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D eutscher Bundestag
Stenographischer Bericht
5. Sitzung
Inhalt:
Eintritt der Abgeordneten Elke Ferner in den Ludger Volmer BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
Deutschen Bundestag . . . . . . . . . 37 A NEN 103 D
Dr. Alfred Dregger CDU/CSU . . . . . 105 D
Begrüßung des Staatspräsidenten der Repu-
blik Finnland, Herrn Martti Ahtisaari, und Heidemarie Wieczorek-Zeul SPD . . . 109A
seiner Begleitung 58 D Rudolf Seiters CDU/CSU . . . . . . . 112 C
5. Sitzung
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Guten Morgen, Unsere Freunde und Partner wissen, daß wir die
liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröff- Bundesrepublik sicher in die Zukunft führen wer-
net. den.
Im Rahmen der amtlichen Mitteilungen gebe ich
(Zuruf von der SPD: Vorsicht vor Überheb
Ihnen zunächst bekannt, daß der Abgeordnete Oskar
lichkeit!)
Lafontaine am 17. November 1994 auf seine Mitglied-
schaft im Deutschen Bundestag verzichtet hat. Und so sehen es auch alle jene Wählerinnen und
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wähler, die für die Koalition der Mitte aus CDU, CSU
und F.D.P. gestimmt haben.
Seine Nachfolgerin ist die Abgeordnete Elke Ferner,
die am 21. November 1994 die Mitgliedschaft im (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Deutschen Bundestag erworben hat.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wir haben in kürzester Zeit die Koalitionsverhand-
der PDS) lungen und die Regierungsbildung erfolgreich abge-
schlossen. Wir haben dabei zielstrebig und kollegial
Ich begrüße die Kollegin, die dem Deutschen Bundes- zusammengearbeitet, und so wird es in den vier
tag bereits in der vorigen Wahlperiode angehört hat, Jahren dieser Legislaturperiode auch bleiben.
sehr herzlich. Herzlich willkommen! -
Ich rufe den einzigen Punkt der Tagesordnung auf: (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Regierungserklärung des Bundeskanzlers mit Meine Damen und Herren, wir stehen jetzt im
anschließender Aussprache fünften Jahr seit der Wiedervereinigung unseres
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Vaterlandes in Frieden und Freiheit. „Die Bundesre-
die Aussprache nach der Regierungserklärung heute publik konnte 1989 auf vierzig erfolgreiche Jahre
neun Stunden, morgen sieben Stunden und am Frei- zurückblicken. Die vergangenen fünf Jahre sind sogar
tag vier Stunden vorgesehen. — Ich sehe, daß Sie damit noch besser gewesen. " So schrieb es kürzlich die
einverstanden sind. Dann ist es so beschlossen. „Financial Times", und sie hat recht.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung Die innere Einheit unseres Vaterlandes ist in vielen
hat der Herr Bundeskanzler, Dr. Helmut Kohl. Bereichen schon gelebte Wirklichkeit. Wir haben gute
Grundlagen für den gemeinsamen Aufbruch in die
Zukunft gelegt. Jetzt gilt es, alle Kräfte anzuspannen,
Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler (von der CDU/CSU ganz Deutschland fit zu machen für das nächste, das
und der F.D.P. mit Beifall begrüßt): Frau Präsidentin! 21. Jahrhundert. Wir haben dabei das Wohl künftiger
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am 16. Ok- Generationen stets im Blick zu halten. Deshalb dürfen
tober haben sich die Wählerinnen und Wähler in wir nicht nur für vier Jahre planen.
Deutschland für die politische Mitte entschieden.
Verändern und Bewahren stehen nicht im Wider-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — spruch zueinander. Sie bedingen einander. Leistung
Lachen bei Abgeordneten der SPD und des und Geborgenheit, Selbständigkeit und Hilfsbereit-
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) schaft sind keine Gegensätze. Sie sind untrennbare
Freunde und Partner im Ausland haben unseren Teile unserer Vision von der Zukunft Deutschlands in
Wahlsieg einhellig als eine gute Nachricht für Europa einer Welt, die sich, wie wir wissen, dramatisch
begrüßt, und wir nehmen dies dankbar zur Kenntnis. verändert.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Deutschland wird seine schöpferischen Energien
Lachen bei Abgeordneten der SPD — Joseph für Werke des Friedens, der Freiheit und der Gerech-
Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ tigkeit einsetzen. Es wird ein Ort guter Nachbarschaft
NEN]: Das geht ja gleich lustig los!) sein und in der Völkergemeinschaft als zuverlässiger
38 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994
Wir alle wissen, daß wir viele neue Arbeitsplätze Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, jeder
brauchen. Aber gleichzeitig gibt es zuwenig gesell- weiß, daß wir im internationalen Wettbewerb ohne
schaftliche Anerkennung für diejenigen, die das Wag- Erneuerung an Zukunftsfähigkeit verlieren. Wir ste-
nis der Selbständigkeit einzugehen bereit sind und als hen deshalb vor der großen Herausforderung, Innova-
Arbeitgeber Beschäftigung für sich und andere schaf- tionsbereitschaft und Dynamik in Wirtschaft und
fen. Gesellschaft zu fördern.
Wir haben das Glück, daß die deutsche Einheit uns
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
die Chance gibt, die Erneuerung in Frieden und in
Wir erregen uns darüber, daß teilweise 20 Jahre und Gemeinsamkeit zu gestalten. Deutschland hat sich
mehr zwischen Planung und Baubeginn für Eisen- seit der Wiedervereinigung tiefgreifend verändert —
bahnstrecken liegen. Aber wahr ist auch, daß solche im Osten, aber auch im Westen. Unser Volk hat in
Verzögerungen durch zu viele Klagen und Einsprüche einer beispiellosen und weltweit anerkannten Ge-
verursacht werden. meinschaftsleistung seine Bereitschaft zur Solidarität
Der Ministerpräsident eines Bundeslandes hat mir und seine Kraft zum Neubeginn unter Beweis gestellt.
dieser Tage ein besonders anschauliches Beispiel für Wir vertrauen auf diese Bereitschaft und auf diese
solche Hemmnisse berichtet: Ein Landkreis, der seit Kraft auch beim Aufbruch in die Zukunft.
15 Jahren eine Müllverbrennungsanlage betreibt, Meine Damen und Herren, wir werden in den
muß diese jetzt nachrüsten. Für das Genehmigungs- kommenden Tagen Gelegenheit haben, ausgiebig
verfahren hatte er dem zuständigen Regierungspräsi- über die Einzelheiten des Arbeitsprogramms der Bun-
denten 23 Aktenordner in 26facher Ausfertigung, also desregierung für diese Legislaturperiode zu sprechen.
insgesamt fast 600 Ordner, zu übersenden. Der Text der Koalitionsvereinbarung ist jedermann
40 Deutscher Bundestag — 13. Wahlpe riode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994
Für die Koalition sind Verhütung und Bekämpfung Wer z. B. Chemie, Gentechnologie oder Kernenergie
von Straftaten gleichermaßen wichtig. Eine wirksame verteufelt, verkennt die großen Chancen einer ethisch
Prävention setzt ein Zusammenwirken von Bund und verantworteten Nutzung dieser Möglichkeiten.
Ländern mit den gesellschaftlichen Kräften in allen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Bereichen voraus. Zur Bündelung der erforderlichen -
Maßnahmen werden wir deshalb das im Jahre 1993 Trotz zunehmender Bedeutung des Dienstlei-
vorgelegte Sicherheitsprogramm von Bund und Län- stungsbereichs ist für unser Land eine starke industri-
dern zu einem nationalen Kriminalitätsbekämp- elle Basis unverzichtbar. Diese Basis kann nur gesi-
fungsplan fortentwickeln. Er muß auch die finanziel- chert werden, wenn wir zu ständiger Innovation bereit
len und personellen Rahmenbedingungen sowie eine sind. Wir dürfen uns auch nicht von notorischen
Verbesserung der Arbeit von Polizei und Justiz einbe- Angstmachern beirren lassen, die immer nur von der
ziehen. „Risikogesellschaft" statt von der „Chancengesell-
schaft" reden. Auf Erneuerung setzen — das muß das
Die in der letzten Legislaturperiode beschlossenen Motto unserer Arbeit sein!
Gesetze zur Bekämpfung der organisierten Kriminali-
tät, zur Geldwäsche und zur Verbrechensbekämp- Wir wollen dabei eine breite Welle unternehmeri-
fung werden auf der Grundlage von Erfahrungsbe- scher Initiativen auslösen, um Raum für neue selb-
richten ausgewertet. ständige Existenzgründungen zu schaffen. Der Mittel-
stand — das ist die Erfahrung von bald 50 Jahren
Bevor der Gesetzgeber erneut tätig wird, müssen Bundesrepublik Deutschland — ist der Motor der
wir natürlich die bestehenden Möglichkeiten voll Sozialen Marktwirtschaft. Kleine und mittlere Be-
ausschöpfen. Sollte sich herausstellen, daß die beste- triebe beschäftigen nahezu zwei Drittel aller Arbeit-
henden Gesetze nicht ausreichen, sind wir auch zu nehmer und bilden vier Fünftel aller Lehrlinge in
einer Verschärfung dieser Gesetze bereit. Deutschland aus.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
ordneten der F.D.P.)
Sie spielen damit eine entscheidende Rolle für die
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die
wirtschaftliche und gesellschaftliche Dynamik unse-
Schaffung zusätzlicher zukunftsfähiger Arbeitsplätze
res Landes.
bleibt die zentrale Aufgabe aller, die für die Beschäf-
tigung Verantwortung tragen. Arbeit für alle muß Seit der deutschen Einheit sind in den neuen
unser gemeinsames Ziel sein. Die Erreichung dieses Bundesländern über 400 000 Selbständige bzw. mit-
Ziels kann keine demokratische Regierung der Welt telständische Unternehmen tätig geworden. Hierin
allein bewirken. Alle gesellschaftlichen Gruppen sind liegt ein ganz wesentlicher Grund für die großen
hier gefordert. Fortschritte beim Wirtschaftsaufbau Ost.
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 43
Es geht uns darum, die be triebliche Ausbildung zu Es ist doch nicht hinnehmbar, daß starre Öffnungs-
sichern und die berufliche Bildung aufzuwerten. Wir zeiten für Kindergärten und unregelmäßige Schulzei-
wollen eine Gleichwertigkeit beruflicher und akade- ten das Leben der Familien, nicht zuletzt der Allein-
mischer Abschlüsse in der Förderung wie bei den erziehenden, unnötig erschweren, daß die Arbeits-
Aufstiegschancen erreichen. welt für Mütter und Väter zu starr organisiert ist und
daß Kinder zu einem erheblichen Nachteil bei der
Meine Damen und Herren, wir sind entschlossen, Wohnungssuche geworden sind.
alle Chancen zu unterstützen und zu nutzen, um neue Eltern und Alleinerziehende brauchen Unterstüt-
Beschäftigungsfelder zu erschließen. So wollen wir, zung und Ermutigung. Wir wollen zum einen die
Frau Kollegin Fuchs, das große Potential der privaten Leistung der Familie auch finanziell stärker anerken-
Haushalte für den regulären Arbeitsmarkt gewin- nen und zum anderen — das ist mir besonders
nen.
wichtig — die Wohnungssituation für Familien mit
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Kindern nachhaltig verbessern.
der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
Hierzu werden die steuerlichen Abzugsmöglichkei- ordneten der F.D.P.)
-
ten, z. B. für Pflege-, Haushalts- und Familienhilfen, Wir wollen Eltern und Alleinerziehende dadurch
erweitert und verbessert. stärken, daß wir ihnen nicht wegsteuern, was sie für
den Unterhalt der Kinder brauchen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Da wird es
Ich habe Sie angesprochen, Frau Kollegin, weil Sie als aber Zeit!)
eine kluge Kollegin seit langem mit mir diese Mei-
nung teilen. Damit tragen wir zugleich der Forderung des Bundes-
verfassungsgerichts Rechnung. Wir werden deshalb
(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das ist richtig, den Kinderfreibetrag deutlich anheben und ihn stu-
Herr Bundeskanzler!) fenweise weiter erhöhen. Das Kindergeld kann dann
— Ich bin Ihnen dankbar, wenn Sie in dieser Sache in gleichzeitig stärker auf diejenigen konzentriert wer-
Ihrer Fraktion werbend wirken. den, die ein niedrigeres Einkommen und mehrere
Kinder haben.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Meine Damen und Herren, für Eltern und Alleiner-
Parallel hierzu werden wir unsere Offensive für ziehende sind familiengerechte Wohnungen und ein
mehr Flexibilität im Arbeitsleben und mehr Teilzeit- kinderfreundliches Wohnumfeld von größter Bedeu-
beschäftigung gemeinsam mit der Wirtschaft und den tung. Vor allem in den Ballungsgebieten besteht
Gewerkschaften fortsetzen. Ich muß hier allerdings Mangel an bezahlbaren Wohnungen.
sagen, daß hier Bund, Länder und Gemeinden ein (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
besseres Beispiel geben müssen. Dies wird ein wich- DIE GRÜNEN]: Und warum?)
tiges Thema der nächsten Monate und Jahre sein.
Wir brauchen deshalb neben mehr Wohnraum auch
Teilzeitarbeit ist mehr als Halbtagsbeschäftigung. eine Verstärkung der Wohneigentumsförderung ins-
Wir haben die große Chance, insgesamt mit einer besondere für Familien mit Kindern.
phantasievolleren Ausgestaltung der Arbeitszeiten
neue Arbeitsplätze zu schaffen. Wirtschaft und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
Gewerkschaften, Unternehmensleitungen und Be- ordneten der F.D.P.)
triebsräte müssen mehr als bisher Arbeitszeitwünsche Bauen ist in Deutschland immer noch zu teuer. Wir
der Arbeitnehmer und die bessere Nutzung teurer wollen deshalb kostensparendes Bauen fördern und
Maschinen miteinander in Einklang bringen. wohnungspolitische Instrumente stärker als bisher auf
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Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, Arbeit (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
und Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft sichern die Der dritte Schwerpunkt für den Umbau des Sozial-
Fundamente unseres Sozialstaats. Er ist eine wichtige staats ist die Fortsetzung der Gesundheitsreform. Ziel
Grundlage des sozialen Friedens und unverzichtbarer dieser Reform ist es, die Leistungsfähigkeit und Finan-
Teil der Sozialen Marktwirtschaft. Wir wollen den zierbarkeit unseres Gesundheitswesens zu erhalten.
Sozialstaat durch Umbau festigen. Nur so können wir Wir werden die Reform im kommenden Jahr im
auch in Zukunft unser im internationalen Maßstab Gespräch mit allen beteiligten Gruppen und Organi-
hohes Niveau sozialer Sicherheit erhalten. sationen erarbeiten und zügig verwirklichen.
Wir wenden in Deutschland heute rund ein Drittel Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, am
unseres Bruttosozialprodukts für soziale Leistungen 8. Mai des kommenden Jahres wird sich das Ende des
auf. Jeder weiß, daß dieser Anteil nicht weiter erhöht Zweiten Weltkriegs zum 50. Mal jähren. Wir werden
werden kann. Wir müssen deshalb prüfen, wie wir dabei in besonderer und gemäßer Weise der Opfer des
denen stärker helfen können, die der Hilfe am meisten Krieges und der Gewaltherrschaft gedenken. Wir
bedürfen. Wir haben uns für den begonnenen Umbau werden uns auch dankbar daran erinnern, daß Kriegs-
des Sozialstaats vor allem drei Schwerpunkte gegner von gestern uns die Hand zu Versöhnung und
gesetzt: Freundschaft gereicht haben.
Die Arbeitsmarktpolitik muß sich noch stärker Seit 50 Jahren leben wir Deutsche in Frieden. Das ist
benachteiligten Gruppen am Arbeitsmarkt widmen die längste Friedensperiode in der jüngeren deut-
und gemeinsam mit Wirtschaft und Sozialpartnern schen Geschichte. Und seit dem Ende des SED-
wirksamere Anreize zur Aufnahme einer Beschäfti- Regimes leben alle Deutschen gemeinsam in Frei-
gung entwickeln. Das Arbeitsförderungsgesetz muß heit.
vereinfacht und übersichtlicher gestaltet, die Effizienz (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
der Arbeitsämter verbessert werden. Wir wollen bei
dieser Reform auf die Erfahrungen von Wirtschaft und Wir haben heute — und dies zum ersten Mal in
Sozialpartnern zurückgreifen und das notwendige unserer Geschichte — gleichzeitig ausgezeichnete
Gespräch mit den Ländern führen. Beziehungen zu Washington, Paris, London und Mos-
kau. Wir leben in Eintracht mit allen unseren Nach-
Im Sozialhilferecht bleibt es bei dem Grundsatz: barn. Darauf dürfen wir stolz sein.
Jeder, der die Solidarität unserer Gesellschaft
braucht, muß die erforderliche Hilfe erhalten. Das - (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
heißt, es geht nicht um lineare Kürzungen. Wir wollen An dem bewährten Kurs der deutschen Außnpoli-
jedoch, wo immer möglich, Anreize und Eigeniniti- tik, vor allem der festen Einbindung Deutschlands in
ative stärken, um Sozialhilfebedürftigkeit zu überwin- das Atlantische Bündnis und in die Europäische
den. Union, werden wir festhalten. Aber, meine Damen
Sozialhilfeempfängern, denen die Aufnahme einer und Herren, auch in der Außenpolitik werden wir uns
Arbeit zugemutet werden kann, soll verstärkt Arbeit angesichts der Veränderungen in der Welt neuen
— auch geringer entlohnte Arbeit — angeboten wer- Herausforderungen mit Umsicht und Klugheit zu
den. stellen haben.
Zentrale Aufgabe dieser Legislaturperiode wird es
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
sein, die politische Einigung Europas weiter zu festi-
ordneten der F.D.P.)
gen und entscheidend voranzubringen. Die deutsch-
Das ist eine Chance für einen Einstieg in Beschäfti- französische Freundschaft wird hierbei unverändert
gung und zugleich eine Schranke gegen die Ausnut- herausragende Bedeutung haben. Die politische Eini-
zung von Sozialhilfe. Es ist auch für die Betroffenen gung Europas ist und bleibt im existentiellen Interesse
wichtig, daß sie nicht in der Abhängigkeit von der Deutschlands. Es geht uns nicht darum, einen euro-
Sozialhilfe bleiben. päischen Überstaat zu schaffen. Europa hat nur dann
Ungeachtet unserer verschiedenen politischen eine wirklich gute Zukunft, wenn es sich an dem
Standpunkte muß es uns allen doch zu denken geben, Prinzip der Einheit in Vielfalt ausrichtet.
daß nach einer neueren Untersuchung rund ein Drittel Wir alle kennen die zentralen Themen der in
der Sozialhilfeempfänger in der alten Bundesrepu- Maastricht vereinbarten Regierungskonferenz 1996.
blik, denen eine zumutbare Arbeit angeboten wurde, Dabei wollen wir die demokratische Verankerung
diese abgelehnt hat. und die Bürgernähe der Union stärken. Dazu gehört
insbesondere der Ausbau der Rechte des Europäi-
(Zuruf von der CDU/CSU: Unerhört!)
schen Parlaments.
Unsere Auffassung ist, daß dies dann auch eine
Die Bürger Europas erwarten von uns eine stärkere
Senkung der Sozialhilfe für diese Empfänger zur
Zusammenarbeit bei der Innen- und der Rechtspoli-
Folge haben muß.
tik. Bisherige Initiativen, wie bei EUROPOL und bei
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) der Verwirklichung einer gemeinsamen Asylpolitik,
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Rudolf Scharping
Leidenschaft. Wir haben dafür Möglichkeiten, und wir Leben in diesem Land besser und sicherer sein
werden sie nutzen. könnte, als es heute ist.
(Beifall bei der SPD) Aus unserer Sicht lohnt es sich — das werden wir
auch tun —, für eine Gesellschaft zu arbeiten und
Wir werden diese Möglichkeiten hier im Deutschen
darum zu ringen, die ihre Lebensqualität durch eine
Bundestag nutzen und die knappe Mehrheit häufiger gesündere Umwelt, durch weniger Angst vor risiko-
vor die Frage stellen, ob sie konkrete Entscheidungen reichen Technologien, durch eine menschliche
im Interesse des Landes und der Mehrheit seiner
Arbeitswelt und durch mehr Zeit der Menschen für
Bürgerinnen und Bürger wirklich ablehnen will. selbstbestimmte eigene Aktivitäten erreicht. Eine
Wir haben diese Möglichkeit im Bundesrat, Gesellschaft, in der menschenwürdige Arbeit für alle,
die arbeiten wollen und arbeiten können, erreichbar
(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Blockadein ist, in der Erwerbsarbeit, Haus- und Familienarbeit
strument der SPD!) zwischen Männern und Frauen gerechter verteilt sind.
der nun wahrlich kein parteipolitisches Instrument Eine Gesellschaft, in der sich Leistungsfähigkeit und
und schon gar nicht ein Blockadeinstrument ist Mitbestimmung nicht ausschließen. Eine Gesell-
schaft, in der Einkommen gerechter verteilt sind,
(Zuruf von der CDU/CSU: Aha!) soziale Sicherung verläßlich ist und die Arbeitnehmer
— seien Sie doch froh, daß in dieser Frage Überein- einen Anteil am wachsenden Produktivvermögen
stimmung besteht —, haben.
(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Haben Sie (Beifall bei der SPD)
denn schon einen Vorsitzenden des Vermitt
Eine Gesellschaft, die Gleichheit und Solidarität zwi-
lungsausschusses? Sie haben ja noch nicht
schen Männern und Frauen, Jüngeren und Älteren
einmal einen Vorsitzenden des Vermitt
sichert.
lungsausschusses!)
in dem aber Sozialdemokratinnen und Sozialdemo- (Beifall bei der SPD)
kraten durch die Führung von oder Beteiligung an Eine Gesellschaft, vor der sich andere nicht fürchten
14 Landesregierungen — ich vermute, daß das in und die ihre Verantwortung für Frieden und Mensch-
wenigen Tagen der Fall sein wird — eine ungewöhn- lichkeit in der Welt wahrnimmt, auch eine Gesell-
lich starke Stellung haben, von der wir konstruktiven schaft, in der Bürgerinnen und Bürger, wo immer sie
Gebrauch machen werden. Wir haben diese Möglich- sich betroffen fühlen, an den Entscheidungen mitwir-
keiten auch durch die gemeinsamen Gremien von ken und das Gemeinwesen als ihre eigene Angele-
Bundestag und Bundesrat. genheit verstehen können.
Ich schicke das deshalb voraus, weil ich am Anfang Das ist das Leitbild einer sozialen Demokratie,
überhaupt keinen Zweifel daran aufkommen lassen - einer Demokratie, die in der sozialen Gerechtigkeit
will, daß sich die Sozialdemokratie insgesamt, d. h. eine stabile Grundlage findet, einer Demokratie, die
selbstverständlich auch ihre Bundestagsfraktion, an sich nicht im Wahlgang erschöpft, sondern im alltäg-
dem orientieren wird, was für die Verbesserung der lichen Leben der Menschen lebendig und erfahrbar
Lebenssituation von Menschen in Deutschland geeig- ist,
net ist. Wir werden uns nicht darauf konzentrieren,
künstliche Konflikte mit der Regierung herbeizufüh- (Beifall bei der SPD)
ren, Konflikt um des Konfliktes, Streit um des Streites, einer Demokratie, von der jeder und jede einzelne
Auseinandersetzung um der Auseinandersetzung wil- sich angenommen weiß und sich auch ermutigt fühlen
len zu betreiben, sondern immer den Zielpunkt im kann, eigene Beiträge zu ihrer Entwicklung zu lei-
Auge behalten, was unser Handeln dazu beitragen sten.
kann, die kontrete Situation von Menschen in
Deutschland, ihre Lebensbedingungen und ihre (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Bisher ha-
Zukunftschancen zu verbessern. ben Sie das aber nicht befördert!)
(Beifall bei der SPD — Eduard Oswald [CDU/ Dieses Ziel einer lebenswerten, einer von Solidarität
CSU]: Das ist ja ganz neu! Das klingt ja ganz und Fortschritt geprägten Gemeinschaft ist es, was
energisch! Sie sind ganz energisch, weil Herr unserer Arbeit Richtung, Zusammenhang und Ener-
Schröder heute da ist!?) gie geben kann und geben wird.
Ich füge hinzu: Wenn ich auch heute Defizite Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich
beschreibe, die mit einer besseren Politik in Deutsch- beschreibe das, weil es praktische Konsequenzen
land dringend überwunden werden müssen, dann nicht nur für unsere Arbeit, sondern auch für unsere
mache ich das nicht, weil ich überall nur Gefahren Initiativen haben wird. Da wird in der Regierungser-
oder Risiken sehe. Wir haben ein durchaus positives klärung des Bundeskanzlers beispielsweise von der
Bild von der Gesellschaft, in der wir gemeinsam leben. Notwendigkeit gesprochen, mehr zu tun für die wirt-
Worum es allein gehen wird, sind eine bessere Art des schaftliche Kraft des Landes, und dann ist der Satz
Lebens und des Zusammenlebens. Risiken und gefallen, daß sich daran — ich sage das einmal in
Gefahren, Defizite und Ängste, die in der politischen meinen Worten — die Zukunft auch vieler anderer
Auseinandersetzung vielleicht hier und da eine sehr Bereiche in unserem Land entscheiden wird. Das ist
stark beherrschende Rolle spielen, finden nur deswe- wohl wahr. Aber wenn ich diese Ankündigungen in
gen unsere Aufmerksamkeit, weil wir wissen, daß das ihrer schönen Allgemeinheit höre — mit den wenigen
50 Deutscher Bundestag — 13. Wahlpe riode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994
Rudolf Scharping
konkreten Ausnahmen —, dann frage ich mich: Wer auch gar nichts Konkretes einzuspeisen hat? Wie soll
spricht hier eigentlich? das denn gehen?
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
DIE GRÜNEN) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
PDS)
Derjenige, der von der Gleichwertigkeit beruflicher
und allgemeiner Bildung redet und sie als eine Wieviel Vertrauen kann ein Regierungschef be an
Chance für den einzelnen Menschen und als eine -spruchen,dimtTascherulgn
Notwendigkeit für unsere gemeinsame wirtschaftli- muß, daß sein eigenes Handeln bisher
che Zukunft begreift, ist der Bundeskanzler, der die (Joachim Hörster [CDU/CSU]: Erfolgreich
Verantwortung dafür trägt, daß es bisher eine Gleich- gewesen ist!)
wertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung
nicht gibt, ist der Vorsitzende einer Partei, die jede genau diesen Dialog, diesen notwendigen gesell-
Anstrengung in den Ländern zur Herbeiführung die- schaftlichen Konsens, diese notwendige gemeinsame
ser Gleichwertigkeit bisher heftig bekämpft und dif- Anstrengung belastet statt gefördert hat?
famiert hat. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN — Sieg
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
fried Hornung [CDU/CSU]: Bisher haben Sie
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
doch alles blockiert!)
PDS)
Da gibt es ein hübsches und übrigens auch sehr
Es ist der Bundeskanzler selbst, der die Verantwor- eklatantes Beispiel. Sie reden davon, wir dürften nicht
tung dafür trägt, daß die Möglichkeiten z. B. der mehr die Arbeitskraft und die Erfahrung von 55jähri-
Aufstiegsförderung genauso zerstört worden sind, wie gen Arbeitslosen verschleudern.
das kreative Potential der Arbeitnehmer durch die
Streichung der Erfindervergünstigung beschädigt (Heiterkeit bei der SPD — Joachim Hörster
wurde. [CDU/CSU]: Recht hat er!)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das ist richtig. Genauso richtig ist, Herr Bundeskanz-
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der ler, daß Sie bisher eine Politik gemacht haben, die
PDS) genau zu dieser Verschleuderung der Erfahrung und
der Arbeitskraft geführt hat.
Damit wir uns richtig verstehen, Herr Bundeskanz-
ler: Ich sage das nicht, um jetzt, wie Sie gesagt haben, (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
die Aufrechnung der Vergangenheit zu betreiben GRÜNEN und der PDS)
oder den Wahlkampf fortzusetzen. Ich sage es aus Sie sind ganz offenkundig nur an einer einzigen
einem einzigen Grund: Wieviel Glaubwürdigkeit - Stelle konkret geworden. Es wird gesagt: Man muß
kann ein Mann beanspruchen, der für zwölf Jahre einmal über die Effizienz der Arbeitsverwaltung nach-
Politik und nicht nur für seine guten Absichten, wenn denken. Tun Sie das, und teilen Sie die Ergebnisse
sie denn für die Zukunft gut sind, geradezustehen mit!
hat?
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Es wird gesagt, man müsse anfangen, über die Regio-
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der nalisierung der Arbeitsmarktpolitik nachzudenken.
PDS) Tun Sie das, und sagen Sie einmal, was Sie an den
Das alles kleiden Sie in das freundliche Bild, das Vorstellungen der Sozialdemokratie zur Änderung
seien nicht nur Ankündigungen. Manches von dem, des Arbeitsförderungsgesetzes konkret auszusetzen
was getan werden müßte, ist ja wieder einmal haben!
zunächst in Expertenkommissionen verbannt worden. (Beifall bei der SPD)
Und dann kommt die freundliche Einladung, man
solle möglichst viel miteinander reden. So viele Einla- Es wird gesagt, man wolle — jetzt wird es konkret; das
dungen zum gemeinsamen Gespräch habe ich noch ist die einzige konkrete Ankündigung — die Anreize
selten gehört: an die Länder, an die Gemeinden, an zur Aufnahme von Arbeit verstärken und im Zweifel
die Sozialpartner, an die Gewerkschaften und derglei- die Sozialhilfe kürzen, wenn zumutbare Arbeit nicht
chen mehr. aufgenommen werde.
(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: (Zuruf von der CDU/CSU: Richtig! — Weite
Die haben alle Verantwortung! — Joseph rer Zuruf von der CDU/CSU: Bravo!)
Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Wenn das der zentrale Punkt sein soll, dann stelle
NEN]: Helmut, der Diskursive!) ich einen anderen daneben, von dem wir überzeugt
sind, daß er wesentlich wichtiger ist. Wir werden
Da frage ich mich: Wie will denn eine Regierung, endlich dazu kommen müssen, die Belastung der
von der die Menschen zu Recht erwarten können, daß Arbeit und der Arbeitsplätze mit Kosten, und zwar
sie Vorstellungen von ihrem eigenen Handeln hat, insbesondere mit Kosten durch die sozialen Siche-
den notwendigen Diskurs mit gesellschaftlichen rungssysteme, zurückzuführen.
Gruppen, mit Gemeinden, mit Ländern, mit anderen
führen, wenn sie selbst in diesen Dialog nichts, aber (Beifall bei der SPD)
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 51
Rudolf Scharping
Es ist nicht Aufgabe der Beitragszahler, die deutsche war ja überschrieben mit „Noch eine Chance für die
Einheit zu finanzieren. Liberalen" .
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Manfred (Beifall bei der SPD)
Müller [Berlin] [PDS]) Ich habe den Eindruck, das ist bei Ihnen ebensowenig
angekommen wie der Gedanke, daß die größtmögli-
Es ist nicht Aufgabe der Beitragszahler, aktive
che Freiheit des lohnabhängigen Bürgers mit einem
Arbeitsmarktpolitik zu finanzieren. Das ist eine
Höchstmaß an wirtschaftlicher Effektivität verbunden
gemeinschaftliche Aufgabe.
werden sollte und daß, so sagte Karl-Hermann Flach,
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten es die liberale Aufgabe des 20. und 21. Jahrhunderts
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der sei, Bürgerrechte am Arbeitsplatz zu stärken.
PDS) (Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Ganz
Wer sich einmal anschaut, was der Bundesverband lesen!)
der Deutschen Industrie zu diesem Thema sagt, der Meine Damen und Herren, wir werden deshalb die
stellt sich nur noch die verwunderte Frage, warum wirtschaftspolitischen Fragen, die Fragen, die mit den
nicht wenigstens diese konkreten Vorschläge bei Arbeitsplätzen zu tun haben, nicht nur als ein ökono-
dieser Bundesregierung gefruchtet haben. misches Problem begreifen, sondern weiter das Ziel
(Beifall bei Abgeordneten der SPD — Dr. verfolgen, daß die Kreativität, die Phantasie, die
Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Wie Bereitschaft zur Mitverantwortung von Arbeitnehme-
finanzieren Sie es denn?) rinnen und Arbeitnehmern auch wirksam werden
können, daß sie dafür Regeln zur Verfügung gestellt
Mich wundert das nicht. Wir haben es ja nicht nur bekommen, daß das Betriebsverfassungsgesetz ent-
mit dem Bundeskanzler, sondern auch mit einem sprechend erweitert wird,
Kabinett zu tun, in dem jeder Neue oder jeder, der eine
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Joseph
neue Aufgabe übernommen hat, eine faire Chance
Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
verdient. NEN])
(Zuruf von der CDU/CSU: Jawohl!) wenn es um neue Technologien und neue Arbeits-
Ich bin allerdings auch fest davon überzeugt: Es wird plätze geht, daß Mitbestimmung gesichert bleibt —
uns nicht weiterhelfen, wenn wir in diesem Bereich eine Uridee in der Bundesrepublik Deutschland, von
immer nach den Methoden des alten Denkens vorge- der sich die CDU in der Praxis und die F.D.P. in der
hen. Praxis und im Gedankengut verabschiedet hat.
Deshalb will ich Ihnen, gerade mit Blick auf den (Beifall bei der SPD)
einen oder anderen hier unter uns, einmal mit einem
kleinen Zitat dienen: Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Scharping,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten
(Zuruf von der CDU/CSU: Das finden wir -
Burkhard Hirsch?
aber schön!)
Der Rechtsanspruch auf Sozialversicherung ist in Rudolf Scharping (SPD): Wenn es nicht allzuviel
Wahrheit der wichtigste Besitztitel in der industri- wird, gerne.
ellen Massengesellschaft. Nicht der ist wahrhaft
frei, der alle Lebensrisiken selber trägt und am (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)
Ende der Gemeinschaft häufig ziemlich rechtlos — Ich meine, in bezug auf die Zahl der Zwischenfra-
zur Last fällt, sondern derjenige, dem die Angst gen.
vor unverschuldeter Not, unberechenbaren Risi-
ken und vor dem Alter genommen wird. Die Dr. Burkhard Hirsch (F.D.P.): Verehrter Herr Kol-
Befreiung von der Existenzangst, soweit men- lege, da Sie Karl-Hermann Flach zitiert haben, möchte
schenmöglich, gehört zu den entscheidenden ich Sie fragen: Wären Sie bereit, daran mitzuarbeiten
Aufgaben in der Massengesellschaft. — und wenn ja, wie Sie sich das vorstellen —, die
(Beifall bei der SPD — Siegfried Hornung Rechte des einzelnen Arbeitnehmers im Betrieb zu
[CDU/S]:asitbeunhöcm stärken und nicht nur die Rechte der Organisationen
Maße gewährleistet!) von Arbeitnehmern?
(Beifall bei der F.D.P. — Widerspruch bei der
Ich bedauere es ein bißchen, daß die F.D.P. — das
SPD)
zeigt ja, wohin sie sich entwickelt hat —
(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Rudolf Scharping (SPD): Herr Kollege Hirsch, ich
Jetzt aber vorsichtig!) will gerne versuchen, das im weiteren Verlauf meiner
da keinen Beifall bekunden kann. Ausführungen deutlich zu machen, im Zweifel auch in
einem persönlichen Gespräch. Allerdings möchte ich
(Beifall bei Abgeordneten der SPD — Chri- einem Mißverständnis, das bei Ihnen möglicherweise
stian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Da gäbe vorhanden sein könnte — Sie wissen, daß ich Sie
es aber auch bei Ihnen noch ein paar solcher schätze —, vorbeugen: Zu glauben, daß die Interes-
Felder!) senvertretung von Arbeitnehmern durch Betriebsver-
Denn Karl-Hermann Flach hat 1971 zu Recht von den fassungen, Betriebsräte bzw. Personalräte oder
Chancen für die Liberalen gesprochen. Das Büchlein Gewerkschaften die Rechte oder die Chancen des
52 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994
Rudolf Scharping
einzelnen Arbeitnehmers begrenzen könnte, das tung, daß sie ihrerseits die Gesellschaft, in der sie
halte ich für ein grobes Mißverständnis, um es höflich leben, annehmen und anerkennen können. Das ist
zu formulieren. keine Einbahnstraße. Das ist nicht mit Worten zu
leisten, sondern nur mit Taten.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der (Beifall bei der SPD)
PDS) Vor diesem Hintergrund, Herr Bundeskanzler,
Sie ist die Grundlage dafür, daß der einzelne seine haben Sie zum wirtschaftlichen Bereich davon
Möglichkeiten überhaupt entfalten kann. gesprochen, Sie wollten zunächst die Gewerbekapi-
talsteuer abschaffen, am Ende auch die Gewerbe-
Meine Damen und Herren, ich will zu einem
steuer selbst.
wesentlich wichtigeren Punkt zurück. Wer wirtschaft-
lichen Fortschritt haben will, der wird nicht nur dafür (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das ist rich
sorgen müssen, daß es eine aktive Arbeitsmarktpolitik tig und notwendig!)
und Möglichkeiten zur Fort- und Weiterbildung gibt Wir reden, wenn das für die Dauer dieser Legislatur-
und die Lohnnebenkosten dadurch gesenkt werden, periode gemeint sein sollte, über einen Betrag von
daß allgemeine Aufgaben auch von allen gemeinsam mehr als 40 Milliarden DM. Darüber läßt sich mit
finanziert werden, sondern der muß auch dafür sor- wolkiger Allgemeinheit nicht hinweggehen, vor allen
gen, daß es ein vernünftiges Verhältnis zwischen Dingen nicht wegen der Folgen und weil Sie bisher
Leistung, individuellen Möglichkeiten und Verant- keine Auskunft darüber geben, wie dieser angesichts
wortung gegenüber der Gemeinschaft gibt. einer hohen Verschuldung sowieso unverantwortli-
Dieser Gedanke ist in den letzten Jahren stark che Einnahmeausfall kompensiert werden soll.
beschädigt worden. Ich lese beispielsweise, daß Kollege Schäuble
(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Von Ih- (Oh-Rufe von der CDU/CSU)
nen!)
