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Plenarprotokoll 13/5

D eutscher Bundestag
Stenographischer Bericht

5. Sitzung

Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Inhalt:

Eintritt der Abgeordneten Elke Ferner in den Ludger Volmer BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
Deutschen Bundestag . . . . . . . . . 37 A NEN 103 D
Dr. Alfred Dregger CDU/CSU . . . . . 105 D
Begrüßung des Staatspräsidenten der Repu-
blik Finnland, Herrn Martti Ahtisaari, und Heidemarie Wieczorek-Zeul SPD . . . 109A
seiner Begleitung 58 D Rudolf Seiters CDU/CSU . . . . . . . 112 C

Tagesordnungspunkt: Gerald Häfner BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 114B


Regierungserklärung des Bundeskanz- Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) F.D.P. . . 116B
lers mit anschließender Aussprache 118 C
Andrea Lederer PDS . . . . . . . . . .
-
Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler 37 B
Manfred Kanther, Bundesminister BMI . . 120C
Rudolf Scharping SPD 48 B
Dr. Angelika Köster-Loßack BÜNDNIS 90/
Dr. Burkhard Hirsch F.D.P. . . . . 51D, 126D DIE GRÜNEN 124C

Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU .. 58D Otto Schily SPD 125A

63 D Eckart Kuhlwein SPD 126 B


Dr. Heiner Geißler CDU/CSU
Brigitte Baumeister CDU/CSU . . . . 126 C
Peter Dreßen SPD . . . . . . . . . 65C
Dr. Peter Struck SPD (zur GO) 128D
Ingrid Matthäus-Maier SPD . . . . . 67 A
Friedrich Bohl, Bundesminister BK (zur
Joseph Fischer (Frankfurt) BÜNDNIS 90/ 128D
GO)
DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . 68B
Kerstin Müller (Köln) BÜNDNIS 90/
Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister AA 74 A 129D
DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . .
Dr. Gregor Gysi PDS 81 B Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bun-
Werner Schulz (Berlin) BÜNDNIS 90/ desministe rin BMJ 131 D
DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . 84 B Volker Beck (Köln) BÜNDNIS 90/
Manfred Müller PDS 84 B DIE GRÜNEN 132C

84 C Dr. Dietrich Sperling SPD . . . . . . . 133 A


Günter Verheugen SPD . . . . . . .
Ulrich Irmer F.D.P. . . . . . . . . . . 134 A
Dr. Theodor Waigel, Bundesminister BMF 88 D
Dr. Rupert Scholz CDU/CSU . . . . 137B
Freimut Duve SPD . . . . . . . . 94A, 102C
Dr. Herta Däubler-Gmelin SPD . . . . . 139 D
Oskar Lafontaine, Ministerpräsident (Saar
land) 94B Dr. Rupert Scholz CDU/CSU . . .. 140A
Dr. Hermann Otto Solms F.D.P. . . . . . 99B Hans-Peter Repnik CDU/CSU . . . . 143C
II Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Rolf Schwanitz SPD 147B Anlage 1


Heinrich Graf von Einsiedel PDS 148D Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 155*A
Detlef Kleinert (Hannover) F.D.P. 149 D

Gerhard Zwerenz PDS 150C Anlage 2

Ulla Jelpke PDS 151 D Zu Protokoll gegebene Rede zu dem Tages-


ordnungspunkt: Regierungserklärung des
Dr. Uwe-Jens Heuer PDS 152D Bundeskanzlers mit anschließender Aus-
sprache
Nächste Sitzung 154 C Carl-Dieter Spranger, Bundesminister BMZ 155* B
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5. Sitzung

Bonn, den 23. November 1994

Beginn: 9.00 Uhr

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Guten Morgen, Unsere Freunde und Partner wissen, daß wir die
liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröff- Bundesrepublik sicher in die Zukunft führen wer-
net. den.
Im Rahmen der amtlichen Mitteilungen gebe ich
(Zuruf von der SPD: Vorsicht vor Überheb
Ihnen zunächst bekannt, daß der Abgeordnete Oskar
lichkeit!)
Lafontaine am 17. November 1994 auf seine Mitglied-
schaft im Deutschen Bundestag verzichtet hat. Und so sehen es auch alle jene Wählerinnen und
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wähler, die für die Koalition der Mitte aus CDU, CSU
und F.D.P. gestimmt haben.
Seine Nachfolgerin ist die Abgeordnete Elke Ferner,
die am 21. November 1994 die Mitgliedschaft im (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Deutschen Bundestag erworben hat.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wir haben in kürzester Zeit die Koalitionsverhand-
der PDS) lungen und die Regierungsbildung erfolgreich abge-
schlossen. Wir haben dabei zielstrebig und kollegial
Ich begrüße die Kollegin, die dem Deutschen Bundes- zusammengearbeitet, und so wird es in den vier
tag bereits in der vorigen Wahlperiode angehört hat, Jahren dieser Legislaturperiode auch bleiben.
sehr herzlich. Herzlich willkommen! -
Ich rufe den einzigen Punkt der Tagesordnung auf: (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Regierungserklärung des Bundeskanzlers mit Meine Damen und Herren, wir stehen jetzt im
anschließender Aussprache fünften Jahr seit der Wiedervereinigung unseres
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Vaterlandes in Frieden und Freiheit. „Die Bundesre-
die Aussprache nach der Regierungserklärung heute publik konnte 1989 auf vierzig erfolgreiche Jahre
neun Stunden, morgen sieben Stunden und am Frei- zurückblicken. Die vergangenen fünf Jahre sind sogar
tag vier Stunden vorgesehen. — Ich sehe, daß Sie damit noch besser gewesen. " So schrieb es kürzlich die
einverstanden sind. Dann ist es so beschlossen. „Financial Times", und sie hat recht.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung Die innere Einheit unseres Vaterlandes ist in vielen
hat der Herr Bundeskanzler, Dr. Helmut Kohl. Bereichen schon gelebte Wirklichkeit. Wir haben gute
Grundlagen für den gemeinsamen Aufbruch in die
Zukunft gelegt. Jetzt gilt es, alle Kräfte anzuspannen,
Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler (von der CDU/CSU ganz Deutschland fit zu machen für das nächste, das
und der F.D.P. mit Beifall begrüßt): Frau Präsidentin! 21. Jahrhundert. Wir haben dabei das Wohl künftiger
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am 16. Ok- Generationen stets im Blick zu halten. Deshalb dürfen
tober haben sich die Wählerinnen und Wähler in wir nicht nur für vier Jahre planen.
Deutschland für die politische Mitte entschieden.
Verändern und Bewahren stehen nicht im Wider-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — spruch zueinander. Sie bedingen einander. Leistung
Lachen bei Abgeordneten der SPD und des und Geborgenheit, Selbständigkeit und Hilfsbereit-
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) schaft sind keine Gegensätze. Sie sind untrennbare
Freunde und Partner im Ausland haben unseren Teile unserer Vision von der Zukunft Deutschlands in
Wahlsieg einhellig als eine gute Nachricht für Europa einer Welt, die sich, wie wir wissen, dramatisch
begrüßt, und wir nehmen dies dankbar zur Kenntnis. verändert.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Deutschland wird seine schöpferischen Energien
Lachen bei Abgeordneten der SPD — Joseph für Werke des Friedens, der Freiheit und der Gerech-
Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ tigkeit einsetzen. Es wird ein Ort guter Nachbarschaft
NEN]: Das geht ja gleich lustig los!) sein und in der Völkergemeinschaft als zuverlässiger
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Freund auftreten und handeln. Dieses Ziel, meine — Vielleicht Sie, wenn Sie dazwischenrufen, verehr-
Damen und Herren, ist jeder Anstrengung wert. ter Herr Kollege.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Heiterkeit bei der CDU/CSU)
Wir brauchen jetzt in unserem Volk ein Bündnis für
Offensichtlich fühlen Sie sich betroffen. —
die Zukunft. Ich lade alle dazu ein, mit uns die
Erneuerung von Staat und Gesellschaft zu wagen und (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
unser Volk als solidarische Gemeinschaft zu stär-
ken. Wir müssen deshalb bereit sein, auch unbequeme
Wahrheiten auszusprechen und, wenn es not tut,
Ich denke dabei an die vielen ehrenamtlich Tätigen,
die sich im sozialen, kirchlichen, pädagogischen und Widerstände zu überwinden.
politischen Bereich für ihre Mitmenschen engagieren. Wir, die Koalition der Mitte, wollen diese Republik
Ich denke an die Soldaten der Bundeswehr und an — die Republik des Grundgesetzes — und keine
unsere Polizeibeamten, die oft Gefahr für Leib und andere.
Leben auf sich nehmen, um den Rechtsstaat und damit
unser aller Freiheit zu sichern. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Wer im Zusammenspiel mit Extremisten von links
Ich denke an Handwerksmeister und -meisterinnen oder rechts, mit Kommunisten oder Neonazis, die
ebenso wie an Forscher und Entdecker, die mit ihrer Achse unserer Republik verschieben oder verbiegen
Kreativität und mit ihrem Fleiß die Grundlagen für die will, dem werden wir entschieden entgegentreten.
Arbeitsplätze von morgen legen. Ich denke an die
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Bauern, die mit ihrer Arbeit das Bild unserer Land-
schaft prägen, ebenso wie an die Industriearbeiter im Unsere Gegner sind dabei nicht jene Bürgerinnen und
Ruhrgebiet, im ostdeutschen Chemiedreieck, in nord- Bürger, die aus mancherlei Ärger und Verdruß Radi-
deutschen Werften oder im süddeutschen Maschinen- kalen und Extremisten ihre Stimme gegeben haben;
bau, die dafür sorgen, daß „Made in Germany" ein sie wollen wir für die demokratischen Parteien
Gütesiegel von Wertarbeit bleibt. zurückgewinnen! Unser Gegner sind Kader und
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Funktionäre, die aus der Geschichte dieses Jahrhun-
derts nichts dazugelernt haben.
Ich denke an die Männer und Frauen, die als Entwick-
lungshelfer in Ländern der Dritten Welt einen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
unschätzbaren Dienst auch für das weltweite Ansehen
Deutschlands leisten. Ich denke vor allem an die Sie lehnen unsere demokratische Ordnung ab, und
Mütter und Väter, die Ja zu Kindern sagen und ihnen viele wollen sie umstürzen.
Geborgenheit und Zukunft schenken.
Ich habe überhaupt keinen Zweifel, daß wir diese
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Auseinandersetzung gewinnen werden; denn die
ordneten der F.D.P.) große Mehrheit aller Deutschen steht auf unserer
Jeder wird gebraucht. Wir sind auf die Lebenserfah- Seite.
rung der älteren Generation angewiesen. Wir brau-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
chen die Träume und die Dynamik der Jungen. Wir
benötigen das Vorbild behinderter Menschen, die mit Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die
großem Lebensmut ihr ganz persönliches Schicksal Welt um uns herum hat sich in den vergangenen
meistern. Ich halte es für unverantwortlich, wenn in Jahren grundlegend verändert. Dramatische Verän-
unserem Land 55jährigen Arbeitslosen gesagt wird, derungen erleben wir nicht nur im internationalen
sie würden nicht mehr gebraucht. Das ist unmensch- Umfeld, sondern auch in unserer eigenen Gesell-
lich. schaft. Die neuen Herausforderungen und Chancen,
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — vor denen wir Deutsche an der Schwelle zum nächsten
Lachen bei Abgeordneten der SPD, des Jahrhundert stehen, erfordern von uns allen die
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Bereitschaft zum Umdenken. Zum notwendigen
PDS) Umdenken gehört, daß wir die Widersprüche offen
aus- und ansprechen zwischen dem, was viele Men-
— Es ist Ihre Sache, dabei zu lachen. Das zeigt auch schen sich wünschen, und dem, was sie dafür selbst zu
die Lage, in der Sie sich geistig befinden. tun bereit sind.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
„Wenn die Freiheit unbegrenzt und beliebig wird",
Wahr ist allerdings auch, daß es in unserer Gesell- so hat es Bischof Karl Lehmann in seiner Predigt am
schaft Menschen gibt, die wir als Partner im Bündnis 10. November im Berliner Dom formuliert, „schlägt sie
für die Zukunft erst noch werben müssen. Wir müssen in eine neue Form der Abhängigkeit um. Wir sind oft
manche noch davon überzeugen, daß geistige Unbe- im Taumel der Freiheit gefangen und haben zuwenig
weglichkeit und vor allem ideologische Verbohrtheit verstanden, daß zu dieser Freiheit Selbstbeherr-
in die Sackgasse führen. schung und Verantwortung gehören." Es ist unbe-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. streitbar, meine Damen und Herren — und wir alle
sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- erleben es täglich —, daß es immer schwerer wird, das
SES 90/DIE GRÜNEN und der PDS — Peter Gemeinwohl gegenüber Einzel- und Gruppeninter-
Conradi [SPD]: Wen meint er da nur?) essen durchzusetzen. Viele in unserem Lande erwar-
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ten vom Staat zuviel und sind selbst zuwenig bereit, Alle diese Beispiele machen deutlich, daß der ein-
Mitverantwortung zu übernehmen. zelne und die Gemeinschaft der Bürger stärkere
Mitverantwortung und Initiative für das eigene und
Jeder von uns kennt die Beispiele aus seinem
damit für das Wohl aller übernehmen müssen. Das
persönlichen Lebensbereich. Jeder weiß, daß Kinder
geht aber nur, meine Damen und Herren, wenn der
unsere Zukunft sind, aber gegen Spielplätze in Wohn-
Staat dafür Freiräume schafft und sich auf seine
vierteln wird gerichtlich vorgegangen, und Kinder zu
eigentlichen Aufgaben konzentriert.
haben wird immer mehr zum Nachteil bei der Woh-
nungssuche. Wir wollen weniger Staat, aber wir wollen einen
Staat, der seine eigentlichen Aufgaben voll erfüllt.
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Dazu gehört in erster Linie die Gewährleistung der
DIE GRÜNEN]: Wohl wahr! — Zurufe von inneren und äußeren Sicherheit seiner Bürger.
der SPD)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
— Meine Damen und Herren, wenn Sie zustimmen,
können Sie doch klatschen. Das ist doch ganz einfach Wir glauben an die Kraft der Freiheit. Wir wollen eine
für Sie. Gesellschaft, die sich wieder stärker auf ihre eigenen,
oft ungenutzten Möglichkeiten besinnt und ihren
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ganzen Reichtum an Fleiß, Ideen und Hilfsbereitschaft
Wir wissen, daß der Altersdurchschnitt in unserer mobilisiert.
Gesellschaft rapide steigt und es damit immer mehr Wir wissen, daß die Familie der Ort ist, wo über
pflegebedürftige ältere Menschen gibt. Aber wir füh- unsere Zukunft entschieden wird. Wir wissen, daß die
ren gleichzeitig eine erregte Diskussion über den überschaubaren Lebenskreise das menschliche Ge-
notwendigen Ausgleich zur Finanzierung der Pflege- sicht unseres Landes prägen. Deshalb kann es bei-
versicherung. spielsweise nicht darum gehen, die Familie an die
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Arbeitswelt anzupassen, sondern muß es darum
DIE GRÜNEN]: Das sagen Sie mal Herrn gehen, die Arbeitswelt an die Familie anzupassen.
Stoiber!) Dies ist eine gemeinsame Aufgabe für Tarifpartner
und für den Staat.
Es wird über eine wachsende Anonymität und den
Verlust von Bindungen in unserer Gesellschaft (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
geklagt, aber zu wenige sind bereit, ihr eigenes ordneten der F.D.P.)
Handeln an den oft großartigen Vorbildern gelebter Ein wichtiger Prüfstein für die Menschlichkeit unse-
Nachbarschaft und praktizierter Nächstenliebe aus- rer Gesellschaft ist die Art unseres Umgangs mit
zurichten. Ausländern
Die Gleichberechtigung von Frauen und Männern (Wolfgang Thierse [SPD]: Ja!)
ist als allgemeiner Grundsatz inzwischen unbestritten,
aber es wird im Alltag zuwenig dafür getan, Frauen - und unsere Bereitschaft, sie zu integrieren. Wir wollen
gleiche Chancen zu geben. Einbürgerung erleichtern
Uns alle bedrückt die Arbeitslosigkeit, weil wir (Lachen bei der SPD)
wissen, was dies für die Betroffenen und ihre Familien und für in Deutschland geborene Kinder der dritten
bedeutet. Aber Möglichkeiten, auch längerfristig Generation eine deutsche Kinderstaatszugehörigkeit
Arbeitslosen den Wiedereinstieg in die Erwerbsarbeit einführen.
zu erleichtern, werden vielerorts noch viel zuwenig
genutzt. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir alle wissen, daß wir viele neue Arbeitsplätze Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, jeder
brauchen. Aber gleichzeitig gibt es zuwenig gesell- weiß, daß wir im internationalen Wettbewerb ohne
schaftliche Anerkennung für diejenigen, die das Wag- Erneuerung an Zukunftsfähigkeit verlieren. Wir ste-
nis der Selbständigkeit einzugehen bereit sind und als hen deshalb vor der großen Herausforderung, Innova-
Arbeitgeber Beschäftigung für sich und andere schaf- tionsbereitschaft und Dynamik in Wirtschaft und
fen. Gesellschaft zu fördern.
Wir haben das Glück, daß die deutsche Einheit uns
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
die Chance gibt, die Erneuerung in Frieden und in
Wir erregen uns darüber, daß teilweise 20 Jahre und Gemeinsamkeit zu gestalten. Deutschland hat sich
mehr zwischen Planung und Baubeginn für Eisen- seit der Wiedervereinigung tiefgreifend verändert —
bahnstrecken liegen. Aber wahr ist auch, daß solche im Osten, aber auch im Westen. Unser Volk hat in
Verzögerungen durch zu viele Klagen und Einsprüche einer beispiellosen und weltweit anerkannten Ge-
verursacht werden. meinschaftsleistung seine Bereitschaft zur Solidarität
Der Ministerpräsident eines Bundeslandes hat mir und seine Kraft zum Neubeginn unter Beweis gestellt.
dieser Tage ein besonders anschauliches Beispiel für Wir vertrauen auf diese Bereitschaft und auf diese
solche Hemmnisse berichtet: Ein Landkreis, der seit Kraft auch beim Aufbruch in die Zukunft.
15 Jahren eine Müllverbrennungsanlage betreibt, Meine Damen und Herren, wir werden in den
muß diese jetzt nachrüsten. Für das Genehmigungs- kommenden Tagen Gelegenheit haben, ausgiebig
verfahren hatte er dem zuständigen Regierungspräsi- über die Einzelheiten des Arbeitsprogramms der Bun-
denten 23 Aktenordner in 26facher Ausfertigung, also desregierung für diese Legislaturperiode zu sprechen.
insgesamt fast 600 Ordner, zu übersenden. Der Text der Koalitionsvereinbarung ist jedermann
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zugänglich; ich brauche ihn hier nicht im einzelnen zu — auch das hören wir oft — in den Augen mancher
referieren. Ich werde mich deshalb im folgenden auf zum Rechtsverweigerungsstaat wird. Deshalb haben
einige der Fragen beschränken, die aus meiner und wir in der Koalition vereinbart: Die Zahl der Bundes-
unserer Sicht für die Zukunft unseres Landes von behörden wird durch Streichung oder Zusammenfas-
herausragender Bedeutung sind. sung von Aufgaben verkleinert. Der Personalbestand
in den Bundesbehörden wird in den nächsten vier
Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und
Herren, der Staat ist für den Bürger da. Er hat die Jahren jährlich um 1 % gesenkt. Im Rahmen der
Rechte der Bürger zu schützen. Er darf ihre Kräfte aber Steuerreform wird das Steuerrecht spürbar verein-
facht. Die Bundesanstalt für Arbeit wird stärker
nicht durch ein Übermaß an Reglementierungen und
dezentralisiert und ortsnäher organisiert. Die Instru-
Bürokratie fesseln. Viele sagen — und es ist ja auch
mente der Wirtschaftsförderung werden gestrafft und
so —, sie litten unter einer Flut von Gesetzen, Verord-
die Antragsverfahren vereinfacht. Die vom Staat vor
nungen und Vorschriften und fühlten sich durch eine
allem den Unternehmen abgeforderten statistischen
Unzahl von Formularen, Anträgen, Veranlagungen
Angaben werden auf das absolut Notwendige redu-
und Erklärungspflichten eingeengt und überfordert.
Wir sind in der Tat dabei, uns auf allen Ebenen — im ziert.
Bund, aber auch in den Ländern und Gemeinden — in (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
einem immer dichter werdenden Gestrüpp von büro-
Planungs- und Genehmigungsverfahren sollen kürzer
kratischen Regelungen zu verfangen. Damit verliert
werden. Mit diesem Ziel streben wir Änderungen im
die Gesellschaft die Kraft und die Fähigkeit zu Krea-
Baurecht, bei Normen und Standards und im Umwelt-
tivität und Innovation.
recht an. Verwaltungs- und Gerichtsverfahren müs-
Um es klar zu sagen: Diese Entwicklung in den sen für den Bürger wieder zeitlich überschaubar und
letzten Jahrzehnten haben wir alle gemeinsam zu berechenbar werden. Wir wollen z. B. die überlangen
verantworten. Es nützt jetzt gar nichts, rückwärtsge- Rechtsschutzverfahren verkürzen. So kann vielfach
wandte Schuldzuweisungen vorzunehmen. Hilfreich die aufschiebende Wirkung eines Rechtsmittelverfah-
ist nur, wenn wir den gemeinsamen Willen aufbrin- rens wegfallen, zumindest zeitlich stark begrenzt
gen, den Rechts- und Vorschriftendschungel zu werden. Entsprechende Vereinfachungen und Ver-
durchforsten und zu lichten. besserungen sollen auch in anderen Gerichtszweigen
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) geprüft werden. Es soll auch geprüft werden, ob es
möglich ist, Rechtsvorschriften von vornherein zeitlich
Dies ist ebenso eine Aufgabe für den Gesetzgeber auf zu befristen.
der Ebene des Bundes und der Länder, wie für
Rechtsprechung und die Behörden, die das Recht Meine Damen und Herren, wir müssen in all diesen
anwenden. Dabei, meine Damen und Herren, müssen Bereichen ansetzen; denn wir sind heute an einem
wir auch prüfen, ob nicht ein übertriebenes Streben Punkt angelangt, wo in unserem Land zuwenig
nach Einzelfallgerechtigkeit die Gesetze letztlich so bewegt und zuviel verhindert werden kann.
kompliziert gemacht hat, daß sie undurchschaubar - (Peter Conradi [SPD]: Bei der Regierung!)
geworden sind.
— Ihre Beiträge werden immer bedeutender; das muß
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ich Ihnen sagen.
Viele dieser Regelungen wirken zukunftsfeindlich,
(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der
denn sie zielen auf die Verfestigung von Besitzstän-
F.D.P.)
den. Hierin treffen sich nur allzuoft die Wünsche von
Verbänden und Interessenvertretern mit dem Behar- Ich erinnere Sie an Ihre Zwischenrufe im Mai. Den-
rungsvermögen der Bürokratie und auch — das wol- noch stehe ich hier wieder als Bundeskanzler, meine
len wir offen zugeben — der Neigung in der Politik, Damen und Herren.
solchen Forderungen nachzugehen. Wir haben uns
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. —
vorgenommen, diese Verkrustungen aufzubrechen.
Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) GRÜNEN]: Das ist ja das Problem! — Joseph
Wir wollen einen schlanken Staat. Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
NEN]: Deswegen wird das auch nichts mit
(Lachen und Widerspruch bei der SPD und dem schlanken Staat!)
dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN —
Dr. Antje Vollmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Schlanker Staat bedeutet für uns auch die Rückfüh-
NEN]: „Schlanker Staat"?!) rung des Anteils der Staatsausgaben am Sozialpro-
dukt. Wir wollen diesen Anteil auf 46 % senken, wie
Dieser läßt dem einzelnen mehr Freiräume; aber er wir es schon einmal getan haben.
weist ihm auch mehr Verantwortung zu. Ich weiß gar
nicht, warum Sie sich aufregen. Das haben doch auch (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Sie im Wahlkampf gesagt. Jetzt sind Sie eingeladen Als ich dies 1982 ankündigte, gab es viel Gelächter
mitzumachen: hier, im Bundesrat und in den Ländern. und Skepsis. 1982 lag der Anteil über 50 %. Wir haben
Das ist eine einmalige Chance für Sie, sich zu profi- ihn bis 1989 auf 46 % gesenkt. — Dies war eine
lieren. Ich kann Sie nur einladen, mitzumachen. wesentliche Voraussetzung, um bei der deutschen
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Einheit die nötigen Finanzmittel aufbringen zu kön-
nen. —
Wir wollen die Gefahr bannen, daß der Rechtsstaat
erst zu einem reinen Rechtsmittelstaat und schließlich (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
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Der Anstieg der Staatsquote seit 1990 auf jetzt 52 % Leistung wollen wir in den kommenden Jahren wie-
war unvermeidlich. Er spiegelt im wesentlichen derholen.
wider, daß wir uns den historisch einmaligen Aufga- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
ben der deutschen Einheit gestellt haben. Wir alle
wissen: Diese waren nicht allein durch Sparen oder Die Koalition aus CDU, CSU und F.D.P. ist sich darin
Umschichten zu bewältigen. einig, den Solidaritätszuschlag baldmöglichst abzu-
bauen und entsprechende Rückführungsmöglichkei-
Wir hatten finanzielle Aufgaben zu meistern, die in ten jährlich festzustellen. Hierüber werden wir auch
der Welt ohne jedes Beispiel sind. Das waren und sind mit den Bundesländern die notwendigen Gespräche
weiterhin die Aufwendungen vor allem für den Auf-
führen.
bau in den neuen Bundesländern.
Die Bundesregierung wird ihre wachstumsorien-
Wir haben mehr als alle anderen Kriegsflücht- tierte, leistungsgerechte, familien- und mittelstands-
linge aus dem ehemaligen Jugoslawien bei uns
freundliche Steuerreform fortsetzen. In diesem Rah-
aufgenommen. Wir haben mehr als alle anderen den men werden wir auch das Existenzminimum der
Reformprozeß in Mittel-, Ost- und Südosteuropa Bürger ab 1996 steuerlich freistellen.
sowie in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion
durch Hilfe zur Selbsthilfe unterstützt. Natürlich Meine Damen und Herren, heute schöpft der Staat
haben wir das auch aus der Überlegung getan, daß ein von jeder D-Mark Wirtschaftsleistung der Bürger und
Scheitern dieser Reformen uns erneut vor ungeheure Unternehmen rund 43 Pfennig durch Steuern und
Probleme stellen würde. Wir wollen auch deshalb den Abgaben ab. Diese Abgabenquote ist eindeutig zu
Erfolg der Reformen in Mittel-, Ost- und Südosteu- hoch. Wir müssen sie senken; denn sie droht den
ropa, vor allem auch in Rußland! Leistungswillen des einzelnen zu erdrücken und
erschwert das Entstehen von mehr Arbeitsplätzen in
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Deutschland.
Trotz dieser gewaltigen zusätzlichen Aufgaben (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
werden wir unseren strikten Kurs der Haushaltskon-
solidierung weiter fortsetzen. Das Haushaltsmorato- In der Konsequenz heißt das für uns: Im Vordergrund
rium bleibt bestehen. Das heißt: Es kann nur dann an müssen solche steuerpolitischen Maßnahmen stehen,
einer Stelle mehr ausgegeben werden, wenn gleich- die die Schaffung von Arbeitsplätzen in Deutschland
zeitig an anderer Stelle Einsparungen vorgenommen erleichtern. Deshalb wollen wir unsere Unternehmen
werden. vor allem dort entlasten, wo sie im internationalen
Vergleich wettbewerbsverzerrende Sonderlasten
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und tragen, insbesondere also bei den substanzverzehren-
der F.D.P.) den Steuern wie der Gewerbekapitalsteuer und der
Insgesamt dürfen die Staatsausgaben nur deutlich betrieblichen Vermögensteuer sowie bei der Gewer-
weniger zunehmen als das Sozialprodukt. beertragsteuer.
Meine Damen und Herren, mit unserer Politik der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Privatisierung und Überführung von Aufgaben in der F.D.P.)
privatrechtliche Organisationsformen werden wir Selbstverständlich, meine Damen und Herren, müs-
unbeirrt fortfahren. sen und werden wir über die konkrete Ausgestaltung
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Steuerreform und der damit im Zusammenhang
der F.D.P.) stehenden umfassenden Gemeindefinanzreform mit
den Ländern, den Gemeinden und der Wirtschaft
Die Zukunft Deutschlands kommt nicht aus dem sprechen und diskutieren. Für mich — das will ich
Füllhorn staatlicher Wohltaten. Zukunftsgestaltung betonen — ist es unverzichtbar, daß die Gemeinden
beginnt in den Köpfen der Menschen und nicht in der einen fairen Ausgleich erhalten, der das Interesse an
Kasse des Staates. Sparzwänge können allerdings der Ansiedlung von Gewerbebetrieben weiterhin
durchaus heilsam sein: Sie nötigen zum Umdenken gewährleistet und vor allem die kommunale Selbst-
und zur Neufestsetzung von Prioritäten. Sparsamkeit verwaltung stärkt — eine der entscheidenden Voraus-
heute schafft finanziellen Spielraum für morgen. Mit setzungen für die positiven Entwicklungen der letzten
unserer Entschlossenheit, jetzt am eingeschlagenen 40 Jahre in der Bundesrepublik Deutschland.
Sparkurs festzuhalten, nehmen wir auch die Verant-
wortung gegenüber künftigen Generationen wahr. So (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
wie wir die Schöpfung für diejenigen zu bewahren Die notwendige Rückführung des Staates auf seine
haben, die nach uns kommen, so haben wir den originären Aufgaben bedeutet keine Schwächung,
nächsten Generationen auch die finanziellen Grund- sondern in Wahrheit seine Stärkung; denn diese
lagen für die Zukunft zu sichern. So verstanden ist Politik versetzt unseren Staat in die Lage, jene Aufga-
-Finanzpolitik immer und vor allem auch Zukunfts ben wirksam zu erfüllen, die nur er wahrnehmen
und Gesellschaftspolitik. kann. Dazu gehört in erster Linie die Gewährleistung
Die beabsichtigte Senkung der Staatsquote auf innerer Sicherheit. Wir wollen keinen autoritären
46 % ist auch notwendig, um die Steuer- und Abga- Staat, aber wir wollen einen Staat mit Autorität.
benlast für Bürger und Wirtschaft schrittweise senken (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
zu können. Die von mir geführte Bundesregierung hat
in den 80er Jahren beides geschafft: Sie hat die Es geht nicht nur um den Schutz des Bürgers vor dem
Staatsquote verringert und die Steuern gesenkt. Diese Staat, sondern immer auch um seinen Schutz durch
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den Staat. Die Rechte der Opfer dürfen nicht hinter Ich habe deshalb den Spitzenvertretern von Wirt-
den Rechten der Täter zurückstehen. schaft und Gewerkschaften gemeinsame Gespräche
zu diesen wichtigen Zukunftsfragen vorgeschlagen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Ich freue mich darüber, daß die Sozialpartner dies
Die Steuerzahler erwarten zu Recht, daß der Staat ebenfalls als notwendig ansehen. Ich werde sehr bald
seine Einnahmen vor allem für den Schutz von Leben, zu diesen Gesprächen einladen.
Freiheit, körperlicher Unversehrtheit und Eigentum
Wir müssen jetzt alle Kraft aufwenden, um eine
seiner Bürger verwendet.
neue Beschäftigungsinitiative zum Erfolg zu führen.
Grund zur Sorge bereiten uns allen die nach wie vor Dabei muß es auch gelingen, diejenigen wieder
hohe Eigentumskriminalität und die Gewaltbereit- besser in die Arbeitswelt zu integrieren, die im Wett-
schaft in Teilen unserer Gesellschaft. Mit der Öffnung bewerb um Arbeitsplätze oftmals schlechtere Chan-
der Grenzen hat — wie in allen anderen europäischen cen haben. Ich denke beispielsweise an Langzeitar-
Ländern — auch auf deutschem Boden die grenzüber- beitslose. Auch Schwerbeschädigte und Behinderte
schreitende internationale Kriminalität, vor allem der müssen selbstverständlicher Teil unserer Arbeitswelt
Mafia und mafiaähnlichen Organisationen, spürbar sein.
zugenommen. Zur Bekämpfung der grenzüberschrei-
tenden Kriminalität muß die Grenzsicherheit ver- In den Jahren 1983 bis 1992 ist es schon einmal in
stärkt, der rasche Aufbau von EUROPOL vorangetrie- einer großen Gemeinschaftsleistung gelungen, drei
ben und die bilaterale Kooperation insbesondere mit Millionen zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen. Die-
den östlichen Nachbarstaaten intensiviert werden. sen großen Erfolg gilt es zu wiederholen. Der Weg
dazu führt über eine Erneuerung und Zukunftsorien-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und tierung unserer Wirtschaft und Gesellschaft.
der F.D.P.)
Die wirtschaftliche Welt wird sich in den nächsten
Ich sehe mit großer Genugtuung, daß auch jene 20, 25 Jahren — jeder spürt das — stärker verändern
Partner, die noch bei Abschluß des Vertrags von als in den letzten 100 Jahren. Darauf müssen wir uns
Maastricht gegen eine solche Zusammenarbeit in einstellen. Ohne positive Einstellung der Gesellschaft
Europa waren, jetzt auf Grund eigener Erfahrungen zu wissenschaftlich-technischem Fortschritt kann der
zunehmend zu der Erkenntnis gelangen, daß unsere Wohlstand in Deutschland nicht dauerhaft gesichert
damaligen Vorschläge in die richtige Richtung wie- werden.
sen. Ich denke, wir werden auf diesem Feld jetzt ein
wesentliches Stück vorankommen können. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Für die Koalition sind Verhütung und Bekämpfung Wer z. B. Chemie, Gentechnologie oder Kernenergie
von Straftaten gleichermaßen wichtig. Eine wirksame verteufelt, verkennt die großen Chancen einer ethisch
Prävention setzt ein Zusammenwirken von Bund und verantworteten Nutzung dieser Möglichkeiten.
Ländern mit den gesellschaftlichen Kräften in allen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Bereichen voraus. Zur Bündelung der erforderlichen -
Maßnahmen werden wir deshalb das im Jahre 1993 Trotz zunehmender Bedeutung des Dienstlei-
vorgelegte Sicherheitsprogramm von Bund und Län- stungsbereichs ist für unser Land eine starke industri-
dern zu einem nationalen Kriminalitätsbekämp- elle Basis unverzichtbar. Diese Basis kann nur gesi-
fungsplan fortentwickeln. Er muß auch die finanziel- chert werden, wenn wir zu ständiger Innovation bereit
len und personellen Rahmenbedingungen sowie eine sind. Wir dürfen uns auch nicht von notorischen
Verbesserung der Arbeit von Polizei und Justiz einbe- Angstmachern beirren lassen, die immer nur von der
ziehen. „Risikogesellschaft" statt von der „Chancengesell-
schaft" reden. Auf Erneuerung setzen — das muß das
Die in der letzten Legislaturperiode beschlossenen Motto unserer Arbeit sein!
Gesetze zur Bekämpfung der organisierten Kriminali-
tät, zur Geldwäsche und zur Verbrechensbekämp- Wir wollen dabei eine breite Welle unternehmeri-
fung werden auf der Grundlage von Erfahrungsbe- scher Initiativen auslösen, um Raum für neue selb-
richten ausgewertet. ständige Existenzgründungen zu schaffen. Der Mittel-
stand — das ist die Erfahrung von bald 50 Jahren
Bevor der Gesetzgeber erneut tätig wird, müssen Bundesrepublik Deutschland — ist der Motor der
wir natürlich die bestehenden Möglichkeiten voll Sozialen Marktwirtschaft. Kleine und mittlere Be-
ausschöpfen. Sollte sich herausstellen, daß die beste- triebe beschäftigen nahezu zwei Drittel aller Arbeit-
henden Gesetze nicht ausreichen, sind wir auch zu nehmer und bilden vier Fünftel aller Lehrlinge in
einer Verschärfung dieser Gesetze bereit. Deutschland aus.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
ordneten der F.D.P.)
Sie spielen damit eine entscheidende Rolle für die
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die
wirtschaftliche und gesellschaftliche Dynamik unse-
Schaffung zusätzlicher zukunftsfähiger Arbeitsplätze
res Landes.
bleibt die zentrale Aufgabe aller, die für die Beschäf-
tigung Verantwortung tragen. Arbeit für alle muß Seit der deutschen Einheit sind in den neuen
unser gemeinsames Ziel sein. Die Erreichung dieses Bundesländern über 400 000 Selbständige bzw. mit-
Ziels kann keine demokratische Regierung der Welt telständische Unternehmen tätig geworden. Hierin
allein bewirken. Alle gesellschaftlichen Gruppen sind liegt ein ganz wesentlicher Grund für die großen
hier gefordert. Fortschritte beim Wirtschaftsaufbau Ost.
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 43

