriktiver Einfluß aus. Wir hät-
als eine Fachfrage von Juristen und Beamten. Weil es ten es mit einer Variante des Überstülpens der in den
um Lebensverhältnisse der Bürger und Bürgerinnen, Alt-Ländern gewordenen Ordnung auf die in anderer
um ihre sozialen Belange, um ihre Teilhabe am demo- Weise gewachsenen Verhältnisse in den Neu-Län-
kratischen Prozeß und um den Ausdruck ihrer Erfah- dern zu tun.
rungen geht, deshalb plädieren wir für eine breitest
mögliche öffentliche demokratische Erörterung der Vizepräsident Klein: Herr Abgeordneter, Sie hatten
Verfassung und für deren Autorisierung durch den ursprünglich drei Minuten Redezeit. Sie haben inzwi-
Entscheid der Bürger selbst. schen fünf Minuten geredet. Ich bitte Sie, jetzt zu
Worin sehen wir die Hauptfelder einer Verfassungs- schließen.
diskussion? —
Erstens in der Ergänzung des beachtlichen Katalogs Dr. Riege (PDS/Linke Liste): Letzter Satz — danke
der politischen und persönlichen Grundrechte durch schön, Herr Präsident — : Das ist um so mehr auszu-
sozialökonomische und kulturelle Grundrechte ein- schließen, als das Grundgesetz selbst im Einigungs-
schließlich geeigneter — also nicht nur juristische und vertrag als — wenn auch in bescheidenem Maße —
veränderungsbedürftig angesehen wird. -
justizförmige — Gewährleistungsformen; von welch
existentieller Bedeutung Arbeit, Wohnen und gleiche Danke.
Bildungschancen für Millionen von Bürgern sind, muß (Beifall bei der PDS/Linke Liste und bei Ab
hier nicht begründet werden; geordneten des Bündnisses 90/GRÜNE)
zweitens in der Ergänzung der Repräsentativde-
mokratie durch Formen der unmittelbaren Demokra- Vizepräsident Klein: Das Wort hat der Abgeordnete
tie, die dem Grundgesetz bislang nahezu fremd sind; Bohl.
heute wurde die Demokratie der Straße als gleichsam
systemgefährdend hingestellt; daß das Volk seine Bohl (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr ver-
Souveränität nur über Repräsentanten ausüben dürfe, ehrten Damen und Herren! Es ist, glaube ich, klar, daß
darf nicht Funktionsprinzip der politischen Ordnung zum Schluß dieser Debatte noch einmal auf die Frage
dieses Landes sein; der Grundsatz der Volkssouverä- der Demonstrationen, die uns ja auch in dieser De-
nität wäre zur bloßen Bekenntnisformel verküm- batte sehr häufig begleitet hat, eingegangen wird.
mert; Ich möchte gerne sagen, daß unter den Demon-
drittens in der Anerkennung von Bürgerbewegun- stranten, wo auch immer, sicherlich sehr viele Men-
gen; schen waren, die diese Frage außerordentlich bewegt.
Aber es ist sicherlich genauso richtig und notwendig,
viertens im Ausbau der Stellung und der Mitwir-
darauf hinzuweisen, daß es bei uns und meiner Frak-
kungsrechte der Länder im föderativen Gefüge;
tion ein hohes Maß an Irritation über bestimmte Be-
fünftens in der Aufnahme sozial und ökologisch gleitumstände und insbesondere über die Aussagen
orientierter Staatszielbestimmungen; mancher Organisatoren und Initiatoren dieser De-
sechstens im Verhältnis der parlamentarischen monstrationen gegeben hat.
Körperschaften zu den exekutiven Organen; wenn (Zuruf von der SPD: Und umgekehrt!)
262 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7, Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991

Bohl
Das gilt z. B. auch für die große Demonstration am aber die Selbstgerechtigkeit, die Sie an den Tag le-
vergangenen Wochenende, an der sich ja auch die gen, stört mich in der Tat.
SPD beteiligt hat.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —
(Opel [SPD]: Und der RCDS!) Gansel [SPD]: Das sagen ausgerechnet
Wenn Sie dort von der Aggression der USA sprechen Sie!)
und die Tatsache, daß das Ganze am 2. August begon- Ich möchte jetzt eigentlich Herrn Wischnewski
nen wurde, nicht ansprechen, müssen Sie schon ver- nicht ansprechen; aber mich stört schon folgendes:
stehen, daß das bei uns sehr viele Fragen an Ihre Als wir in dieser Koalition der Auffassung waren, daß
Glaubwürdigkeit in dieser Frage aufwirft. der Zivilschutz eine wichtige Sache sei, wurden wir
(Beifall bei der CDU/CSU) von Ihnen als Kriegstreiber diffamiert. Aber im Hin-
blick auf die Unterstützung, die wir bei dem Bau eines
Wieso blieb eigentlich bei dieser Großdemonstra- atomsicheren Bunkers zur Kenntnis haben nehmen
tion die Forderung an Saddam Hussein, Kuwait frei- müssen, wird Ihrerseits nun einfach zur Tagesord-
zugeben, die auch erhoben wurde, nahezu ohne Reso- nung übergegangen. Das ist doch ein sehr, sehr komi-
nanz, während die Aufforderung an die UNO-Trup- sches und merkwürdig berührendes Verständnis von
pen, ihre Aktion einzustellen, tosenden Beifall fand? Solidarität, das Sie an den Tag legen.
(Gilges [SPD]: Das stimmt doch überhaupt
(Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Geißler
nicht! — Gansel [SPD]: Sie waren doch gar
[CDU/CSU]: Die haben sogar U-Boote an Pi
nicht da! — Weitere Zurufe von der SPD)
nochet geliefert!)
Das ist, glaube ich, eine Frage, die sich doch berech-
tigterweise stellt. — Sehen Sie!

Auch ist zu fragen, welche Glaubwürdigkeit man (Gansel [SPD]: Das hat die CDU gemacht!)
dem beimessen soll, wenn dort eine Frau aus Israel Ich möchte in diesem Zusammenhang vorlesen, was
auftritt, die dem stalinistischen Flügel der kommuni- Herr Lahnstein vor kurzem gesagt hat.
stischen Partei Israels angehörte, die jahrelang gegen
ihr eigenes Land agitierte und die Greueltaten wäh- (Abg. Müller [Pleisweiler] [SPD] meldet sich
rend der stalinistisch-kommunistischen Herrschaft in zu einer Zwischenfrage)
Osteuropa geflissentlich übersah. — Ich möchte keine Zwischenfrage zulassen; ich habe
Ich glaube schon, daß diese Fragen in diesem Hause nur noch wenig Redezeit, Herr Müller. — Herr Lahn-
gestellt werden sollten und daß Sie eine Antwort dar- stein schrieb vor kurzen:
auf zu geben haben.
Die Sozialdemokratie läuft Gefahr, ihre Maßstäbe
(Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von der zu verlieren. Emotionalität ersetzt die gründliche
SPD) Abwägung, idealistische Weltflucht ersetzt die
Meine Damen und Herren, ich meine auch, daß Einsicht in geschichtliche Zusammenhänge.
nicht unwidersprochen bleiben kann, was gestern ins- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
besondere Herr Kollege Gansel in seinem Beitrag ge-
sagt hat. Es ist auch hier mehrfach klar zum Ausdruck Dabei könnten wir alle bei Friedrich Ebert und
gekommen, daß alle Bundesregierungen seit 1961 Gustav Radbruch, Fritz Erler und Ernst Reuter,
keine Genehmigungen für Kriegswaffenexporte in Helmut Schmidt und Willy Brandt nachlesen, wie
den Irak gegeben haben. Warum sollte eigentlich -
es um das Eintreten für alle Grundwerte, wie es
diese Gemeinsamkeit, die uns doch eigentlich verbin- um unsere besondere geschichtliche Verantwor-
den müßte, hier unter den Teppich gekehrt werden? tung, wie es um die unauflöslichen Zusammen-
hänge zwischen Freiheit, Gerechtigkeit und Frie-
Ich möchte Sie auffordern, zu der Frage Stellung zu
den bestellt ist. Statt dessen wird der wohlfeile
nehmen, wieso die Genehmigungen für Rüstungsgü-
Begriff von der „Betroffenheit" herumgereicht,
ter, die es in der Tat gegeben hat, insbesondere in den
der für einen Politiker doch oft nichts anderes ist
70er Jahren, von Ihrer Regierung, zuletzt im Frühjahr
als das Synonym für Feigheit.
1982, hier von Ihnen nicht erwähnt werden.
Ich habe dem nichts hinzuzufügen.
(Zurufe von der CDU/CSU: So, so!)
Ich möchte Sie fragen, mit welcher Berechtigung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —
Sie gegen das Außenwirtschaftsrecht, das hier eine Zuruf von der CDU/CSU: Die SPD ist nur am
Rolle spielt, zu Felde ziehen, wenn unter der Verant- Lavieren!)
wortung des Justizministers Hans-Jochen Vogel im Frau Kollegin Matthäus-Maier hat hier bemängelt,
Jahre 1976 die bis dahin bestehende Strafbewehrung daß wir nicht sparen und daß weitere Steuern erhoben
in einen Ordnungswidrigkeitentatbestand umgewan- werden. — In diesem Zusammenhang bin sich sehr
delt wurde. dankbar für die Einlassungen vom Oppositionsführer
(Zurufe von der CDU/CSU: Oho! — Erstaun Vogel, der den Kampfbegriff der Kriegssteuer wegge-
lich!) nommen hat. Das ist auch gut so; denn es handelt sich
um eine Solidaritätssteuer, und dazu stehen wir
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist
auch.
der Sachverhalt. Ich hätte keine Veranlassung gese-
hen, Ihnen das nun im einzelnen vorzuhalten, weil ich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —
finde, daß wir das gemeinsam aufarbeiten sollten, Lachen bei der SPD)
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991 263

Bohl
— Jawohl, sie ist eine Notwendigkeit, um sich für das gegen Sie durchsetzen. Wer hat recht behalten? Wir
Völkerrecht, für Frieden und Gerechtigkeit in der haben mit unserer Politik recht behalten.
Golfregion und in Osteuropa einzusetzen. (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord
(Dr. Heuer [PDS/Linke Liste]: Ist denn „Frei neten der FDP)
heit" kein Kampfbegriff?) Wie sah es in der Deutschlandpolitik aus? Wir ha-
Frau Matthäus-Maier hat aber gemeint, wir könn- ben gegen Ihre innere Überzeugung von Anfang an
ten nicht sparen. Das aus ihrem Munde zu hören, auf die Einheit gesetzt, wir haben kein gemeinsames
überrascht schon sehr. Ich habe einmal nachgelesen Papier mit der SED verabschiedet. Wir haben recht
und folgendes erfahren: In den letzten vier Jahren hat behalten.
die SPD allein 48 Steuern und Abgaben gefordert (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord
— das ist die Wirklichkeit — , darunter Produktsteuer, neten der FDP)
Spekulationssteuer, Ausbildungsplatzabgabe, Entgif- So bin ich ganz sicher, daß wir auch in der jetzigen
tungssteuer, Grundwasserabgabe, Herausforderung als Koalition von CDU/CSU und
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) FDP recht behalten werden. Nicht die Miesmacher,
die Angstmacher, die Neid zeugen, werden recht ha-
Abwasserabgabe, Schwefelabgabe, Pestizidsteuer, ben, sondern diejenigen, die sich verantwortungsbe-
Stickstoffabgabe, Lärmabgabe, Abfallabgabe, Altöl- wußt den Problemen stellen und für die Menschen
abgabe, Rohstoffsteuer, Verpackungsabgabe, Wald- sorgen. Das ist diese Koalition.
pfennig, Erzeugerabgabe in der Landwirtschaft, Erhö-
hung der Strom- und Wassertarife, Abgabe der Mas- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
sentierhaltung, Sondermüllabgabe, „Benzinsauf- Ich glaube, daß wir bei allen Problemen, die vor uns
steuer ". liegen, die nicht zu verniedlichen sind, eine gute
Chance haben, die Einigung Europas voranzutreiben,
(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP) einen wichtigen Beitrag für den Frieden auch in der
Es ist fürchterlich, was man hier im einzelnen vorlesen Golfregion zu leisten. Ich sehe es in diesem Zusam-
muß. Meine sehr verehrten Damen und Herren, eher menhang durchaus als hoffnungsvolles Zeichen an,
fliegt doch eine Elster an funkelndem Klunker vorbei, daß ich allen, die das kritisch sehen, zurufen möchte,
als daß die SPD Abgaben und Steuern ausläßt. Das ist daß es eigentlich erstmals in der Geschichte der
doch die Wirklichkeit. Menschheit diese Gemeinsamkeit der freien Völker,
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und dieser Gemeinsamkeit der Völker in den Vereinten
der FDP) Nationen gegeben hat im Nein zu dem Bösen und in
der Umsetzung dieser Überzeugung in eine aktive
Bei allem Streitigen hat es in dieser Debatte sicher- und klare Politik. Das ist auch eine Grundlage, die uns
lich auch viel Gemeinsames gegeben; dafür sind wir sicherlich in die Lage versetzen wird, die Probleme
auch dankbar. Ich glaube, daß wir auch die sehr ein- des ausgehenden Jahrhunderts zu lösen.
drucksvollen Beiträge von Ministerpräsident Bieden- Die Regierungserklärung des Bundeskanzlers und
kopf und Minister Kühbacher aus Brandenburg hier die Aussprache dazu machen nach meiner festen
mit aufnehmen sollten. Eine Debatte soll auch dazu Überzeugung deutlich, daß wir ein klares Konzept
beitragen, daß wir voneinander lernen und uns besser dafür haben, den Aufschwung und den Aufbau in den
verstehen. neuen Bundesländern zu bewerkstelligen, daß wir in
Ich glaube, die Erkenntnis ist wichtig, daß wir die der Lage sein werden, die innere Einheit in unserem
großen Probleme, die wir ohne Zweifel im vereinten Lande weiter voranzutreiben, und daß wir als- geach-
Deutschland vor uns haben, gemeinsam bestreiten tetes Glied in der Gemeinschaft der freien Völker mit
und lösen müssen. Dazu sind Bund, Länder und Ge- dazu beitragen werden, daß Europa eine friedliche
meinden und sicherlich auch alle Fraktionen dieses Zukunft haben wird und daß in der Welt Frieden und
Hauses eingeladen und gefordert. Gerechtigkeit eingekehrt.
Ich meine auch — ohne damit schönreden zu wol- Vielen Dank.
len — , daß wir die gemeinsame Verpflichtung haben, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
den Menschen in den neuen Bundesländern diese
Perspektive verantwortungsbewußt und realistisch zu
vermitteln. Es ist deshalb auch verantwortungslos, so- Vizepräsident Klein: Meine Damen und Herren, ich
zusagen nur die noch nicht gelösten Probleme in den schließe die Aussprache.
Vordergrund zu stellen, immer nur die negativen Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Ent-
Dinge nach vorne zu bringen. Man muß eine realisti- schließungsanträge. Wir stimmen zunächst über den
sche Perspektive vermitteln, damit die Menschen Entschließungsantrag der SPD auf Drucksache 12/40
Hoffnung haben, damit sie wissen, daß sie sich auf uns ab. Wer stimmt dafür? — Gegenprobe! — Enthaltun-
hier im Bundestag, auf diese Koalition, verlassen kön- gen? — Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
nen, damit wir den wirtschaftlichen Aufschwung in Wir stimmen ab über den Entschließungsantrag der
den neuen Ländern erreichen. Fraktion der SPD auf Drucksache 12/60 (neu). Um
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) eine Korrektur zu erläutern, hat der Abgeordnete
Müller (Pleisweiler) das Wort.
Meine Damen und Herren, diese Regierung und
diese Koalition haben doch in den großen Fragen der
deutschen Politik in den letzten Jahren immer recht Müller (Pleisweiler) (SPD): Herr Präsident! Liebe
behalten. In der Nachrüstungsdebatte mußten wir uns Kolleginnen und Kollegen! Durch die Korrektur auf
264 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991

Müller (Pleisweiler)
dem Antrag, zweiter Absatz, hat sich ein Schreibfehler FDP und, soweit ich sehen konnte, bei einer Enthal-
eingeschlichen. Da muß es heißen: ,,... zu welcher tung aus der CDU/CSU-Fraktion abgelehnt.
Zeit — z. B. durch gezielte Informationen befreunde- (Zuruf von der SPD: Wir unterhalten uns in
ter Nachrichtendienste — ...". den Wahlkreisen weiter!)
Aber ich wollte auch noch zur Sache etwas sagen, Wir stimmen jetzt über den Entschließungsantrag
Herr Präsident. Wir fordern einen Bericht über die der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/63 ab. Darf
Beteiligung deutscher Unternehmen an der Aufrü- ich um das Handzeichen bitten, wer dafür ist. — Ge-
stung des Irak, und wir verlangen Aufschluß darüber, genprobe! — Enthaltungen?
was staatliche Stellen gewußt haben und was die Bun-
(Dr. Solms [FDP]: Das ist der Schandantrag
desregierung zur Verhinderung dieser Aufrüstung
der SPD!)
des Irak getan hat. Diese völlige Aufdeckung ist auch
wichtig für die parlamentarische Beratung der jetzt —Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalition gegen
anstehenden Verschärfung der Gesetze. Wir haben die Stimmen der Opposition abgelehnt.
gute Erfahrungen gemacht. Ich möchte Sie daran erin- Wir kommen jetzt zu dem Entschließungsantrag der
nern, daß wir hier vor zwei Jahren, nämlich am 18. Ja- Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache
nuar 1989, gemeinsam beschlossen haben, einen Be- 12/64. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag?
richt über die Lieferungen nach Libyen anzufor- — Gegenprobe! — Enthaltungen? — der Entschlie-
dern. ßungsantrag ist mit den Stimmen der Koalition gegen
die Stimmen der Opposition bei einer Enthaltung an-
genommen.
Vizepräsident Klein: Herr Kollege Müller (Pleiswei-
Der Kollege Dr. Ullmann möchte dazu eine Erklä-
ler), ich glaube, das Korrekturbegehren ist verstanden
rung abgeben.
worden. Wir sollten jetzt nicht noch eine Erörterung
der Sache vornehmen.
Dr. Ullmann (Bündnis 90/GRÜNE): Ich möchte hier-
mit erklären, warum ich gegen den Entschließungsan-
Müller (Pleisweiler) (SPD): Herr Präsident, ich trag der Fraktion der CDU/CSU und FDP gestimmt
möchte doch ein paar Worte dazu sagen. Sie können habe.
es auch als Kurzintervention betrachten.
Der Entschließungsantrag enthält eine Reihe von
Herr Bohl hat einen wichtigen Punkt aufgegriffen — Feststellungen, die ich durchaus bejahe. Er enthält
es tauchte hier ebenso wie in der Regierungserklä- aber auch eine Reihe von Darstellungen, die ich als
rung des Herrn Bundeskanzlers auf — , nämlich die Legitimation der Kriegsführung betrachten muß.
versteckte Drohung —
(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE sowie bei

Abgeordneten der SPD und der PDS/Linke


Vizepräsident Klein: Entschuldigung, wir sind in der Liste)
Abstimmung. Sie können nicht die Debatte neu eröff- Kriegsführung, die einen Legitimationsbedarf hat, ist
nen. in meinen Augen aber nicht legitim.
(Beifall bei der CDU/CSU) Ferner halte ich die auf Seite 4 unter den Spiegel-
strichen gemachten Vorschläge zwar für vernünftig,
sie weisen allerdings einen Mangel auf, und zwar
Müller (Pleisweiler) (SPD): Ich spreche von der ver- erstens, weil Ihre Fraktion soeben gegen die nötige
steckten Drohung, daß man es nicht aufdecken will, Kontrolle gestimmt hat, -
weil angeblich früher auch Waffenlieferungen statt- (Dr. Göhner [CDU/CSU]: Letzter Spiegel
gefunden haben. Wir möchten Aufklärung über Waf- strich!)
fenlieferungen seit Beginn des irakisch-iranischen
Krieges. und zweitens, weil die wichtigste Tatsache unter den
Vorschlägen fehlt, nämlich die, daß es sich hier um
(Beifall bei der SPD) Waffen handelt. Waffenhandel aber ist nicht auf natio-
naler Ebene zu beseitigen. Wenn ich diese Strafvor-
schriften sehe, dann weiß ich schon, wie man sie um-
Vizepräsident Klein: Herr Kollege Müller, Sie haben
gehen kann.
das Wort zur Begründung einer Korrektur erhalten.
(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei
Wir stimmen jetzt über den Entschließungsantrag
Abgeordneten der SPD)
der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/60 (neu) ab,
und zwar mit der vom Kollegen Müller (Pleisweiler)
begründeten Korrektur. Wer stimmt für diesen An- Vizepräsident Klein: Herr Gansel hat das Wort zu
trag? — Gegenprobe! einer Erklärung zur Abstimmung über die Drucksa-
(Zurufe von der SPD [zur CDU/CSU]: Pfui! — che 60 (neu). Ist das richtig?
Unerhört! — Roth [SPD]: Sie wollen keine
Aufklärung? — Dr. Briefs [PDS/Linke Liste]: Gansel (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und
Hier gibt es wohl eine Menge zu verbergen! Herren! Ich möchte eine Erklärung zur Abstimmung
Da sieht man, wer Dreck am Stecken hat!) abgeben. Das kann ich nur persönlich machen, auch
— Enthaltungen? — Der Antrag ist mit der Mehrheit wenn dies die Meinung aller Kollegen und Kollegin-
der Stimmen der Koalitionsparteien gegen die Stim nen der SPD-Fraktion ist. So bestimmt es die Ge-
men der Opposition bei einigen Enthaltungen bei der schäftsordnung.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991 265