— haben Sie etwas dagegen, wenn man sich auf Ihren
Es ist häufig der Eindruck entstanden, als sei soziale eigentlichen Vordenker bezieht? —,
Gerechtigkeit ein wesentliches Prinzip nur für jene,
(Beifall und Heiterkeit bei der SPD)
die leider arbeitslos sind, leider keine bezahlbare
Wohnung finden, wegen der Zahl ihrer Kinder leider wenn das „Handelsblatt" zutreffend berichtet, davon
Schwierigkeiten haben usw. Wohlverstanden — spä- gesprochen hat, man könne über einen kommunalen
testens seit der Politik des amerikanischen Präsiden- Hebesatz für die Lohn- und Einkommensteuer nach-
ten Roosevelt — ist der Sozialstaat aber mehr. Er ist denken.
nicht allein Hilfe für Bedürftige oder Benachteiligte; er (Zurufe von der CDU/CSU: Richtig!)
ist konstitutives Prinzip einer parlamentarischen
Demokratie. Denn vom sozialen Frieden profitiert die Ich will dazu zwei Bemerkungen machen. Wir
gesamte Gesellschaft, und zwar wirtschaftlich und - hatten in diesem Haus und im Bundesrat schon einmal
hinsichtlich der Qualität des Zusammenlebens. eine Debatte über die Frage, ob es klüger sei, Steuern
im Bereich der Unternehmensbesteuerung, also Spit-
(Beifall bei der SPD) zensteuersätze, allgemein zu senken, oder ob es
Gesellschaften ohne kulturelle, ohne soziale und gerade wegen der Stärkung des Investitionsstandor-
ohne wirtschaftliche Chancen für alle sind auf Dauer tes Deutschland und der Schaffung von Arbeitsplät-
nicht zukunftsfähig. Alle Erfahrung der Vergangen- zen nicht vernünftiger sei, dafür zu sorgen, daß
heit beweist: Wenn die Frage nach der sozialen Unternehmen, die investieren, forschen, entwickeln
Gestaltung des Zusammenlebens der Vermutung aus- und neue Produkte in den Markt bringen, gezielt
gesetzt wird, die soziale Leistung sei gewissermaßen entlastet werden, daß der Mittelstand gezielt entlastet
der Lazarettwagen am Ende einer unvermeidlichen wird.
wirtschaftlichen Entwicklung, dann verlieren Gesell- (Beifall bei der SPD)
schaften ihren Zusammenhalt.
Sie dürfen sich darauf einrichten: Wir werden allem
(Beifall bei der SPD) widerstehen, was die kommunale Finanzkraft und die
Sie verlieren das konstitutive Element, das sie erst zu kommunale Finanzhoheit aushöhlt. Wir werden allem
Gesellschaften macht. widerstehen, was am Ende nur dazu führt, daß ein
breiter Steuerregen über alle Unternehmen hernie-
Deshalb sind wir der Meinung, daß Massenarbeits- dergeht, während diejenigen, die investieren, die
losigkeit überwunden, Wohnungsnot abgebaut und forschen, die entwickeln und die etwas für Arbeits-
das Wohlstandsgefälle zwischen Ost- und West- plätze tun, eben nicht die notwendige Entlastung
deutschland zügig verringert werden müssen, und erfahren. Genau das geschieht aber, wenn Sie Ihr
zwar nicht, weil wir einäugig auf die Interessen von Vorhaben durchsetzen wollen.
Gruppen, sondern auf das gemeinschaftliche Inter-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
esse an einem solidarischen Zusammenleben hin
orientieren wollen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wir werden nicht dazu die Hand reichen, daß die
(Beifall bei der SPD)
Gemeinden ein Interesse an der Ansiedlung von
Nur dann, wenn sich alle oder fast alle von der Betrieben verlieren. Wir werden nicht dazu die Hand
Gesellschaft, in der sie leben, angenommen und reichen, daß sie ihre Gebühren und Abgaben erhöhen
anerkannt fühlen, gibt es gute Gründe für die Erwar- müssen. Es stellt sich hier auch die Frage, wie bei-
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 53
Rudolf Scharping
spielsweise der Magistrat der Stadt Frankfurt die Generationenvertrages und stellt die Frage, was diese
Bürger von Kronberg eigentlich heranziehen soll, Regierung denn eigentlich vorhat. Sie wollen den
damit sie die Oper, die kulturellen, die sportlichen und sozialen Wohnungsbau stärken oder den Wohnungs-
sonstigen Einrichtungen dieser großen Stadt für ihr bau insgesamt. Ich höre das gerne und frage mich: Ist
Umfeld bezahlen können. da wirklich die Umkehr von der bisherigen Politik
oder nur das wortreiche Bemänteln mit dem Ziel,
(Beifall bei der SPD)
genau die gleiche Politik fortzusetzen? Wie sind Sie
Vor diesem Hintergrund, kulturelle Einrichtungen denn mit dem Mietrecht umgegangen, wie mit den
zu schließen oder teurer zu machen, soziale Einrich- Mitteln für den sozialen Wohnungsbau, wie mit den
tungen, auf die viele Menschen angewiesen sind, Verhältnissen bei Familien und Kindern?
öffentliche Einrichtungen, ein Dienstleistungsange-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
bot für die Bürger immer teurer zu machen, indem
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
man die kommunale Finanzbasis immer weiter
schwächt, werden wir nicht mitmachen, schon gar Es hört sich gut an, daß Kinder ein Armutsrisiko
nicht, wenn es auf der wirtschaftlichen Seite gegen- geworden seien und ein Hindernis auf der Suche nach
über investierenden Unternehmen keine einzige einer bezahlbaren Wohnung.
wirksame Verbesserung bedeutet. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten DIE GRÜNEN]: Seit vielen Jahren!)
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Auf Grund vieler meiner eigenen Reden in der Ver-
PDS) gangenheit kommt es mir sehr bekannt vor, wenn ich
Meine Damen und Herren, damit ist eine Brücke zur höre, daß auf der einen Seite die Kinderfreundlichkeit
sozialen Entwicklung in Deutschland geschlagen. In einer Gesellschaft beschworen wird, dann aber gegen
diesen Tagen ist der Konsultationsprozeß der beiden die Spiel- oder Bolzplätze geklagt wird. Wie war es
christlichen Kirchen zur wirtschaftlichen und sozia- denn, als hier, im Deutschen Bundestag, in solchen
len Lage in Deutschland eröffnet worden. Wer vorher Fragen über die konkreten gesetzgeberischen Ent-
geglaubt hatte, es sei das Geschrei einer gewerk- scheidungen verhandelt werden mußte? Wie sah das
schaftlich organisierten Interessengruppe oder die in den Haushalten aus, wie in Ihrer konkreten Poli-
besondere Betroffenheit von Wohlfahrtsorganisatio- tik?
nen, wenn die soziale Lage in Deutschland beklagt Herr Bundeskanzler, ich bitte sehr um Verständnis:
wird, der wird sich hoffentlich gerade in Parteien, die Eines können Sie nicht tun. Sie können nicht sagen,
für sich das Christliche beanspruchen, durch diese die Bürgerinnen und Bürger hätten die Koalition der
Debatte in den Kirchen eines Besseren belehren Mitte, die in Wahrheit eine Koalition der Schwäche ist,
lassen. Was Sie den Bürgerinnen und Bürgern in gewählt, gleichzeitig aber sagen: Jetzt betreibe ich
Deutschland signalisieren, ist zum Beispiel von Hans selbst höchstpersönlich Opposition gegen die Politik,
Küng mit einem guten Satz abgelehnt worden: die ich in den letzten zwölf Jahren gemacht habe.
Lebensstandard alleine ergibt keinen Lebenssinn.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) GRÜNEN und der PDS)
Materieller Wohlstand alleine ergibt keinen Sinn und Sie können nicht sagen, die Bürgerinnen und Bürger
übrigens auch keinen Zusammenhalt für das Leben hätten die Kontinuität gewollt. — Ich fürchte, sie
untereinander. Wenn das aber so ist, dann müssen Sie werden diese Art von Kontinuität aber bekommen.
sich fragen lassen, warum Sie in Ihrer praktischen
Politik bisher alles ignoriert haben, was von den Wo ist der konkrete Vorschlag zur Förderung des
Gewerkschaften, von den sozialen Wohlfahrtsorgani- sozialen Wohnungsbaus? Wo ist der konkrete Vor-
sationen und mittlerweile auch von den Kirchen an schlag, Bauland preiswerter zu machen? Wo sind die
besorgten Stimmen und an konkreten Vorschlägen konkreten Vorschläge, die Spekulation mit Bauland
angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Entwick- und sein Horten zu verhindern, zumindest zu
lung in Deutschland geäußert worden ist. Ich finde es erschweren? Welche konkreten Maßnahmen stellen
erstaunlich, daß ein Regierungschef aus den Reihen Sie sich vor? Wir haben noch runde zwei Tage Zeit, das
der Christlich-Demokratischen Union in diesen Tagen hier miteinander zu besprechen. Vielleicht ist es
eine Regierungserklärung abgeben kann, ohne ein einem Regierungschef nicht möglich, bei den vielen
einziges Wort dazu zu sagen, wie die Kirchen und die Dingen, die er ansprechen will, ansprechen muß oder
Wohlfahrtsorganisationen die soziale Lage dieses meint, ansprechen zu müssen, zu den Fragen des
Landes beurteilen. praktischen politischen Entscheidens Stellung zu neh-
men.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
Nein, wenn Sie ankündigen, daß Sie die Kinderfrei-
GRÜNEN und der PDS)
beträge erhöhen wollen, wenn Sie ankündigen, daß
Neben der Arbeit und der Stärkung der wirtschaft- Sie in diesem Bereich eine bittere soziale Ungerech-
lichen Leistungskraft, neben der Stärkung der Investi- tigkeit noch ausbauen wollen, dann rechnen Sie bitte
tionen in Deutschland, der Förderung neuer Techno- mit dem entschlossenen Widerstand der Sozialdemo-
logien wird die Frage nach der Befestigung der kratie.
sozialstaatlichen Grundlage unseres Zusammenle-
bens die zweite entscheidende Zukunftsfrage sein. (Beifall bei der SPD)
Das betrifft Frauen wie Männer, Kinder wie Ältere, Sie haben Teile der Wohnungsbauproblematik
stellt die Frage nach der Wirksamkeit des sozialen genauso wie die Frage der Steuerfreiheit des Exi-
54 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994
Rudolf Scharping
stenzminimums zunächst in Expertenkommissionen träglichkeit unter den Menschen, die heute leben, und
verbannt. Das hat Ihnen über den 16. Oktober hin- dem Maßstab der Verträglichkeit mit den Lebens-
weggeholfen. Es wird Ihnen aber in den nächsten vier chancen künftiger Generationen. Niemand hat heute
Jahren, wenn sie es denn werden, nicht weiterhel- das Recht, deren Lebenschancen einzuengen.
fen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Meine Damen und Herren, eine Regierungserklä- DIE GRÜNEN)
rung von so allgemeiner Wolkigkeit macht es in
Natürlich ist der Schutz von Umwelt, die Produktion
manchen Bereichen schwer, zu erkennen, was denn
umweltverträglicher Güter, auch eine große wirt-
wirklich geschehen so ll . Deshalb will ich an dieser
schaftliche Chance. Natürlich ist die ökologische
Stelle lieber sagen, was wir durchsetzen wollen. Wir
Orientierung der gesamten Volkswirtschaft, das Den-
wollen durchsetzen, daß es einen gerechten und jedes
ken in mehr produktintegriertem Umweltschutz, weg
Kind gleichermaßen ernst nehmenden Familienlei-
von diesen End-of-Pipe-Technologien, die am Ende
stungsausgleich gibt. eines Schornsteins, eines Abwasserrohres mit feinzi-
(Beifall bei der SPD) selierten Überwachungsbehörden alles mögliche
kontrollieren wollen, hin zu einer in das Produkt
Wir wollen durchsetzen, daß es ein einheitliches
verlagerten Idee von Umweltschutz, natürlich ist das
Kindergeld gibt.
Denken in kreislauforientierter Wirtschaft die Grund-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) lage.
Wir wollen durchsetzen, daß von den gleichen Chan- Dann fallen eine ganze Reihe von konkreten Ent-
cen der Frauen, daß von der Vereinbarkeit von scheidungen.
Familie und Beruf nicht nur in öffentlichen Bekundun-
(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Diese In
gen geredet wird, sondern daß dieser Deutsche Bun-
dustrien, die vertreiben Sie doch alle aus
destag entsprechende Rahmengesetze verabschiedet,
unserem Land!)
die den einzelnen Frauen überhaupt eine Chance
geben. — Verehrter Herr Kollege, wenn Sie wüßten, daß wir
mit dem Umweltschutz immer noch einen der größten
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Joseph
Wachstumsmärkte haben,
Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
NEN]) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Sie werden spätestens bei der Frage der Reform des
§ 218 beantworten müssen, wie Sie es denn mit dem wenn Sie wüßten, daß die Unternehmen in Deutsch-
Rechtsanspruch auf einen Platz im Kindergarten hal- land mittlerweile vorrechnen, daß ihre Belastungen
ten. Wenn hier unterschiedliche Öffnungszeiten mit Umweltschutzkosten wesentlich niedriger sind als
beklagt werden oder die Tatsache, daß die Schule mal jene Lasten, die Sie ihnen mit einer unzuverlässigen
um 12, mal um 11, mal um 13 Uhr zu Ende geht und es - Währungspolitik, den daraus entstehenden Schwan-
für Mütter und Väter folglich schwierig ist, sich darauf kungen und den Lohnnebenkosten aufgehalst ha-
einzurichten, dann ist das alles schön zu hören. ben,
Solange aber diese Bundesregierung nicht bereit ist,
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
für die von ihr selbst und von der Koalition gesetzten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Rahmenbedingungen denen die Mittel in die Hand zu
geben, die das ausführen müssen, bleibt das alles wenn Sie das alles einmal beachten würden, dann
Makulatur. würden sich Ihnen die Augen öffnen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Es dürfte Ihnen nicht verborgen sein, daß mittler-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der weile weltweit so angesehene Institute wie das MIT in
PDS) Boston und viele andere Institutionen, angeführt von
einer Gruppe international tätiger Unternehmen, wo
Folglich wollen wir auch durchsetzen, daß im sich 50 Frauen und Männer zusammengeschlossen
Bereich des Wohnungsbaus Vorschläge aufgegriffen haben, selbst als Unternehmen die Umkehr hin zu
werden, daß nicht mehr mit einer unmittelbaren, einer ökologisch orientierten Wirtschaft fordern. Die
durch Zuschüsse in barem Geld organisierten Förde- sind doch in den Unternehmen mittlerweile viel weiter
rung, sondern im Zweifel durch Bürgschaften oder als das Denken in der CDU/CSU oder in der F.D.P.
entsprechende Eigenkapitalsurrogate wesentlich oder in dieser Regierung.
besser geholfen wird, als uns das in der Vergangen-
heit gelungen ist. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Meine Damen und Herren, die dritte große
Zukunftsaufgabe ist der Schutz unserer natürlichen Wenn Sie allerdings immer einen Wirtschaftsmini-
Lebensgrundlagen. Auch da zeigt sich, daß wirt- ster da hinschicken, bei dem die Gewerkschaften nur
schaftliche, soziale und ökologische Erfordernisse noch sagen: „Was soll es?" und bei dem die Arbeitge-
sinnvoll miteinander verknüpft werden können. So, ber sagen: „Das kann man gleich zur Seite winken"
wie wir einen sozialen Generationenvertrag brauchen — das wird doch auch auf den Fluren der Unterneh-
und erhalten müssen, brauchen wir auch einen öko- mensverbände nicht mehr sonderlich ernst genom-
logischen Generationenvertrag. men —, dann kommen diese Informationen bei Ihnen
nicht an.
Jede Entscheidung, die wir heute treffen, muß zwei
Maßstäben genügen: dem Maßstab der sozialen Ver (Beifall bei der SPD)
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 55
Rudolf Scharping
Das will ich gerne verstehen, aber das ist natürlich gelebt haben, die zwar nicht miteinander zu verglei-
inakzeptabel für die Politik einer solchen Regie- chen sind, aber doch beide Diktaturen gewesen sind.
rung. Ihnen Respekt entgegenzubringen und sie mit ihrer
Lebenserfahrung zu integrieren, sie nicht auszugren-
(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]:
zen, die Schwierigkeiten eines solchen Lebens zu
Persönliche Verunglimpfungen waren noch
nie gut!) akzeptieren — das wäre nicht nur ein guter Grundsatz,
sondern auch ein wichtiger Maßstab für das, was
Frau Kollegin Merkel, ich wünsche Ihnen persön- konkret in Zukunft geschieht. Elemente des Straf-
lich viel Erfolg. — Mehr kann ich leider nicht tun. rechts haben im Rentenrecht nichts zu suchen,
(Lachen bei der SPD — Siegfried Hornung (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
[CDU/CSU]: Das ist aber traurig!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
So richtig es ist, daß man eine Chance einräumen soll, PDS)
so richtig ist es leider auch, daß Sie das Amt nicht und folglich werden wir auch auf diesem Gebiet
unbedingt haben wollten. Initiativen ergreifen.
Wenn man dann in diesem wesentlichen Bereich Das ist aber viel mehr als nur ein wirtschaftlicher
einen Wirtschaftsminister hat, der es nicht kann, eine Vorgang, Hilfe bei Investitionen, Sicherung von
Umweltministerin, die es nur muß, und einen Umwelt- Arbeitsplätzen, Förderung von aktiver Arbeitsmarkt-
minister von ehedem, der es gerne gewollt hätte, aber politik, Förderung der Entwicklung des Handels,
nicht durfte, Nutzen der großen Kenntnisse und Erfahrungen,
gerade was das östliche Mitteleuropa und die damit
(Lachen bei der SPD) zusammenhängenden Sprachkenntnisse und berufli-
dann zeigt das, daß an dieser Schnittstelle der künfti- chen Erfahrungen angeht; es ist viel mehr. Wenn die
gen wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Ent- wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse signalisie-
wicklung weder inhaltliche Konzeptionen noch perso- ren, daß man die Menschen selbst nicht respektiert,
nelle Kompetenz eingesetzt wird. Das ist die eklatan- dann wird das Zusammenwachsen der Deutschen in
teste Schwäche dieser Regierung. emotionaler, in kultureller und menschlicher Hinsicht
auf eine unerträgliche Weise beschwert.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD)
Auch das kann man ja wieder mit ein paar Beispie- Meine Damen und Herren, das folgende Beispiel
len unterlegen: Wie weit ist die Entwicklung der will ich nun doch verwenden: Man kann über eine
Solartechnik? Welche eigenartige Vorstellung von der Rede eines Alterspräsidenten das eine oder andere
weiteren Nutzung der Atomenergie haben Sie? sagen, auch kritisch. Aber wenn man sich nicht der
einfachsten Formen der Höflichkeit befleißigen
(Zuruf von der SPD: Sehr wahr!) kann,
Was sind Ihre Bekundungen hinsichtlich der Reduzie- (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei
rung des CO2-Ausstoßes noch wert? Das kommt Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
überhaupt nicht mehr vor. Früher gab es ja einmal GRÜNEN)
eine vollmundige Ankündigung, daß man ihn um
ist auch das ein Signal von Mißachtung.
25 % herunterschrauben wolle. Ich frage: Wie sehr ist
eine führende Industrienation wie Deutschland mit (Zuruf von der CDU/CSU: Thema verfehlt!)
einer solchen Regierung an der Spitze wirklich enga- Ich habe politisch überhaupt keine Nähe zu dem, was
giert, weltweit ein Vorbild zu sein? Die Antwort darauf der Abgeordnete Heym vertritt,
läßt sich am besten ablesen, wenn m an die Vorberei-
tungen für die Folgekonferenz des Erdgipfels und die (Zuruf von der CDU/CSU: Na, na, na!)
Klimakonferenz, die in Berlin stattfinden soll, genau überhaupt keine. Ich finde, es ist aber ein schändliches
studiert. Sie hatten auch im Hinblick auf Ihre Präsi- und beschämendes Vorgehen, wenn man eine Rede
dentschaft des Europäischen Rates angekündigt, was dort nicht abdruckt, wo sie üblicherweise abgedruckt
Sie in dieser Beziehung alles voranbringen wollten. wird. Auch das ist ein Signal für Mißachtung.
Nichts, Herr Bundeskanzler, ist geschehen. Wo soll (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
dann das Vertrauen herkommen, daß in Zukunft GRÜNEN und der PDS)
etwas geschehen würde?
Wir werden die eine große Integrationsaufgabe
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zwischen Ost und West nicht bewältigen können,
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der wenn bei aller notwendigen und auch sehr grundsätz-
PDS) lichen politischen Auseinandersetzung der Respekt
Neben diesen großen Modernisierungsaufgaben in vor schwierigen Lebenswegen und vor manchen
bezug auf den Wirtschaftsstandort, die Grundlagen Unzulänglichkeiten nicht wenigstens in den Grund-
des Zusammenlebens und die natürlichen Lebens- beständen da ist, die man für menschliches Zusam-
grundlagen steht Deutschland vor großen Integra- menleben braucht.
tionsaufgaben. (Beifall bei der SPD)
Die eine Integrationsaufgabe bezieht sich auf jene Die zweite große Integrationsaufgabe wird sein,
Frauen und Männer, die im Osten Deutschlands leben den Frauen im Beruf, in der Gesellschaft und in der
und die, soweit sie es erlebt haben und erleben Politik gleiche Chancen einzuräumen. Ich habe in
mußten, in der Zeit von 1933 bis 1989 in Systemen dem sozialen Zusammenhang darüber schon einiges
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Rudolf Scharping
gesagt und will mich hier deswegen auf eine Bemer wirklich wohl fühlen, weil ihr mich immer noch als
ung beschränken. Auch da, Herr Bundeskanzler, Ausländer bezeichnet. Das sagt sie in breitestem
habe ich mir Ihre Regierungserklärung erstens auf- bayerischen Dialekt, den sie wesentlich besser
merksam durchgelesen und zweitens nach dem Lesen beherrscht als das Türkisch ihrer Eltern. Diese Men-
mit — das muß ich einräumen — etwas reduzierter schen haben nach unserem Verständnis Anspruch
Aufmerksamkeit zugehört und versucht, diese ganzen darauf, auch mit der Staatsbürgerschaft das Signal der
Worte in mich aufzunehmen. Da fiel mir eigentlich nur Integration zu bekommen.
ein, daß man das mit Ihrer politischen Praxis, und zwar
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
in Ihrer unmittelbarsten und eigensten Verantwor-
GRÜNEN und der PDS — Widerspruch bei
tung, konfrontieren sollte. Ich finde, eine Partei, die der CDU/CSU)
mit Hilfe ihrer Fraktion eine Regierung trägt, macht
sich bei dem proklamierten Anspruch der Gleichbe- Meine Damen und Herren, ich wollte mit ein paar
rechtigung von Frauen und Männern ziemlich lächer- Streiflichtern beleuchten, welche drei großen Moder-
lich, wenn sie das in ihrem eigenen Verantwortungs- nisierungs- und welche drei großen Integrationsauf-
bereich noch nicht einmal ansatzweise durchsetzen gaben wir sehen: Modernisierung des Wirtschafts-
kann. standortes, Modernisierung und Befestigung der
sozialen Grundlagen unseres Zusammenlebens, Mo-
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE dernisierung und Verbesserung unseres Schutzes und
GRÜNEN und der PDS) der praktischen Politik zum Schutz der natürlichen
Vorstellungen, die am Ende darauf hinauslaufen, Lebensgrundlagen; Integration in Deutschland, glei-
traditionelle Rollenbilder zu verfestigen, haben weder che Chancen für Frauen und Männer, Integration der
mit unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit noch mit Bürgerinnen und Bürger, die wir heute als ausländi-
ihrer wahrscheinlichen Entwicklung, auch nicht mit sche Mitbürger bezeichnen. Wir wissen sehr wohl, daß
ihrer wünschbaren Entwicklung, zu tun. der Staat für diese Aufgaben Gestaltungsspielraum
Die dritte große Integrationsaufgabe ist die gegen- zurückgewinnen muß, daß er seine Tätigkeit moder-
nisieren muß, daß er sich dazu auf Wesentliches
über jenen Menschen, die mit einem anderen Paß
konzentrieren muß, und wir wissen auch, daß das
unter uns leben. Ich zögere bei dem Wort „Ausländer"
mehr als eine finanzielle Aufgabe ist.
schon deshalb, weil es mir nur schwer in den Kopf und
über die Lippen kommt, einen Menschen, der hier 20, Soweit es eine finanzielle Aufgabe ist, will ich Ihnen
30 Jahre lebt, dessen Kinder hier geboren sind, dessen sagen, daß wir nicht nur Regeln, Genehmigungsver-
Kinder in den Sportverein, in die Schule gegangen fahren und anderes durchforsten müssen. Ich kenne
sind usw., noch als Ausländer zu bezeichnen; das ist er viele Beispiele, wie das gehen könnte. Ich will das
nur von seinem Paß her. aber mit Rücksicht auf die Zeit nicht näher ausfüh-
ren.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Eines will ich allerdings sagen: Wer nicht den Mut
PDS) -k hat, sich mit dem gewachsenen System der Beamten-
besoldung anzulegen, wer nicht den Mut hat, sich mit
Man erlebt auch als einzelner Mensch auf diesem
dem gewachsenen System von Aufgabenverteilung,
Gebiet ziemlich viel. Wenn ich mir anschaue, wie
Organisation von Verantwortlichkeiten und derglei-
bisher mit der Frage der Integration, für die die
chen anzulegen, wer nicht den Mut hat, sich das
Staatsbürgerschaft ein Element ist — vielleicht noch
System der Dienstaltersstufen anzuschauen, der wird
nicht einmal das allein entscheidende und wichtig-
weder von der Geschwindigkeit seiner Entscheidung
ste —, umgegangen wird und was Sie da jetzt verein-
noch von der Modernität staatlichen Handelns und
bart haben, muß ich ganz offen sagen: Auch die
schon gar nicht von den finanziellen Grundlagen her
Kalkulation größter Koalitionszwänge und größtmög-
zu einem vernünftigen Ergebnis kommen können.
licher Rücksichtnahme aufeinander rechtfertigt eine
solche Lächerlichkeit wie die „schnuppernde Staats- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
bürgerschaft" in keiner Weise. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Im übrigen braucht dieses Land mehr als andere
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der vielleicht die Integrität seiner Institutionen. Sie ist für
PDS) die zivile Konfliktaustragung unverzichtbar. Deshalb
ist es so bedenklich, daß diese Koalition völlig unfähig
Wer Integration wirklich will — das ist etwas anderes
geworden ist. Ein nationaler Plan zur Verbrechensbe-
als multikulturell —, darf die Menschen nicht ausgren-
kämpfung — was soll das denn sein?
zen, die lange hier leben, die völlig integriert sind
— außer mit Blick auf ihre Staatsangehörigkeit —, die Die Vorschläge liegen auf dem Tisch. Sie sind doch
zur Finanzierung unserer gemeinschaftlichen Einrich- gar nicht mehr in der Lage, eine gemeinsame Sub-
tungen ebenso beitragen wie zur kulturellen Berei- stanz von Politik zu formulieren, wenn es um die
cherung unseres Landes. Ich mag nicht einsehen, daß Bewahrung der inneren Sicherheit in diesem Land
es einem jungen Menschen so geht, wie ich es kürzlich geht.
bei einer jungen Frau mit türkischen Eltern in Regens-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
burg erlebt habe: daß sie in dieser Stadt studiert,
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
nachdem sie in dieser Stadt Abitur gemacht hat, voll in
PDS)
das kulturelle und gesellschaftliche Leben integriert
ist und dann Hunderten von Menschen öffentlich Da redet der Bundeskanzler hier von mafiaähnli-
erklären muß: Ich kann mich in diesem Land nicht chen Organisationen. Das ist leider eine wachsende
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 57
Rudolf Scharping
Realität. Da ist zu reden davon, daß der Verdacht der eine gemeinsame Nation ohne Abgrenzung gegen-
Korruption — ein mittlerweile immer weiter wachsen- über anderen nur dann werden, wenn wir Toleranz
des Thema — die Integrität demokratischer Institutio- und Respekt in der Gegenwart fördern und eine
nen und deren Ansehen in der Bürgerschaft allmäh- gemeinsame Idee davon entwickeln, in welche
lich zu gefährden beginnt. Was geschieht konkret? Sie Zukunft dieses L and eigentlich gehen soll.
haben ein absolut lächerliches Geldwäschegesetz
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
vorgelegt, von dem Ihnen mittlerweile jeder beschei-
DIE GRÜNEN)
nigt, daß es gänzlich unbrauchbar ist.
Wir sind eine jedenfalls in weiten Teilen gefestigte
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Demokratie und auch ein verläßlicher Partner.
Sie sind leider noch nicht einmal in der Lage, sich
Dem, Herr Bundeskanzler, was Sie zur Außenpoli-
bei Ihrer Koalitionsvereinbarung auf das zu verständi-
tik und zur Europapolitik gesagt haben, stimmen wir
gen, was das Minimum sein sollte. Organisierte Kri-
ausdrücklich zu. Ich füge allerdings einiges hinzu. Ich
minalität darf nicht zu einem lohnenden Geschäft in
habe versucht, sehr genau nachzuempfinden, was Sie
Deutschland werden. Das darf auch kein Ruhe- oder
im Zusammenhang mit internationalem Engagement
Rückraum für solche werden, die in anderen Ländern
ini einzelnen gesagt haben.
konsequenter verfolgt werden.
Soweit es Europa angeht: Nicht nur mit den Worten,
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sondern in der praktischen Politik brauchen wir ein
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der dauerhaft gutes, d. h. in der Zukunft verbessertes
PDS) Verhältnis zu Frankreich. Das ist vermutlich sinnvol-
Wir wissen auch, daß zur Modernisierung und zur ler als alle herumgereichten Vorstellungen von einem
Rückgewinnung von Gestaltungsspielraum ziviles Europa mit erster und zweiter Klasse und einem
Engagement der Bürgerinnen und Bürger gehört. möglicherweise größeren Wartesaal.
Kein Gesetz, keine Polizei, keine Justiz und keine
(Beifall bei der SPD)
öffentliche Institution kann am Ende schützen, was die
Bürger nicht auch selbst schützen wollen. Folglich ist Für die kluge Einordnung Deutschlands in Europa ist
ziviles Engagement eine unverzichtbare Grundlage ein gutes und sich wieder verbesserndes Verhältnis zu
für demokratische und solidarische Entwicklung. Frankreich unverzichtbar.
Ziviles Engagement muß ermutigt werden. Es gibt Wir stimmen zu, wenn Sie sagen, daß bei der
dieses Engagement Gott sei Dank in unglaublich Revision des Maastricht-Vertrages die demokratische
reichhaltiger Form. Manche, vielleicht auch in diesem Verankerung der Gemeinschaft und die völlige Orien-
Raum, glauben, Politik fände nur in Parteien oder tierung ihrer wirtschaftlichen und finanziellen Ent-
Parlamenten statt. Diese Menschen warne ich vor dem wicklung an dem Kriterium der Stabilität Vorrang
Trugschluß, der sich daraus ergibt, nämlich jene als haben soll. Hoffentlich geschieht das dann auch.
politikverdrossen zu bezeichnen, die sich weniger für Entscheidungen gegenüber anderen europäischen
parlamentarische Debatten oder Engagement auf Partnern, wie sie im Europäischen Rat oder von den
Dauer in Parteien interessieren. Finanzministern getroffen worden sind, verheißen
nicht immer Gutes, was diese absolute Orientierung
Es gibt viel mehr Menschen, die sich für die öffent-
an Stabilität angeht.
lichen, die allgemeinen Angelegenheiten interessie-
ren, als dem einen oder anderen vielleicht bewußt ist. Wir stimmen auch zu, wenn Sie in einem klugen
Sie engagieren sich z. B. für Umweltschutz oder Men- Verhältnis der Beachtung der Interessen Rußlands die
schenrechte, für humanitäre Hilfe gegenüber Südost- Integration der mittelosteuropäischen Staaten in die
und Mittelosteuropa. Das ist aus meiner Sicht auch die Europäische Gemeinschaft vorantreiben wollen. Das
beste Grundlage für eine auf Frieden und Hilfe sind europäische Staaten. Warschau, Budapest, Prag
orientierte Politik dieses Landes. und andere sind genauso europäische Städte wie
Berlin, Paris, Rom oder London und andere.
Wer dieses Engagement im Innern nicht fördert, es
eher als Belästigung einer eingefahrenen Routine Wer diese Integration allerdings will, der sollte sich
versteht, der wird am Ende entmutigen, anstatt Men- auch bei dem besonderen Verhältnis, das zwischen
schen ein neuerliches Motiv und eine Ermutigung Deutschland und Polen besteht, dennoch nicht nur auf
dafür zu geben, mit diesem Engagement fortzufahren, Polen beziehen. Auch die Tschechische Republik,
auf das dieser Staat überhaupt nicht verzichten kann, auch Ungarn oder andere gehören zu Europa hinzu.
wenn er menschliches Zusammenleben erhalten Europa bliebe ohne sie unvollständig.
will.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD)
Es ist uns bewußt, daß hier schwierige, vermutlich in
Auch das hat etwas mit Respekt und Toleranz zu Deutschland, in der Europäischen Union, in der NATO
tun. Ich bin der Auffassung, daß wir zum Verständnis und in anderen Bereichen von uns ja nicht allein zu
unseres Landes, zum Verständnis dessen, was wir bestimmende, aber von uns zu fördernde, voranzu-
Nation nennen, nicht nur eine gemeinsame Sicht bringende Entwicklungen und Entscheidungen an-
unserer, nicht nur von Höhen und Tiefen oder Licht stehen. Wir wollen deshalb die Basis festhalten, daß
und Schatten, Herr Bundeskanzler, sondern von Deutschland ein europäisches Land mit fester euro-
schrecklichsten Grausamkeiten zwar nicht aus- päischer Einbindung und einer starken Freundschaft
schließlich, aber mitgeprägten Geschichte brauchen. zu Frankreich ist, weil nur von daher die Kraft ent-
Vor allen Dingen werden wir ein einiges Land und steht, andere in die Gemeinschaft aufzunehmen.
58 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994
Rudolf Scharping
Dabei sollte uns auch die Erfahrung leiten, daß die Sie ist kaum noch in der Lage, aus eigener Kraft und
Integration Spaniens, Portugals und Griechenlands mit eigenen Möglichkeiten das zu tun, was für die
nicht nur Zeit, Übergangsfristen oder finanzielle Hilfe Zukunft unseres Landes, für die Verbesserung seiner
erfordert hat. Das Wichtigste ist wohl, daß die Integra- wirtschaftlichen Lage, für die Stärkung der sozialen
tion dieser Staaten in die Europäische Gemeinschaft Gerechtigkeit und den Schutz seiner Lebensgrundla-
die Befes tigung ihrer Demokratien ermöglicht hat. gen getan werden muß.
Das gilt gegenüber dem östlichen Europa genauso. Unsere Opposition — das ist die Rolle, die uns die
(Beifall bei der SPD) Wählerinnen und Wähler am 16. Oktober zugewiesen
haben — wird sich daran orientieren, daß wir mit allen
Ich füge hinzu, daß wir uns innerhalb der NATO und unseren politischen Möglichkeiten die Ziele verfol-
auf der Grundlage eines ebenso festen und freund- gen, für die wir in den letzten Monaten und Jahren
schaftlichen Verhältnisses zu den Vereinigten Staaten eingetreten sind. Wir werden uns an diesen sachli-
von Nordamerika deutsche Sicherheitspolitik und chen Überzeugungen — an nichts sonst — orientieren,
deutsche Außenpolitik gut — und im Zweifel in den und dabei wird diese Regierung sehen, daß eine
Grundlinien auch im Konsens mit dieser Regierung — Opposition außerordentlich wirksam sein kann. Wie
vorstellen können, wenn es bei den beschriebenen lange Sie im Amt sind — ob jetzt ein Jahr, zwei oder
Grundlinien bleibt. Was die internationale Rolle vier Jahre —, ist für uns nicht der erste Punkt. Jeder
Deutschlands angeht, bekräftige ich, was ich für die Tag ist im Prinzip zuviel.
SPD hier in der Aussprache über die Einsätze in der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Ad ri a und bezogen auf das ehemalige Jugoslawien der PDS)
und das heutige Bosnien-Herzegowina gesagt habe.
Richten Sie sich also darauf ein, daß wir orientiert an
Das muß ich hier nicht wiederholen.
der Sache eine Opposition betreiben, die das Ziel hat,
Ich will aber deutlich machen, daß eine gemeinsam den Menschen in diesem Land zu helfen, aber ganz
entwickelte europäische Außenpolitik dann auch sicher nicht zum Ziel haben wird, Sie länger als
Abschied davon nehmen muß, daß wir in Europa unbedingt notwendig in dem Amt zu sehen, in das Sie
— wie leider in der Vergangenheit — unseren Part- noch einmal gewählt worden sind.
nern signalisieren, im Zweifel würden wir nach unse- (Langanhaltender Beifall bei der SPD —
ren eigenen Vorstellungen verfahren, ohne die Politik Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
wirklich aufeinander abgestimmt zu haben. sowie bei Abgeordneten der PDS — Bundes
kanzler Dr. Helmut Kohl: Herr Scharping,
Meine Damen und Herren, ich komme zum das verstehe ich!)
Schluß.