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl


Neu gegründete Unternehmen in den neuen Bun- Telekommunikationsnetz zum 1. Januar 1998 aufhe-
desländern haben es am Markt, wie wir wissen, oft ben.
sehr viel schwerer als die im Westen, weil sie über kein (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
ausreichendes Kapitalpolster verfügen. Bei schwan- der F.D.P.)
kender Nachfrage oder verspätet bezahlten Rechnun-
gen ihrer Kunden geraten sie daher leicht in wirt- Eine zukunftsgerichtete Standortpolitik für
schaftliche Schwierigkeiten. Wir wollen in solchen Deutschland kann dauerhaft nur dann erfolgreich
Fällen von Kapitalknappheit helfen. Der neue Konso- sein, wenn auch ökologische Notwendigkeiten in
lidierungsfonds sowie die Förderung von langfristig richtigem Maße berücksichtigt werden. Wir werden
gebundenem Beteiligungskapital sind Beispiele hier- daher die wirtschaftlichen Anreize zu einem schonen-
für. den Umgang mit der Umwelt und mit unseren natür-
lichen Ressourcen weiter verstärken. Im Sinne eines
Meine Damen und Herren, der wirtschaftliche Auf- umweltgerechten Verkehrssystems wird die Bundes-
holprozeß in den neuen Bundesländern ist eindrucks- regierung ihre Politik des ökologisch ausgewogenen
voll und kommt ganz unbestritten voran. Dazu hat die Aus- und Neubaus des Straßen- und Schienennetzes
Treuhandanstalt einen entscheidenden Beitrag gelei- und der Binnenwasserstraßen fortsetzen.
stet. Daß dabei auch Fehler gemacht wurden, ist
angesichts der Dimension und der Dringlichkeit die- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. —
ser einmaligen Aufgabe unvermeidlich. Widerspruch bei Abgeordneten der SPD)
Unser Ziel ist es dabei auch, die Umweltbelastung
Dies alles ändert nichts daran, daß die Privatisie-
rung und Sanierung von über 10 000 Industriebetrie- durch eine Weiterentwicklung der Fahrzeugtechnik
erheblich zu verringern. Wir sollten unseren Ehrgeiz
ben zu Recht weltweite Anerkennung erfahren haben.
dareinsetzen, daß Deutschland das erste Land ist, in
Ich danke ganz besonders der Präsidentin der Treu-
dem das Fünf-Liter-Auto Standard wird — das heißt,
handanstalt Birgit Breuel und ihrem ermordeten Vor-
daß der durchschnittliche Kraftstoffverbrauch um
gänger, dem unvergessenen Detlev Rohwedder, für
etwa ein Drittel gesenkt wird.
ihren Dienst an unserem Land.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.
sowie bei Abgeordneten der SPD) — Ich denke, hier können Sie doch wenigstens einmal
klatschen, meine Damen und Herren.
Die Arbeit der Treuhandanstalt ist auch eine große
Gemeinschaftsleistung. An ihr haben über Parteigren- (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
zen hinweg namhafte Vertreter von Wirtschaft und DIE GRÜNEN]: Wenn Sie da noch ein paar
Gewerkschaften sowie die Ministerpräsidenten der Fristen genannt hätten, hätten wir gern
neuen Bundesländer verantwortlich mitgewirkt. Ich geklatscht! Doch etwas Konkretes haben wir
danke allen, die sich für diese beispiellose Aufgabe vermißt!)
des Aufbaus der ostdeutschen Wirtschaft in den letz- — Aber wissen Sie, ob Sie klatschen oder nicht, Herr
ten vier Jahren persönlich engagiert haben. Kollege, das ist eh egal.
Wachstum und Beschäftigung von morgen können Meine Damen und Herren, in der Energiepolitik
wir nicht mit dem Wissen und den Verfahren von halten wir am Ziel — und jetzt kommt eine Passage,
gestern erreichen. Unsere schnellebige Zeit produ- die Ihnen besonders gefällt — eines ausgewogenen
ziert technologische Sprünge in immer kürzeren Zeit- Mixes der verschiedenen Energieträger fest.
räumen. Forschung, Technologie und Innovation sind
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
heute die wichtigsten Wachstumsquellen unserer
Wirtschaft. Gerade wir in Deutschland, einem roh- Dies bedeutet konkret, daß auch in Zukunft die
stoffarmen Land, müssen uns in besonderer Weise auf Möglichkeit bestehen muß, neue Kernkraftwerke mit
den Zugewinn von Wissen und Können stützen. Trotz den jeweils höchsten Sicherheitsstandards zu
aller Haushaltszwänge werden wir deshalb den For- bauen.
schungsetat im Bundeshaushalt überproportional (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
steigern.
Wir werden selbstverständlich ebenso prüfen, wie
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) regenerative Energien und ihre Markteinführung
Der Technologietransfer zwischen Wissenschaft stärker gefördert werden können. Wirtschaft und
und Wirtschaft muß verstärkt werden. Die Umsetzung Gesellschaft brauchen Planungssicherheit im Ener-
in marktfähige Produkte muß zügiger erfolgen. Die- giebereich. Deshalb werden wir trotz aller Erfahrun-
sem Zweck dient auch der „Rat für Forschung, Tech- gen der jüngsten Zeit die Energiekonsensgespräche
nologie und Innovation", den ich zur Intensivierung mit allen Beteiligten wieder aufnehmen.
der Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft, Wirt- Meine Damen und Herren, Umwelt, Verkehr, Ener-
schaft und Politik ins Leben rufen werde. gie und Telekommunikation stehen in engem Zusam-
menhang mit der Erneuerung unserer Wirtschaft und
Meine Damen und Herren, modernen elektroni-
Gesellschaft. Heute sind wir bei Umwelttechnologien
schen Kommunikationsmitteln kommt für Industrie,
führend in der Welt. Diese Spitzenposition müssen wir
Handel, öffentliche Verwaltung und Privathaushalte
ausbauen. Der Einsatz des Transrapid wie des ICE bei
weltweit eine immer größere Bedeutung zu. Mehr
uns ist zugleich die beste Werbung für deren
Wettbewerb auf diesem Feld wird auch bei uns die
Export.
Wachstumsdynamik beschleunigen. Wir werden des-
halb die Monopole für den Telefondienst und das (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
44 Deutscher Bundestag — 13. Wahlpe riode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl


Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der wirklich Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, an die
drängenden Klimaprobleme wäre es töricht, unseren Zukunft zu denken ist nicht nur ein Erfordernis für
technologischen Wettbewerbsvorsprung in der Kern- Wirtschaft, Arbeitswelt, Wissenschaft und Technik.
energietechnik und ihrer Sicherheit aufs Spiel zu Zukunftsorientierung zeigt sich vor allem in unserer
setzen. Bei den neuen Kommunikationstechniken Einstellung zu Kindern. Ohne Kinder verarmt eine
geht es um die Wachstumsmärkte der Zukunft, um Gesellschaft. Wer sich für Kinder entscheidet und
Hunderttausende neuer Arbeitsplätze. Kinder erzieht, erbringt zugleich eine unverzichtbare
Leistung für das ganze Land. Er legt Fundamente für
Wir müssen die Fähigkeiten unserer hochqualifi-
die Gesellschaft von morgen.
zierten Arbeitnehmerschaft noch besser nutzen und
unser bewährtes System der beruflichen Bildung (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
weiterentwickeln, das weltweit als vorbildlich aner- ordneten der F.D.P. und des BÜNDNIS
kannt wird. Die Berufsausbildung kann nicht allein SES 90/DIE GRÜNEN)
von Handwerksbetrieben, kleinen und mittleren Wir wollen, daß unsere Gesellschaft Familien- und
Unternehmen ge tragen werden. Ich sehe mit Sorge kinderfreundlicher wird. Das ist nicht allein oder in
— das will ich hier einmal aussprechen —, daß sich erster Linie immer nur eine Frage des Geldes. Auch
größere Be triebe und Unternehmen immer mehr aus hier ist Umdenken angesagt. Jeder ist aufgefordert:
ihrer Verantwortung für die Lehrlingsausbildung Bürger, Vereine, Verbände und selbstverständlich
zurückziehen. auch die Politik, das Notwendige auf allen Ebenen
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) durchzusetzen.

Es geht uns darum, die be triebliche Ausbildung zu Es ist doch nicht hinnehmbar, daß starre Öffnungs-
sichern und die berufliche Bildung aufzuwerten. Wir zeiten für Kindergärten und unregelmäßige Schulzei-
wollen eine Gleichwertigkeit beruflicher und akade- ten das Leben der Familien, nicht zuletzt der Allein-
mischer Abschlüsse in der Förderung wie bei den erziehenden, unnötig erschweren, daß die Arbeits-
Aufstiegschancen erreichen. welt für Mütter und Väter zu starr organisiert ist und
daß Kinder zu einem erheblichen Nachteil bei der
Meine Damen und Herren, wir sind entschlossen, Wohnungssuche geworden sind.
alle Chancen zu unterstützen und zu nutzen, um neue Eltern und Alleinerziehende brauchen Unterstüt-
Beschäftigungsfelder zu erschließen. So wollen wir, zung und Ermutigung. Wir wollen zum einen die
Frau Kollegin Fuchs, das große Potential der privaten Leistung der Familie auch finanziell stärker anerken-
Haushalte für den regulären Arbeitsmarkt gewin- nen und zum anderen — das ist mir besonders
nen.
wichtig — die Wohnungssituation für Familien mit
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Kindern nachhaltig verbessern.
der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
Hierzu werden die steuerlichen Abzugsmöglichkei- ordneten der F.D.P.)
-
ten, z. B. für Pflege-, Haushalts- und Familienhilfen, Wir wollen Eltern und Alleinerziehende dadurch
erweitert und verbessert. stärken, daß wir ihnen nicht wegsteuern, was sie für
den Unterhalt der Kinder brauchen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Da wird es
Ich habe Sie angesprochen, Frau Kollegin, weil Sie als aber Zeit!)
eine kluge Kollegin seit langem mit mir diese Mei-
nung teilen. Damit tragen wir zugleich der Forderung des Bundes-
verfassungsgerichts Rechnung. Wir werden deshalb
(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das ist richtig, den Kinderfreibetrag deutlich anheben und ihn stu-
Herr Bundeskanzler!) fenweise weiter erhöhen. Das Kindergeld kann dann
— Ich bin Ihnen dankbar, wenn Sie in dieser Sache in gleichzeitig stärker auf diejenigen konzentriert wer-
Ihrer Fraktion werbend wirken. den, die ein niedrigeres Einkommen und mehrere
Kinder haben.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Meine Damen und Herren, für Eltern und Alleiner-
Parallel hierzu werden wir unsere Offensive für ziehende sind familiengerechte Wohnungen und ein
mehr Flexibilität im Arbeitsleben und mehr Teilzeit- kinderfreundliches Wohnumfeld von größter Bedeu-
beschäftigung gemeinsam mit der Wirtschaft und den tung. Vor allem in den Ballungsgebieten besteht
Gewerkschaften fortsetzen. Ich muß hier allerdings Mangel an bezahlbaren Wohnungen.
sagen, daß hier Bund, Länder und Gemeinden ein (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
besseres Beispiel geben müssen. Dies wird ein wich- DIE GRÜNEN]: Und warum?)
tiges Thema der nächsten Monate und Jahre sein.
Wir brauchen deshalb neben mehr Wohnraum auch
Teilzeitarbeit ist mehr als Halbtagsbeschäftigung. eine Verstärkung der Wohneigentumsförderung ins-
Wir haben die große Chance, insgesamt mit einer besondere für Familien mit Kindern.
phantasievolleren Ausgestaltung der Arbeitszeiten
neue Arbeitsplätze zu schaffen. Wirtschaft und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
Gewerkschaften, Unternehmensleitungen und Be- ordneten der F.D.P.)
triebsräte müssen mehr als bisher Arbeitszeitwünsche Bauen ist in Deutschland immer noch zu teuer. Wir
der Arbeitnehmer und die bessere Nutzung teurer wollen deshalb kostensparendes Bauen fördern und
Maschinen miteinander in Einklang bringen. wohnungspolitische Instrumente stärker als bisher auf
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 45