Gansel
Im Anschluß an die Rabta-Affäre, bei der es um den rung auf, lückenlos über die Erkenntnisse über ille-
Bau einer Giftgasfabrik in Libyen ging, an der sich gale Rüstungsexporte in den Irak zu berichten" —,
Deutsche beteiligt hatten, haben wir hier im Bundes- (Frau Jelpke [PDS/Linke Liste]: Nicht nur
tag einen Bericht der Bundesregierung erhalten, der über die illegalen!)
nicht nur sehr zur Aufklärung des Sachverhalts beige-
tragen hat, sondern der auch Grundlage für die nach- über den hier in Rede stehenden Problemkomplex
folgende Gesetzgebung war. Das Giftgas, das in Li- eine lückenlose Information geben werde. Die Bun-
byen produziert worden ist, ist noch nicht zum Einsatz desregierung hat nicht den geringsten Anlaß, die vom
gekommen. Aber die Raketen, die im Irak unter Betei- Parlament geäußerten Petita zurückzuweisen. Wir
ligung deutscher Firmen gebaut worden sind, sind werden Ihnen den gewünschten lückenlosen Bericht
schon eingesetzt worden. Sie können möglicherweise geben.
auch mit Giftgas eingesetzt werden, an dessen Her- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
stellung Deutsche mitgewirkt haben. Die besondere
Problematik, die politische Explosivität — im übertra-
genen Sinne — gebietet es, daß sich der Bundestag Vizepräsident Klein: Zu einer weiteren Erklärung
bei der Aufklärung dieses Sachverhalts nicht weniger zur Abstimmung Graf Lambsdorff.
Mühe macht als bei der Aufklärung der Rabta-Af-
färe.
(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ Dr. Graf Lambsdorff (FDP): Herr Präsident! Für die
GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/ FDP begrüße ich die Erklärung, die der Bundeswirt-
Linke Liste) schaftsminister eben abgegeben hat. Ich möchte Ih-
Deshalb, meine Damen und Herren, habe ich an der nen, Herr Gansel, sagen, wenn Sie einen Beschluß
Formulierung eines Antrags mitgewirkt, der so sach- formuliert hätten, der nicht schon inzidenter Verdacht
lich ist und so sehr auf Sachinformation abgestellt ist, geäußert hätte, dann sähe es anders aus. Sie sagen in
daß es eigentlich keinen Grund geben dürfte, ihn ab- Ihrem Entschließungsantrag:
zulehnen. Wir haben diesen Antrag auch gestellt, da- Der Bericht soll außerdem Aufschluß darüber ge-
mit von vornherein nicht als einzige Alternative nur ben, welche Stellen ... der Bundesregierung . . .
ein Untersuchungsausschuß bleibt. Deshalb bitte ich von einer möglichen Beteiligung ... informiert
darum — damit darf ich meine Erklärung abschließen, gewesen sind.
Herr Präsident — , daß die Regierungsparteien unse-
ren Antrag in der Zeit nach der heutigen Debatte, Hätten Sie geschrieben „ob und gegebenenfalls wel-
nachdem man über ihn vielleicht noch einmal kühler che", wäre unsere Haltung wohl anders.
nachdenken kann, nochmal bedenken. Wenn die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Bundesregierung so verfährt, wie wir beantragt ha- Das macht einen Unterschied.
ben, dann können wir einen großen Schritt vorwärts
kommen, auch wenn es keinen förmlichen Beschluß Genauso geht es weiter:
gibt. Legt die Bundesregierung dem Bundestag die- Die Bundesregierung soll auch Bericht erstatten,
sen Bericht aber nicht vor, dann wird ein Untersu- inwieweit die Bundesregierung ... die Mitwir-
chungsausschuß unausweichlich sein. Ich bitte Sie, kung genehmigt
sich das zu überlegen. hat. Hätten Sie gefragt „ob und gegebenenfalls inwie-
(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ weit", sähe es jetzt anders aus.
GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/ Sie unterstellen in dieser Formulierung, daß- sich die
Linke Liste) Bundesregierung bereits in Ihrem Sinne unverant-
Es geht darum, durch eine Untersuchung zu errei- wortlich verhalten habe. Dem kann die FDP-Fraktion
chen, daß sich die Bedrohung Israels auf eine so in der Tat nicht zustimmen.
schreckliche Art und Weise, wie wir sie in diesen Ta-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
gen erleben, die uns so bedrückt und die viele von uns
so sehr mit Scham erfüllt, nie mehr wiederholt, und
zwar erst recht dann nicht, wenn daran Deutsche und
deutsche Firmen beteiligt sind. — Ich danke Ihnen. Vizepräsident Klein: Meine Damen und Herren, ich
rufe den Zusatztagesordnungspunkt auf:
(Beifall bei der SPD — Dr. Geißler [CDU/
CSU]: Dem stimmen wir doch zu!) Erste Beratung des von den Fraktionen der
CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs ei-
nes Gesetzes zur Änderung der Beitragssätze
Vizepräsident Klein: Zu einer weiteren Erklärung in der gesetzlichen Rentenversicherung und
zur Abstimmung hat das Wort Herr Abgeordneter bei der Bundesanstalt für Arbeit
Möllemann. — Drucksache 12/56
—Überweisungsvorschlag:
Möllemann (FDP) : Herr Präsident! Meine Kollegin- Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend)
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
nen und Kollegen! Ich möchte Ihnen hier verbindlich
zusichern, daß ich Ihnen, wie soeben entsprechend Meine Damen und Herren, nach einer interfraktio-
der Seite 3 des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU nellen Vereinbarung ist für die Beratung eine Stunde
und der FDP beschlossen — dort heißt es nämlich: vorgesehen. — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist
„Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregie es so beschlossen.
266 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991

Vizepräsident Klein
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem pensiert werden müsse. Es besteht also überhaupt
Bundesminister für Wirtschaft und Soziales. kein Grund, in diesem Vorgang etwas Außergewöhn-
(Zurufe von der CDU/CSU, der FDP und der liches zu sehen. Die Opposition hat den Vorschlag
SPD) schon vor Jahresfrist vorgelegt. Wir haben die Ent-
wicklung noch etwas abgewartet. Die Rücklage ist
— Für Arbeit und Soziales. inzwischen noch besser geworden. Deshalb schließe
ich mich der Begründung des SPD-Vorschlags an, die
damals lautete — ich zitiere aus dem Vorschlag der
Dr. Blüm, Bundesminister für Arbeit und Sozialord- Opposition — :
nung: Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Weil Arbeit der wichtigste Faktor der Wirtschaft ist, Die momentan nicht benötigten Finanzmittel in
empfinde ich das als ein Kompliment für das Ministe- der Rentenkasse gehören nicht dem Staat, son-
rium für Arbeit und Soziales. dern den Beitragszahlern, die sie angesammelt
haben.
(Gansel [SPD]: Norbert, lieber in der Wirt
schaft als bei der Arbeit!) (Beifall bei der CDU/CSU)
— Wenn es noch weitere Vorschläge der SPD gibt, Wenn zwei das gleiche tun, bleibt es, wie ich hoffe,
bitte ich sie alle zu Protokoll zu nehmen. auch das gleiche.
Meine Damen und Herren, die Rentenversicherung (Andres [SPD]: Das klären wir gleich!)
und die Arbeitslosenversicherung sind eigenständige Auch die Rentenversicherungsträger haben übrigens
Sozialversicherungen. Deshalb gibt es auch getrennte schon damals die Möglichkeit der Beitragssenkung
Kassen, also die Rentenkasse und die Arbeitslosen- nicht nur akzeptiert, sondern als im System enthalten
versicherungskasse, und deshalb muß es auch unter- angesehen.
schiedliche Antworten auf unterschiedliche Finanzla-
gen geben. Ich erkläre nachdrücklich, um für die Rentner alle
Mißverständnisse zu beseitigen: Die Höhe des Bei-
In der Rentenversicherung haben wir die erfreuli- tragssatzes entscheidet überhaubt nicht über die An-
che Tatsache großer Überschüsse. Das ist das Ergeb- sprüche auf die Rente. Wenn wir die Beiträge senken,
nis einer guten Konjunktur in Westdeutschland. Das heißt das nicht, daß wir die Renten senken. Man muß
ist auch das Ergebnis der deutschen Einheit, durch die wegen mancher Verunglimpfungen und mancher
in Westdeutschland die Konjunktur einen wichtigen Angstkampagnen diese große Selbstverständlichkeit
Schub bekam. Das ist ferner das Ergebnis unserer soli- hier noch einmal betonen. Es geht lediglich um die
den Rentenpolitik. Rücklagen. Die Rücklagen sind dank unserer soliden
(Beifall bei der CDU/CSU) Rentenpolitik so hoch wie noch nie. Deshalb geben
Die Überschüsse weisen eine Rekordhöhe auf: wir einen Teil an diejenigen zurück, die sie angesam-
2,5 Monatsausgaben. 1990 erhöhte sich die Rücklage melt haben.
in der Rentenversicherung um 7,5 Milliarden DM auf (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
über 33 Milliarden DM. Bei unveränderten Beitrags-
Jetzt zum zweiten Teil: Anders als in der Rentenver-
sätzen, würden wir also den Beitragssatz so lassen,
sicherung haben wir in der Arbeitslosenversicherung
wie er jetzt ist, kämen 1991 weitere 10 Milliarden DM
Defizite: hier Überschüsse, dort Defizite. Deshalb
hinzu. Wir hätten eine Gesamtrücklage von 43,3 Mil-
heißt dort die Antwort nicht Beitragssenkung, sondern
liarden DM. Da stellt sich sehr zu Recht die Frage, ob
Beitragserhöhung. Diese Beitragserhöhung wäre
wir von diesen Überschüssen nicht etwas an die zu- - der Ren-
auch ohne die Möglichkeit, die Beiträge in
rückgeben sollen, die sie erwirtschaftet haben, näm-
tenversicherung zu senken, notwendig, und zwar
lich an die Beitragszahler.
ebenso wie die Senkung in der Rentenversicherung
Bei der Umsetzung unseres Vorschlags einer Bei- möglich gewesen wäre, ohne daß die Beiträge zur
tragssenkung von 18,7 auf 17,7 % wird die Rücklage Arbeitslosenversicherung erhöht werden.
immer noch leicht höher sein als 1990. Das ist die
höchste Rücklage seit 1977, dem Rekordjahr der Wir decken das Defizit, das in der Arbeitslosenver-
sicherung vorhanden ist, erstens weiterhin durch ei-
Rücklagen, gewesen.
nen staatlichen Zuschuß — trotz angespannter
Um es noch einmal zu sagen: Wenn wir jetzt den Finanzlage verabschiedet sich der Staat nicht aus der
Beitrag senken, bleiben wir immer noch auf einer Verantwortung; über 2 Milliarden DM wird der Staat
Rekordhöhe der Rücklagen. Rentensicherheit ist das der Arbeitslosenkasse zuschießen — und zweitens
wichtigste Gebot unserer Rentenpolitik. Das ist die durch Beitragserhöhungen für dieses Jahr ab 1. April,
wichtigste Mitteilung an die Rentner in allen Teilen wie es der Gesetzesvorschlag vorsieht. Der Satz soll
Deutschlands. 2,5 % und im nächsten Jahr 2 % betragen. Nach dem
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) alten Grundsatz „halbe-halbe" bezahlen davon die
Hälfte, also 1,25 %, die Arbeitnehmer, die andere
Freilich ist es ebenso richtig, daß wir in späterer Zeit
Hälfte, also ebenfalls 1,25 %, die Arbeitgeber.
— wahrscheinlich in zwei Jahren — die Beiträge wie-
der auf die jetzige Höhe erhöhen müssen. Deshalb Wir setzen trotz der angespannten Finanzlage un-
teilt dieser Vorschlag das Schicksal des Vorschlags sere Arbeitsmarktpolitik auf hohem Niveau fort. Die
der SPD, den sie vor Jahresfrist vorgelegt hat. Die SPD angespannte Finanzlage führt nicht dazu, daß wir die
hat damals eine Beitragssenkung vorgeschlagen, die Instrumente der Arbeitsmarktpolitik reduzieren. Auch
ebenfalls mit der Ankündigung verbunden war, daß die globalen Minderausgaben sollen erwirtschaftet
sie später durch Beitragsanhebungen wieder kom werden, ohne daß die notwendigen arbeitsmarktpoli-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991 267

Bundesminister Dr. Blüm


tischen Unterstützungen auch nur in irgendeiner —Das ist das beste Kapital. Unser Ziel bleibt: 130 000
Weise reduziert werden. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in den neuen Bun-
desländern. Im letzten Jahr hatten wir rund 20 000
Auch gegenüber anderslautenden Meldungen
erreicht. Sie sehen, was hier an Anstrengungen not-
weise ich deshalb nochmals darauf hin, daß es keine
wendig ist. Im alten Bundesgebiet, in Westdeutsch-
Bundesregierung vor uns gab, die je mehr Geld in
land, bleiben wir bei 95 000. Das sind übrigens
aktive Arbeitsmarktpolitik investiert hat. Das ist so
— auch das darf ich wiederholen — dreimal mehr als
und bleibt so, auch entgegen allem Gerede.
1982. Ich sage das stets von neuem, weil von der
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Opposition immer wieder behauptet wird, wir würden
1982 — das war das letzte Jahr der SPD-geführten die Arbeitsmarktpolitik einschränken. Wie kann ein
Regierung — hatten wir für aktive Arbeitsmarktpoli- solcher Vorwurf von einer Seite erhoben werden, die
tik — ich muß die Zahl immer wiederholen — 6,9 Mil- nur ein Drittel dessen getan hat, was wir heute tun?
liarden DM. 1990 hatten wir 17,7 Milliarden DM. Je- (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord
der, der die Grundrechenarten beherrscht, wird wis- neten der FDP)
sen, daß das fast dreimal mehr ist als 1982.
Unsere Anstrengungen für die Langzeitarbeitslo-
Wir bleiben auch angesichts der großen arbeits- sen sollen nicht abnehmen. Ich rufe auch hier die
marktpolitischen Probleme in den neuen Bundeslän- Betriebe und die Tarifpartner auf, denen mit Unter-
dern mit der Arbeitsmarktpolitik hilfreich, und zwar stützung zur Seite zu stehen, die es am schwersten
— ich wiederhole dieses Wort — auf hohem Niveau. haben, in das Erwerbsleben zurückzufinden. Ich
Zum einen sind hier die Qualifizierungsmaßnah- denke auch an die Behinderten und an deren Recht,
men zu nennen. Ich habe gestern schon davon gespro- mitzuarbeiten. Das ist die beste Hilfe zur Integration.
chen, daß es unser ehrgeiziges Ziel ist, für die fünf Auch heute will ich die Gelegenheit nutzen und dafür
neuen Bundesländer in diesem Jahr 330 000 Teilneh- plädieren, daß der Staat, gerade die Länder, daß der
mer an Qualifizierungsmaßnahmen zu finden. Das ist öffentliche Dienst bei der Einstellung von Behinderten
eine gewaltige Steigerung gegenüber dem, was wir mit gutem Beispiel vorangeht.
schon jetzt erreicht haben. Im letzten Jahr waren es
130 000. Ich füge hinzu: Am Geld wird Qualifizierung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
nicht scheitern. Wir werden uns nicht aus der Arbeitsmarktpolitik
(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord verabschieden. Ich möchte mich auch gegen die Dar-
neten der FDP) stellung wenden, die gestern abend schon einmal an-
geklungen ist, als hätten wir diese Anstrengungen für
Der eigentliche Mangel sind Initiativen, sind Men- die Sozialversicherung jetzt an die Beitragszahler ab-
schen, die die Qualifizierung organisieren. Es sind geschoben. Die Anschubfinanzierung, die wichtigste
noch nicht einmal alle Mittel abgeflossen, die wir zur Initialzündung, ist aus Steuermitteln finanziert wor-
Verfügung gestellt haben. den. Das war meine Behauptung im letzten Jahr, und
(Zuruf von der CDU/CSU: Genau!) das ist auch jetzt noch richtig. Wir haben die Bundes-
anstalt bei der Anschubfinanzierung mit 2 Milliarden
Ich sage noch einmal: An Geld und gutem Willen wird DM unterstützt, die Krankenversicherung mit 3 Mil-
es nicht mangeln. Was wir brauchen, sind Menschen, liarden DM und die Rentenversicherung mit 2,15 Mil-
die solche Qualifizierungen und Arbeitsbeschaf- liarden DM. Es kann also niemand sagen, wir würden
fungsmaßnahmen organisieren. die Sozialversicherung allein lassen.
-
In den neuen Bundesländern stehen für Qualifika-
tion 6,6 Milliarden DM zur Verfügung, in den alten Was gebraucht wird, ist solidarische Gesinnung.
ungefähr der gleiche Betrag, nämlich 6,7 Milliarden Ich wende mich gerade auch an die westdeutschen
DM. Wir nehmen also auch in Westdeutschland die Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Der westdeutschen
Qualifizierungsanstrengungen nicht zurück. Es Wirtschaft ging es noch nie so gut wie jetzt, und zwar
braucht hier niemand den Versuch zu unternehmen, Arbeitgebern wie Arbeitnehmern. Es ist ein Gebot der
die einen gegen die anderen auszuspielen. Solidarität, von diesem Wachstum, das auch durch die
deutsche Einheit ausgelöst worden ist, etwas an die-
Zweitens bleibt das Instrument der Kurzarbeit. jenigen zurückzugeben, die am stärksten Hilfe brau-
Auch hier wiederhole ich, was ich gestern schon ge- chen und die diesen Überschuß mitfinanziert haben.
sagt habe: Das Instrument der Kurzarbeit muß gerade
in den neuen Bundesländern stärker als bisher mit (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord
Qualifizierung verbunden werden. neten der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord Dank unserer Steuer- und Sozialpolitik haben wir
neten der FDP) die Arbeitnehmer in den letzten Jahren entlastet. Der
monatliche Nettolohn hat sich seit 1982 durchschnitt-
Hier sind wir sehr auf die Mitarbeit, die Unterstützung
lich um 476 DM erhöht. Der Nettolohn um 476 DM!
und die Kooperation der Tarifpartner angewiesen. Sie
1990 war es eine Erhöhung um monatlich 165 DM. Ich
sollten den tarifpolitischen Impuls an der richtigen
will darauf hinweisen, daß die Sozialpolitik auch ihren
Stelle einsetzen: nicht zur Aufstockung der Kurzar-
Beitrag geleistet hat. Ohne Krankenversicherungsre-
beit, sondern zur Aufstockung der Qualifizierungs-
form müßten die Arbeitnehmer und die Arbeitgeber
maßnahmen.
jetzt nicht 12,2 % Beitrag zahlen, sondern mindestens
(Hornung [CDU/CSU]: Das ist das beste Ka 14 %. Sie sehen: Auch die Sozialpolitik hat ihren Bei-
pital!) trag geleistet.
268 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991

Vizepräsident Cronenberg: Herr Bundesminister, Dr. Blüm, Bundesminister für Arbeit und Sozialord-
sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten nung: Ich habe im Zusammenhang mit der Frage mei-
Büttner zu beantworten? — Bitte sehr, Herr Abgeord- nes verehrten Kollegen Büttner schon darauf hinge-
neter! wiesen, daß wir die höhere Beitragsbelastung, die
jetzt auf die Arbeitnehmer zukommt, freilich bei der
Büttner (Ingolstadt) (SPD) : Herr Bundesminister, Einkommensfindung der Beamten berücksichtigen
halten Sie es für einen Beitrag an Solidarität, daß für müssen. Das ist meine Überzeugung. Das hat im Zu-
die Arbeitsmarktmaßnahmen nur die sozialversiche- sammenhang mit der Tarifbildung im öffentlichen
rungspflichtig Beschäftigten herangezogen werden Dienst zu geschehen. Aus Achtung vor der Tarif auto-
und alle anderen außen vor bleiben? nomie des öffentlichen Dienstes kann ich jetzt keine
Zahl nennen, aber ich bleibe dabei — —
Dr. Blüm, Bundesminister für Arbeit und Sozialord- (Dreßler [SPD]: Sie sollen nur die Frage be
nung: Nein. Ich will schon darauf hinweisen, daß antworten! Reden Sie nicht darum herum!)
diese solidarische Leistung der Beitragszahler freilich
— Ich rede nicht darum herum, Herr Dreßler.
auch bei der Einkommensfindung im Beamtenbe-
reich ihre Berücksichtigung finden muß. (Dreßler [SPD]: Doch, Sie reden schon fünf
Minuten darum herum!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
bei Abgeordneten der SPD) Ich spreche direkt dazu, daß unsere Arbeitsmarktpoli-
Das halte ich für einen Akt der Solidarität. tik besser ist als jene, die unter Ihrer Verantwortung
erfolgte. Wir wollen jetzt diese Arbeitsmarktpolitik
(Zuruf von der SPD: Schaumschläger!) ganz besonders den Arbeitnehmern in den fünf neuen
Im übrigen mache ich darauf aufmerksam, daß die Bundesländern zugute kommen lassen. Das ist die
Anschubfinanzierung, von der ich gesprochen habe, größte Solidaraufgabe, die diesem Sozialstaat
eine Anschubfinanzierung nicht der Beitragszahler, Deutschland ins Haus steht.
sondern aller Steuerzahler war. Ich bestätige aber (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —
ausdrücklich, daß aus Gründen der sozialen Gerech- Gilges [SPD]: Sie haben die Frage noch nicht
tigkeit eine ausgewogene Lastenverteilung notwen- beantwortet!)
dig ist.