Wir brauchen die Fortschritte der europäischen die Umweltverhältnisse sind dramatisch verbessert
Einigung auch, um unsere wirtschaftliche Wettbe- worden.
werbsfähigkeit zu erhalten. Ohne den einheitlichen
Binnenmarkt und ohne den Stabilitätsdruck des Es ist übrigens nicht wahr, Herr Scharping, daß in
Maastricht-Prozesses sind unsere Chancen in dem unserer Koalitionsvereinbarung, auf die der Bundes-
härter gewordenen weltweiten wirtschaftlichen Wett- kanzler in seiner Regierungserklärung verwiesen hat,
bewerb sehr viel schlechter. Dieser Weg wird auch bei die Umweltproblematik, mit der CO2-Reduzierung
uns selbst große Anstrengungen erfordern. Jedenfalls nicht vorkommt.
wird der Erhalt unserer wirtschaftlichen Leistungsfä- (Rudolf Scharping [SPD]: Davon habe ich
higkeit und der dazu notwendige Umbau unseres nicht gesprochen, sondern von der Vorberei
Sozialstaats mehr Veränderungen erfordern und tung der Berliner Konferenz!)
erzwingen, als wir das bis 1989 in unserem so zu
Besitzstandswahrung neigenden Land noch gewohnt — Doch. Im Gegensatz zu Ihren Kollegen jetzt waren
waren. Aber es macht eben keinen Sinn, jeden Besitz- wir bei Ihrer Rede ziemlich zahlreich anwesend. Wir
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 63
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege (Zuruf von der SPD: Wer grenzt denn aus? Sie
Schäuble, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage? — sind es doch!)
Frau Matthäus-Maier. Verantwortung für die Zukunft, verehrte Kollegin-
nen und Kollegen, heißt auch, daß wir uns den großen
Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Herr Schäuble, darf
ökologischen Fragen stellen müssen. Die Schöpfung
bewahren, die natürlichen Lebensgrundlagen für
ich Sie fragen, ob Ihnen wirklich entgangen ist, daß
wir in all den Jahren, in denen wir über das Kindergeld künftige Generationen erhalten, das erfordert einen
gesprochen haben, und jetzt im Wahlkampf, als wir schonenden Umgang mit Natur, Umwelt und Ressour-
cen.
gefordert haben, daß es vom ersten Kind an 250 DM
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
für alle geben soll, immer hinzugefügt haben, daß
DIE GRÜNEN]: Deswegen bauen wir so viele
dieses Kindergeld sofort von der Lohn- und Einkom-
neue Straßen! — Gegenruf von der CDU/
mensteuer abgezogen werden muß, daß z. B. dann
CSU: Wo denn?)
— hier im Bundestag habe ich x-mal dieses Beispiel
genannt —, wenn bei Ford in Köln zwei Arbeitnehmer Schon Immanuel Kant hat davon gesprochen, daß es
nebeneinander am Band stehen und der eine drei und letztlich eine Frage unserer eigenen Selbstachtung ist,
der andere keine Kinder hat, derjenige mit den drei daß es eine Pflicht gegen uns selbst ist, wie wir als
Kindern dreimal 250 DM gleich 750 DM weniger Geschöpfe Gottes mit der Geschöpflichkeit der Natur
Lohnsteuer zahlen soll? Ist Ihnen das entgangen, oder umgehen. Wir, die Christlich-Demokratische und die
ist es ein Zeichen von Unfairneß, daß Sie das heute Christlich-Soziale Union, sind überzeugt, daß auch
wieder einmal überhört haben? bei der Bewahrung von Natur und Umwelt Eigeninte-
(Beifall bei der SPD) resse und freiwillige Überzeugung der Menschen zu
besseren Ergebnissen führen als Reglementierung,
Bürokratie und Verbote. Deswegen setzen wir eben
Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Frau Mat- nicht auf immer mehr Verbote und Reglementierun-
thäus-Maier, ich habe Ihre Wahlplakate gesehen, gen, sondern auf marktwirtschaftliche Anreize und
habe sie mir angeguckt — manche waren so komisch, technologische Innovation.
daß man zweimal hinschauen mußte —, und dabei
habe ich gelesen: Einheitliches Kindergeld von (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
250 DM. Jetzt ergänzen Sie das. ordneten der F.D.P. — Joseph Fischer
[Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Steht so im - Sie haben doch ein Gesetz nach dem anderen
Regierungsprogramm!) gemacht!)
— Ich glaube, die Plakate habe ich jetzt richtig
— Herr Kollege Fischer, Sie sind ja in den Jahren seit
wiedergegeben.
der deutschen Einheit nicht hier gewesen. Wenn man
(Zurufe von der SPD) die Ergebnisse von 40 Jahren real existierendem
— Ja, gut. — Jetzt sagen Sie, das sei ja dasselbe, weil Sozialismus und 40 Jahren Sozialer Marktwirtschaft in
Sie das mit der Lohnsteuer verrechnen wollen. den beiden Teilen des einst geteilten Deutschland
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Man zahlt wirtschaftlich, sozial und umweltpolitisch vergleicht,
ist doch wohl bewiesen, daß freiwillige Initiative,
dann weniger Steuern!)
marktwirtschaftliche Anreize und das Setzen auf tech-
— Ich habe es schon verstanden. Ich will ja antwor- nologische Innovation die besseren Ergebnisse für
ten. — Ich glaube nicht, daß die Verrechnung von Mensch und Umwelt ermöglichen. Deswegen werden
Kindergeld mit der Lohnsteuer dem Anliegen ausrei- wir diesen Weg weitergehen.
chend gerecht wird, daß Familien mit Kindern weni-
ger Steuern zahlen müssen als Familien ohne Kin- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
der. ordneten der F.D.P.)
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sie zahlen Im übrigen sind auch dabei globale Lösungsansätze
sehr viel weniger Steuern!) das beste. Es gehört auch zu der Bilanz dieser zwölf
Das reicht mir in dieser Verrechnung nicht aus. Jahre, daß es der Bundeskanzler Helmut Kohl gewe-
sen ist, der Umweltpolitik zum Bestandteil europäi-
(Beifall bei der CDU/CSU) scher Politik, zur Politik der Europäischen Gemein-
Aber gut, wir werden ja darüber weiter diskutieren. schaft wie auch zu einem wesentlichen Auftrag der
Ich möchte jedenfalls den Satz hinzufügen: Wenn wir Bemühungen des Weltwirtschaftsgipfels seit 1985
die Familie stärken, fördern wir besser als auf jede gemacht hat.
andere Weise auch die Solidarität zwischen den
Generationen. Diese Solidarität zwischen Generatio- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
nen, zwischen Jung und Alt, ist gerade angesichts Wir brauchen in der Umweltpolitik europäische
einer Entwicklung im demographischen Aufbau unse- Harmonisierung; denn sonst werden unsere nationa-
rer Bevölkerung, in dem der Anteil älterer Menschen len Alleingänge möglicherweise die Wettbewerbssi-
immer größer wird, um so wichtiger, damit wir keine tuation des Standortes Deutschland weiter ver-
68 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994
Das große Problem ist doch, daß die Position des (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
politischen Liberalismus in einem Ausmaß zu verwai- Da wird von Ihnen ein Übermaß an Bürokratie, gerade
sen droht, daß die F.D.P. in der Tat unter die fünf auch gegenüber den Umweltschützern und den
Prozent gerutscht ist und rutschen wird. Umweltverbänden, angeführt, als wenn dies das ent-
(Zuruf von der CDU/CSU: Ihr Problem!) scheidende Standorthemmnis wäre. Ich frage Sie,
Herr Bundeskanzler: Wer hat denn noch im letzten
— Nein, das ist überhaupt nicht mein Problem, denn
halben Jahr der Legislaturperiode ein bürokratisches
um die F.D.P. tut es mir überhaupt nicht leid, obwohl
Monstrum wie das Kreislaufwirtschaftsgesetz durch-
ich der Meinung bin, daß wir eine starke liberale gebracht, weil Sie den Mut nicht hatten, endlich
Position in diesem Lande brauchen. Aber eine Partei,
ökonomische Steuerungsinstrumente in Form von
die sich nur noch als Interessenvertretung von irgend-
Ökosteuern und -abgaben durchzusetzen? Das ist
welchen Maklern oder ähnlichem versteht, hat mit
doch der entscheidende Punkt.
politischem Liberalismus nichts mehr zu tun.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
sowie bei Abgeordneten der SPD und der Sie reden von Deregulierung, aber Sie haben den
PDS) Mut nicht, im Umweltbereich daraus die Konsequen-
In der Koalitionsvereinbarung stellt man fest, daß zen zu ziehen, indem Sie einfach nur sagen: Wir
Sie das geworden sind, was in der „FAZ" ein Ihnen wollen den Nachtwächterstaat. Ich kann Ihnen für
wohlmeinender Jou rn alist im Wirtschaftsteil so meine Fraktion anbieten: Wir können auf vieles an
bezeichnet hat, daß Sie nichts anderes sind als die Regelwerk verzichten — das ist doch kein Selbst-
„Abteilung Liberalismus von Helmut Kohl". Dazu zweck —, wenn wirtschaftliches Verhalten umwelt-
sind Sie geworden. Das ist das Problem dieser Regie- verträglich über ökonomische Anreize gesteuert
rung. Daran wird Ihre Mehrheitsfähigkeit letztendlich wird.
scheitern. Das wissen Sie auch. Deswegen ist es grotesk, daß Sie die zentrale
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Steuerreform, nämlich die Umweltsteuerreform, den
sowie des Abg. Dr. Uwe Küster [SPD]) entscheidenden Hebel zum Umbau unserer Industrie-
- gesellschaft zu einer umweltverträglichen Industrie-
Sie haben Anspruch darauf — wir, BÜNDNIS 90/
gesellschaft des 21. Jahrhunderts, nicht angehen oder,
DIE GRÜNEN, wollen unsere Opposition so gestal-
wie der Finanzminister, nicht begreifen, auch lapidar
ten —, daß es nicht zu einem Generalverriß durch die
nur erklären: Das funktioniert alles nicht.
Opposition kommt, Herr Schäuble. Ich kenne das von
der hessischen Politik. Wenn da jemand von der CDU Meine Damen und Herren, wenn es nicht gelingt,
ans Podium schritt, z. B. der verehrte Kollege Kanther jetzt entscheidende Strukturreformen im Umweltbe-
oder sein Nachfolger, dann war alles Mist, was Rot reich, im Industriebereich vorzunehmen, wenn wir
Grün gemacht hat. Eine solche Opposition der Däm- jetzt nicht die umweltverträgliche Industriegesell-
lichkeit dürfen Sie von uns nicht erwarten. schaft des 21. Jahrhunderts in der Energiepolitik, mit
einer Wende in der Verkehrspolitik, mit einer Öko-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
steuerreform schaffen, dann, prophezeie ich Ihnen,
sowie bei Abgeordneten der SPD)
werden wir die Schlacht um das Schaffen neuer
Wir gehen davon aus, daß eine Regierung selbstver- Arbeitsplätze und den Kampf gegen die Massenar-
ständlich auch viel Richtiges tut, daß nicht alles, was beitslosigkeit verlieren, ja verlieren müssen.
CDU/CSU und F.D.P. an Überzeugungen vertreten,
grundfalsch ist, daß aber die Unterschiede herausge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
arbeitet werden müssen. Und dort, wo es erhebliche Denn nur in dem Bereich, meine Damen und Herren,
Unterschiede, ja, wo es Gegensätzlichkeiten gibt, liegen in der Tat diejenigen qualitativen Potentiale,
respektive dort, wo die Koalition und diese Regierung die wir brauchen, um neue Arbeitsplätze schaffen zu
nicht mehr in der Lage sind, die Zukunft dieses Landes können.
so, wie wir sie uns vorstellen, zu organisieren und die
notwendigen Probleme anzupacken, werden wir Da ist das, was Sie hier vorgetragen haben, Herr
energisch widersprechen und alles tun, damit diese Bundeskanzler, ein Dokument der Mutlosigkeit. Sie
Regierung möglichst schnell zu einem Endpunkt wollen ein Fünfliterauto. Ich hätte auch gerne
kommt. geklatscht, nur, ich hätte es gerne konkret. Denn
wenn Sie in der Tat das Fünfliterauto zum Ziel haben,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wenn Sie sagen: okay, wir wollen das in acht Jahren
Meine Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, durchsetzen, dann sage ich Ihnen: Machen Sie es nicht
wenn man Ihre Regierungserklärung gehört hat bürokratisch, machen sie es nicht mit Hypnose der
— Herr Kollege Scharping hat darauf hingewiesen , Automobilindustriellen, sondern greifen Sie zu dem
70 Deutscher Bundestag — 13. Wahlpe ri ode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU —
ten der CDU/CSU) Lachen und Widerspruch beim BÜND
NIS 90/DIE GRÜNEN)
Lieber Herr Fischer, wenn das Wirklichkeit würde,
was Sie in der Außen-, in der Sicherheits-, in der— Ja, den Dreck muß man sich ansehen. Jahrelang
hatten Sie die Chance, dort Ihre Visionen und Ihr
Wirtschafts- und in der Technologiepolitik in Ihrem
Programm und in Ihren Vorstellungen vorhaben, dannGeschrei in der Praxis zu verwirklichen. Aber es ist bei
kann ich nur sagen: Gute Nacht, Deutschland! Visionen und Theorie geblieben, und in der Praxis
haben Sie nichts gebracht; denn Hessen hat von
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- sämtlichen Länderregierungen mit am meisten abge-
ten der CDU/CSU) wirtschaftet. Daran sind Sie mit schuld.
Das ist auch der Grund, warum die Wähler richtig (Beifall bei der F.D.P. und der [CDU/CSU] —
entschieden haben, nämlich Sie auf Bundesebene Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Richtig,
nicht ranzulassen. ein Versager sind Sie! Schämen Sie sich! —
Zuruf von der SPD: Das ist doch kein
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Niveau!)
DIE GRÜNEN]: Hallo wach, Herr Kinkel!)
Meine Damen und Herren, ich will zu dem zurück-
— Herr Fischer, so wach wie Sie bin ich schon kommen, was ich eigentlich sagen wollte. Wir haben
lange. — ich sage es noch einmal, weil Sie es so miesgemacht
(Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Auch haben — eine gute Koalitionsvereinbarung. Sie ist
vom gemeinsamen Willen zum Handeln getragen.
schon in der Früh!)
Natürlich enthält sie Kompromisse — das sage gerade
Wenn Sie immer wieder den Eindruck erwecken ich als F.D.P.-Vorsitzender—, aber sie läßt jeder Partei
— wie es ja Ihr Programm ist —, als drehe sich die ihre eigene Identität. Die Qualität einer Koalitionsver-
ganze Welt, als drehe sich die Bundesrepublik allein einbarung wird nicht durch eilige Vorabkritik der
um ökologische Probleme, dann ist daran richtig, daß Opposition zu Beginn bestimmt, sondern durch das,
das alles außerordentlich wichtige Fragen für uns was am Ende der Legislaturperiode unter dem Strich
sind. Aber Sie müssen andererseits doch auch sehen, herauskommt. Da bin ich sicher: Diese Bilanz wird
daß die Zukunft dieses Landes und die Zukunft dieser nach vier Jahren positiv sein.
Welt nicht ausschließlich von diesem Thema abhän-
Sie wollen uns ja aus der Opposition heraus vier
gig ist, sondern auch noch von ein paar anderen
Jahre lang jagen. Ich kann Ihnen nur sagen: Dem
Fragen, und um die will ich mich anschließend küm-
sehen wir mit großer Gelassenheit und Ruhe entge-
mern.
- gen. Schon m an ches Jägerlatein war relativ früh am
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- Ende, und die Trefferquote bei den ersten Schüssen
ten der CDU/CSU) ging, wenn ich Ihnen das ehrlich sagen darf, gegen
Null. Also, wir sehen dem mit großer Gelassenheit
Wenn Sie, Herr Fischer, Solidarität von denen entgegen.
einfordern, die die Besserverdienenden sind, wie Sie
das nennen, von denen, die mehr verdienen, dann (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
kann ich Ihnen nur sagen: Sie übersehen offensicht- DIE GRÜNEN]: Sie müssen aufpassen, daß
lich, daß wir in diesem Land bewußt ein progressives Sie nicht auf die Rote Liste kommen!)
Steuersystem haben und daß beim Füllen der Steuer- Und weil Sie vorhin von den „wackelnden Zähnen"
körbe der wesentliche Anteil schon jetzt von denen gesprochen haben, halte ich Ihnen entgegen: Sie
erbracht wird, die mehr leisten und die Körbe mit — speziell Sie, Herr Fischer — werden sich an uns die
ihren Leistungen füllen. Dabei wollen wir es dann Zähne ausbeißen.
auch belassen, ohne die sozial Schwächeren auszu-
grenzen. Darauf will ich nachher gern noch einmal (Beifall bei der F.D.P. — Joseph Fischer
eingehen. [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
O ja!)
Hier den Eindruck zu erwecken, mit sozialem Neid
und bloßer Umverteilung kämen wir in diesem Land Meine Damen und Herren, Deutschland muß wirt-
und in Europa vorwärts, ist falsch, und das lassen wir schaftlich, sozial, ökologisch, als liberaler Rechtsstaat
auch nicht zu. und auch in der Außenpolitik Spitze bleiben. Unsere
Lösungsvorschläge sind: Wir wollen einen schlanken
(Beifall bei der F.D.P.) Staat mit weniger Bürokratie, weniger Vorschriften.
Im übrigen muß ich mein ganzes Konzept umstellen, Wir wollen die Modernisierung unserer Wirtschaft in
um mich jetzt mit Ihnen auseinanderzusetzen. Ich den alten und in den neuen Ländern durch konse-
halte Ihnen zum Schluß einen Punkt vor, Herr Fischer: quente Förderung des Mittelstands und Stärkung der
Wie lange waren Sie eigentlich in der hessischen Marktkräfte. Wir stehen gerade als F.D.P. für die
Landesregierung? Sicherung der Staatsfinanzen und die Fortsetzung
der Steuerreform. Und, Herr Fischer, wir setzen uns
(Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Zu für den Schutz der Umwelt durch mehr Marktwirt-
lange!) schaft und für die Festigung des Sozialstaats durch
76 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994
Günter Verheugen
mung in den Grundfragen seiner außenpolitischen Deutsche Außenpolitik muß in allen ihren Schritten
Orientierung leben muß. und in allen ihren einzelnen Aktionen erkennbar dem
Ziel der Schaffung, der Sicherung und der Erhaltung
Wenn wir heute feststellen können, daß wir gemein- des Weltfriedens dienen. Dazu gibt es eine Menge von
sam sagen, die deutsche Zukunft liegt in Europa, es Fragen zu stellen, die in der Regierungserklärung
wird keine deutschen Sonderwege mehr geben, dann leider nicht beantwortet worden sind.
waren nicht alle Fraktionen dieses Hauses von Anfang
an auf diesem Weg. Das ist ja auch nicht schlimm. Wie geht es denn nun weiter mit der europäischen
Sicherheit? Wie stellen Sie sich denn nun wirklich die
Wenn wir heute feststellen, daß die Atlantische europäische Sicherheitsarchitektur vor? Vor der Bun-
Partnerschaft, die feste Einbindung in das westliche destagswahl haben wir erlebt, daß der Widerspruch in
Verteidigungsbündnis für unser Land unverzichtbar Ihrer Regierung kurz aufbrach. Dann hat der Bundes-
geworden ist, dann waren auch nicht alle von Anfang kanzler einen Deckel darauf gemacht und Ihnen, Herr
an auf diesem Weg. Kinkel, und Herrn Rühe ein Redeverbot erteilt. Aber
wir möchten doch nun einmal gerne wissen: Wie ist
Wenn wir feststellen, daß Entspannungspolitik der das denn nun mit der Zukunft der NATO und ihrer
Weg gewesen ist, der das herbeigeführt hat, was der Osterweiterung? Soll das denn nun schnell gehen?
Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung so her- Wer soll dabeisein? Wo soll die Ostgrenze der NATO
ausgehoben hat — den Zustand, daß wir als ein sein? Oder soll es nur in Verbindung mit der Ost-
vereintes Land und Volk in Frieden leben mit allen erweiterung der Europäischen Union geschehen? Soll
unseren Nachbarn und mit Freunden und Partnern es vielleicht in zehn Jahren angefaßt werden? Wie
nah und fe rn gute Beziehungen haben —, dann ist denken Sie sich das?
dieses Ergebnis das Ergebnis einer Politik, der auch
nicht alle in diesem Hause von Anfang an zugestimmt Wie stellen Sie sich vor, daß unsere Partner die
haben. Ausdehnung der Sicherheitsgarantie der NATO auf
(Beifall bei der SPD) osteuropäische Länder gestalten wollen und wir mit
ihnen, solange nicht klar ist, wie Rußland in die
Was mir leider gefehlt hat — auch bei Ihnen, Herr europäische Sicherheitsarchitektur insgesamt einge-
Kollege Dr. Kinkel —, das ist der Hinweis, daß neben bunden wird? Ich war etwas erstaunt darüber, daß
den Fragen Europa, atlantische Partnerschaft und heute morgen in dem außenpolitischen Teil der Reden
neue Ostpolitik die Nord-Süd-Dimension unserer so wenig von Rußland die Rede war. Man hat fast das
Außenpolitik mindestens genauso wichtig geworden Gefühl gehabt, als bestünde hier die Auffassung, daß
ist, wenn nicht noch wichtiger. Rußland gar nicht zu Europa gehört.
(Beifall bei der SPD) (Jörg van Essen [F.D.P.]: Dann haben Sie
nicht zugehört!)
Ich habe nicht gerne gehört, was Sie, an den
— Ich habe sehr gut zugehört.
Kollegen Fischer gerichtet, gesagt haben: daß sich
nicht alles um die Ökologie dreht. Nicht alles dreht So richtig das mit Polen, Ungarn, Tschechien und
sich um die Ökologie. Aber ohne ökologische Rück- der Slowakei alles ist: Die entscheidende Frage ist
sicht können Sie heute auch keine Außenpolitik mehr doch die: Gelingt es uns, eine tragfähige europäische
betreiben. Sicherheitsarchitektur zu schaffen, die nicht gegen
irgendwen gerichtet ist, die nicht irgendwer als ein
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Instrument verstehen muß, das ihn bedroht oder das
DIE GRÜNEN — Bundesminister Dr. Klaus andere vor ihm schützen soll, die also eine neue
Kinkel: Das steht in meiner Rede!) sicherheitspolitische Spaltung in Europa bedeuten
würde, oder gelingt es uns, in Europa ein Sicherheits-
Wenn Sie nicht verstehen, daß Friedenssicherung,
system zu schaffen, das alle einbezieht und ganz
Kooperation, weltweiter ökologischer Umbau und
besonders auch Rußland?
Konfliktprävention zusammengehören, dann werden
wir uns an diesem Punkt nicht verstehen. (Beifall bei der SPD)
Unabhängig davon, daß es in den Grundfragen Deshalb hätte ich mir gewünscht, daß in der Regie-
weitgehende Übereinstimmung gibt, muß und darf es rungserklärung etwas mehr Gewicht auf die Möglich-
in außenpolitischen Fragen auch Streit geben. Wir keiten gelegt worden wäre, die die KSZE bietet. Die
haben in der vergangenen Legislaturperiode genug KSZE — ein Instrument, das bald zwanzig Jahre alt ist;
davon gehabt. Ich sehe auf Grund dessen, was uns ursprünglich auch umkämpft — hat einen ganz
heute vorgetragen worden ist, daß es auch in den vor wesentlichen Beitrag dazu geleistet, daß Konflikte in
uns liegenden Jahren eine Menge Gelegenheit zur Europa frühzeitig erkannt und friedlich geregelt wer-
außenpolitischen und sicherheitspolitischen Ausein- den können. Es wurde eine Menge von Instrumenten
andersetzung geben wird. Wir werden diese Ausein- entwickelt, von denen wenig die Rede ist. Ich will
andersetzung mit dem Ziel führen, für unser Land jedoch einmal erwähnen, daß es schon heute eine
einen Weg zu finden, der das sichert, was wir immer Anzahl von erfolgreichen und wichtigen KSZE-Mis-
als Grundlage unserer deutschen Außenpolitik emp- sionen gibt.
funden haben: Deutschland als ein Ort, von dem Ich wünschte mir, daß von unserer Regierung mehr
immer wieder neue und starke Initiativen zur Schaf- Initiative ausginge, die KSZE in ihren Instrumenten, in
fung einer dauerhaften friedlichen Weltordnung aus- ihren Institutionen und in ihren rechtlichen Grundla-
gehen. gen weiter auszubauen. In der KSZE haben wir den
(Beifall bei der SPD) sicherheitspolitischen Rahmen, der ganz Europa und
86 Deutscher Bundestag — 13. Wahlpe riode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994
Günter Verheugen
Nordamerika einbezieht. Ich möchte sehr davor war- Ihre Vorgänger haben das vermeiden können. Sie
nen, eine Politik zu betreiben, die in einseitiger sollten nicht damit beginnen.
Fixierung auf die NATO oder auf die Europäische
Union und der damit notwendigerweise verbundenen (Beifall bei der SPD)
Grenzziehung irgendwo — wo immer diese Ostgrenze
sein wird; aber irgendwo wird sie sein — die Möglich- Meine Damen und Herren, die Außenpolitik der
keiten außer acht läßt, die uns die KSZE bietet: am letzten Jahre und das, was wir heute gehört haben,
Ende eben doch zu einem ganz Europa umfassenden bestätigen leider etwas, was ich als Vermutung seit
System gegenseitiger Sicherheit zu kommen. langer Zeit habe, als Verdacht seit einiger Zeit und als
Ich möchte auch fragen, Herr Bundeskanzler und Gewißheit seit kurzem: daß ein Gesamtkonzept deut-
Herr Außenminister, wie die Position der Bundes- scher Außenpolitik unter den völlig veränderten Rah-
regierung in den konkreten Fragen der europäischen menbedingungen, den weltpolitisch neuen Bedin-
Zukunft, der Zukunft der Europäischen Union ist. gungen nicht mehr erkennbar ist. Wir haben eine
Außenpolitik, die die Probleme auflistet. Das haben
Sie heute wieder getan. Prioritäten haben Sie in
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Verheugen, Wahrheit nicht gesetzt. Wir haben eine Außenpolitik,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten die reagiert, bei der ich aber nicht erkennen kann, was
Irmer? sie tut, um vorbeugend zu wirken. Denn es ist ja nicht
so, als wüßten wir nicht, welche Fragestellungen,
welche Probleme, welche Gefahren, ja welche tödli-
chen Risiken in der Zukunft auf uns warten. Warum
Günter Verheugen (SPD): Nein, ich möchte keine
geschieht da nichts? Warum werden die Möglichkei-
Zwischenfragen zulassen.
ten der Konfliktvermeidung, der Konfliktprävention,
Ich höre sehr wohl die deutlichen Bekenntnisse zu der Früherkennung von Konflikten und der friedli-
Europa. Aber ich war doch schon mehr als irritiert, chen Konfliktregelung nicht in den Mittelpunkt der
Herr Dr. Kinkel, daß ausgerechnet Sie, der deutsche Außenpolitik gestellt?
Außenminister und Vorsitzende des Rates der Euro-
päischen Union, sich hier hinstellen und Europaver- Ich will ein Beispiel nennen. Sie haben auf den
drossenheit in der Art und Weise fördern, wie ich das Einsatz der Bundeswehr in Somalia hingewiesen.
sonst nur an deutschen Stammtischen gehört habe. Sie Auch wir haben der Bundeswehr für das gedankt, was
sollten sich nicht hier hinstellen und darüber klagen, sie in Somalia geleistet hat. Denjenigen, die den
daß irgendwo anonym in Brüssel zuviel reglementiert Einsatz angeordnet haben, ist allerdings nicht zu
wird, sondern Sie sollten darüber aufklären, wer es in danken. Denn sie haben die Bundeswehr in einen
Europa ist, der diese Reglementierungen betreibt. Auftrag geschickt, der nicht zu erfüllen war und bei
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dem auch gar nicht erkennbar war, was er am Ende
der PDS) eigentlich sollte.
Sie haben am allerwenigsten Grund, sich über
Reglementierungswut zu beklagen. Denn in Ihrer (Beifall bei der SPD)
Hand liegt es, dafür zu sorgen, daß sie nicht stattfindet.
Sie sollten die Vermischung von Innen- und Außen- Ich nenne nur die Frage: Wäre es nicht sehr viel
politik, von der Sie gesprochen haben, nicht so weit klüger, statt, wie im Falle Somalia, alles in allem wohl
treiben, daß Sie wichtige außenpolitische Fragen in mehr als 2 Milliarden Dollar auszugeben, um ein in
den Dienst Ihrer innenpolitischen Bedürfnisse stellen, Bürgerkrieg verstricktes Land zu befrieden, rechtzei-
Herr Außenminister. tig dafür zu sorgen, daß durch eine vernünftige Politik
der Entwicklungszusammenarbeit, durch eine ver-
(Beifall bei der SPD — Ingrid Matthäus-
nünftige Politik der internationalen Wirtschafts- und
Maier [SPD]: Das war nicht in Ordnung, Herr
Finanzbeziehungen, durch eine vernünftige Ent-
Kinkel!)
schuldungsstrategie der Länder der Dritten Welt sol-
Wenn ich schon bei diesem Thema bin, will ich che sozialen und ethnischen Konflikte in den Ländern
gleich noch etwas anmerken. Wenn es stimmt, was ich der Dritten Welt gar nicht erst entstehen.
heute in einer großen Tageszeitung gelesen habe, daß
Sie die Politik fortsetzen wollen, das Auswärtige Amt (Beifall bei der SPD — Dr. Wolfgang Freiherr
als „Entsorgungsanstalt" für ausgediente Politikerin- von Stetten [CDU/CSU]: Warum sind Sie so
nen Ihrer Partei zu benutzen, blauäugig, Herr Verheugen?)
(Freimut Duve [SPD]: An sich mehr „Versor-
gung" ! ) — Ich will Ihnen einmal etwas sagen. Ich beschäftige
dann will ich Sie eindringlich davor warnen, das zu mich mit diesen Ländern seit vielen Jahren, wahr-
tun. Ich weiß nicht, ob es stimmt. Sie werden Gelegen- scheinlich etwas länger als Sie. Und es ist nicht
heit haben, dazu noch Stellung zu nehmen. blauäugig, wenn ich Ihnen sage, daß ich vor vier
Jahren in diesem Bundestag darauf hingewiesen
(Dr. Werner Hoyer [F.D.P.]: Das stimmt nicht! habe, was in Ruanda und Burundi passieren wird. Es
— Bundesminister Dr. Klaus Kinkel: Das wäre möglich gewesen, etwas zu tun. Heute lesen Sie
stimmt nicht!) 'in den Berichten der Agenturen, daß jetzt in Burundi
— Dann ist es ja gut. Dann bin ich um so beruhigter. das Massakrieren anfängt. Was hat denn diese Regie-
Dann gehen Sie gar nicht erst auf diesen Weg. Alle rung getan? Was hat sie ernsthaft getan, um dafür zu
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 87
Günter Verheugen
sorgen, daß dort etwas geschieht, damit es nicht so meinen als Aufrechterhaltung von Frieden, dann muß
anfängt? das sehr deutlich gesagt werden. Dann bleibt es dabei,
daß an dieser Stelle die Grenze der Konsensbereit-
(Beifall bei der SPD — Dr. Wolfgang Freiherr
schaft liegt.
von Stetten [CDU/CSU]: Was hätte sie denn
machen sollen?) Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion wird
in jedem einzelnen Fall, wo Sie die Absicht haben, die
Das ist nicht blauäugig, verehrter Kollege, das ist das
Bundeswehr im Rahmen von internationalen Frie-
Erkennen der Tatsachen, mit denen wir es in der Welt
densoperationen einzusetzen, prüfen, ob das Mandat
zu tun haben.
politisch so gewertet werden kann, daß die Operation
Wer glaubt, daß das noch viele Jahre so weitergeht, auch zu einem politischen Ziel führt, so daß am Ende
daß wir die Augen vor den Entwicklungen in der wirklich ein stabiler Friede steht.
Dritten Welt, der Welt, die so zu nennen wir uns
(Ulrich Irmer [F.D.P.]: Das wird der ganze
angewöhnt haben, fest verschließen, daß wir sie fest
Bundestag tun, nicht nur die sozialdemokra
vor der Erkenntnis verschließen, was dieses Bevölke-
rungswachstum, diese Verelendung, diese Zunahme tische Fraktion!)
von Menschenrechtsverletzungen und Konflikten Es wird sehr genau geprüft werden, ob deutsche
bedeutet, wer glaubt, daß wir uns auf eine Wohl- Beteiligung in dem gegebenen Einzelfall zweckmäßig
standsinsel zurückziehen könnten, die wir mit neuen ist. Es kann immer einmal Fälle geben, wo gerade
Mauern und eines Tages vielleicht mit Stacheldraht deutsche Beteiligung das genau nicht ist. Und es wird
gegen die anderen verteidigen, der täuscht sich. sehr genau geprüft werden müssen, ob auch ein
nationales Interesse vorliegt; denn nicht in jedem Fall
Jetzt müssen wir uns diesen Problemen stellen,
müssen wir dabeisein, wenn irgendwo in der Welt
meine Damen und Herren, jetzt müssen wir es tun!
etwas gemacht werden muß. Das wird zu prüfen
(Beifall bei der SPD) sein.
Dazu brauchen wir eine Außenpolitik, die andere Wir sehen eine unverrückbare Grenze auf jeden
Instrumente einsetzt als bisher. Sie haben in Ihrem Fall dort, wo deutsche Soldaten jenseits der Landes-
Auswärtigen Amt den Titel „Demokratisierungs- verteidigung oder der Bündnisverteidigung in einen
hilfe", Herr Kinkel. Dieser Titel ist so lächerlich Krieg geschickt werden sollen. Da werden Sie nicht
ausgestattet, und ich weiß, wie wichtig er ist. mit der Unterstützung der sozialdemokratischen Par-
(Zuruf von Bundesminister Dr. Klaus tei und Bundestagsfraktion rechnen können, auch in
Kinkel) den nächsten Jahren nicht. Wenn Sie das vorhaben
— ich hoffe es nicht —, dann werden Sie harte
— Nein, nein, wir haben immer mehr verlangt, das Debatten nicht nur in diesem Parlament, sondern auch
können Sie schon glauben. in der deutschen Öffentlichkeit erleben.
Diese Demokratisierungshilfe für Länder, die sich in - Ich sage Ihnen noch einmal, was ich schon oft gesagt
Krisen befinden, ist ganz sicher wichtiger und besser habe: Es wird von uns auch nicht verlangt, daß wir uns
angelegtes Geld — wir sparen am Ende auch noch an solchen militärischen Operationen beteiligen. Was
etwas dabei —, als dann, wenn es zu spät ist, die der Bundeskanzler gesagt hat, ist richtig: Wir sollen
Bundeswehr oder Verbündete hinzuschicken, die unsere Rechte und Pflichten als Mitglied der Verein-
wieder Ordnung schaffen sollen. ten Nationen erfüllen. Dazu gehört aber nicht, daß wir
(Beifall bei der SPD) uns an Kriegen irgendwo in der Welt beteiligen. Das
ist weder das Recht noch die Pflicht der Mitglieder der
Die internationale Verantwortung unseres Landes, Vereinten Nationen.
von der in der Regierungserklärung des Bundeskanz-
lers die Rede war, ist ein Thema, das uns in der letzten (Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/
Legislaturperiode vor allen Dingen im Zusammen- DIE GRÜNEN)
hang mit dem Einsatz und der Erweiterung der Ich wünschte mir, daß Sie sich etwas mehr mit der
Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr beschäftigt Frage beschäftigen würden, wie man die Vereinten
hat. Nationen arbeitsfähiger und konfliktlösungsfähiger
Der Bundeskanzler hat in seiner Rede eine bemer- machen kann, als mit der Frage, wie man die Bundes-
kenswerte Formulierung gebraucht. Er hat gesagt, wehr einsetzen kann. Das ist jahrelang versäumt
daß wir uns künftig grundsätzlich an Maßnahmen der worden. Die Jahre, in denen die Vereinten Nationen
internationalen Gemeinschaft zur Aufrechterhaltung über ihre Reform diskutierten, sind nicht gerade von
des Friedens und der internationalen Sicherheit betei- deutschen Beiträgen bestimmt gewesen. Man kann
ligen werden. Ich wiederhole es noch einmal: daß wir das nur bedauern.
uns grundsätzlich an Maßnahmen zur Aufrechterhal- Die Frage der deutschen Mitgliedschaft im Sicher-
tung des Friedens und der internationalen Sicherheit heitsrat — gegen die ich überhaupt nichts habe; im
beteiligen werden. Ich will hier keine Wortklauberei Gegenteil, ich habe vor Herrn Kinkel schon gesagt,
betreiben; aber das Wort Aufrechterhaltung verstehe daß es richtig wäre, im Sicherheitsrat vertreten zu sein
ich so, daß die Bundesregierung sich dem nähert, was — haben Sie in den letzten Jahren in den Mittelpunkt
wir schon seit einigen Jahren sagen, daß sich nämlich Ihrer operativen Außenpolitik gestellt.
unsere Mitwirkung darauf beschränken sollte, die
Vereinten Nationen bei friedenswahrenden Operatio- (Zuruf von der CDU/CSU: Doch nicht in den
nen zu unterstützen. So verstehe ich das Wort „Auf- Mittelpunkt!)
rechterhaltung von Frieden". Wenn Sie etwas anderes — Aber ja.