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl


die Erhaltung und die Schaffung bezahlbaren Wohn- Auch hier hoffe ich auf ein gutes Gespräch mit den
raums ausrichten. Ländern und den Gemeinden. Ich hoffe, daß all jene
Wir werden die Reform des sozialen Wohnungsbaus Bürgermeister und Landräte, die mir unter vier Augen
immer wieder sagen, hier müsse eine Änderung
fortsetzen sowie das Wohngeld in Ost und West
vereinheitlichen und familienfreundlich an die Ein- eintreten, auch bereit sind, dies öffentlich zu sagen
kommens- und Mietentwicklung anpassen. und mit durchzusetzen.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, Arbeit (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
und Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft sichern die Der dritte Schwerpunkt für den Umbau des Sozial-
Fundamente unseres Sozialstaats. Er ist eine wichtige staats ist die Fortsetzung der Gesundheitsreform. Ziel
Grundlage des sozialen Friedens und unverzichtbarer dieser Reform ist es, die Leistungsfähigkeit und Finan-
Teil der Sozialen Marktwirtschaft. Wir wollen den zierbarkeit unseres Gesundheitswesens zu erhalten.
Sozialstaat durch Umbau festigen. Nur so können wir Wir werden die Reform im kommenden Jahr im
auch in Zukunft unser im internationalen Maßstab Gespräch mit allen beteiligten Gruppen und Organi-
hohes Niveau sozialer Sicherheit erhalten. sationen erarbeiten und zügig verwirklichen.
Wir wenden in Deutschland heute rund ein Drittel Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, am
unseres Bruttosozialprodukts für soziale Leistungen 8. Mai des kommenden Jahres wird sich das Ende des
auf. Jeder weiß, daß dieser Anteil nicht weiter erhöht Zweiten Weltkriegs zum 50. Mal jähren. Wir werden
werden kann. Wir müssen deshalb prüfen, wie wir dabei in besonderer und gemäßer Weise der Opfer des
denen stärker helfen können, die der Hilfe am meisten Krieges und der Gewaltherrschaft gedenken. Wir
bedürfen. Wir haben uns für den begonnenen Umbau werden uns auch dankbar daran erinnern, daß Kriegs-
des Sozialstaats vor allem drei Schwerpunkte gegner von gestern uns die Hand zu Versöhnung und
gesetzt: Freundschaft gereicht haben.
Die Arbeitsmarktpolitik muß sich noch stärker Seit 50 Jahren leben wir Deutsche in Frieden. Das ist
benachteiligten Gruppen am Arbeitsmarkt widmen die längste Friedensperiode in der jüngeren deut-
und gemeinsam mit Wirtschaft und Sozialpartnern schen Geschichte. Und seit dem Ende des SED-
wirksamere Anreize zur Aufnahme einer Beschäfti- Regimes leben alle Deutschen gemeinsam in Frei-
gung entwickeln. Das Arbeitsförderungsgesetz muß heit.
vereinfacht und übersichtlicher gestaltet, die Effizienz (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
der Arbeitsämter verbessert werden. Wir wollen bei
dieser Reform auf die Erfahrungen von Wirtschaft und Wir haben heute — und dies zum ersten Mal in
Sozialpartnern zurückgreifen und das notwendige unserer Geschichte — gleichzeitig ausgezeichnete
Gespräch mit den Ländern führen. Beziehungen zu Washington, Paris, London und Mos-
kau. Wir leben in Eintracht mit allen unseren Nach-
Im Sozialhilferecht bleibt es bei dem Grundsatz: barn. Darauf dürfen wir stolz sein.
Jeder, der die Solidarität unserer Gesellschaft
braucht, muß die erforderliche Hilfe erhalten. Das - (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
heißt, es geht nicht um lineare Kürzungen. Wir wollen An dem bewährten Kurs der deutschen Außnpoli-
jedoch, wo immer möglich, Anreize und Eigeniniti- tik, vor allem der festen Einbindung Deutschlands in
ative stärken, um Sozialhilfebedürftigkeit zu überwin- das Atlantische Bündnis und in die Europäische
den. Union, werden wir festhalten. Aber, meine Damen
Sozialhilfeempfängern, denen die Aufnahme einer und Herren, auch in der Außenpolitik werden wir uns
Arbeit zugemutet werden kann, soll verstärkt Arbeit angesichts der Veränderungen in der Welt neuen
— auch geringer entlohnte Arbeit — angeboten wer- Herausforderungen mit Umsicht und Klugheit zu
den. stellen haben.
Zentrale Aufgabe dieser Legislaturperiode wird es
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
sein, die politische Einigung Europas weiter zu festi-
ordneten der F.D.P.)
gen und entscheidend voranzubringen. Die deutsch-
Das ist eine Chance für einen Einstieg in Beschäfti- französische Freundschaft wird hierbei unverändert
gung und zugleich eine Schranke gegen die Ausnut- herausragende Bedeutung haben. Die politische Eini-
zung von Sozialhilfe. Es ist auch für die Betroffenen gung Europas ist und bleibt im existentiellen Interesse
wichtig, daß sie nicht in der Abhängigkeit von der Deutschlands. Es geht uns nicht darum, einen euro-
Sozialhilfe bleiben. päischen Überstaat zu schaffen. Europa hat nur dann
Ungeachtet unserer verschiedenen politischen eine wirklich gute Zukunft, wenn es sich an dem
Standpunkte muß es uns allen doch zu denken geben, Prinzip der Einheit in Vielfalt ausrichtet.
daß nach einer neueren Untersuchung rund ein Drittel Wir alle kennen die zentralen Themen der in
der Sozialhilfeempfänger in der alten Bundesrepu- Maastricht vereinbarten Regierungskonferenz 1996.
blik, denen eine zumutbare Arbeit angeboten wurde, Dabei wollen wir die demokratische Verankerung
diese abgelehnt hat. und die Bürgernähe der Union stärken. Dazu gehört
insbesondere der Ausbau der Rechte des Europäi-
(Zuruf von der CDU/CSU: Unerhört!)
schen Parlaments.
Unsere Auffassung ist, daß dies dann auch eine
Die Bürger Europas erwarten von uns eine stärkere
Senkung der Sozialhilfe für diese Empfänger zur
Zusammenarbeit bei der Innen- und der Rechtspoli-
Folge haben muß.
tik. Bisherige Initiativen, wie bei EUROPOL und bei
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) der Verwirklichung einer gemeinsamen Asylpolitik,
46 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

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haben noch nicht den notwendigen Durchbruch terung von NATO und Europäischer Union in einem
erbracht. Wir dürfen hier mit unserem Bemühen nicht engen inneren Zusammenhang.
nachlassen.
Damit in Europa keine neuen Trennlinien entste-
Wir wollen die innere und die äußere Handlungsfä- hen, müssen Integration einerseits und Kooperation
higkeit der Union stärken. Dazu müssen wir die andererseits einander ergänzen. Dabei kommt auch
Institutionen straffen und effektiver gestalten. In der der Stärkung der KSZE eine wichtige Rolle zu.
Außen- und Sicherheitspolitik wollen wir, daß Europa Meine Damen und Herren, wir haben am 31. Au-
in wichtigen Fragen seine gemeinsamen Interessen gust, vor wenigen Monaten, die russischen Soldaten in
geschlossen vertritt. einer bewegenden Zeremonie aus Deutschland ver-
Ein wesentlicher Baustein des Europa von morgen abschiedet. Sie haben uns die Hand zur Freundschaft
ist für uns die Wirtschafts- und Währungsunion. Wir gereicht. In diesem Geiste wollen wir die Partner-
wollen sie unter strikter Einhaltung der im Maastricht- schaft mit Rußland pflegen, das vor schwierigen, ja
Vertrag festgelegten Stabilitätskriterien verwirkli- beispiellosen Reformen steht. Wir wollen alles tun,
chen, und zwar aller Kriterien, meine Damen und damit diese Reformen Erfolg haben.
Herren. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Es liegt im deutschen wie im wohlverstandenen Weltpolitische Umbrüche, globale Probleme wie
europäischen Interesse, daß wir bei der Erweiterung Armut und Hunger, Bevölkerungswachstum, Flücht-
der Europäischen Union immer auch unsere östlichen lingsströme und Umweltzerstörung stellen die deut-
Nachbarn — ich meine hier besonders Polen — im sche Entwicklungspolitik vor große Aufgaben. Zur
Auge haben. Die Westgrenze Polens darf nicht auf Lösung dieser Aufgaben werden wir gemeinsam mit
Dauer die Ostgrenze der Europäischen Union sein. den anderen Industrienationen unseren Beitrag lei-
sten. Ich plädiere in der internationalen Diskussion
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) dafür, daß unsere Leistungen für Mittel-, Ost- und
Die Bundesregierung wird sich deshalb mit großer Südosteuropa sowie für die Nachfolgestaaten der
Entschiedenheit dafür einsetzen, daß in den kommen- Sowjetunion auch in diesem Zusammenhang berück-
den Jahren entscheidende Schritte zur endgültigen sichtigt werden.
Überwindung der Teilung Europas und damit zur (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
dauerhaften Sicherung von Frieden und Freiheit
getan werden. Auf dem in wenigen Wochen stattfin- Es ist für uns auch selbstverständlich, daß wir die
Beziehungen zu den Ländern in Asien, Lateinamerika
denden Europäischen Rat in Essen wollen wir eine
und Afrika weiter ausbauen.
Strategie zur weiteren Heranführung der jungen
Demokratien Mittel-, Ost- und Südosteuropas verab- Noch immer steht eine friedliche Lösung für den
schieden. Krieg im ehemaligen Jugoslawien aus. Noch immer
beherrschen Leid und Tod die Lage besonders in
Neue Mitglieder — das sei hier betont — müssen - Bosnien. Die Bilder der jüngsten serbischen Aggres-
jedoch in jedem einzelnen Fall die notwendigen sion gegen Bihac stehen uns allen vor Augen. Gerade
politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen auch jene Deutschen, die noch die eigene Erinnerung
erfüllen. Darüber hinaus streben wir eine intensive an Krieg und Not in sich tragen, wissen, welches Leid
Partnerschaft auf breiter Grundlage mit den Ländern den Menschen dort zugefügt wird.
Osteuropas an, insbesondere mit Rußland und der
Ukraine, aber auch mit den Nachbarregionen Euro- Deutschland war im Rahmen seiner Möglichkeiten
pas. mit aller Kraft bei den Verhandlungen und vor allem
auch auf humanitärem Gebiet behilflich. Den von den
Die Atlantische Allianz — hier vor allem die USA, Frankreich, Großbritannien, Rußland und uns
Freundschaft mit den Vereinigten Staaten von Ame- erarbeiteten Friedensplan akzeptieren heute — bis
rika — bleibt auch in Zukunft Garant unserer Sicher- auf die bosnischen Serben — alle Kriegsparteien,
heit. Wir wollen die deutsch-amerikanischen Bezie- sogar Belgrad.
hungen gerade angesichts veränderter weltpoliti-
scher Rahmenbedingungen weiter vertiefen. Dazu Ich richte deshalb auch heute von dieser Stelle aus
gehören der Ausbau unserer Zusammenarbeit in den eindringlichen Appell an die Führung der bosni-
Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur und vor allem schen Serben, im Interesse aller Menschen in Bosnien
auch mehr Begegnungen zwischen jungen Menschen das Morden zu beenden, humanitäre Hilfe ohne
beiderseits des Atlantik. Einschränkung zuzulassen und sich dem Friedens-
plan anzuschließen. Hieran führt auf Dauer kein Weg
Die Rolle der Allianz, hat sich seit Ende des Kalten vorbei.
Krieges dramatisch gewandelt. Im Interesse von
(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P.. der
Sicherheit und Stabilität in ganz Europa bündeln
SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Atlantische Allianz und Europäische Union zuneh-
mend ihre Kräfte. In diesem Sinne hat die NATO auf Meine Damen und Herren, die internationale
ihrem Gipfel im Januar 1994 den Ländern Mittel-, Ost- Gemeinschaft erwartet vom vereinten Deutschland
und Südosteuropas enge Partnerschaft angeboten. die uneingeschränkte Wahrnehmung aller Rechte
Zugleich hat sie erklärt, daß sie zu gegebener Zeit und Pflichten als Mitglied der Vereinten Nationen.
neue Mitglieder aufnehmen wird. Die Bundesregie- Dies bedeutet, daß wir uns künftig grundsätzlich an
rung hat diese Politik von Anfang an maßgeblich Maßnahmen der internationalen Gemeinschaft zur
mitgestaltet und mitgetragen. Für uns steht die Erwei Aufrechterhaltung des Friedens und der internationa-
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 47

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl


len Sicherheit beteiligen werden. Wir werden dies Teilung Deutschlands eine feste Grundlage für den
ausschließlich im Rahmen kollektiver Sicherheits- Zusammenhalt der Nation. Sie sind heute genauso
bündnisse und in enger Abstimmung mit unseren wichtig für die Zukunft unseres Landes.
Verbündeten und Freunden tun. Entsprechende Ent-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
scheidungen zur Teilnahme an solchen Aktionen
werden wir nur nach gründlicher Prüfung des Einzel- Der Bundeshauptstadt Berlin kommt für die kultu-
falls und unter Beteiligung des Deutschen Bundesta- relle Ausstrahlung Deutschlands dabei eine beson-
ges treffen. dere Rolle zu. Unsere Bundeshauptstadt muß auch
selbst den Erwartungen gerecht werden, die an sie
Die grundsätzliche Bereitschaft unseres Landes, in gerichtet sind. Unsere Verantwortung, die des Hohen
seine internationale Verantwortung hineinzuwach- Hauses, für den Umzug von Parlament und Teilen der
sen, bedeutet in keiner Weise die Abkehr von erprob- Regierung nach Berlin bezieht sich nicht nur auf
ten Leitlinien der deutschen Außenpolitik. Jedes Fragen der Architektur und der Organisation. Wir
Gerede von einer „Militarisierung deutscher Außen- tragen Verantwortung auch dafür, daß der Charakter
politik" ist deshalb falsch und böswillig, und es unseres Gemeinwesens als des freiheitlichsten Staa-
diffamiert letztlich alle internationalen Anstrengun-
tes in der deutschen Geschichte auch und gerade in
gen zur Friedenssicherung unter Einsatz von Solda- Berlin deutlich sichtbar wird.
ten.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Es scheint mir wichtig zu sein, einmal mehr daran zu
Im kommenden Jahr jährt sich die Gründung der erinnern, daß der Umzugsbeschluß zwei Teile hat. Wir
Bundeswehr zum 40. Mal. Vierzig Jahre lang haben stehen auch in der Verpflichtung gegenüber Bonn,
unsere Soldaten an der Seite der Verbündeten Frie- das in vierzig Jahren unsere freiheitliche Demokratie
den und Freiheit bewahrt. Dafür schulden wir ihnen wesentlich mitgeprägt hat. Das sollten wir nie verges-
Dank. sen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Wir alle haben die epochalen politischen und
Heute dienen junge Wehrpflichtige, ob aus Sachsen gesellschaftlichen Umbrüche in Europa seit 1989
oder Bayern, aus Hamburg oder Thüringen, gemein- lebhaft begrüßt. Inzwischen ist in Deutschland immer
sam in der Bundeswehr. Als Vater zweier Söhne, die in mehr Menschen bewußt geworden, daß die Wieder-
der Bundeswehr gedient haben, finde ich es unerträg- vereinigung uns alle zu einer geistigen Standortbe-
lich, wenn unsere Soldaten als „Mörder" diffamiert stimmung zwingt. Ich denke, dabei sollte es unser
werden. gemeinsames Bemühen sein, als Deutsche souveräner
(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der und gelassener zu werden, auch im Umgang mitein-
F.D.P. — Beifall bei Abgeordneten der ander. Eine freie, eine tolerante und weltoffene
SPD) Gesellschaft braucht einen Kern an Gemeinsamkei-
Ich bin sicher: So wie ich empfindet das auch die große
ten, Grundüberzeugungen und Werten. Das bewahrt
uns vor jener Hysterie und aggressiven Aufgeregtheit,
Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in Deutsch-
die unsere öffentlichen Debatten, auch hier in Bonn,
land.
oft heimsuchen und die uns in Wahrheit überhaupt
Wir brauchen auch in Zukunft gut ausgerüstete und nicht weiterbringen. Wir alle sollten uns stärker
ausgebildete Streitkräfte. Die Bundeswehr muß zur anstrengen, daß das Bewußtsein für die unerläßlichen
Verteidigung fähig sein. Sie muß aber auch uneinge- Werte eines zivilisierten Zusammenlebens in unserem
schränkt am internationalen Krisenmanagement mit- Land erhalten bleibt und an kommende Generationen
wirken können. In diesem Sinne haben wir Eckdaten weitergegeben wird.
zur künftigen Struktur der Bundeswehr erarbeitet.
Wir werden — das ist gut so — in den kommenden
Diese Leitlinien geben der Bundeswehr die notwen-
Jahren leidenschaftliche Debatten um den richtigen
dige Planungssicherheit.
Weg unseres Landes in die Zukunft führen müssen.
Meine Damen und Herren, das Bewußtsein für die Aber es gehört auch zur politischen Kultur, daß wir
gemeinsame Herkunft und der Wille zur gemeinsa- dabei den Respekt vor der Meinung des anderen
men Zukunft sind die Voraussetzung für die innere wahren.
Einheit unseres Vaterlandes und für die Einigung
Meine Damen und Herren, das Ansehen und die
Europas. Europa und Nation, das ist kein Wider-
Stellung des vereinten Deutschlands in der Welt
spruch.
hängen nicht nur von seinem politischen Gewicht,
Unsere Fähigkeit, gute Europäer zu sein, hängt seiner wirtschaftlichen Leistungskraft ab, sondern
auch davon ab, ob wir bereit sind, uns als Deutsche nicht zuletzt — ich möchte fast sagen: vor allem —
selbst anzunehmen. Dazu gehört die Bereitschaft, auch von seiner kulturellen Ausstrahlung.
Licht und Schatten, Höhen und Tiefen in der
Geschichte unseres Volkes zusammen zu sehen und (Zuruf von der PDS: Hört! Hört!)
zu der Verantwortung zu stehen, die sich daraus Wenn wir am Ende dieses Jahrhunderts unseren
ergibt. Dazu gehört, daß wir sowohl die Geschichte Beitrag zu einer menschlicheren Welt leisten wollen,
der alten Bundesrepublik als auch jene der früheren müssen wir zur Partnerschaft ebenso fähig sein wie
DDR als unabtrennbare Teile unserer gemeinsamen zum friedlichen Wettbewerb der Ideen und Zukunfts-
Vergangenheit verstehen. Unsere gemeinsame Kul- visionen. Es ist daher eine der wichtigsten Aufgaben
tur, Sprache und Geschichte waren in der Zeit der der kommenden Jahre, Spitzenleistungen in Wissen-
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Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl


schaft und Kunst stärker zu fördern und auch anzuer- genauso richtig ist: Es hat eine schwache Regierung
kennen. Dies ist wiederum nicht nur eine Frage des mit einer knappen Mehrheit.
Geldes, sondern auch unseres gemeinsamen Willens,
etwa den Hochschulen mehr Eigenverantwortung (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
und mehr Wettbewerb untereinander zu ermögli- des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
chen. Aber ich füge hinzu: Es ist eine Mehrheit.
(Dr. Peter Struck [SPD]: Aber nur mit mehr
(Zustimmung bei der CDU/CSU und der
Geld!)
F.D.P.)
Was uns in Deutschland bisher fehlt, ist, so glaube
ich, ein Forum, das die Themen der Zukunft national Folgerichtig wünsche ich dieser Regierung im Inter-
und international diskutiert. Daher wollen wir eine esse des Landes und der Menschen, die hier leben und
Deutsche Akademie der Wissenschaften ins Leben arbeiten, auch eine glückliche Hand.
rufen. Sie soll in voller Unabhängigkeit eine Stätte des
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Dialogs von Wissenschaft und Kultur, von Wirtschaft,
der CDU/CSU — Zurufe von der CDU/CSU:
Politik und Gesellschaft sein. Sie kann Ratgeber sein
Oh!)
und Anstöße geben für eine umfassende Debatte über
wichtige Zukunftsfragen unseres Landes. Sie kann Zu diesem Wunsch gehört ein Maß an demokrati-
auch, so hoffe ich, mit dazu beitragen, daß die Erfor- scher Gelassenheit und ein gewisser Mut — ein
dernisse der Zukunft in unserem Land breitere gewisser Mut angesichts der bisherigen Ergebnisse
Zustimmung finden. Dabei geht es ebenso um Wissen- Ihrer Politik, Herr Bundeskanzler, und auch ange-
schaftsanregung und -förderung wie um ethische sichts der Koalitionsvereinbarung und dieser Regie-
Fragestellungen sowie um Probleme, die uns in rungserklärung, die mit vielen Worten im Grunde
Europa und als Teil der Weltgemeinschaft gleicher- genommen nur eine Botschaft vermittelt: Es soll so
maßen bewegen. weitergehen wie in den letzten zwölf Jahren.
Ich lade nicht zuletzt die Bundesländer, die Reprä- (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Leider! —Joachim
sentanten der Wissenschaft und alle, die im Bereich Hörster [CDU/CSU]: Das ist ja nicht
von Gesellschaft und Kultur diesen Dialog wollen und schlecht!)
suchen, dazu ein, diese Akademie gemeinsam mit uns
aufzubauen. Dabei beziehe ich mich nicht auf Ihre Worte; denn
Meine Damen und Herren, die innere Einheit unse- wenn es ein Streit um die Worte wäre, dann könnte
res Landes ist nicht mit Einheitlichkeit gleichzusetzen. man vielen einzelnen Formulierungen, mancher
Der Bundespräsident hat in seiner Rede zum 3. Okto- Nachdenklichkeit ja durchaus zustimmen. Aber das
ber hervorgehoben, daß es auch schon in der Vergan- Entscheidende in der Politik sind nicht die wohlfeilen
genheit Verschiedenheiten innerhalb Deutschlands Absichtserklärungen, sondern die Taten, die gesche-
gegeben hat. Ich glaube, daß in dieser Vielfalt einer hen, das Handeln, das organisiert wird, die Entschei-
der großen Reichtümer unseres Landes liegt. Die dungen, die getroffen werden.
Erhaltung dieser Vielfalt in einem zusammenwach- (Beifall bei der SPD)
senden Europa setzt die Bereitschaft zu gemeinsamer
Verantwortung im Handeln voraus. Ich sage deshalb: Es gehört zu dem Wunsch nach
Die vom Grundgesetz festgelegte Mitwirkung der einer glücklichen Hand ein gewisser Mut, weil Sie in
Länder bei Gesetzgebung und Verwaltung durch den den letzten zwölf Jahren den Beweis dafür angetreten
Bundesrat vermittelt eben nicht nur Rechte. Sie haben, daß über Ihre schönen Worte von der Integra-
bedeutet immer auch die Pflicht, das Wohl des Ganzen tion arbeitsloser Bürger, von der Förderung der Kinder
zu fördern. Diese Pflicht ist für uns Deutsche nach dem und der Familien, von der Gleichberechtigung der
Glück der deutschen Einheit, so denke ich, keine Frau, von der Verstärkung des sozialen Wohnungs-
Last. baus, von der Stärkung der deutschen Wirtschafts-
kraft, von der Förderung von Investitionen, von der
Wir haben allen Grund, mit Zuversicht in die Verbesserung der Aufstiegsmöglichkeiten Jüngerer
kommenden Jahre zu gehen. Die gemeinsame Ver- und vielem anderen eines zu sagen ist: Sie haben das
antwortung, die wir tragen, hat einen Namen: Es geht in der Vergangenheit mit Ihren Taten immer wider-
um die Zukunft Deutschlands in einem geeinten legt und genau das Gegenteil dessen getan, was Sie
Europa. Die Bundesregierung und die Koalitionsfrak- mit Ihren schönen Worten beschreiben.
tionen stellen sich dieser Aufgabe.
(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der F.D.P.) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
PDS — Lachen bei der CDU/CSU)
Deshalb fällt die Prognose, daß das wohl auch für
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Es spricht jetzt der die Zukunft gilt, nicht sonderlich schwer. Denn da, wo
Fraktionsvorsitzende der SPD, der Abgeordnete Sie konkret geworden sind — auch diese seltenen
Rudolf Scharping. Ausnahmen haben Sie uns heute gegönnt —, schim-
mert dasselbe Muster durch: Die angekündigten
Taten widersprechen den vielen wohlfeilen Worten.
Rudolf Scharping (SPD): Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Es ist schon Gegen diese Politik werden wir uns stemmen — mit
richtig: Dieses Land steht vor großen Aufgaben. Und aller Kraft, mit aller Vernunft und auch mit aller
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Rudolf Scharping
Leidenschaft. Wir haben dafür Möglichkeiten, und wir Leben in diesem Land besser und sicherer sein
werden sie nutzen. könnte, als es heute ist.
(Beifall bei der SPD) Aus unserer Sicht lohnt es sich — das werden wir
auch tun —, für eine Gesellschaft zu arbeiten und
Wir werden diese Möglichkeiten hier im Deutschen
darum zu ringen, die ihre Lebensqualität durch eine
Bundestag nutzen und die knappe Mehrheit häufiger gesündere Umwelt, durch weniger Angst vor risiko-
vor die Frage stellen, ob sie konkrete Entscheidungen reichen Technologien, durch eine menschliche
im Interesse des Landes und der Mehrheit seiner
Arbeitswelt und durch mehr Zeit der Menschen für
Bürgerinnen und Bürger wirklich ablehnen will. selbstbestimmte eigene Aktivitäten erreicht. Eine
Wir haben diese Möglichkeit im Bundesrat, Gesellschaft, in der menschenwürdige Arbeit für alle,
die arbeiten wollen und arbeiten können, erreichbar
(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Blockadein ist, in der Erwerbsarbeit, Haus- und Familienarbeit
strument der SPD!) zwischen Männern und Frauen gerechter verteilt sind.
der nun wahrlich kein parteipolitisches Instrument Eine Gesellschaft, in der sich Leistungsfähigkeit und
und schon gar nicht ein Blockadeinstrument ist Mitbestimmung nicht ausschließen. Eine Gesell-
schaft, in der Einkommen gerechter verteilt sind,
(Zuruf von der CDU/CSU: Aha!) soziale Sicherung verläßlich ist und die Arbeitnehmer
— seien Sie doch froh, daß in dieser Frage Überein- einen Anteil am wachsenden Produktivvermögen
stimmung besteht —, haben.
(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Haben Sie (Beifall bei der SPD)
denn schon einen Vorsitzenden des Vermitt
Eine Gesellschaft, die Gleichheit und Solidarität zwi-
lungsausschusses? Sie haben ja noch nicht
schen Männern und Frauen, Jüngeren und Älteren
einmal einen Vorsitzenden des Vermitt
sichert.
lungsausschusses!)
in dem aber Sozialdemokratinnen und Sozialdemo- (Beifall bei der SPD)
kraten durch die Führung von oder Beteiligung an Eine Gesellschaft, vor der sich andere nicht fürchten
14 Landesregierungen — ich vermute, daß das in und die ihre Verantwortung für Frieden und Mensch-
wenigen Tagen der Fall sein wird — eine ungewöhn- lichkeit in der Welt wahrnimmt, auch eine Gesell-
lich starke Stellung haben, von der wir konstruktiven schaft, in der Bürgerinnen und Bürger, wo immer sie
Gebrauch machen werden. Wir haben diese Möglich- sich betroffen fühlen, an den Entscheidungen mitwir-
keiten auch durch die gemeinsamen Gremien von ken und das Gemeinwesen als ihre eigene Angele-
Bundestag und Bundesrat. genheit verstehen können.
Ich schicke das deshalb voraus, weil ich am Anfang Das ist das Leitbild einer sozialen Demokratie,
überhaupt keinen Zweifel daran aufkommen lassen - einer Demokratie, die in der sozialen Gerechtigkeit
will, daß sich die Sozialdemokratie insgesamt, d. h. eine stabile Grundlage findet, einer Demokratie, die
selbstverständlich auch ihre Bundestagsfraktion, an sich nicht im Wahlgang erschöpft, sondern im alltäg-
dem orientieren wird, was für die Verbesserung der lichen Leben der Menschen lebendig und erfahrbar
Lebenssituation von Menschen in Deutschland geeig- ist,
net ist. Wir werden uns nicht darauf konzentrieren,
künstliche Konflikte mit der Regierung herbeizufüh- (Beifall bei der SPD)
ren, Konflikt um des Konfliktes, Streit um des Streites, einer Demokratie, von der jeder und jede einzelne
Auseinandersetzung um der Auseinandersetzung wil- sich angenommen weiß und sich auch ermutigt fühlen
len zu betreiben, sondern immer den Zielpunkt im kann, eigene Beiträge zu ihrer Entwicklung zu lei-
Auge behalten, was unser Handeln dazu beitragen sten.
kann, die kontrete Situation von Menschen in
Deutschland, ihre Lebensbedingungen und ihre (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Bisher ha-
Zukunftschancen zu verbessern. ben Sie das aber nicht befördert!)
(Beifall bei der SPD — Eduard Oswald [CDU/ Dieses Ziel einer lebenswerten, einer von Solidarität
CSU]: Das ist ja ganz neu! Das klingt ja ganz und Fortschritt geprägten Gemeinschaft ist es, was
energisch! Sie sind ganz energisch, weil Herr unserer Arbeit Richtung, Zusammenhang und Ener-
Schröder heute da ist!?) gie geben kann und geben wird.
Ich füge hinzu: Wenn ich auch heute Defizite Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich
beschreibe, die mit einer besseren Politik in Deutsch- beschreibe das, weil es praktische Konsequenzen
land dringend überwunden werden müssen, dann nicht nur für unsere Arbeit, sondern auch für unsere
mache ich das nicht, weil ich überall nur Gefahren Initiativen haben wird. Da wird in der Regierungser-
oder Risiken sehe. Wir haben ein durchaus positives klärung des Bundeskanzlers beispielsweise von der
Bild von der Gesellschaft, in der wir gemeinsam leben. Notwendigkeit gesprochen, mehr zu tun für die wirt-
Worum es allein gehen wird, sind eine bessere Art des schaftliche Kraft des Landes, und dann ist der Satz
Lebens und des Zusammenlebens. Risiken und gefallen, daß sich daran — ich sage das einmal in
Gefahren, Defizite und Ängste, die in der politischen meinen Worten — die Zukunft auch vieler anderer
Auseinandersetzung vielleicht hier und da eine sehr Bereiche in unserem Land entscheiden wird. Das ist
stark beherrschende Rolle spielen, finden nur deswe- wohl wahr. Aber wenn ich diese Ankündigungen in
gen unsere Aufmerksamkeit, weil wir wissen, daß das ihrer schönen Allgemeinheit höre — mit den wenigen
50 Deutscher Bundestag — 13. Wahlpe riode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Rudolf Scharping
konkreten Ausnahmen —, dann frage ich mich: Wer auch gar nichts Konkretes einzuspeisen hat? Wie soll
spricht hier eigentlich? das denn gehen?
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
DIE GRÜNEN) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
PDS)
Derjenige, der von der Gleichwertigkeit beruflicher
und allgemeiner Bildung redet und sie als eine Wieviel Vertrauen kann ein Regierungschef be an
Chance für den einzelnen Menschen und als eine -spruchen,dimtTascherulgn
Notwendigkeit für unsere gemeinsame wirtschaftli- muß, daß sein eigenes Handeln bisher
che Zukunft begreift, ist der Bundeskanzler, der die (Joachim Hörster [CDU/CSU]: Erfolgreich
Verantwortung dafür trägt, daß es bisher eine Gleich- gewesen ist!)
wertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung
nicht gibt, ist der Vorsitzende einer Partei, die jede genau diesen Dialog, diesen notwendigen gesell-
Anstrengung in den Ländern zur Herbeiführung die- schaftlichen Konsens, diese notwendige gemeinsame
ser Gleichwertigkeit bisher heftig bekämpft und dif- Anstrengung belastet statt gefördert hat?
famiert hat. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN — Sieg
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
fried Hornung [CDU/CSU]: Bisher haben Sie
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
doch alles blockiert!)
PDS)
Da gibt es ein hübsches und übrigens auch sehr
Es ist der Bundeskanzler selbst, der die Verantwor- eklatantes Beispiel. Sie reden davon, wir dürften nicht
tung dafür trägt, daß die Möglichkeiten z. B. der mehr die Arbeitskraft und die Erfahrung von 55jähri-
Aufstiegsförderung genauso zerstört worden sind, wie gen Arbeitslosen verschleudern.
das kreative Potential der Arbeitnehmer durch die
Streichung der Erfindervergünstigung beschädigt (Heiterkeit bei der SPD — Joachim Hörster
wurde. [CDU/CSU]: Recht hat er!)