Vizepräsident Cronenberg: Herr Minister, gestatten Vizepräsident Cronenberg: Das Wort hat der Abge-
Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Heyenn? ordnete Schreiner.
— Bitte, Herr Abgeordneter!
Schreiner (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
Heyenn (SPD): Herr Bundesarbeitsminister, können
und Kollegen! Ich will zwei knappe Vorbemerkungen
Sie dem Bundestag mitteilen, welche Mehrbelastun- machen. Erstens. Es ist ein erstaunliches Parlaments-
gen sich in diesem Jahr für die Arbeitnehmer durch verständis, wenn ein Gesetzentwurf der Koalitions-
die Anhebung der Beiträge zur Arbeitslosenversiche- fraktion von der Regierung begründet wird. Das ist
rung ergeben und welche Mehrbelastungen, mögli- erstaunlich genug. Ich frage, ob diese Praxis einreißen
cherweise in Form geringerer Steigerungen beim Be- soll.
soldungszuwachs, auf die Beamten entfallen?
Zweitens. Es ist immer wieder erstaunlich, zu wel-
Dr. Blüm, Bundesminister für Arbeit und Sozialord- chen Kehrtwendungen, Luftsprüngen und Kapriolen
nung: Das sind rund 20 Mark im Monat für den durch- der Bundesarbeitsminister fähig ist. Er hat- es hier im
schnittlichen Verdiener. Diese Belastung wird durch besten Stil eines Winkeladvokaten tatsächlich fertig-
höheres Wachstum das dank unserer guten Wirt- gebracht,
schaftspolitik möglich war, und durch die Maßnah- (Zurufe von der CDU/CSU: Sie sind ungezo
men der Steuerreform, die den Arbeitnehmern zugute gen! — Der ist immer so!)
kamen, überkompensiert. Inhalte zu begründen, die er im abgelaufenen Jahr
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) kategorisch abgelehnt hat. Dazu will ich Ihnen einige
Insofern stehen Arbeitnehmer wie Arbeitgeber dank Beispiele nennen. Hier geht es nicht nur um ein paar
unserer Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik drei- Pfennige; es geht für 1991 im Bereich der Arbeitslo-
mal besser da als zu SPD-Zeiten. Ich bedanke mich senversicherung um eine Zusatzbelastung der Arbeit-
sehr für diese hilfreiche Frage! nehmerinnen und Arbeitnehmer und der Beitrags-
zahler insgesamt von rund 18,3 Milliarden DM und
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
für 1992 um eine Zusatzbelastung von über 23 Milli-
arden DM. Es ist ja nicht von Pappe, was den Arbeit-
Vizepräsident Cronenberg: Herr Minister, beant- nehmerinnen und Arbeitnehmern da abverlangt
worten Sie noch eine Frage des Abgeordneten Hey- wird.
enn? — Bitte sehr!
Der Bundesarbeitsminister hat in einer Presseerklä-
Heyenn (SPD): Herr Bundesarbeitsminister, Sie ha- rung vom 17. Mai 1990 folgendes erklärt:
ben exakt an meiner Frage vorbei geantwortet, denn (Dr. Geißler [CDU/CSU]: Das ist bald ein
ich hatte Sie nach der vergleichbaren Belastung der Jahr her! Ist die Welt seitdem stehengeblie
Beamten gefragt. ben?)
(Zuruf von der SPD: Er wußte keine Ant Die Anschubfinanzierung für den Aufbau einer
wort!) vergleichbaren sozialen Sicherheit in der DDR
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991 269

Schreiner
darf nicht den Beitragzahlern in der Bundesrepu- dig auf der Strecke bleibt? Was ist eigentlich das öf-
blik aufgebürdet werden. Sie erfolgt deshalb aus fentliche Wort eines solchen Ministers noch wert?
Steuermitteln. (Andres [SPD]: Nichts!)
Welches Vertrauen können die Bürgerinnen und Bür-
ger in Ihre Erklärungen noch setzen?
Vizepräsident Cronenberg: Herr Abgeordneter
Schreiner, sind Sie bereit, dem Abgeordneten Blüm (Andres [SPD]: Keins!)
eine Frage zu beantworten? — Bitte schön! Ich sage Ihnen: Überhaupt keines mehr. Sie sind voll-
ständig unglaubwürdig geworden.
(Zustimmung bei der SPD — Zuruf von der
Dr. Blüm (CDU/CSU): Herr Abgeordneter Schrei- CDU/CSU: Das ist doch Unsinn!)
ner, bestreiten Sie, daß die Anschubfinanzierung von
über 7 Milliarden DM so, wie ich es gesagt habe, aus Die wirkliche Bedeutung dieses Ministers steht in ei-
Steuermitteln gezahlt wurde? nem grotesken Mißverhältnis zu seinem wichtigtueri-
schen Redeschwall.
(Zustimmung bei der CDU/CSU)
(Widerspruch bei der CDU/CSU)

Schreiner (SPD): Entschuldigung, Herr Bundesmi- Vizepräsident Cronenberg: Herr Abgeordneter


nister, die Formulierung lautet eindeutig: Die An- Schreiner, sind Sie bereit, eine weitere Zwischenfrage
schubfinanzierung für den Aufbau einer vergleichba- zuzulassen?
ren sozialen Sicherheit in der ehemaligen DDR. Das
heißt, der Aufbau ist dann abgeschlossen, wenn die
Schreiner (SPD) : Bitte schön.
Menschen drüben ähnliche soziale Standards haben
wie wir hier. Überhaupt nichts anderes kann das hei-
ßen! Vizepräsident Cronenberg: Bitte sehr, Herr Abge-
(Beifall bei der SPD) ordneter.
Ihre Zwischenfrage setzt die Tradition üblen Winkel-
advokatentums fort. Ich denke, die Frage ist beant- Gibtner (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Kollege,
wortet. was ist Ihnen eigentlich wichtiger: daß Aussagen, die
einmal als Prognose für die Zukunft gemacht worden
(Dreßler [SPD]: Jawohl! — Andres [SPD]: sind, wortwörtlich eingehalten werden oder daß die
Setzen! — Feilcke [CDU/CSU]: Advokat sind Bürger in den neuen Bundesländern wirklich den so-
doch Sie, oder? — Heyenn [SPD]: Aber kein zialen Status erreichen, den die Bürger in den alten
Winkeladvokat! — Feilcke [CDU/CSU]: Bundesländern schon haben?
Doch, ein Advokat aus einem saarländischen
Winkel!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —
Zurufe von der SPD)
Ein zweites Zitat ist noch wesentlich deutlicher,
Herr Arbeitsminister. Das Arbeitsministerium ließ am
23. November vergangenen Jahres, also wenige Tage Vizepräsident Cronenberg: Herr Abgeordneter,
vor der Wahl, folgendes über dpa erklären: würden Sie bitte so nett sein, die Usancen dieses Hau-
ses zu beachten, also bei der Beantwortung Ihrer
Eine von der SPD behauptete Erhöhung der Bei-
Frage stehenzubleiben? -
träge zur Arbeitslosenversicherung von 4,3 % auf
6,3 % ist nicht geplant.
Im Grundsatz beschlossen sei lediglich eine Anhe- Schreiner (SPD): Ich erspare Ihnen das Stehenblei-
bung um höchstens einen Prozentpunkt auf 5,3. ben gern, weil ich im übernächsten Satz genau auf
diese Frage zurückkommen werde.
(Dreßler [SPD]: Hört! hört!)
(Zuruf von der CDU/CSU: Besser im näch
Tatsächlich haben Sie hier noch wesentlich mehr als sten Satz!)
das eingebracht, was wir damals an Erhöhung be-
Deshalb biete ich fairerweise an, daß wir zu den nor-
hauptet haben, noch wesentlich mehr!
malen Gepflogenheiten zurückkehren und Sie Platz
(Zuruf von der CDU/CSU: Unerhört!) nehmen können.
Es gibt zwei Möglichkeiten, diesen Sachverhalt zu (Zuruf von der CDU/CSU: Er hat keine Ant
interpretieren, Herr Blüm. Entweder haben Sie in der wort! — Heyenn [SPD]: Es wird doch zuge
Schlußphase des Wahlkampfs die Wählerinnen und geben, daß die Zusagen nicht eingehalten
Wähler eiskalt getäuscht, oder Sie sind bei den Koali- wurden! — Weitere Zurufe von der CDU/
tionsverhandlungen in der zentralen Frage der Finan- CSU)
zierung der deutschen Einheit einfach umgefallen — Sie sind wirklich ein wilder kleiner Giftzwerg. Sie
und über den Tisch gezogen worden. Eine andere könnten sich das wenigstens in Ruhe anhören.
Möglichkeit gibt es nicht.
(Dr. Geißler [CDU/CSU]: Das ist ja furcht
Wenn man zu Ihren Gunsten die zweite Möglichkeit bar!)
annimmt, stellt sich die schlichte Frage: Welches Ge-
wicht hat eigentlich ein Sozialminister in der Bundes- Ich will Ihnen zu der Erklärungsvielfalt des Bundesar-
regierung, der es zuläßt, daß die soziale Symmetrie beitsministers — —
bei der Finanzierung der deutschen Einheit vollstän (Zurufe von der CDU/CSU)
270 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991

Vizepräsident Cronenberg: Entschuldigung, Herr Ich sage Ihnen: Die Menschen im Westen sind zur
Abgeordneter! Meine Damen und Herren, Zwischen- Solidarität bereit gewesen, und sie sind es noch.
rufe sind ja gelegentlich in einer Debatte das Salz in (Dr. Blüm [CDU/CSU]: Sehr richtig!)
der Suppe. Aber es geht wirklich nicht, daß Sie alle auf
einmal rufen. Solidarität bedeutet aber auch, daß den materiell Bes-
sergestellten mehr abverlangt werden muß als den
(Zuruf von der CDU/CSU: Es kommt auf die sozial Schwächeren.
Suppe an, Herr Präsident!)
(Beifall bei der SPD)
Ich bitte daher um ein bißchen Ruhe für den Red-
ner. Dazu hat die SPD viele Vorschläge gemacht.
Herr Abgeordneter Schreiner, Sie haben das (Dr. Geißler [CDU/CSU]: Die hat Herr Bohl
Wort. vorhin vorgelesen!)
(Zuruf von der CDU/CSU: Herr Schreier!) Sie gehen — und das ist der Kern unseres Vor-
wurfs — genau den umgekehrten Weg. Wie wollen
Sie eigentlich begründen, Herr Blüm, daß zur Finan-
zierung vor allem diejenigen Arbeitnehmer herange-
Schreiner (SPD): Vielleicht können Sie sich einigen, zogen werden, deren Einkommen unterhalb der Bei-
in welcher Reihenfolge Sie Ihre Zwischenrufe ma- tragsbemessungsgrenze von 6 500 DM brutto liegt?
chen. Warum wird derjenige, der mehr oder wesentlich
Ich will Ihnen ein Zitat aus der Zeitschrift „Die Zeit" mehr verdient, für den überschießenden Betrag nicht
vom 6. Oktober 1989 nicht ersparen. zur Kasse gebeten?
(Feilcke [CDU/CSU]: 6. Oktober 1989!) (Dr. Blüm [CDU/CSU]: Reden Sie doch auch
mal über den Arbeitgeberbeitrag!)
Da geht es nicht um die Hauptstadt, sondern um Herrn
Blüm. Warum bleiben Beamte und Freiberufler, die keine
Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zahlen, völlig
(Dr. Geißler [CDU/CSU]: Es geht nicht außen vor? Warum wird ein geringverdienender Ar-
darum, daß Sie recht haben, sondern darum, beitnehmer in der ehemaligen DDR — 1 200 DM Mo-
daß wir den Leuten helfen!) natseinkommen, vielleicht weniger — über diesen
Ich denke, das trifft den Sachverhalt sehr genau: Gesetzentwurf enorm zur Kasse gebeten, während ein
topverdienender Rechtsanwalt im Westen völlig un-
Wenn Bonn die Hauptstadt des Schönredens, des
geschoren bleibt? Wie wollen Sie das eigentlich be-
Selbstpreisens, des Großschwätzens und des Hel-
gründen?
denbrustzeigens ist oder geworden ist, dann ist
Blüm in all diesen Disziplinen Meister. (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/
CSU: Unerhört!)
(Beifall bei der SPD)
— Ja, der Gesetzentwurf ist unerhört. Da stimme ich
Das trifft genau den Sachverhalt, den ich eben in an-
Ihnen gerne zu, Herr Kollege.
deren Zusammenhängen zu beschreiben versucht
habe. Hier wird die soziale Lastenverteilung vollständig
auf den Kopf gestellt. Die Solidarität zwischen West
Um jetzt auf den Kollegen aus der ehemaligen DDR
und Ost ist allein Sache des Staates und der gesamten
zurückzukommen — —
Gesellschaft, nicht bloß der beitragzahlenden Sozial-
(Dr. Geißler [CDU/CSU]: Zitatensammelei! versicherten. Gerade weil sie es versäumt -haben, eine
— Dr. Blüm [CDU/CSU]: Wollen Sie eigent solidarische Kraftanstrengung aller vorzubereiten,
lich über mich reden oder über die Arbeits sind Sie nun in der Lage eines kleinen miesen Gau-
losen?) ners,
— Jetzt machen Sie mal eine Pause. Jetzt mache ich (Widerspruch bei der CDU/CSU)
erst mal eine Weile weiter. der nach allerlei T ri cks Ausschau hält, an den Geld-
Der vorliegende Gesetzentwurf ist der Versuch der beutel der kleinen Leute heranzukommen.
Regierungsfraktionen, sich auf Kosten der sozial
(Unruhe bei der CDU/CSU — Hornung
Schwächeren aus einer selbstverschuldeten Ausweg-
[CDU/CSU]: Das ist Ihre Politik! — Dr. Geiß
losigkeit zu befreien. Sie haben es — und das ist un-
ler [CDU/CSU]: Herr Präsident, was ist denn
sere Hauptkritik —
das? — Weiterer Zuruf von der CDU/CSU:
(Hornung [CDU/CSU]: Sie ist falsch!) Billig!)
im Wahljahr 1990 gegen besseres Wissen versäumt, Die publizistische Kommentierung Ihres Gesetzent-
die Menschen, vor allen Dingen die im Westen, darauf wurfs war ein einziger Verriß. Hier nur die Kostprobe
vorzubereiten, daß die soziale Einheit Opfer abver- einiger Überschriften: „Bonn bricht Schwüre"
langen wird. Und Sie haben, wiederum gegen besse- — Überschrift „Handelsblatt" — , „Die Vernunft
res Wissen, den Hinweis unterlassen, daß nur durch bleibt auf der Strecke" — Überschrift „Die Zeit" —,
eine große solidarische Kraftanstrengung die sozialen „Soziale Schieflage" — Überschrift „Saarbrücker Zei-
Gegensätze im zusammenwachsenden Deutschland tung" —, „Schlachtfest" — Überschrift „Handels-
überbrückt werden können. blatt".
(Kittelmann [CDU/CSU]: Und was schlagen (Dr. Geißler [CDU/CSU]: Das Präsidium
Sie da vor?) schläft!)
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991 271

Schreiner
In Ihren eigenen Reihen ist unter Hinweis auf die — Herr Kollege Geißler, ich will zusammenfassen.
durch den Gesetzentwurf massiv steigenden Lohn- (Dr. Geißler [CDU/CSU]: Wir wollen von Ih
nebenkosten von dem neuen Vorsitzenden des Dis- nen gar nichts mehr hören, bevor Sie das
kussionskreises Mittelstand in der Unionsfraktion nicht zurückgenommen haben!)
— angeblich 130 Mitglieder —, dem verehrten Kolle-
gen Doss — ich hoffe, er ist anwesend —, ein — Zitat Gemessen an den großen Herausforderungen, welche
aus der „Welt" vom 12. Januar — „kompromißloser die soziale Gestaltung der deutschen Einheit uns allen
parlamentarischer Widerstand" gegen diesen Gesetz- abverlangt, läßt sich Ihre bisherige Arbeit nur so kom-
entwurf angekündigt worden. mentieren: Gewogen und zu leicht befunden.
(Dr. Geißler [CDU/CSU]: Alles Heuchelei,
(Dr. Blüm [CDU/CSU]: Der Präsident ist doch was Sie da machen!)
sonst nicht so!) Ich will Ihnen noch einen Satz zu Ihrer Forderung,
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich befürchte, Herr ich möge etwas zurücknehmen, sagen,
Doss wird mit Bundesminister Blüm ernsthaft um den (Dr. Geißler [CDU/CSU]: Nein! Seien Sie
Ehrentitel des obersten Papiertigers der Unionsfrak- bitte still! Entschuldigen Sie sich hier bitte!
tion konkurrieren. Nehmen Sie das zurück! Dann ist es in Ord
nung!)
Die Diskussion um die Lohnnebenkosten ist eigen-
tümlich genug. In den vergangenen Jahren ist von Wenn ich Ihre Erklärungen nehme, Herr Kollege
Sprechern der Regierungsfraktionen in diesem Haus Geißler, die nun einige Jahre zurückliegen,
geradezu gebetsmühlenhaft vorgetragen worden, die (Dr. Geißler [CDU/CSU]: Nehmen Sie das
Lohnnebenkosten in Deutschland bedrohten ernsthaft zurück, was Sie gerade gesagt haben! Neh
die internationale Wettbewerbsfähigkeit unserer Un- men Sie diese Beleidigung zurück!)
ternehmungen. War das alles nur hohle Propaganda? die Sie hier im Parlament und außerhalb des Parla-
frage ich angesichts der Tatsache, daß der vorlie- ments gegen die deutsche Sozialdemokratie vorgetra-
gende Gesetzentwurf die Lohnnebenkosten nun aller- gen haben, dann bin ich, was die Schwere dieser Vor-
dings massiv ansteigen läßt. Richtig und zu kritisieren haltungen anbelangt, Ihnen gegenüber geradezu ein
ist, daß der Gesetzentwurf im Gegensatz zu kapitalin- harmloser Waisenknabe.
tensiven Betrieben vor allem lohn-, also beschäfti-
(Beifall bei der SPD)
gungsintensive Klein- und Mittelbetriebe belastet,

(Gilges [SPD]: Alles vergessen!) Vizepräsident Cronenberg: Herr Abgeordneter


von deren Investitionsbereitschaft der Abbau der Ar- Schreiner, wenn es richtig ist, daß das Protokoll bestä-
beitslosigkeit in den neuen Bundesländern entschei- tigen sollte, daß Sie den Bundesarbeitsminister, den
dend mit abhängt. Abgeordneten Blüm, als „kleinen miesen Gauner"
bezeichnet haben
Nicht zuletzt und gerade von den Regierungsfrak- (Zuruf von der SPD: Nein, hat er nicht!)
tionen ist in der Vergangenheit immer wieder ein Zu-
sammenhang zwischen der Höhe der Lohnnebenko- — ich habe es nicht selbst hören können, weil ich hier
sten und der Ausweitung der Schwarzarbeit herge- beschäftigt war — , dann sage ich vorsorglich schon,
stellt worden. daß das einen Ordnungsruf verdient hat. Ich werde
das im Protokoll kontrollieren lassen.
-
(Dr. Geißler [CDU/CSU]: Wir wollen von Ih (Zuruf von der CDU/CSU: Man soll das aber
nen nichts mehr hören, bevor Sie nicht die nicht streichen! — Bitte doch stehen lassen!
sen Vorwurf zurücknehmen! Damit das klar — Das ist einen Rausschmiß wert!)
ist, Herr Schreiner: das, was Sie vorhin zu Nun hat die Abgeordnete Frau Dr. Babel das
Herrn Blüm gesagt haben! Vorher wollen wir Wort.
von Ihnen gar nichts mehr hören!)
(Dr. Geißler [CDU/CSU]: Bitte, stehen Sie
Ich fahre fort; Herr Kollege Geißler, lassen Sie den doch auf und nehmen Sie das zurück! —
Redner ausreden! Wenn der Präsident es nicht tut, Schreiner [SPD]: So habe ich es ja nicht ge-
verwarne ich Sie hier und geben Ihnen eine Gelbe sagt! Ich denke nicht daran, mich von Ihnen
Karte; ich will hier ausreden können. erpressen zu lassen! Wo sind wir denn!)
— Herr Abgeordneter Schreiner, vielleicht ist es Ihrer
(Heiterkeit bei der SPD — Dr. Geißler [CDU/
Aufmerksamkeit entgangen, daß Frau Dr. Babel jetzt
CSU]: Sie haben das zurückzunehmen! Sonst
das Wort hat und nicht Sie.
bin ich nicht bereit, Sie weiter anzuhören!)
(Schreiner [SPD]: Das müssen Sie Herrn
Sollte dieser Hinweis auf den Zusammenhang zwi- Geißler sagen, der ständig hier herum
schen erhöhten Lohnnebenkosten und Schwarzarbeit lärmt!)
ernstgemeint gewesen sein, darf sich Minister Blüm
jetzt auch noch mit dem Titel eines Ehrenmeisters der
Deutschen Schwarzarbeiterinnung schmücken. Frau Dr. Babel (FDP): Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Zunächst noch Ihnen, Herr Schreiner, zur
(Dr. Geißler [CDU/CSU]: Herr Schreiner, Kenntnis: Der Gesetzentwurf wird parallel von den
nehmen Sie bitte das zurück, was Sie vorhin Koalitionsfraktionen und der Bundesregierung einge-
gesagt haben!) bracht. Insofern war es korrekt, wenn der Herr Bun-
272 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991