88 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994
Günter Verheugen
Die Grundfragen sind überhaupt noch nicht geklärt. Hintergrund des jüngsten Einsatzes der Nato gegen
Wie sieht denn die Strukturreform des Sicherheitsra- serbische Stellungen: Wir sollen die Soldaten nicht
tes aus, in dem wir Mitglied sein wollen? Wie wird er überfordern. Der Frieden ist die Aufgabe der Politik
regional zusammengesetzt sein? Wie wird das mit den und nicht des Militärs, meine sehr verehrten Damen
Vetorechten geregelt sein? Wird es Mitglieder erster, und Herren.
zweiter, dritter Klasse in diesem Sicherheitsrat geben (Beifall bei der SPD)
oder nicht? Unter welchen Bedingungen wollen Sie Das letzte Mittel der Politik sind niemals Soldaten,
eigentlich hinein? Ich rate sehr dazu, diese Frage ein sondern die friedenschaffenden Mittel der Diploma-
bißchen niedriger zu hängen. Schon heute steht fest, tie, des Miteinander-Redens, des vertrauensvollen
daß die von Ihnen genannten Daten, wann Deutsch- Aufeinander-Zugehens.
land ständiges Mitglied im Sicherheitsrat sein wird,
unerreichbar sind. Das wird in diesem Jahrhundert (Beifall bei der SPD)
nicht mehr geschehen. Das ist völlig eindeutig. Meine Damen und Herren, vollkommen gefehlt
haben in den Darstellungen der Regierung Initiativen
Besser ist es, wir betreiben eine aktive Politik in den
zum Thema Abrüstung und Rüstungskontrolle. Es hat
Vereinten Nationen, die sie stärkt und die sicher
gefehlt das Thema Nichtweiterverbreitung von Mas-
macht, daß die Vereinten Nationen auch wirklich tätig
senvernichtungswaffen, es hat gefehlt das Thema
werden können, daß nicht nur die Probleme vor ihrer
Sicherheit der osteuropäischen Kernkraftwerke.
Haustür abgeladen werden, aber sie nicht die Mittel
und die Instrumente bekommt, um mit diesen Proble- (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Das
men auch umgehen zu können. geht alles von meiner Redezeit ab!)
Lassen Sie mich an dieser Stelle ein Wort zur Ich will Sie nur darauf hinweisen, daß dies brennende
Bundeswehr sagen. Die Bundeswehr ist und bleibt für außenpolitische Fragen sind, mit denen wir uns drin-
uns nach wie vor das entscheidende Instrument der gend beschäftigen müssen, nicht zuletzt deshalb, weil
Landesverteidigung. Die Landesverteidigung ist die wir es doch sicherlich gemeinsam erreichen wollen,
ethische und die staatspolitische Begründung für die endlich dahin zu kommen, daß uns die Veränderung
Existenz der Bundeswehr. Dabei muß es auch bleiben. der weltpolitischen Lage, der Abbau der Spannungen,
Es reicht nicht, wenn hinsichtlich der Bundeswehr das Ende der Blockkonfrontation auch in die Lage
schöne Lippenbekenntnisse hier abgegeben werden, versetzen sollen, unsere schöpferischen Kräfte, unsere
sondern man muß sich den Zustand der Bundeswehr, technologischen Fähigkeiten, unsere finanziellen und
insbesondere ihren inneren Zustand, ansehen, um zu wirtschaftlichen Ressourcen nicht länger für Rüstung
begreifen, was hier in den letzten Jahren vernachläs- und Überrüstung auszugeben, sondern für Werke des
sigt worden ist. Friedens.
Die Angehörigen der Bundeswehr beklagen zu Ich danke Ihnen.
Recht, daß sie keine Planungssicherheit mehr haben. (Beifall bei der SPD)
Die Menschen in unserer Bundeswehr — es ist unsere
gemeinsame Bundeswehr, nicht die der Regierung —,
d. h. die Soldaten, die zivilen Mitarbeiter und deren Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächstes spricht
Familien, haben einen Anspruch darauf, endlich ein- der Bundesminister für Finanzen Dr. Theo Waigel.
mal klar von Ihnen zu hören, was eigentlich ihr
Auftrag ist, in welcher militärischen Struktur dieser
Dr. Theodor Waigel, Bundesminister der Finanzen:
Auftrag erfüllt werden soll, wie sicher ihre Arbeits-
plätze, ihre Dienstposten, eigentlich sind, und vor Frau Präsident! Meine sehr geehrten Damen und
allen Dingen, wann sie endlich für das, was sie tun Herren! Das heute von Bundeskanzler Helmut Kohl
sollen, angemessen ausgebildet und ausgerüstet wer- vorgetragene Regierungsprogramm bietet ein solides
den sollen. Fundament für die politische Arbeit der kommenden
vier Jahre.
Die Stimmung und die Motivation von Soldaten und
Interessant ist der Dissens, der sich hier zwischen
zivilen Mitarbeitern in der Bundeswehr ist so schlecht
Herrn Scharping und Herrn Fischer ergeben hat.
wie noch nie. Deshalb brauchen wir endlich eine
Während sich Herr Scharping realistischerweise auf
Gesamtbestandsaufnahme. Geben wir der Bundes-
vier Jahre Opposition einstellt, glaubt Herr Fischer,
wehr ein konkretes Ziel, und halten wir gemeinsam
das verkürzen zu sollen, aber dann muß er sagen, mit
daran fest. Ich glaube, wir brauchen ein Bundeswehr- welchem Instrument. Er kann es in den vier Jahren nur
aufgabengesetz, das das regelt. mit einem konstruktiven Mißtrauensvotum tun, und
Ich empfehle Ihnen sehr, meine Damen und Herren dann müßte er auf jeden Fall auf die Stimmen der PDS
von der Koalition: Hören Sie endlich einmal auf den zählen.
Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages, der (Beifall bei der CDU/CSU)
seit Jahren mit wachsender Deutlichkeit auf die sozia- Dann müssen sich die Herrschaften bei den GRÜNEN/
len Defizite, vor allen Dingen aber auch auf die BÜNDNIS 90 überlegen, ob sie in einer so entschei-
Führungsmängel innerhalb der Truppe hinweist. denden Frage mit den Kommunisten, ihren schärfsten
(Beifall bei der SPD) Feinden von gestern, gemeinsame Sache machen
wollen.
Wir danken der Bundeswehr für das, was sie für die
Integration unseres Landes in den Westen und für die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Einheit unseres Landes geleistet hat. Ich möchte aber Herr Kollege Verheugen, Sie haben ein ganz wich-
eines ganz deutlich machen, gerade auch vor dem tiges Thema am Rande angesprochen. Sie haben dem
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 89
Freimut Duve (SPD): Herr Bundesminister, sind Sie der Franco-Zeit auseinanderzusetzen, und daß die
— auch bei Passagen starker Polemik — bereit, demokratischen Parteien vereinbart hatten, nach
anzuerkennen, daß ein Beitrag zur deutschen Einheit vorne zu schauen; denn eine allzu hartnäckige und
durch einen Literaten, durch einen Autor, der in allen administrative Aufarbeitung der Franco-Zeit hätte zu
deutschsprechenden Staaten gelesen wird, immer Ergebnissen geführt, die dem ganzen spanischen
geleistet wird und daß bei Ihrem Urteil über Herrn Volk nicht zugute gekommen wären. Er hat aber
Heym seine Leistung als Autor nicht berücksichtigt gleich hinzugefügt: Ich weiß, daß das bei euch sicher-
worden ist? lich anders ablaufen wird.
Meine Damen und Herren, ich glaube, daß wir
Dr. Theodor Waigel, Bundesminister der Finanzen: wirklich Veranlassung hätten, bei dieser Auseinan-
Daß Herr Heym auf deutsch schreibt, ist kein Beitrag dersetzung nicht in unehrliche Polemik zu verfallen.
zur Wiederherstellung der politischen, sozialen und Genau das werfe ich der CDU/CSU hier an erster
kulturellen deutschen Einheit. Stelle vor.
(Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von der
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
SPD)
der PDS)
— Sie können sich beruhigen, ich komme zum
Schluß. Ich finde, Ihr Umgang mit dem Alterspräsidenten des
Deutschen Bundestages ist nicht gerade ein Glanz-
(Zuruf von der CDU/CSU: Weiter so!) stück der deutschen Parlamentsgeschichte gewesen.
Deutschland wird in der internationalen Völkerge- Wenn Sie Herrn Heym und seine Rolle in dem System
meinschaft als friedliebender, gleichberechtigter überhaupt würdigen wollen, empfehle ich Ihnen ein-
Partner respektiert und geschätzt. Diesen Weg konse- mal, den „König-David-Bericht" zu lesen — ich bin
quent weiterzugehen, das ist die wichtigste Aufgabe sicher, daß nicht einmal 5 % Ihrer Fraktion das Buch in
der 13. Legislaturperiode. der Hand gehabt haben —; dann wüßten Sie, daß er
Ich danke Ihnen. sich hier in Form eines Gleichnisses, einer Parabel
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) eben auch mit diesem System und seinen Denkverbo-
ten auseinandergesetzt hat. Meine Damen und Her-
ren, ich bitte Sie, Ihre Haltung noch einmal zu
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt überprüfen.
der Ministerpräsident des Saarlandes Oskar Lafon-
taine. Zweitens. Es ist nun einmal eine Tatsache — das
muß klargestellt werden und geht an Ihre Adresse,
Herr Dr. Kohl und Herr Dr. Schäuble —, daß Sie auf
Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland):
kommunaler Ebene und auf der Ebene der Landkreise
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
mit der PDS eine Koalition haben.
Herren! Erlauben Sie mir zunächst zwei grundsätz-
liche politische Bemerkungen. In dieser Debatte ist (Detlev von Larcher [SPD]: Hemmungslos!)
wiederum mehrfach — in moderater Form in der
Wer angesichts dieses Sachverhalts so redet, wie Sie
Erklärung des Herrn Bundeskanzlers, in etwas pole-
das immer tun, ist entweder nicht ganz normal oder
mischerer Form in der Erklärung des Fraktionsvorsit-
pharisäerhaft. Ich muß das hier in aller Klarheit
zenden der CDU/CSU und auch jetzt wieder in dem
sagen.
Beitrag des Bundesfinanzministers und CSU-Vorsit-
(Beifall bei der SPD und der PDS)
zenden — die Frage des Umgangs mit der PDS und
der DDR-Vergangenheit Gegenstand der Erörterun- Drittens. Ich würde auch gegenüber den Mitglie-
gen gewesen. dern der ehemaligen Blockparteien hier gerne anders
Erlauben Sie mir dazu zunächst eine Bemerkung: argumentieren. Aber durch Ihre unehrliche, phari-
Ich habe es im Vorfeld dieser Auseinandersetzungen säerhafte Vorgehensweise erzwingen Sie eine Aus-
für richtig gehalten, dem spanischen Ministerpräsi- einandersetzung, die nicht gerade der Integration
denten Felipe Gonzalez eine Frage zu stellen, als ich dienlich ist. Sie mögen es ja für richtig gehalten haben,
einmal die Gelegenheit hatte, mit ihm zu sprechen. trotz der Warnung Ihres ehemaligen Generalsekre-
Herr Bundeskanzler, ich duzte ihn schon, bevor Sie tärs, Herrn Rühe, der damals auf die Integration der
ihn kannten. Blockparteien angesprochen, noch sagte: Wer sich
neben einen solchen stinkenden Haufen stellt,
(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Mit
beginnt selber zu stinken. Sie mögen es ja im nach-
Honecker auch!)
hinein anders gesehen haben, aber dann stehen Sie
— Wenn ich jetzt alle aus Ihren Reihen vorführen auch dazu. Versuchen Sie nicht, auf pharisäerhafte
würde, die sich bei Honecker angebiedert haben, Art und Weise unterschiedliche Maßstäbe anzule-
müßte ich meine Redezeit damit ausschöpfen. gen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der PDS)
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Die standen auf der Leipziger Messe immer Schlange;
deshalb bin ich schon gar nicht mehr dahin gegangen, Die Blockparteien haben das System, die Mauer, den
meine Damen und Herren. Also lassen wir das Stacheldraht und all die Fehlentwicklungen mitgetra-
Thema. gen.
Felipe Gonzalez hat mir damals gesagt, daß es für Hören Sie endlich auf mit dieser Diskussion! Sie
ein Land wie Spanien natürlich schwierig war, sich mit gewinnen dabei keinen Blumentopf. Sie haben bei
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 95
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN)
In bezug auf das Existenzminimum haben wir also Nun komme ich zur Unternehmensteuerreform. Sie
keine Vorlage der Bundesregierung. Wir wissen nicht, haben gesagt, sie wollen die Gewerbekapitalsteuer
wie es weitergehen soll. Sie haben bei der Ergän- abschaffen. Dazu ist allerhand zu sagen. Zunächst
zungsabgabe bei den Vorstellungen des Herrn Kolle- einmal ist es interessant, daß man jetzt von unter-
gen Schleußer wieder gegen leistungsfeindliche schiedlichen Modellen hört, wie das denn finanziert
Besteuerung polemisiert. Erlauben Sie mir hier noch werden soll. Auch da lautet mein Vorwurf: Die Ankün-
einmal eine Wiederholung, meine Damen und Her- digung nützt doch wenig, wenn Sie nicht sagen, wie
ren. Die Tatsache, um das einmal ganz klar zu sagen, das finanziert werden soll.
daß das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat,
daß widerrechtlich über 40 Milliarden DM unten Ich habe auch zur Kenntnis genommen, daß der
weggesteuert werden, ist nicht ein Skandal für die Herr Kollege Schäuble auf dem Forum des „Handels-
oberen Einkommensschichten und die Leistungsträ- blatts" einen bestimmten Vorschlag gemacht hat. Sie
ger, von denen Sie jetzt wieder gesprochen haben. Es haben den jetzt noch in Ihr Manuskript eingebunden.
ist ein Skandal für die unteren Einkommensschichten. Das ist ja auch in Ordnung. Sie selber, Herr Kollege
Das ist der entscheidende Unterschied. Waigel, haben hier — da war der Vorschlag von Herrn
Schäuble noch nicht enthalten — gesagt: Die Gemein-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten den sollen einen fairen Ausgleich erhalten, am besten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der durch einen orts- und wirtschaftsbezogenen Anteil an
PDS) der Umsatzsteuer.
Deutscher Bundestag — 13. Wahlpe riode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 97
Seit langem wird davon geredet. Auch in der letzten (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
Legislaturperiode haben wir einige konkrete Be- ten der CDU/CSU)
schlüsse dazu gefaßt; ich erinnere an das Investitions-
Meine Damen und Herren, wir brauchen eine
erleichterungs- und Wohnbaulandgesetz. Das reicht
durchgreifende Modernisierung unserer Wirtschaft.
nicht aus. Wir müssen hier schneller und energischer
Die Wettbewerbsverhältnisse haben sich verschlech-
vorankommen.
tert und erschwert, nicht zuletzt durch den Wegfall
Dies muß in den Köpfen der Menschen, gerade des Eisernen Vorhangs. Wir haben es mit einem
derjenigen in der Verwaltung, beginnen. Die Verwal- brutalen Kostenwettbewerb zu tun. Wer unsere Wirt-
tung muß lernen, daß sie zur Dienstleistung am schaft stärken will, muß sie flexibler handeln lassen
Bürger und nicht zur Bevormundung des Bürgers können. Das gilt insbesondere für die kleinen und
berufen ist. mittleren Unternehmen, auf die es ja zentral
(Beifall bei der F.D.P.) ankommt, weil sie die Beschäftigung werden sicher-
stellen müssen; die großen werden ja über Rationali-
Wenn es uns gelingt, dies in die Köpfe einzupflanzen,
sierung weiter Personal entlassen, und das kann nur
dann können wir auch eine neue Politik gestalten.
von den kleinen und mittleren Gesellschaften im
Deswegen bedarf es dieser breiten gesellschaftspo- Dienstleistungsbereich, bei Handel, Handwerk und
litischen Diskussion. Denn wir machen keinen guten Gewerbe sowie bei den freien Berufen aufgefangen
Staat mit immer mehr Staat. Wir brauchen einen werden. Darauf müssen wir uns im Rahmen der
effizienten, leistungsfähigen und schlanken Staat, der Wirtschaftspolitik ganz besonders konzentrieren.
weiß, daß er eine dienende Funktion zu übernehmen Wenn wir sie nämlich nicht besser differenzieren und
hat. flexibler handeln lassen, bleiben wir gnadenlos in
102 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994
Ludger Volmer
Zurück zur Außenpolitik. Wir alle vermuten, daß die Deutsche Interessenwahrung gegenüber den Ent-
Bundesregierung auch Außenpolitik betreiben will. Das wicklungsländern. Das steht im Koalitionsvertrag.
entnehmen wir zwar nicht der Koalitionsvereinbarung Nicht deren Schulden aus der Entwicklungshilfe und
oder der Regierungserklärung. Ein Indiz dafür könnte den Hermes-Krediten will die Regierung erlassen,
aber sein, daß der Bundeskanzler einen Außenminister nicht Armut will sie bekämpfen, nicht selbsttragende
ernannt hat. Was dieser wirklich will, wissen wir auch Entwicklungen fordern, nicht den europäischen
nach seiner Rede noch nicht so genau. Aber auf der Markt für Produkte des Südens öffnen, nein, selbst
Grundlage einzelner Versatzstücke, die man in den den Ärmsten der Armen gegenüber hat sie nur das
letzten Monaten vernehmen konnte, könnte man Ziel der deutschen Selbstbehauptung. Und auch dafür
zumindest einige Mutmaßungen anstellen. will sie Europa instrumentalisieren — Zitat aus dem
Vertrag —:
Beginnen wir mit der Frage — das ist eine theoreti-
sche Frage —: Was müßte eine Regierung tun, um,
ohne öffentliches Aufsehen zu erregen, unter dem Die EU muß als Instrument zur Stärkung einer
Deckmantel deutscher Normalisierung eine neue, solchen Ordnung, insbesondere auch über die
national orientierte, militärgestützte Außenpolitik Welthandelsorganisation (WTO), konsequent
durchzusetzen? Sie könnte das nicht mehr als einzel- eingesetzt werden.
ner Nationalstaat tun — diese Zeiten sind vorbei —,
wohl aber im Tandem mit einem anderen, der auf Meine Damen und Herren, früher nannte man so
nationale Größe Wert legt, am besten mit einem etwas schlicht Imperialismus.
Atomstaat, z. B. mit Frankreich. Neben diesem Land
müßte ein ständiger Sitz im Weltsicherheitsrat ange- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
strebt werden. Zusammen könnten sie sich zum Kern- sowie bei Abgeordneten der SPD und der
europa erklären, das für den Rest des Kontinents den PDS)
Takt angibt. Gemeinsam müßten sie die Anker eines
eigenen westeuropäischen Militärsystems bilden. Die Wo ausschließlich eigene Interessenvertretung
Streitkräfte müßten so umstrukturiert werden, daß sie handlungsleitend ist, müssen wir befürchten, daß die
nicht nur der Landesverteidigung dienen, sondern Bundesregierung die Menschenrechtsfrage miß-
weltweit intervenieren können. Um überall operieren braucht, um einem historisch überholten Militär
zu können, müßten die Luftlandekapazitäten ausge- neuen Sinn zu geben. Man wird den Eindruck nicht
baut werden. Ein als Flugzeugträger und Landungs- los, wenn immer ein regionaler Konflikt entsteht, fragt
schiff verwendbares Mehrzweckschiff könnte der die Bundesregierung nicht, wie dieser zu lösen sei,
Partner bauen, während man selber die Flugzeuge sondern wie sich die Bundeswehr beteiligen könne.
dazu beisteuert. In den eigenen verteidigungspoliti- Mit dieser Haltung aber wird die notwendige Diskus-
schen Leitlinien müßte als Ziel die Sicherung von sion um eine moderne Sicherheitspolitik zunichte
Rohstoffen und Handelswegen genannt werden.
- gemacht. So mancher würde sich durchringen kön-
Wer nun glaubt, dies alles seien Phantasiegebilde, nen, auch einer deutschen Beteiligung bei friedenser-
der irrt. All dies sind Elemente der Koalitionspolitik, so haltenden Maßnahmen der UNO oder bei der Über-
wie sie in einzelnen Äußerungen führender Mitglie- wachung von Embargomaßnahmen zuzustimmen,
der in den letzten Monaten zum Ausdruck kamen. wenn er nicht mit der berechtigten Furcht konfrontiert
Wenn man genau hinschaut, findet man vieles davon wäre, dies sei nur der Türöffner für eine militärge-
im Koalitionsvertrag wieder, vor allem in seinen stützte deutsche Großmachtpolitik.
Weglassungen. Auf der einen Seite ist er so konkret,
daß er ein ganzes Kapitel zu der Selbstverständlich- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
keit enthält, daß der Bundestag über Entwürfe von sowie bei Abgeordneten der SPD und der
Vorschriften der Europäischen Union unterrichtet PDS)
werden muß. Na bravo! Auf der anderen Seite findet
man dort aber nicht ein einziges Wort zur Durchset- Friedenserhaltende Maßnahmen und Sanktionsüber-
zung der Menschenrechte — auch das ist eine Aus- wachung brauchen extra ausgebildete und in Kon-
sage —, kein ernstzunehmendes Wort über die Besei- fliktvermittlung trainierte Einheiten. Die Bundeswehr
tigung weltweiten Unrechts. taugt dazu nicht.
Schauen wir uns die Nord-Süd-Politik an. Das
Schlußkapitel des Vertrages enthält dazu Aussagen, Statt zu fragen, welche neuen sicherheitspolitischen
wie sie allsonntäglich von bayerischen Kanzeln ver- Instrumente wir angesichts der veränderten global
kündet werden. Der konkrete Gehalt erschließt sich politischen Lage brauchen, wird gefragt, welche Auf-
gaben wir für die bestehende Militärstruktur erfinden
erst bei einem Blick auf die Handelspolitik. Kein Wort
ist dort über eine ökologische und solidarische Umge- können. Damit wird die einmalige historische Chance,
staltung der Weltwirtschaft zu finden. Im Gegenteil. die das Ende der strategischen Zweiteilung der Welt
Man findet — wenn man das Wortgeklingel weg- bietet, leichtfertig verspielt. Nach dem Ende der
läßt — den bemerkenswerten Kernsatz — ich zitiere —: atomaren Vernichtungsdrohung müßten doch alle
Kräfte eingesetzt werden, um zu einer umfassenden
Ein offenes, multilateral geordnetes System des multilateralen Abrüstung zu gelangen, zu Sofortmaß-
Welthandels bleibt der beste Rahmen zur Wah- nahmen wie einem Atomteststopp, einer Verlänge-
rung der weltweiten Interessen der deutschen rung der Nichtverbreitung von Atomwaffen, der
Wirtschaft ... auch im Verhältnis zu den Entwick- Beseitigung aller biologischen und chemischen Waf-
lungsländern. fen, einer Reduzierung der Truppenstärke, der Ver-
Deutscher Bundestag — 13. Wahlpe riode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 105
Ludger Volmer
nichtung aller taktischen Atomwaffen in Europa. Das gesagt, eine Angelegenheit für die Geschichtsbücher.
fordern wir. Auch Herr Kinkel tönte so. Eine Woche vor der Wahl
aus Profilgründen sein Kurswechsel: Plötzlich ent-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
deckte er die KSZE. — Nun steht sie im Koalitionspa-
Es muß nach Sicherheitsmodellen gesucht werden, pier, leider nur an die Idee der NATO-Erweiterung
die nicht neue Blockkonfrontationen heraufbeschwö- angehängt, den Militärstrategien nachgeordnet. Den-
ren, sondern die Gegner von einst mit dem Ziel der noch sehen wir dies als Bestätigung unserer Auffas-
Nichtangriffsfähigkeit unter einem Dach vereinen. Es sung, daß sich eine moderne Sicherheitspolitik über
muß nach Methoden der Konfliktvorhersage, nach die KSZE verwirklichen muß.
Frühwarnsystemen, nach nichtmilitärischer Konflikt-
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS
regelung und, wo Zwang denn notwendig werden
SES 90/DIE GRÜNEN)
sollte, nach nichtmilitärischen Formen gesucht wer-
den. Warum wird nicht dieselbe Intelligenz, politische Statt diese Chancen zu sehen, verkrampft sich die
Energie, Finanzkraft und strategische Planung, wie Bundesregierung in dem Versuch, nationale Interes-
sie eine Militäroperation erfordert, in Wirtschafts- sen zu definieren. Als sei nicht die Idee der Nation
sanktionen investiert? Sie wären wahrscheinlich selbst historisch überholt! Dabei hat ihr Beharren auf
höchst effektiv. Praktisch aber werden Sanktionen so der Idee des Nationalen schon so furchtbare Folgen
lasch gehandhabt, als wolle man ihr Scheitern gera- gehabt.
dezu demonstri eren, um endlich wieder Waffen ein- Heute stehen wir fassungslos vor den Geschehnis-
setzen, um Waffen so lange in Nichtspannungsgebiete sen in Bihač, wo sich die Barbarei nackter Nationalis-
exportieren zu können, bis sie zu Spannungsgebieten men entlädt, in einem Staatsgebiet, das eigentlich
werden. multikulturellen Charakter tragen könnte. Wenn aber
In Deutschland hängen nur noch 140 000 Arbeits- heute die Serben in ihrem nationalistischen Wahn
plätze direkt von der Rüstungsproduktion ab. Warum unfaßbare Greueltaten begehen, dann hat das auch
wird diese Branche nicht geschlossen? Weil die damit zu tun, daß die Nationalstaatsbildung als
Rüstungsfirmen gleichzeitig die vom Staat am meisten Lösungsmodell für den Jugoslawienkonflikt von deut-
geförderten Forschungseinrichtungen sind. Warum scher Seite mit befördert worden ist.
legt die Bundesregierung nicht ein umfassendes Kon- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS
versionsprogramm auf, das die Technologieentwick- SES 90/DIE GRÜNEN)
lung nicht an die Bedürfnisse der Militärs bindet, Das war Wasser auf die Mühlen der ohnehin national
sondern an die der Umweltschützer und Ökologen? denkenden Serben. Wenn heute niemand mehr so
Weil sie immer noch nicht begriffen hat, daß die recht weiß, was noch zu tun ist, wenn alle Seiten dieses
größten Gefahren, die der Menschheit drohen, aus der Hauses sich im Entsetzen und im Abscheu einig sind,
negativen Wechselwirkung von Armut und Umwelt- dann sollten sie sich auch einig sein, die einzig
zerstörung, Hunger und Flucht resultieren. Auch die mögliche Lehre zu ziehen, nämlich daß Nationalismus
Kriege der Zukunft, die Kriege in der Dritten Welt nie eine Lösung ist, sondern immer das Problem.
werden hier ihre Ursache haben. Wir halten dagegen: -
Wer heute statt in Rüstung in die natur- und kulturan- Danke.
gepaßte Technologieentwicklung investiert, braucht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
morgen keine Zinksärge für die eigenen Kinder, die er sowie bei Abgeordneten der SPD — Beifall
in den Krieg geschickt hat, um die Folgen seiner bei der PDS)
Fehlentscheidungen zu beseitigen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt
bei der PDS sowie bei Abgeordneten der der Abgeordnete Dr. Alfred Dregger.
SPD)
Auch in der wichtigsten strategischen Frage, näm- Dr. Alfred Dregger (CDU/CSU): Frau Präsidentin!
lich der nach der Rolle von NATO und KSZE hat die Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Gestat-
Bundesregierung keine Antwort. Der Verteidigungs- ten Sie mir, daß ich am Beginn einer neuen Legislatur-
minister drängt auf die Osterweiterung der NATO, bis periode einige Gedanken vortrage, die mir wichtig
er sogar von seinem amerikanischen Kollegen erscheinen.
gebremst wird. Und der Außenminister schweigt. Wer
macht in dieser Regierung eigentlich die Außenpoli- Das vereinigte Deutschland ist verläßlicher Verbün-
tik: die Militärs oder die Zivilisten? Wie stark kann deter des Westens und zugleich geschätzter und
eigentlich ein Außenminister sein, der sich als Vorsit- gesuchter Partner des Ostens. Mit all unseren Nach-
zender einer untergehenden Partei nur soeben in eine barn, auch im Norden und im Süden, unterhalten wir
politische Weiterexistenz retten konnte? freundschaftliche Beziehungen. Das hat es in der
deutschen Geschichte noch nie gegeben. Es ist das
Die Diskussion über die KSZE macht dies deutlich, Ergebnis deutscher Politik von Konrad Adenauer bis
Herr Kinkel. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben Helmut Kohl.
Monate vor der Wahl gefordert, daß die KSZE zum
neuen politischen Kern eines Systems kollektiver (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der
Sicherheit werden müsse, das die alten Militärstruk- SPD: Willy Brandt!)
turen ablöst. Hohngelächter haben wir geerntet, nicht Unsere Nachbarn verbinden mit ihren gutnachbar-
nur wegen unserer Utopie einer zivilen Außenpolitik, lichen Beziehungen zu Deutschland zunehmend
auch weil wir die KSZE überhaupt wieder ins Hoffnung für sich selbst, Hoffnung in einem Ausmaß,
Gespräch brachten. Sie sei doch längst tot, wurde uns wie es vor Jahren noch nicht zu erwarten war
106 Deutscher Bundestag — 13. Wahlpe riode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994
Wir müssen zur inneren Einheit finden. Im politi- In Magdeburg hat die SPD diese Wertung leider
schen Bereich müssen wir allerdings Unterschiede nicht vorgenommen.
machen. Wir Christlichen Demokraten und Christlich- (Zuruf von der SPD: Jetzt reicht es aber!)
Sozialen sind gegen alle totalitären Systeme, auf der
Rechten wie auf der Linken. Wir sind deshalb auch — Sie müssen die Wahrheit anhören. — Auch in
Antikommunisten, und die Menschen in der ehemali- Schwerin scheint es ihr schwerzufallen, sich eindeutig
gen DDR sind es in ihrer großen Mehrheit auch. Wir von der kommunistischen SED/PDS zu distanzieren.
müssen diesen Menschen, die ja nicht über alles (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
orientiert waren — das waren wir in der Hitler- der F.D.P.)
Diktatur auch nicht —, sagen, daß die neue PDS die
alte SED mit neuem Namen ist. Die SPD schadet sich dadurch zunächst selbst, aber
darüber hinaus unserem freiheitlichen System, das
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wir nicht verraten, sondern ausbauen wollen.
Es waren SED-Kommunisten — niemand anderes —, Meine Damen und Herren, unsere Aufgaben wer-
die die DDR ruiniert und ausgebeutet haben, die im den auch in der jetzt beginnenden Legislaturperiode
Auftrag des SED-Staates schreckliche Verbrechen - nicht leicht sein, aber sie sind erfüllbar, und wir
begangen haben, die ihre Bürger an der Grenze werden sie erfüllen. Das bisher Geleistete ist eine
erschossen haben wie die Hasen. Auch das Zuchthaus Ermutigung für das, was vor uns liegt.
Bautzen und seine Folterer können und dürfen wir
nicht vergessen. Die bisherigen Ergebnisse, Einheit in Freiheit, sta-
biles Geld für alle Deutschen, eine unter dem euro-
Hinzu kommt, daß die SED/PDS aus der Geschichte, päischen Durchschnitt liegende Neuverschuldungs-
auch aus ihrer eigenen, bisher nichts gelernt hat. Wer, rate — und das trotz der ungeheuren finanziellen
wie Sie noch heute, meine Damen und Herren von der Anstrengungen für den Aufbau Ost — der begonnene
PDS, „gesellschaftliche Investitionslenkung" will, wer Wirtschaftsaufschwung und die Tatsache, daß diejeni-
wie Sie „Wirtschafts- und Sozialräte auf nationaler, gen, die die deutsche Einheit wollten und sie herbei-
regionaler und lokaler Ebene schaffen" will, wer wie geführt haben, wiederum vom deutschen Volk den
Sie — man höre genau hin — „den außerparlamenta- Auftrag zur Regierungsbildung erhalten haben, sind
rischen Kampf und gesellschaftliche Veränderungen eine große Ermutigung für uns und für alle, die jetzt in
für entscheidend" hält, der steht nicht voll und ganz der inneren Einheit Deutschlands die vorrangige
auf dem Boden unseres Grundgesetzes. Der will Aufgabe sehen.
fortführen, was Ulbricht, Honecker und Genossen in
Deutschland angerichtet haben. Die fünfte Regierung Kohl setzt sich aus erfahrenen
Ministern und aus jungen Talenten zusammen. Vor
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — allem aber ist es ein Glück für Deutschland, daß
Widerspruch bei der PDS) Helmut Kohl wieder Bundeskanzler ist.
Meine Damen und Herren, im Ergebnis wären das (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
wiederum Unterdrückung statt Menschenwürde, Un- ordneten der F.D.P.)
freiheit statt Freiheit, Kommandosystem und Kollekti-
vismus statt Sozialer Marktwirtschaft, Verarmung Alle unsere Partner in Ost und West haben darauf
statt Wohlfahrt. Ich füge hinzu: Sagen Sie sich los von gehofft. Helmut Kohl verkörpert ein Vertrauenskapi-
Ihrer „kommunistischen Plattform", dem Stoßtrupp tal, das uns unsere weitere Arbeit für Deutschland
der DDR-Vergangenheit, erleichtern wird. Natürlich wird die Opposition oppo-
nieren, das ist ihre Aufgabe. Aber sie sollte sich hüten,
(Andrea Lederer [PDS]: Das überlassen Sie zu blockieren, wie sie es zum Schaden des deutschen
mal uns!) Volkes, zum Schaden unserer Demokratie, letztlich
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 109
kel) nicht.
— „Schriftlich vorlegen! " Herr Dr. Kinkel, haben Sie
immer noch nicht gemerkt, daß der Umgang des Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie gar
Deutschen Bundestages mit der Europapolitik fürder- keine Zwischenfragen?
110 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994
Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD): Das kommt rung daraus? Ich habe von Waigel heute hier nur ein
drauf an. Vielleicht kommt noch etwas Interessanteres entschiedenes „Weiter so à la Maastricht" gehört. Das
an Rückfragen. würde das Ansehen Europas endgültig demolieren.
(Zuruf von der F.D.P.: Sie hat Angst vor der Wäre es nicht besser, liebe Kolleginnen und Kolle-
Wahrheit!) gen, sich mit dem Datum 1996 für die Revision des
Ich komme auf das Thema zurück: Was ist aus dem Maastricht-Vertrages nicht selbst unter Zeitdruck zu
Konzept des Kerneuropa geworden? Ich will an dieser setzen, die dann wieder die üblichen Konsequenzen
Stelle darauf hinweisen, daß in der Phase der Ratsprä- produzierte und unter Ausschluß der Öffentlichkeit
sidentschaft der Bundesrepublik nichts beschlossen stattfände,
worden ist, was real die Situation von Menschen (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Sagen Sie
verbessern würde. doch einmal, was Sie wollen!)
Ich sage an die Adresse des Sozialministers: Eine und statt dessen in großen Foren sowie in Anhörungen
der großen Ankündigungen war, wir bräuchten ein des Deutschen Bundestages und in der Öffentlichkeit
europäisches Gesetz, das Lohn- und Sozialdumping der Bundesrepublik Deutschland die weitere Ent-
auf den Baustellen in unserem Land und bei Dienst- wicklung der Europäischen Union nach der Auf-
leistungen verhindert. Es ist nicht nur nicht gekom- nahme Schwedens, Finnlands, Österreichs und hof-
men, fentlich auch Norwegens zu diskutieren und dabei vor
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) allem die Frage der Stärkung der parlamentarischen
sondern es findet sich auch in den Koalitionsvereinba- Demokratie und die Leistungsfähigkeit der Europäi-
rungen überhaupt nicht mehr als Ziel der jetzigen schen Union in den Vordergrund zu stellen? Das muß
Bundesregierung. Das heißt: Es war offensichtlich meines Erachtens die Orientierung sein, damit die
lediglich eine Ankündigung im Wahlkampf. Akzeptanz in der Bevölkerung überhaupt wieder
(Horst Kubatschka [SPD]: Denen sind ja auch erreichbar ist.
die Bauarbeiter wurscht!) (Beifall bei der SPD)
Selbstverständlich teile ich die Auffassung, wenn Welche Schlußfolgerungen — das ist heute bei
gesagt wird, es gehe darum, daß es in europapoliti- Joschka Fischer angeklungen — zieht denn die Mehr-
schen Fragen in den Grundlinien Gemeinsamkeiten zahl konservativer Regierungen in Europa aus der
gibt. Aber auch hier die gleiche Konzeptionslosigkeit: veränderten Lage nach dem Wegfall der Mauer in
Was jetzt hier vorgelegt worden ist und was heute die wirtschaftspolitischen Fragen? Unter dem neuen
Vertreter der Regierung in europapolitischen Fragen Druck von Wettbewerb setzen sie auf Lohnsenkungen
dargestellt haben, zeigt, daß „Durchwurschteln" bei und Sozialabbau. Das ist ihr Konzept.
Ihnen angesagt ist und daß es Unklarheiten gibt. Der Ich meine, es wäre die große Chance für die
Hauptgrund für diese Unklarheiten ist meines Erach- Westeuropäer, das zu stärken, was in Westeuropa am
tens, daß die Bundesregierung es immer noch nicht meisten vorhanden ist, was den Menschen insgesamt
verstanden hat, daß eine zentrale Voraussetzung der am meisten nutzt, nämlich die Qualifikation der
bisherigen Europapolitik heute nicht mehr existiert, Arbeitskraft von Menschen, die Ausbildung von Men-
nämlich die unbestrittene Akzeptanz in der Bevölke- schen, ihre Arbeitsmöglichkeit und ihre Berufstätig-
rung. keit. Arbeitslosigkeit zerstört jeden Tag aufs neue das
Wichtigste, das Menschen besitzen, nämlich ihre
berufliche Qualifikation und Fähigkeit.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Es liegt noch eine
Von der Bundesregierung ist zu diesem Bereich der
Bitte nach einer Zwischenfrage vor.
Europapolitik überhaupt keine Aussage zu hören
gewesen. Wenn es aber nicht gelingt, den 18 bis
20 Millionen arbeitslosen Menschen in Europa wieder
Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD): Danke. — Es ist Arbeit zu geben, dann brauchen wir uns über die
alles wahr und richtig, was an dieser Stelle Herr Akzeptanz der europäischen Einigung überhaupt
Dregger und auch der Bundeskanzler zur Frage der keine Gedanken mehr zu machen, weder mit erster,
Friedenssicherung durch die Europäische Union zweiter oder dritter Geschwindigkeit, liebe Kollegin-
gesagt haben. Das ist alles wahr und richtig. nen und Kollegen.