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das ist richtig. Genauso richtig ist, Herr Bundeskanz-
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der ler, daß Sie bisher eine Politik gemacht haben, die
PDS) genau zu dieser Verschleuderung der Erfahrung und
der Arbeitskraft geführt hat.
Damit wir uns richtig verstehen, Herr Bundeskanz-
ler: Ich sage das nicht, um jetzt, wie Sie gesagt haben, (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
die Aufrechnung der Vergangenheit zu betreiben GRÜNEN und der PDS)
oder den Wahlkampf fortzusetzen. Ich sage es aus Sie sind ganz offenkundig nur an einer einzigen
einem einzigen Grund: Wieviel Glaubwürdigkeit - Stelle konkret geworden. Es wird gesagt: Man muß
kann ein Mann beanspruchen, der für zwölf Jahre einmal über die Effizienz der Arbeitsverwaltung nach-
Politik und nicht nur für seine guten Absichten, wenn denken. Tun Sie das, und teilen Sie die Ergebnisse
sie denn für die Zukunft gut sind, geradezustehen mit!
hat?
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Es wird gesagt, man müsse anfangen, über die Regio-
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der nalisierung der Arbeitsmarktpolitik nachzudenken.
PDS) Tun Sie das, und sagen Sie einmal, was Sie an den
Das alles kleiden Sie in das freundliche Bild, das Vorstellungen der Sozialdemokratie zur Änderung
seien nicht nur Ankündigungen. Manches von dem, des Arbeitsförderungsgesetzes konkret auszusetzen
was getan werden müßte, ist ja wieder einmal haben!
zunächst in Expertenkommissionen verbannt worden. (Beifall bei der SPD)
Und dann kommt die freundliche Einladung, man
solle möglichst viel miteinander reden. So viele Einla- Es wird gesagt, man wolle — jetzt wird es konkret; das
dungen zum gemeinsamen Gespräch habe ich noch ist die einzige konkrete Ankündigung — die Anreize
selten gehört: an die Länder, an die Gemeinden, an zur Aufnahme von Arbeit verstärken und im Zweifel
die Sozialpartner, an die Gewerkschaften und derglei- die Sozialhilfe kürzen, wenn zumutbare Arbeit nicht
chen mehr. aufgenommen werde.

(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: (Zuruf von der CDU/CSU: Richtig! — Weite
Die haben alle Verantwortung! — Joseph rer Zuruf von der CDU/CSU: Bravo!)
Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Wenn das der zentrale Punkt sein soll, dann stelle
NEN]: Helmut, der Diskursive!) ich einen anderen daneben, von dem wir überzeugt
sind, daß er wesentlich wichtiger ist. Wir werden
Da frage ich mich: Wie will denn eine Regierung, endlich dazu kommen müssen, die Belastung der
von der die Menschen zu Recht erwarten können, daß Arbeit und der Arbeitsplätze mit Kosten, und zwar
sie Vorstellungen von ihrem eigenen Handeln hat, insbesondere mit Kosten durch die sozialen Siche-
den notwendigen Diskurs mit gesellschaftlichen rungssysteme, zurückzuführen.
Gruppen, mit Gemeinden, mit Ländern, mit anderen
führen, wenn sie selbst in diesen Dialog nichts, aber (Beifall bei der SPD)
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Rudolf Scharping
Es ist nicht Aufgabe der Beitragszahler, die deutsche war ja überschrieben mit „Noch eine Chance für die
Einheit zu finanzieren. Liberalen" .
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Manfred (Beifall bei der SPD)
Müller [Berlin] [PDS]) Ich habe den Eindruck, das ist bei Ihnen ebensowenig
angekommen wie der Gedanke, daß die größtmögli-
Es ist nicht Aufgabe der Beitragszahler, aktive
che Freiheit des lohnabhängigen Bürgers mit einem
Arbeitsmarktpolitik zu finanzieren. Das ist eine
Höchstmaß an wirtschaftlicher Effektivität verbunden
gemeinschaftliche Aufgabe.
werden sollte und daß, so sagte Karl-Hermann Flach,
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten es die liberale Aufgabe des 20. und 21. Jahrhunderts
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der sei, Bürgerrechte am Arbeitsplatz zu stärken.
PDS) (Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Ganz
Wer sich einmal anschaut, was der Bundesverband lesen!)
der Deutschen Industrie zu diesem Thema sagt, der Meine Damen und Herren, wir werden deshalb die
stellt sich nur noch die verwunderte Frage, warum wirtschaftspolitischen Fragen, die Fragen, die mit den
nicht wenigstens diese konkreten Vorschläge bei Arbeitsplätzen zu tun haben, nicht nur als ein ökono-
dieser Bundesregierung gefruchtet haben. misches Problem begreifen, sondern weiter das Ziel
(Beifall bei Abgeordneten der SPD — Dr. verfolgen, daß die Kreativität, die Phantasie, die
Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Wie Bereitschaft zur Mitverantwortung von Arbeitnehme-
finanzieren Sie es denn?) rinnen und Arbeitnehmern auch wirksam werden
können, daß sie dafür Regeln zur Verfügung gestellt
Mich wundert das nicht. Wir haben es ja nicht nur bekommen, daß das Betriebsverfassungsgesetz ent-
mit dem Bundeskanzler, sondern auch mit einem sprechend erweitert wird,
Kabinett zu tun, in dem jeder Neue oder jeder, der eine
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Joseph
neue Aufgabe übernommen hat, eine faire Chance
Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
verdient. NEN])
(Zuruf von der CDU/CSU: Jawohl!) wenn es um neue Technologien und neue Arbeits-
Ich bin allerdings auch fest davon überzeugt: Es wird plätze geht, daß Mitbestimmung gesichert bleibt —
uns nicht weiterhelfen, wenn wir in diesem Bereich eine Uridee in der Bundesrepublik Deutschland, von
immer nach den Methoden des alten Denkens vorge- der sich die CDU in der Praxis und die F.D.P. in der
hen. Praxis und im Gedankengut verabschiedet hat.