Frau Dr. Babel


desminister ihn begründet hat. Die Eilbedürftigkeit So können wir 1992 die Übernahme und volle finan-
liegt darin, daß wir ihn zum 1. April zum Gesetz wer- zielle Einbindung der Rentenversicherung der ehe-
den lassen. Die SPD hat ja auch eine Anhörung bean- maligen DDR in unsere Rentenversicherung vorneh-
tragt, die wir nachher beschließen sollen. Ich denke, men. Wie immer sich die Lage dann entwickelt, zum
diese Vorwürfe waren zumindest unbegründet. Es jetzigen Zeitpunkt bleibt die Senkung der Beiträge
waren aber nicht die einzigen unbegründeten Vor- ordnungspolitisch und finanzpolitisch richtig.
würfe in Ihrer Rede. Nun zum zweiten Sachverhalt — das ist die betrüb-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) liche Nachricht — , der Anhebung der Beiträge zur
Arbeitslosenversicherung um 2,5 Prozentpunkte im
Der vorliegende Gesetzentwurf zur Senkung der Jahre 1991 — umgerechnet auf das Jahr sind das
Beiträge zur Rentenversicherung und zur Anhebung 2 Prozentpunkte — und um 2 Prozentpunkte im Jahre
der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung enthält 1992. — Ich will zugeben, daß wir Freien Demokraten
zwei Sachverhalte, die unabhängig voneinander und uns hier schwertun. Beitragsstabilität — das hat mein
jeweils für sich zu begründen sind, Kollege Cronenberg schon am 1. März 1985 gesagt —
(Sehr richtig! bei der CDU/CSU) hat für uns einen ebenso hohen Stellenwert wie das
Ziel der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte,
wenngleich sie sich für den Beitragszahler in eine meine Damen und Herren. Aber es gilt, sich die
— wenn auch gebremste — Mehrbelastung zusam- augenblickliche Lage zu vergegenwärtigen. Die be-
menrechnen. sondere Situation, in der wir uns politisch und wirt-
schaftlich befinden, rechtfertigt auch Maßnahmen,
(Hornung [CDU/CSU]: Ja, alle reden doch die unter anderen Zeitläufen nicht zu ergreifen wä-
von der Belastung und vom Teilen!)
ren.
Lassen Sie mich mit der guten Nachricht beginnen, Meine Damen und Herren, es gibt heute eine ein-
nämlich der Senkung der Beiträge zur Rentenversi- heitliche deutsche Arbeitslosenversicherung. Dies be-
cherung. Ohne die vorgesehenen Änderungen stie- deutet, daß kommende, sicherlich auch noch wach-
gen die Reserven Ende 1991 auf 43 Milliarden DM sende Belastungen grundsätzlich auch in einem sol-
und Ende 1994 auf 69 Milliarden DM. Damit würde chen beitragsfinanzierten speziellen Sicherungssy-
die Schwankungsreserve die gesetzlich vorgesehene stem zu bewältigen sind.
Höhe von mindestens einem Monatsbedarf um das
Vierfache übersteigen. Wir erleben den Zusammenbruch einer planwirt-
schaftlichen Ordnung, und zwar einer Ordnung von
Es müßten also ohnehin in Ausführung des Renten- ausgemachten Planungsgigantomanen. Die Dimen-
reformgesetzes die Beiträge gesenkt werden, damit sionen werden Ihnen deutlich, wenn Sie sich einmal
den Beitragszahlern die gute Kassenlage zugute folgendes vergegenwärtigen: In einer mittleren Indu-
kommt; striestadt wie Eisenhüttenstadt — das hat mir ein Kol-
lege aus Brandenburg mitgeteilt — mit 52 000 Ein-
(Sehr richtig! bei der CDU/CSU)
wohnern gibt es 10 000 Arbeitsplätze in einem einzi-
eine kluge Bestimmung, wenn man die Versuchung gen Kombinat, der EKO Stahl AG. Davon sind 2 000
bedenkt, die eine so große Finanzsumme auf Politiker heute schon abgeschafft, 5 000 sind bedroht. Das
im allgemeinen und einen hungrigen Finanzminister heißt, daß in dieser Stadt im Grunde zwei Drittel aller
im besonderen ausüben muß. Einwohner von der Arbeitslosigkeit betroffen sind.
Die FDP begrüßt in diesem Zusammenhang aus- Meine Damen und Herren, das sind die Dimensio-
drücklich, daß die Defizite der Knappschaftversiche- nen eines Problems in einem Gemeinwesen. Hier
rung vom Bund nicht auf die Rentenversicherung ab- müssen Prozesse einer umfassenden Umstrukturie-
gewälzt wurden und daß sich unser Wunsch erfüllt rung und Umschulung in einem solchen Ausmaß ein-
hat, die Neuzugänge der Art.-17-Betriebe aus der geleitet werden, wie wir es noch nie gehabt haben.
Zwangsmitgliedschaft herauszunehmen. Noch glück- (Richtig! bei der CDU/CSU)
licher wären wir, wenn auch das Problem der nicht
bergmännisch Beschäftigten hätte gelöst werden kön- In diesem Zusammenhang begrüße ich ausdrücklich,
nen. daß bei Umschulung und Qualifizierung Frauen be-
sonders bedacht werden sollen
(Beifall bei der FDP — Andres [SPD]: Wir
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
können uns vorstellen, worüber Sie noch
glücklich wären!) und daß wir nicht — was ja ein bißchen verführerisch
wäre — nach dem Schema verfahren: In Zeiten der
Meine Damen und Herren, die gute Finanzlage der Not reicht es, erst einmal einen Ernährer zu qualifizie-
Rentenversicherung ist Ergebnis eines gesunden Ar- ren, und das ist naturgemäß der Mann.
beitsmarktes mit hohen Beschäftigungszahlen in der
alten Bundesrepublik, (Andres [SPD]: Was hat das denn mit diesem
Gesetzentwurf zu tun?)
(Hornung [CDU/CSU]: Ergebnis einer guten
Politik!) Meine Damen und Herren, wichtig ist, daß in der
Debatte um die Beiträge zur Arbeitslosenversiche-
— Ergebnis einer guten Politik und einer außerordent- rung nicht nur die düstere Lage im Osten zur Sprache
lich dynamischen Wirtschaftssituation. kommt, die diese Anhebung sicherlich verursacht,
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der (Andres [SPD]: So ist es; die verursacht
CDU/CSU) das!)
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991 273
Frau Dr. Babel
sondern daß auch das Prinzip Hoffnung aufleuchtet. diese jetzt mit einer Abgabe zu belasten, der keine
Dieses Prinzip verlangt nicht nur, daß wir Anreize für Leistungsansprüche gegenüberstehen.
Unternehmer bieten, zu investieren und dort drüben
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Betriebe zu gründen, nicht nur, daß alles getan wird,
um Arbeitsplätze zu erhalten, sondern es verlangt Meine Damen und Herren, zusammenfassend will
auch, daß wir ganz konzentriert Arbeitnehmer ermu- ich sagen: Der jetzt vorliegende Gesetzentwurf macht
tigen, schulen, qualifizieren. Ziel ist der gesunde, le- deutlich, daß die Kosten der Einheit nicht aus der
bendige Arbeitsmarkt im Osten unseres Landes. Westentasche zu bezahlen sind. Die FDP hat das nie-
mals behauptet. Wir haben auch vor der Wahl darauf
Dafür die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung
hingewiesen, daß es zu solchen Anhebungen bei der
anzuheben heißt, der historischen Situation Rechnung
Arbeitslosenversicherung kommen kann. Die FDP
zu tragen. Die Anhebung ist notwendig, um die Eck-
hofft aber, daß diese Belastung des Beitragszahlers
werte der Verschuldung einhalten zu können
zeitlich begrenzt bleibt. Ich hoffe in dieser Legislatur-
(Zuruf von der CDU/CSU: Aber sie ist auf periode auf den Augenblick, in dem ich die Senkung
eine bestimmte Zeit begrenzt — Heyenn der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung ankündi-
[SPD]: Was zahlen denn die Freiberufler?) gen und hier begründen kann.
und sie ist auch währungspolitisch vertretbar, wenn Vielen Dank.
man die vorsichtigen Äußerungen der Bundesbank
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
richtig deutet.
Im Dezemberbericht wird darauf hingewiesen, daß
die Anhebung des Beitragssatzes der Bundesanstalt
deren Finanzlücken und damit den Bedarf an Bundes- Vizepräsident Cronenberg: Zu einer Kurzinterven-
zuschüssen verringern wird. Dieser Hinweis, verbun- tion erteile ich der Abgeordneten Frau von Renesse
den mit der Forderung, daß staatliche Defizite vermin- das Wort.
dert werden müssen, spricht dafür, daß die Währungs-
hüter den eingeschlagenen Weg zumindest für ver-
tretbar halten, meine Damen und Herren.
Frau von Renesse (SPD): Herr Präsident! Meine
Nun zur Opposition. — Es reicht nicht, wenn man
Damen und Herren! Ich bin neu im Bundestag. Des-
mit Schaum vor dem Mund hier redet.
wegen ist mir vielleicht auch noch ein bißchen die
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Faszination und Verblüffung über das, was ich gerade
Heyenn [SPD]: Ich habe den Schaum nicht gehört habe, möglich.
gesehen!) Da wird also dieses gesamte Gesetzesvorhaben,
Wir haben nur Kritik, aber kaum einleuchtende Alter- über das wir heute zu debattieren haben, unabhängig
nativen gehört. voneinander als eine gute und eine schlechte Nach-
richt dargestellt. Nur, die gute Nachricht ist leider
(Dr. Geißler [CDU/CSU]: So ist es!) nicht so gut, wie die schlechte schlecht ist. Soweit ich
Bei der Rentenversicherung, meine Damen und das beurteilen kann — ich habe zwar nicht die Erfah-
Herren, folgen wir Ihrem Vorschlag aus dem Jahre rung ausgefuchster Sozialpolitiker, sondern nur die
1990. einer Richterin, die noch bis vor kurzem Rechtsuchen-
den ins Auge geguckt hat — und soweit ich Leute
(Dr. Geißler [CDU/CSU]: Richtig!) - denen
kenne, denen man so etwas erklären soll, wird
Die Deutsche Angestellten-Gewerkschaft erklärt sich nur die Erkenntnis übrigbleiben, daß die Sozialversi-
z. B. in einer Presseverlautbarung vom 7. Januar be- cherung insgesamt teurer wird.
reit,
Warum wird sie teurer? Auf der einen Seite wird
auf höhere Beiträge zur Arbeitslosenversiche- also gesagt — das ist richtig — : Die Rentenversiche-
rung mit niedrigeren Beiträgen zur Rentenversi- rung schwimmt im Geld, sie kann etwas zurückgeben,
cherung zu reagieren. hurra! Aber auf der anderen Seite wird gesagt: Da
steht das sittliche Gebot der Solidarität.
Nehmen Sie sich das zu Herzen!
Nun habe ich in den vergangenen Debatten auch
(Andres [SPD]: Da ging es auch um 1 : 1!) viel davon gehört, daß das, was man hier bei Arbeit-
Nun laufen Sie Sturm gegen diese Vorschläge. Sie nehmern unterhalb der Bemessungshöchstgrenze als
vermissen Sonderopfer bei Beamten, und Sie fordern Solidarität bezeichnet, kein Sozialneid ist, wenn ein
die Arbeitsmarktabgabe für Selbständige und Freibe- Mann mit einem Monatseinkommen von 1 500 DM
rufler. Sie verkaufen diese alten, muffigen Hüte als den Mann mit 2 800 DM Monatseinkommen betrach-
Dernier cri. tet, sondern nur dann, wenn jemand mit einem Mo-
Bei den Tarifverhandlungen werden wir die Verän- natseinkommen von 2 800 DM denjenigen betrachtet,
derung der Beiträge berücksichtigen. — Dies zum der 7 800 DM Monatseinkommen hat. Ich möchte ein-
Kreis der Beamten. mal diese Begriffe geklärt haben. Denn ich weiß gar
nicht, wie ich eine solche Darstellung anderen Leuten
(Heyenn [SPD]: Seit wann gibt es Tarifver überhaupt erklären soll.
träge für Beamte?)
Der Vergleich mit dem Winkeladvokaten erscheint
Aber von Freiberuflern und Selbständigen erhoffen mir auch beruflich sehr naheliegend. Das ist so, als
wir uns Impulse für den Arbeitsmarkt. Es wäre falsch, wenn jemand seinem Mandanten sagt: 500 DM habe
274 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991

Frau von Renesse


ich aus deinem Schuldner herausgeholt, aber meine Selbst wenn Unerwartetes eintreten sollte, hätte die
Gebührenrechnung beträgt 3 000 DM. Bundesanstalt für Arbeit ausreichende finanzielle
(Beifall bei Abgeordneten der SPD — Feilcke Ausgaben; denn es ist doch wohl ebenso unbestritten,
[CDU/CSU]: So etwas kennen Sie!) daß das heutige Leistungssystem bei Arbeitslosigkeit
eklatante Mängel aufweist: Die durchschnittliche Un-
terstützung bei Arbeitslosigkeit liegt in den alten Bun-
Vizepräsident Cronenberg: Das Wort hat die Abge- desländern bei knapp über 1 000 DM und bei Arbeits-
ordnete Frau Bläss. losenhilfe bei 840 DM.
Über die Hälfte der Arbeitslosen liegt allerdings bei
einem monatlichen Einkommen von unter 1 000 DM.
Frau Bläss (PDS/Linke Liste): Meine Damen und
Der überwiegende Teil von Frauen erhält weniger als
Herren! Die Fraktion der PDS/Linke Liste lehnt den
800 DM. Die Einkommensdiskriminierung von
von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP vor-
Frauen erweitert sich also automatisch in die Sozial-
gelegten Gesetzentwurf zur Änderung der Beitrags-
versicherung hinein.
sätze in der gesetzlichen Rentenversicherung und bei
der Bundesanstalt für Arbeit ab. Schon heute kann das Leistungssystem der Bundes-
anstalt für Arbeit ein Abrutschen in die materielle Not
(Feilcke [CDU/CSU]: Ihre Zustimmung wäre
nicht verhindern. Unter anderem wegen der undemo-
auch eine Beleidigung!)
kratischen Bedürftigkeitsprüfung bleiben 34 % der
Ich möchte dies im folgenden kurz begründen. Arbeitslosen ohne jegliche Unterstützung. Die Folge
Wir werden den Eindruck nicht los: Die Koalition ist die wachsende Sozialhilfebedürftigkeit.
konnte bei den Wahlen großspurig versprechen, auch Angesichts dieser Problematik halten wir es erstens
künftig auf Steuererhöhungen zu verzichten, weil sie für völlig unwahrscheinlich, daß die geplante Bei-
bereits ein System ausgeklügelt hatte, wie den Bürge- tragserhöhung in den nächsten Jahren zurückgenom-
rinnen und Bürgern über die Sozialversicherung di- men werden kann, und zweitens finden wir es falsch,
rekt und indirekt tiefer in die Tasche gegriffen wird. daß die von der Bundesregierung verursachten Pro-
So sehr wir dafür sind, füreinander einzustehen, so bleme der Solidargemeinschaft allein denjenigen, die
entschieden wenden wir uns dagegen, daß mit dem noch Arbeit haben, aufgebürdet werden. Wir erwar-
Gebot der Solidarität allein die Arbeitnehmerinnen ten, daß die Bundesregierung ihrerseits einen Beitrag
und Arbeitnehmer zur Kasse gebeten werden, um die zur Lösung der durch die Arbeitslosigkeit entstande-
zu erwartenden Löcher in der Arbeitslosenversiche- nen Not leistet, insbesondere in den fünf neuen Bun-
rung zu stopfen. Sie sollen in diesem Jahr schon desländern.
18,5 Milliarden DM mehr aufbringen, um die Folgen
der Arbeitslosigkeit insbesondere in den fünf neuen Die 2,5 %ige Beitragserhöhung für die Arbeitslosen-
Bundesländern sozial abzufedern. Für 1992 sind sogar versicherung enthält ein weiteres Problem: — —

23 Milliarden DM an Mehreinnahmen in Aussicht ge-


stellt.
Die Bundesregierung begründet ihre Maßnahme Vizepräsident Cronenberg: Frau Abgeordnete, sind
damit, daß Defizite dort gedeckt werden müssen, wo Sie bereit, eine Zwischenfrage zu beantworten?
sie entstehen. Wir könnten uns dagegen ein Finanzie-
rungskonzept vorstellen, das bei denjenigen Geld ab-
schöpft, die die Arbeitslosigkeit in diesem Land zu
verantworten haben. Frau Bläss (PDS/Linke Liste): Nein, jetzt nicht; ich
mache weiter.
(Zurufe von der CDU/CSU: Honecker!)
Was die Erhöhung der Lohnnebenkosten angeht,
Nehmen Sie die Wirtschaft in die Pflicht! Bitten Sie die so hört man schon Kritik der Arbeitgeberinnen und
Anschlußgewinner zur Kasse! Arbeitgeber, die nicht lange warten werden, die er-
Es kann überhaupt kein Trost sein, wenn die Bun- höhten Kosten auf die Preise abzuwälzen; eine Spi-
desregierung in Aussicht stellt, ab 1. Januar 1992 den rale, an deren Ende der Schwarze Peter immer bei den
Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung um 0,5 Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen bzw. den
abzusenken, und für die nächsten Jahre weitere Sen- Konsumenten und Konsumentinnen landet.
kungen verspricht. Unsere Skepsis begründet sich al-
Die zum Ausgleich angebotene Senkung des Ren-
lein schon daraus, daß die Bundesregierung selbst
tenversicherungsbeitrages betrachten wir lediglich
Unsicherheit über die zukünftige Entwicklung signa-
als eine Verschiebung der Problemlage; denn es ist
lisiert, wenn sie sagt, eine mittelfristige Finanzpla-
doch nur eine Frage der Zeit, bis auch hier die Kassen
nung sei nicht möglich, da noch nicht übersehbar sei,
leer sind. Dies gesteht selbst der Minister ein, wenn er
welche Beitragssenkungen durch die zu erwartende
eine Wiederanhebung in zwei Jahren für wahrschein-
bessere Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt möglich
lich hält.
würden. Das ist also ein Konzept mit mehreren Unbe-
kannten. Die Finanzierung der Arbeitslosigkeit zu Lasten der
Wie kommen Sie eigentlich zu der Annahme, daß Rentenkassen ist keine Lösung, sondern lediglich eine
sich die Arbeitsmarktlage in den kommenden Jahren notdürftige Verschleierung der drohenden Pro-
verbessern wird? — Es ist doch wohl unbestritten, daß bleme.
in den Altbundesländern selbst in der Phase der höch- Für uns wird insgesamt das Bestreben der Koalition
sten wirtschaftlichen Prosperität ein Sockel von 2 Mil- immer deutlicher, die Gewinne der Einheit Deutsch-
lionen Arbeitslosen nicht abgebaut werden konnte. lands bei den Großunternehmen, Banken und Ver-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991 275

Frau Bläss
sicherungen zu privatisieren, die Kosten auf breite Es gibt keine sozialpolitische Rede der SPD — ich
Kreise der Bevölkerung abzuwälzen verfolge das seit vier Jahren — , in der das Wort „ab-
(Zuruf von der CDU/CSU: Alte sozialistische kassieren" nicht im Mittelpunkt steht. Aber wenn Sie
Hüte, die Sie verkaufen wollen!) jetzt schon wieder die Erhöhung der Beiträge zur Ar-
beitslosenversicherung so kritisieren, sollten Sie zu-
und letztlich die eingesparten Mittel aus dem Bundes- mindest — das empfände ich als fair — die positiven
haushalt im Golfkrieg zu verpulvern. Entwicklungen in diesem Lande genauso würdigen.
(Beifall bei der PDS/Linke Liste)
(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord
neten der FDP)
Vizepräsident Cronenberg: Zu einer Kurzinterven-
Erstes Beispiel: Die Senkung der Beiträge zur Ren-
tion erteile ich dem Grafen Lambsdorff das Wort.
tenversicherung, die ja von Ihnen selbst vorgeschla-
gen wurde, ist wohl nur möglich, weil die Gesamtent-
Dr. Graf Lambsdorff (FDP): Herr Präsident! Wir wicklung günstiger verläuft, als wir alle glaubten. Nur
möchten den Vorschlag der Rednerin der PDS unter- auf diese Weise ist das möglich geworden. Den Rent-
stützen. Sie hat eben gesagt, daß diejenigen die Ar- nern wird dadurch überhaupt nichts weggenom-
beitslosigkeit finanzieren sollen, die sie verschulden. men.
Ich empfehle, daß die PDS das von der SED ererbte (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)
Vermögen dafür zur Verfügung stellt.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Tun Sie nicht so, als wenn das der Fall wäre!
Das zweite Beispiel: Ohne Gesundheitsreform lä-
gen die Beiträge heute bei 14 %.
Vizepräsident Cronenberg: Das Wort hat der Herr
Abgeordnete Fuchtel. (Zurufe von der CDU/CSU: So ist es! — Min
destens!)
Fuchtel (CDU/CSU)): Herr Präsident! Meine Damen Wir haben sie stabilisiert und den Satz sogar um
und Herren! Ich möchte auf den Kollegen Schreiner 0,7 Prozentpunkte abgesenkt.
zurückkommen. Was Sie gesagt haben, war zunächst
einmal nur die böse Formel vom Wortbruch. Erstens (Sehr richtig! bei der CDU/CSU)
stimmt das nicht, zweitens ist es nicht in die Zukunft Allein die Differenz zwischen den Beiträgen ohne Ge-
führend. sundheitsreform und den Beiträgen, wie wir sie jetzt
Wenn Sie, lieber Kollege Schreiner, diese Ausfüh- haben, liegt in etwa in der Größenordnung, um die wir
rungen über den Kollegen Blüm nicht zurückneh- uns hier jetzt streiten, um die wir diskutieren,
men,
(Schreiner [SPD]: Was hat der Gesetzentwurf
(Schreiner [SPD]: Was stimmt da nicht?) mit der Gesundheitsreform zu tun?)
dann sage ich Ihnen, daß die Arbeit im Sozialausschuß
wobei Sie wieder die alten Neidparolen hervorholen,
sehr schwer wird, die Sie schon damals ausgepackt haben.
(Schreiner [SPD]: Ich lasse mir von Ihnen
überhaupt nicht drohen!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —
Schreiner [SPD]: Was hat der Gesetzentwurf
weil wir dann eben nicht die menschliche Basis fin-
mit der Gesundheitsreform zu tun?)-
den, um die schwierige Aufgabe zu meistern, die wir
miteinander erledigen müssen. — Der begreift nicht einmal die Zusammenhänge.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Was ich hier an politischem Sachverstand erleben
muß, ist schon furchtbar.
Ich habe gestern dem Kollegen Dreßler sehr genau
zugehört; heute finde ich das in Ihrer Rede genauso Drittes Beispiel: Als Sie 1969 an die Regierung ka-
wieder: Sie reden zwar von Solidarität mit den neuen men, betrug der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung
fünf Bundesländern, aber wenn es darum geht, daß 1,3 %. Als Sie gingen, waren es 4 %. Wenn Sie dran-
man etwas teilen muß, lehnen Sie das bisher von vorn- geblieben wären, hätten Sie die 6 1)/0 bestimmt erreicht
herein ab. Diese Haltung müssen Sie aufgeben oder — ohne diese Herausforderungen, denen wir uns jetzt
ändern, damit wir hier zusammenkommen. stellen müssen.
(Abg. Schreiner [SPD] meldet sich zu einer (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Zwischenfrage)
Viertes Beispiel: Im Gegensatz zu Ihrer Regierungs-
— Ich lasse mich jetzt einmal nicht auf Zwischenfra-
zeit geht es den Bürgern unter der Regierung Kohl
gen ein; sonst sitzen wir heute abend noch hier. Wir
nicht schlechter, sondern immer besser. Die durch-
können das in der zweiten und dritten Beratung noch
schnittlichen Nettozuwächse wurden vorhin genannt.
sehr ausführlich miteinander besprechen.
Die vorgesehenen Beitragserhöhungen für die Ar-
Meine Damen und Herren, wer so an die Schaffung beitslosenversicherung bewegen sich in der Größen-
gleicher Lebensbedingungen herangehen will, wird ordnung von 20 DM. Was sollen bei dieser Sachlage
diese große Aufgabe nicht meistern, und wir müssen die Arbeitslosen in den fünf neuen Bundesländern
sie meistern. eigentlich von einer Politik denken, die sich den Fi-
(Schreiner [SPD]: Immer nur auf die kleinen nanzierungsnotwendigkeiten auf sozialpolitischem
Leute!) Gebiet, im Versicherungsbereich, konsequent entzie-
276 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991