Aber es ist auch wahr und richtig — und wir wie die
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Bundesregierung müssen daraus Konsequenzen zie-
DIE GRÜNEN)
hen —: Für die Mehrzahl der Menschen in Europa
rechtfertigt sich die europäische Einigung heute nicht Die Diskussion über zwei Geschwindigkeiten oder
mehr allein aus den schrecklichen Erfahrungen der was auch immer interessiert die Leute nämlich einen
europäischen Geschichte, und sie rechtfertigt sich feuchten Kehricht.
noch weniger allein aus dem großen gemeinsamen Ein anderer Punkt bei den Grundfragen, die wir uns
Markt. In den 50er und 60er Jahren stand Europa für stellen müssen, die sich diese Bundesregierung und
den demokratischen Aufbau und für die Verbesse- im übrigen eine — hoffentlich bald kommende —
rung von Wohlstand. Heute wird es — und dies muß sozialdemokratisch geführte Bundesregierung stellen
doch einmal ehrlich zugegeben werden — bestenfalls muß: Die alte Europäische Gemeinschaft konnte noch
als Reparaturbetrieb angesehen. auf dem ungebrochenen Vertrauen in die Unerschöpf-
Welche Konsequenzen ziehen die Regierungen lichkeit natürlicher Grundlagen, von Rohstoffen,
daraus? Welche Konsequenz zieht die Bundesregie- Umwelt usw. aufbauen. Heute wissen die Menschen,
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 111
Heidemarie Wieczorek-Zeul
daß wir auf eine globale Katastrophe zusteuern, wenn men werden, sind es über 100 Milliarden DM. Die
dieser Ansatz beibehalten wird. Wenn das knappe Übertragung der EU-Agrarpolitik auf die Länder Mit-
Drittel der Menschen, die in Westeuropa, in Japan und tel- und Osteuropas würde in deren Agrarpolitik
in den USA leben, für zwei Drittel der Belastung des unmittelbar eine Katastrophe bewirken. Sie würde
Ökosystems verantwortlich ist, dann muß zuallererst längerfristig nochmals zu rund 100 Milliarden DM
hier bei uns etwas geändert werden. Und dann wäre Kosten führen.
es doch die Aufgabe der Europäischen Union, Initia- Jetzt müssen Sie Ihre Widersprüche klären und
tiven für einen Öko-Gipfel und für Maßnahmen zum offen auf den Tisch des Hauses legen. Wenn die
Energiesparen und zur ökologischen Modernisie- Bundesregierung also für die Einbeziehung dieser
rung der Industrie in allen zwölf — und künftig 16 — Länder in die wirtschaftliche europäische Integration
Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu ergrei- ist, muß sie entweder der Bevölkerung in Deutschland
fen. sagen, daß es teuer wird, daß es mit hohen Transfers
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ verbunden ist, oder sie muß sagen, daß es nicht
DIE GRÜNEN) machbar ist, oder sie muß sich — drittens — dafür
einsetzen, daß die EU-Agrarpolitik endlich so refor-
Ein weiterer Punkt, liebe Kolleginnen und Kollegen, miert wird, daß die Aufnahme dieser Länder auch in
bei dem die Bundesregierung unehrlich ist: An meh- wirtschaftliche Strukturen der Europäischen Union
reren Stellen heißt es in den Koalitionsvereinbarun- möglich ist.
gen, es gehe darum — und das ist auch hier wieder
gesagt worden —, die Länder Mittel- und Osteuropas (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Sieg
in die Europäische Union aufzunehmen. An anderen fried Hornung [CDU/CSU]: Sie redet von
wieder heißt es, notwendig seien strikte europäische etwas, wovon sie nichts versteht!)
Haushaltsdisziplin — das hat die Abteilung Waigel — Herr Kollege, die Tatsache, daß in Ihren Reihen
hier vorgetragen — und die Überprüfung von Pro- offensichtlich immer noch sexistische und machisti-
grammen. Weiter wird im Agrarkapitel die Fortset- sche Zwischenrufe an der Tagesordnung sind,
zung der bisherigen Form der EU-Agrarpolitik als
Forderung aufgenommen. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Wundert dich
das?)
(Zuruf von der CDU/CSU: Aber selbstver-
spricht Bände. Sie sollten einmal darüber nachden-
ständlich!)
ken!
Im Wirtschaftskapitel — und heute wieder in allen (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Ich habe
Reden — wird überall eine Deregulierungsoffensive gesagt, daß Sie davon nichts verstehen!)
und die Verbesserung der Marktkräfte gefordert. Ich
frage Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen: Welcher Mehr Frauen in Ihren Reihen wären auch unter
Bereich ist mehr reguliert und bürokratisiert als die solchen Gesichtspunkten gut.
EU-Agrarpolitik? (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
-
(Beifall bei der SPD) GRÜNEN und der PDS — Joseph Fischer
[Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Wer es wirklich ernst nimmt, der setzt an dieser Stelle Ab auf die Hinterbank!)
einmal an, weil sich Arbeitnehmer fragen, warum die
segensreichen Kräfte des Marktes eigentlich nur bei Es ist im übrigen auch notwendig, klarzumachen,
ihnen und ihrer Situation wirken sollen und warum es daß dann andere Sprüche, die der Außenminister oder
Bereiche gibt, die völlig aus dem Markt herausgenom- der Finanzminister manchmal bringen, einem Test zu
men sind. unterziehen sind. — herr Waigel ist jetzt leider nicht
(Beifall bei der SPD) da. — Wenn die Agrarreform stattfände und der
Anteil der Agrarausgaben von jetzt 50 am EU-
Ich sage also: Keines der vier Ziele, die da formuliert Haushalt reduziert würde, wären zum einen die finan-
sind, ist mit den anderen drei Zielen in irgendeiner ziellen Rückflüsse in die Bundesrepublik sehr viel
Form zu vereinbaren. Sie werden aber unverbunden höher. Zweitens wären Betrugsmöglichkeiten, die der
in diese Koalitionsvereinbarung übernommen. Ent- Europäische Rechnungshof in den letzten Wochen
weder ist es also so, wie — in diesem Fall einmal aufgedeckt hat — die offensichtlich auch in Deutsch-
zutreffend — Herr Ministerpräsident Stoiber gesagt land praktiziert werden —, auf diese Art und Weise
hat, daß diese Bundesregierung auch auf Grund der leichter zu verhindern, und man könnte so dazu
Organisation von Europapolitik überall etwas und im beitragen, daß keine Finanzmittel verschleudert wer-
Außenministerium eher die Frühstücksdirektoren den.
stelle — entweder ist sie also wirklich so unkoordi-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, wir
niert —, oder die Bundesregierung erzählt der Bevöl-
müssen eine Grundentscheidung treffen — davor
kerung in diesen Fragen bewußt nicht die Wahrheit —
drückt sich die Bundesregierung in all diesen Diskus-
oder beides. Wir verlangen aber Wahrheit und Klar-
sionen —, wie stark wir die Ausweitung der Europäi-
heit.
schen Union über die jetzt aufzunehmenden Länder
Die Bundesregierung weiß — Herr Kollege Dreg- Schweden, Finnland und Österreich — und hoffent-
ger, das muß dann auch gesagt werden —, daß die lich auch Norwegen — hinaus wollen. Wir müssen uns
Aufnahme von Tschechien, der Slowakischen Repu- klarmachen, daß es dabei auch Grenzen gibt. Eine
blik, Polen und Ungarn in die Strukturfonds der Europäische Union, in der sich demokratische Mitwir-
Europäischen Union 52 Milliarden DM jährlich kostet. kung, regionale Eigenständigkeit und sozialer Zu-
Wenn alle Länder in Mittel- und Osteuropa aufgenom- sammenhalt nicht mehr organisieren lassen, ist nicht
112 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994
Heidemarie Wieczorek-Zeul
die Europäische Union, die die Gestaltung Europas Rudolf Seiters (CDU/CSU): Frau Präsidentin!
und die Entwicklung unseres Kontinents nach dem Meine Damen und Herren! Ich bin in diesen Tagen in
Ende des Ost-West-Konflikts ermöglichen würde. Gesprächen mit polnischen und auch tschechischen
Ich möchte einen praktischen Vorschlag in die Gesprächspartnern noch einmal an den deutsch-
Diskussion bringen. Der Maastricht-Vertrag sieht ja polnischen Asylvertrag, den wir im letzten Jahr abge-
nur die Möglichkeit der wirtschaftlichen Assoziierung schlossen haben, und an den deutsch-tschechischen,
dritter Staaten vor, also die Integration in die wirt- Herr Kollege Kanther, den wir in diesem Jahr abge-
schaftlichen Strukturen. Warum ändern wir den schlossen haben, erinnert worden. Ich finde, beide
Maastricht-Vertrag nicht so, daß ab 1997 die Assozi- Verträge sind Beispiele für eine faire inte rnationale
ierung mittel- und osteuropäischer Lander an die Zusammenarbeit und Lastenteilung, wie auch von
gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sowie an unseren polnischen und tschechischen Gesprächs-
die Innen- und Rechtspolitik möglich wird, damit wir partnern immer wieder unterstrichen wird.
für diese Länder eine europäische Perspektive bieten, Ich erwähne dies deshalb, weil ich heute sagen
die sie brauchen, um ihre Reformen abzusichern? möchte: Wohin wir auf unserem Kontinent auch blik-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) ken, die Probleme in Europa und die internationalen
Herausforderungen sind fast überall mit nationalen
Ich füge hinzu: Das hat auch Konsequenzen für Maßnahmen und Programmen allein nicht zu bewäl-
Marktöffnungen. Denn absichern und finanziell hel-
tigen, sondern nur durch gemeinschaftliches Handeln
fen müssen wir. Aber ich wage zu bezweifeln, daß es und aus gemeinsamer Verantwortung zusammen mit
diesen Ländern oder der Europäischen Union insge- unseren europäischen und amerikanischen Nach-
samt nutzt, wenn sie in eine unreformierte Europäi- barn: die Wohlstandsgrenze, die mitten durch Europa
sche Union einbezogen würden. verläuft, die Konflikte und Krisen in unserer Nachbar-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) schaft, die labile Situation in Rußland und auch die
Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute ist von Weiterentwicklung der Europäischen Union.
einem der GRÜNEN-Diskussionsredner bemängelt Wir sollten dabei die Rolle des wieder vereinten
oder sozusagen am Rande gesagt worden, es sei Deutschlands nicht überschätzen; aber ohne jeden
überflüssig, daß in der Koalitionsvereinbarung stehe, Zweifel ist unsere Verantwortung größer geworden.
die Bundesregierung wolle den Bundestag frühzeitig Unsere Partner in der Welt erwarten auch, daß wir die
über europäische Regelungen unterrichten, die Verantwortung wahrnehmen. Und an die Adresse des
geplant seien. Ich möchte an dieser Stelle ausdrück- Kollegen Verheugen will ich doch sagen, weil er die
lich sagen: Offensichtlich hat die Bundesregierung außenpolitische Rolle der Bundesregierung, wie ich
Art. 23 der Verfassung nicht richtig gelesen. Es geht finde, heute morgen sehr oberflächlich bemäkelt hat:
nicht nur darum, daß sie den Deutschen Bundestag Ich meine, daß wir in Sachen Verläßlichkeit, Vertrau-
frühestmöglich informiert. Nach dem Grundgesetz ist enswürdigkeit und Solidarität mit unseren Partnern
der Deutsche Bundestag Teil der Willensbildung der keinen Nachholbedarf haben.
Bundesrepublik Deutschland in der Europäischen -
Union. Es ist ein ganz hohes politisches Gut, daß wir heute
(Beifall bei der SPD) sagen können: Das Ausland, unsere Nachbarn, sie
vertrauen Deutschland, sie vertrauen diesem Kanzler
Wir wollen nicht nur unterrichtet werden, sondern uns und dieser Bundesregierung.
an der Willensbildung beteiligen. Wir wollen vor allen
Dingen dazu beitragen, daß die Bundesregierung (Beifall bei der CDU/CSU)
diese Stellungnahmen berücksichtigt. So sagt es näm- Ich finde, das ist eine sehr gute und tragfähige
lich das Grundgesetz. Grundlage für die Außenpolitik der kommenden
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß: Wenn Jahre.
man an der Regierung ist, fällt einem das schwer. Ich
Als erstes möchte ich auch aus der Sicht unserer
sage es in Kenntnis der Tatsache, daß ich dafür streite, Bundestagsfraktion die Bedeutung der Regierungs-
daß die Sozialdemokratie in diesem Land so schnell konferenz 1996 und die Notwendigkeit der Vertie-
wie möglich die Regierung stellt, damit die verlorene fung der Europäischen Union unterstreichen, weil
Zeit in europapolitischen wie auch anderen Fragen, diese Konferenz zu einer deutlichen Stärkung der
die wir heute diskutiert haben, endlich aufgeholt wird, Europäischen Union in den politischen Schlüsselbe-
damit Gestaltung und vor allem die ehrliche Beant- reichen führen, die gemeinsame europäische Vertei-
wortung von Grundfragen angesagt ist. digung schaffen und die institutionelle Handlungsfä-
Es ist bei der Frage der Kosten der deutschen higkeit der Union deutlich verbessern muß.
Einheit so viel gelogen worden, und es muß endlich
auch mit den Lügen im Bereich der europäischen Ich stimme Ihnen zu, Frau Kollegin Wieczorek-Zeul:
Einigung Schluß sein. Die Vorbereitung dieser Regierungskonferenz sollte
auch nach unserer Meinung nicht nur eine Angele-
Ich danke Ihnen sehr. genheit der zuständigen Ministerien, der Abgeordne-
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Joseph ten oder kleiner Kreise in Publizistik und Wissenschaft
Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ sein. Denn wir sollten auch aus der Debatte um
NEN]) Maast ri cht gelernt haben. Wir brauchen eine breite
öffentliche Diskussion über die Inhalte und Ziele der
Regierungskonferenz, auch darüber, daß wir uns
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt einen Stillstand nicht leisten können. Die Bürger
der Abgeordnete Rudolf Seiters. müssen nachvollziehen und akzeptieren können,
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 113
Rudolf Seiters
warum die Vertiefung der Europäischen Union not- erlebt, wie schwierig das Ringen um die dringend
wendig ist. notwendige gemeinsame Politik zur Bekämpfung des
internationalen Verbrechens und um eine gemein-
Aber gerade deswegen — ich sehe auch den Kolle-
same Strategie der Europäischen Union in der Asyl-
gen Lamers im Plenum — waren und sind die Über-
und Zuwanderungspolitik war und heute noch ist.
legungen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zur eu-
ropäischen Politik wichtig, weil wir bei der konse- Die Entscheidungen für Europol sind im Grundsatz
quenten Weiterentwicklung der Europäischen Union gefallen. Ganz wichtig bleiben der Abschluß der
niemanden von unseren Partnern ausschließen. Doch Konvention und der Ausbau von Europol zu einem
es gilt auch der Satz des Bundeskanzlers: Wir wollen europäischen Polizeiamt mit den notwendigen Hand-
nicht, daß das langsamste Schiff im Geleitzug das lungsmöglichkeiten. Das ist eine aktuelle und unver-
Tempo der europäischen Entwicklung bestimmt. zichtbare Aufgabe und Herausforderung angesichts
der Bedrohung von Staaten und Gesellschaften durch
(Josef Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE das internationale Verbrechen.
GRÜNEN]: Deshalb muß man nicht wie ein
Nashorn durchs europäische Unterholz tra- Ebenso wichtig ist ein anderes Feld der Zusammen-
ben! Der Name des Nashorns ist bekannt! — arbeit, auf dem sich die Mitgliedstaaten noch sehr
Ulrich Irmer [F.D.P.]: Im europäischen Unter- schwer tun und auf dem auch der Gedanke der
holz gibt es keine Nashörner!) Lastenteilung und der Solidarität unter den europäi-
schen Staaten noch nicht besonders ausgeprägt ist: ein
Bei der europäischen Währungsunion, Herr Fischer, gemeinsames Asylrecht, eine gemeinsame Flücht-
gilt das gleiche. Unsere Bürger werden die Währungs- lingspolitik, eine gerechte Verteilung von Flüchtlin-
union, die zu einem weiteren Souveränitätsverzicht gen auf die Mitgliedstaaten und — nicht zu verges-
führen wird, akzeptieren, wenn sie auch deren Vor- sen — eine gemeinsame Politik zur Verbesserung der
teile und deren Notwendigkeit erkennen, wenn sie Lebensbedingungen in den Herkunftsländern. Denn
also das sichere Gefühl haben, daß ihnen die Wäh- es bleibt wahr: Das Asylrecht kann frühestens an
rungsunion nützt und daß sie der Stabilität und unseren eigenen Grenzen Wirksamkeit entfalten. Die
Prosperität der europäischen und damit der deutschen Ursachen für Wanderung und Flucht aber liegen in
Wirtschaft dient, und wenn sie die Überzeugung den Herkunftsländern. Sie müssen dort mit unserer
haben, daß die künftige europäische Währung wirksamen gemeinsamen Hilfe beseitigt oder jeden-
genauso stabil wie die Deutsche Mark sein wird. Theo falls gemildert werden. Es wäre auch im Hinblick auf
Waigel hat heute für die Regierung in einer sehr die deutschen Interessen kurzsichtig, wollten wir
überzeugenden Weise die Erfolge der Stabilitätspoli- unseren Nachbarn diese Hilfe verweigern.
tik der Bundesregierung und auch völlige Klarheit bei
den Zielen dargestellt, so daß diese Klarheit von dem Die vierte Bemerkung: Der Deutsche Bundestag hat
Kollegen Lafontaine nicht angemahnt werden in seinem Entschließungsantrag zur europäischen
mußte. Integration vom 15. Oktober 1993 von einem dringen-
den Handlungsbedarf in der gemeinsamen Außen-
Unser Ziel bleibt, daß die Wirtschafts- und Wäh- und Sicherheitspolitik gesprochen. Es gibt wohl
rungsunion vertragsgemäß bei strikter Beachtung der nichts, was klarer für die Notwendigkeit eines
im Vertrag festgelegten Kriterien verwirklicht wird. gemeinsamen Vorgehens und einer gemeinsamen
Ich erinnere aber auch an den gemeinsamen Beschluß Verteidigungspolitik im Kontext zur transatlantischen
des Deutschen Bundestages vom 1. Dezember 1992 zu Zusammenarbeit spricht als die jüngste Entwicklung
der Frage, wie im Rahmen der Endstufe dauerhaft im ehemaligen Jugoslawien einschließlich der Frage
eine gleichgerichtete Wirtschafts- und Fiskalpolitik in des Waffenembargos. Ich denke, zur Ehrlichkeit
allen Mitgliedsländern erreicht werden kann, und an gehört auch die Selbstkritik. Der Eskalation der Kon-
unsere Forderung, bei der Revisionskonferenz 1996 flikte, dem Morden und der Brutalität hätte ganz
diesen Teil des Vertrages präziser zu fassen. anders begegnet und Einhalt geboten werden kön-
Jedenfalls bleibt es dabei: Die angestrebte Wirt- nen, wenn die Völkergemeinschaft von Anfang an in
schafts- und Währungsunion ist ein Schlüsselfaktor der Lage gewesen wäre, entschlossen und geschlos-
für wirtschaftliche Stabilität und Wohlstand in Europa. sen zu handeln, oder wenn sich, mit Blick auf die
Aber diese Währungsgemeinschaft ist nur als Stabili- Europäer, Europa wenigstens in der Bewertung der
tätsgemeinschaft möglich und darf nur jenen Ländern Vorgänge einig gewesen wäre.
eröffnet werden, die die im Vertrag von Maastricht Es geht uns wahrscheinlich doch allen gemeinsam
geforderten Kriterien erfüllen. Anders gesagt, auch so: Fassungslosigkeit, daß am Ende dieses Jahrhun-
mit Blick auf unsere Bevölkerung — das sagen wir derts mitten im zivilisierten Europa so etwas möglich
auch als Vertreter der eigentlichen deutschen Stabili- ist, Trauer über die Ereignisse und auch der Zorn, daß
tätspartei —: es bisher nicht möglich war, den schrecklichen Krieg
(Lachen bei der SPD) einzudämmen oder zu beenden.
Wir werden die Stabilität der Währung nicht auf dem Natürlich ist es beklagenswert, daß die USA jetzt in
Altar der europäischen Wirtschafts- und Währungs- der Frage der Überwachung des Waffenembargos
union opfern. einseitig von der gemeinsam vereinbarten Linie abge-
wichen sind. Es muß alles getan werden, um eine Krise
(Beifall bei der CDU/CSU)
im Bündnis und damit auch in der Europäischen Union
Die dritte Bemerkung: Ich habe auch als Innenmi- zu vermeiden. Aber das kann nicht die einzige Ant-
nister in den vergangenen Jahren auf internationalen wort auf die Probleme sein, die sich hier stellen. Es
Konferenzen und in bilateralen Verhandlungen wird jetzt entscheidend darauf ankommen, nicht nur
114 Deutscher Bundestag — 13. Wahlpe riode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994
Rudolf Seiters
den internationalen Druck auf die bosnischen Serben Ich habe dann noch einmal in die Koalitionsverein-
zu erhöhen, die den internationalen Friedensplan barungen geschaut, die eher ein Dokument der Aus-
ablehnen und ständig gegen UNO-Beschlüsse versto- klammerung und des Stillstandes sind, und fand dort
ßen, sondern auch, wenn nötig, erneut die notwendi- einen Satz, in dem zwar auch von Zukunft die Rede ist,
gen militärischen Maßnahmen zu ergreifen. Der Bun- der aber trotzdem schlagartig alle meine aufkeimen-
deskanzler hat mit seiner Forderung recht, die kriege- den Hoffnungen zerschlug. Es heißt in diesem Satz:
rischen Handlungen endlich zu beenden, die humani- „Aus unseren Erfahrungen und Leistungen der ver-
täre Hilfe endlich zuzulassen und den Friedensplan gangenen Jahre leitet sich unser Anspruch ab, die
endlich anzuerkennen. Zukunft weiterhin erfolgreich zu gestalten. " Das ist
Vorrangiges Ziel deutscher Außenpolitik bleibt die nicht nur Arroganz, das ist wirklich eine Drohung.
Sicherung von Frieden und Freiheit. Dieses Ziel Statt Zukunft, Erneuerung, sozialer Gerechtigkeit,
werden wir nur dann erreichen, wenn wir verläßliche sicherer Finanzen, Gemeinsinn und Wärme, die Sie
Partner sind, Solidarität mit unseren Nachbarn üben uns hier in schönen Reden versprechen, heißt die
und uns der größer gewordenen Verantwortung Parole genau wie im Wahlkampf: Weiter so, Deutsch-
Deutschlands in der Welt nicht entziehen. Nachdem land! Das ist tatsächlich eine unverhohlene Kampf an-
das Bundesverfassungsgericht Klarheit über die Ein- sage, nicht nur an zwei Drittel der Menschen in
satzmöglichkeiten der Bundeswehr geschaffen hat, unserem Land, sondern auch an die Umwelt dieses
können zu Recht unsere Partner in der NATO von uns Landes. Sie entzieht allem, was in der Koalitionsver-
Deutschen ein klares Ja zur europäischen Verteidi- einbarung dann noch an teilweise sogar Sinnvollem
gungspolitik und zur Verteidigung und die Bereit- folgt, jede Glaubwürdigkeit.
schaft der Bundesrepublik Deutschland erwarten, sich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
im vollen Umfang auf der Grundlage der Bestimmun- Seit Jahren, seit sie an der Macht sind, sprechen die
gen der Charta der Vereinten Nationen an Maßnah- Vertreter der Bundesregierung von der Konsolidie-
men der Staatengemeinschaft zur Aufrechterhaltung rung der öffentlichen Finanzen und von Steuerrefor-
des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit
men. Herr Kohl und Herr Waigel, was haben Sie denn
zu beteiligen. Auch die Opposition sollte begreifen eigentlich all die Jahre gemacht? Tatsächlich hat diese
— das hat mit Militarisierung der Außenpolitik nichts Regierung doch die öffentlichen Schulden in eine
zu tun —: Wenn es um Frieden und Freiheit in der Welt unvorstellbare Höhe getrieben, und der Finanzmini-
und Europa sowie um internationale Solidarität geht, ster hat sich rettungslos im Gestrüpp einer konzep-
darf Deutschland nicht abseits stehen und keine tionslosen Steuerpolitik verheddert.
Sonderrolle spielen. Dies wäre für die Zukunft unseres
Landes verhängnisvoll. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Schuldenmajor!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Die Kosten dieser Politik werden den Schwachen und
Wehrlosen dieser Gesellschaft auferlegt, oder sie
- werden über Schulden einfach in die Zukunft verla-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt
der Abgeordnete Gerald Häfner. gert. Der Finanzminister hat in den Jahren des Wachs-
tums geschludert. Heute, wo wir das Geld dringend
bräuchten, fehlt nicht nur das Geld, sondern es fehlt
Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ver- auch jedes Konzept für die Meisterung der Krise.
ehrte Frau Präsidentin Vollmer! Liebe Kolleginnen Die Verschuldung der öffentlichen Haushalte wird
und Kollegen! Weihnachten naht, und der Finanzmi- bis zum Jahre 1995 auf sage und schreibe mehr als
nister, der sich selbst laut meiner Tageszeitung in 2,3 Billionen DM steigen. Das bedeutet eine Verdop-
erstaunlicher Verkennung des Realitätsbezugs von pelung in einem Zeitraum von lediglich fünf Jahren.
Vornamen und übrigens auch der neutestamentlichen Die Bundesschulden machen dabei den allergrößten
Theologie für ein Göttergeschenk hält und dies öffent- Teil der Gesamtverschuldung aus. Mit 800 Milliarden
lich erklärt hat, spricht vom Christkindl und verspricht DM im Jahr 1995 werden sie um fast 300 Milliarden
auch hier heute Wunderbares, nämlich die Gewähr- DM höher liegen als noch vor fünf Jahren. Hinzu
leistung solider Staatsfinanzen, die Sicherung und kommen die Schulden aus den Erblastentilgungs-
Schaffung von Arbeitsplätzen und ein größtmögliches fonds und den anderen Nebenhaushalten, so daß die
Maß an sozialer Gerechtigkeit. Gesamtschuldenbelastung des Bundes bei etwa 1 400
(Detlev von Larcher [SPD]: Das hat er schon Milliarden DM liegen wird.
immer verheißen!) (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Was ist
Als dann der Bundeskanzler heute noch von Erneue- denn mit dem Geld alles gemacht wor
rung und Herr Kinkel, man höre, von Gemeinsinn und den?)
sogar Herr Schäuble von einer Gesellschaft sprach, Damit wird die finanzpolitische Handlungsfähigkeit
die Schwache schützt und Geborgenheit und Wärme immer weiter eingeschränkt. Schon heute muß jede
vermittelt, da wollte ich es am liebsten selbst schon fünfte Steuermark für Zinsen aufgewendet werden.
glauben. 1995 werden die Zinsausgaben sogar ein Viertel des
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Steueraufkommens absorbieren.
DIE GRÜNEN]: „Halleluja" kann man da nur Je nachdrücklicher Sie, Herr Bundesfinanzminister,
noch sagen!) von einer Konsolidierung der Staatsfinanzen gespro-
Denn jeder Mensch, auch der schwärzeste, ist zur chen haben, desto ungezügelter ist die Neuverschul-
Erkenntnis und zur Umkehr fähig. dung des Bundes angestiegen. So wird es sich auch in
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 115
Gerald Häfner
Zukunft verhalten. Die Zahlen, die Sie in der Prognose GRÜNEN aufruft, können Sie sich nicht mehr einkrie-
bis 1998 vorgelegt haben, werden sich schon bald als gen.
Makulatur erweisen. In einem Punkt kann man sich,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN —
denke ich, tatsächlich auf den Finanzminister verlas-
Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
sen: Seine Zahlen sind mit Sicherheit falsch, sie sind
DIE GRÜNEN]: So wandert der Segen wei
geschönt, sie entsprechen nicht der Wirklichkeit.
ter!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die steuerliche Freistellung des Existenzminimums
wird nach Ihrer sehr niedrig angesetzten Schätzung
Weder für die Steuerbefreiung des Existenzmini-
15 Milliarden DM kosten. Abgesehen davon, daß Sie
mums noch für die Verbesserung des Familienlasten-
noch nicht einmal dafür eine finanzielle Vorsorge
ausgleichs noch für die Unternehmensteuersenkun-
getroffen haben, wird eine solche Schmalspurreform
gen, die Sie sinnwidrigerweise versprechen, sind in
kaum ausreichen. Nötig ist eine Gesamtrevision unse-
der Planung entsprechende Mindereinnahmen be-
res Steuerrechts. Nötig ist es, ungerechte Privilegien
rücksichtigt. Selbst das Bundeskanzleramt, also quasi
abzuschaffen. Sie erinnern sich an das Expertengut-
das Hauptquartier der Bundesregierung, hat jetzt
achten für die Umweltministerkonferenz, das seiner-
Alarm geschlagen und festgestellt, daß die Zahlen des
zeit festgestellt hat, daß Subventionen in Höhe von
Finanzministers eine Lücke von 30 Milliarden DM
10 Milliarden DM einseitig umweltschädliches Ver-
offenbaren.
halten fördern. Hier könnten Sie, angefangen beim
Ich fordere Sie deshalb auf, endlich ein Finanz- Flugbenzin, endlich einmal mit dem Abbau von Sub-
tableau vorzulegen, ventionen und einer Vereinfachung des Steuerrechts
im Sinne der Schaffung von mehr Transparenz und
(Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Das hat mehr Steuergerechtigkeit Ernst machen.
doch bei Ihnen keinen Sinn! Sie können doch
nicht rechnen!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ihre Politik ist nicht nur sozial ungerecht, sie ist in
das glaubwürdige, wahrheitsgemäße Zahlen enthält hohem Maße auch wirtschaftspolitisch — das meine
und alle finanzpolitischen Risiken berücksichtigt. ich im wahrsten Sinne des Wortes — kontraproduktiv.
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Denn z. B. durch die Verlagerung eines Großteils der
DIE GRÜNEN]: Schluß mit den Luftbuchun- Kosten der deutschen Einheit in die Sozialversiche-
gen! Jetzt wollen wir mal die Wahrheit rungssysteme hinein haben Sie die vielfach beklagten
hören!) Lohnnebenkosten in diesem Land nach aktuellen
Schätzungen um etwa 100 Milliarden DM angeho-
Ich denke, nicht nur wir, dieses Parlament, sondern ben.
auch die Bürgerinnen und Bürger haben ein Anrecht Wieder bosseln Sie am Steuerrecht herum. Wieder
auf die Wahrheit. - wollen Sie hier und da etwas ändern. Wieder werden
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie es mit Ihren Plänen nur verschlimmbessern. Wie-
der gehen Sie die eigentliche Aufgabe nicht an,
Sie sprechen immer noch von Reformen, aber Sie nämlich eine grundsätzliche Überarbeitung des
haben in Ihrer Amtszeit noch keine einzige vernünf- Steuerrechts mit dem Ziel der Vereinfachung, der
tige Reform zustande gebracht. Verständlichkeit und der sozialen Gerechtigkeit.
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Vor allem vor der größten Aufgabe, Herr Finanzmi-
DIE GRÜNEN]: So ist es!) nister, kneifen Sie vollständig: nämlich vor einer
Ökologisierung unseres Steuerrechts. Es ist doch
Sie haben, statt mehr soziale Gerechtigkeit zu schaf- völlig absurd und auch durch nichts gerechtfertigt,
fen, die Lasten immer mehr auf den Schwachen dieser daß wir die menschliche Arbeitskraft steuerlich mas-
Gesellschaft abgeladen und vor den mächtigen Inter- siv verteuern, während der Verbrauch von Umwelt
essengruppen gekuscht. Mit christlich und mit sozial und Umweltgütern so billig wie nur irgend möglich
hat das, Herr Waigel, schon lange gar nichts mehr zu gehalten wird. Es ist nicht immer nur böser Wille,
tun. Vielmehr haben die Finanz- und Steuerpolitik der wenn ein Unternehmer teure Arbeitskräfte entläßt
letzten Jahre sowie der Kahlschlag bei den Soziallei- und durch wesentlich billigere Maschinen — Maschi-
stungen die Spaltung der Gesellschaft vertieft. Weil nen übrigens, die sehr viel Energie und Rohstoffe
Sie und Ihre Parteifreunde sich über die gemeinsame verbrauchen — ersetzt, sondern Sie zwingen ihn mit
Erklärung der Bischöfe in Deutschland aufgeregt und Ihrer Steuerpolitik in vielen Fällen dazu. Immer öfter
gefordert haben, die Kirchen sollten sich gefälligst aus ist das Folge eines anachronistischen, sozial- und
dem Wahlkampf und dem Parteienstreit heraushal- umweltschädlichen Steuerrechts.
ten,
Sie predigen doch so gerne Marktwirtschaft. Was
(Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Sie aber, Herr Minister, wenn der Markt nicht funktio-
können ja frei reden!) niert, weil die von Ihnen gesetzten Rahmendaten
schon längst nicht mehr stimmen? Marktwirtschaft
muß ich Sie daran erinnern, wie Sie, Herr Waigel, sich müßte doch eigentlich bedeuten, daß knappe Güter
immer über das alle vier Jahre rechtzeitig erschei- sehr viel teurer, während Güter, bei denen das Ange-
nende Hirtenwort der Bischöfe gefreut haben, als es bot die Nachfrage überwiegt, billiger sind. Aber wie
noch die Wahl Ihrer Partei empfahl. Heute, wo es ist es denn nun bei den beiden Produktionsfaktoren
zwischen den Zeilen zur Wahl von BÜNDNIS 90/DIE Umwelt und Arbeit? Durch die vielen Belastungen, die
116 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994
Gerald Häfner
auf den Arbeitskosten liegen, sind Arbeitskräfte, Veränderungen gegeben hat, ist ihm offensichtlich
obwohl im Übermaß vorhanden, enorm teuer. Umwelt entgangen.
dagegen — heute wahrlich ein knappes Gut — gibt es Die F.D.P.-Bundestagsfraktion, meine Damen und
quasi zum Nulltarif. Die ökologischen Folgekosten Herren, stellt mit Befriedigung fest, daß die Regie-
tauchen in der unternehmerischen Kalkulation gar rungserklärung des Bundeskanzlers die Durchset-
nicht auf. Sie werden vielmehr auf die Bürgerinnen zung der Koalitionsvereinbarungen in vollem Umfang
und Bürger abgewälzt. Das führt zu einem völlig beinhaltet.
verzerrten Wettbewerb zuungunsten der Umwelt und
der Menschen in unserem Land, die Arbeit suchen. (Detlev von Larcher [SPD]: Das kann man
doch gar nicht feststellen!)
Die Zustimmung zu unserem Konzept einer ökolo-
gischen und sozialen Steuerreform geht inzwischen Ein Schwerpunkt für die Freien Demokraten bleibt
weit über Umweltverbände hinaus. Auch die Gewerk- der Politikbereich, der letztendlich 1982 zum Wechsel
schaften, die Kirchen, der Bundesverband junger der Koalition und zur Neuorientierung der deutschen
Unternehmer, die Arbeitsgemeinschaft selbständiger Politik geführt hat: die Sicherung der Staatsfinanzen.
Unternehmer in Deutschland, ja sogar der Sachver- Ein Endpunkt dieser erfolgreichen Politik ist die
ständigenrat für Wirtschaftsfragen haben dies aufge- Erringung der deutschen Wiedervereinigung in Frei-
griffen. Nur die Bundesregierung ist alleine, mauert heit. Wir stellen uns gerne den daraus resultierenden
sich ein und hält sich die Ohren zu. Aufgaben, die natürlich, Herr Kollege, eine ganze
Wir brauchen eine ökologische Steuerreform mit Menge mit Finanzen zu tun haben.
dem Ziel, die Umwelt zu schützen und Arbeitsplätze Durch die jahrzehntelange sozialistische Mißwirt-
zu schaffen. Sie, Herr Waigel, tun keines von beiden. schaft in der DDR und durch die Notwendigkeit der
Damit aber stehen Sie bald alleine. Im bekannterma- Umstrukturierung und der Privatisierung der Staats-
ßen nicht sehr umfangreichen Metaphernschatz des wirtschaft ist es zu enormen Umwälzungen gekom-
Bundeskanzlers spielt der Zug, den man erwischen men, nicht nur im Osten, sondern in ganz Deutsch-
muß, eine große Rolle, auch wenn der Bundeskanzler land. Wir wollen die Bereitschaft der Bürger, den
meistens mit dem Auto bzw. dem Flugzeug reist. Notwendigkeiten der deutschen Einheit Rechnung zu
Dieser Zug ist ohne Sie abgefahren. Sie haben ihn tragen, auch wenn diese Bereitschaft ab und an mit
verpaßt. Andere sitzen schon längst drin. Sie sollten einigem Murren versehen ist, hier und heute erneut
schauen, daß Sie schleunigst aufspringen. Sie sollten würdigen. Alle unsere Bürger haben aus dem Geschil-
nicht den alten Wein in kaum runderneuerten Schläu- derten Lasten zu tragen. Sie sind hierzu bereit.
chen verkaufen, sondern sich den großen Aufgaben Daß, meine Damen und Herren, der Umbruch einen
der Zukunft stellen. enormen Leistungstransfer in die neuen Bundeslän-
Hier bieten wir unsere Zusammenarbeit an. Wir der bedeuten mußte und daß dies auch die Bürger im
werden unsere Vorstellungen und Konzepte, unsere Westen an allen Ecken und Enden spüren, muß
Alternativen einbringen und zur Diskussion stellen. - erwähnt werden. Wir müssen dankbar dafür sein, daß
Wir hoffen als Opposition darauf, in der einen oder sie es akzeptieren. Es ist selbstverständlich, daß wir
anderen Frage hier Mehrheiten zu finden. Denn auch diese Leistungen im Sinne der inneren Einheit
dort, wo es die Vernunft am schwersten hat, nämlich Deutschlands gern erbringen. Wir wissen auch, daß
dort, wo Partei- und Fraktionsgrenzen eine Rolle die Belastungen der Menschen im Osten noch größer
spielen, wollen wir unsere Hoffnung auf Vernunft und sind. Aber die Situation wird von Tag zu Tag bes-
auf Reformfähigkeit nicht aufgeben. ser.