Deshalb will ich Ihnen, gerade mit Blick auf den (Beifall bei der SPD)
einen oder anderen hier unter uns, einmal mit einem
kleinen Zitat dienen: Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Scharping,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten
(Zuruf von der CDU/CSU: Das finden wir -
Burkhard Hirsch?
aber schön!)
Der Rechtsanspruch auf Sozialversicherung ist in Rudolf Scharping (SPD): Wenn es nicht allzuviel
Wahrheit der wichtigste Besitztitel in der industri- wird, gerne.
ellen Massengesellschaft. Nicht der ist wahrhaft
frei, der alle Lebensrisiken selber trägt und am (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)
Ende der Gemeinschaft häufig ziemlich rechtlos — Ich meine, in bezug auf die Zahl der Zwischenfra-
zur Last fällt, sondern derjenige, dem die Angst gen.
vor unverschuldeter Not, unberechenbaren Risi-
ken und vor dem Alter genommen wird. Die Dr. Burkhard Hirsch (F.D.P.): Verehrter Herr Kol-
Befreiung von der Existenzangst, soweit men- lege, da Sie Karl-Hermann Flach zitiert haben, möchte
schenmöglich, gehört zu den entscheidenden ich Sie fragen: Wären Sie bereit, daran mitzuarbeiten
Aufgaben in der Massengesellschaft. — und wenn ja, wie Sie sich das vorstellen —, die
(Beifall bei der SPD — Siegfried Hornung Rechte des einzelnen Arbeitnehmers im Betrieb zu
[CDU/S]:asitbeunhöcm stärken und nicht nur die Rechte der Organisationen
Maße gewährleistet!) von Arbeitnehmern?
(Beifall bei der F.D.P. — Widerspruch bei der
Ich bedauere es ein bißchen, daß die F.D.P. — das
SPD)
zeigt ja, wohin sie sich entwickelt hat —
(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Rudolf Scharping (SPD): Herr Kollege Hirsch, ich
Jetzt aber vorsichtig!) will gerne versuchen, das im weiteren Verlauf meiner
da keinen Beifall bekunden kann. Ausführungen deutlich zu machen, im Zweifel auch in
einem persönlichen Gespräch. Allerdings möchte ich
(Beifall bei Abgeordneten der SPD — Chri- einem Mißverständnis, das bei Ihnen möglicherweise
stian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Da gäbe vorhanden sein könnte — Sie wissen, daß ich Sie
es aber auch bei Ihnen noch ein paar solcher schätze —, vorbeugen: Zu glauben, daß die Interes-
Felder!) senvertretung von Arbeitnehmern durch Betriebsver-
Denn Karl-Hermann Flach hat 1971 zu Recht von den fassungen, Betriebsräte bzw. Personalräte oder
Chancen für die Liberalen gesprochen. Das Büchlein Gewerkschaften die Rechte oder die Chancen des
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Rudolf Scharping
einzelnen Arbeitnehmers begrenzen könnte, das tung, daß sie ihrerseits die Gesellschaft, in der sie
halte ich für ein grobes Mißverständnis, um es höflich leben, annehmen und anerkennen können. Das ist
zu formulieren. keine Einbahnstraße. Das ist nicht mit Worten zu
leisten, sondern nur mit Taten.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der (Beifall bei der SPD)
PDS) Vor diesem Hintergrund, Herr Bundeskanzler,
Sie ist die Grundlage dafür, daß der einzelne seine haben Sie zum wirtschaftlichen Bereich davon
Möglichkeiten überhaupt entfalten kann. gesprochen, Sie wollten zunächst die Gewerbekapi-
talsteuer abschaffen, am Ende auch die Gewerbe-
Meine Damen und Herren, ich will zu einem
steuer selbst.
wesentlich wichtigeren Punkt zurück. Wer wirtschaft-
lichen Fortschritt haben will, der wird nicht nur dafür (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das ist rich
sorgen müssen, daß es eine aktive Arbeitsmarktpolitik tig und notwendig!)
und Möglichkeiten zur Fort- und Weiterbildung gibt Wir reden, wenn das für die Dauer dieser Legislatur-
und die Lohnnebenkosten dadurch gesenkt werden, periode gemeint sein sollte, über einen Betrag von
daß allgemeine Aufgaben auch von allen gemeinsam mehr als 40 Milliarden DM. Darüber läßt sich mit
finanziert werden, sondern der muß auch dafür sor- wolkiger Allgemeinheit nicht hinweggehen, vor allen
gen, daß es ein vernünftiges Verhältnis zwischen Dingen nicht wegen der Folgen und weil Sie bisher
Leistung, individuellen Möglichkeiten und Verant- keine Auskunft darüber geben, wie dieser angesichts
wortung gegenüber der Gemeinschaft gibt. einer hohen Verschuldung sowieso unverantwortli-
Dieser Gedanke ist in den letzten Jahren stark che Einnahmeausfall kompensiert werden soll.
beschädigt worden. Ich lese beispielsweise, daß Kollege Schäuble
(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Von Ih- (Oh-Rufe von der CDU/CSU)
nen!)
— haben Sie etwas dagegen, wenn man sich auf Ihren
Es ist häufig der Eindruck entstanden, als sei soziale eigentlichen Vordenker bezieht? —,
Gerechtigkeit ein wesentliches Prinzip nur für jene,
(Beifall und Heiterkeit bei der SPD)
die leider arbeitslos sind, leider keine bezahlbare
Wohnung finden, wegen der Zahl ihrer Kinder leider wenn das „Handelsblatt" zutreffend berichtet, davon
Schwierigkeiten haben usw. Wohlverstanden — spä- gesprochen hat, man könne über einen kommunalen
testens seit der Politik des amerikanischen Präsiden- Hebesatz für die Lohn- und Einkommensteuer nach-
ten Roosevelt — ist der Sozialstaat aber mehr. Er ist denken.
nicht allein Hilfe für Bedürftige oder Benachteiligte; er (Zurufe von der CDU/CSU: Richtig!)
ist konstitutives Prinzip einer parlamentarischen
Demokratie. Denn vom sozialen Frieden profitiert die Ich will dazu zwei Bemerkungen machen. Wir
gesamte Gesellschaft, und zwar wirtschaftlich und - hatten in diesem Haus und im Bundesrat schon einmal
hinsichtlich der Qualität des Zusammenlebens. eine Debatte über die Frage, ob es klüger sei, Steuern
im Bereich der Unternehmensbesteuerung, also Spit-
(Beifall bei der SPD) zensteuersätze, allgemein zu senken, oder ob es
Gesellschaften ohne kulturelle, ohne soziale und gerade wegen der Stärkung des Investitionsstandor-
ohne wirtschaftliche Chancen für alle sind auf Dauer tes Deutschland und der Schaffung von Arbeitsplät-
nicht zukunftsfähig. Alle Erfahrung der Vergangen- zen nicht vernünftiger sei, dafür zu sorgen, daß
heit beweist: Wenn die Frage nach der sozialen Unternehmen, die investieren, forschen, entwickeln
Gestaltung des Zusammenlebens der Vermutung aus- und neue Produkte in den Markt bringen, gezielt
gesetzt wird, die soziale Leistung sei gewissermaßen entlastet werden, daß der Mittelstand gezielt entlastet
der Lazarettwagen am Ende einer unvermeidlichen wird.
wirtschaftlichen Entwicklung, dann verlieren Gesell- (Beifall bei der SPD)
schaften ihren Zusammenhalt.
Sie dürfen sich darauf einrichten: Wir werden allem
(Beifall bei der SPD) widerstehen, was die kommunale Finanzkraft und die
Sie verlieren das konstitutive Element, das sie erst zu kommunale Finanzhoheit aushöhlt. Wir werden allem
Gesellschaften macht. widerstehen, was am Ende nur dazu führt, daß ein
breiter Steuerregen über alle Unternehmen hernie-
Deshalb sind wir der Meinung, daß Massenarbeits- dergeht, während diejenigen, die investieren, die
losigkeit überwunden, Wohnungsnot abgebaut und forschen, die entwickeln und die etwas für Arbeits-
das Wohlstandsgefälle zwischen Ost- und West- plätze tun, eben nicht die notwendige Entlastung
deutschland zügig verringert werden müssen, und erfahren. Genau das geschieht aber, wenn Sie Ihr
zwar nicht, weil wir einäugig auf die Interessen von Vorhaben durchsetzen wollen.
Gruppen, sondern auf das gemeinschaftliche Inter-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
esse an einem solidarischen Zusammenleben hin
orientieren wollen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wir werden nicht dazu die Hand reichen, daß die
(Beifall bei der SPD)
Gemeinden ein Interesse an der Ansiedlung von
Nur dann, wenn sich alle oder fast alle von der Betrieben verlieren. Wir werden nicht dazu die Hand
Gesellschaft, in der sie leben, angenommen und reichen, daß sie ihre Gebühren und Abgaben erhöhen
anerkannt fühlen, gibt es gute Gründe für die Erwar- müssen. Es stellt sich hier auch die Frage, wie bei-
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 53
Rudolf Scharping
spielsweise der Magistrat der Stadt Frankfurt die Generationenvertrages und stellt die Frage, was diese
Bürger von Kronberg eigentlich heranziehen soll, Regierung denn eigentlich vorhat. Sie wollen den
damit sie die Oper, die kulturellen, die sportlichen und sozialen Wohnungsbau stärken oder den Wohnungs-
sonstigen Einrichtungen dieser großen Stadt für ihr bau insgesamt. Ich höre das gerne und frage mich: Ist
Umfeld bezahlen können. da wirklich die Umkehr von der bisherigen Politik
oder nur das wortreiche Bemänteln mit dem Ziel,
(Beifall bei der SPD)
genau die gleiche Politik fortzusetzen? Wie sind Sie
Vor diesem Hintergrund, kulturelle Einrichtungen denn mit dem Mietrecht umgegangen, wie mit den
zu schließen oder teurer zu machen, soziale Einrich- Mitteln für den sozialen Wohnungsbau, wie mit den
tungen, auf die viele Menschen angewiesen sind, Verhältnissen bei Familien und Kindern?
öffentliche Einrichtungen, ein Dienstleistungsange-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
bot für die Bürger immer teurer zu machen, indem
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
man die kommunale Finanzbasis immer weiter
schwächt, werden wir nicht mitmachen, schon gar Es hört sich gut an, daß Kinder ein Armutsrisiko
nicht, wenn es auf der wirtschaftlichen Seite gegen- geworden seien und ein Hindernis auf der Suche nach
über investierenden Unternehmen keine einzige einer bezahlbaren Wohnung.
wirksame Verbesserung bedeutet. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten DIE GRÜNEN]: Seit vielen Jahren!)
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Auf Grund vieler meiner eigenen Reden in der Ver-
PDS) gangenheit kommt es mir sehr bekannt vor, wenn ich
Meine Damen und Herren, damit ist eine Brücke zur höre, daß auf der einen Seite die Kinderfreundlichkeit
sozialen Entwicklung in Deutschland geschlagen. In einer Gesellschaft beschworen wird, dann aber gegen
diesen Tagen ist der Konsultationsprozeß der beiden die Spiel- oder Bolzplätze geklagt wird. Wie war es
christlichen Kirchen zur wirtschaftlichen und sozia- denn, als hier, im Deutschen Bundestag, in solchen
len Lage in Deutschland eröffnet worden. Wer vorher Fragen über die konkreten gesetzgeberischen Ent-
geglaubt hatte, es sei das Geschrei einer gewerk- scheidungen verhandelt werden mußte? Wie sah das
schaftlich organisierten Interessengruppe oder die in den Haushalten aus, wie in Ihrer konkreten Poli-
besondere Betroffenheit von Wohlfahrtsorganisatio- tik?
nen, wenn die soziale Lage in Deutschland beklagt Herr Bundeskanzler, ich bitte sehr um Verständnis:
wird, der wird sich hoffentlich gerade in Parteien, die Eines können Sie nicht tun. Sie können nicht sagen,
für sich das Christliche beanspruchen, durch diese die Bürgerinnen und Bürger hätten die Koalition der
Debatte in den Kirchen eines Besseren belehren Mitte, die in Wahrheit eine Koalition der Schwäche ist,
lassen. Was Sie den Bürgerinnen und Bürgern in gewählt, gleichzeitig aber sagen: Jetzt betreibe ich
Deutschland signalisieren, ist zum Beispiel von Hans selbst höchstpersönlich Opposition gegen die Politik,
Küng mit einem guten Satz abgelehnt worden: die ich in den letzten zwölf Jahren gemacht habe.
Lebensstandard alleine ergibt keinen Lebenssinn.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) GRÜNEN und der PDS)
Materieller Wohlstand alleine ergibt keinen Sinn und Sie können nicht sagen, die Bürgerinnen und Bürger
übrigens auch keinen Zusammenhalt für das Leben hätten die Kontinuität gewollt. — Ich fürchte, sie
untereinander. Wenn das aber so ist, dann müssen Sie werden diese Art von Kontinuität aber bekommen.
sich fragen lassen, warum Sie in Ihrer praktischen
Politik bisher alles ignoriert haben, was von den Wo ist der konkrete Vorschlag zur Förderung des
Gewerkschaften, von den sozialen Wohlfahrtsorgani- sozialen Wohnungsbaus? Wo ist der konkrete Vor-
sationen und mittlerweile auch von den Kirchen an schlag, Bauland preiswerter zu machen? Wo sind die
besorgten Stimmen und an konkreten Vorschlägen konkreten Vorschläge, die Spekulation mit Bauland
angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Entwick- und sein Horten zu verhindern, zumindest zu
lung in Deutschland geäußert worden ist. Ich finde es erschweren? Welche konkreten Maßnahmen stellen
erstaunlich, daß ein Regierungschef aus den Reihen Sie sich vor? Wir haben noch runde zwei Tage Zeit, das
der Christlich-Demokratischen Union in diesen Tagen hier miteinander zu besprechen. Vielleicht ist es
eine Regierungserklärung abgeben kann, ohne ein einem Regierungschef nicht möglich, bei den vielen
einziges Wort dazu zu sagen, wie die Kirchen und die Dingen, die er ansprechen will, ansprechen muß oder
Wohlfahrtsorganisationen die soziale Lage dieses meint, ansprechen zu müssen, zu den Fragen des
Landes beurteilen. praktischen politischen Entscheidens Stellung zu neh-
men.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
Nein, wenn Sie ankündigen, daß Sie die Kinderfrei-
GRÜNEN und der PDS)
beträge erhöhen wollen, wenn Sie ankündigen, daß
Neben der Arbeit und der Stärkung der wirtschaft- Sie in diesem Bereich eine bittere soziale Ungerech-
lichen Leistungskraft, neben der Stärkung der Investi- tigkeit noch ausbauen wollen, dann rechnen Sie bitte
tionen in Deutschland, der Förderung neuer Techno- mit dem entschlossenen Widerstand der Sozialdemo-
logien wird die Frage nach der Befestigung der kratie.
sozialstaatlichen Grundlage unseres Zusammenle-
bens die zweite entscheidende Zukunftsfrage sein. (Beifall bei der SPD)
Das betrifft Frauen wie Männer, Kinder wie Ältere, Sie haben Teile der Wohnungsbauproblematik
stellt die Frage nach der Wirksamkeit des sozialen genauso wie die Frage der Steuerfreiheit des Exi-
54 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Rudolf Scharping
stenzminimums zunächst in Expertenkommissionen träglichkeit unter den Menschen, die heute leben, und
verbannt. Das hat Ihnen über den 16. Oktober hin- dem Maßstab der Verträglichkeit mit den Lebens-
weggeholfen. Es wird Ihnen aber in den nächsten vier chancen künftiger Generationen. Niemand hat heute
Jahren, wenn sie es denn werden, nicht weiterhel- das Recht, deren Lebenschancen einzuengen.
fen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Meine Damen und Herren, eine Regierungserklä- DIE GRÜNEN)
rung von so allgemeiner Wolkigkeit macht es in
Natürlich ist der Schutz von Umwelt, die Produktion
manchen Bereichen schwer, zu erkennen, was denn
umweltverträglicher Güter, auch eine große wirt-
wirklich geschehen so ll . Deshalb will ich an dieser
schaftliche Chance. Natürlich ist die ökologische
Stelle lieber sagen, was wir durchsetzen wollen. Wir
Orientierung der gesamten Volkswirtschaft, das Den-
wollen durchsetzen, daß es einen gerechten und jedes
ken in mehr produktintegriertem Umweltschutz, weg
Kind gleichermaßen ernst nehmenden Familienlei-
von diesen End-of-Pipe-Technologien, die am Ende
stungsausgleich gibt. eines Schornsteins, eines Abwasserrohres mit feinzi-
(Beifall bei der SPD) selierten Überwachungsbehörden alles mögliche
kontrollieren wollen, hin zu einer in das Produkt
Wir wollen durchsetzen, daß es ein einheitliches
verlagerten Idee von Umweltschutz, natürlich ist das
Kindergeld gibt.
Denken in kreislauforientierter Wirtschaft die Grund-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) lage.
Wir wollen durchsetzen, daß von den gleichen Chan- Dann fallen eine ganze Reihe von konkreten Ent-
cen der Frauen, daß von der Vereinbarkeit von scheidungen.
Familie und Beruf nicht nur in öffentlichen Bekundun-
(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Diese In
gen geredet wird, sondern daß dieser Deutsche Bun-
dustrien, die vertreiben Sie doch alle aus
destag entsprechende Rahmengesetze verabschiedet,
unserem Land!)
die den einzelnen Frauen überhaupt eine Chance
geben. — Verehrter Herr Kollege, wenn Sie wüßten, daß wir
mit dem Umweltschutz immer noch einen der größten
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Joseph
Wachstumsmärkte haben,
Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
NEN]) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Sie werden spätestens bei der Frage der Reform des
§ 218 beantworten müssen, wie Sie es denn mit dem wenn Sie wüßten, daß die Unternehmen in Deutsch-
Rechtsanspruch auf einen Platz im Kindergarten hal- land mittlerweile vorrechnen, daß ihre Belastungen
ten. Wenn hier unterschiedliche Öffnungszeiten mit Umweltschutzkosten wesentlich niedriger sind als
beklagt werden oder die Tatsache, daß die Schule mal jene Lasten, die Sie ihnen mit einer unzuverlässigen
um 12, mal um 11, mal um 13 Uhr zu Ende geht und es - Währungspolitik, den daraus entstehenden Schwan-
für Mütter und Väter folglich schwierig ist, sich darauf kungen und den Lohnnebenkosten aufgehalst ha-
einzurichten, dann ist das alles schön zu hören. ben,
Solange aber diese Bundesregierung nicht bereit ist,
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
für die von ihr selbst und von der Koalition gesetzten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Rahmenbedingungen denen die Mittel in die Hand zu
geben, die das ausführen müssen, bleibt das alles wenn Sie das alles einmal beachten würden, dann
Makulatur. würden sich Ihnen die Augen öffnen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Es dürfte Ihnen nicht verborgen sein, daß mittler-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der weile weltweit so angesehene Institute wie das MIT in
PDS) Boston und viele andere Institutionen, angeführt von
einer Gruppe international tätiger Unternehmen, wo
Folglich wollen wir auch durchsetzen, daß im sich 50 Frauen und Männer zusammengeschlossen
Bereich des Wohnungsbaus Vorschläge aufgegriffen haben, selbst als Unternehmen die Umkehr hin zu
werden, daß nicht mehr mit einer unmittelbaren, einer ökologisch orientierten Wirtschaft fordern. Die
durch Zuschüsse in barem Geld organisierten Förde- sind doch in den Unternehmen mittlerweile viel weiter
rung, sondern im Zweifel durch Bürgschaften oder als das Denken in der CDU/CSU oder in der F.D.P.
entsprechende Eigenkapitalsurrogate wesentlich oder in dieser Regierung.
besser geholfen wird, als uns das in der Vergangen-
heit gelungen ist. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Meine Damen und Herren, die dritte große
Zukunftsaufgabe ist der Schutz unserer natürlichen Wenn Sie allerdings immer einen Wirtschaftsmini-
Lebensgrundlagen. Auch da zeigt sich, daß wirt- ster da hinschicken, bei dem die Gewerkschaften nur
schaftliche, soziale und ökologische Erfordernisse noch sagen: „Was soll es?" und bei dem die Arbeitge-
sinnvoll miteinander verknüpft werden können. So, ber sagen: „Das kann man gleich zur Seite winken"
wie wir einen sozialen Generationenvertrag brauchen — das wird doch auch auf den Fluren der Unterneh-
und erhalten müssen, brauchen wir auch einen öko- mensverbände nicht mehr sonderlich ernst genom-
logischen Generationenvertrag. men —, dann kommen diese Informationen bei Ihnen
nicht an.
Jede Entscheidung, die wir heute treffen, muß zwei
Maßstäben genügen: dem Maßstab der sozialen Ver (Beifall bei der SPD)
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 55
Rudolf Scharping
Das will ich gerne verstehen, aber das ist natürlich gelebt haben, die zwar nicht miteinander zu verglei-
inakzeptabel für die Politik einer solchen Regie- chen sind, aber doch beide Diktaturen gewesen sind.
rung. Ihnen Respekt entgegenzubringen und sie mit ihrer
Lebenserfahrung zu integrieren, sie nicht auszugren-
(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]:
zen, die Schwierigkeiten eines solchen Lebens zu
Persönliche Verunglimpfungen waren noch
nie gut!) akzeptieren — das wäre nicht nur ein guter Grundsatz,
sondern auch ein wichtiger Maßstab für das, was
Frau Kollegin Merkel, ich wünsche Ihnen persön- konkret in Zukunft geschieht. Elemente des Straf-
lich viel Erfolg. — Mehr kann ich leider nicht tun. rechts haben im Rentenrecht nichts zu suchen,
(Lachen bei der SPD — Siegfried Hornung (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
[CDU/CSU]: Das ist aber traurig!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
So richtig es ist, daß man eine Chance einräumen soll, PDS)
so richtig ist es leider auch, daß Sie das Amt nicht und folglich werden wir auch auf diesem Gebiet
unbedingt haben wollten. Initiativen ergreifen.
Wenn man dann in diesem wesentlichen Bereich Das ist aber viel mehr als nur ein wirtschaftlicher
einen Wirtschaftsminister hat, der es nicht kann, eine Vorgang, Hilfe bei Investitionen, Sicherung von
Umweltministerin, die es nur muß, und einen Umwelt- Arbeitsplätzen, Förderung von aktiver Arbeitsmarkt-
minister von ehedem, der es gerne gewollt hätte, aber politik, Förderung der Entwicklung des Handels,
nicht durfte, Nutzen der großen Kenntnisse und Erfahrungen,
gerade was das östliche Mitteleuropa und die damit
(Lachen bei der SPD) zusammenhängenden Sprachkenntnisse und berufli-
dann zeigt das, daß an dieser Schnittstelle der künfti- chen Erfahrungen angeht; es ist viel mehr. Wenn die
gen wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Ent- wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse signalisie-
wicklung weder inhaltliche Konzeptionen noch perso- ren, daß man die Menschen selbst nicht respektiert,
nelle Kompetenz eingesetzt wird. Das ist die eklatan- dann wird das Zusammenwachsen der Deutschen in
teste Schwäche dieser Regierung. emotionaler, in kultureller und menschlicher Hinsicht
auf eine unerträgliche Weise beschwert.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD)
Auch das kann man ja wieder mit ein paar Beispie- Meine Damen und Herren, das folgende Beispiel
len unterlegen: Wie weit ist die Entwicklung der will ich nun doch verwenden: Man kann über eine
Solartechnik? Welche eigenartige Vorstellung von der Rede eines Alterspräsidenten das eine oder andere
weiteren Nutzung der Atomenergie haben Sie? sagen, auch kritisch. Aber wenn man sich nicht der
einfachsten Formen der Höflichkeit befleißigen
(Zuruf von der SPD: Sehr wahr!) kann,
Was sind Ihre Bekundungen hinsichtlich der Reduzie- (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei
rung des CO2-Ausstoßes noch wert? Das kommt Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
überhaupt nicht mehr vor. Früher gab es ja einmal GRÜNEN)
eine vollmundige Ankündigung, daß man ihn um
ist auch das ein Signal von Mißachtung.
25 % herunterschrauben wolle. Ich frage: Wie sehr ist
eine führende Industrienation wie Deutschland mit (Zuruf von der CDU/CSU: Thema verfehlt!)
einer solchen Regierung an der Spitze wirklich enga- Ich habe politisch überhaupt keine Nähe zu dem, was
giert, weltweit ein Vorbild zu sein? Die Antwort darauf der Abgeordnete Heym vertritt,
läßt sich am besten ablesen, wenn m an die Vorberei-
tungen für die Folgekonferenz des Erdgipfels und die (Zuruf von der CDU/CSU: Na, na, na!)
Klimakonferenz, die in Berlin stattfinden soll, genau überhaupt keine. Ich finde, es ist aber ein schändliches
studiert. Sie hatten auch im Hinblick auf Ihre Präsi- und beschämendes Vorgehen, wenn man eine Rede
dentschaft des Europäischen Rates angekündigt, was dort nicht abdruckt, wo sie üblicherweise abgedruckt
Sie in dieser Beziehung alles voranbringen wollten. wird. Auch das ist ein Signal für Mißachtung.
Nichts, Herr Bundeskanzler, ist geschehen. Wo soll (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
dann das Vertrauen herkommen, daß in Zukunft GRÜNEN und der PDS)
etwas geschehen würde?
Wir werden die eine große Integrationsaufgabe
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zwischen Ost und West nicht bewältigen können,
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der wenn bei aller notwendigen und auch sehr grundsätz-
PDS) lichen politischen Auseinandersetzung der Respekt
Neben diesen großen Modernisierungsaufgaben in vor schwierigen Lebenswegen und vor manchen
bezug auf den Wirtschaftsstandort, die Grundlagen Unzulänglichkeiten nicht wenigstens in den Grund-
des Zusammenlebens und die natürlichen Lebens- beständen da ist, die man für menschliches Zusam-
grundlagen steht Deutschland vor großen Integra- menleben braucht.
tionsaufgaben. (Beifall bei der SPD)
Die eine Integrationsaufgabe bezieht sich auf jene Die zweite große Integrationsaufgabe wird sein,
Frauen und Männer, die im Osten Deutschlands leben den Frauen im Beruf, in der Gesellschaft und in der
und die, soweit sie es erlebt haben und erleben Politik gleiche Chancen einzuräumen. Ich habe in
mußten, in der Zeit von 1933 bis 1989 in Systemen dem sozialen Zusammenhang darüber schon einiges
56 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Rudolf Scharping
gesagt und will mich hier deswegen auf eine Bemer wirklich wohl fühlen, weil ihr mich immer noch als
ung beschränken. Auch da, Herr Bundeskanzler, Ausländer bezeichnet. Das sagt sie in breitestem
habe ich mir Ihre Regierungserklärung erstens auf- bayerischen Dialekt, den sie wesentlich besser
merksam durchgelesen und zweitens nach dem Lesen beherrscht als das Türkisch ihrer Eltern. Diese Men-
mit — das muß ich einräumen — etwas reduzierter schen haben nach unserem Verständnis Anspruch
Aufmerksamkeit zugehört und versucht, diese ganzen darauf, auch mit der Staatsbürgerschaft das Signal der
Worte in mich aufzunehmen. Da fiel mir eigentlich nur Integration zu bekommen.
ein, daß man das mit Ihrer politischen Praxis, und zwar
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
in Ihrer unmittelbarsten und eigensten Verantwor-
GRÜNEN und der PDS — Widerspruch bei
tung, konfrontieren sollte. Ich finde, eine Partei, die der CDU/CSU)
mit Hilfe ihrer Fraktion eine Regierung trägt, macht
sich bei dem proklamierten Anspruch der Gleichbe- Meine Damen und Herren, ich wollte mit ein paar
rechtigung von Frauen und Männern ziemlich lächer- Streiflichtern beleuchten, welche drei großen Moder-
lich, wenn sie das in ihrem eigenen Verantwortungs- nisierungs- und welche drei großen Integrationsauf-
bereich noch nicht einmal ansatzweise durchsetzen gaben wir sehen: Modernisierung des Wirtschafts-
kann. standortes, Modernisierung und Befestigung der
sozialen Grundlagen unseres Zusammenlebens, Mo-
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE dernisierung und Verbesserung unseres Schutzes und
GRÜNEN und der PDS) der praktischen Politik zum Schutz der natürlichen
Vorstellungen, die am Ende darauf hinauslaufen, Lebensgrundlagen; Integration in Deutschland, glei-
traditionelle Rollenbilder zu verfestigen, haben weder che Chancen für Frauen und Männer, Integration der
mit unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit noch mit Bürgerinnen und Bürger, die wir heute als ausländi-
ihrer wahrscheinlichen Entwicklung, auch nicht mit sche Mitbürger bezeichnen. Wir wissen sehr wohl, daß
ihrer wünschbaren Entwicklung, zu tun. der Staat für diese Aufgaben Gestaltungsspielraum
Die dritte große Integrationsaufgabe ist die gegen- zurückgewinnen muß, daß er seine Tätigkeit moder-
nisieren muß, daß er sich dazu auf Wesentliches
über jenen Menschen, die mit einem anderen Paß
konzentrieren muß, und wir wissen auch, daß das
unter uns leben. Ich zögere bei dem Wort „Ausländer"
mehr als eine finanzielle Aufgabe ist.
schon deshalb, weil es mir nur schwer in den Kopf und
über die Lippen kommt, einen Menschen, der hier 20, Soweit es eine finanzielle Aufgabe ist, will ich Ihnen
30 Jahre lebt, dessen Kinder hier geboren sind, dessen sagen, daß wir nicht nur Regeln, Genehmigungsver-
Kinder in den Sportverein, in die Schule gegangen fahren und anderes durchforsten müssen. Ich kenne
sind usw., noch als Ausländer zu bezeichnen; das ist er viele Beispiele, wie das gehen könnte. Ich will das
nur von seinem Paß her. aber mit Rücksicht auf die Zeit nicht näher ausfüh-
ren.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Eines will ich allerdings sagen: Wer nicht den Mut
PDS) -k hat, sich mit dem gewachsenen System der Beamten-
besoldung anzulegen, wer nicht den Mut hat, sich mit
Man erlebt auch als einzelner Mensch auf diesem
dem gewachsenen System von Aufgabenverteilung,
Gebiet ziemlich viel. Wenn ich mir anschaue, wie
Organisation von Verantwortlichkeiten und derglei-
bisher mit der Frage der Integration, für die die
chen anzulegen, wer nicht den Mut hat, sich das
Staatsbürgerschaft ein Element ist — vielleicht noch
System der Dienstaltersstufen anzuschauen, der wird
nicht einmal das allein entscheidende und wichtig-
weder von der Geschwindigkeit seiner Entscheidung
ste —, umgegangen wird und was Sie da jetzt verein-
noch von der Modernität staatlichen Handelns und
bart haben, muß ich ganz offen sagen: Auch die
schon gar nicht von den finanziellen Grundlagen her
Kalkulation größter Koalitionszwänge und größtmög-
zu einem vernünftigen Ergebnis kommen können.
licher Rücksichtnahme aufeinander rechtfertigt eine
solche Lächerlichkeit wie die „schnuppernde Staats- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
bürgerschaft" in keiner Weise. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Im übrigen braucht dieses Land mehr als andere
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der vielleicht die Integrität seiner Institutionen. Sie ist für
PDS) die zivile Konfliktaustragung unverzichtbar. Deshalb
ist es so bedenklich, daß diese Koalition völlig unfähig
Wer Integration wirklich will — das ist etwas anderes
geworden ist. Ein nationaler Plan zur Verbrechensbe-
als multikulturell —, darf die Menschen nicht ausgren-
kämpfung — was soll das denn sein?
zen, die lange hier leben, die völlig integriert sind
— außer mit Blick auf ihre Staatsangehörigkeit —, die Die Vorschläge liegen auf dem Tisch. Sie sind doch
zur Finanzierung unserer gemeinschaftlichen Einrich- gar nicht mehr in der Lage, eine gemeinsame Sub-
tungen ebenso beitragen wie zur kulturellen Berei- stanz von Politik zu formulieren, wenn es um die
cherung unseres Landes. Ich mag nicht einsehen, daß Bewahrung der inneren Sicherheit in diesem Land
es einem jungen Menschen so geht, wie ich es kürzlich geht.
bei einer jungen Frau mit türkischen Eltern in Regens-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
burg erlebt habe: daß sie in dieser Stadt studiert,
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
nachdem sie in dieser Stadt Abitur gemacht hat, voll in
PDS)
das kulturelle und gesellschaftliche Leben integriert
ist und dann Hunderten von Menschen öffentlich Da redet der Bundeskanzler hier von mafiaähnli-
erklären muß: Ich kann mich in diesem Land nicht chen Organisationen. Das ist leider eine wachsende
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 57
Rudolf Scharping
Realität. Da ist zu reden davon, daß der Verdacht der eine gemeinsame Nation ohne Abgrenzung gegen-
Korruption — ein mittlerweile immer weiter wachsen- über anderen nur dann werden, wenn wir Toleranz
des Thema — die Integrität demokratischer Institutio- und Respekt in der Gegenwart fördern und eine
nen und deren Ansehen in der Bürgerschaft allmäh- gemeinsame Idee davon entwickeln, in welche
lich zu gefährden beginnt. Was geschieht konkret? Sie Zukunft dieses L and eigentlich gehen soll.
haben ein absolut lächerliches Geldwäschegesetz
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
vorgelegt, von dem Ihnen mittlerweile jeder beschei-
DIE GRÜNEN)
nigt, daß es gänzlich unbrauchbar ist.
Wir sind eine jedenfalls in weiten Teilen gefestigte
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Demokratie und auch ein verläßlicher Partner.
Sie sind leider noch nicht einmal in der Lage, sich
Dem, Herr Bundeskanzler, was Sie zur Außenpoli-
bei Ihrer Koalitionsvereinbarung auf das zu verständi-
tik und zur Europapolitik gesagt haben, stimmen wir
gen, was das Minimum sein sollte. Organisierte Kri-
ausdrücklich zu. Ich füge allerdings einiges hinzu. Ich
minalität darf nicht zu einem lohnenden Geschäft in
habe versucht, sehr genau nachzuempfinden, was Sie
Deutschland werden. Das darf auch kein Ruhe- oder
im Zusammenhang mit internationalem Engagement
Rückraum für solche werden, die in anderen Ländern
ini einzelnen gesagt haben.
konsequenter verfolgt werden.
Soweit es Europa angeht: Nicht nur mit den Worten,
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sondern in der praktischen Politik brauchen wir ein
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der dauerhaft gutes, d. h. in der Zukunft verbessertes
PDS) Verhältnis zu Frankreich. Das ist vermutlich sinnvol-
Wir wissen auch, daß zur Modernisierung und zur ler als alle herumgereichten Vorstellungen von einem
Rückgewinnung von Gestaltungsspielraum ziviles Europa mit erster und zweiter Klasse und einem
Engagement der Bürgerinnen und Bürger gehört. möglicherweise größeren Wartesaal.
Kein Gesetz, keine Polizei, keine Justiz und keine
(Beifall bei der SPD)
öffentliche Institution kann am Ende schützen, was die
Bürger nicht auch selbst schützen wollen. Folglich ist Für die kluge Einordnung Deutschlands in Europa ist
ziviles Engagement eine unverzichtbare Grundlage ein gutes und sich wieder verbesserndes Verhältnis zu
für demokratische und solidarische Entwicklung. Frankreich unverzichtbar.
Ziviles Engagement muß ermutigt werden. Es gibt Wir stimmen zu, wenn Sie sagen, daß bei der
dieses Engagement Gott sei Dank in unglaublich Revision des Maastricht-Vertrages die demokratische
reichhaltiger Form. Manche, vielleicht auch in diesem Verankerung der Gemeinschaft und die völlige Orien-
Raum, glauben, Politik fände nur in Parteien oder tierung ihrer wirtschaftlichen und finanziellen Ent-
Parlamenten statt. Diese Menschen warne ich vor dem wicklung an dem Kriterium der Stabilität Vorrang
Trugschluß, der sich daraus ergibt, nämlich jene als haben soll. Hoffentlich geschieht das dann auch.
politikverdrossen zu bezeichnen, die sich weniger für Entscheidungen gegenüber anderen europäischen
parlamentarische Debatten oder Engagement auf Partnern, wie sie im Europäischen Rat oder von den
Dauer in Parteien interessieren. Finanzministern getroffen worden sind, verheißen
nicht immer Gutes, was diese absolute Orientierung
Es gibt viel mehr Menschen, die sich für die öffent-
an Stabilität angeht.
lichen, die allgemeinen Angelegenheiten interessie-
ren, als dem einen oder anderen vielleicht bewußt ist. Wir stimmen auch zu, wenn Sie in einem klugen
Sie engagieren sich z. B. für Umweltschutz oder Men- Verhältnis der Beachtung der Interessen Rußlands die
schenrechte, für humanitäre Hilfe gegenüber Südost- Integration der mittelosteuropäischen Staaten in die
und Mittelosteuropa. Das ist aus meiner Sicht auch die Europäische Gemeinschaft vorantreiben wollen. Das
beste Grundlage für eine auf Frieden und Hilfe sind europäische Staaten. Warschau, Budapest, Prag
orientierte Politik dieses Landes. und andere sind genauso europäische Städte wie
Berlin, Paris, Rom oder London und andere.
Wer dieses Engagement im Innern nicht fördert, es
eher als Belästigung einer eingefahrenen Routine Wer diese Integration allerdings will, der sollte sich
versteht, der wird am Ende entmutigen, anstatt Men- auch bei dem besonderen Verhältnis, das zwischen
schen ein neuerliches Motiv und eine Ermutigung Deutschland und Polen besteht, dennoch nicht nur auf
dafür zu geben, mit diesem Engagement fortzufahren, Polen beziehen. Auch die Tschechische Republik,
auf das dieser Staat überhaupt nicht verzichten kann, auch Ungarn oder andere gehören zu Europa hinzu.
wenn er menschliches Zusammenleben erhalten Europa bliebe ohne sie unvollständig.
will.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD)
Es ist uns bewußt, daß hier schwierige, vermutlich in
Auch das hat etwas mit Respekt und Toleranz zu Deutschland, in der Europäischen Union, in der NATO
tun. Ich bin der Auffassung, daß wir zum Verständnis und in anderen Bereichen von uns ja nicht allein zu
unseres Landes, zum Verständnis dessen, was wir bestimmende, aber von uns zu fördernde, voranzu-
Nation nennen, nicht nur eine gemeinsame Sicht bringende Entwicklungen und Entscheidungen an-
unserer, nicht nur von Höhen und Tiefen oder Licht stehen. Wir wollen deshalb die Basis festhalten, daß
und Schatten, Herr Bundeskanzler, sondern von Deutschland ein europäisches Land mit fester euro-
schrecklichsten Grausamkeiten zwar nicht aus- päischer Einbindung und einer starken Freundschaft
schließlich, aber mitgeprägten Geschichte brauchen. zu Frankreich ist, weil nur von daher die Kraft ent-
Vor allen Dingen werden wir ein einiges Land und steht, andere in die Gemeinschaft aufzunehmen.
58 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Rudolf Scharping
Dabei sollte uns auch die Erfahrung leiten, daß die Sie ist kaum noch in der Lage, aus eigener Kraft und
Integration Spaniens, Portugals und Griechenlands mit eigenen Möglichkeiten das zu tun, was für die
nicht nur Zeit, Übergangsfristen oder finanzielle Hilfe Zukunft unseres Landes, für die Verbesserung seiner
erfordert hat. Das Wichtigste ist wohl, daß die Integra- wirtschaftlichen Lage, für die Stärkung der sozialen
tion dieser Staaten in die Europäische Gemeinschaft Gerechtigkeit und den Schutz seiner Lebensgrundla-
die Befes tigung ihrer Demokratien ermöglicht hat. gen getan werden muß.
Das gilt gegenüber dem östlichen Europa genauso. Unsere Opposition — das ist die Rolle, die uns die
(Beifall bei der SPD) Wählerinnen und Wähler am 16. Oktober zugewiesen
haben — wird sich daran orientieren, daß wir mit allen
Ich füge hinzu, daß wir uns innerhalb der NATO und unseren politischen Möglichkeiten die Ziele verfol-
auf der Grundlage eines ebenso festen und freund- gen, für die wir in den letzten Monaten und Jahren
schaftlichen Verhältnisses zu den Vereinigten Staaten eingetreten sind. Wir werden uns an diesen sachli-
von Nordamerika deutsche Sicherheitspolitik und chen Überzeugungen — an nichts sonst — orientieren,
deutsche Außenpolitik gut — und im Zweifel in den und dabei wird diese Regierung sehen, daß eine
Grundlinien auch im Konsens mit dieser Regierung — Opposition außerordentlich wirksam sein kann. Wie
vorstellen können, wenn es bei den beschriebenen lange Sie im Amt sind — ob jetzt ein Jahr, zwei oder
Grundlinien bleibt. Was die internationale Rolle vier Jahre —, ist für uns nicht der erste Punkt. Jeder
Deutschlands angeht, bekräftige ich, was ich für die Tag ist im Prinzip zuviel.
SPD hier in der Aussprache über die Einsätze in der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Ad ri a und bezogen auf das ehemalige Jugoslawien der PDS)
und das heutige Bosnien-Herzegowina gesagt habe.
Richten Sie sich also darauf ein, daß wir orientiert an
Das muß ich hier nicht wiederholen.
der Sache eine Opposition betreiben, die das Ziel hat,
Ich will aber deutlich machen, daß eine gemeinsam den Menschen in diesem Land zu helfen, aber ganz
entwickelte europäische Außenpolitik dann auch sicher nicht zum Ziel haben wird, Sie länger als
Abschied davon nehmen muß, daß wir in Europa unbedingt notwendig in dem Amt zu sehen, in das Sie
— wie leider in der Vergangenheit — unseren Part- noch einmal gewählt worden sind.
nern signalisieren, im Zweifel würden wir nach unse- (Langanhaltender Beifall bei der SPD —
ren eigenen Vorstellungen verfahren, ohne die Politik Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
wirklich aufeinander abgestimmt zu haben. sowie bei Abgeordneten der PDS — Bundes
kanzler Dr. Helmut Kohl: Herr Scharping,
Meine Damen und Herren, ich komme zum das verstehe ich!)
Schluß.