Fuchtel
hen will? — Das geht doch nicht, meine Damen und sche auf Festlegung von solchen Freibeträgen nicht so
Herren! erfüllt werden können, wie sie das immer wollten?
Auch in dieser Richtung hat man also die Augen geöff-
(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord
net und offengehalten.
neten der FDP)
Die Beseitigung der Arbeitslosigkeit ist doch wohl Wenn Sie dies alles nicht akzeptieren, möchte ich
die vorrangigste sozialpolitische Aufgabe. Wenn für von Ihnen einmal die Alternativen erfahren. Jede
die Förderung der beruflichen Weiterbildung und für steuerliche Regelung wird in der jetzigen Situation
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen fast 10 Milliarden dazu führen, daß auch auf allen anderen Gebieten ein
DM eingesetzt werden, so ist dies doch der richtige finanzieller Bedarf angemeldet werden wird. Denken
Weg. Sie daran, daß die Ergänzungsabgabe — das ist doch
ein Wunschkind von Ihnen — bei einer Höhe von 10 %
Die Finanzierung über die Arbeitslosenversiche- ganze 13 Milliarden DM bringen würde. Die Erhö-
rung ist dabei um vieles sachgerechter als etwa die hung der Mehrwertsteuer um 1 % würde ganze
über Steuererhöhungen. Dafür sprechen schon die 10 Milliarden DM bringen. Was, meinen Sie, bliebe
Flexibilität und die bisherigen Erfahrungen. Die Bei- dann für die Arbeitslosenproblematik übrig? Es würde
träge zur Arbeitslosenversicherung können je nach weitaus weniger übrigbleiben, als wenn wir hier eine
Situation angepaßt werden, und das ist immer auch Regelung treffen, die ganz speziell die Arbeitsmarkt-
geschehen. Sie gingen in der Vergangenheit mal et- situation im Blick hat und versicherungsrechtlich ab-
was herauf, mal etwas herunter. Bei steuerlichen Lö- gesichert ist.
sungen dagegen haben wir alle miteinander doch er-
lebt, daß es dann, wenn die Steuer einmal erhöht war, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —
sehr schwierig war, die Steuer wieder zu senken. Kirschner [SPD]: Die Mehrwertsteuer zahlen
die Arbeitnehmer nachher auch noch! — An-
(Dr. Geißler [CDU/CSU]: Wir haben es ge dres [SPD]: Vorsicht, Herr Kollege Fuchtel,
tan!) das alles könnte Sie nachher einholen!)
— Wir haben das getan. Deswegen müssen wir auch Unsere Erfahrungen seit 1982 beweisen im übrigen,
noch lange in der Regierung bleiben, damit es nicht daß niedrige Steuersätze die Wirtschaft blühen lassen
anders wird! und durch Wachstum die Steuerquellen sprudeln.
(Dr. Geißler [CDU/CSU]: So ist es!) (Kirschner [SPD]: Und die Verschuldung
Die Arbeitslosenversicherung trifft systembedingt nicht vergessen!)
Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Ich habe auch das
Durch höhere Lohn- und Einkommensteuer würden
vorhin nicht gehört. Sie haben zwar von Verteilung
Leistungen, Investitions- und Innovationsbereit-
von unten nach oben gesprochen, aber Sie haben
schaft geschwächt werden. Diese brauchen wir doch
nicht gesagt, daß daran die Arbeitgeber genauso be-
gerade in der heutigen Zeit.
teiligt sind.
Zur Ergänzungsabgabe hat sich vor kurzem Karl
(Schreiner [SPD]: Ich habe eine ganze Seite
Schiller geäußert. Er hat gesagt, sie würde gerade
über Lohnnebenkosten gesprochen! Haben
diejenigen treffen, die aufgerufen sind, jetzt in den
Sie auf Ihren Ohren gesessen?)
neuen Bundesländern kräftig zu investieren.
Deswegen trägt ihre Formel von der Verteilung von
unten nach oben in dieser Sache überhaupt nicht. Meine Damen und Herren, wo zeigen sich die Alter-
nativen zu unserem Programm? Sie werden- hier sehr
(Beifall bei der CDU/CSU) dünn auf der Matte stehen. Sie können nicht immer
In einem gebe ich Ihnen recht. wieder die gleichen Steuerabgaben hier vorbringen;
denn man kann das Geld nur einmal ausgeben.
(Abg. Schreiner [SPD] meldet sich zu einer
Zwischenfrage) Eine Mehrwertsteuererhöhung — eine andere Lö-
sung —
— Sie können ja nachher mit Kurzinterventionen und
ähnlichem arbeiten; ich möchte jetzt, daß wir ein Ende (Kirschner [SPD]: Die bringen Sie doch auch
der Debatte finden; wir haben nachher noch eine Aus- noch!)
schußsitzung — : Natürlich müssen wir auf die Solida- würde gerade den kleinen Mann und die Familie mit
rität achten. Wenn die Arbeitnehmer beteiligt werden, Kindern treffen. Auch das können wir in der jetzigen
dann — das haben wir aber schon mehrmals gesagt — Situation für diesen Zweck natürlich nicht brau-
müssen selbstverständlich auch die Beamten einbezo- chen.
gen werden. Ich möchte auf die Koalitionsvereinba-
rung hinweisen, in der ganz deutlich zum Ausdruck Deswegen ist es der richtige Weg, durch eine maß-
kommt, daß eine Veränderung der Beiträge in der volle Erhöhung der Beiträge in der Arbeitslosenversi-
nächsten Besoldungsrunde auch bei den Beamtenein- cherung und Parallelmaßnahmen bei den Beamten
kommen entsprechend berücksichtigt werden muß. die notwendige Finanzierungsgrundlage zu schaffen,
um mit einem mutigen und ideenreichen Konzept of-
Bleiben noch die Selbständigen und die Freiberuf- fensiver Arbeitsmarktpolitik einen wirksamen Beitrag
ler. Aber war unsere Argumentation nicht immer so, zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit in den neuen
daß wir bei der Festlegung von Freibeträgen für deren Bundesländern zu erbringen.
soziale Absicherung immer auch darauf hingewiesen
haben, daß sie eben z. B. keine Beiträge zur Arbeits- (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord
losenversicherung bezahlen und deswegen ihre Wün neten der FDP)
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991 277

Vizepräsident Cronenberg: Meine Damen und Her- oder sich solidarisieren sollen, immer nur ganz be-
ren, die Kurzinterventionen haben zu einer beachtli- stimmte Leute gemeint.
chen und wünschenswerten Belebung der Debatte (Andres [SPD]: Das ist das Problem!)
geführt. Ich habe nun zwei weitere Wortmeldungen
vorliegen und beabsichtige, auch in diesen beiden Die Besserverdienenden, deren Einkommen über der
Fällen das Wort zu einer Kurzintervention zu ertei- Beitragsbemessungsgrenze von über 6 500 DM liegt,
len. sind damit nicht gemeint, die Beamten auch nicht, die
Freiberufler nicht, die Selbständigen nicht und die
Der Präsident kann — er muß aber nicht — von die- Unternehmer schon gar nicht. Die sollen investieren
sem Instrument Gebrauch machen. Ich mache Sie dar- und Gewinne einstecken; dafür bekommen sie hohe
auf aufmerksam, daß wir die vorgesehene Debatten- Steuergeschenke.
zeit schon um anderthalb Stunden überschritten ha-
ben. Das voraussichtliche Ende dieser Sitzung liegt Wer soll sich also solidarisieren? Die pflichtversi-
nun bei 15.30 Uhr. cherten Lohnabhängigen. Die sollen sich solidarisie-
ren, indem sie freudig zur Kenntnis nehmen, daß ihre
Auch im Interesse der Arbeitnehmer dieses Hauses Lohnabzüge in Zukunft um 1,5 bzw. um 1,0 Prozent-
und der Kolleginnen und Kollegen, die nach Hause punkte steigen werden. Die Kriegsteuer, die dem-
wollen, bitte ich, von dem Instrument der Kurzinter- nächst noch hinzukommt, kann dann nur noch zu Ju-
vention sparsam Gebrauch zu machen. belschreien hinreißen.
Unter Berücksichtigung dieser Vorbemerkung er- Bei der Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenver-
teile ich dem Abgeordneten Schreiner zu einer kurzen sicherung handelt es sich um nichts anderes als um
Kurzintervention das Wort. eine verschleierte Steuererhöhung, nur mit dem einzi-
gen Unterschied, daß die Steuererhöhung alle, die
Schreiner (SPD): Vielen Dank, Herr Präsident. Ich Beitragserhöhung aber nur die pflichtversicherten
will sie auf zwei Bemerkungen beschränken. Lohnabhängigen trifft. Wir lehnen diese Vorgehens-
weise grundsätzlich ab.
Nachdem der Kollege Fuchtel mir eben vorgehalten
hat, ich hätte nichts zu den Arbeitgeberbeiträgen ge- Das Trostpflästerchen, das Sie für die Erhöhung der
sagt, möchte ich ihn nur darauf hinweisen, daß ich fast Arbeitslosenversicherung um 2,5 Prozentpunkte an-
zwei Minuten von den gestiegenen Lohnnebenkosten bieten, die Herabsetzung des Beitrages zur Renten-
gesprochen habe, die vor allen Dingen in den beschäf- versicherung, halten wir für fatal. Das wird dazu füh-
tigungs- und damit lohnintensiven klein- und mittel- ren, daß die Rücklage, die die Beitragszahlerinnen
ständischen Betrieben zu Buche schlagen werden, und -zahlen mit ihren Beiträgen gebildet haben,
sich aber nicht bei den kapitalintensiven Betrieben schneller verbraucht wird und es in Kürze wieder eine
bemerkbar machen werden. Unter beschäftigungs- Beitragserhöhung geben wird.
politischen Gesichtspunkten ist das nicht gerade das, Manche Leute in diesem Hause sagen, die Regie-
was man sich wünscht. rung habe kein Konzept. Ich sage Ihnen: Sie hat eines,
Die zweite Bemerkung. Da Sie nochmals nach den und dies wird durch die Erhöhung der Beiträge zur
Alternativen gefragt haben, sage ich Ihnen in einem Arbeitslosenversicherung ganz deutlich. Das Konzept
einzigen Satz: Unsere Alternative besteht im Kern heißt: Wer hat, dem wird gegeben, und zahlen sollen
darin, daß wir sagen: Die Besserverdienenden, die mit es die, die sich nicht direkt dagegen wehren kön-
den breiteren Schultern, müssen stärker herangezo- nen.
gen werden als die Schwächeren. Sie betreiben das Danke schön.
-
genaue Gegenteil; das ist die Hauptkritik. (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE sowie bei
(Beifall bei der SPD — Dr. Geißler [CDU/ Abgeordneten der SPD und der PDS/Linke
CSU]: Wo fängt denn bei Ihnen der Besser Liste)
verdienende an?)

Vizepräsident Cronenberg: Das Wort hat der Herr


Vizepräsident Cronenberg: Bei der Abgeordneten Abgeordnete Andres.
Frau Dr. Höll möchte ich mich bedanken, daß mein
Appell angekommen ist. So kann ich jetzt der Abge-
ordneten Frau Schenk das Wort erteilen. Andres (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Die Redner der Koalition können
hier vortragen, was sie wollen, die öffentliche Kom-
Frau Schenk (Bündnis 90/GRÜNE): Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Auch eingedenk des eben mentarlage ist sehr eindeutig. Egal, welches Organ
an uns ergangenen Appells möchte ich mich mit mei- man sich ansieht, quer durch die Medien wird der
ner Rede zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung sozialpolitische Verschiebebahnhof, den wir hier in
der Beitragssätze in der gesetzlichen Rentenversiche- erster Lesung beraten, verrissen.
rung und bei der Bundesanstalt für Arbeit kurzfas- (Feilcke [CDU/CSU]: In den Gewerkschafts
sen. medien!)
Bei der Vereinigungsfeier am 3. Oktober in der Phil- Die „Zeit", bestimmt kein Gewerkschaftsorgan,
harmonie sagt der Bundespräsident, wir müßten ler- schrieb am 18. Januar 1991 — ich zitiere — : „Bei den
nen zu teilen. Der Bundeskanzler redet von Solidari- Bonner Sparbeschlüssen fehlt es an der sozialen Aus-
tät, vom sozialen Dialog und von ähnlich schönen Din- gewogenheit. Die alte Lobby setzt sich wieder
gen. Offensichtlich sind aber mit denen, die teilen durch".
278 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991

Andres
Ich denke, wenn man sich die Reden hier auf der gegrenzt sind. Dies ist, meine sehr verehrten Damen
Zunge zergehen läßt, vom Kollegen Blüm, gestern und Herren — da können Sie hier reden, was Sie wol-
abend vom Kollegen Scharrenbroich, kann man hier len — , sozial zutiefst ungerecht.
diskutieren, was man will: Das Gesetz, das wir hier (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/
beraten, regelt einen Großteil von Lastenverteilung GRÜNE)
nur zu Lasten einer ganz bestimmten Gruppe in unse-
rer Gesellschaft. Ich füge ausdrücklich hinzu: Wenn man manche
Reden hört und mitverfolgt, wie Nebel geworfen wird,
(Schreiner [SPD]: So ist es!)
wird man sehr traurig, vor allem diejenigen, die die
Ich möchte eine Zwischenfrage vom Kollegen Gibt- Hintergründe kennen und die Problematik mit Sach-
ner beantworten. Ich habe im Handbuch nachgese- verstand verfolgen.
hen: es ist ein Kollege aus den neuen Bundesländern,
und ich sage das auch mit Blick auf die Menschen in Als geradezu tragikomisch empfand ich gestern die
den neuen Bundesländern. Wir streiten hier nicht Rede des Kollegen Scharrenbroich. Man war immer
darum, ob den Menschen in den neuen Bundeslän- hin- und hergerissen, ob man lachen oder Mitleid ha-
dern mit einer verheerenden Arbeitsmarktsituation ben sollte. Ich persönlich meine, es gehört schon eine
geholfen werden soll oder nicht. Wir sind dafür, daß gewisse Portion Masochismus dazu,
ihnen geholfen wird. Wir streiten darum, mit welchen (Schemken [CDU/CSU]: Was ist das?)
Instrumenten wir das tun, und wir streiten darum, wer
dafür die Rechnung zu zahlen hat. Was hier vorgelegt die Maßnahmen der Bundesregierung so zu begrün-
wird, halten wir für zutiefst sozial ungerecht, und wir den, wie der Kollege Scharrenbroich das getan hat.
halten dies für eine soziale Schieflage, die mit massi- Herr Kollege Fuchtel kam mit derselben Melodie.
vem Wortbruch verbunden ist, mit Aussagen vor der Herr Scharrenbroich sagte: Es geht doch nur um
Bundestagswahl und mit dem, was die Koalitionsver- 27 DM; was hätte man statt dessen tun sollen? Ich will
einbarung danach gebracht hat. daran erinnern: Mit dem Steuerreformgesetz 1990
Ein zweiter Punkt. Ich muß sagen: Wer in Betrieben verzichtete der Staat auf Einnahmen in Höhe von ca.
in den neuen Bundesländern unterwegs ist, wer damit 20 Milliarden DM. Diese sogenannte Reform wurde
befaßt ist, der sieht, daß die Beschäftigungslage in von Kohl, Waigel und Blüm als Jahrhundertwerk ge-
den neuen Bundesländern verheerend ist. Ich will feiert. Viele Gesetze werden ja als Jahrhundertwerk
hinzufügen: Auch bei uns in den alten Bundesländern bezeichnet. Wenn man sich anhört, was die Redner
ist es trotz Vollbeschäftigungssituation nicht so, daß der Koalition alles als „Jahrhundertwerk" abfeiern,
wir über alle Fragen des Arbeitsmarktes glücklich dann kann man wirklich Lachkrämpfe bekommen.
sein können. Ich denke, wir sind bei dieser Entwick- (Feilcke [CDU/CSU]: Lachen Sie doch mal!
lung noch nicht am Ende. Die Beschäftigungslage Sie sind doch völlig humorlos!)
wird in den neuen Bundesländern noch viel dramati-
scher werden, und das ist der eigentliche Hintergrund Mehr als dieser Betrag wird mit den Erhöhungen
für das, was wir hier heute beraten. des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung abkas-
siert, jedoch mit einem Unterschied: Die jetzige Ak-
Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung hat im tion trifft die Arbeitnehmer mit Durchschnittsein-
Oktober eine Anhörung durchgeführt. Bereits in die- kommen; von den Steuerentlastungen profitierten
ser Anhörung war für die beteiligten Fachleute völlig überwiegend die Spitzenverdiener. Man kann der
klar, daß auf Grund der dramatischen Arbeitsmarkt- Bundesregierung gratulieren: Nach dieser Melodie ist
entwicklung in den neuen Bundesländern die Bun- -
Ihnen wirklich wieder ein Jahrhundertwerk gelun-
desanstalt ein Defizit von mindestens 25 bis 30 Milli- gen.
arden DM haben wird. Der Dreh- und Angelpunkt,
mit dem wir uns hier bei dieser Debatte beschäftigen, Ich will einen weiteren Punkt anführen, liebe Kolle-
ist, ob sich der Bund über Gesetzgebungsmaßnahmen ginnen und Kollegen: Es wird davon gesprochen, daß
sozusagen aus bestimmten Verpflichtungen verab- die Beitragssenkung in der Rentenversicherung nur
schiedet oder ob er das nicht tut. 25 bis 30 Milliarden die Folge einer Forderung der SPD sei.
DM, da paßt es ganz gut, daß man zumindest für die- (Dr. Blüm [CDU/CSU]: Das hätten wir auch
ses Jahr mit einer Erhöhung von 2,5 Prozentpunkten ohne euch gemacht!)
rund 20,5 Milliarden DM über Beitragserhöhungen
bei der Bundesanstalt für Arbeit hereinholt. Alle Kom- — Ich komme gleich darauf, warum ihr das ohne uns
mentatoren — damit komme ich auf die Ausgangslage gemacht hättet.
zurück — sagen: Es kann doch eigentlich nicht wahr Ich möchte eine andere Begründung als der Bun-
sein, daß für eine Folgeproblematik, die sich aus der desarbeitsminister zitieren, und zwar ebenfalls vom
deutschen Einheit ergibt, nämlich für die Beseitigung Mai des vergangenen Jahres:
von Strukturverwerfungen, die sich nicht aus der Sy-
stematik der Sozialversicherung ergeben, sondern aus Die gute Konjunkturlage hat zu einer erfreuli-
der politischen Entscheidung für die deutsche Einheit, chen Vermögensentwicklung der gesetzlichen
nur ein bestimmter Teil unserer Gesellschaft zur Rentenversicherung geführt. Das birgt aber auch
Kasse gebeten wird. eine große Gefahr: Bundesfinanzminister Waigel
möchte in die Rentenkassen greifen und damit
(Beifall bei der SPD) die notwendigen Maßnahmen der Anschubfinan-
Alle Kommentierungen sprechen davon, daß dieje- zierung für die DDR bezahlen. Der CDU/CSU
nigen, die keinen Beitrag an die Bundesanstalt für Abgeordnete Lintner hat diese Absicht am
Arbeit zahlen müssen, aus diesem Problemkreis aus 27. April vor dem Deutschen Bundestag in aller
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991 279
Andres
Offenheit bestätigt. Nach den Wahlniederlagen Dr. Blüm (CDU/CSU): Können Sie bestätigen, daß
des vergangenen Wochenendes wurden Beruhi- das Volumen der Anschubfinanzierung größer war als
gungstabletten verteilt. Wegen der Verschiebe- der akute Finanzbedarf der Rentenversicherung?
aktion der letzten Jahre kann man sich darauf
nicht verlassen. Andres (SPD): Das kann ich bestätigen, Herr Ar-
Das war eine weise Vorhersage, daß man sich dar- beitsminister. Das Problem, das sich zu der konkreten
auf nicht verlassen kann. Herr Bundesarbeitsminister, Situation ergeben hat, als wir diese Forderungen ein-
selbstverständlich ist es bei einer entsprechenden gebracht haben, kann ich aber genauso bestätigen.
Rücklagensituation der Rentenversicherung ein ange- Die kann man jetzt hier nicht wegdefinieren. Hierbei
messenes Mittel, mit Beitragssenkungen zu reagie- ist zu bedenken — darauf weisen alle Fachleute hin ;
ren. ichmötedasnrSlocheimasgn—,
daß die mit der jetzigen Absenkung verbundenen Pro-
Vizepräsident Cronenberg: Herr Abgeordneter, ich bleme, die sich infolge des Zusammenschlusses ab
entnehme Ihrer Geste, daß Sie bereit sind, eine Frage 1992 ergeben können, und die langfristigen Finanz-
des Abgeordneten Dr. Blüm zu beantworten. probleme, die wir mit Hilfe einer gemeinsamen Ren-
tenreformgesetzgebung zu lösen versucht haben,
Andres (SPD): Darf ich den Gedanken zu Ende füh- nach wie vor vor uns liegen. Die Größenordnung, um
ren? Dann ist der Bundesarbeitsminister an der Reihe. die wir die Beiträge jetzt absenken, wird für die Ren-
Setzen Sie sich noch so lange, Herr Blüm. Ich will Sie tenversicherung in den Folgejahren — langfristig ge-
nicht so lange stehenlassen. Wir haben ja noch einen sehen — durch den entsprechend höheren Anstieg
Moment Zeit. aber wieder ausgeglichen werden — das wissen Sie
genauso gut wie wir —, und zwar von den gleichen
Leuten.
Vizepräsident Cronenberg: Das überlassen wir dem
Abgeordneten Blüm. (Dr. Blüm [CDU/CSU]: Es bleibt dabei, daß
der Finanzminister nicht in die Rentenkasse
Andres (SPD): Völlig klar ist allen Fachleuten, daß
gegriffen hat!)
diese Beitragssenkung nur eine sehr kurzfristige sein Ein letzter Punkt. — Herr Präsident, vielleicht können
kann und daß mögliche Unwägbarkeiten auf die Ren- Sie mir sagen, wieviel Redezeit ich noch zur Verfü-
tenversicherung zukommen, die mit vielerlei Dingen gung habe.
zu tun haben, beispielsweise mit der Zusammenfüh-
rung ab 1992. Vizepräsident Cronenberg: Sie haben noch zwei
Es ist völlig klar: Es wird eine vorübergehende An- Minuten, Herr Abgeordneter.
gelegenheit sein. Das Ganze ist von Ihnen doch nur als
kleines Trostpflaster gedacht, um sozusagen die 2 1 /2 Andres (SPD): Ich habe noch zwei Minuten. Das ist
Prozentpunkte Erhöhung der Arbeitslosenversiche- eine ganz wunderbare Angelegenheit. — In diesem
rung nach der Melodie der Kollegin von der FDP ver- Zusammenhang möchte ich noch einen letzten Punkt
kleistern zu können. ansprechen. Mit der Beitragsmanipulation und ihren
Herr Bundesarbeitsminister, Sie sind dran. schlimmen Folgen sind die Eingriffe der Bundesregie-
rung in die Rentenfinanzen noch nicht zu Ende. Ent-
gegen den öffentlichen Beteuerungen ist das Thema
Dr. Blüm (CDU/CSU): Herr Kollege, können Sie
der Verschiebung von Finanzlasten der knappschaft-
bestätigen, daß sich Ihr Verdacht, der Bundesfinanz- lichen Rentenversicherung vom Bundeshaushalt auf
minister würde in die Rentenkasse greifen, als völlig die Beitragszahler noch keinesfalls vom Tisch.
unbegründet erwiesen hat?
(Dreßler [SPD]: Sehr wahr!)
Andres (SPD): Herr Bundesarbeitsminister, das Vereinbart wurde nämlich, daß die Rentenversiche-
kann ich überhaupt nicht bestätigen. Ich möchte Ih- rung der Arbeiter und Angestellten ab 1993 einen
nen an dieser Stelle sagen: Unsere Beitragsabsen- sogenannten Wanderungsausgleich an die knapp-
kung vom vergangenen Mai war mit ganz konkreten schaftlichen Rentenversicherung zusätzlich zahlen
Belegen dahin gehend versehen, daß der Bundes- soll. Damit mindert sich das Defizit der Bundesknapp-
finanzminister die mit der Anschubfinanzierung zu- schaft, das eigentlich aus dem Bundeshaushalt zu
sammenhängenden Probleme — diese werden wir in decken wäre. Im Klartext: Der Bund hat sich auf Ko-
der Folgezeit ja auch noch zu bewältigen haben — mit sten der Beitragszahler aus der Verantwortung für die
einem Griff in die Rentenkasse bewältigen wollte. besonders ungünstige Altersstruktur der knapp-
schaftlichen Rentenversicherung entlastet.
(Dr. Blüm [CDU/CSU]: Darf ich noch eine
Zusatzfrage stellen?) (Dr. Blüm [CDU/CSU]: Ein Wanderausgleich
ist doch nichts Neues!)
Vizepräsident Cronenberg: Ich rechne Ihnen die Ich möchte eine Schlußbemerkung machen, meine
Zeit nicht an, Herr Abgeordneter Andres. sehr verehrten Damen und Herren. Da scheint mir das
eigentliche Kernproblem zu liegen.
Andres (SPD): Danke schön. (Dreßler [SPD]: Genauso ist es!)
Es hat eine Reihe von Vorschlägen zu der Frage gege-
Vizepräsident Cronenberg: Herr Abgeordneter ben, wie man mit diesem Problem fertigwerden
Blüm, wenn der Abgeordnete Andres bereit ist zu ant- könnte. Von den Gewerkschaften ist z. B. vorgeschla-
worten, dann selbstverständlich. Bitte schön! gen worden, eine Arbeitsmarktabgabe einzuführen,
280 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991