Ich danke Ihnen. Die Wirtschafts- und Währungsunion bedeutete ein
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) weltweit nie dagewesenes Expe riment. Der Mut der
Koalition, die Finanzierungsfolgen der deutschen Ein-
heit aus laufenden Mitteln zu versuchen, hat sich
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt gelohnt. Überall geht es aufwärts.
der Abgeordnete Dr. Wolfgang Weng. (Beifall bei der F.D.P. und bei der CDU/
CSU)
Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (F.D.P.): Frau Prä- So begründet der Hinweis von Herrn Scharping,
sidentin! Meine Damen und Herren! Eine Reihe den Herr Häfner gerade wiederholt hat, ist, daß ein
Kollegen der Grünen haben ausweislich des Hand- Teil der Leistungen aus den Sozialetats geschehen ist,
buchs ihre vierjährige Abwesenheit im Parlament zur daß also Transfers aus den Sozialetats stattgefunden
Fortbildung genutzt. Der Kollege Häfner hat das haben, muß dem doch entgegengehalten werden, daß
leider versäumt. eine Alternative dazu weder gegeben war noch
damals oder heute von Ihnen dargestellt worden wäre.
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Die Frage, ob all die Leistungen steuerfinanziert aus
DIE GRÜNEN]: Da haben Sie noch viel öffentlichen Haushalten hätten getragen werden kön-
Fortbildungszeit vor sich in den kommenden nen, muß verneint werden.
20 Jahren! — Ingrid Matthäus-Maier [SPD]:
Sie haben das leider gar nicht genutzt!) (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Nein! Das ist
falsch! Solidaritätszuschlag wäre richtig ge
Denn das, was er hier vorgetragen hat, begann
wesen!)
eigentlich nahtlos dort, wo er vor vier Jahren aufge-
hört hat. Das Interessante, daß es nämlich in der Deswegen geht das Klagelied von Herrn Scharping
Zwischenzeit in unserem Land eine ganze Reihe von ins Leere. Frau Kollegin Fuchs, die neben Ihnen
Deutscher Bundestag — 13. Wahlpe ri ode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 117
Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen)
sitzende Kollegin hat über zu viele Ausgaben aus dem nen Herr Fischer und seine Fraktion deutlich machen,
öffentlichen Haushalt immer vehement geklagt. Sie daß sie, wie Sie heute morgen angekündigt haben,
hat Finanzierungen für zusätzliche Wünsche nie in Herr Fischer, tatsächlich eine eigenständige Opposi-
genügendem Umfang deutlich gemacht tionsrolle spielen, daß sie nicht von vornherein zu
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: „Zuviele allem nein sagen, was von der Seite der Koalition auf
Schulden", habe ich gesagt!) den Tisch kommt. Auch im zukünftigen Wettbewerb
der politischen Parteien in geänderter Parteienland-
Ich bitte Sie wirklich, ganz sorgfältig einmal aufzuli- schaft wird niemand für Fundamentalopposition dau-
sten — nicht an dieser Stelle; das können Sie schrift- erhaft Anhänger finden. Der Wettbewerb wird härter,
lich nachreichen —, in welcher Weise die Steuerbela- damit aber auch interessanter. Wir sind überzeugt,
stung der Bürger gestiegen wäre, wenn die Leistun- daß wir ihn bestehen, sosehr Sie hier auch mit Ansprü-
gen der Sozialetats in die neuen Bundesländer ausge- chen in einer Reihe von Politikbereichen antreten. Wir
fallen wären und hier eine totale Haushaltsfinanzie- werden denen entgegentreten und inhaltlich darüber
rung hätte stattfinden müssen. Das wäre nicht zu diskutieren.
leisten gewesen.
(Detlev von Larcher [SPD]: Wir reden nach
(Jörg Tauss [SPD]: Aber ehrlicher!) der nächsten Landtagswahl weiter!)
Erfreulich in diesem Zusammenhang sind Meldun-
gen, daß der Zuschußbedarf sinkt — Wir vertrauen auf mündige Bürger, die erneut
Liberale in die Parlamente senden werden.
(Abg. Anke Fuchs [Köln] [SPD] meldet sich
zu einer Zwischenfrage) (Peter Dreßen [SPD]: Da gibt es nur noch
wenige!)
— nein, Frau Präsidentin, ich möchte im Zusammen-
hang sprechen —, weil die beginnende Dynamik der Die Koalitionsvereinbarung beinhaltet die Fortfüh-
Wirtschaftsentwicklung auch am Arbeitsmarkt Besse- rung der Privatisierung. Dieses betrifft nicht nur
rung bringt. Die Voraussage, daß die Bundesanstalt Industrievermögen des Bundes — Sie wissen, daß wir
für Arbeit im kommenden Jahr einen wesentlich hier in den vergangenen Jahren das Wesentliche
geringeren Zuschuß benötigt, als dies bisher progno- getan haben —, sondern ganz nachhaltig auch den
stiziert war, signalisiert auch einen Teil Entspannung. Dienstleistungsbereich. Natürlich betrifft es ebenso
Auch hier sehen wir richtige Politik mit guten Ergeb- die Gebietskörperschaften, die Länder und Gemein-
nissen. den, in denen in viel größerem Umfang als beim Bund
Privatisierungen möglich sind. Wir haben in der
Es bedeutet Mut, und die Koalition hat diesen Mut,
Endphase der vergangenen Wahlperiode mit der
daß trotz knapper Kassenlage steuerliche Entlastung
Änderung des Haushaltsgrundsätzegesetzes noch
und steuerliche Veränderungen in wichtigen Berei-
einen Versuch gemacht. Hierauf wollen wir zurück-
chen in Angriff genommen werden. Das gilt für den
kommen; denn es besteht, wie schon gesagt, dringen-
Familienlastenausgleich ebenso wie für die geplante
Freistellung des Existenzminimums von Steuern. - der Handlungsbedarf.
(Detlev von Larcher [SPD]: Ihr habt genug Auch hier möchte ich die SPD gerade wegen ihrer
Zeit gehabt!) heute mehrfach erwähnten Verantwortung im Bun-
desrat und wegen ihrer Verantwortung in vielen
Das gilt aber auch für die Ankündigung von Verän- Städten und Gemeinden unseres Landes auffordern,
derungen bei der Gewerbesteuer. Es ist, meine den gesellschaftlichen und politischen Notwendigkei-
Damen und Herren, eine Uraltforderung der F.D.P., ten Rechnung zu tragen. Sie sollten zukunftsgerich-
die Gewerbesteuer durch ein anderes Steuersystem tete Politik nicht blockieren.
für die Kommunen zu ersetzen.
(Detlev von Larcher [SPD]: Die machen Sie ja
(Peter Dreßen [SPD]: Von den kleinen Leuten nicht! — Jörg Tauss [SPD]: Dann legen Sie
zu den großen!) mal Ihre zukunftsgerichtete Politik auf den
Es ist außerordentlich erfreulich, daß nach langen Tisch! Das ist ja unglaublich!)
Jahren auch bei vielen Kommunen ein Umdenken
stattgefunden hat. Sie könnten, wie schon so oft, zu spät die Kurve
kriegen; denn daß weniger Staat, daß mehr Politik mit
(Beifall bei der F.D.P. — Peter Dreßen [SPD]: weniger öffentlichen Geldern die zwangsläufige Ent-
Bei welchen denn?) wicklung der kommenden Jahre ist, ist nicht zu
Die Ankündigungen des Herrn Bundeskanzlers in bestreiten.
der Regierungserklärung heute morgen und auch die Meine Damen und Herren, die Reduzierung des
vom Kollegen Schäuble hierzu gemachten Ausfüh- Personalbestands in den Bundesbehörden ebenso
rungen waren so vernünftig, daß ich die sehr harsche wie die Zusammenlegung und Auflösung von nicht
Ablehnung durch Herrn Scharping nicht verstehen mehr notwendigen öffentlichen Einrichtungen gehö-
kann. Ich fordere die SPD-Fraktion dringend auf, zu ren mit zur Politik der Koalition.
diesen Vorschlägen nicht ohne Prüfung nein zu sagen,
denn diese Vorschläge bedeuten für den Wirtschafts- (Detlev von Larcher [SPD]: Das ist noch keine
standort Bundesrepublik Deutschland eine nachhal- Staatsreform!)
tige Verbesserung, ja eine Notwendigkeit.
Wir werden im Bereich der Ministerien zusätzlich ein
Ich will in diese Aufforderung auch BÜNDNIS 90/ Augenmerk darauf richten, daß die während des
DIE GRÜNEN ausdrücklich einbeziehen. Hier kön Einheitsprozesses erforderlichen zahlreichen Stellen
118 Deutscher Bundestag — 13. Wahlpe riode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994
Andrea Lederer
handelt. Der Absatz zur sogenannten Entwicklungs- zum Fernhalten von und Abschotten vor Flüchtlingen
politik ist angesichts der globalen Probleme purer abschließen.
Zynismus.
Die zwölf Zeilen zur Entwicklungspolitik — ich
Drittens das mögen Sie noch hundertmal bestrei- habe es bereits erwähnt — sind rein zynisch. Anstatt in
ten —: Das Militärische wird zunehmend Charakteri- diesem Bereich, der sich immerhin mit globalen Pro-
stikum deutscher Außenpolitik, sowohl hinsichtlich blemen zu befassen hat, konkrete Vorschläge zur
der Rolle und der Aufgaben der Bundeswehr als auch Bekämpfung von Massenarbeitslosigkeit, zur Siche-
in der Schwerpunktsetzung nunmehr in der Europa- rung sozialer und anderer Menschenrechte, zur
politik. Es gibt die Militarisierung der deutschen Bewältigung ökologischer Fehlentwicklungen und
Außenpolitik. Auch wenn Sie es, wie gesagt, hundert- vor allem zur Konfliktvorbeugung zu unterbreiten,
mal bestreiten, werden wir es immer wieder feststel- wird auch dieser Bereich unter das „deutsche Inter-
len. esse" subsumiert. Besorgt stellt man fest, daß wohl
mehr Unterstützung verlangt werden wird, aber nicht
Bei der Europapolitik sieht es folgendermaßen aus: ein Vorschlag zur Veränderung der Weltwirtschafts-
Die einmal als „zaghafte Überlegungen" titulierten ordnung wird unterbreitet.
Vorstellungen und Vorschläge des Fraktionsvorsit-
zenden der CDU/CSU zur Europapolitik sind jetzt So, wie Sie im Inneren des Landes Politik betreiben,
Regierungsprogramm. Es soll ein Europa der zwei bis so betreiben Sie auch Außenpolitik: auf Kosten der
fünf Geschwindigkeiten geben, eine Europäische Schwächeren und zum Nutzen der Stärkeren. Wenn
Union, die kaum Rücksicht auf schwächere Staaten Sie darauf verweisen, daß Entwicklungshilfe schließ-
nimmt, eine Union, die nicht nur einen Kern hat, lich erwirtschaftet werden muß, so können wir uns
sondern einen Kern des Kerns, und diesen bilden eines ausmalen: Der künftige Entwicklungshilfehaus-
Deutschland und Frankreich. Das ist heute wiederholt halt wird real sinken, d. h. es gibt nichts, abgesehen
worden. von Profiten für einige deutsche Unternehmen.
In drei zentralen Bereichen soll die Europäische Wir fordern die Bundesregierung auf, im Hinblick
Union, wie Sie es nennen, eine Erneuerung erfahren: auf die Revisionskonferenz zum Maastricht-Vertrag
Zum einen ist zu befürchten, daß die Währungsunion alle Anstrengungen darauf zu richten, mehr Demo-
rücksichtslos, ohne die Folgen für ökonomisch schwä- kratie, mehr soziale Gerechtigkeit, mehr Solidarität
chere Länder zu berücksichtigen und ohne Maßnah- gegenüber den anderen Kontinenten und mehr Maß-
men dagegen zu ergreifen, durchgesetzt wird. Die nahmen zur Aufrechterhaltung des Friedens zu errei-
katastrophalen Folgen für solche Länder, die dort chen. Wir werden im Laufe dieser Legislaturperiode
nicht mithalten können, sind den Autoren dieser konkrete Forderungen einreichen. Wir verlangen, daß
Vereinbarung nicht einmal eine Zeile wert. sich die Bundesregierung dafür einsetzt, daß Entwick-
lungsländer reale Chancen auf dem Weltmarkt erhal-
Zweitens soll mit der Entwicklung der Westeuropäi- ten, daß eine wirkliche Öffnung der Märkte erfolgt,
schen Union zum militärischen Arm der Europäischen daß Preis- und Absatzgarantien festgeschrieben wer-
Union eine Orientierung auf eine militärische Identi-
den.
tät der Union zum Schwerpunkt gemacht werden:
Identität Europas durch Soldaten. Ich habe jetzt schon Es jährt sich im nächsten Jahr auch der Tag der
Verteidigungsminister Rühe im Ohr, wie er davon Gründung der UNO. Nicht ein Vorschlag ist hier
schwärmen wird, wie der europäische Einigungspro- seitens des Außenministers Kinkel erwähnt worden.
zeß in einem Leopard-Panzer vorangebracht werden Er hat wiederum nur darüber palavert, daß der stän-
kann; so, wie er es damals getan hat, als es um die dige Sitz im UNO-Sicherheitsrat noch nicht erreicht
ost-west-deutsche Einigung ging und er uns hier sei und man nunmehr mit dem nichtständigen erst
vortrug, wie herrlich sich die beiden deutschen Solda- einmal eine Weile vorliebnehmen müßte. Nicht ein
ten aus Ost und West in einem Panzer verstanden Vorschlag zum Thema Reform und Demokratisierung
hätten. der UNO.
Die KSZE wird an keiner einzigen Stelle in der Im Februar 1995 wird der Weltsozialgipfel stattfin-
Vereinbarung erwähnt; sie ist heute auch in dem den. Die Bundesregierung hat sich geweigert, die von
Redebeitrag des Kanzlers nicht vorgekommen. Es ist der UNO geforderte nationale Kommission zur Vorbe-
bezeichnend, daß Sie diese Institution, die hier gelobt reitung überhaupt einzurichten, obwohl die soziale
wurde als eine Institution, die die Kultur des Gewalt- Situation weltweit unbestritten sehr viel mit der Ent-
verzichtes entwickelt habe, abgeschrieben haben; Sie stehung von Konflikten, von Kriegen, von Flüchtlings-
orientieren sich rein auf Militärbündnisse und die strömen — wie Sie es nennen — und von Verhältnis-
traditionellen Strukturen. sen, die dazu führen, daß Menschen ihre Heimat
verlassen müssen, zu tun hat.
Zum dritten sollen osteuropäische Länder erst dann
eingegliedert werden, wenn sich der Kern des Kerns Das Thema der Verlängerung des Vertrages über
und der Kern Westeuropas hierarchisch gefestigt die Nichtweiterverbreitung von Nuklearwaffen ist
haben. Die Mahnung des Kanzlers an die osteuropäi- der Koalition nichts wert. Es kann hier nicht nur darum
schen Staaten war mehr als deutlich. Es wird die gehen, den Vertrag zu verlängern, sondern es muß ein
Erfüllung politischer und ökonomischer Vorausset- für allemal im Grundgesetz verankert werden, daß
zungen gefordert. Ansonsten gibt es schöne Worte. dieses Land auf Nuklearwaffen, auf ABC-Waffen
Wenn diese Voraussetzungen nicht erfüllt sind, wird verzichtet. Die Bundesregierung muß sich dafür ein-
es keine Realisierung dieser schönen Worte geben, setzen, daß tatsächlich sämtliche Kernwaffen aus
sondern dann wird man nur bilaterale Abkommen Europa abgezogen werden.
120 Deutscher Bundestag — 13. Wahlpe riode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994
Andrea Lederer
Noch ein Thema, das wir ansprechen und zu dem Zusammenarbeit Carl-Dieter Spranger vorliegen, der
wir Vorschläge einbringen werden: Rüstungsexport. bittet, es zu Protokoll geben zu dürfen. Besteht Ein-
Wenn die Koalition unter der Überschrift „Deutsche verständnis des Hauses damit? — Das ist offensichtlich
Position in der Weltwirtschaft ausbauen" von der der Fall. *)
Harmonisierung der Exportkontrollregeln spricht, Dann erteile ich das Wort dem Bundesminister des
dann ist eben zu befürchten, daß damit wieder einmal Innern, Herrn Manfred Kanther.
alle Regelungen zum Rüstungsexport gemeint sein
werden, die auf möglichst niedrigem Niveau nivelliert (Detlev von Larcher [SPD]: Warum gibt er
werden sollen. Sie können sich jeden Verweis auf seine Rede nicht auch zu Protokoll?)
strenge deutsche Vorschriften ersparen; denn immer-
hin ist es der BRD trotz dieser Vorschriften gelungen,
auf der Liste der Länder mit den meisten Waffenex-
porten auf Platz 3 zu kommen. Wir fordern, daß die Manfred Kanther, Bundesminister des Innern: Herr
Rüstungsproduktion drastisch eingeschränkt, der Rü- Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Szenen-
stungsexport für dieses Land verboten und das auch wechsel zu einigen Bemerkungen zur Innenpolitik,
im Hinblick auf die Europäische Union angegangen die ein wesentliches Feld der kommenden Legislatur-
wird. periode sein wird, wobei sie bei ihren vielen Verant-
wortlichkeiten eine im Vordergrund sehen muß. Das
(Beifall bei der PDS und dem BÜNDNIS 90/
ist die dauerhafte Gewährleistung des inneren Frie-
DIE GRÜNEN)
dens. Ich betrachte das als einen weiteren Kreis um die
Zum Schluß noch eine Bemerkung zu der vom innere Sicherheit herum. Beides hat wichtige Zusam-
Kollegen Verheugen geäußerten Illusion, was das menhänge.
Verständnis der Bundesregierung zum Thema „Auf-
rechterhaltung des Friedens" anbelangt. Ich bin mir Natürlich ist die Bewahrung des inneren Friedens
sicher — und wer die Koalitionsvereinbarungen eine komplexe Aufgabe für Wirtschafts-, Sozial-,
genau liest, wird das auch feststellen können —, daß Gesellschafts- und Bildungspolitik; die Innenpolitik
die Bundesregierung leider nicht die Aufrechterhal- leistet aber ihre Beiträge dazu. Sie leistet ihre Beiträge
tung des Friedens mit entsprechenden Blau Helm- -
zur Gewährleistung eines verträglichen Zusammen-
Einsätzen meint — davon werden wir bzw. vor allem lebens der Gruppen und der einzelnen. Das ist eine
andere Länder in Zukunft auch betroffen sein —, entscheidende Aufgabe.
sondern davon ausgeht, daß die Bundeswehr grund- Wir werden nie erreichen, in einer konfliktfreien
sätzlich bei allen Maßnahmen uneingeschränkt mit- Gesellschaft zu leben. Die Zurücknahme der Konflikte
machen kann, d. h. auch im Rahmen von Sicherheits- auf die Basis der Verträglichkeit und der Bereitschaft
systemen, wie es das Karlsruher Urteil leider festge- zum generellen Konsens ist aber schon eine wesent-
schrieben hat. liche Aufgabe. Bei der Komplexität unserer Gesell-
schaft ist das eine Aufgabe, die viele Gruppen
betrifft.
Vizepräsident Hans Klein: Die Zeit, Frau Kollegin. Ganz besonders trifft dies für die Frage des verträg-
lichen Zusammenlebens von deutschen und auslän-
dischen Mitbürgern in Deutschland zu. Wir haben
Andrea Lederer (PDS): Ich komme zum Schluß. Es erlebt, wie diese Verträglichkeit im Vorfeld des Asyl-
geht dort nicht nur um UNO-Einsätze, sondern es wird kompromisses gefährdet war. Wir haben erlebt, wie es
um eigenständige Einsätze der NATO und der WEU in der Bevölkerung Angst gab vor unkontrollierter
gehen, und wir werden hier auch konfrontiert sein mit Zuwanderung, die die Politik der Mitte nicht mehr
Kampfeinsätzen, an denen sich die Bundeswehr betei- steuern kann, wie praktische Probleme zugenommen
ligen soll. Ich stelle die Frage an alle Oppositionspar- haben und wie schwierig es war, die sehr plötzliche
teien: Was haben Sie vor, um Barrieren dagegen übergroße Zuwanderung im Griff zu behalten.
aufzustellen? Wir werden jedenfalls unser antimilita-
ristisches Engagement so fortsetzen, wie wir es in der Das Phänomen dieses Zusammenlebens als einer
letzten Legislaturperiode gemacht haben. herausragenden und wichtigen Frage des inneren
Friedens wird uns weiter begleiten. Die Vorstellung,
Ich danke.
eine solche Problematik könne uns in Zukunft verlas-
(Beifall bei der PDS)
sen, ist irreal. Das Zusammenleben der Deutschen mit
einer großen Zahl von Ausländern wird dauerhaft
unsere Zukunft sein. Denn die Bedingungen dafür
Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Lederer, werden fortbestehen.
ich glaube nicht, daß der Ausdruck „palavern" ausge-
sprochen unparlamenta ri sch wäre. Nicht nur die 7 Millionen Ausländer, die im Land
leben, sondern auch die vielfältigen Konfliktfelder in
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
der Welt, die magnethafte Anziehungskraft unseres
DIE GRÜNEN]: Na ja!)
Landes, offene Grenzen, um die wir lange Jahre
Nur kann nach allgemeinem Sprachverständnis ein gestritten haben und die bei aller Notwendigkeit ihrer
einzelner nicht palavern; das kann nur eine Sicherung fortbestehen werden, bedeuten, verträgli-
Gruppe. ches Zusammenleben zwischen Deutschen und Aus-
(Zurufe von der SPD: Oh!) ländern zu gestalten.
Meine Damen und Herren, ich habe hier das Rede-
manuskript des Bundesministers für wirtschaftliche *) Anlage 2
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 121
von Sozialdemokraten für die innere Sicherheit in GRÜNEN): Herr Kanther, ich stelle fest, daß Sie gesagt
Deutschland. haben, der innere Frieden in dieser Republik sei erst
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) durch die Verabschiedung des Asylkompromisses
wiederhergestellt worden. Es ist eine Pervertierung
Denn Polizei und Ge ri chte sind ihre Sache, zuvörderst des Begriffs „innerer Frieden", ihn in diesem Zusam-
in den Ländern. Das heißt für den Bundesinnenmini- menhang zu erwähnen. Sie haben gesagt, die Rechten
ster natürlich: Zusammenwirken mit den Ländern so seien von Ihnen niedergerungen worden. Das Gegen-
gut und so oft und intensiv, wie es geht. Gerade teil ist der Fall: Sie haben sie mit dem Nachgeben
deshalb ist es falsch, die Einheitlichkeit von Innen- gegenüber diesen menschenfeindlichen Forderungen
politik durch Länderalleingänge zu unterlaufen. Das eingebunden, die heute dazu führen, daß Menschen
sage ich noch einmal. Das gilt nicht nur für den in Kriegsgebiete oder in Gebiete abgeschoben wer-
Asylbereich. Davor muß man auch in anderen Sekto- den, wo sie der Folter, der Inhaftierung und dem
ren warnen und rechtzeitig die Stimme erheben, um sicheren Tod ausgesetzt werden. Ich kenne sehr viele
die Kräfte der Verbrechensbekämpfung in einheitli- Fälle. Ich komme aus der Asylarbeit.
chen Konzepten zusammenzuführen, wie wir uns das
in der Koalitionsvereinbarung vorgenommen haben (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN —
und wie es eine Ebene der Politik nicht für sich allein Zuruf von der CDU/CSU: Das merkt man!)
kann — nicht nur Bund und Länder zusammenzufüh- Wenn heute in diesem Hause angesichts der Tatsa-
ren, sondern weit darüber hinaus, weil die wirklichen chen so argumentiert wird, dann müssen Sie sich auch
Probleme der Verbrechensbekämpfung leider die gefallen lassen, daß wir Sie immer wieder darauf
neuen Facetten ihrer Internationalität sind, auf euro- hinweisen, wenn Sie von der inneren Sicherheit
päischer und darüber hinausgehender Ebene zusam- reden, daß Sie die Verantwortlichkeiten verschieben,
menzuarbeiten, auch mit unseren östlichen Nachbar- indem Sie auch noch mit ethnischen Kategorien
staaten. Es gehört leider zur Realität Europas - der operieren und in bezug auf Ausländerkriminalität
Bundeskanzler hat das heute morgen in Bemerkun- diese nicht nur als eine Globalkategorie benennen,
gen zu Europol oder Schengen angesprochen —, daß sondern auch noch bestimmte ethnische Gruppen
unsere Bereitschaft zur Zusammenarbeit deutlich aus- nebulös irgendwo erwähnen.
geprägter ist, was vielleicht auch etwas mit unserer (Beifall des Abg. Joseph Fischer [Frankfurt]
zentralen Lage und den vielen offenen Landgrenzen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
zu tun hat, als die anderer europäischer Partner. So ist
dies eine noch keineswegs erfüllte, sondern eine Das erinnert mich durchaus an Argumentationsfi-
angegangene Aufgabe. guren, die wir vor fünfzig und vor sechzig Jahren
schon einmal hatten.
Es gibt Streit um Fragestellungen der europäischen
Sicherheitspolitik, den man nur mühsam nachvollzie- (Zurufe von der CDU/CSU: Pfui! — Ul rich
hen kann. Warum man, wenn man Europol will, über - Heinrich [F.D.P.]: Unglaublich! — Dr. Wolf
die Rechnungsprüfung von Europol zwischen zwölf gang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: So ein
Regierungen streiten muß, ist mir absolut unerfind- Unfug! — Weitere Zurufe)
lich. Ich lebe mit nahezu jedem Rechnungsprüfungs- Ich bin der Meinung, daß so etwas unterbleiben muß.
modell, das man sich da ausdenken kann. Aber ich Jeder, der sich mit Kriminologen und Kriminologin-
möchte gern, daß Europol schnell für die Drogenseite nen unterhält, weiß, daß solche Behauptungen unhalt-
und möglichst weitere Deliktbereiche in Gang gesetzt bar sind. Sie stiften inneren Unfrieden in dieser
wird. Republik
(Beifall bei der CDU/CSU)
(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/
Ich kann aber leider nicht darüber hinwegsehen, daß CSU]: Ein Unfug!)
andere Länder, mit denen wir auskommen wollen und
mit solchen Argumentationsfiguren.
müssen und ohne die wir in der Verbrechensbekämp-
fung gar nicht können, hier den Kernbereich ihrer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
nationalen Souveränität angetastet sehen — ob wir sowie bei Abgeordneten der SPD und der
das nun für richtig halten oder nicht — und deshalb PDS)
ein mühsamer Überzeugungsweg gegangen werden
muß.
Diese Komplexität der Aufgabe wollte ich Ihnen Vizepräsident Hans Klein: Frau Abgeordnete, Sie
vorstellen. In diesem Sinne werden sich Koalition und sind neu in diesem Parlament. Ich darf Ihnen sagen: Es
Bundesregierung an die Bewältigung dieser heraus- ist hier eine Tradition, Vergleiche der Art, wie Sie sie
ragenden, schwierigen und wichtigen Aufgabe der soeben gezogen haben, in der Argumentation mit dem
kommenden vier Jahre machen. politischen Gegner nicht zu ziehen.
Ich danke Ihnen. (Zuruf von der PDS: Das ist ja ein Witz! —
Weitere Zurufe)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Herr Bundesminister Kanther, wenn Sie wünschen,
haben Sie das Wort zu einer Replik.
Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wort zu (Bundesminister Manfred Kanther: Dazu fällt
einer Kurzintervention der Abgeordneten Dr. Köster- mir nicht viel ein!)
Loßack. — Danke.
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 125
Otto Schily
Wie wir mit Flüchtlingen und Asylsuchenden übersehen habe, daß Herr Kanther nicht mehr hier ist.
umgehen, ist ein Lern- und Bewährungsfeld Jetzt ist auch sein Stellvertreter nicht mehr da.
dafür, ob wir in der Lage sein werden, uns als (Zuruf von der SPD: Wo ist er denn?)
offene demokratische und soziale Gesellschaft
den dahinterliegenden, weit umfassenderen Her-
ausforderungen zur Überwindung der Flücht- Vizepräsident Hans Klein: Gestatten Sie eine kleine
lingsursachen zu stellen. Zwischenbemerkung, die das aufklärt?
Wie wahr! Nehmen Sie ernst, was in diesem Papier
steht, und handeln Sie danach! Das ist keine Sonn- Ott o Schily (SPD): Bitte sehr.
tagspredigt, das ist eine Aufforderung zum Handeln,
meine Damen und Herren aus den Koalitionsfraktio- Brigi tt e Baumeister (CDU/CSU): Der Innenmini-
nen. ster, Herr Kanther, hat sich ordnungsgemäß entschul-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ digt. Sein Staatssekretär ist hier. Herr Kanther mußte
DIE GRÜNEN) zu einer Veranstaltung und ist schon länger hierge-
Warum sträubt sich der Bundesinnenminister Kan- blieben als geplant. Insofern kann man ihm überhaupt
ther dagegen, 40 000 Vietnamesen, die seit Jahren, kein Versäumnis vorwerfen. Er ist unterwegs und geht
wenn nicht seit Jahrzehnten in Deutschland leben seiner Pflicht nach.
— wenn auch zunächst einmal im anderen Teil (Widerspruch bei der SPD)
Deutschlands —, auf geräuschlose und anständige
Weise in unsere Gesellschaft zu integrieren? O tt o Schily (SPD): Frau Kollegin Baumeister, ich
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten möchte nur auf folgendes hinweisen: Die Tatsache,
der PDS — Detlev von Larcher [SPD]: Wo ist daß wir so fahrlässig mit Parlamentsdebatten umge-
denn Herr Kanther geblieben?) hen, bedeutet auch eine Schwächung der Legitima-
Das wäre nicht nur eine richtige humanitäre Maß- tionsinstrumente für die Politik.
nahme, sondern übrigens auch — hören Sie gut zu! — (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
ein Gebot wirtschaftlicher Klugheit. Bekanntlich blok- GRÜNEN und der PDS)
kiert die starre Haltung des Bundesinnenministers die Wir sollten das Parlament sorgsamer behandeln.
deutsche Wirtschaft in der Anbahnung ihrer wirt-
schaftlichen Beziehungen zu Vietnam, die sehr viel- Legitimationsschwächen des Staates lassen sich im
versprechend sind. Eine Milliarde DM geht uns durch übrigen nur aufholen, wenn sich die Bürgerinnen und
die Bockbeinigkeit des Herrn Kanther auf diese Weise Bürger stärker als bisher an Entscheidungen und an
verloren. deren Vorbereitung beteiligen können. Sie haben sich
in der vergangenen Legislaturperiode nicht dazu
Wenn sich Herr Kanther als Mitglied der Bundesre- durchringen können, einen Volksentscheid auf Bun-
gierung derart schwerhörig gegenüber humanitären desebene in die Verfassung aufzunehmen.
Anliegen gebärdet wie etwa im Fall des 13jährigen
türkischen Jungen Muzafer Ucar, dann muß er sich im
übrigen nicht wundern, wenn in der Gesellschaft Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Schily, es
dieselben Verhaltensweisen und dieselbe Hartherzig- besteht ein weiterer Fragewunsch. Der Kollege Hirsch
keit in anderer und möglicherweise aggressiverer würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Form wiederkehren.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ O tt o Schily (SPD): Herr Kollege Hirsch, sehr
DIE GRÜNEN) gerne.
Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Schily, Dr. Burkhard Hirsch (F.D.P.): Herr Kollege Schily,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kuhl- ehe Sie sich einem anderen Thema zuwenden und
wein? weil der Bundesinnenminister mir vorhin die Zwi-
schenfrage nicht gewährt hat: Empfinden Sie es nicht
ebenso wie ich als ein bißchen beschämend, daß zwar
O tt o Schily (SPD): Bitte schön. die überwiegende Mehrheit der Asylbewerber, die
sich heute in der Bundesrepublik melden, aus dem
Ecka rt Kuhlwein (SPD): Herr Kollege Schily, ist Gebiet des früheren Jugoslawien kommt, daß es aber
Ihnen aufgefallen, daß der Bundesinnenminister, mit Bund und Ländern bisher trotzdem nicht gelungen ist,
dem Sie sich jetzt zu Recht auseinandersetzen wollen, den im Asylkompromiß vereinbarten gesonderten
gar nicht mehr im Saal ist und daß er auch nicht Bürgerkriegsstatus für Flüchtlinge aus diesen Gebie-
hinterlassen hat, warum er den Saal verlassen ten herbeizuführen?
mußte? (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Ott o Schily (SPD): Es fällt manchmal nicht auf, wenn Wäre es nicht wichtig, daß auch die Länder, an deren
Herr Kanther nicht da ist. Das mag deshalb verzeihlich Regierungen die Sozialdemokraten beteiligt sind,
sein. Ich erinnere mich an ein Wort des Kollegen einen Schritt auf uns zu machen, um endlich eine
Fischer, gewandt an den Herrn Bundeskanzler, daß er finanzielle Einigung herbeizuführen?
nur den Bundeskanzler sehe und dahinter nicht sehr (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Herr Waigel
viel. Ich denke, das ist der Grund dafür, daß ich ist zu geizig!)
Deutscher Bundestag — 13. Wahlpe ri ode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 127
Dr. Burkhard Hirsch
Ich schäme mich, daß es uns nicht gelungen ist, diesen rung in seinem Leben vermittelt wird, werden wir
wichtigen Teil des Asylkompromisses zu verwirk- nach meiner Überzeugung nach neuen Formen der
lichen. Strafjustiz suchen müssen. Das gilt insbesondere für
(Beifall bei der F.D.P.) die Jugendgerichtsbarkeit. In der Anwendung des
Jugendstrafrechts und im Jugendstrafvollzug haben
wir in der Vergangenheit nach meiner Überzeugung
Otto Schily (SPD): Herr Kollege Hirsch, ich stimme schwerwiegende Fehler gemacht, deren Aufarbei-
Ihnen ausdrücklich zu, daß die Lösung solcher Fragen tung dringlich ist.
nun wirklich nicht an finanziellen Engherzigkeiten
scheitern darf. Ich möchte Ihnen ausdrücklich zustim- (Beifall bei der SPD)
men. Das setzt stärkere Verantwortung und mehr Phan-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD — Zuruf tasie voraus, als wir bisher investiert haben. Den nicht
von der CDU/CSU: Auf der Bundesratsbank immer einfach durchschaubaren Zusammenhang von
sitzt ja keiner mehr! — Weitere Zurufe) gesellschaftlicher Entwicklung und Aufkommen von
Kriminalität dürfen wir nicht aus dem Auge verlieren.
Sie haben sich in der vergangenen Legislatur-
Auch die besorgniserregende Ausbreitung der orga-
periode — wenn Sie erlauben, daß ich an meinen
nisierten Kriminalität ist in gewisser Weise das Resul-
Gedankengang anknüpfe; ich glaube, daß das auch
tat des Auseinanderbrechens des Wertegefüges unse-
den Kollegen Hirsch interessiert nicht dazu durch-
rer Gesellschaft und des Legitimationsverlustes des
ringen können, einen Volksentscheid auf Bundes-
Staates. Wenn bittere Armut, soziales Elend, Obdach-
ebene in die Verfassung aufzunehmen. Wer aber Staat
losigkeit eine Alltäglichkeit werden, die wir achsel-
und Demokratie festigen will, darf sich nicht scheuen,
zuckend hinnehmen, wird das nicht ohne Auswirkun-
das Volk unmittelbar an Sachentscheidungen zu
gen auf das allgemeine Rechtsempfinden der Men-
beteiligen. Daran werden wir Sie auch im Verlaufe
schen bleiben.
dieser Legislaturperiode im Blick auf die künftige
(Beifall bei der SPD)
Arbeit erinnern, solange Sie sich nicht zu einer besse-
ren Einsicht bequemen. Das gleiche gilt für ein ungerechtes, wirtschaftsfeind-
liches und innovationshemmendes Steuersystem.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Bei der Kriminalitätsbekämpfung, gerade was die
Ein Satz, meine Damen und Herren Kollegen, gilt organisierte Kriminalität angeht, sollten wir viel stär-
allgemein — vielleicht für einige Juristen eher über- ker darauf bedacht sein: Wie können wir die Gesell-
raschend: Alles Recht, das zwischen Menschen schaft gegen Kriminalität immunisieren? Das ist eine
besteht und entsteht, verdankt seine Geltung nicht in Aufgabe der Erziehung, der Selbsterziehung, der
erster Linie oder wohlmöglich sogar ausschließlich Kultur. Nach einem Be ri cht der Tageszeitung in dieser
den Zwangsmitteln, die zu seiner Durchsetzung ver- Woche hat Palermos oberster Ermittlungsrichter
hängt werden, sondern dem Einverständnis der Men- Caselli, der an vorderster Front gegen die Mafia
schen untereinander. Geht die Konsensfähigkeit ver- kämpft, erklärt, daß nicht die Staatsanwälte und die
loren, dann ist es um das Recht geschehen. Da hilft Polizei, sondern nur ein kultureller Wandel Erschei-
keine Polizei und kein Gerichtsvollzieher. nungen wie die Mafia besiegen kann.