(Zuruf von der CDU/CSU: Gott sei Dank!)


Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Meine Damen und
— Wenn Sie eingeschlafen sind, stört mich das relativ - Herren, bevor wir die Aussprache fortsetzen, möchte
wenig. Denn daß ich Sie nicht überzeugen kann, das ich auf der Ehrentribüne im Namen aller Mitglieder
ist mir von vornherein klar. Den Versuch will ich gar des Deutschen Bundestages ganz herzlich den Prä-
nicht machen. sidenten der Republik Finnland, Herrn Martti
(Beifall bei der SPD) Ahtisaari, und seine Begleitung begrüßen.
(Beifall)
Wenn meine Fraktion und die Bürgerinnen und Bür-
ger, die eine solche Debatte verfolgen, meine Ausfüh- Wir freuen uns über Ihren Besuch und möchten Ihnen
rungen als sinnvoll empfinden, ist das etwas ganz bei dieser Gelegenheit sagen, daß der Bundestag mit
anderes. großer Freude Ihre Beitrittserklärung und die Zustim-
mung beim Referendum zur Kenntnis genommen hat.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wir sind froh, daß Sie dabei sind. Herzlich willkom-
der PDS — Widerspruch bei der CDU/ men!
CSU) (Beifall)
Sie wissen, wie eng unsere bilateralen Beziehungen
Deshalb halte ich zum Schluß fest: Wir haben von sind. Auch das soll durch diesen Besuch weiter fort-
einer Regierung mit denkbar knappster Mehrheit eine gesetzt werden. Herzlichen Dank.
dünne Koalitionsvereinbarung und eine weitgehend
substanzlose Regierungserklärung. Nun hat der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU,
Herr Abgeordneter Dr. Wolfgang Schäuble, das
(Beifall bei der SPD) Wort.
(V o r s i t z : Vizepräsident Hans-Ulrich Klose)
Wir hören von dieser Koalition freundliche Absichts-
erklärungen, aber sie hat nicht den Mut zu konkreten
Taten.
Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU) (mit Beifall von
(Beifall bei der SPD) der CDU/CSU begrüßt): Herr Präsident! Meine sehr
Wir haben auf der Seite der Regierung die ganz geehrten Damen und Herren! Wir haben im Jahre
schlichte Erkenntnis, daß sie selbst — einschließlich 1994 genügend Wahlkämpfe gehabt. Deswegen ist es
des Regierungschefs — eine Regierung auf Abgang vielleicht gut, wenn wir das heute nicht fortsetzen,
ist. Herr Kollege Scharping.
(Beifall bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag — 13. Wahlpe riode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 59
Dr. Wolfgang Schäuble
Die Wähler haben uns am 16. Oktober im Rahmen gehen, solange die Zusammenarbeit der Sozialdemo-
unserer gemeinsamen Verantwortung für diese kraten im Landtag von Sachsen-Anhalt mit der kom-
Demokratie unterschiedliche Aufgaben zugewiesen. munistischen PDS weitergeht.
Ihre Aufgabe ist es in der Tat nicht, dafür zu sorgen,
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
daß die Regierung möglichst lange im Amt bleibt. Der
ordneten der F.D.P. — Zurufe von der SPD
Regierungsauftrag für die Koalition der Mitte und für
Bundeskanzler Helmut Kohl ist klar. Die Unionsfrak- und der PDS)
tion wird Kanzler, Regierung und Koalition unterstüt- Da können Sie miteinander schreien, soviel Sie
zen. Wir werden der F.D.P. verläßliche Partner blei- wollen, das hilft gar nichts!
ben.
(Zuruf von der PDS: Eine kommunistische
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Partei gibt es hier nicht, Kollege Schäuble!)
Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Das glauben die Ihnen nur Ich lese Ihnen eine Agenturmeldung vom heutigen
nicht mehr!) Tag vor, in der es heißt, daß der frühere Wirtschafts-
minister von Sachsen-Anhalt, Jürgen Gramke, SPD
Alle anderen Spekulationen oder Hoffnungen sind — den Sie zum Wirtschaftsminister gemacht haben,
abwegig und eitel. — Lassen Sie alle Hoffnung fahren, nicht wir! —, seinen Rücktritt mit den Einflußmöglich-
Herr Kollege Fischer. keiten der SED-Nachfolgepartei PDS auf die Politik in
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Magdeburg begründet hat.
DIE GRÜNEN]: Nein, das glauben die Ihnen (Zurufe von der CDU/CSU: Hört! Hört!)
nicht mehr!)
Herr Scharping, ich will Sie ja gerne beim Wort
Wir werden nichtsdestotrotz, was immer Sie glau-
nehmen, und Sie sagen ja bei jeder Gelegenheit, Sie
ben mögen, mit anderen Fraktionen fairen Umgang
wollten keine Zusammenarbeit mit der PDS. Aber
pflegen, und wir wollen niemanden ausgrenzen.
Scharping beim Wort nehmen heißt für die Sozialde-
(Beifall bei der PDS/Linke Liste) mokraten, die Zusammenarbeit mit der PDS in Sach-
Voraussetzung ist, daß die Regeln, die für alle Abge- sen-Anhalt zu beenden und diese Minderheitsregie-
ordneten und Fraktionen in diesem Hause gelten, von rung, die ohne die Zustimmung der PDS und die
allen akzeptiert werden. Das hat sich bei den GRÜ- Zusammenarbeit mit ihr nicht im Amt wäre und nicht
NEN gegenüber 1983 geändert. im Amt bliebe, so rasch wie möglich zu beenden.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
der F.D.P. — Zuruf von der PDS) Wenn Sie das nicht möglichst schnell tun, gerät die
— 1983 sind sie mit der Erklärung in den alten SPD auf die schiefe Ebene,
Plenarsaal eingezogen, sie würden sich an all die
bestehenden Regeln nicht halten. Wir sind auch damit (Lachen bei der SPD)
-
zu Rande gekommen. Diesmal haben sie es anders wie man bei Herrn Stolpe, wie man in Mecklenburg-
erklärt. Damit gelten die Regeln auch für sie, positiv Vorpommern und auch an Ihren Reaktionen hier in
und negativ. dieser Debatte schon wieder feststellen kann.
(Michael Glos [CDU/CSU]: Fischer hat sogar (Zuruf von der SPD: Auf einer schiefen Ebene
eine Krawatte an!) geht es auch aufwärts! — Rudolf Bindig
Meine Damen und Herren, ein Zweites kommt [SPD]: Die Blockflöten sind in Ihrer Partei!)
hinzu. Es ist auch Voraussetzung, daß man unmißver- —Ja, ja. Schreien Sie ruhig weiter! Getroffene Hunde
ständlich und unzweifelhaft für die Prinzipien der bellen. Deswegen will ich es noch einmal sagen.
pluralistischen Demokratie und des freiheitlichen
Rechtsstaates eintritt. Weil das bei der PDS zumindest (Zurufe: Sie bellen doch! — Wadenbeißer!)
zweifelhaft bleibt, muß die SPD, Herr Kollege Schar- Integrationsbemühungen um die Wähler, auch um
ping, ihr Verhältnis zu der kommunistischen PDS solche Wähler, die gestern oder vorgestern radikale
klären. oder ex treme Parteien gewählt haben, sind richtig,
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — sind von uns allen zu leisten und werden von uns, Herr
Wolfgang Thierse [SPD]: Sie wollten doch Scharping, auch nicht denunziert. Aber man kämpft
keinen Wahlkampf mehr machen!) um die Wähler nicht, indem man mit den extremen
Parteien gemeinsame Sache macht. Das ist genau die
— Wir machen überhaupt keinen Wahlkampf. Das hat
falsche Art von Integrationsbemühungen.
mit Wahlkampf überhaupt nichts zu tun,
(Wolfgang Thierse [SPD]: Natürlich!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
sondern mit der Stabilität unserer freiheitlichen Die Wähler in Deutschland, meine Damen und
Demokratie. Herren, haben auch entschieden, daß wir im Bundes-
tag und im Bundesrat unterschiedliche Mehrheiten
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge haben. Das ist so, und das nimmt alle Beteiligten in
ordneten der F.D.P. — Zuruf von der SPD: eine besondere Verantwortung.
Wollten Sie nicht den Wahlkampf been
den?) Der neue Präsident des Bundesrates, Ministerpräsi-
dent Rau,
Die Debatte über die Zusammenarbeit von Sozial-
demokraten und kommunistischer PDS wird weiter (Zuruf von der SPD: Ein guter Mann!)
60 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Dr. Wolfgang Schäuble


hat bei seinem Amtsantritt dieser Tage gesagt, der Ich füge hinzu: Wenn wir die innere Stabilität
Bundesrat sei weder Vollzugsinstrument der Bundes- unserer freiheitlichen Demokratie ernst nehmen,
regierung — das ist der Bundestag auch nicht — noch dann müssen wir angesichts zunehmender Wande-
Instrument der Opposition im Bundestag. Das ist in rungsbewegungen die Steuerung und Begrenzung
beiden Teilen richtig. Aber das Wort vom Machtzen- von Zuwanderung möglichst auf europäischer Ebene
trum der SPD, Herr Ministerpräsident Schröder, ist weiter voranbringen, damit der innere Frieden in
damit nicht zu vereinbaren. Deswegen sollten Sie es unserem Lande erhalten bleibt.
möglichst schnell zurücknehmen!
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) der F.D.P.)
Nach Art. 50 unseres Grundgesetzes wirken die Das heißt zugleich, daß wir die Integration der auf
Länder durch den Bundesrat bei der Gesetzgebung Dauer hier lebenden ausländischen Mitbürger ver-
des Bundes mit. Damit ist nicht ein parteipolitischer bessern müssen.
Mißbrauch der Mehrheit im Bundesrat gemeint,
Herr Kollege Scharping, ich habe überhaupt nicht
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ verstanden, was Sie dazu gesagt haben.
DIE GRÜNEN]: Ach, Herr Schäuble!)
(Zuruf von der SPD: Das ist kein Wunder!)
sondern ausdrücklich ausgeschlossen. Auch das muß
Es ist völlig unstreitig zwischen uns, daß beispiels-
in der ersten Debatte dieser Legislaturperiode gesagt
weise die von Ihnen genannte Mitbürgerin mit dem
werden.
bayerischen Akzent und der türkischen Staatsange-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) hörigkeit so, wie Sie das beschrieben haben, einen
Rechtsanspruch auf den Erwerb der deutschen Staats-
Das Zusammenwirken von Regierung, Bundestag
angehörigkeit hat.
und Bundesrat ist im Grundgesetz geregelt. Die ver-
fassungsmäßigen Institutionen und Verfahren werden (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
übrigens bei unterschiedlichen Mehrheiten nicht
Herr Kollege Scharping, wenn wir die Integration
durch runde Tische oder Allparteienkoalitionen außer
der ausländischen Mitbürger verbessern wollen, dann
Kraft gesetzt, sondern sie werden sich auch bei
fängt das damit an, daß wir den Menschen in unserem
unterschiedlichen Mehrheiten zu bewähren haben.
Lande die Wahrheit sagen und nicht Verunsicherung
Sie werden sich auch bewähren, und sie lassen zu
schüren. Das gilt auch für Reden im Deutschen Bun-
jedem Zeitpunkt genügend Raum für jedes vernünf-
destag.
tige Gespräch, zu dem wir immer bereit sein wer-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
den.
ordneten der F.D.P.)
Meine Damen und Herren, wenn wir im Rahmen
Die Wahrheit ist, daß die hier seit acht und mehr
unserer gemeinsamen Verantwortung unsere unter-
Jahren rechtmäßig lebenden ausländischen Mitbür-
schiedlichen Aufgaben so wahrnehmen, dann werden -
ger einen Rechtsanspruch auf Erwerb der deutschen
wir unsere Demokratie und unseren freiheitlichen
Staatsangehörigkeit haben. Das muß man sagen.
Rechtsstaat stärken und bewahren, den wir ja auch
Darüber darf man nicht hinwegtäuschen, weil man
nach außen und innen schützen müssen. Der Erhalt
sonst Integration nicht fördert, sondern behindert.
des inneren Friedens bleibt zentrale Herausforde-
rung. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. —
Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
Weil meine Sorge heute nicht in erster Linie ist, daß
unser Staat zu allmächtig werden könnte und deshalb DIE GRÜNEN]: Das ist aber eine sehr banale
die Freiheit gefährdet, sondern weil ich eher die Sorge Argumentation!)
habe, daß unser Staat zu schwach werden könnte, um Vielleicht — aber das haben Sie nicht gesagt,
die Freiheit noch zu schützen, deswegen müssen wir sondern sorgfältig verschwiegen; warum wohl? —
die Bekämpfung von organisierter Kriminalität, Kor- sind wir in der Frage der doppelten Staatsangehörig-
ruption und Extremismus entschieden fortsetzen und keit unterschiedlicher Meinung.
verstärken.
(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
Aber in dem Fall sagen Sie, was Sie meinen, und reden
ordneten der F.D.P.)
Sie nicht davon, daß diese junge Frau mit dem
Das wird eine gemeinsame, eine gesamtstaatliche bayerischen Akzent die deutsche Staatsangehörigkeit
Aufgabe von Bund und Ländern und im übrigen auch nicht erwerben kann. Das ist doch gelogen. Es ist doch
eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sein. gelogen!
Ich denke auch, daß wir den Kampf gegen die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. —
Geißel der Drogenabhängigkeit mit Entschiedenheit Widerspruch bei der SPD — Ingrid Matthäus
intensivieren müssen: Maier [SPD]: Das hat er doch gar nicht
gesagt!)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
ordneten der F.D.P.) — Aber natürlich hat er das gesagt. Am besten wäre
durch Vorbeugung, Warnung und Werbung für ein es, Sie ließen schnell das stenographische Protokoll
korrigieren, damit wir das nicht nachlesen können.
Leben ohne Drogen, durch Therapie für die abhängig
Gewordenen und durch Bekämpfung der internatio- (Manfred Opel [SPD]: Dafür haben Sie doch
nal operierenden Drogenkriminalität. Herrn Waigel!)
Deutscher Bundestag — 13. Wahlpe riode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 61

Dr. Wolfgang Schäuble


Er hat es gesagt. Jeder hat ihn so verstanden, daß diese Viele sagen und schreiben, das Bekenntnis zu den
Dame mit dem bayerischen Akzent nicht Deutsche Grundsätzen unserer Verfassung sei das wichtige
werden kann und daß sie darunter leidet. Nein, sie Element der Staatsbürgerschaft. Darüber kann man ja
kann es, und zwar durch einfache Erklärung. reden. Aber dann fängt das Bekenntnis doch mit der
Entscheidung an, daß man eben die deutsche Staats-
(Zurufe von der SPD: Nein!) angehörigkeit haben möchte und nicht beliebig viele
— Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin wirklich Staatsangehörigkeiten. Deswegen wollen wir die
dafür, daß wir gerade bei einem so schwierigen regelmäßige doppelte Staatsangehörigkeit nicht.
Thema sorgfältig argumentieren. Wir wollen aber nicht schon die Kinder vor diese
(Zustimmung bei der CDU/CSU — Zuruf von Entscheidung stellen. Man kann darüber streiten, ob
der SPD: Eben! — Günter Verheugen [SPD]: es der Weisheit allerletzter Schluß ist, aber ich glaube,
Sie müssen zuhören!) wir haben versucht, beide Prinzipien gut miteinander
zu verbinden, indem wir erklären: Wir wollen nicht
Wir wollen festhalten: Sie kann die deutsche Staats-
schon die Kinder vor diese Entscheidung stellen,
angehörigkeit erwerben. Sie hat einen Rechtsan-
sondern sie sollen ihre bisherige Staatsangehörigkeit
spruch.
behalten, die sie übrigens nach dem Abstammungs-
Jetzt lassen Sie uns über die doppelte Staatsange- prinzip, also dem Jus sanguinis, von ihren Eltern
hörigkeit reden. erhalten, und sie sollen eine vorläufige deutsche
(Zuruf des Abg. Manfred Opel [SPD]) Staatszugehörigkeit erhalten. Mit dem Eintritt der
Volljährigkeit sollen sie sich selbst entscheiden, ob sie
— Bitte hören Sie einen Moment zu, Herr Opel. Wir auf Dauer die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben
werden das Problem genau beschreiben. Dabei werde oder die Staatsangehörigkeit ihrer Eltern behalten
ich vielleicht auch an Sie appellieren, daß Sie den wollen.
Versuch, zwei konkurrierende Gesichtspunkte mit-
einander zu verbinden, die beide notwendig und Das bezeichnen Sie hier als Lächerlichkeit. Ich
richtig sind, wenn wir die Integration unserer auslän- finde, Herr Scharping, das wird dem Anliegen der
dischen Mitbürger verbessern wollen, nicht einfach Sache und dem Lösungsvorschlag nicht gerecht. Des-
als Lächerlichkeit bezeichnen, sondern vielleicht erst wegen sollten wir ernsthafter darüber reden.
einmal sorgfältig darüber nachdenken. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. —
Worum geht es? Ich bin davon überzeugt, daß die Dr. Antje Vollmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
generelle Gewährung doppelter Staatsangehörig- NEN]: Das ist lebensfremd!)
keit — — — Frau Vollmer, ich sage ja: Wir können doch im
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das will kei einzelnen darüber reden.
ner!)
Der Nachteil einer uneingeschränkten doppelten
— Entschuldigung, dann müssen Sie aber wirklich Staatsangehörigkeit bis zum 18. Lebensjahr besteht in
sorgfältiger argumentieren, als es Herr Scharping - folgendem. Sie wollen sie ja wahrscheinlich generell,
getan hat, auf Dauer. Das wollen die Sozialdemokraten nicht, wir
(Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Das auch nicht. — An der Reaktion von Herrn Fischer sieht
kann sie gar nicht!) man: Es wechselt dauernd.
— Frau Matthäus-Maier kann das. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Damit kann ich in aller Ruhe
Wir sagen: Wir wollen nicht regelmäßige doppelte leben!)
Staatsangehörigkeit.
-- Sie sollen ja auch leben. So als Opposition, wie Sie
(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) es jetzt sind, ist es recht; mehr wäre schlecht.
Wir sind davon überzeugt, daß die Gewährung der (Zustimmung bei der CDU/CSU)
doppelten Staatsangehörigkeit, d. h. die regelmäßige
Belassung der bisherigen Staatsangehörigkeit bei der Wenn man die doppelte Staatsangehörigkeit auf
Einbürgerung ausländischer Mitbürger in Deutsch- Dauer nicht will, dann ist die Frage, ob man sie bis zum
land — das führt nämlich zur regelmäßigen doppelten 18. Lebensjahr einführen kann oder ob m an nicht
Staatsangehörigkeit — im Ergebnis die Integration besser etwas Kindgemäßes macht und damit die
der ausländischen Mitbürger nicht fördert, sondern Entscheidung bis zum Eintritt der Volljährigkeit offen-
beschädigt. läßt. Darüber wird man jedenfalls ernsthafter reden
können, als Sie, Herr Scharping, diesen Vorschlag in
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Ihrer Rede kommentiert haben.
ordneten der F.D.P.)
(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]:
Die Reaktion der Menschen wird nämlich sein, die
Allerdings!)
Betreffenden seien privilegiert. Wir wollen aber nicht
benachteiligen, und wir wollen nicht privilegieren. Ich will eine Bemerkung dazu machen, daß unsere
Wir wollen vielmehr gleiche Rechte und Pflichten. Freiheitsordnung auch in Zukunft nach außen
Deswegen darf nicht regelmäßig die doppelte Staats- geschützt werden muß. Herr Kollege Scharping, wo
angehörigkeit der Preis der Einbürgerung sein. Sie wir nicht streiten müssen, brauchen wir nicht zu
müssen sich entscheiden, wenn sie sich dauerhaft streiten. Deswegen ist es gut, daß Sie gesagt haben,
integrieren wollen. Auch das ist nicht zuviel ver- Sie unterstützen das, was der Bundeskanzler Helmut
langt. Kohl in seiner Regierungserklärung zur Außen- und
62 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Dr. Wolfgang Schäuble


Europapolitik gesagt hat. Ich will das unterstreichen; stand zu tabuisieren, weil wir so nur Zukunft verwei-
wir unterstützen das auch. gern.
Lassen Sie mich lediglich die Bemerkung hinzufü- Für uns, für CDU/CSU und die Koalition der Mitte,
gen, daß jemand, der wie ich seit Jahren sagt, daß das wird bei dem, was zu geschehen hat, der weitere
elende Gemetzel auf dem Balkan die Legitimität Aufbau der neuen Bundesländer auch in den kom-
europäischer Einigung und atlantischer Solidarität, ja menden Jahren Vorrang haben. Nun ist es aber nicht
der ganzen zivilisierten Völkergemeinschaft gefähr- so, daß in den Jahren seit 1990 nicht viel erreicht
den kann, von Woche zu Woche immer grausamer worden wäre. Angesichts der Tatsache, daß der Kol-
bestätigt wird. Manchmal denke ich bei der Betrach- lege Scharping so getan hat, als sei in den letzten zwölf
tung der politischen Nachrichten des Tages, ob wir Jahren in diesem L an d nur Elend gewachsen,
den Film nicht schon einmal gesehen haben. Wollen
wir nicht wirklich ernsthafter und entschiedener der (Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Ja!)
Wiederholung, der Wiederaufführung dieses Films,
solange noch Zeit dazu ist, entgegentreten? muß man leider doch ein wenig daran erinnern, was
seit 1982, seit Helmut Kohl Bundeskanzler ist und mit
(Beifall bei der CDU/CSU) der Koalition der Mitte dieses Land regiert, in diesem
Land erreicht worden ist. Ich sage das nur, weil Herr
Ich finde, daß durchgesetzt werden muß, daß poli-
Scharping wirklich so getan hat, als seien das zwölf
tische oder sonstige Ziele wenigstens in Europa nicht
Jahre wachsenden Elends gewesen. Man fragt sich
mit Waffengewalt verfolgt werden können. Weil dies
manchmal, wo Sie gelebt haben.
kein Land für sich allein sicherstellen kann, muß der
Rückfall in nationalstaatliche Auseinandersetzungen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. —
unter allen Umständen vermieden und verhindert Wolfgang Thierse [SPD]: Sie bauen sich
werden. Deswegen gibt es keine verantwortbare immer einen Popanz auf, auf den Sie dann
Alternative zur unumkehrbaren europäischen Einheit einschlagen können!)
mit einer wirkungsvolleren und gemeinsamen Außen-
und Sicherheitspolitik und zur atlantischen Solidari- — Er hat doch so geredet. Herr Thierse, es tut mir leid:
tät. Wenn Ihr Fraktionsvorsitzender davon redet, daß in
dieser Regierungserklärung lediglich die Fortsetzung
Weil wir, meine Damen und Herren, im übrigen
dieser zwölf Jahre angekündigt sei
nicht wissen, wieviel Zeit uns die Geschichte läßt,
brauchen wir die Erweiterung der Europäischen (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Stimmt ja auch!)
Union und gleichzeitig deren Vertiefung. Deswegen
können wir nicht sagen, jetzt wollen wir sie erst einmal und daß das das Schlimmste von allem sei, dann
fünf Jahre vertiefen, und dann schauen wir, ob wir müssen Sie mir schon erlauben, darauf hinzuweisen,
vielleicht auch unseren Nachbarn in Osteuropa Halt daß in diesen zwölf Jahren nicht nur die Wiederverei-
und Stabilität geben. nigung in Frieden und Freiheit erreicht worden ist,
-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der F.D.P. — Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen]
Weil dies so ist, werden sich wohl die Integrations-
[F.D.P.]: Zum Beispiel!)
fähigen und -willigen besonders anstrengen müssen.
Sie sollen sich auch anstrengen, denn wir brauchen sondern auch die europäische Einigung wesentlich
das Vorangehen der Franzosen und der Deutschen, vorangebracht worden ist. In Westdeutschland sind im
hoffentlich auch der Briten, der Beneluxländer, der Saldo drei Millionen Arbeitsplätze zusätzlich geschaf-
Italiener, der Spanier, wer auch immer mag. Es soll ja fen worden,
niemand ausgegrenzt werden. Es sollen ja alle mitma-
chen, es sind alle gewollt. Wir wollen keinen ausgren- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
zen. Wir wollen, daß möglichst viele die Europäische
Union voranbringen. Wir brauchen sie, weil sonst der bei Preisstabilität wurde eine ständig wachsende
Friede in Europa und damit auch der Friede für uns Wirtschaft erreicht,
Deutsche nicht sicher bleibt. (Zuruf von der PDS: Wachsende Arbeitslo
(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Sehr gut!) sigkeit, wachsende Armut!)