Andres
weil damit eine weitaus größere Beteiligung von Men- Andres (SPD): Sie kennen das aus dem Fußball; Sie
schen in dieser Republik erreicht werden könnte. Die- haben ja einmal versucht, prominente Fußballer in
sen Gedanken haben Sie aber nicht weiter verfolgt. NRW unterzubringen.
Den Fragen des Kollegen Heyenn danach, wie hoch (Heinrich [FDP]: Was Sie jetzt sagen, das
denn die Belastungen für die Arbeitnehmer seien und können Sie vergessen, Herr Kollege!)
wie hoch die Belastungen für die Beamten sein wür-
Ich halte das, was Sie hier in bezug auf Ihr gebro-
den, sind Sie, Herr Bundesarbeitsminister, ja wohl-
chenes Wort verantworten, für politisch unglaublich.
weislich ausgewichen.
Schönen Dank.
In diesem Zusammenhang möchte ich der Kollegin
von der FDP-Fraktion nur sagen: Es gibt keine Tarif- (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/
verträge für Beamte. Der Kernpunkt, um den es hier GRÜNE — Dr. Blüm [CDU/CSU]: Kreis
gehen muß, meine sehr verehrten Damen und Herren klasse!)
— darüber werden wir in den nächsten Wochen und
Monaten noch streiten — , ist die Frage, wie die La- Vizepräsident Cronenberg: Meine Damen und Her-
sten, die sich aus der deutschen Einheit ergeben, in ren, wir sind nun am Schluß der Aussprache zu diesem
dieser Gesellschaft solidarisch verteilt werden kön- Tagesordnungspunkt.
nen. Eines berührt mich ganz, ganz unangenehm. Ich Mir liegt ein Teil des heutigen Protokolls vor. Die
muß sagen: Sie sitzen hier in einer Ecke, in die Sie sich Formulierungskunst des Abgeordneten Schreiner gibt
selbst hineinmanövriert haben. Herr Lambsdorff sagt mir nicht die Möglichkeit, die zur Diskussion stehende
immer, es gebe keine Steuererhöhung und all diese Passage mit einem Ordnungsruf zu belegen. Aber ich
Dinge. Sie sitzen in einer Falle, in die Sie sich selbst möchte dem Hause nicht vorenthalten, Herr Abgeord-
hineinmanövriert haben. Jetzt versuchen Sie, dieses neter Schreiner, daß ich den Sinn und die Absicht, die
Problem über Abgaben und Gebührenerhöhungen zu in dieser Formulierung für mich klar ersichtlich wa-
regeln. Was ich für besonders pikant halte — das muß ren, für unfair und für meine Person für unakzeptabel
ich Ihnen jetzt wirklich einmal sagen — , ist, daß man halte.
nun angesichts der absehbaren Belastung von mo-
mentan 8,5 Milliarden DM wegen der Golfkrise sofort (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —
nach Steuererhöhungen ruft, damit man sozusagen Schreiner [SPD]: Das war eine objektive Dar
aus der selbst gestellten Falle herauskommt. stellung! Herr Präsident, ich erhebe Ein
spruch dagegen!)
(Zuruf von der FDP: Das hatten wir heute
— Das können wir hier nicht diskutieren.
doch schon!)
Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Gesetzent-
Diese riesigen Belastungen in Höhe von 130 Milliar-
wurf auf Drucksache 12/56 zur federführenden Bera-
den, 150 Milliarden, 200 Milliarden und mehr, vor de-
tung an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
nen wir auf Grund der deutschen Einheit nun stehen,
und zur Mitberatung an den Finanzausschuß und den
haben Sie vor dem Wahlgang immer verniedlicht, ver-
Ausschuß für Wirtschaft sowie an den Haushaltsaus-
kleinert und wegdiskutiert. Jetzt aber kommen diese
schuß gemäß § 96 unserer Geschäftsordnung zu über-
Probleme auf uns zu. Sie befinden sich nun in einer
weisen. Gibt es anderweitige Vorschläge? — Das ist
Situation, die Sie dazu bringt, Gebühren, Abgaben
nicht der Fall. Dann ist es so beschlossen.
und Beiträge erhöhen zu müssen, nicht aber darüber
nachzudenken, wie in unserer Gesellschaft die Kosten Ich möchte die Kolleginnen und Kollegen des Aus-
für die deutsche Einheit solidarisch getragen werden schusses für Arbeit und Soziales darauf aufmerksam
können. Das ist der eigentliche Skandal. machen, daß nach Beendigung der Debatte dort noch
-
eine — hoffentlich kurze — Sitzung stattfindet.
(Beifall bei der SPD)
Wir kommen nunmehr zum zweiten Zusatztages-
Vizepräsident Cronenberg: Herr Abgeordneter, ich ordnungspunkt:
muß Sie darauf aufmerksam machen, daß ich jetzt Erste Beratung des von den Fraktionen der
mehr als großzügig gewesen bin. CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs ei-
nes Ersten Gesetzes zur Änderung des Fünften
Andres (SPD): Herr Bundesarbeitsminister, einen Buches Sozialgesetzbuch
Schlußsatz, auch was Ihre Rede gestern abend be- — Drucksache 12/57
trifft. —Überweisungsvorschlag:
Ich muß sagen, nach alledem, was ich aus den Ausschuß für Gesundheit
Koalitionsvereinbarungen mitbekommen habe — ich Auch hier ist eine Stunde Debattenzeit vereinbart
nenne die Abtrennung des Gesundheitsbereichs und worden. Ich hoffe, daß diese nicht so überschritten
ähnliche Dinge mehr —, nach den Schauspielen, die wird wie beim letzten Tagesordnungspunkt. Ich frage
Sie uns jetzt bieten, und nach diesem Gesetzentwurf das Haus, ob es mit einer Stunde Debattenzeit einver-
sind Sie für mich, bevor überhaupt das Jahr richtig standen ist. — Das ist offensichtlich der Fall.
begonnen hat, schon Ende Januar der Absteiger des Dann kann ich die Debatte eröffnen. Das Wort hat
Jahres. der Abgeordnete Jagoda.

Vizepräsident Cronenberg: Sie sollten sich an Ihre Jagoda (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr
eigenen Vorgaben halten. Sie haben von einem verehrten Damen und Herren! Der Sozialstaat
Schlußsatz gesprochen. Deutschland ist größer geworden. Neben der ständi-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991 281

Jagoda
gen Aufgabe, ihn weiterzuentwickeln, genießt die vorgelegt. Nachdem das Kabinett diese Vorlage gebil-
Aufbauarbeit in den fünfeinhalb neuen Bundeslän- ligt hat, ist sie auf dem Weg zum Bundesrat.
dern größte Priorität. Um das Ziel eines gleichen So-
zialniveaus rasch zu erreichen, brauchen wir neue, Ich möchte für meine Fraktion dem Bundesarbeits-
wirkungsvolle Instrumente, Kraft und Flexibilität. Wir minister für die erfolgreichen Bemühungen, diese Lö-
müssen darauf achten, daß der schwierige Umstel- sung zu finden, danken, ebenso Ihnen, Frau Minister
lungsprozeß nicht negativ berührt, sondern positiv ge- Hasselfeldt, für den letzten Feinschliff, den Sie vorge-
fördert wird. Eine Überforderung der Sozialsysteme nommen haben.
wäre schon in der bisherigen Bundesrepublik
(Beifall bei der CDU/CSU)
Deutschland untragbar; in den neuen Bundesländern
wäre sie tödlich. Herausstellen möchte ich aber auch die großen An-
Da die Krankenversicherung keinen Staatszuschuß strengungen der Marktbeteiligten, sich einvernehm-
kennt, sondern nur auf die Beitragseinnahmen ange- lich auf die jetzige Lösung festzulegen. Dies ist ein
wiesen ist und der Beitragssatz mit 12,8 % im Jahre hoffnungsvolles Zeichen für die Zukunft, gemeinsam
1991 festgeschrieben wurde, muß ganz besonders die Schwierigkeiten zu meistern. Herzlichen Dank also
gesetzliche Krankenversicherung vor Überforderung den Verantwortlichen aus der Pharmaindustrie, dem
geschützt werden. Deshalb wurde die Selbstverwal- Großhandel und der Apothekerschaft.
tung der GKV im Einigungsvertrag verpflichtet, unter Um diesem abgestimmten Modell zum 1. April 1991
Wahrung der Beitragsstabilität Gebühren, Preise und Gesetzeskraft zu verleihen und den parlamentari-
Vergütungen so auszuhandeln, daß eine Überforde- schen Gremien ausreichend Zeit zur Beratung zu ge-
rung vermieden wird. ben, haben sich sie Koalitionsfraktionen diesen Ent-
Meine Damen und Herren, für den Arzneimittelbe- wurf zu eigen gemacht und bringen ihn heute als ihre
reich haben die Krankenversicherungen kein Instru- Initiative in den Deutschen Bundestag ein.
ment. Die Herstellerabgabenpreise können frei gebil- Mit diesem Entwurf erreichen wir das Ziel Schutz
det werden. Diese werden nach der Apothekenpreis- vor Überforderung auf einem anderen Weg. Die
spannenverordnung über die Großhandels- und Apo- Marktbeteiligten garantieren durch Einnahmever-
thekenaufschläge einschließlich der 14prozentigen zicht, daß die Krankenversicherungen im Beitrittsge-
Mehrwertsteuer zu einem einheitlichen Apotheken- biet für Arzneimittel prozentual nur so belastet wer-
abgabenpreis hochgerechnet. Diese Preise auf West- den wie im bisherigen Bundesgebiet. Sie tragen im
niveau sind bei der niedrigeren Grundlohnsumme ersten Zeitraum, vom 1. April 1991 bis 31. März 1992,
und dem festgezurrten Beitragssatz nicht tragbar. ein entstehendes Defizit von 500 Millionen DM ganz
Deshalb wurde im Einigungsvertrag ein Abschlags- und beteiligen sich an einem weiteren möglichen De-
mechanismus gewählt, der die Krankenversicherun- fizit mit 50 %. Im zweiten Zeitraum, vom 1. April 1992
gen im Beitrittsgebiet vor Überforderungen durch bis 31. März 1993, verdoppelt sich die Defizithaftung
Arzneimittelpreise schützt. Ziel dieser Operation war der Marktbeteiligten. Sie decken also ein mögliches
es, daß die Krankenversicherungen in den Ländern Defizit in Höhe von 1 Milliarde DM allein. Sollte es
Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen- wider Erwarten zu einem höheren Defizit kommen, so
Anhalt, Sachsen, Thüringen und dem Ostteil von Ber- beteiligen sie sich wieder mit 50 %. Für die letzte Zeit-
lin für die Arzneimitteltherapie ihrer Versicherten phase, vom 1. April 1993 bis 31. Dezember 1993, also
ebenfalls nur einen Beitragsanteil von 15,6 % aufzu- nur für neun Monate, steht die Garantiesumme von
bringen haben wie in der bisherigen Bundesrepu- 700 Millionen DM zur Verfügung. Übersteigt das De-
blik. fizit diese Summe, so zahlen Hersteller, Großhandel
Wegen der Zeitenge war es im Sommer 1990 nicht und Apotheker wieder 50 % der Restsumme. Zur Min-
möglich, mit den Beteiligten über andere Instrumente derung des Restrisikos, meine Damen und Herren,
zu debattieren. Deshalb waren sich die Verhand- stehen den Krankenversicherungen 600 Millionen
lungsdelegationen einig, den gesamtdeutschen Ge- DM aus der Anschubfinanzierung zur Verfügung.
setzgeber zu bitten, zu prüfen, ob nicht andere, viel-
leicht praktikablere, die Krankenversicherung vor Mit dieser Initiative wird nur die gesetzliche Kran-
kenversicherung geschützt. Dies ist keine beabsich-
Überforderung schützende Instrumente gefunden
und verbindlich festgeschrieben werden können. An- tigte Entscheidung gegen die private Krankenversi-
cherung. Der Gesetzgeber hat seit jeher beide Berei-
gesichts der zurückliegenden Diskussion möchte ich
anmerken, daß der seit dem 1. Januar 1991 prakti- che unterschiedlich behandelt. Die Rechtfertigung
leitet sich aus den unterschiedlichen Prinzipien des
zierte Weg weder ordnungspolitisch verwerflich noch
jeweiligen Systems ab. Das System der PKV kennt die
verfassungswidrig ist. Auch er stellt einen brauchba-
Äquivalenz von Beitrag und Leistung. Die Beitrags-
ren Schutz vor Überforderungen der Krankenversi-
höhe ist risikoadäquat. Die PKV ist im Regelfall ge-
cherungen dar. Er führt auch nicht zu einer Überfor-
winnorientiert und handhabt das Kostenerstattungs-
derung der Marktbeteiligten, weil er dynamisch der
Einkommensentwicklung anzupassen ist. prinzip. Die gesetzliche Krankenversicherung dage-
gen fußt auf dem Prinzip des Solidarausgleichs. Hier
Der Bundesarbeitsminister hat in mehreren Ge- steht der Besserverdienende dem Schwächeren bei.
sprächs- und Verhandlungsrunden mit den Marktbe- Die Kinder und der Ehepartner sind beitragsfrei ver-
teiligten ein anderes Sysstem ausgehandelt. Die Ge- sichert. Es gibt keine Risikozuschläge. Das Sachlei-
sundheitsministerin hat nach letzter Feinabstimmung stungsprinzip ist Grundlage der Patientenversorgung.
im Kabinett den Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Es handelt sich also um zwei sehr unterschiedliche
Änderung des Fünften Buches SGB zur Entscheidung Systeme.
282 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991

Jagoda
Deshalb ist der in der Presse erhobene Vorwurf, Geht man ferner davon aus, daß die Nachfrage nach
diese Initiative verstoße gegen den Gleichheitsgrund- apothekenpflichtigen Arzneimitteln durch die gesetz-
satz, nicht ganz verständlich. In der Beratung werden liche Krankenversicherung im Beitrittsgebiet nach
wir uns sicher auch mit dieser Frage sehr eingehend heutigen Preisen ein Volumen von 5 Milliarden DM
zu befassen haben. Die Vorzüge dieser Initiative ge- haben dürfte und die Pharmaindustrie West einen
genüber dem zur Zeit praktizierten Weg sehe ich u. a. größeren Marktanteil erobern will, wird die Verhal-
in folgenden Punkten. tensweise einiger zu Beginn dieses Jahres noch un-
verständlicher. Wir sind meines Wissens das einzige
Erstens. In ganz Deutschland bleibt der einheitliche
Land, in dem sich die Herstellerpreise für pharmazeu-
Apothekenabgabepreis erhalten.
tische Erzeugnisse frei bilden können. Unser politi-
Zweitens. Die Akzeptanz der Marktbeteiligten ist sches Ziel muß es daher sein, daß dieses ordnungspo-
gegeben. Akzeptierte Opfer werden leichter er- litisch richtige Verfahren im ganzen europäischen
bracht. Binnenmarkt Einzug hält. Auch deshalb war diese
Drittens. Die wohnortnahe Versorgung der Patien- spektakuläre Weigerung einiger ein Selbsttor, meine
ten mit Medikamenten wird verbessert. Leistungsfä- sehr verehrten Damen und Herren.
hige Großhandelssysteme und die Verselbständigung Im Namen der CDU/CSU-Fraktion bitte ich die an-
von Apotheken werden erleichtert. deren Fraktionen dieses Hauses, durch eine zügige
Beratung mitzuhelfen, daß die Beratungen zu dieser
Viertens. Dies ist eine Exporterleichterung für die Initiative zeitgerecht abgeschlossen werden können.
heimische Pharmaindustrie, weil der einheitliche Re- Für das erste Zeichen der Bereitschaft, schon heute
ferenzpreis erhalten bleibt. eine Ausschußsitzung durchzuführen, möchte ich der
Fünftens. Die Mehrwertsteuereinnahmen erhöhen Opposition im Namen meiner Fraktion herzlich dan-
sich beträchtlich und kommen nach Art. 7 des Eini- ken.
gungsvertrages auch den neuen Bundesländern zu- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
gute.
Sechstens. Mögliche graue Märkte können besser Vizepräsident Cronenberg: Das Wort hat der Abge-
bekämpft werden. ordnete Dr. Knaape.
(Peter [Kassel] [SPD]: Das hätten Sie voriges
Jahr machen sollen, wenn es so toll ist!) Dr. Knaape (SPD): Herr Präsident! Meine Damen
— Der Abgeordnete Peter (Kassel) ist ein Wunder- und Herren! Durch den vorliegenden Gesetzentwurf
künstler. Da ich nicht ganz unbeteiligt gewesen bin, der Bundesregierung soll der im Deutschlandvertrag
Herr Kollege: vorgesehene 55%ige Preisabschlag auf Arzneimittel
durch eine stufenweise vorgenommene Defizitaus-
(Peter [Kassel] [SPD]: Ich weiß das!) gleichsregelung, verteilt auf die Arzneimittelherstel-
Ich hoffe, daß Sie die Humanisierung der Arbeitswelt ler, den Großhandel und die Apotheken, abgelöst
auch noch ein Stück pflegen wollen und nicht erwar- werden. Dadurch soll ein böses Pokerspiel mit der
ten, daß die Beamten in den einzelnen Ministerien, Angst der kranken und behandlungsbedürftigen Se-
die damals rund um die Uhr gearbeitet haben, den nioren beendet werden. Es zeigt sich, daß der Bundes-
Tag noch verlängern und 24 oder noch mehr Stunden arbeitsminister im August 1990 seine Stellung falsch
arbeiten. einschätzte, als er versuchte, durch dirigistisches Ver-
fahren einen freien Markt zu regulieren.
(Beifall bei der CDU/CSU — Peter [Kassel] -
Es ist nicht zu verstehen, weshalb die Bundesregie-
[SPD]: Jawohl, Herr Beamter!)
rung bei einer so sensiblen Frage vorher nicht alle
Das im Einigungsvertrag festgelegte System des Beteiligten an einen Tisch geholt und über eine Kom-
„dynaminsierten Einstiegswinkels" war polemischer promißlösung verhandelt hat. Offenbar glaubt sie, daß
Kritik ausgeliefert. Der Kulminationspunkt wurde mit sie ohne Folgen durch solche zu massiver Verärge-
der Weigerung einiger Pharmaunternehmen, Medi- rung führenden Verfahrensweisen zäh und beharrlich
kamente zu diesen Bedingungen den Kranken im Bei- am Stamm ihrer Wähler in den Beitrittsländern weiter
trittsgebiet zur Verfügung zu stellen, erreicht. Selbst sägen kann. Sie unterliegt dem Fehler, den Langmut
wenn man sehr viel Verständnis für eine harte Aus- der Bürger zu unterschätzen. Man könnte sich aus der
einandersetzung in einer freien Gesellschaft aufzu- Opposition heraus über solche Ungeschicklichkeit nur
bringen vermag, stößt diese Verhaltensweise nicht freuen, wenn sie sich nicht folgenschwer auf die psy-
nur auf völliges Unverständnis, sondern auch auf un- chische Befindlichkeit der Bürger auswirken würde.
sere erbitterte Ablehnung. Die deutsche pharmazeutische Industrie scheute
(Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Aber sie war wir sich auch nicht, ihren traditionell guten Ruf in den
kungsvoll!) Beitrittsländern aufs Spiel zu setzen und durch Rund-
schreiben einen Lieferboykott, unterstützt durch die
Ich sehe darin eine nachhaltige Imageschädigung Apotheken, ab Januar 1991 anzukündigen.
der gesamten deutschen Pharmaindustrie, also auch
jener Bet ri ebe, die sich nicht beteiligten. Diese Hand- (Dreßler [SPD]: Leider wahr! — Peter [Kassel]
lungsart einiger ist um so unverständlicher, wenn man [SPD]: Ein schöner Hammer war das!)
bedenkt, daß der Marktanteil der westdeutschen Aus der Sicht der Pharmaindustrie ist sicher ver-
Pharmabranche 1990 im Beitrittsgebiet ganze 20 % ständlich, daß sie die unkontrollierte Verbreitung der
betrug und die Arzneimittel kalkulatorisch zu Grenz- in den Beitrittsländern verbilligt angebotenen Arznei-
kosten produziert werden können. mittel auf alle Bundesländer und auch auf das Aus-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991 283