Gewiß, der Staat darf nicht vor der Gewalt oder vor (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
dem Unrecht zurückweichen. Polizei und Justiz müs- Das kann nur heißen — und das sollten wir ernst
sen mit den notwendigen Instrumenten ausgerüstet nehmen —, daß wir die Maßlosigkeit überwinden und
sein, um ihren Aufgaben gerecht zu werden. Wie zu einer Kultur des Maßes gelangen müssen, in der
diese Instrumente auszusehen haben, darüber gibt es der Egoismus nicht das alleinherrschende Leitmotiv
bekanntermaßen erheblichen Streit. Dieser Streit unseres Wandeins bleibt.
kann nur sachgerecht entschieden werden, wenn in
aller Ruhe und ohne Hektik nationale und internatio- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
nale Erfahrungen bei der Bekämpfung der Kriminali- DIE GRÜNEN)
tät geprüft werden. Die Empfehlung von Heribert Selbstverständlich bedeutet das nicht den Verzicht
Prantl, die Effizienz der letzten gesetzgeberischen auf entschiedenes Vorgehen von Justiz und Polizei.
Neuerungen zu untersuchen, bevor neue ergriffen Durch gutes Zureden lassen sich weder gewalttätige
werden, sollten wir beherzigen. Keinesfalls kann der extremistische Jugendliche noch international organi-
Kampf gegen das Verbrechen dadurch gewonnen sierte Banden von Gewalttaten und sonstigen Verbre-
werden, daß wir bewährte rechtsstaatliche Grund- chen abhalten. Aber es sollte uns schon zu denken
sätze aufgeben. Das gilt in jeder Blickrichtung. geben, daß sich jugendliche Gewalttäter vor allem
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dort zusammenrotten, wo die kulturelle Verarmung
der F.D.P.) am weitesten vorangeschritten ist.
Wir werden uns aber auf die Frage einlassen müs- Wenn heute in einer großen Tageszeitung geschil-
sen, ob die Ausgestaltung der Strafgerichtsbarkeit in dert wird, daß Eltern in den USA gegenüber ihren
den überkommenen Formen Kriminalität so zu begeg- Kindern in der Regel mit Zeit und Raum knausern,
nen weiß, daß daraus so etwas wie ein gesellschaftli- dann trifft diese Kritik auch uns, wenn wir unseren
cher Heilungsprozeß entstehen kann. Wenn wir das Kindern und Jugendlichen nicht genügend Raum und
Wort „richten" in seinem Wortsinn so verstehen, daß Zeit für ihre Entfaltung bieten und sie statt dessen der
dem abirrenden Menschen die Einsicht in seine geistigen Verödung und Verrohung überlassen. Dies
Schuld und die Notwendigkeit einer Richtungsände- betrifft nicht zuletzt das, was wir hier diskutiert haben:
128 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994
Otto Schily
daß in den elektronischen Medien Abend für Abend die Grundzüge der Reform des öffentlichen Dienst-
Bilder über die Mattscheibe ausgestrahlt werden, die rechtes wird eine Verständigung über die Verfahrens-
sich als Nachbilder in die Tiefen des Bewußtseins von weise bei dessen Verwirklichung keine allzu großen
Kindern absenken. Die Gefahren einer solchen Ent- Schwierigkeiten bereiten. Ein reformiertes öffentli-
wicklung sollten wir nicht unterschätzen. ches Dienstrecht wird die Effizienz staatlichen Han-
delns steigern, seine Plausibilität erhöhen und die
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Eigenverantwortung der einzelnen Menschen stär-
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der ken.
PDS)
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich mit
Kriminalitätsbekämpfung es scheint so, als würden
—
folgenden Worten schließen: Viele setzen in dieser
wir uns in diesem Punkt sogar ein wenig treffen; aber unsteten, risikoreichen und gefährdeten Welt auf die
dies ist, so denke ich, in der Tat nur scheinbar der Restauration überkommener Wertvorstellungen. Das
Fa ll — ist daher auch und vielleicht zuallererst eine ist eine Illusion. Die Werte werden von den Menschen
Erziehungsaufgabe. nicht mehr von außen angenommen, sie werden nicht
Wenn wir die Legitimationskraft des Staates und mehr von außen oktroyiert werden können. Unsere
seiner Institutionen stärken wollen — lassen Sie mich, Hoffnung ruht auf dem Menschen selbst, auf dem
meine Damen und Herren, auch auf diesen Punkt Menschen, der zu sich „ich" sagt und darin seine
noch eingehen —, müssen wir ein weiteres großes Würde und Verantwortlichkeit erkennt. Nirgendwo
Reformvorhaben auf die Tagesordnung dieser Legis- anders wird mit dem Beginn des nächsten Jahrhun-
laturperiode setzen: die Neuordnung des öffentlichen derts und Jahrtausends eine Verankerung des inneren
Dienstes. Zusammen mit den Ländern und Kommu- und äußeren Friedens möglich sein.
nen wird der Bund die Aufgabenstellung des öffentli- Ich sage es mit den Worten von Paolo Flores
chen Dienstes auf der Grundlage folgender Fragestel- d'Arcais — ich zitiere —:
lungen überdenken müssen: Erstens. Welche Aufga- Das Bewußtsein der endlichen Existenz enthält
ben nehmen der Staat und die Kommunen wahr? Die die Aufgabe, darin so etwas wie einen fragilen
Überfrachtung des Staates einerseits und die übermä- provisorischen Sinn zu finden, durch die mit allen
ßige Ausdehnung des Staatsapparates andererseits ist geteilte Erfahrung der ernstgenommenen Demo-
eine Fehlentwicklung, die als solche von allen Seiten kratie.
erkannt wird. Vielleicht empfiehlt es sich, wieder an Das ist eine Botschaft auch an dieses Parlament.
Überlegungen anzuknüpfen, die Wilhelm von Hum-
boldt in seiner Schrift „Ideen zu einem Versuch, die Vielen Dank.
Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen" (Anhaltender Beifall bei der SPD und dem
zu Papier gebracht hat. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN — Beifall bei
Abgeordneten der PDS)
Die zweite Frage, mit der wir uns auseinandersetzen
müssen: Wie nimmt der Staat seine neu zu bestimmen-
Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Struck
den Aufgaben wahr, in öffentlich-rechtlicher Verant-
wortung, durch Umstellung der Behördenstruktur auf wünscht das Wort zur Geschäftsordnung. Bitte, Herr
privatrechtliche Organisationsabläufe oder in öffent- Kollege Struck.
lich-rechtlicher Verantwortung durch Delegation an
privatrechtliche Organisationen? Diese Alternativen Dr. Peter Struck (SPD): Herr Präsident! Meine
werden vernünftig und in objektiver Form zu disku- Damen und Herren! Da ich es für einen sehr eigenar-
tieren sein. tigen Vorgang halte, daß der Bundesinnenminister
hier eine Rede abläßt und sich dann auf Wahlkampf-
Die dritte Frage: Wer wird diese Aufgaben wahrzu- reise oder sonstwohin begibt
nehmen haben? Soll der Beamtenstatus geändert
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
werden, auf hoheitliche Tätigkeiten in engerem Sinne
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
beschränkt werden, und sollen für die übrigen Aufga-
PDS)
benbereiche dann Angestellte und Arbeiter nach den
Maßstäben des allgemeinen Tarifrechts tätig sein? und es nicht nötig hat, in der parlamentarischen
Eine solche Übung wäre allerdings dann für die Katz, Auseinandersetzung die Argumentation der Opposi-
wenn es dabei bleibt, daß solche Tarifverträge ent- tion anzuhören, beantrage ich bis zum Wiedereintref-
sprechend der derzeitigen Sachlage inhaltliche Paral- fen des Bundesinnenministers eine Unterbrechung
lelen zum Beamtenrecht haben. Dann würde die der Sitzung.
Sache nur weitaus teurer, wie sich auch aus einer (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
jüngst veröffentlichten Studie des baden-württember- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
gischen Finanzministeriums ergibt. PDS)
Wir fordern die Bundesregierung auf, zur Reform
des öffentlichen Dienstrechtes ein schlüssiges Ge- Vizepräsident Hans Klein: Herr Bundesminister
samtkonzept vorzulegen. Angesichts der Tatsache, Bohl.
daß genügend Materialien vorliegen, müßte es der
Bundesregierung selbst bei schleppender Arbeits- Friedrich Bohl, Bundesminister für besondere Auf-
weise möglich sein, ein solches Konzept binnen eines gaben und Chef des Bundeskanzleramtes: Herr Präsi-
halben Jahres zu erarbeiten. Zu einer konstruktiven dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich
Mitwirkung an einem solchen Reformvorhaben sind glaube, es ist in diesem Hause schon häufiger der Fall
wir bereit. Bei einer grundsätzlichen Einigung über gewesen, daß Abgeordnete der Opposition, aber auch
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 129
Teufelskreis von Sucht und Kriminalität zu durchbre- nisterin der Justiz: Herr Präsident! Meine sehr verehr-
chen, drehen Sie weiter an der Schraube des Drogen- ten Damen und Herren Kollegen! Frau Müller, Herr
elends. In der Tat muß man höchste Besorgnis haben, Volmer, Ihre Arroganz den Wählerinnen und Wählern
was die Entwicklung im Drogenbereich anbelangt. gegenüber ist ja sehr bezeichnend.
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der
Auch wir wollen nicht mehr Abhängige. Auch wir
wollen, daß weniger Süchtige Autos oder Wohnungen - CDU/CSU)
aufbrechen oder zur Prostitution gezwungen werden. Stimmen, die ganz bewußt auf Grund einer Koalitions-
Aber das geht nur, wenn Sie endlich anfangen, Lehren aussage, die ganz selbstverständlich war — vielleicht
aus dem gescheiterten Konzept des Drogenkriegs zu machen Sie ja in vier Jahren auch einmal eine ganz
ziehen. Wir brauchen eine Abrüstung im Drogen- bestimmte Koalitionsaussage ,
krieg. Wir wollen eine grundlegende Wende in der (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
Drogenpolitik. Die Parole vor allem an die Konsumen- DIE GRÜNEN]: Das nächste Mal wählen Sie
ten muß heißen: Die Waffen nieder! Die Antwort auf uns, Frau Leutheusser-Schnarrenberger! In
Krankheit und Sucht darf nicht länger das Strafrecht vier Jahren wählen Sie uns!)
sein.
abgegeben worden sind, sind keine Leihstimmen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Außerdem besitzt man die Stimmen von Wählerinnen
sowie bei Abgeordneten der SPD und der und Wählern nicht, sondern man muß versuchen, sie
PDS) durch die eigene Politik bei den nächsten Wahlen zu
gewinnen.
Die Bundesregierung muß auch den Mut finden, die (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)
rechtlichen Ungereimtheiten zu beseitigen, die durch
Dazu muß man in einen Wettbewerb eintreten. Genau
den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts gege-
das werden wir tun.
ben sind. Nun ist zwar der Besitz kleiner Mengen Hanf
de facto straflos, aber nicht der entsprechende Erwerb (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der
durch den Konsumenten. Stellen Sie sich das einmal CDU/CSU — Joseph Fischer [Frankfurt]
übertragen auf einen anderen, einen legalen Suchtbe- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sollten
reich vor: Der Besitz einer Flasche Schnaps wäre das gemeinsam tun!)
straffrei; wenn der Trinker aber den Schnaps kaufen — Ich glaube nicht, daß wir allzuviel Gemeinsamkei-
wollte, läge eine Straftat vor. Das ist doch absurd. ten haben und das deshalb gemeinsam tun können,
Herr Fischer. Wir werden das deshalb tun, weil wir,
(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ und zwar die Liberalen, den organisierten Liberalis-
CSU]: Das ist doch Unfug, was Sie da erzäh- mus
len!)
(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Wer
— So ist das. ist das?)
132 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994
den Punkten, in denen sie konkret ist, nicht richtig nisterin der Justiz: Ja, bitte.
gelesen. Deshalb erlaube ich mir, hier auch ein
bißchen Nachhilfeunterricht zu geben.
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. — Uwe Frau Kollegin, wären Sie so freundlich, uns Abgeord-
Lühr [F.D.P.]: Das brauchen die!) neten mitzuteilen, auf wie viele der hunderttausend in
Denn die Koaltionsvereinbarung im Bereich der Deutschland geborenen Ausländer in jedem Jahr
Rechts- und Innenpolitik ist davon getragen, daß wir diese Regelung der Kinderstaatsbürgerschaft für die
den liberalen Rechtsstaat stärken, die Bürgerrechte dritte Generation, die ja sehr eingeschränkt ist, indem
verteidigen und auch die Sicherheit der Bürger ein Elternteil in Deutschland geboren sein muß und
gewährleisten wollen. Deshalb ist das Ausländer- und die Eltern sich mindestens zehn Jahre hier aufhalten,
Staatsangehörigkeitsrecht für uns ein ganz wesentli- zutreffen würde.
cher Bereich, weil wir durch konstruktive Politik keine
Ängste entstehen lassen wollen oder aber Ängste und Sabine Leutheusser Schnarrenberger, Bundesmi-
-
Befürchtungen, die entstanden sind, abbauen wol- nisterin der Justiz: Zunächst einmal darf ich auf die
len. Frage antworten, daß Sie auch wissen, daß da ein sehr
Das geht dadurch, daß man konkrete Vorschläge dynamisches Element enthalten ist, weil wir sich
macht. Das, was hier von Frau Müller an die Adresse ständig entwickelnde und im Zweifel steigende Zah-
der Bundesregierung gefordert wird, steht schon in len haben werden.
der Koalitionsvereinbarung, nämlich eine umfas- (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
sende Reform des Staatsangehörigkeitsrechts. Da
Denn es ist keine Ist-Zustandsbeschreibung,
wird nicht geprüft, ob wir eine Reform vornehmen
wollen. Nein, es wird eine umfassende Reform des (Zuruf von der SPD: Nennen Sie doch einmal
Staatsangehörigkeitsrechts von seiten der Bundesre- eine Zahl!)
gierung vorgenommen, weil wir Ihnen, dem Parla- sondern es sind alle Kinder der dritten Generation.
ment, die Vorschläge vorlegen werden. (Beifall des Abg. Ulrich Irmer [F.D.P.])
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. — Anke Ich kann Ihnen die genaue Zahl nicht sagen. Sie ist
-
Fuchs [Köln] [SPD]: In welche Richtung?) fünfstellig. Selbstverständlich, da können Sie nachfra-
— Das steht genau auf Seite 41, zweiter Absatz, erste gen. Aber ich kann sie Ihnen nicht genau sagen, weil
Zeile. Da steht es ganz konkret. wir auch nicht zu allen diesen Punkten im einzelnen
die ganz konkreten Zahlen vorliegen haben.
(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Aber
mehr als eine Zeile ist das auch nicht!) Aber ich glaube, Herr Beck, es geht doch überhaupt
nicht um die absoluten Zahlen. Es geht um das, was
Natürlich gibt es sehr viele Einzelpunkte, über die dahintersteckt.
manche vielleicht unterschiedlicher Meinung sein
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
würden. Aber, worum es uns geht, ist — —
ten der CDU/CSU)
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Es geht nämlich darum, daß wir gesagt haben: Wir
DIE GRÜNEN]: Das wird mit der F.D.P. doch wollen für Kinder ausländischer Eltern der dritten
nichts!) Generation hier die Möglichkeit eröffnen, mit Geburt
— Das wird ganz hervorragend. Sie sollten weiter einen besseren Status als jetzt zu haben, und ihnen ab
zuhören, was wir noch alles machen wollen. dem 18. Lebensjahr die Umwandlung in die deutsche
Staatsangehörigkeit unter bestimmten Voraussetzun-
(Beifall des Abg. Dr. Hermann Otto Solms gen ermöglichen.
[F.D.P.])
(Detlev von Larcher [SPD]: Das haben wir ja
In diesen Zusammenhang gehört auch das hier so nun kapiert!)
geschmähte Institut der Kinderstaatszugehörigkeit.
Wenn wir bei diesem Punkt sauber debattieren,
Es ist neu, und von daher muß es nicht gleich von
dann müssen wir auch trennen: einmal zwischen dem
vornherein, ohne daß man sich vielleicht etwas näher
Jus soli, nämlich den Elementen des Territorialprin-
damit beschäftigt hat, mit einer polemischen und
zips, das wir mit der Kinderstaatszugehörigkeit in
pauschalen Kritik überzogen werden.
einem ersten Ansatzpunkt hier aufnehmen, in Ergän-
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der zung zum geltenden Abstammungsrecht und zum
CDU/CSU) anderen der doppelten Staatsangehörigkeit.
Wenn Sie sich die Eckpunkte — und die stehen zu (Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE
diesem Punkt in der Koalitionsvereinbarung auf GRÜNEN]: Sie wissen nicht, was Sie da
Seite 41 — ansehen, dann werden Sie sehen, daß hier reden! Es ist doch entsetzlich!)
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 133
nisterin der Justiz: Aus Ihrer Frage merke ich, daß es gelesen. Schauen Sie bitte einmal in das Koalitions-
Ihnen nicht ernsthaft um die Kinder geht, mit denen papier. Wir haben in der Koalitionsvereinbarung zu
wir uns hier beschäftigen. diesem Punkt — ich sage Ihnen auch offen, warum —
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) einen Prüfungsauftrag für Regelungen zur Steuerung
Von daher möchte ich eigentlich gerne fortfahren und und Begrenzung der Zuwanderung aufgenommen,
noch hinzufügen, was wir denn im Bereich der besse- weil es, glaube ich, kaum möglich ist, innerhalb
ren Integration von Menschen ausländischer Her- kürzester Zeit Kriterien für die Steuerung der Zuwan-
kunft in Deutschland weiter tun wollen. derung vorzulegen, die sowohl arbeitsmarktpoli-
Wir werden die Ermessensentscheidungen, die in tischen als auch humanitären Gesichtspunkten Rech-
vielen Bestimmungen in unserem Ausländergesetz nung tragen.
enthalten sind, in Rechtsansprüche, soweit es geht,
(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Burkhard
verändern. Das heißt eine ganz erhebliche Besserstel-
Hirsch)
lung. Wir werden die Einbürgerung erleichtern,
indem wir die Fristen des Aufenthaltes von derzeit Das ist schwierig. Wir müssen uns über folgendes
15 Jahren verkürzen. Das wird weniger sein, das unterhalten: Wie ist es mit denjenigen, die einen
werden möglicherweise zehn Jahre sein, vielleicht ist Rechtsanspruch haben, sich hier aufhalten zu können?
es auch eine andere Zahl, etwa acht. Aber darüber Wie bringen wir dies beides zusammen?
wird man sich verständigen. Das ist ja nicht der
entscheidende Streitpunkt. Wir ich sage: die Liberalen — wollen das, aber wir
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ können Ihnen auch nicht sofort ein fertiges Konzept
DIE GRÜNEN]: Sieht das die CDU auch auf den Tisch legen.
so?)
(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das
Es geht doch um das Gesamtkonzept, mit dem wir wußten wir schon länger!)
hier nämlich an vielen Punkten ansetzen und tatsäch-
lich etwas zur Verbesserung der Integration — nicht Deshalb werden wir uns dafür einsetzen, daß wir uns
zur Assimilation — der Menschen, die sich hier in gerade mit diesen Fragen mit Hilfe von Experten
Deutschland auch integriert fühlen und hier leben beschäftigen — vielleicht auch unter Berücksichti-
wollen, tun. Von daher halte ich es wirklich für sehr gung dessen, was wir in anderen Ländern sehen, die
polemisch, diesen Vorschlag hier in Bausch und ganz andere Bedingungen haben —, die dann auch
Bogen abzutun. Sagen Sie ehrlich, Sie hätten sich Vorschläge machen, die in eine Regelung zur Steue-
134 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesmi- Das werden wir im Rahmen der gesetzlichen Rege-
nisterin der Justiz: Ja. lung, die wir schaffen wollen, erörtern. Aber das zeigt
doch, wie wichtig gerade uns diese Fragen insgesamt
sind und daß es nicht angebracht ist, hier so pauschal
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Bitte, Herr Kol- in Bausch und Bogen etwas abzulehnen, was wirklich
lege. diese Kritik in der Form bei weitem nicht verdient
hat.
Ulrich Irmer (F.D.P.): Frau Bundesministerin, bin ich Aber ich möchte gern — und das ist bei der Debatte
richtig informiert, daß die Türkei, die ja ein starkes der Innen- und Rechtspolitik notwendig — auch zum
Interesse daran hat, daß hier lebende Türken bei uns Bereich der Kriminalitätsbekämpfung und der inne-
eingebürgert werden können, durch Änderung ihrer ren Sicherheit etwas sagen. Dazu möchte ich zwei
eigenen Gesetzgebung selbst Erhebliches dazu bei- Aussagen machen.
tragen könnte, daß den Türken dieser Schritt z. B.
dadurch erleichtert wird, daß die Türkei in ihrem Die erste ist, daß in der Koalitionsvereinbarung
Erbrecht oder in ihrem Grund- und Bodenrecht Ände- entscheidend ist, daß wir die verabschiedeten Gesetze
rungen vornimmt, so daß Türken, die sich hier einbür- und die, die am 1. Dezember in Kraft treten werden,
gern lassen, dann keine Nachteile mehr erleiden, nämlich das Verbrechensbekämpfungsgesetz, das wir
wenn sie ihre eigene angestammte türkische Staats- ja in einem gemeinsamen Kompromiß zustande
angehörigkeit aufgeben? gebracht haben, sich erst einmal bewähren lassen
wollen. Wir wollen Erfahrungen mit den Änderungen
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
sammeln, und es sind ja weitgehende Änderungen,
die wir dort im Bereich der Bekämpfung der Krimina-
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesmi- lität, der organisierten Kriminalität wie auch der
nisterin der Justiz: Wir beschäftigen uns mit der Massenkriminalität der Eigentumsdelikte, vorgenom-
erweiterten Hinnahme der doppelten Staatsangehö- men haben. Letzteres ist ja gerade der Deliktsbereich,
rigkeit, gerade weil es besonders in der Türkei bisher der insbesondere zu Ängsten und Befürchtungen der
ganz, ganz schwierig ist, die türkische Staatsangehö- Bevölkerung führt.
rigkeit aufzugeben, bzw. weil in manchen Fällen
solche Nachteile erlitten werden, daß es wirklich nicht Rechtspolitik und Kriminalitätsbekämpfung heißt
zumutbar ist, daß sie aufgegeben wird. Die Türkei auf der einen Seite natürlich wie wir das kennen —:
selbst könnte natürlich ganz entscheidend durch Immer prüfen, ob wir andere Gesetze brauchen, ob wir
Änderung ihrer Bestimmungen dazu beitragen, mehr Gesetze brauchen, ob wir Lücken schließen
müssen. Aber allein die gesetzgeberische Aufrüstung
(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) ist nicht Ziel von Kriminalitätsbekämpfung, sondern
den Menschen, die in Deutschland leben, die Ent- dazu gehört gerade eine moderne Politik der Ursa-
scheidung zu erleichtern. chenbekämpfung, die wirksame internationale Zu-
(Detlev von Larcher [SPD]: Es ist für die sammenarbeit und ein funktionierender Vollzug der
F.D.P. auch leichter, wenn die Türken das beschlossenen Gesetze.
ändern!) (Beifall bei der F.D.P.)
Das wäre ein ganz wesentlicher Schritt in die richtige
Richtung. Aber solange das nicht der Fall ist, ver- Dieser Punkt ist schon von einigen Rednern heute
suchen wir wirklich, mit unseren Möglichkeiten hier angesprochen worden. Denn wenn wir Defizite
eindeutig Verbesserungen zu bekommen. haben, dann beim Vollzug der bestehenden Gesetze,
nicht in erster Linie bei den Eingriffsbefugnissen und
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeord-
Eingriffsmöglichkeiten, die man dem Staat geben
neten der CDU/CSU)
möchte.
Im Zusammenhang mit der Ausländer- und Staats-
angehörigkeitspolitik spielt die Ausländerbeauf- Aber Kriminalitätsbekämpfung kann auch nicht
tragte eine ganz entscheidende Rolle; heißen, daß jedes Mittel nur deswegen gewählt wer-
den könnte, weil es möglicherweise nützlich ist. Denn
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
genau wie die innere Sicherheit und der Erhalt der
DIE GRÜNEN]: Leider nicht!)
inneren Sicherheit wichtig ist, müssen die Bürger-
denn sie ist ja das Sprachrohr derjenigen, die mit zu und Freiheitsrechte beachtet werden und muß ihnen
den Schwächeren in Deutschland gehören. vor allen Dingen das nötige Gewicht beigemessen
(Beifall der Abg. Anke Fuchs [Köln] [SPD]) werden.
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 135
(Margot von Renesse [SPD]: Warum wohl?) (Beifall bei der F.D.P.)
— Das kann ich Ihnen sagen: weil gerade im Rechts- Damit wir einen funktionsfähigen öffentlichen
ausschuß als dem federführenden Ausschuß die wich- Dienst haben, den wir alle brauchen und der Ver-
tigen Fragen für die neuen Bundesländer beim trauen verdient, müssen wir dort natürlich auch die
Bodenrecht, bei den Vermögensfragen oder bei den Leistungsanreize verbessern. Es müssen gute Aus-
Eigentumsfragen rechtliche Sicherheit zu schaffen sichten bestehen, berufliche Karriere machen zu kön-
die Zeit in Anspruch genommen hat. Es gab sogar nen; aber das darf keine Automatik sein. Es darf mit
nächtelange Sondersitzungen. Deshalb war es leider dem Eintritt in den Staatsdienst nicht sicher sein, wie
nicht mehr möglich, diese Gesetze im Rechtsausschuß die Karriere in 15 Jahren verlaufen sein wird.
abschließend zu beraten. Das meinen wir, wenn wir in die Koalitionsverein-
Das heißt aber, daß wir in dieser Legislaturperiode barung die Stärkung der Attraktivität und die Verbes-
diese Gesetze wie auch die wichtigen Regelungen serung der Mobilität aufgenommen haben. Wir wer-
zum Sorgerecht und zum Unterhaltsrecht einbringen den uns auch mit einigen Entwicklungen beschäftigen
und beraten werden. Die Vorarbeiten sind geleistet. müssen, die immer wieder als feste Größe behandelt
Die Überlegungen und Vorstellungen, die unter Hin- werden, nämlich mit der Frage: Wie ist jemand
zuziehung von Fachleuten entwickelt worden sind, flexibler an einem anderen Ort, vielleicht auch bei
sind schon sehr weit fortgeschritten. Ich bin sehr einem anderen Dienstherrn einsetzbar? Davor werden
zuversichtlich, daß wir hier bald in die parlamentari- wir nicht haltmachen. Das wird auch bei den Beratun-
schen Beratungen und Auseinandersetzungen gehen gen zum öffentlichen Dienstrecht und zur Reform des
und dann wirklich in dieser Legislaturperiode die öffentlichen Dienstrechts insgesamt ein wesentlicher
große Chance haben, rechtliche Regelungen aus Punkt sein.
einem Guß zu verabschieden. (Zuruf von der SPD: Da bin ich aber
Ich rechne damit und bitte darum, daß alle diejeni- gespannt!)
gen, die sich in der vergangenen Legislaturperiode zu Ja, das werden Sie dann, hoffe ich, etwas gründli-
Recht mit diesen Fragen beschäftigt haben, jetzt cher ausgearbeitet als das, was in der Koalitionsver-
konstruktiv mitarbeiten, damit wir auch bei diesen einbarung enthalten ist, vorfinden und in Ruhe disku-
wichtigen Punkten zu einem Abschluß der Gesetzge- tieren und bewerten können.
bung kommen können.
Meine Damen und Herren, wenn wir die Bereiche
Erlauben Sie mir noch ein Wort zu dem Begriff des Ausländerstaatsangehörigkeitsrecht, innere Sicher-
schlanken Staates, der in vielen Bereichen eine wich- heit, Kriminalitätsbekämpfung, Familienrecht, Stär-
tige Rolle spielt. Der schlanke Staat ist mehr als nur kung der Institutionen dieses Staates und ihrer Tätig-
Deregulierung, d. h. mehr als Aufhebung rechtlicher keiten, Verbesserung der Verfahrensabläufe sehen,
Vorschriften. dann wird deutlich, daß die Bewertung der Bundesre-
Ich kann Ihnen zu diesem Punkt nur sagen: Im gierung, man solle nicht in erster Linie nur auf mehr
Justizministerium werden wir auch mit Experten von und andere Gesetze setzen, richtig ist.
Deutscher Bundestag — 13. Wahlpe ri ode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 137
Bagatellisierung, ja Banalisierung einer solchen fun- Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Scholz,
damentalen Gefahr für Menschen, vor allem für jün- lassen Sie mich mit dem Satz beginnen, mit dem Sie
gere Menschen —, man müsse Drogen quasi legalisie- aufgehört haben, nämlich mit Ihrer Forderung nach
ren, wie das selbst bei Ihrem dummen Beispiel mit der Waffengleichheit zwischen Polizeibeamten und Kri-
Schnapsflasche zum Ausdruck kam, minellen. Ich finde, Sie sollten sich schon die Sprache,
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ in der Sie Ihre Forderungen vortragen, genauer über-
DIE GRÜNEN]: Was ist denn daran dumm? legen.
Das ist eine legale Droge, und zwar eine sehr (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
harte Droge!) DIE GRÜNEN)
der kann nicht erwarten, daß junge Menschen begrei- Ich habe den Eindruck, Herr Kollege Scholz: Uns
fen, vor welcher Gefahr sie stehen. Vor dieser Gefahr allen geht es um den inneren Frieden. Es besteht auch
sind junge Menschen zu schützen! Einigkeit darüber, daß wir genau überlegen müssen,
welche Rolle der Staat spielen und was in den näch-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — sten vier Jahren Ihre Politik zur Sicherung des inneren
Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Friedens sein muß. Nur, eines dürfen wir nicht
DIE GRÜNEN]: Sie mit Ihrer Politik betrei- machen: aus Hilflosigkeit, weil Sie keine vernünftigen
ben die Geschäfte derer, die an den Drogen Konzepte haben, in militärische Sprache und in fal-
verdienen!) sche Vergleiche abdriften.
Ich komme zu meinem sechsten Punkt, meine (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Damen und Herren. Wir haben natürlich die Justiz zu des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
stärken, und wir haben es der Justiz leichter zu PDS)
machen. Dies wiederum ist eine entscheidende Auf-
„Waffengleichheit" zwischen jenem, der den
gabe auch der Gesetzgebung. Wir haben aber auch
für die Polizei ganz Entscheidendes zu tun. Die Polizei Rechtsstaat verteidigt und den inneren Frieden ver-
tritt, und einem Kriminellen, der ihn angreift, darf es
ist zwar Ländersache, aber auch wir haben hier, so
nicht geben. Polizei und andere, die den inneren
glaube ich, einen wichtigen, einen zentralen Beitrag
zu leisten. Frieden verteidigen und vertreten, müssen mit unse-
rer Unterstützung die Möglichkeit haben, Rechtsbre-
Ich erinnere an das Wort, das Vertreter der Polizei cher und Kriminelle zu bekämpfen. Aber seien Sie so
gerade heute, häufig in anklagendem Tone, in den freundlich und hören Sie auf, von Waffengleichheit zu
140 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994
einen Italiener heiratet, der wird selbstverständlich Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach
Doppelstaatler, wie auch seine Kinder. Das stört diesem innen- und rechtspolitischen Schlagabtausch
überhaupt niemanden. möchte ich Sie noch einmal einladen zu einem Diskurs
zu wirtschafts- und finanzpolitischen Fragen.
Bei der Bekämpfung von Kriminalität hätte ich die
Bitte, Herr Kanther und Frau Leutheusser-Schnarren- (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
berger, daß Sie viel stärker als bisher auf Prävention DIE GRÜNEN]: Heilix Blechle!)
setzen. Ich glaube, da gibt es eine Menge guter — Für die Regie trage ich keine Verantwortung, Herr
Beispiele. Erst dann, wenn Prävention die Repression Kollege Fischer.
ergänzt, wird ein wirklicher Schuh daraus. Dann In der vergangenen Woche ist, wie wir alle wissen,
haben wir eine Chance, mit Kriminalität fertigzuwer- Helmut Kohl zum fünften Mal zum Bundeskanzler
den. gewählt worden.
Ich bin dankbar, daß Sie sagen, daß würden künftig (Beifall bei der CDU/CSU — Joseph Fischer
mehr Gewicht im internationalen Bereich auf Koope- [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
ration über die Grenzen legen. Halleluja, halleluja! Der Herr ist groß in
seiner Gnade!)
Ich darf jedoch noch einmal sagen — Sie sind seit
Das ist gut so. Es kann nicht oft genug gesagt werden,
zwölf Jahren an der Regierung —: Die Tatsache, daß
gerade auch nach dem Beitrag von Herrn Kollegen
Europol nicht weiter funktioniert, ist nicht unsere
Scharping heute vormittag: Die vergangenen zwölf
Schuld, sondern mit Ihre.
Jahre unter der Regierung Kohl waren zwölf gute
(Beifall bei der SPD) Jahre für Deutschland,
(Beifall bei der CDU/CSU — Joseph Fischer
Die Tatsache, daß heute ein Justizangestellter, ein [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Richter oder ein Polizist in Baden, wenn er mit seinen Aber Herr Repnik, für einen Ministranten
Kollegen im Elsaß nicht nur gelegentlich zusammen- sind Sie viel zu alt! Lassen Sie das Weih
arbeiten, sondern gemeinsam Verbrechensbekämp- - rauchfaß doch weg!)
fung betreiben will — ich meine jetzt nicht das
Problem der Nacheile —, einen irrsinnig langen Weg nicht zuletzt im Bereich der Finanz- und der Wirt-
der Bürokratie über Stuttgart, über Bonn, über Paris schaftspolitik.
und wieder zurück nach Straßburg gehen muß, behin- Meine sehr verehrten Damen und Herren von der
dert die Verbrechensbekämpfung über die Grenzen Opposition, auch wenn es weh tut: Ich will Ihnen die
hinweg. Wahrheit nicht ersparen. Die unter SPD-Kanzlerschaft
zerrütteten Staatsfinanzen wurden konsolidiert.
Daß wir z. B. im Waffenrecht oder daß wir bei den
Grundsätzen der Bioethikkonvention endlich Über- (Lachen und Widerspruch bei der SPD —
einstimmung und eine Anpassung der Grundsätze Rudolf Bindig [SPD]: Zwei Billionen Schul
brauchen, das ist eine schlichte Konsequenz aus der den!)
Internationalisierung, aus der internationalen Ver- Das bildete erst die Grundlage für den längsten
flechtung, die nicht nur die Wirtschaft, die Umwelt Aufschwung in der Geschichte der Bundesrepublik
oder die Friedenspolitik, sondern selbstverständlich Deutschland. —
auch die Bekämpfung des Verbrechens und damit die (Beifall bei der CDU/CSU)
Sicherung des inneren Friedens umfassen muß.
Herr Kollege Bindig, das kann doch überhaupt nicht
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch bestritten werden. Vielleicht darf ich hier zwei Zahlen
einmal sagen: Wir halten Ihr bisheriges Konzept zur nennen:
Sicherung des inneren Friedens für falsch. Sie selber (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
haben das auch dadurch, daß Sie ankündigt haben, DIE GRÜNEN]: Ein echter Historiker!)
Sie müßten Änderungen vornehmen, eingestanden. Das Finanzierungsdefizit der öffentlichen Hand belief
Wir werden darauf drängen, daß die Bewahrung des sich 1981 auf 76 Milliarden DM und machte damit
inneren Friedens durch die Veränderung der Wege 4,9 % des Bruttosozialproduktes aus.
sowohl im Bereich der Gesellschaftspolitik als auch im
Bereich der kriminalpolitischen Prävention wie auch (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
bei der Repression gewährleistet wird. Ich glaube, wir DIE GRÜNEN]: Und 1991?)
können dadurch unserem Land, den Bürgerinnen und Acht Jahre später, 1989, unter der Kanzlerschaft
Bürgern und ihrem Vertrauen in den Rechtsstaat Helmut Kohls, betrug das Finanzierungsdefizit der
einen guten Dienst erweisen. öffentlichen Hand 26,7 Milliarden DM, ein Anteil von
144 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994
Hans-Peter Repnik
lediglich noch 1,2 % am Bruttosozialprodukt. Dies, giert werden, so fallen sie jetzt besser aus als progno-
meine Damen und Herren, hat uns doch erst in die stiziert.
Lage versetzt, die großen Herausforderungen, die
durch die Wiedervereinigung und die weltweite (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
Rezession an uns gestellt wurden, zu meistern. DIE GRÜNEN]: Jetzt kommt das Christ
kind!)
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: So ein Käse!
—Abg. Jörg Tauss [SPD] meldet sich zu einer Diese Mehreinnahmen fließen — der Bundesfinanz-
Zwischenfrage) minister hat es heute bereits gesagt — voll in die
Senkung der Nettokreditaufnahme. Damit wird das
Vertrauen der internationalen Finanzmärkte und
Investoren in den Standort Deutschland erhöht.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege, Meine Damen und Herren, die steuerlichen Rah-
gestatten Sie eine Zwischenfrage? menbedingungen für Investitionen wurden in
Deutschland mit dem Standortsicherungsgesetz ent-
scheidend verbessert. Unsere fortgesetzte Politik der
Deregulierung und Privatisierung hat weitere Frei-
Hans-Peter Repnik (CDU/CSU): Ich würde gern räume für mehr wirtschaftliche Dynamik geschaffen.
hier im Zusammenhang vortragen, Herr Präsident. Der Aufschwung ist inzwischen doch für jedermann
Als Helmut Kohl am 1. Oktober 1982 Bundeskanzler sichtbar.
wurde, lag die Staatsquote bei 52 %. Seiner Regierung
(Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf der Abg.
ist es im Laufe der 80er Jahre gelungen, diese Zahl auf
Ingrid Matthäus-Maier [SPD])
rund 46 % zu senken.