Wir brauchen die Fortschritte der europäischen die Umweltverhältnisse sind dramatisch verbessert
Einigung auch, um unsere wirtschaftliche Wettbe- worden.
werbsfähigkeit zu erhalten. Ohne den einheitlichen
Binnenmarkt und ohne den Stabilitätsdruck des Es ist übrigens nicht wahr, Herr Scharping, daß in
Maastricht-Prozesses sind unsere Chancen in dem unserer Koalitionsvereinbarung, auf die der Bundes-
härter gewordenen weltweiten wirtschaftlichen Wett- kanzler in seiner Regierungserklärung verwiesen hat,
bewerb sehr viel schlechter. Dieser Weg wird auch bei die Umweltproblematik, mit der CO2-Reduzierung
uns selbst große Anstrengungen erfordern. Jedenfalls nicht vorkommt.
wird der Erhalt unserer wirtschaftlichen Leistungsfä- (Rudolf Scharping [SPD]: Davon habe ich
higkeit und der dazu notwendige Umbau unseres nicht gesprochen, sondern von der Vorberei
Sozialstaats mehr Veränderungen erfordern und tung der Berliner Konferenz!)
erzwingen, als wir das bis 1989 in unserem so zu
Besitzstandswahrung neigenden Land noch gewohnt — Doch. Im Gegensatz zu Ihren Kollegen jetzt waren
waren. Aber es macht eben keinen Sinn, jeden Besitz- wir bei Ihrer Rede ziemlich zahlreich anwesend. Wir
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 63

Dr. Wolfgang Schäuble


haben zugehört, als Sie gesagt haben, das sei mit — Es ist wirklich nicht fair, daß man durch ständiges
keinem Wort erwähnt worden. Dazwischenreden nicht die Chance hat, zwei Gedan-
ken an einem Stück auszuführen.
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Lesen Sie es doch einmal vor! (Wolfgang Thierse [SPD]: Wenn es wenig
Das ist interessant, was da drinsteht!) stens ein Gedanke wäre!)
— Jetzt fangen Sie schon wieder an . Dann warte ich
— Herr Fischer, da Sie ja nach mir reden, können Sie noch ein bißchen.
dann die Koalitionsvereinbarung vorlesen.
(Zuruf von der SPD: Schämen Sie sich!)
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Herr Thierse, es hilft alles nichts. Wenn Ihr Fraktions-
DIE GRÜNEN]: Ich habe sie gelesen!) vorsitzender in seiner ersten Rede in dieser Funktion
diese zwölf Jahre, in denen Helmut Kohl Bundeskanz-
Das ist vielleicht das Beste, was Sie machen kön- ler war, so negativ beschreibt, dann werden Sie
nen. ertragen, daß der Vorsitzende der größten Fraktion im
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und Deutschen Bundestag in wenigen Sätzen sagt, was in
der F.D.P.) diesen zwölf Jahren erreicht worden ist.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
In diesen zwölf Jahren sind — in den 80er Jahren — ordneten der F.D.P.)
gegen den Widerstand von Rot-Grün schadstoffarme
Autos eingeführt worden. Ich will darüber sprechen — daran werden Sie mich
nicht hindern —, daß wir trotz dieser großen Erfolge
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — vor ungeheuer großen Aufgaben stehen, weil sich
Lachen bei der SPD — Michael Müller [Düs unser Land, Europa und die Welt dramatisch verän-
seldorf] [SPD]: Das ist doch alles nicht dert haben. Das ist kein Vorwurf an die Regierung; das
wahr!) ist auch kein Widerspruch. Daß wir trotz aller Erfolge
in diesen zwölf Jahren vor großem Veränderungsbe-
— Aber natürlich. darf stehen und große Aufgaben vor uns haben, ist
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ kein Widerspruch, sondern das Ergebnis der Tatsa-
DIE GRÜNEN]: Ich erinnere mich noch an che, daß sich der Gang der Geschichte beschleunigt
Herrn Zimmermann! „Am Brenner bleiben hat, und zwar außenpolitisch wie wirtschafts- und
die Autos stehen", so hieß es damals! Hören sozialpolitisch.
Sie doch auf, Herr Schäuble! — Anke Fuchs
[Köln] [SPD]: Informieren!) Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege
Schäuble, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kol-
— Es hilft doch alles nichts; wir haben alle die legen Geißler?
Auseinandersetzung in Erinnerung. Ich will nicht über
die 80er Jahre diskutieren; ich weise nur angesichts -
Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Aber bitte,
der Rede von Herrn Scharping, der so getan hat, als
gern.
seien das die schlimmsten zwölf Jahre der deutschen
Geschichte gewesen,
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Bitte.
(Günter Verheugen [SPD]: 12 Jahre? Das ist
eine Gemeinheit!) Dr. Heiner Geißler (CDU/CSU): Darf ich den Frak-
darauf hin: Es waren gar keine schlechten Jahre. tionsvorsitzenden zur Erweiterung und Verbesserung
Wenn wir in den nächsten zwölf Jahren noch einmal so der Beurteilung der vergangenen Jahre darauf hin-
gute Jahre bekommen, dann ist das recht für unser weisen, daß — —
Vaterland. (Zuruf von der SPD: Frage!)
— Darf ich darauf hinweisen?
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. —
Zurufe von der SPD) (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Nein! — Joseph
Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
Das ist doch das Problem, und darüber muß man doch -N EN]: Jetzt muß er nein sagen!)
sprechen können. Darf ich darauf hinweisen, daß es ein Buch gibt, in dem
(Günter Verheugen [SPD]: 12 Jahre? Das ist folgende Zitate enthalten sind:
das Schlimmste, was ich je gehört habe!) Die gesamte innen- wie außenpolitische Lage
spricht prima facie für die optimistische Erwar-
—Jetzt lassen Sie doch mich einmal wieder eine Weile tungshaltung über die Zukunft des vereinten
reden, ohne ständige Zwischenrufe. Deutschl and, und ohne jeden Zweifel sind die
(Günter Verheugen [SPD]: Nach der Ge historischen Bedingungen für eine f riedliche,
meinheit mit den 12 Jahren gerade?) demokratische und damit erfolgreiche Entwick-
lung Deutschlands in Europa so günstig wie nie
Das ist doch wirklich nicht fair. zuvor in der Geschichte dieses Landes.
(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Sie bauen einen (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Aber nicht mit
Popanz auf und hauen dann darauf ein! — dieser Regierung!)
Weitere Zurufe von der SPD und dem BÜND ... Vielleicht wird die Zeit der „Bonner Repu
NIS 90/DIE GRÜNEN) blik", aus dem Abstand einiger Jahre betrachtet,
64 Deutscher Bundestag — 13. Wahlpe riode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Dr. Heiner Geißler


dereinst als die glücklichste (West)-Deutschlands Wir werden das nur erreichen, wenn wir in allen
im 19. und 20. Jahrhundert bezeichnet werden. Bereichen — im Bundeshaushalt wie im übrigen auch
Darf ich darauf hinweisen, daß diese Zitate von bei Ländern und Gemeinden — die Ausgabenzu-
Herrn Joschka Fischer stammen? wächse streng begrenzen. So haben wir es in den 80er
Jahren auch erreicht. Ich bin gespannt auf die Haus-
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und haltsberatungen im einzelnen, wo wir in den ganzen
der F.D.P. — Zustimmung bei Abgeordneten 12 Jahren niemals Sparvorschläge der SPD erlebt
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) haben, sondern immer nur Kritik an zu hohen Steuern
und Kritik an zu hoher Verschuldung, Kritik aller
Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Herr Präsident, Sparvorschläge, gelegentlich eine Blockade im Bun-
die Antwort auf die Frage meines Freundes Heiner desrat, und anschließend ist das Mikrofon ausgefal-
Geißler lautet ganz korrekt: Ja. Ja, du darfst darauf len, wenn es an eigene Sparvorschläge gegangen
hinweisen. ist.
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
der F.D.P.) Wir werden unseren Weg fortsetzen.
Im übrigen habe ich auf diese Weise festgestellt, daß
die Vorstellung dieses Buches durch dich doch einen (Ministerpräsident Gerhard Schröder [Nie
guten Sinn gehabt hat. dersachsen]: Das werfe ich meiner Opposi
tion auch immer vor!)
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und
der F.D.P. — Joseph Fischer [Frankfurt] — Ja, das mag sein. Herr Schröder hat gesagt, bei ihm
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er muß weiter würde die Opposition auch ähnliche Kritik üben. Aber
zitieren!) so brutal hat noch selten ein Regierungschef Wahlver-
sprechen innerhalb weniger Monate gebrochen, wie
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der entschei- Sie es in Niedersachsen gemacht haben.
dende Punkt ist, daß wir angesichts der vielen Verän-
derungen trotz aller Erfolge einen gewaltigen Verän- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. —
derungsbedarf haben. Es ist ja wahr, daß der Standort Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]:
Deutschland durch zu hohe Lohn- und Lohnnebenko- Und da lacht er noch! — Joseph Fischer
sten, zu viele Steuern und Abgaben und zu langwie- [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
rige Genehmigungsverfahren, die in ihrem Ausgang Das Jahr 1990 war aber auch nicht schlecht
zu schwer kalkulierbar und auch deswegen zu teuer mit Ihrer Steuerlüge!)
sind, belastet ist und daß wir aus diesem Grund einen Wir haben übrigens seit 1992 Jahr für Jahr im
schlankeren Staat brauchen und daß wir uns auf Bundeshaushalt über alle Stellen der Bundesverwal-
technischen und wissenschaftlichen Fortschritt kon- tung jährlich 1 % der Stellen gekürzt, und wir werden
zentrieren müssen. Dazu ist übrigens die gesamtge- das in den nächsten Jahren fortsetzen. Wir haben in
sellschaftliche Akzeptanz von technisch-wissen- - Westdeutschland, in den alten Bundesländern, Sub-
schaftlichem Fortschritt von entscheidender Bedeu- ventionen in größerem Maße gekürzt, als dies die
tung. Deswegen hoffe ich, daß die Akademie der allermeisten Sachverständigen 1990 überhaupt für
Wissenschaften einen Beitrag dazu leisten kann, daß möglich gehalten haben. Wir haben seit 1990 insge-
unser Land dem technisch-wissenschaftlichen Fort- samt Subventionen in einer Größenordnung von
schritt insgesamt verpflichtet bleibt. 70 Milliarden DM jährlich gekürzt. Der Weg muß
Natürlich brauchen wir entscheidend eine Rückfüh- fortgesetzt werden. Aber das zeigt, wir sind durchaus
rung der zu hoch gewordenen Staatsquote. Aber auch erfolgreich auf dem richtigen Weg.
dabei muß man daran erinnern: Die Staatsquote ist Ich will übrigens, Herr Kollege Scharping, Ihre
heute so hoch, wie sie 1982, beim Amtsantritt der Bemerkung zur Gewerbesteuer aufgreifen. Zunächst
Regierung Kohl, gewesen war, nämlich 52 %. Das ist einmal muß man richtigstellen: Wenn Sie sagen: die
auf die Dauer zu hoch. Wir haben in den zwölf Jahren, Gewerbesteuer insgesamt, dann redet man von einem
Herr Kollege Scharping, unter der Verantwortung Volumen von 40 Milliarden DM. Das ist richtig, aber
dieser Bundesregierung von 1982 bis 1989 die Staats- nicht ganz richtig, denn Sie müssen dazusagen, daß
quote von 52 % auf unter 46 % zurückgeführt. Sie ist die Gewerbesteuerzahlungen bei der Einkommen-
uns durch die besonderen Aufgaben und Belastungen und Körperschaftsteuer anrechenbar sind. Das heißt:
im Gefolge der deutschen Einheit seit 1990 wieder auf Das Nettoaufkommen beträgt nicht 40 Milliarden DM,
52 % hochgesprungen. Sie muß mittelfristig wieder sondern irgend etwas in der Größenordnung zwischen
zurückgeführt werden. Aber eine Regierung, die es in 25 und 30 Milliarden DM.
den 80er Jahren schon einmal geschafft hat, bietet die
besten Voraussetzungen dafür, daß es auch in den (Zuruf von der CDU/CSU: Das weiß der doch
90er Jahren wieder gelingen wird. gar nicht!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Wir reden ja von einer gesamtstaatlichen Veranstal-
Ich weise im übrigen darauf hin, daß das neue tung.
Gutachten des Sachverständigenrates zur Begutach- Zweite Bemerkung. Ich glaube nicht, daß man ganz
tung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung gera- schnell eine Abschaffung der Gewerbesteuer errei-
dezu identisch ist mit den entsprechenden Ankündi- chen wird; jedenfalls brauchen wir dazu ein Zusam-
gungen von Regierung und Koalition, was ja weder menwirken von Bund, Ländern und Kommunen.
gegen den Sachverständigenrat noch gegen Regie- Genauso haben wir es in unsere Koalitionsvereinba-
rung und Koalition spricht. rungen hineingeschrieben. Was Sie dagegen kritisiert
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 65

Dr. Wolfgang Schäuble


haben, ist, etwas ganz anderes. Darüber haben wir Peter Dreßen (SPD): Herr Schäuble, würden Sie mir
auch in den Koalitionsverhandlungen gesprochen. zustimmen, daß bei der Abschaffung der Gewerbe-
Ob, Herr Finanzminister, Ihre Pressestelle das weiß, steuer weder der VW noch der Daimler oder ein
weiß ich nicht, aber in den Koalitionsverhandlungen Anzug um 50 Pfennig billiger würden, wenn Sie als
haben wir darüber ausführlich gesprochen. Ersatz vorschlagen, einen Hebesatz bei der Lohn- und
(Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Die Einkommensteuer einzuführen, daß dies nur schlicht
brauchen nicht über alles informiert zu weg nur wieder eine Umverteilung von oben nach
sein!) unten wäre? Deswegen würde mich interessieren, wie
Sie die Preisentwicklung sehen, wenn Sie die Gewer-
— Die brauchen nicht über alles informiert zu sein. besteuer abschaffen: Was wird da billiger?
(Bundesminister Dr. Theodor Waigel: So ist
es!)
Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Herr Kollege
Das ist wahr. Wenn man die Gewerbesteuer insgesamt
Dreßen, wenn Sie Ihrem Fraktionsvorsitzenden so
abschafft — und darüber sind sich alle Kommunalpo-
aufmerksam zugehört haben wie ich, dann werden Sie
litiker und die gewerbesteuerzahlende Wirtschaft
gehört haben, daß er gesagt hat, es sei seine Meinung,
einig —
daß man unternehmerische Erträge dort, wo Wachs
(Zuruf von der SPD: Das ist doch nicht tum entsteht, steuerlich entlasten sollte.
wahr!)
(Zuruf von der SPD: Nach Ihren Vorschlägen
— aber natürlich —, braucht man eine originäre haben wir gefragt!)
Finanzquelle der Gemeinden. Die kann man nur
— Ja, ich sage es doch gerade. Meinen Vorschlag
finden, wenn man die Gemeinden entweder an der
habe ich doch nun lange erläutert.
Mehrwertsteuer oder durch ein eigenes Hebesatz-
recht an der Lohn-, Einkommen- und von mir aus auch In der Logik der Überlegung von Herrn Scharping,
an der Körperschaftsteuer beteiligt. Darüber muß man die Bemessungsgrundlage zu verbreitern, um unter-
vernünftig miteinander reden. Wenn man dies tut, nehmerische Erträge entlasten zu können, liegt nun
verbreitert man übrigens die Bemessungsgrundlage. genau der Vorschlag, die Gewerbesteuer abzuschaf-
Ich weiß gar nicht, warum Sie das hier so streng fen und durch ein Hebesatzrecht der Gemeinden auf
abgelehnt haben. Ich kann das aus der Logik Ihrer Lohn-, Einkommen- und Körperschaftsteuer zu erset-
Einlassung gar nicht erkennen. zen. Das wird im Ergebnis wachstumsfördernd sein.
Wir beseitigen den gewaltigen Nachteil des Stand- (Michael Glos [CDU/CSU]: So ist es!)
orts Bundesrepublik Deutschland, Sie müßten sich vielleicht einmal sagen lassen, daß
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) einer der schlimmsten Nachteile des Wirtschafts- und
daß wir mit Ausnahme von Luxemburg als einziges Investitionsstandorts Deutschland die Tatsache ist,
Land unternehmerische Erträge zweimal besteuern, daß wir mit Gewerbekapital- und Gewerbeertrag-
nämlich mit Einkommen- bzw. Körperschaftsteuer - steuer das für Wachstum und Arbeitsplätze einge-
und Gewerbesteuer. Wir vereinfachen das Steuer- setzte Kapital und die daraus entstehenden Erträge
recht gewaltig. Wir stärken die kommunale Selbstver- besteuern. Das genau ist der Fehler, den wir korrigie-
waltung, indem die Gemeinde selber durch ein Hebe- ren wollen.
satzrecht über ihre Einnahmen entscheiden kann. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Deswegen lade ich Sie herzlich ein: Denken sie erst Wir werden — ich sage das noch einmal — im
einmal nach, bevor Sie nein sagen! Lassen Sie uns Dienstleistungsbereich, im Bereich von H andel,
vernünftig miteinander darüber reden! Handwerk und Dienstleistungen, zusätzliche Arbeits-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) plätze gewinnen müssen.
Ich will eine Bemerkung dazu machen, Herr Präsi- Es wird übrigens nicht auf dem Weg gehen, vorhan-
dent, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, daß dene Arbeit anders aufzuteilen, Herr Ministerpräsi-
wir bei allem wirtschaftlichem Wachstum nicht allein dent Schröder. Wenn Sie schon nicht auf Herrn
im industriellen Bereich hinreichend Arbeitsplätze Schiller hören, der das als Arbeitsamtssozialismus
finden werden. Deswegen ist es so wichtig, daß wir im bezeichnet hat, dann sollten Sie vielleicht die Beschäf-
Dienstleistungsbereich zusätzliche Beschäftigungs- tigungsstudie der OECD vom Juli dieses Jahres lesen,
potentiale erschließen. Das ist keine Alternative zu wo ausdrücklich ausgeführt ist, daß die erzwungene
einer auf Wachstum gerichteten Politik, aber es ist die Aufteilung von Arbeitsplätzen noch in keinem Fall
notwendige Ergänzung; denn bei allem Wachstum in Arbeitslosigkeit signifikant verringert hat.
der Industrie werden wir nicht so viel Arbeitsplätze (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)
haben, wie wir brauchen, um dem Ziel Arbeit für alle
näherzukommen. Wir brauchen mehr Flexibilität. Wir brauchen mehr
Teilzeitarbeit. Wir müssen nicht nur Frau Fuchs dafür
gewinnen, sondern die ganze SPD, daß wir reguläre
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege Arbeitsverhältnisse im privaten Bereich steuerlich
Schäuble, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage? absetzbar machen, um so mehr Beschäftigung zu
bekommen.
Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Bitte, gern. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Wenn wir mehr Teilzeitarbeit wollen, müssen wir in
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Abgeordne- der Tat auch das Umfeld, Kindergartenöffnungszei-
ter Dreßen. ten, Geschäftszeiten, Verkehrsdienstleistungen, dar-
66 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Dr. Wolfgang Schäuble


auf ausrichten, daß auch Frauenerwerbsarbeit und schenwürdig leben können. Dabei ist darauf zu
Familienarbeit besser miteinander vereinbar ist. achten, daß dadurch nicht eine falsche Bequem-
lichkeit Platz greift, die das notwendige Arbeits-
Im übrigen, Herr Kollege Scharping, weil Sie
ethos in der Gesellschaft aushöhlt.
danach gefragt haben: Wir wollen den Rechtsan-
spruch auf einen Kindergartenplatz nicht abschaffen. Auch dieser Satz ist richtig. Alle Sätze sind rich-
Wir hatten ihn ausdrücklich in unserem Wahlpro- tig.
gramm; wir haben ihn auch in unserer Koalitionsver- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
einbarung. Es bleibt bei einem Rechtsanspruch auf rdneten der F.D.P.)
einen Kindergartenplatz.
Deshalb laden wir auch Sie ein, miteinander über
Ich füge hinzu: Wenn die Kapazitäten in manchen die Schnittstellen zwischen Arbeitseinkommen,
Bundesländern nicht ausreichen, dann bin ich dafür, Lohnersatzleistungen und Transferleistungen unvor-
daß man übergangsweise die Richtlinien über die eingenommener zu diskutieren und diese Schnittstel-
Ausstattung an Sach- und Personalmitteln für Kinder- len neu so zu justieren, daß auch geringer bezahlte
gärten ein Stückweit lockert, damit jedes Kind ab 1996 Arbeit in unserem L ande nicht in Schwarzarbeit und
tatsächlich in jedem Bundesland einen Kindergarten- Schattenwirtschaft abgedrängt wird. Denn es ist bes-
platz bekommt. ser, zeitlich befristete oder Teilzeit- oder geringer
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) bezahlte Arbeit zu haben, als dauerhaft arbeitslos zu
sein. Das ist die schlechteste aller Alternativen.
Wir müssen die Schnittstellen zwischen Arbeitsein-
kommen, Lohnersatzleistungen und Sozialleistungen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
überprüfen.
Wenn wir für weniger Konsum und für mehr Inve-
Herr Kollege Scharping, weil Sie die Diskussions- stitionen in die Zukunft sind, dann heißt das auch eine
grundlage für die Konsultationen über ein gemeinsa- neue Anstrengung für mehr Vermögensbildung. Wir
mes Wort der Kirchen erwähnt haben, will ich erstens wollen Kapitalbeteiligungen fördern, auch durch
ein Wort des Respektes für diesen Text sagen. Ich will tarifvertragliche Öffnungsklauseln für Betriebsver-
dazu sagen, daß meine Fraktion mit großer Intensität einbarungen.
der Einladung beider Kirchen folgen wird und sich an
diesem Diskussionsprozeß beteiligen wird. Vor allen Dingen ist mir wichtig, daß wir in den
neuen Bundesländern staatliche Maßnahmen und
(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Der Bundeskanz
Leistungen der Investitionsförderung endlich mit der
ler hat die Kirchen nicht eingeladen! Er hat
Mitarbeiterbeteiligung verbinden, damit wir nicht
alle eingeladen, aber nicht die Kirchen! Das
durch die hohen Transferleistungen in einigen Jahren
ist doch interessant!)
eine Eigentums- und Vermögensverteilung in den
— Frau Kollegin Fuchs, es geht jetzt um eine Einla- neuen Ländern bekommen, die unver antwortlich
dung der Kirchen. Sie können ganz sicher sein, daß --o ist.
das Verhältnis des Bundeskanzlers zu beiden Kirchen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
und das Verhältnis beider Kirchen zum Bundeskanz-
ler sehr viel besser sind, als es bei vielen Ihrer Deswegen ist dies ein notwendiger Schritt, den wir in
sozialdemokratischen Ministerpräsidenten der Fall diesen Jahren gehen wollen und gehen werden.
ist.DaköneSgzbruhitsn. Das Subsidiaritätsprinzip stärken — was ja heißt,
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge mit der Idee eines schlanken Staates ernst zu
ordneten der F.D.P.) machen — und freiwillige Solidarität zu fördern, die
besser als eine staatlich verordnete ist — auch das
Aber das ist nicht der Punkt. steht übrigens in dem Diskussionspapier der beiden
Ich möchte ein Wort des Dankes für diesen Text und Kirchen —, das heißt vor allen Dingen auch Familien
des Respekts an beide Kirchen sagen. Wir werden uns stärken. Das heißt ebenfalls — das steht auf Seite 29
an diesem Diskussionsprozeß intensiv beteiligen, weil des Papiers; Frau Matthäus-Maier, hören Sie gut zu—,
wir für jede Anstrengung dankbar sind, in diesem daß das Steuersystem familiengerecht auszugestalten
Lande einen Konsens darüber herbeizuführen, was ist. Das heißt: Ehepaare mit Kindern und Alleinste-
notwendig ist, um die Zukunft zu gewinnen, soziale hende mit Kindern müssen steuerlich spürbar besser
Probleme so gut wie möglich zu bewältigen, Wärme in gestellt werden als kinderlose Steuerzahler. Auch
diesem Land zu erhalten und damit alle Menschen dieses werden wir in den kommenden vier Jahren
— stark oder schwach, behindert oder nichtbehin- weiter verbessern. — Sie sehen, wir haben eine breite
dert — eine möglichst gute Zukunftschance haben. Palette von Möglichkeiten.
Aber das ist kein Gegensatz zu unserer Politik. Denn (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Unser Ziel!)
ich finde z. B. in dieser Diskussionsgrundlage auf der
Seite 50 in der Ziffer 123 den Satz: — Nein, Sie wollen ein einheitliches Kindergeld, und
Sie wollen Kinder steuerlich nicht mehr berücksichti-
Soziale Gerechtigkeit verlangt, daß niemand, gen.
auch keine Gruppe, aus der Gesellschaft ausge- (Widerspruch bei der SPD)
schlossen wird. Das heißt, daß diejenigen, die
nicht in der Lage sind, eine eigene ausreichende Sie wollen, daß bei gleichem Bruttoeinkommen der
Arbeitsleistung zur Wirtschaft beizusteuern, von Steuerpflichtige mit vier Kindern genausoviel Steuern
der Gesellschaft so viel erhalten, daß sie men zahlt wie der Steuerpflichtige ohne Kinder. Das wol-
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 67

Dr. Wolfgang Schäuble


len wir nicht. Darüber sind wir unterschiedlicher Gesellschaft werden, die Teile der Bevölkerung aus-
Meinung. grenzt, damit wir eine Gesellschaft bleiben, die
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Schwache schützt und die Geborgenheit und Wärme
ordneten der F.D.P.) vermittelt. Ohne die Stärkung der Familie ist dies
nicht zu erreichen.