Dr. Knaape
land befürchtete und verhindern wollte. Aus der Sicht für die Deckung eines Defizitausgleichs bei den Arz-
eines bedürftigen Kranken ist es jedoch schwierig, neimitteln, sondern vielmehr für den Ausbau der Ge-
solche Beschränkungen einzusehen, zumal in einer samtleistung der Krankenversicherung eingesetzt
Phase der Entwicklung, in der das ambulante Ge- werden sollten.
sundheitswesen in den Beitrittsländern im Umbruch, Wir gehen davon aus, daß der vorliegende Gesetz-
um nicht zu sagen: teilweise in der Auflösung begrif- entwurf zunächst durch die Anhörung von Sachver-
fen ist, was die Polikliniken und Ambulatorien anbe- ständigen im Gesundheitsausschuuß auf seine Trag-
trifft. fähigkeit in den Beitrittsländern abgeklopft werden
Der Zwang und das schnell geweckte Bedürfnis der muß, signalisieren aber gleichzeitig Kompromißbe-
Ärzte zur Privatisierung in freier Niederlassung, da reitschaft, da im Interesse der Patienten in den Bei-
die Kommunen die Finanzierung der Institutionen Po- trittsländern schnell eine verträgliche Lösung gefun-
liklinik und Ambulatorien nicht mehr gewährleisten den werden muß. Unsere Forderungen bzw. Anregun-
können, verunsicherte die Patienten und löste beson- gen sind:
ders bei den kranken Senioren infolge ihrer einge- Erstens. Das finanzielle Risiko der gesetzlichen
schränkten Umstellungsfähigkeit Ängste und teil- Krankenkassen in den Beitrittsländern muß niedrig
weise chaotische Reaktionen aus. Dazu kam, daß die gehalten werden.
guten Westmedikamente zeitweilig mancherorts in Zweitens. Von den pharmazeutischen Unterneh-
der Apotheke nicht beziehbar waren. mern wäre ein höheres Angebot zur Deckung des
Wenn der Bundesarbeitsminister gestern davon Defizitbeitrags aus Solidarität zum Aufbau der medi-
sprach, daß Vertrauensbildung ein Wesenszug seiner zinischen Versorgung in den Beitrittsländern zu erwä-
Handlung als Minister sei, so kann diese Auffassung gen.
nicht im Einklang mit dem aufgezeigten Verfahrens- (Beifall bei der SPD)
weg stehen. Drittens. Die Medikamentenversorgung in den Bei-
(Beifall bei der SPD) trittsländern durch die westdeutschen Anbieter muß
unkompliziert, reibungslos und ohne zusätzliche Ko-
Von Frau Minister Hasselfeldt erhoffen wir mehr Ein- sten durch Überwachung und anderes für die gesetz-
führungsvermögen und begrüßen in dieser Hinsicht lichen Krankenkassen abgewickelt werden können.
auch die Einrichtung eines Ministeriums für Gesund-
Und viertens wünschen wir uns, daß die Bundesre-
heitswesen im Interesse des Aufbaus der staatlichen
Einrichtungen in den Anschlußländern. gierung in Zukunft bei solchen Maßnahmen mehr
Rücksicht auf das Empfinden der Menschen in den
Die Pharmaindustrie sitzt unzweifelhaft am langen neuen Bundesländern nimmt.
Hebel, der den Geldhahn der gesetzlichen Kranken- (Beifall bei der SPD, beim Bündnis 90/
kassen öffnet. Deshalb sollte überdacht werden, ob GRÜNE sowie des Abg. Dr. Graf Lambsdorff
der Aufschluß eines später äußerst aufnahmefähigen [FDP])
Marktes nicht zu stärkerer Bereitschaft Anlaß geben
sollte, sich an der Deckung des in den kommenden
Jahren noch zu erwartenden Defizits bei der Abdek- Vizepräsident Cronenberg: Das Wort hat Herr Ab-
kung der Kosten für die Medikamente zu beteili- geordneter Dr. Thomae.
gen.
Bei der Umverteilung der Lasten der Defizitdek-
kung zwischen Herstellern, Großhandel und Apothe- - Damen
Dr. Thomae (FDP): Herr Präsident! Meine
ken geht man davon aus, daß der Anteil des Ausga- und Herren! Der Pharma-Abschlag war für die FDP
benvolumens der gesetzlichen Krankenkassen, der ein rotes Tuch. Wir haben von Anfang an versucht,
zur Medikamentenversorung notwendig ist, auch im diesen Pharma-Abschlag, wie er anfänglich konzi-
Beitrittsgebiet in der gleichen Höhe wie in den Alt- piert war, neu zu gestalten.
bundesländern liegt. Offen ist aber, ob diese Ausga- (Dreßler [SPD]: Ihr habt doch mitgestimmt!)
benerwartung in dieser Höhe bleibt oder sie erheblich — Sie wissen, daß es ein Vertrag war, keine gesetzli-
überschreitet, was dann letztlich zu einer Mehrbela- che Regelung; das war der Unterschied.
stung der Fonds der gesetzlichen Krankenkassen füh-
ren würde, da diese vom Gesetzentwurf her in den (Dreßler [SPD]: Ich dachte, ihr seid in der
kommenden Jahren jeweils stärker am Ausgleich be- Koalition!)
teiligt sind. Dies würde sich wiederum nachteilig auf Vier Gründe gab es, um diesen Pharma Abschlag in
-

die sonstigen Leistungen der gesetzlichen Kranken- der ersten Fassung zu verändern: Erstens. Er war ord-
kassen auswirken und wäre einer Angleichung der nungspolitisch völlig falsch.
medizinischen Versorgung insbesondere in den Kran- (Dreßler [SPD]: Sehr richtig! Sehr gut! — Pe
kenhäusern der Beitrittsländer in den kommenden ter [Kassel] [SPD]: Sagen Sie das einmal
Jahren sehr abträglich. Zum Beispiel liegt der Pflege- Herrn Jagoda!)
satz für den Monat Januar in einer Nervenklinik mit
neurologischer Intensivstation, allgemeiner und spe- Zweitens. Er war investitionshemmend für die fünf
zieller Psychiatri e sowie Kinder- und Jugendneuro- neuen Bundesländer. Drittens. Er war für die Patien-
psychiatrie bei 92 DM pro Tag und Bett. Dies spricht ten schädlich, und viertens war er für die deutsche
sicher dafür, daß von der Bundesregierung vorgese- Pharmaindustrie exportschädigend.
hene Beträge zur Anschubfinanzierung der gesetzli- Aus diesem Grunde sind wir froh, daß jetzt ein
chen Krankenversicherung im Beitrittsgebiet weniger neuer Entwurf vorliegt. Dafür möchte ich Herrn Bern-
284 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991

Dr. Thomae
hard Jagoda ganz herzlich danken, denn ich glaube, Geht man der Sache auf den Grund, muß man fest-
er hat mit dieser Arbeit ein Meisterstück geleistet. stellen, daß es leider so im Einigungsvertrag steht.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Dort wird bestimmt, daß nur die Zuzahlungen erst ab
1. Juli zu leisten sind. Daß der Differenzbetrag zum
Nur einen Punkt muß die FDP hinzufügen. Wir ha- Festpreis keine Zuzahlung ist und demzufolge extra
ben jetzt zwar einen Vorschlag für die gesetzliche hätte erwähnt werden müssen, wenn auch er erst ab
Krankenversicherung. Ich denke aber, wir arbeiten 1. Juli zu zahlen wäre, geht mir erst heute auf. Und ich
mit einem gegliederten System in einem Gesamtge- bin sicher nicht die einzige. Ob nun bewußt oder in
biet. Daher muß auch die private Krankenversiche- der Hast der Einheit entstanden, zum Nutzen der Pa-
rung in diese Überlegungen und Vorschläge einbezo- tienten in den fünf neuen Bundesländern, ist diese
gen werden. Wir kündigen dies von seiten der FDP für Verunsicherung wohl nicht.
die nächsten Verhandlungen an und freuen uns, daß
wir heute schon die Anhörung beschließen können. Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, sofort
Schritte zu unternehmen, auch diese Differenzzahlun-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gen auszusetzen; denn z. B. die Ärzte sind noch gar
nicht mit den dafür notwendigen Unterlagen ausge-
stattet und nicht mit der Vielfalt der Probleme ver-
Vizepräsident Cronenberg: Das Wort hat Frau Dr. traut, wenn es darum geht, ein Arzneimittel mit einem
Fischer. Preis unter oder in Höhe des Festbetrages zu ver-
schreiben, damit ihren Patienten die Zuzahlung er-
spart bleibt.
Frau Dr. Fischer (PDS/Linke Liste): Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Was erforderlich ist, um Die Liste der negativen Wirkungen der Regelungen
Kranken zu helfen, entscheiden solche Menschen, die des Einigungsvertrages auf die gesundheitliche Be-
selbst keine Patienten verantwortlich behandeln. Hat treuung ist noch etwas länger. Der Fakt, den ich vor-
die Meinung von Ärzten überhaupt noch Bedeutung getragen habe, ist nur einer.
für gesundheitspolitische Entscheidungen? Ich stelle Statt einer grundlegenden Reform des Gesund-
mir diese Frage deshalb, weil ich denke, daß die par- heitswesens, die übrigens auch in den alten Bundes-
lamentarische Arbeit sich unter Umständen doch von ländern des öfteren gefordert wird, wird das System
den eigentlichen Problemen entfernt. überteuerter Krankenversorgung nun einfach auf die
Probleme bei der Angleichung des Gesundheitswe- neuen Länder übertragen. Ich kann davon wirklich
sens in den fünf neuen Ländern gibt es genug. Das ist ein Lied singen. Auch mein Mann ist im Moment da-
bekannt. Es wäre deshalb sicher wünschenswert ge- bei, sich niederlassen zu müssen.
wesen, wenn nicht von vornherein eine Regelung zu (Dr. Voigt [Northeim] [CDU/CSU]: Im Ge
den Medikamentenpreisen im Einigungsvertrag fest- gensatz zu früher darf er das jetzt!)
gelegt worden wäre, die weitere Probleme bereits vor- — Das ist so. Darüber könnten wir uns noch etwas
programmierte. Es kam, was nach den Regeln der länger unterhalten.
Marktwirtschaft — ein bißchen habe auch ich hier
dazugelernt — kommen mußte. Für mich jedenfalls Ob durch diese Regelungen die gesundheitliche
kam der Boykott der westlichen Pharmaindustrie zu Versorgung zügig und nachhaltig, wie es der Eini-
Beginn des Jahres nicht überraschend. gungsvertrag in Artikel 33 Abs. 1 aussagt, verbessert
werden kann, halte ich für etwas zweifelhaft.
Ja, ich habe am 2. Januar in Apotheken gestanden.
Mehr will ich dazu nicht sagen. Auf der Seite der Wir sind gegen den eingebrachten Gesetzentwurf,
-
weil wir nicht auf einen völlig unkalkulierbaren, zeit-
Patienten gab es Verunsicherung, Wut, Verzweiflung;
die Probleme wurden unmittelbar auf Kranke abge- lich begrenzten Solidarbeitrag der Pharmaindustrie
wälzt, für viele Ärzte, die ohnehin durch die Gesamt- setzen, sondern schnellstens einen schrittweisen
heit der Veränderungen gestreßt sind, noch ein zu- Übergang zu einer umfassenden Neuordnung des ge-
sätzlicher belastender Effekt. samten Gesundheitssystems fordern. Dazu gehört al-
lerdings auch, daß die Pharmaindustrie im Hinblick
Ich gebe zu, daß das auch ungewohnte Probleme auf ihre Preispolitik einer strengen Kontrolle durch
sind — wie immer man dies im Augenblick auch beur- medizinische und ökonomische Sachverständige un-
teilen mag. Ich hoffe auch, daß mir nicht verübelt wird, terworfen wird, die dem Parlament kontinuierlich Be-
wenn ich sage, daß mich bedrückt, daß bei der Umge- richt erstatten sollten. Wir, die Abgeordneten der
staltung des Gesundheitswesens in den fünf neuen PDS/Linke Liste, meinen, daß Gesundheit und Krank-
Ländern das Wort Patient kaum noch zu hören ist und heit nicht nur wirtschaftlichen Interessen zum Nach-
schon gar nicht im Vordergrund steht. Die Patienten teil vieler Patienten unterworfen werden dürfen.
werden nicht gefragt.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Die Medikamentenlieferungen kommen wieder
stockend in Gang. Da offenbart sich nun ein neuer (Beifall bei der PDS/Linke Liste)
Fakt. Die Bürgerinnen und Bürger wähnen sich vor
der ungerechten Zuzahlung zu Arzneimitteln noch
bis zum Juli dieses Jahres sicher, und doch verlangen Vizepräsident Cronenberg: Das Wort hat der Abge-
die Apotheker Geld, die Zahlung des Differenzbetra- ordnete Peter (Kassel).
ges zum Arzneimittel mit Festbetrag. Die Apotheken
berufen sich auf Verordnungen, die aus dem Eini-
gungsvertrag resultieren sollen. Die Ärzte und selbst Peter (Kassel) (SPD): Herr Präsident! Meine Damen
die Krankenkassen sind verwirrt. und Herren! Wenn der Kollege Dr. Knaape unsere
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991 285

Peter (Kassel)
konstruktive Mitarbeit an diesem Gesetzentwurf an- der Herr Kollege Jagoda und der Herr Kollege Tho-
gekündigt hat, mae hätten Massenorganisationen auf die Beine ge-
bracht und Demonstrationen und den staatlichen Diri-
(Zuruf von der FDP: Dafür hat er auch Beifall gismus veranstaltet. Da wird selbst die FDP zu einer
bekommen!) Massenorganisation, meine Damen und Herren,
heißt das nicht, daß wir über diesen Gesetzentwurf
(Beifall bei der SPD)
begeistert wären. Wir sind nur der Meinung, daß uns
die von Minister Blüm begonnene Kungelei mit der wenn es um die Interessen der Pharmaindustrie geht.
Pharmaindustrie in eine Sackgasse geführt hat, die Das ist doch das Problem. Das ist eben auch deutlich
dem Parlament keine Alternative läßt, weil es um die geworden. Dieser staatliche Dirigismus ist von Herrn
Interessen der Menschen in den neuen Bundeslän- Kollegen Jagoda als ordnungspolitisch sauber be-
dern geht. Das ist die Ursache dafür, daß wir versu- schrieben worden. Vom Herrn Kollegen Thomae hörte
chen, bei dem Gesetz konstruktiv mitzuarbeiten. es sich etwas anders an.
Das Gesetz hat Kritikpunkte. Ein Punkt der Kritik ist Was wir uns dort auf Grund eines irrationalen Streits
beispielsweise, daß wir das Prinzip der Begrenzung mit der Pharmaindustrie eingebrockt haben, wie das
der Ausgaben der gesetzlichen Krankenversiche- immer bei Herrn Blüm ist, ist ein Streik auf dem Rük-
rung in den neuen Bundesländern auf die Einnahmen ken der Betroffenen in den neuen Bundesländern.
aus den Beiträgen an einer wichtigen Stelle durchbro- Und das halten wir für bedenklich. Das halten wir für
chen haben. Ich weiß zwar auch um das Prinzip, daß ganz massiv bedenklich.
man eine Kuh nicht melken kann, der man kein Futter
gibt. Aber es ist schon kennzeichnend dafür, daß man (Beifall bei der SPD)
etwas, was im Staatsvertrag über die Sozialunion als So haben wir hier das eindrucksvolle Beispiel für er-
unverzichtbar galt, dann plötzlich wieder aufgeben folgreichen Wirtschaftslobbyismus.
muß, wenn Lobby Boykott androht.
Die Ärztinnen und Ärzte in den neuen Bundeslän-
(Frau Dr. Bergmann-Pohl [CDU/CSU]: Ha dern waren offensichtlich nicht so mächtig, ihren
ben Sie mal an die Apotheken in den neuen 55prozentigen Abschlag zu verhindern, der, gemes-
Bundesländern gedacht?) sen an den Einnahmemöglichkeiten in den alten Bun-
Weiter wissen wir nicht, was bei einem höheren desländern, im Staatsvertrag geregelt ist. Da gab es
Defizit als dem prognostizierten Defizit von 1,5 Milli- auch Proteste. Aber die tatsächlichen Machtverhält-
arden DM geschieht. Wie es jetzt aussieht, werden es nisse in dieser Gesellschaft sind an diesem Beispiel
die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler sein. Bei der Ersten Novelle zu Teil V. des Sozialgesetzbuches
festgeschriebener Beitragshöhe kommen wir aller- deutlich nachzulesen. Dieser Automatismus müßte
dings in eine neue Situation, die sich mit der Quadra- eigentlich parlamentarisch Kritik erregen.
tur des Kreises vergleichen läßt. Wie Sie da einen Der Ansatz ist die dirigistische Feststellung. Die
Notausgang finden, Frau Ministerin Hasselfeldt, da nächste Stufe ist die Kungelei im Bundeskanzleramt,
sind wir sehr neugierig. wo der Bundesarbeitsminister noch kleiner herausge-
Schließlich fällt auf, daß das Deckblatt dieses Geset- kommen ist, als er hereingegangen ist. Er ist schon
zes gleich eine Deckblattlüge enthält. Die angekün- klein genug.
digten 600 Millionen DM, die in der Begründung auf- (Zurufe von der FDP)
tauchen, sucht man da, wo der Normalbetrachter et-
was über den Inhalt eines Gesetzes erfahren soll, ver- Der nächste Schritt ist, daß das Parlament nachvollzie-
-
geblich. Da steht, daß Bund, Länder und Gemeinden hen muß, was hinter verschlossenen Türen als Lobby
keine zusätzlichen Kosten zu tragen haben. Kompromiß ausgehandelt worden ist. Dann hat das
Parlament keine Alternative mehr. Da sagen wir: Im
Der Gesetzentwurf enthält eine Verordnungser- Interesse der Menschen in den neuen Bundesländern,
mächtigung für den Bundesgesundheitsminister, im Interesse der finanziellen Sicherung der Kranken-
ohne daß die Frage der Zustimmung und Beteiligung versicherung werden wir konstruktiv mitarbeiten, da-
der Bundesländer über den Bundesrat geklärt ist. Das mit möglicherweise Schlimmeres verhindert wird.
ist auch eine Stelle, wo man sich davor hüten muß, daß
da neue Öffnungen für Kungeleien mit der Pharmain- Das alles ist Ergebnis der unzureichenden An-
dustrie gefunden werden. schubfinanzierung. Es hätte ja denkbare andere Mög-
lichkeiten gegeben, wenn Sie nicht in Ihrer Wahl-
(Na, na! bei der FDP) kampffalle gesessen hätten, auf keinen Fall über Steu-
Es ist das Problem dieses Gesetzes, die Problematik ererhöhungen zur Finanzierung der notwendigen Ko-
des ganzen Mechanismus, daß Sie im Staatsvertrag sten der sozialpolitischen Maßnahmen in den neuen
die staatliche Preisfestsetzung durch die Bannerträ- Bundesländern nachzudenken. Eine Lösung im Be-
ger der Marktwirtschaft tatsächlich durchgesetzt ha- reich der Anschubfinanzierung wäre wahrscheinlich
ben, ohne zu wissen, weil Sie ja Bannerträger der sauberer, gerechter gewesen, weil die Steuerzahler
Marktwirtschaft sind, worauf Sie sich eingelassen ha- dann gleichmäßig belastet worden wären. Das wäre
ben. die bessere Alternative zu dem gewesen, was jetzt
hier steht.
Ich stelle mir vor, wenn das von Sozialdemokraten
in die Debatte gebracht worden wäre, Das Beste an dem Gesetzentwurf ist die Befristung
auf den 31. Dezember 1992,
(Zuruf von der CDU/CSU: Ach du lieber
Gott!) (Dreßler [SPD]: Wohl wahr!)
286 Deutscher Bundestag — 12. Wahlpe ri ode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991