— Verehrte Frau Kollegin Matthäus-Maier, Sie wissen
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
es doch besser, als es Ihr Zwischenruf belegt. — Wer es
DIE GRÜNEN]: Jubelt!)
immer noch nicht glaubt, werfe einen Blick in das in
Entscheidend in diesem Zusammenhang ist: Im Zuge der vergangenen Woche vorgelegte Jahresgutachten
dieses Aufschwungs ist es gelungen, innerhalb von des Sachverständigenrats zur gesamtwirtschaftlichen
zehn Jahren gut drei Millionen neue, zusätzliche Entwicklung. Dort heißt es — ich will nur wenige
Arbeitsplätze in Deutschland zu schaffen. Passagen zitieren — u. a. gleich zu Beginn:
(Beifall bei der CDU/CSU — Joseph Fischer Die wirtschaftliche Aktivität in Deutschl and hat
[Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: sich im Jahre 1994 in unerwartet starkem Maße
Das haben wir heute schon zigmal gehört! — belebt.
Gegenruf von der CDU/CSU: Das kann man
gar nicht oft genug hören!) „Unerwartet" möglicherweise für Sie. Ich kann nur
sagen: Der Bundeskanzler hat zu Beginn des Jahres
Meine Damen und Herren, weltweite Rezession und - exakt das prognostiziert.
deutsche Wiedervereinigung stellten die deutsche
Politik und die Gesellschaft als Ganzes dann jedoch in (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
der vergangenen Legislaturperiode vor große Heraus- DIE GRÜNEN]: L ang lebe der Bundes
forderungen. Wir sind sie beherzt angegangen, und kanzler!)
die gegen viel Kritik und Widerstand von seiten der — Ja, wir haben nun einmal einen guten Bundes-
SPD durchgesetzte Wirtschafts- und Finanzpolitik kanzler, und darum muß er auch gelobt werden, Herr
dieser Bundesregierung war und ist erfolgreich. Der
Kollege Fischer. —
konsequente Spar und Konsolidierungskurs schafft
-
Vertrauen auf seiten der Investoren und trägt (Beifall bei der CDU/CSU — Joseph Fischer
Früchte. [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ hat zuviel Weihrauch inhaliert!)
DIE GRÜNEN]: Aha!) Ursache dafür sind nach Ansicht der Sachverstän-
Nach der heute, Herr Kollege Fischer, vorgestellten digen — und auch hier lohnt sich ein Blick in das
Steuerschätzung ist der Haushalt 1994 voll abgesi- Gutachten, verehrte Kollegen von der SPD — eine
chert, und für 1995 werden etwa 3,5 Milliarden DM Expansion der Auslandsnachfrage und eine Exp an
Mehreinnahmen geschätzt. -sionderB nachfrge.
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn die SPD
DIE GRÜNEN]: Es weihnachtet!) ständig, wie immer wieder geschehen, nach einer
Stärkung der Konsumnachfrage verlangt, dann sei ihr
Das ganze Horrorszenarium, das noch kurz vor den das Sachverständigengutachten auch in diesem Punkt
Wahlen im September in der ersten Lesung des zur Lektüre empfohlen. Auf Seite 3 belegt das Gut-
Bundeshaushalts entwickelt wurde, ist in sich zusam- achten, daß unsere angebotsorientierte Politik greift.
mengebrochen, sechs Wochen nach den entsprechen- Die Expansion der Binnennachfrage beruht demnach
den Wortbeiträgen der SPD. vor allem auf der Wohnungsbaunachfrage und zuneh-
(Beifall bei der CDU/CSU) mend auf den Investitionsausgaben der Unterneh-
men. Statt einer Alimentierung von Konsumenten
Auch hier, meine sehr verehrten Damen und Herren, schaffen wir damit neue Arbeitsplätze.
ist doch die Trendwende deutlich spürbar. Mußten
früher die Steuerschätzungen meist nach unten korri (Beifall bei der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag — 13. Wahlpe riode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 145
Hans-Peter Repnik
Meine Damen und Herren, die Gesamtrechnung es jetzt verspüren, erstirbt dieser Reformwille. Genau
der Sachverständigen für Deutschland prognostiziert diesen Fehler dürfen wir in der Politik, darf die
ein Wachstum des Bruttoinlandsproduktes von 3,5 % Wirtschaft und darf jeder einzelne Bürger in der
im Jahr 1995. Auch hier sind wir auf dem richtigen derzeitigen Aufschwungphase nicht machen.
Weg. Das Gutachten führt darüber hinaus aus: Wir sollten die Reformbereitschaft dort, wo sie beim
Entscheidend ist, daß die Entwicklung stetig nach Bürger vorhanden ist, nutzen. Wir müssen sie nur
oben führt. abholen. Ich bin sicher, das wird uns gelingen.
Auch hier pflichte ich den Gutachtern bei. Unsere (Beifall bei der CDU/CSU — Joseph Fischer
Wirtschaftspo li tik ist kein Jahrmarkt von Novitäten. [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Sie ist solide und führt belegbar zum Ziel. Dank Helmut Kohl!)
Meine Damen und Herren, so klar, wie die Erfolge Infolge des Aufbaus Ost sowie der weltweiten
der vergangenen Jahre sichtbar sind, so eindeutig Rezession ist die Staatsquote auf ein auf Dauer nicht
sind aber auch die Herausforderungen dieser Legisla- vertretbares Maß angestiegen. Deshalb ist es zwin-
turperiode. Ein wesentliches Ziel lautet: Abbau der gend erforderlich, den Staatsanteil auf das Niveau von
Sockelarbeitslosigkeit. Wir alle wissen: Es gibt hier 1989 zu senken. Auch hier sage ich, meine verehrten
kein Patentrezept; es gibt hier nicht den Königs- Kolleginnen und Kollegen von der Opposition: Was
weg. uns in den 80er Jahren gelungen ist, wird uns auch in
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ der Mitte der 90er Jahre gelingen. Wir sind entschlos-
DIE GRÜNEN]: Aber es gibt Helmut Kohl! sen, auch das umzusetzen.
Seien Sie doch nicht so ohne Vertrauen! Es (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
gibt Helmut Kohl, das ist der Königsweg!) ordneten der F.D.P.)
— Herr Kollege Fischer, nehmen Sie doch bitte zur
Kenntnis, daß in den ersten zehn Jahren der Kanzler- Die Koalition wird den Anstieg der Staatsausgaben
schaft Helmut Kohls in Deutschland 3 Millionen deutlich unter der Zuwachsrate des Sozialproduktes
Arbeitsplätze netto neu geschaffen wurden. Dies ist halten, die Defizite zurückführen sowie die Steuer-
seine Bilanz. Genau an diese Erfolge der ersten zehn und Abgabenbelastung schrittweise senken.
Jahre Kohl wollen wir auch in Zukunft anknüpfen. Wir Die CDU/CSU-Fraktion wird dafür Sorge tragen,
haben es bewiesen, und wir werden es ein weiteres daß der von Theo Waigel eingeschlagene Weg der
Mal beweisen. — Haushaltskonsolidierung konsequent fortgesetzt
(Beifall bei der CDU/CSU — Joseph Fischer wird. Auch die Tatsache, daß der Aufschwung voll im
[Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gange ist, darf keineswegs zu der irrigen Annahme
Seien Sie doch nicht so kleinmütig!) führen, es sei nunmehr wieder an der Zeit, die
Spendierhosen anzuziehen.
Meine Damen und Herren, der Abbau wird nur durch
ein ganzes Bündel von Einzelmaßnahmen gelingen, - (Beifall bei der CDU/CSU)
wie es die CDU/CSU in der vergangenen Legislatur- Wir begleiten den Finanzminister und bestärken ihn
periode bereits auf den Weg gebracht hat. Es zeigt auf seinem Weg der Solidität und der Konsolidie-
Wirkung; das kann doch gar nicht bestritten wer- rung.
den.
Bei unserem Aktionsprogramm für mehr Wachstum (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
ordneten der F.D.P. — Joseph Fischer
und Beschäftigung haben wir die Mittelstandsförde-
[Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
rung in das Zentrum gestellt. Unter anderem wird das
Eigenkapitalhilfeprogramm zur Förderung selbstän- Das klingt aber wie eine Drohung!)
diger Existenzen auch in den alten Bundesländern Wesentlich, meine sehr verehrten Damen und Her-
wieder eingeführt. Gerade mittelständische Unter- ren von der SPD, ist, daß man von dem verhängnis-
nehmen, die Märkte für neue Produkte erobern wol- vollen Gedanken abkommt, mit Steuern alle Politik-
len, leiden oft unter besorgniserregender Eigenkapi- bereiche steuern zu wollen. Das Haushaltsmorato-
talknappheit. Diese Unternehmen sind, wie wir wis- rium muß und wird bis auf weiteres Bestand haben.
sen, am ehesten geeignet, neue Arbeitsplätze zu
schaffen. Deshalb wird ab 1. Januar 1995 die eigen- (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Das ist
kapitalschonende Ansparförderung im Rahmen des auch gut so!)
Standortsicherungsgesetzes wirksam. Das ist ein wei- Vorrang in der kommenden Legislaturperiode
terer wichtiger Schritt, andere werden ihm folgen. haben steuerpolitische Aufgaben. Vereinfachung des
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Steuerrechts: Auch hierzu hat der Finanzminister
DIE GRÜNEN]: Jetzt hat der schon zehn heute vormittag schon entsprechende Ausführungen
Minuten Helmut Kohl nicht mehr gelobt! Das gemacht. Sein Katalog ist in die Koalitionsverein-
ist verdächtig!) barung eingeflossen. Neue Vorschläge treten hinzu.
Wir werden diese Vorschläge gemeinsam umsetzen,
Ich möchte auf eine Gefahr aufmerksam machen, und wir laden die SPD ein, sich ihrer Verantwortung
die bereits schleichend vorhanden ist. Solange die im Bundesrat zu stellen und nicht in Obstruktion zu
Situation schwierig ist, sind Reformvorhaben in aller verfallen, sondern gemeinsam mit uns an dieses große
Regel für jedermann einsichtig, die Bereitschaft zur Reformwerk heranzugehen.
Umsetzung von Reformen ist da. Sobald sich aber der
Wind dreht und die Konjunktur wieder läuft, wie wir (Beifall bei der CDU/CSU)
146 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994
Hans-Peter Repnik
Sie können Ihre Bereitschaft dazu relativ schnell keine. Deshalb ist es wichtig, daß wir Chancengleich-
beweisen. Die Neuregelung des steuerlichen Exi- heit einräumen. Deshalb ist es wichtig, daß wir die
stenzminimums ist dringend geboten. Wir haben nicht Gewerbesteuer auch hier absenken oder abschaffen.
viel Zeit. Sie muß bis Ende 1995 im Bundesgesetzblatt Das ist die große Herausforderung, vor der wir uns im
stehen. Da Verwaltung, Steuerberatung und nicht Sinne des Mittelstandes gestellt sehen.
zuletzt Steuerzahler Zeit haben müssen, um sich auf Meine Damen und Herren, das Bemühen um die
die Änderungen vorzubereiten, sollten wir anstreben, Begrenzung der Kosten der Arbeit muß fortgesetzt
das Gesetzgebungsverfahren bis zur Sommerpause werden. Hier ist in erster Linie nicht der Staat gefragt.
abzuschließen. Auch hier möchte ich die SPD einla- Die Tarifparteien haben in den letzten Jahren eine
den, im Bundesrat konstruktiv mitzuarbeiten. Denken äußerst vernünftige Lohn- und Gehaltspolitik betrie-
wir an die davon Betroffenen. Wenn Sie beweisen ben. Wir möchten sie ermuntern, in dieser verantwor-
wollen, wie ernst es Ihnen mit der sozialen Ausgestal- tungsbewußten Politik fortzufahren.
tung unseres Steuersystems ist, dann bringen Sie sich
in das große Reformwerk mit ein. Eines muß uns klar sein: Für einen stetigen realen
Einkommenszuwachs ist auch in den kommenden
Eine zweite große Herausforderung ist die Fortset- Jahren kein Spielraum vorhanden. Ich finde, wir
zung der Reform der Unternehmensbesteuerung, sollten mit den Bürgern, mit den Arbeitnehmern auch
einhergehend mit der Gemeindefinanzreform, in der in dieser Frage ehrlich umgehen und ihnen nichts
die Gewerbesteuer — mit dem Ziel der Abschaf- vormachen.
fung — gesenkt werden soll. In einer ersten Stufe soll
zum 1. Januar 1996 die Gewerbekapitalsteuer abge- Meine Damen und Herren, die CDU/CSU-geführte
schafft und die Gewerbeertragsteuer mittelstands- Bundesregierung hat von Beginn an eine konse-
freundlich gesenkt werden. Der Fraktionsvorsitzende quente Privatisierungspolitik be trieben. Seit Ende
Wolfgang Schäuble hat hierzu beachtenswerte Vor- 1982 konnte die Anzahl der Kapitalbeteiligungen des
schläge in die Diskussion eingebracht. Bundes und seiner Sondervermögen von 958 auf
gegenwärtig unter 400 reduziert werden. Mit der Post-
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich und Bahnreform sowie mit den Fortschritten bei der
möchte eine Anmerkung zu dem machen, was Mini- Privatisierung der Lufthansa sind weitere wichtige
sterpräsident Lafontaine zu diesem Thema heute Privatisierungsziele erreicht worden. Der Aktien-
nachmittag gesagt hat. Mit gespieltem Populismus hat marktzugang der Telekom im Jahre 1996 wird ein
er versucht, einen Gegensatz zwischen den Lohn- weiterer Meilenstein unserer Privatisierungspolitik
nebenkosten und der Abschaffung der Gewerbe- sein.
steuer zu begründen. Diesen Gegensatz vermag ich
beim allerbesten Willen nicht zu erkennen. Bei der Privatisierung öffentlicher Unternehmen
und Aufgaben ist aber nicht nur der Bund gefordert.
(Beifall des Abg. Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/ Vor allem Länder, vor allem die Gemeinden verfügen
CSU]) über ein enormes Privatisierungspotential. Auch hier
Beides ist sinnvoll, und beides ist notwendig. Beides regen wir an, daß sie Beispiel nehmen an dem, was der
müssen wir anpacken. Wenn nach seinen Angaben Bund in den vergangenen Jahren gemacht hat.
auch vielleicht nur ein Drittel der Unternehmen (Beifall bei der CDU/CSU)
Gewerbesteuer zahlt, so sind gerade dies Betriebe,
denen wir Chancengleichheit einräumen müssen. Um die Privatisierung auch auf der Ebene der
Länder und der Gemeinden voranzubringen, wollen
(Zuruf des Abg. Rudolf Scharping [SPD]) wir durch das Haushaltsgrundsätzegesetz die in der
— Verehrter Herr Kollege Scharping, als ein Mann, Bundeshaushaltsordnung bereits normierte Pflicht zur
der über Jahre Verantwortung in einem Land getra- verstärkten Privatisierung verankert sehen. Wir wis-
gen hat, das ein Grenzland zu Frankreich ist, müßten sen, daß die SPD-Mehrheit im Bundesrat dieser wie
Sie ebensogut wie Ihr Kollege Lafontaine um die auch anderen notwendigen Regelungen ihre Zustim-
Schwierigkeiten gerade im Grenzbereich wissen. Ich mung verweigert hat.
spreche jetzt von diesem einen Drittel, das in aller (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Regel zur Gewerbesteuer herangezogen wird. Herr
Lafontaine hätte es doch eigentlich besser wissen Ich würde Sie bitten, Ihre Haltung noch einmal zu
müssen. überdenken. Denn auch hier wurde einmal mehr
deutlich: In alter Gewohnheit wird dort, wo Verant-
Um es einmal mit der Erfahrung aus meinem wortung getragen wird, von der SPD eine Lösung
eigenen Bundesland Baden-Württemberg aufzuzei- verhindert. Man kippt dann anschließend der Bundes-
gen. Der mittelständische Unternehmer — export- regierung die Probleme, die sich aus der Verhinde-
orientiert, Gewinn machend — in Offenburg verliert in rung ergeben, vor die Tür. Dieses Spiel werden wir
aller Regel gegenüber dem französischen Kollegen nicht mitmachen. Wir nehmen Sie auch hier in die
die Auseinandersetzung in Straßburg, weil der eben Verantwortung.
gerade keine Gewerbesteuer bezahlt. Und wenn ich
meinen eigenen Wahlkreis sehe: Der mittelständische (Beifall bei der CDU/CSU)
Unternehmer in Konstanz, der mit der Gewerbesteuer Meine sehr verehrten Damen und Herren, die
belastet wird, verliert in der Konkurrenz mit dem Belastung der Wirtschaft durch ausufernde Recht-
Unternehmen in Winterthur in der Schweiz — Herr sprechung und Bestimmungen muß zurückgeführt
Kollege Bindig, Sie können das doch nachvollzie- werden; insbesondere müssen bürokratische Hinder-
hen —, weil der Konstanzer Unternehmer Gewerbe- nisse für Investitionen und Innovationen abgebaut
steuer bezahlt, der Winterthurer Unternehmer eben werden.
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 147
Hans-Peter Repnik
Ich glaube, dieser kurze Abriß hat gezeigt: Wir Einzelhändler in den neuen Bundesländern. Ihnen
werden den Herausforderungen dieser neuen Legis- war durch den Einigungsvertrag ein Abwehrrecht
laturperiode nur dann begegnen können, wenn Haus- gegen Kündigungen von Mietverträgen bei Gewer-
halts-, Finanz- und Wirtschaftspolitik aufeinander beräumen an die Hand gegeben.
abgestimmt sind. Alles, was wir in der Finanz- und Kündigungen konnte widersprochen werden, wenn
Steuerpolitik und in der Wirtschaftspolitik in den sie erhebliche Gefährdungen der wirtschaftlichen
kommenden Monaten und Jahren entscheiden, muß Lebensgrundlage zur Folge hatten. Der Vermieter war
sich weiterhin an der zentralen Aufgabe orientieren, sinnvollerweise bei Kündigungen im Zusammenhang
den Wirtschaftsstandort Deutschland konkurrenzfä- mit Mieterhöhungen an die ortsübliche Miete bei
hig zu halten. Die strikte Fortsetzung der Konsolidie- vergleichbaren Gewerberäumen gebunden.
rungspolitik ist zwingende Voraussetzung für die
Schaffung notwendiger Spielräume für Steuersen- Die Situation der Einzelhändler und der Gewerbe-
kungen. treibenden hat sich bis heute nicht grundlegend
gemildert. Eine allgemeine Kapitalschwäche kenn-
Verehrte Frau Kollegin Däubler-Gmelin, ich stimme
zeichnet die Situation, wobei das Verhältnis zwischen
den Ausführungen, die Sie ganz zum Schluß gemacht
Umsatz und Kosten bei den Gewerbemieten wesent-
haben, zu. Innerer Friede braucht sozialen Frieden.
lich ungünstiger als im Westen ist.
Innerer Friede ist nur dann möglich, wenn wir auch
sozialen Frieden haben. Aber deshalb ist doch gerade Die Politik der Bundesregierung, die durch den
wichtig, wenn wir — — sogenannten Solidaritätszuschlag abermals die Kauf-
kraft der Bevölkerung und damit die Umsätze der
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege, Mittelständler mindert, wird diese Situation erneut
Sie müssen zum Schluß kommen. Ihre Redezeit ist verschärfen.
abgelaufen. (Beifall bei der SPD — Dr. Kurt Faltlhauser
[CDU/CSU]: Aber ihr habt doch zuge
Hans Peter Repnik (CDU/CSU): Noch eine halbe
-
stimmt!)
Minute, Herr Präsident, wenn es gestattet ist. Nur
noch zwei Sätze. Gleichzeitig jedoch läuft dieses Abwehrrecht gegen
existenzgefährdende Kündigungen am 31. Dezember
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ dieses Jahres aus, und die Bundesregierung sieht
DIE GRÜNEN]: Helmut Kohl danken!) tatenlos zu.
Nur wenn wir im Wettbewerb um produktive
Hier werden Tausende von Änderungskündigun-
Arbeitsplätze international auch in Zukunft mithalten,
gen ins Haus stehen und gerade in den City-Lagen der
lassen sich auch soziale Leistungen, lassen sich Fami-
ostdeutschen Städte zu Konkursen bei Einzelhändlern
lienpolitik, Ausbildung und Infrastruktur überhaupt
und Gewerbetreibenden führen. Hier zu handeln
finanzieren. Nur ein wirtschaftlich starker Staat ist
wäre Aufgabe der Bundesregierung gewesen. Zu
auch ein sozial starker Staat. Hierzu, an diesem sozial
- diesem existentiellen Problem haben Sie jedoch
und wirtschaftlich starken Staat mitzuwirken, möchte
heute, wie in den letzten vier Wochen, geschwiegen,
ich auch die Opposition herzlich einladen.
meine Herren.
(Beifall bei der CDU/CSU)
(Beifall bei der SPD)
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat der Zweitens. Wie soll es in dieser Legislaturperiode bei
Abgeordnete Rolf Schwanitz. der Gesetzgebung im Zusammenhang mit den offe-
nen Vermögensfragen weitergehen? Es kann doch
Rolf Schwanitz (SPD): Herr Präsident! Meine sehr nicht ernsthaft die Meinung der Bundesregierung
verehrten Damen und Herren! Die Koalitionsverein- sein, daß dies nicht auch künftig ein Schwerpunkt der
barung liegt auf dem Tisch, und wir haben heute Rechtspolitik für Ostdeutschland sein wird. Zu hören
bereits mehrere Stunden lang der Bundesregierung war darüber bis heute nichts. Dabei ist der Handlungs-
über ihre politischen Ziele in dieser Legislaturperiode druck äußerst groß. Die Rechtsprechung in Zivilsa-
gelauscht. chen — übrigens auch beim Bundesgerichtshof —
Wer dabei jedoch gehofft hatte, etwas Substantiel- führt in zunehmendem Maße zur Umgehung und
les über Lösungsansätze zu dringenden Fragen in den Aushöhlung des Vermögensgesetzes.
neuen Bundesländern zu erfahren, wurde wieder Seit 1990 haben wir in diesem Hause darüber
einmal bitter enttäuscht. Ganze Problemfelder, die gestritten, wie beim Grundsatz Rückgabe vor Ent-
den Bundestag in den letzten vier Jahren auf das schädigung die Interessen der lauteren Erwerber
intensivste beschäftigt haben, z. B. auf rechtspoliti- gewahrt werden und sie vor Restitution geschützt
schem Gebiet in Ostdeutschland, sind für die Koalition werden können. Dabei war immer unstrittig, daß
offensichtlich völlig verschwunden. redlicher Erwerb von Eigentum durch den heutigen
(Beifall bei der SPD) Nutzer den Restitutionsanspruch des Alteigentümers
Dort, wo Zweckoptimismus und taktisches Kalkül abwehrt.
Rede- und Handlungsblockaden verursachen, hat Nunmehr lassen Alteigentümer auf dem Zivil-
Opposition dafür zu sorgen, daß der Blick wieder auf rechtsweg feststellen, ob der Eigentumserwerb in der
die Realitäten gelenkt wird. Dazu in aller Kürze vier damaligen Zeit überhaupt rechtswirksam zustande
Denkanstöße: gekommen ist. Wird dies durch die Gerichte verneint,
Erstens. Da ist z. B. die Situation der mittelständi- war der Erwerb mit Mängeln behaftet und rechtlich
schen Unternehmen, der Gewerbetreibenden und der unwirksam, so spielt die Redlichkeit des Erwerbers
148 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994
Rolf Schwanitz
überhaupt keine Rolle mehr. Die Schutzmechanismen bedurft, bis diese Gesetzgebung wenigstens in den
des Vermögensgesetzes greifen nicht. Grundpfeilern hervorkam.
Das kann vielleicht noch akzeptiert werden, soweit Während noch immer Tausende ehemaliger Häft-
es sich um Rechtsgeschäfte zwischen Bürgern han- linge vergeblich auf die Bearbeitung ihrer Anträge bei
delte. Denn auch der DDR-Bürger hatte sich zu der Berliner Stiftung warten, klagen nunmehr Opfer
vergewissern, ob in seinen privaten Rechtsgeschäften gegen dieses zweifelsfrei unzureichende Regelungs-
alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Trat jedoch werk in Karlsruhe.
der Staat zwischen den Alteigentümer und den heu- Die Bundesjustizministerin meint jedoch statt des-
tigen Nutzer, erwarb der DDR-Bürger das Haus aus sen gestern, sie sehe keine ernsthaften Schwierigkei-
Volkseigentum, so war das Leben bunt und die ten oder Defizite bei den Leistungen für SED-Opfer.
Rechtspraxis für den Käufer in den seltensten Fällen Der Bundeskanzler hat heute morgen ausgeführt, daß
zu überschauen. die Opfer mit ihren Rechten nicht hinter den Rechten
Solche Rechtsgeschäfte heute nach den Grundsät- der Täter zurückstehen dürfen. Wann gilt das endlich
zen des Rechtsstaates auf Mängel zu untersuchen auch für die Opfer des SED-Regimes?
stellt die frühere Situation auf den Kopf. Das DDR- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Recht muß im Lichte der damaligen politischen Ver- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
hältnisse bewertet werden. Dabei gehörte es zum
Ich fasse zusammen: Keine Aussage über die aus-
Kennzeichen des Systems, daß sich Partei und Staat
laufenden Schutzrechte der Mittelständler im Osten,
administrativ auch über geltendes Recht hinwegset-
keine Aussage über Milderung der neuen Eskalation
zen konnten. Wenn hierfür der Blick der Gerichte
bei den offenen Vermögensfragen, keine Aussage
verstellt bleibt, drohen die Nutzerrechte in Tausenden
über den weiteren Schutz der Nutzerrechte im Osten
von Fällen den Bach hinunterzugehen. Auch zu die-
und ebenfalls keine Aussage über den Fortgang der
sen drängenden existentiellen Fragen haben wir bis
Rehabilitierungsgesetzgebung. Das läßt über die Pas-
heute von der Bundesregierung nichts gehört.
sivität und Ignoranz dieser Bundesregierung hinsicht-
(Beifall bei der SPD) lich der Nöte und Ängste der Menschen in Ost-
Drittens. Wie soll es mit den Nutzerrechten im deutschland Böses erahnen. Die heutige Regierungs-
Zusammenhang mit dem Schuldrechtsanpassungsge- erklärung und die Debatte waren eine Enttäuschung
setz weitergehen? Obwohl die Koalition kurz vor der für die Leute.
Bundestagswahl endlich ihren Widerstand gegen eine (Beifall bei der SPD)
gerechte Regelung im Zusammenhang mit den „Dat-
schen-Nutzern" aufgegeben hatte, waren damit kei-
neswegs alle Regelungsdefizite vom Tisch. Ganze Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort zu
Gruppen von Nutzern bleiben bisher bei ihrem Kün- seiner ersten Rede in diesem Hause hat der Abgeord-
digungsschutz schlechtergestellt. Ich erinnere in die- nete Graf Einsiedel.
sem Zusammenhang z. B. an die Inhaber von Überlas- -
sungsverträgen zu gewerblichen Zwecken oder zu
Wohnzwecken, soweit die Nutzer nur geringfügig in Heinrich Graf von Einsiedel (PDS): Herr Präsident!
das Gebäude investiert haben. Hier laufen Schutz- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir Mit-
rechte Ende nächsten Jahres in Tausenden von Fällen glieder der PDS-Fraktion
aus. (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Ihr seid keine
Was will die Bundesregierung hier und auch bei Fraktion! — Zuruf von der PDS: Abwar
anderen Wohn-Mietverhältnissen unternehmen? Will ten!)
sie zusehen, wie Tausende durch Eigenbedarfsklagen haben sehr unterschiedliche politische Biographien
zwar ihre Datschen behalten, ihre Wohnungen aber und auch unterschiedliche Positionen
räumen müssen? Glaubt die Bundesregierung ernst-
haft, daß diese Menschen am ostdeutschen Woh- (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Ein Grüpp
nungsmarkt, der immer noch durch einen beispiello- chen!)
sen Wohnraummangel gekennzeichnet ist, erneut zu antimilitaristischen und pazifistischen Bestrebun-
entsprechenden Wohnraum finden werden? Dann ist gen.
ihr an dieser Stelle jeglicher Realitätssinn abzuspre- Ich selbst halte wie Bundeskanzler Kohl den provo-
chen, meine Damen und Herren. kativen Satz „Soldaten sind Mörder" in dieser ver-
(Beifall bei der SPD) kürzten, undifferenzierten Form für unerträglich, vor
allem aber für der Sache der Friedensbewegung
Viertens. Was will die Bundesregierung in dieser abträglich,
Legislaturperiode zur Verbesserung der Rehabilitie-
rungsgesetzgebung gegenüber den Opfern politi- (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/
scher Verfolgung aus der DDR-Zeit unternehmen? DIE GRÜNEN]: Tucholsky!)
Der damalige Bundesjustizminister hat sein Amt, das weil er kontraproduktiv wirkt. Die Soldaten der Alli-
später durch Frau Leutheusser-Schnarrenberger wei- ierten, die unter millionenfachen Opfern den Nazis-
tergeführt wurde, 1990 vor dem Hintergrund der mus niedergekämpft haben, waren natürlich keine
Verpflichtung nach Art. 17 des Einigungsvertrages Mörder. Die meisten deutschen Soldaten, die von
aufgenommen, unverzüglich eine Rehabilitierungs- einer verbrecherischen politischen, aber eben auch
gesetzgebung in die Wege zu leiten. Es hat fast vier von einer verbrecherischen militärischen Führung in
Jahre gedauert und vieler Eingriffe der Opposition den Krieg gejagt wurden, waren ebenfalls keine
Deutscher Bundestag — 13. Wahlpe riode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 149
Gerhard Zwerenz
— Genau, „Der Schatz im Silbersee" und solche 20 Jahren dagegen anschreiben, ändert sich daran gar
schönen Sachen. Er hat ein Testament hinterlassen. nichts. Sie haben einen Hitleridioten und Erzreaktio-
Laut dieses Testamentes sollen Schriftsteller, die in när und Antisemiten nach wie vor zum Vorbild der
Not sind, ein Stipendium bekommen. Nach dem Bundeswehr gemacht.
Zweiten Weltkrieg ist lange zwischen Staatsstellen (Beifall bei der PDS sowie Abgeordneten der
erst im Osten und den Erben und jetzt neuerdings den SPD)
Staatsstellen im Westen und den Erben hin und her
Nun kommen wir mit unseren Zitaten etwas in die
verhandelt worden. Dieses Vermächtnis ist einfach
Moderne. Ich muß ja jagen; denn in fünf Minuten kann
verschwunden. Wenn man nachfragt, hört man: Ja, da
man nicht richtig abrechnen.
hat es einmal irgend etwas gegeben.
(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Sie sind ein
Also, wenn Schriftsteller von erfolgreichen Vorgän- Komiker!)
gern etwas bekommen sollen, dann kann das ganz
leicht einfach abhanden kommen. Das spielt über- — Ach, Sie haben ja sowieso nichts zu sagen. Sie
haupt keine Rolle. Wir haben offenbar keine Standes- haben vorhin gesprochen. Was soll denn das? Wenn
vertretung, die sich dafür stark macht. wir beim Zitieren sind: Hierin hat sich Ihr verehrter
Bundeskanzler ja nun sehr gütlich getan.
Kultur ist bei uns vorwiegend Kürzung. Diese Kür-
zung kennen insbesondere diejenigen, die aus den (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Unser aller
neuen Ländern kommen. Dort grassiert diese Kür- Bundeskanzler!)
zung. — Unser aller Bundeskanzler. Ich beuge mich Ihrem
Sprachverständnis. Es hat ihm gefallen, nicht wahr. Es
(Beifall bei der PDS und dem BÜNDNIS 90/ hat ihm so großartig gefallen, den Genossen Kurt
DIE GRÜNEN) Schumacher zu zitieren — —
Ulla Jelpke
sondere wenn wir bedenken, daß die Unionsfraktion sagte nämlich: „Taktisch ein bißchen geändert und
in der vergangenen Legislaturperiode davon gespro- mit anderen Nuancen versehen — das nenne ich
chen hat, es stehe eine Neujustierung der Grund- Kompromißbereitschaft". Ich wundere mich doch
rechte an. Das bedeutete faktisch die Abschaffung des sehr, wie oppositionell die SPD heute auftritt, obwohl
Asylrechts. Und das bedeutet faktisch, daß es für sie genau diesem Paket kurz vor den Wahlen zuge-
Fremde heute kaum möglich ist, in dieses Land stimmt hat, weil sie im Wahlkampf keine Debatte zur
hineinzukommen bzw. in diesem Land eine entspre- inneren Sicherheit haben wollte.
chende Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten. Vom Bundeskanzler haben wir hier heute hören
Bürgerkriegsflüchtlinge wurden sozusagen in das müssen, daß er seinen Kampf gegen die rechten und
Asylverfahren gezwungen; zur Zeit werden sie wieder linken Extremisten führen wird. Ich möchte in diesem
abgeschoben. Ich möchte daran erinnern, daß am Zusammenhang daran erinnern —
-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlpe riode - 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 155*
Globale Strukturpolitik als übergeordnete Aufgabe Verbesserung der politischen und wirtschaftlichen
einer neu verstandenen Entwicklungspolitik setzt vor- Rahmenbedingungen gefragt. In Mittel- und Osteu-
aus, daß wir im Bereich der Krisen- und Katastrophen- ropa sowie den Nachfolgestaaten der Sowjetunion
prävention stärkere Akzente setzen. Katastrophen sehen wir die Förderung administrativer, rechtlicher
wie in Ruanda sind nicht durch Entwicklungsvorha- und wirtschaftlicher Rahmenbedingungen im Vorder-
ben herkömmlicher Art oder isolierte Anstrengungen grund. Im Mittelmeerraum und dem Nahen Osten
einzelner Geber zu verhindern. Wirksame Krisenprä- muß die Eindämmung von Konflikt- und Fluchtursa-
vention erfordert eine stärkere politische Zusammen- chen im Zentrum unserer Bemühungen stehen. Es
arbeit mit dem Ziel, politische und wirtschaftliche geht darum, unsere Konzepte und Instrumente geziel-
Konfliktpotentiale zu überwinden. Dies wiederum ter einzusetzen, um auf unterschiedliche Problemla-
bedeutet verstärkte Konzertierung und Abstimmung gen und auf unterschiedliche Interessen angemessen
zwischen bilateralen und multilateralen Entwick- zu reagieren.
lungsorganisationen. Wir wollen unseren Einfluß in
den multilateralen Organisationen wie den Vereinten Die Forderung nach mehr Kohärenz zwischen allen
Nationen, den Entwicklungsbanken und auch in der auf die Entwicklungszusammenarbeit einwirkenden
Europäischen Union stärken, um die großen, weltwei- Politiken ist nicht neu. Ich verspreche mir dafür jedoch
ten Umgestaltungsaufgaben mit unserer bilateralen durch die Diskussion im Rat der europäischen Ent-
Politik besser zu verzahnen und die Effizienz des wicklungsminister übermorgen einen neuen Anstoß.
Mitteleinsatzes weiter zu verbessern. Wir haben dieses Thema während der deutschen
Präsidentschaft vorangetrieben und werden nicht
Die Weichen für eine Entwicklungspolitik, die in nachlassen, die Kommission und unsere Partner in der
den Partnerländern mehr Wirkung erzielt und gleich- Europäischen Union zu Fortschritten bei diesem
zeitig Deutschlands Interessen in einem veränderten Strukturproblem der Entwicklungspolitik zu drän-
weltpolitischen Umfeld fördert, haben wir bereits in gen.
der letzten Legislaturperiode gestellt. Unsere Zusam-
menarbeit folgt klaren Kriterien. Menschenrechte, Wir werden den Stellenwert der Entwicklungspoli-
Rechtssicherheit, Teilhabe am politischen Meinungs- tik nur heben können und ihre Funktion als Politik der
bildungsprozeß und marktwirtschaftliche Ausrich- Zukunftssicherung nur bewußt machen, wenn wir sie
tung beschreiben gleichzeitig neue Felder der Zusam- fester und breiter in unserer Gesellschaft verankern.
menarbeit, auf denen wir zur Verbesserung der Rah- Ich appelliere daher an alle Nichtregierungsorganisa-
menbedingungen für eine menschengerechte Ent- tionen, ihre beachtlichen Bemühungen auf diesem
wicklung ansetzen. Die Hauptmerkmale von Unter- Gebiet fortzusetzen. Wir brauchen das Gespräch und
entwicklung, nämlich Armut, Umweltzerstörung und die Zusammenarbeit mit allen in die Entwicklungs-
mangelhafte Bildung, bleiben auch in Zukunft im politik eingebundenen gesellschaftlichen Gruppen.
Mittelpunkt unserer Anstrengungen. Hier gilt es, Lassen Sie uns an einer parteiübergreifenden Koali-
Beständigkeit walten zu lassen. tion der Vernunft arbeiten, um unser gemeinsames
Anliegen, für Frieden und menschliche Sicherheit in
Das erweiterte Verständnis von Entwicklungspoli- der Welt einzutreten, noch wirksamer zu verfolgen.
tik und die Fortentwicklung ihrer Konzeption werden Ich appelliere auch an die Medien, nicht nur dann
sich in Zukunft in einer stärkeren regionalen Differen- über entwicklungspolitische Fragen zu berichten,
zierung ausdrücken. Eine regionale Differenzierung wenn Negativ-Spektakuläres zu vermelden ist. Ent-
ist geboten, weil es angesichts der unterschiedlichen wicklung geht uns alle an. Diese Botschaft muß sich in
Entwicklungen in der Welt nicht mehr angebracht ist, der Öffentlichkeit festsetzen. Und schließlich bitte ich
alle Partner gleichzubehandeln. Während in Schwarz- auch die Kolleginnen und Kollegen in diesem Haus:
afrika die Nothilfe und Konfliktprävention im Vorder- Helfen Sie mit, daß wir die gestiegene Verantwortung
grund stehen, sind in den Schwellenländern Asiens Deutschlands in der Welt mit Leben erfüllen. Unter-
und Lateinamerikas mehr wirtschaftliche Zusammen- stützen Sie unsere Bemühungen, das friedliche Mit-
arbeit, Technologietransfer sowie Beratung bei der einander in der Welt zu fördern und auszubauen.