Peter (Kassel)
wenn die verbleibende Zeit konstruktiv genutzt wird, che Politik dazu geführt hat, daß die Patientinnen und
wenn wir diese Zeit als eine Chance verstehen, Wege Patienten im Erweiterungsgebiet der BRD zum Faust-
zu finden, die Lösung des Arzneimittelproblems tat- pfand der westdeutschen Pharmaindustrie wurden.
sächlich gesellschaftlich vernünftig und gerecht in
Meine Damen und Herren, dazu muß man wissen,
Angriff zu nehmen, und nicht etwa Wege zu beschrei-
daß wir schon vor der Öffnung der Mauer gar nicht so
ten, die, wie im Kern dieser Gesetzentwurf, Sackgas-
schlecht mit Medikamenten versorgt gewesen sind,
sen sind.
Dafür liegt die SPD-Alternative weiterhin auf dem (Widerspruch bei der CDU/CSU — Frau
Tisch. Sie ist, im Unterschied zu dem, was hier vor- Dr. Bergmann-Pohl [CDU/CSU]: Sie waren
liegt, ordnungspolitisch unbedenklich. Sie ist ord- wahrscheinlich noch nie krank!)
nungspolitisch verträglich, sie beruht auf dem Prinzip
wie das hier immer kolportiert wurde und wird. Das
des Interessenausgleichs statt der Lobbykungelei zwi-
alles ist eine Frage der Relationen. Die Pharmaindu-
schen unterschiedlichen Interessen. Voraussetzung
strie in den Ländern der ehemaligen DDR hat heute
ist folgendes — wie Sie ja schon oftmals gehört haben,
noch einen Marktanteil von ca. 80 %. Es wäre also
ist das die Grundvoraussetzung dafür, den Markt
durchaus sinnvoll gewesen, diese Branche zu demo-
übersichtlich zu machen — : ein unabhängiges
kratisieren, zu modernisieren und sie zu erhalten, statt
Arzneimittelinstitut mit Beteiligung von Apothekern,
sie durch Westimporte zu ruinieren und das Monopol
mit Beteiligung von Krankenkassen und mit Beteili-
über den Medikamentenmarkt des Beitrittsgebietes
gung von Ärzten, die daraus abzuleitende Positivliste
den westlichen Pharmaherstellern und ihren erpres-
und dann die Preisverhandlung, bei der eben nicht
serischen Methoden zu überlassen. Das hätte auch im
mehr gekungelt, sondern verhandelt wird. Was wir
Hinblick auf die Erhaltung von Arbeitsplätzen in der
bei der Lohnfindung zwischen unterschiedlichen In-
ehemaligen DDR einen Sinn gemacht.
teressen schaffen, das müßten wir doch eigentlich
auch bei Preisverhandlungen zwischen den unter- Auch im Sinne der Preisgestaltung für die Medika-
schiedlichen Interessen von Krankenkassen auf der mente im Westen wäre es gut gewesen, die Pharmain-
einen Seite und der Pharmaindustrie auf der anderen dustrie im Osten als Konkurrenz mit Hilfe staatlicher
Seite schaffen. Das ist eine Perspektive, über die sich Mittel zu modernisieren, anstatt eine Erweiterung des
gemeinsam nachzudenken lohnt. Monopols der Westfirmen gen Osten zuzulassen. Auf
(Beifall bei der SPD) diese Weise hätte man auch erreichen können, was
Herrn Blüm mit der sogenannten Gesundheitsreform
Das ist die marktwirtschaftlich angemessene Perspek-
nicht gelungen ist, nämlich die Preise herunterzu-
tive, weil dies die Form ist, in der Marktwirtschaft
drücken. Ist hier eine Chance verpaßt worden? — Ich
unterschiedlichen Interessen gerecht werden kann,
denke, nein. Denn diese Überlegung kam für die Bun-
die Form des Machtausgleichs mit dem Ziel des Kom-
desregierung gar nicht erst in Frage. Denn wozu hat
promisses.
man die DDR schließlich eingegliedert, wenn nicht
Ich hoffe, daß Sie heute damit anfangen, über den um sie als Markt — in diesem Fall für die Pharmain-
Zeitpunkt 1992 — wenn das Gesetz ausgelaufen sein dustrie — zu erschließen? Wenn sich diejenigen, die
wird — nachzudenken. Dann hat die Gesundheits- diese Politik gemacht haben, jetzt über deren Folgen
politik in dem vereinten Deutschland meines Erach- empören und wenn sie Tränen vergießen über das
tens eine echte Chance. Leid der Patientinnen und Patienten, dann kann ich
(Beifall bei der SPD) Ihnen nur sagen: Das halte ich für Krokodilstränen.
(Frau Dr. Bergmann-Pohl [CDU/CSU]: -
Vizepräsident Cronenberg: Das Wort hat die Abge- Freuen Sie sich, daß Sie endlich anständige
ordnete Frau Schenk, Medikamente haben!)
Das, was Sie jetzt hier vorschlagen, wird den Bund
Frau Schenk (Bündnis 90/GRÜNE): Herr Präsident! dazu zwingen, die Krankenversicherungen im Osten
Meine Damen und Herren! Während der ersten Ja- mit Millionenbeträgen zu unterstützen, und diese
nuartage dieses Jahres erlebten wir als Neulinge in werden sich zusätzlich in Millionenhöhe verschulden
dieser Republik ein sehr eindrucksvolles Lehrstück müssen. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ist eine
zum Thema: Wem gehört Deutschland? Wer hat die Erhöhung der Krankenversicherungsbeiträge in den
Macht in diesem Lande? beigetretenen Ländern vorprogrammiert, und zwar
(Dreßler [SPD]: Das ist wohl wahr!) zusätzlich zu den drastischen Mieterhöhungen, zu-
Wenn es hart auf hart kommt, wenn es um Profitinter- sätzlich zu den Fahrpreiserhöhungen bei gleichzeitig
essen geht, dann gelten weder der Einigungsvertrag zunehmender Erwerbslosigkeit.
noch die schönen Ministerworte während des Wahl- Wenn Sie jetzt fragen, was wir darüber denken, so
kampfes, noch hat das Parlament viel zu melden. sage ich folgendes.
(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, bei der
SPD und der PDS/Linke Liste — Dreßler (Frau Dr. Bergmann-Pohl [CDU/CSU]: Nicht
[SPD]: So ist es!) viel! Das wollen wir gar nicht wissen!)
Man sagt, die Pharmaindustrie habe die Regierung — Dann gehen Sie doch hinaus! — Die Pharmabran-
beim Streit um die Medikamentenpreise erpreßt. Das che gehört zu den Bereichen, in denen ich staatliche
ist wohl zutreffend. Nicht gesprochen wird allerdings Eingriffe in die Preisbildung für sehr sinnvoll halte.
über die Frage, wie es denn dazu kam, daß ein Indu- Andere Bereiche, in denen das sinnvoll ist, sind zum
striezweig die Regierung erpressen konnte, und wel Beispiel der Wohnungsmarkt, die Energieversorgung
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991 287

Frau Schenk
und die öffentlichen Verkehrs- und Kommunikations- vorherzusehen, wie sich diese Veränderungen auf
mittel. dem Arzneimittelmarkt auswirken würden.
(Zuruf von der CDU/CSU: Wie früher!) (Dreßler [SPD]: Für Sie nicht, weil Sie sich
mit der Thematik nicht beschäftigt haben!
Ich komme zu meinem letzten Satz: Die durch diese Lesen Sie mal die Protokolle der „Deutschen
Diskussion zum Vorschein gekommene Erpreßbarkeit Einheit" ! — Zuruf von der CDU/CSU: Herr
der Gesellschaft durch die Pharmaindustrie ist ein Dreßler ist Hellseher!)
hervorragendes Beispiel dafür, wo die Marktwirt-
schaft ihre Grenzen hat. — Schönen Dank. Gerade deshalb hat der Einigungsvertrag von Anfang
an vorgesehen — —
(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE sowie bei (Zurufe von der SPD)
Abgeordneten der SPD und der PDS/Linke
Liste) — Ich kann mir ja vorstellen, Herr Peter und Herr
Dreßler, daß Sie das nicht gerne hören wollen; aber es
war von Anfang an im Einigungsvertrag vorgesehen,
daß eine gesetzliche Regelung vom gesamtdeutschen
Vizepräsident Cronenberg: Zum Schluß erteile ich Gesetzgeber getroffen werden muß.
der Bundesministerin für Gesundheit, Frau Hassel- (Beifall bei der CDU/CSU)
feldt, das Wort.
(Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der Vizepräsident Cronenberg: Frau Ministerin, sind
CDU/CSU: Endlich etwas Erfreuliches!) Sie bereit, eine Zwischenfrage zu beantworten?

Frau Hasselfeldt, Bundesminister für Gesundheit:


Frau Hasselfeldt, Bundesminister für Gesundheit: Ja, bitte sehr!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mir geht
ein bißchen ab in dieser Debatte, daß wir uns darüber Vizepräsident Cronenberg: Bitte sehr!
im klaren sind, für wen wir Politik machen und für
wen dieses Gesetz gemacht wird. Es wird für niemand Büttner (Ingolstadt) (SPD): Frau Ministerin, war Ih-
anders als für die Menschen in den neuen Bundeslän- nen vorher nicht bekannt, daß es im Gebiet der alten
dern, für unsere Bundesbürger, gemacht. Bundesrepublik schon weit mehr als 70 000 Arznei-
(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord mittel gegeben hat und daß die nach der Öffnung der
neten der FDP — Dreßler [SPD]: Das glauben Grenze und nach dem Einigungsvertrag automatisch
Sie doch wohl selbst nicht!) natürlich auch in den neuen Bundesländern zum Zuge
kommen würden?
Mit diesem vorliegenden Gesetzentwurf wird ein
wesentlicher Beitrag zu einer reibungslosen und un-
Frau Hasselfeldt, Bundesminister für Gesundheit:
eingeschränkten Arzneimittelversorgung in den
neuen Ländern geleistet. Damit wird ein Auftrag des
Natürlich war dies bekannt; das wissen wir. Aber wie
Einigungsvertrages erfüllt, nämlich zur Vermeidung sich diese Zahl und die gesamte Inanspruchnahme
von Defiziten bei den Arzneimittelausgaben in der des Arzneimittelmarktes auf die Kosten auswirken
gesetzlichen Krankenversicherung in den neuen Län- würde, war zum damaligen Zeitpunkt nicht bekannt.
dern eine gesetzliche Regelung zu treffen. Dies ist Gerade deshalb, weil es nicht bekannt sein konnte,
Auftrag des Einigungsvertrages und nicht irgend et- wurde im Einigungsvertrag — ich sage es -noch ein-
was, was wir uns in den letzten Wochen erst ausge- mal — definitiv festgelegt: Der gesamtdeutsche Ge-
kungelt hätten, um in Ihrem Jargon zu sprechen, Herr setzgeber ist beauftragt, eine Regelung zu treffen, die
wir hiermit treffen. Das ist die Ausgangsposition.
Peter.
Jetzt möchte ich gerne in meinem Text weiterfah-
(Dreßler [SPD]: Sie können weiterhin einen ren, und zwar deshalb, weil mich die Kollegen vorhin
Pudding nicht an die Wand nageln!) gebeten haben: Machen Sie es kurz; wir haben noch
Das ist besonders deshalb wichtig, weil wir alles tun Ausschußsitzungen. Ich verstehe das alles.
müssen, um die Krankenversicherungsbeiträge auch (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
und gerade in den neuen Ländern für die Arbeitgeber
Damals, im August, war es noch so, daß man von
und die Arbeitnehmer stabil zu halten. Es ist nicht so,
einem Defizit für das Jahr 1991 von über 3 Milliarden
wie es im Laufe der Debatte gelegentlich zum Aus-
DM ausgegangen ist. Es wäre in der Tat ein 55 %iger
druck kam, daß dies jetzt ein Nachhaken bei einer
Abschlag gewesen, der damit notwendig gewesen
zunächst getroffenen Regelung ist, sondern durch
wäre. Die tatsächliche Entwicklung hat diese An-
die Überleitungsvorschriften des Einigungsvertrages
nahme aber nicht bestätigt. Deshalb geht die Neure-
wurde ganz bewußt nur zunächst ein Preisabschlag
gelung davon aus, daß das auszugleichende Defizit im
von 55 % eingeführt. Das war von Anfang an eine vor-
Jahre 1991 eine Höhe von etwa 1,5 Milliarden DM
läufige Regelung.
erreichen wird. Deshalb sind jetzt Abschläge auf den
(Dreßler [SPD]: Gnädige Frau, Sie reden vor Arzneimittelrechnungsbetrag der Apotheken, ent-
dem Parlament und nicht vor der CSU-Orts sprechende Abschläge beim Großhandel und bei den
gruppe!) Herstellern vereinbart worden.
Damals standen für die Versorgung im Gebiet der frü Mit dieser Regelung leisten die Marktbeteiligten,
heren DDR nur knapp 2 000 Arzneimittel zur Verfü d. h. die Arzneimittelhersteller, der Großhandel und
gung. Heute sind es 70 000. Es war für niemanden die Apotheken einen nennenswerten Beitrag, einen
288 Deutscher Bundestag — 12. Wahlpe ri ode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991

Bundesminister Frau Hasselfeldt


Beitrag, der über die fast drei Jahre mindestens — Nein, dies ist nicht nur ordnungspolitisch sauber,
2,2 Milliarden DM betragen und wahrscheinlich noch sondern es ist das Bemühen, Gesundheitspolitik im
darüber hinausgehen wird. Konsens aller Beteiligten zu machen, zum Wohle der
Bürger unseres Landes.
(Dreßler [SPD]: CSU-Mengenlehre!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Außerdem verzichtet der Bundesfinanzminister auf
die Rückzahlung von 600 Millionen DM. Mit diesem Lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit eines klar-
Verzicht des Bundesfinanzministers werden die Bei- stellen: Wenn wir im Gesundheitswesen, wo es um
tragszahler, die Arbeitnehmer und die Arbeitgeber, das höchste Gut nicht nur von uns, sondern von jedem
entlastet. Bürger unseres Landes geht, den Sozialneid und das
Schießen des einen auf den anderen zur Richtschnur
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — machen und nicht den Konsens und die Gemeinsam-
Dreßler [SPD]: Geteilt durch vier mal Pi, keit als Grundlage unseres Handelns anstreben, dann
ja?) ist es mit der verantwortungsvollen Politik im Gesund-
heitswesen nicht allzu weit her.
Anfang des Jahres ist die Abschlagsregelung des
Einigungsvertrages in Kraft getreten. Wir alle wissen, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
daß es dabei — ich bedaure das auch sehr — in der Die jetzt gefundene Regelung bringt einen ange-
Konsequenz bei der Arzneimittelversorgung in den messenen Interessenausgleich. Sie sichert die Stabili-
neuen Ländern zu Engpässen gekommen ist und daß tät der Beitragssätze auf dem Arzneimittelsektor und
westdeutsche Arzneimittelhersteller ihre Lieferungen eine uneingeschränkte Arzneimittelversorgung in
mit den entsprechenden Folgen für die Patienten ein- den neuen Ländern.
geschränkt haben.
(Peter [Kassel] [SPD]: Das wollen wir erst mal
Deshalb war für die Bundesregierung klar: Voraus- sehen!)
setzung für eine Neuregelung ist die Rücknahme die-
Ich darf Sie bitten, an der parlamentarischen Bera-
ser Lieferbeschränkungen. Dies ist auch erreicht wor-
tung dieses Gesetzentwurfs konstruktiv mitzuarbei-
den.
ten und mit einer zügigen Bearbeitung und Beratung
(Dreßler [SPD]: Donnerwetter!) dafür zu sorgen, daß diese Regelung, wie vorgesehen,
am 1. April dieses Jahres in Kraft treten kann.
Nun haben manche Apotheken — die Kollegin hat
dies angesprochen — in der Zeit dieser Lieferbe- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
schränkungen von den Versicherten Zuzahlungen
verlangt. Dafür gab und gibt es — ich sage das in aller
Deutlichkeit — keine Rechtsgrundlage. Soweit die
Versicherten solche Zuzahlungen geleistet haben, ha- Vizepräsident Cronenberg: Damit sind wir am Ende
ben sie auch einen Anspruch darauf, das Geld nach der Aussprache.
Vorlage einer Quittung zurückzubekommen. Ich bitte Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Gesetzent-
darum, alle Möglichkeiten und Gelegenheiten, die wurf auf Drucksache 12/57 zu überweisen zur feder-
wir haben, wahrzunehmen, um die Bürgerinnen und führenden Beratung an den Ausschuß für Gesundheit
Bürger in den neuen Ländern davon zu informieren. — ich mache darauf aufmerksam, daß in etwa 15 Mi-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nuten auch dieser Ausschuß tagt — sowie zur Mitbe-
ratung an den Ausschuß für Wirtschaft und zugleich
Wir haben die Neuregelung im Konsens mit den gemäß § 96 unserer Geschäftsordnung an den Haus-
Arzneimittelherstellern, dem Großhandel und den haltsausschuß. — Weitere Vorschläge werden nicht
Apotheken getroffen. Ich habe all jenen ganz herzlich gemacht. Dies ist beschlossen.
zu danken, die an der Erarbeitung dieses Ergebnisses
Meine Damen und Herren, damit sind wir am
mitgewirkt haben: meinem Kollegen Norbert Blüm
Schluß dieser Tagesordnung. Ich bedanke mich bei all
und dem Kollegen Jagoda. Allen, die daran mitge-
denjenigen, die die Geduld gehabt haben, bis zum
wirkt haben, gilt unser herzlicher Dank.
Schluß hierzubleiben, und berufe die nächste Sitzung
Herr Peter, ich möchte ausdrücklich das zurückwei- des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 20. Fe-
sen, was Sie vorhin gesagt haben, daß dies eine Kun- bruar 1991, 13 Uhr ein.
gelei war. Damit ist die Sitzung geschlossen.
(Zuruf von der SPD) (Schluß der Sitzung: 15.02 Uhr)
Deutscher Bundestag - 12. Wahlpe riode - 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991 289'

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1
Abgeordnete(r) entschuldigt bis
Fraktion
Liste der entschuldigten Abgeordneten einschließlich
Dr. Müller CDU/CSU 01. 02.91 *
Abgeordnete(r) entschuldigt bis Müller (Wesseling) CDU/CSU 01. 02.91
Fraktion
einschließlich Dr. Neuling CDU/CSU 01.02.91
Antretter SPD 01.02.91 * Frau Odendahl SPD 01.02.91
Bindig SPD 01.02.91 * Pfeifer CDU/CSU 01.02.91
Frau Blunck SPD 01.02.91 * Pfuhl SPD 01.02.91
Böhm (Melsungen) CDU/CSU 01.02.91 * Reddemann CDU/CSU 01.02.91 *
Brandt SPD 01.02.91 Repnik CDU/CSU 01.02.91
Frau Brudlewsky CDU/CSU 01.02.91 Reuschenbach SPD 01.02.91
Bühler (Bruchsal) CDU/CSU 01.02.91 * Frau Roitzsch CDU/CSU 01.02.91
Buwitt CDU/CSU 01.02.91 (Quickborn)
Erler SPD 01.02.91 Frau Schaich-Walch SPD 01.02.91
Eylmann CDU/CSU 01.02.91 Dr. Scheer SPD 01.02.91 *
Frau Eymer CDU/CSU 01.02.91 Schmidbauer CDU/CSU 01.02.91
Dr. Feldmann FDP 01.02.91 * von Schmude CDU/CSU 01.02.91 *
Frau Fischer (Unna) CDU/CSU 01.02.91 * Dr. Schuster SPD 01.02.91
Francke (Hamburg) CDU/CSU 01.02.91 Frau Simm SPD 01.02.91
Gattermann FDP 01.02.91 Dr. Soell SPD 01.02.91 *
Frau Geiger CDU/CSU 01.02.91 Dr. Sperling SPD 01.02.91
Dr. Geisler (Radeberg) CDU/CSU 01.02.91 Spilker CDU/CSU 01.02.91
Gerster (Worms) SPD 01.02.91 Steiner SPD 01.02.91 *
Dr. Gysi PDS 01.02.91 Stiegler SPD 01.02.91
Dr. Haussmann FDP 01.02.91 Dr. Vogel SPD 01.02.91
Hollerith CDU/CSU 01.02.91 Dr. Warnke CDU/CSU 01.02.91
Dr. Holtz SPD 01.02.91 Dr. Warrikoff CDU/CSU 01.02.91
Jung (Düsseldorf) SPD 01.02.91 Weißgerber SPD 01.02.91
Jung (Limburg) CDU/CSU 01.02.91 Frau Wieczorek-Zeul SPD 01.02.91
Kittelmann CDU/CSU 01.02.91 * Wissmann CDU/CSU 01.02.91
Klinkert CDU/CSU 01.02.91 Frau Wollenberger Bündnis 01.02.91
Dr. Köhler (Wolfsburg) CDU/CSU 01.02.91 90/GRÜNE
Kuhlwein SPD 01.02.91 Wonneberger CDU/CSU 01.02.91
Lenzer CDU/CSU 01.02.91 * Zierer CDU/CSU 01.02.91 *
Louven CDU/CSU 01.02.91
Lowack CDU/CSU 01.02.91
de Maizière CDU/CSU 01.02.91
Marten Anlage 2
CDU/CSU 01.02.91
Matschie SPD 01.02.91
Dr. Mertens (Bottrop) SPD 01.02.91 Amtliche Mitteilung
Die Fraktion der SPD hat mit Schreiben vom 22. Januar 1991 mit-
* für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- geteilt, daß sie ihren Antrag Für eine friedliche Lösung des Golfkon-
lung des Europarates flikts - Drucksache 12/10 - zurückzieht.

Das könnte Ihnen auch gefallen