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege (Zuruf von der SPD: Wer grenzt denn aus? Sie
Schäuble, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage? — sind es doch!)
Frau Matthäus-Maier. Verantwortung für die Zukunft, verehrte Kollegin-
nen und Kollegen, heißt auch, daß wir uns den großen
Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Herr Schäuble, darf
ökologischen Fragen stellen müssen. Die Schöpfung
bewahren, die natürlichen Lebensgrundlagen für
ich Sie fragen, ob Ihnen wirklich entgangen ist, daß
wir in all den Jahren, in denen wir über das Kindergeld künftige Generationen erhalten, das erfordert einen
gesprochen haben, und jetzt im Wahlkampf, als wir schonenden Umgang mit Natur, Umwelt und Ressour-
cen.
gefordert haben, daß es vom ersten Kind an 250 DM
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
für alle geben soll, immer hinzugefügt haben, daß
DIE GRÜNEN]: Deswegen bauen wir so viele
dieses Kindergeld sofort von der Lohn- und Einkom-
neue Straßen! — Gegenruf von der CDU/
mensteuer abgezogen werden muß, daß z. B. dann
CSU: Wo denn?)
— hier im Bundestag habe ich x-mal dieses Beispiel
genannt —, wenn bei Ford in Köln zwei Arbeitnehmer Schon Immanuel Kant hat davon gesprochen, daß es
nebeneinander am Band stehen und der eine drei und letztlich eine Frage unserer eigenen Selbstachtung ist,
der andere keine Kinder hat, derjenige mit den drei daß es eine Pflicht gegen uns selbst ist, wie wir als
Kindern dreimal 250 DM gleich 750 DM weniger Geschöpfe Gottes mit der Geschöpflichkeit der Natur
Lohnsteuer zahlen soll? Ist Ihnen das entgangen, oder umgehen. Wir, die Christlich-Demokratische und die
ist es ein Zeichen von Unfairneß, daß Sie das heute Christlich-Soziale Union, sind überzeugt, daß auch
wieder einmal überhört haben? bei der Bewahrung von Natur und Umwelt Eigeninte-
(Beifall bei der SPD) resse und freiwillige Überzeugung der Menschen zu
besseren Ergebnissen führen als Reglementierung,
Bürokratie und Verbote. Deswegen setzen wir eben
Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Frau Mat- nicht auf immer mehr Verbote und Reglementierun-
thäus-Maier, ich habe Ihre Wahlplakate gesehen, gen, sondern auf marktwirtschaftliche Anreize und
habe sie mir angeguckt — manche waren so komisch, technologische Innovation.
daß man zweimal hinschauen mußte —, und dabei
habe ich gelesen: Einheitliches Kindergeld von (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
250 DM. Jetzt ergänzen Sie das. ordneten der F.D.P. — Joseph Fischer
[Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Steht so im - Sie haben doch ein Gesetz nach dem anderen
Regierungsprogramm!) gemacht!)
— Ich glaube, die Plakate habe ich jetzt richtig
— Herr Kollege Fischer, Sie sind ja in den Jahren seit
wiedergegeben.
der deutschen Einheit nicht hier gewesen. Wenn man
(Zurufe von der SPD) die Ergebnisse von 40 Jahren real existierendem
— Ja, gut. — Jetzt sagen Sie, das sei ja dasselbe, weil Sozialismus und 40 Jahren Sozialer Marktwirtschaft in
Sie das mit der Lohnsteuer verrechnen wollen. den beiden Teilen des einst geteilten Deutschland
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Man zahlt wirtschaftlich, sozial und umweltpolitisch vergleicht,
ist doch wohl bewiesen, daß freiwillige Initiative,
dann weniger Steuern!)
marktwirtschaftliche Anreize und das Setzen auf tech-
— Ich habe es schon verstanden. Ich will ja antwor- nologische Innovation die besseren Ergebnisse für
ten. — Ich glaube nicht, daß die Verrechnung von Mensch und Umwelt ermöglichen. Deswegen werden
Kindergeld mit der Lohnsteuer dem Anliegen ausrei- wir diesen Weg weitergehen.
chend gerecht wird, daß Familien mit Kindern weni-
ger Steuern zahlen müssen als Familien ohne Kin- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
der. ordneten der F.D.P.)
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sie zahlen Im übrigen sind auch dabei globale Lösungsansätze
sehr viel weniger Steuern!) das beste. Es gehört auch zu der Bilanz dieser zwölf
Das reicht mir in dieser Verrechnung nicht aus. Jahre, daß es der Bundeskanzler Helmut Kohl gewe-
sen ist, der Umweltpolitik zum Bestandteil europäi-
(Beifall bei der CDU/CSU) scher Politik, zur Politik der Europäischen Gemein-
Aber gut, wir werden ja darüber weiter diskutieren. schaft wie auch zu einem wesentlichen Auftrag der
Ich möchte jedenfalls den Satz hinzufügen: Wenn wir Bemühungen des Weltwirtschaftsgipfels seit 1985
die Familie stärken, fördern wir besser als auf jede gemacht hat.
andere Weise auch die Solidarität zwischen den
Generationen. Diese Solidarität zwischen Generatio- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
nen, zwischen Jung und Alt, ist gerade angesichts Wir brauchen in der Umweltpolitik europäische
einer Entwicklung im demographischen Aufbau unse- Harmonisierung; denn sonst werden unsere nationa-
rer Bevölkerung, in dem der Anteil älterer Menschen len Alleingänge möglicherweise die Wettbewerbssi-
immer größer wird, um so wichtiger, damit wir keine tuation des Standortes Deutschland weiter ver-
68 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Dr. Wolfgang Schäuble


schlechtem. Damit dies nicht geschieht, damit den Bundeskanzler nicht durchzubekommen — in der
Umwelt und Arbeitsplätze nicht gegeneinander aus- Tat war es ja denkbar knapp, und es lag nicht nur
gespielt werden können, was der Umwelt nicht hilft daran, daß einer verschlafen hat —, für dieses Land
und den Arbeitsplätzen auch nicht, brauchen wir „zukunftsfähig" sei! Diese Koalition der Angst ist
stärkere Fortschritte in der Harmonisierung der euro- nicht in der Lage, inhaltliche Festlegungen klipp und
päischen Umweltpolitik. klar zu treffen. Darüber möchte ich heute sprechen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Gleich am Anfang möchte ich dem Kollegen Schar-
Kolleginnen und Kollegen, es wird zu Recht viel über ping widersprechen.
die grundlegenden Werte für unsere Gemeinschaft
nachgedacht und diskutiert. Diese Debatte ist nötig, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
weil ohne einen Bestand an gemeinsamen Werten — Ob Sie jetzt gleich noch weiterklatschen, weiß ich
jede Freiheitsordnung verkommt. Wenn zu diesen nicht. Ich hoffe, Sie klatschen gleich. Hören Sie den
Werten freiwillige Solidarität, Verantwortung für die Satz erst einmal ganz an!
Zukunft, auch Bescheidenheit, auch, wo nötig, Bereit-
schaft zum Verzicht gehören, dann wächst aus solchen (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS
Grundwerten auch die Chance für mehr globale SES 90/DIE GRÜNEN)
Verantwortung, ökologische Verantwortung und Ver- Herr Scharping, ich bin im Gegensatz zu Ihnen der
antwortung für die Zukunft. Wir besitzen auch in den Meinung, daß es für die Opposition in der Tat darauf
großen Überlebensfragen der Menschen die Befähi- ankommt und daß es die Pflicht der Opposition ist,
gung zur Freiheit. alles zu tun, was mit demokratischen Mitteln möglich
Wir wissen nicht alles, und wir wissen auch nicht ist, damit diese Regierung so schnell wie möglich
alles besser. Deshalb sind wir zum Gespräch mit allen abgelöst werden kann. Denn ich bin der Meinung,
und zum Ringen um die bessere Lösung bereit. An der meine Damen und Herren — jetzt dürfen Sie Mat-
Schwelle zum nächsten Jahrhundert geht es um schen —,
unsere Zukunft, und das, verehrte Kolleginnen und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kollegen, ist unser aller Auftrag. Die Fraktion von sowie des Abg. Stefan Heym [PDS])
CDU und CSU ist dazu bereit.
(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und daß diese Regierung nicht mehr die Kraft zur
der F.D.P.) Zukunftsgestaltung haben wird und daß wir deswe-
gen wertvolle Jahre verlieren werden, die wir für die
Erneuerung dieses Landes dringend brauchen.
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat jetzt
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
der Sprecher der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN, der Kollege Fischer. sowie bei Abgeordneten der SPD und des
Abg. Stefan Heym [PDS])
(Ina Albowitz [F.D.P.]: Muß das sein?)
- Der entscheidende Punkt ist doch völlig klar. Sie
von der CDU und von der CSU müssen sich gar nicht
Joseph Fischer (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIE so sehr angesprochen fühlen. Ihr großes Problem ist
GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Her- doch, daß die Freien Demokraten von einem politi-
ren! Wir debattieren heute die Regierungserklärung schen Schlaganfall in den letzten Jahren getroffen
der Regierung Kohl, die auf der Grundlage einer wurden, von dem sie sich nicht mehr zu erholen
Koalitionsvereinbarung, geschlossen von CDU/CSU drohen.
und F.D.P., eine gemeinsame Regierung gebildet hat. (Dr. Hermann Otto Solms [F.D.P.]: Mal
Es ist diesmal eine merkwürdige Regierungsbildung sehen! Warten Sie es ab!)
gewesen, Herr Bundeskanzler; denn Sie haben ja alles
versucht — — Ihr großes Problem ist doch, daß die sogenannte
Koalition der Mitte schlicht und einfach daran schei-
(Dr. Hermann Otto Solms [F.D.P.]: Es ging tert, daß die F.D.P. nicht mehr in der Lage ist, ihre
schnell!) historische Funktion als Vertretung des politischen
— Ja, es ging sogar sehr schnell. Ich kann Ihnen auch Liberalismus in diesem Lande wahrzunehmen, weil
sagen, warum es so schnell ging: Es ging diesmal so sie diese Position schon längst geräumt hat.
schnell, weil Sie in der Tat nicht mehr die Kraft hatten,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
eine einzige konkrete politische Festlegung außer
sowie bei Abgeordenten der SPD und der
der, daß Sie gemeinsam eine Koalition bilden wollten,
PDS)
zu machen. Wenn man nämlich diese Regierungsbil-
dung und die Koalitionsvereinbarung gemeinsam Das ist doch Ihr Problem, nicht wahr?
betrachtet, stellt man fest, Herr Solms: Diese Regie- Wir Bündnisgrüne hören die neuen Freundlichkei-
rung mußte diesmal offensichtlich im Sack gekauft ten vom Kollegen Schäuble gern. Wir sind immer für
werden; denn Sie hatten alles zu vermeiden, was Freundlichkeit. Ich finde es aber merkwürdig, daß in
angesichts Ihrer knappen Mehrheit vor der geheimen diesem Land sozusagen immer noch die Ausnahme als
Wahl des Bundeskanzlers diese schmale Mehrheit Normalität begriffen wird und die Normalität als
noch weiter hätte gefährden können. Und dann erzäh- Ausnahme erwähnenswert ist. Ich finde, daß dort, wo
len Sie dem deutschen Volk via Deutscher Bundestag, schwerwiegende Grundrechtseingriffe vom Gesetz-
daß ausgerechnet eine Koalition, die mit klappernden geber beschlossen wurden — der Eingriff in das
Zähnen aus der Angst heraus, Telefon- und Fernmeldegeheimnis ist schwerwie-
(Lachen bei der CDU/CSU) gend —, alle Fraktionen im Deutschen Bundestag die
Deutscher Bundestag — 13. Wahlpe riode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 69

Joseph Fischer (Frankfurt)


Kontrolle der Exekutive vornehmen müssen und daß dann muß man sich die Frage stellen: Wer hat denn
dies nicht ein Liebesdienst, Dankbarkeitsgeschenk dieses Land zwölf Jahre regiert? Man ist immer wieder
oder ähnliches sein kann. Es muß eine Selbstverständ- baff. Da wird die Ausweitung der Mafia beschworen.
lichkeit sein, daß alle Fraktionen in diesem Hause Wer hat denn dieses Land zwölf Jahre regiert? Da wird
daran beteiligt werden. Das gilt auch für andere in tränenreicher Erklärung der traurige Zustand der
Dinge. Lage der Familie in Deutschland erklärt. Welche
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN christliche Regierung hat denn zwölf Jahre dafür die
sowie bei Abgeordneten der SPD) Verantwortung zu tragen?

Das große Problem ist doch, daß die Position des (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
politischen Liberalismus in einem Ausmaß zu verwai- Da wird von Ihnen ein Übermaß an Bürokratie, gerade
sen droht, daß die F.D.P. in der Tat unter die fünf auch gegenüber den Umweltschützern und den
Prozent gerutscht ist und rutschen wird. Umweltverbänden, angeführt, als wenn dies das ent-
(Zuruf von der CDU/CSU: Ihr Problem!) scheidende Standorthemmnis wäre. Ich frage Sie,
Herr Bundeskanzler: Wer hat denn noch im letzten
— Nein, das ist überhaupt nicht mein Problem, denn
halben Jahr der Legislaturperiode ein bürokratisches
um die F.D.P. tut es mir überhaupt nicht leid, obwohl
Monstrum wie das Kreislaufwirtschaftsgesetz durch-
ich der Meinung bin, daß wir eine starke liberale gebracht, weil Sie den Mut nicht hatten, endlich
Position in diesem Lande brauchen. Aber eine Partei,
ökonomische Steuerungsinstrumente in Form von
die sich nur noch als Interessenvertretung von irgend-
Ökosteuern und -abgaben durchzusetzen? Das ist
welchen Maklern oder ähnlichem versteht, hat mit
doch der entscheidende Punkt.
politischem Liberalismus nichts mehr zu tun.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
sowie bei Abgeordneten der SPD und der Sie reden von Deregulierung, aber Sie haben den
PDS) Mut nicht, im Umweltbereich daraus die Konsequen-
In der Koalitionsvereinbarung stellt man fest, daß zen zu ziehen, indem Sie einfach nur sagen: Wir
Sie das geworden sind, was in der „FAZ" ein Ihnen wollen den Nachtwächterstaat. Ich kann Ihnen für
wohlmeinender Jou rn alist im Wirtschaftsteil so meine Fraktion anbieten: Wir können auf vieles an
bezeichnet hat, daß Sie nichts anderes sind als die Regelwerk verzichten — das ist doch kein Selbst-
„Abteilung Liberalismus von Helmut Kohl". Dazu zweck —, wenn wirtschaftliches Verhalten umwelt-
sind Sie geworden. Das ist das Problem dieser Regie- verträglich über ökonomische Anreize gesteuert
rung. Daran wird Ihre Mehrheitsfähigkeit letztendlich wird.
scheitern. Das wissen Sie auch. Deswegen ist es grotesk, daß Sie die zentrale
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Steuerreform, nämlich die Umweltsteuerreform, den
sowie des Abg. Dr. Uwe Küster [SPD]) entscheidenden Hebel zum Umbau unserer Industrie-
- gesellschaft zu einer umweltverträglichen Industrie-
Sie haben Anspruch darauf — wir, BÜNDNIS 90/
gesellschaft des 21. Jahrhunderts, nicht angehen oder,
DIE GRÜNEN, wollen unsere Opposition so gestal-
wie der Finanzminister, nicht begreifen, auch lapidar
ten —, daß es nicht zu einem Generalverriß durch die
nur erklären: Das funktioniert alles nicht.
Opposition kommt, Herr Schäuble. Ich kenne das von
der hessischen Politik. Wenn da jemand von der CDU Meine Damen und Herren, wenn es nicht gelingt,
ans Podium schritt, z. B. der verehrte Kollege Kanther jetzt entscheidende Strukturreformen im Umweltbe-
oder sein Nachfolger, dann war alles Mist, was Rot reich, im Industriebereich vorzunehmen, wenn wir
Grün gemacht hat. Eine solche Opposition der Däm- jetzt nicht die umweltverträgliche Industriegesell-
lichkeit dürfen Sie von uns nicht erwarten. schaft des 21. Jahrhunderts in der Energiepolitik, mit
einer Wende in der Verkehrspolitik, mit einer Öko-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
steuerreform schaffen, dann, prophezeie ich Ihnen,
sowie bei Abgeordneten der SPD)
werden wir die Schlacht um das Schaffen neuer
Wir gehen davon aus, daß eine Regierung selbstver- Arbeitsplätze und den Kampf gegen die Massenar-
ständlich auch viel Richtiges tut, daß nicht alles, was beitslosigkeit verlieren, ja verlieren müssen.
CDU/CSU und F.D.P. an Überzeugungen vertreten,
grundfalsch ist, daß aber die Unterschiede herausge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
arbeitet werden müssen. Und dort, wo es erhebliche Denn nur in dem Bereich, meine Damen und Herren,
Unterschiede, ja, wo es Gegensätzlichkeiten gibt, liegen in der Tat diejenigen qualitativen Potentiale,
respektive dort, wo die Koalition und diese Regierung die wir brauchen, um neue Arbeitsplätze schaffen zu
nicht mehr in der Lage sind, die Zukunft dieses Landes können.
so, wie wir sie uns vorstellen, zu organisieren und die
notwendigen Probleme anzupacken, werden wir Da ist das, was Sie hier vorgetragen haben, Herr
energisch widersprechen und alles tun, damit diese Bundeskanzler, ein Dokument der Mutlosigkeit. Sie
Regierung möglichst schnell zu einem Endpunkt wollen ein Fünfliterauto. Ich hätte auch gerne
kommt. geklatscht, nur, ich hätte es gerne konkret. Denn
wenn Sie in der Tat das Fünfliterauto zum Ziel haben,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wenn Sie sagen: okay, wir wollen das in acht Jahren
Meine Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, durchsetzen, dann sage ich Ihnen: Machen Sie es nicht
wenn man Ihre Regierungserklärung gehört hat bürokratisch, machen sie es nicht mit Hypnose der
— Herr Kollege Scharping hat darauf hingewiesen , Automobilindustriellen, sondern greifen Sie zu dem
70 Deutscher Bundestag — 13. Wahlpe ri ode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Joseph Fischer (Frankfurt)


Instrument der kontinuierlichen Erhöhung der Mine- einfordern. Da nützt auch die Flucht in Zukunftsmini-
ralölsteuer! sterien oder ähnliches nichts, denn das wird nichts
bringen.
Denn die Konsequenz wird sein, meine Damen und
Herren, daß Verbraucher und Industrie sofort reagie- Herr Kollege Schäuble, wir haben seit 1989 — da
ren werden. Diese Mittel werfen wir dann nicht weiter sind sich ja alle Redner bisher einig gewesen — einen
in Waigels Rachen, sondern die werden zweckgebun- dramatischen Umbruch in dieser Welt. Ich nehme an,
den, und wir geben sie an die Kommunen für den daß diejenigen Wissenschaftler, die meinen, daß ein
Bereich des öffentlichen Personennahverkehrs zu- Wandel vor den industriellen Gesellschaften — auch
rück. Dann hätte das Ganze eine sinnvolle politische des Westens — liegt, davon ausgehen, daß dies ein
Initiative gegeben, bei der unsere Fraktion gerne ähnlich tiefer sein wird wie der Übergang von der
geklatscht hätte, auch wenn wir dann wieder in Agrarwirtschaft zur Industriewirtschaft.
schwarz-grünen Verdacht gekommen wären. Aber
solche Verdächte würden wir dann in Kauf nehmen, Wenn Sie gleichzeitig sehen, daß seit 1989 schock-
denn dann würden wir eine Strukturreform anstoßen, artig eine völlig neue Wirtschaftgeographie global
die in der Tat die Verkehrspolitik ökologisieren und entstanden ist — und damit natürlich auch völlig neue
die gleichzeitig den Menschen über verbesserte Ver- Warenströme sowie völlig neue Konkurrenzbedin-
kehrsdienstleistungen im öffentlichen Verkehr die gungen —, dann wird sich doch nicht die Frage stellen,
erhöhte Belastung zurückgeben würde. Diese erhöhte ob wir uns den Produktionsbedingungen in Vietnam,
Belastung wäre ja keine auf Dauer, weil ich sicher bin, in Schanghai oder wo auch immer angleichen können,
das Fünf- bis Dreiliterauto wird dann sehr schnell sondern es stellt sich dann die Frage, ob wir den Mut
Realität werden. und die Kraft haben, international und national den
nächsten Schritt zu tun, nämlich in der Wahrnehmung
An diesem Beispiel kann man klarmachen, meine unserer ökologischen Verantwortung die Industrie-
Damen und Herren, daß diese Bundesregierung unter gesellschaft von morgen als eine umweltverträgliche
dem Gesichtspunkt Zukunftsfähigkeit ein bißchen zu schaffen. Das ist für mich die entscheidende Her-
was angedacht hat, aber daß sie sich nicht wirklich ausforderung. Dort — ich habe es vorhin schon
traut. gesagt — wird auch die Arbeitsplatzfrage entschie-
Ich komme noch einmal, Herr Schäuble, auf die den. Und da, Herr Bundeskanzler, sehe ich ein Pro-
Deregulierung zurück. Es spricht ja manches dafür. blem, von dem ich mir — ich möchte es ansprechen,
Als Umweltpraktiker bin ich doch der letzte, der darin ohne daß ich eine Lösung dafür anbieten kann — —
sozusagen eine besondere Befriedigung findet, wenn
Beamte, mehr oder weniger gut bezahlt, sich in (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Es
Legionsgröße durch irgendwelche Aktenordner- ist ja bei Ihnen immer so, daß Sie keine
bände hindurcharbeiten müssen, mit Entscheidungen Lösungen haben!)
nicht vorankommen und ähnliches. In der Umwelt- — Ach, Herr Weng, das ist jetzt wirklich ein Zwischen-
politik nennt man das Vollzugsdefizit. ruf — der ist so etwas von intelligent gewesen.
Aber wenn Sie das ernst meinen und wenn Sie nicht
(Ina Albowitz [F.D.P.]: So wie Ihre Rede bis
den Nachtwächterstaat herbeiführen wollen, der
jetzt!)
dann bei der nächsten Umweltkatastrophe wieder das
Gegenteil von Ihrer Deregulierung machen muß, — Ich versuche jetzt wirklich einmal einen Punkt
dann müssen Sie verdammt noch mal doch endlich anzusprechen, der vermutlich Ihnen genauso wie der
alles tun, damit umweltgerechtes Verhalten betriebs- Bundesregierung und der Opposition auf den Nägeln
wirtschaftlich zum Tragen kommt. Und das werden brennt, nämlich daß wir seit 1989 in einen Prozeß der
Sie nur über die Preise erreichen können. Globalisierung hineingeraten sind. Es kommt damit
Nun haben Sie die Alternative, Herr Kollege zunehmend zu einem Kompetenzverlust der Entschei-
Schäuble: Warten Sie, bis der Markt wirkt, à la F.D.P., dungsebenen: von der nationalstaatlichen Ebene weg
dann, sage ich Ihnen, werden die sozialen Kosten hin zu multinationalen Unternehmen, zu globalen
enorm sein, die wir bis zum Eintritt einer Umweltkrise Finanzmärkten und ähnlichem.
und der entsprechenden Marktreaktion über die Die große Frage, die sich da stellt, ist: Was kann man
Preise zu tragen haben. Nimmt dagegen der Staat tun, was muß man tun? Ich glaube nicht, daß dieser
seine Verantwortung zum Handeln wahr und setzt Prozeß aufhaltbar ist, weil es sich um einen säkularen,
darauf, nicht umfängliche Gesetzeswerke zu verab- um einen historischen Prozeß handelt. Aber mehr und
schieden, sondern endlich den Mut zu haben, unser mehr wird es dazu kommen, daß nationalstaatliche
Steuersystem so umzubauen, daß wir nicht zu einer Parlamente und Regierungen zwar Adressaten von
weiteren höheren Belastung von Arbeit und damit zu berechtigten Wünschen und Kritiken von Menschen
einem Herausnehmen von Arbeitnehmerinnen und werden, aber im Grunde genommen die falschen
Arbeitnehmern aus dem Produktionsprozeß kommen, Adressaten sind. Gerade in der Wirtschaftspolitik ist
sondern daß wir endlich Umweltverbrauch, Umwelt- das doch ein ganz entscheidender Punkt.
zerstörung und Umweltbelastung steuerlich höher
belasten, dann, bin ich mir sicher, könnten wir uns Wenn man das so sieht, meine Damen und Herren,
manches an gesetzlichem Regelwerk schenken. daß dieser Prozeß der Globalisierung unaufhaltsam
ist, dann wird doch die entscheidende Frage sein: Wie
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) können wir den Legitimationsverlust nationalstaatlich/
Das ist eine Aufgabe, die vor dieser Bundesregierung demokratisch legitimierten Handelns in der Politik
liegt. Sie zu bewältigen, werden wir immer wieder auffangen? Diese Frage stellt sich für mich jenseits
Deutscher Bundestag — 13. Wahlpe riode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 71

Joseph Fischer (Frankfurt)


der persönlichen Tragödien, die Massenarbeitslosig- und Landräte-Baudenkmäler handelt, die unbedingt
keit immer bedeutet. noch in die Landschaft „gepflastert" werden sollten.
Anders als das große Amerika glaube ich nicht, daß (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
wir in Kontinentaleuropa mit unseren nationalen Ich möchte Ihnen, Herr Bundeskanzler, an diesem
Widersprüchen und Traditionen, die sich hin zu Natio- Punkt, an dem es um den ökologischen Umbau geht,
nalismus, zu einem aggressiven, kriegerischen Natio- konstruktive Zusammenarbeit dann anbieten, wenn
nalismus und Rassismus entwickeln können, daß wir es energisch in die richtige Richtung geht. Aber
diese inneren Widersprüche der amerikanischen genauso kündige ich Ihnen eine in der Sache nicht
Gesellschaft aushalten können und aushalten wer- nachstehende Opposition an, wenn Sie nicht in diese
den, ohne daß es zu einem Anknüpfen an jene fatale Richtung gehen. Und das, was Sie heute vorgetragen
europäische und auch deutschen Tradition des Natio- und was Sie in Ihrer Koalitionsvereinbarung geschrie-
nalismus kommen wird. ben haben, zeigt: Diese Regierung hat nicht mehr die
Wenn man das so sieht, meine Damen und Herren, Kraft zum ökologischen Umbau, der zentralen Her-
dann muß ich aber der Bundesregierung vorhalten: ausforderung, vor der wir heute stehen.
Sie springen angesichts dessen, was an Herausforde- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
rungen in diesem Lande jetzt vor uns liegt, viel zu
kurz. Es wird nichts nützen, daß wir nur ein bißchen Meine Damen und Herren, Sie haben heute auch
deregulieren, sondern dann müssen wir neue Struktu- sehr viel über Solidarität gesagt. Wenn man das
ren schaffen. einfach so hören würde, ohne das Drumherum zu
kennen, könnte man manchem abstrakten Satz sogar
Die Frage der Atomenergie — ja oder nein — ist zustimmen. Doch gerade Sie als christliche Demokra-
doch durch die weltwirtschaftliche Entwicklung schon ten müßte es sehr nachdenklich stimmen, daß in den
längst entschieden. Die Perspektive wird weder in der letzten zwölf Jahren in diesem Land die Armut zuge-
Kohle, bei den fossilen Energieträgern noch in der nommen hat. Viele Leute sind reich geworden, sind
Atomenergie liegen. Wenn wir als eines der führen- wohlhabend geworden, wir haben eine breite Mittel-
den Industrieländer den Durchbruch zur Energiespar- schicht. Aber wir haben gerade in den großen Städten,
wirtschaft nicht anpacken und schaffen, wenn wir als Herr Schäuble, das Problem, daß zunehmend Men-
eines der führenden Industrieländer den Durchbruch schen an den sozialen Rand und darüber gedrückt
zu den erneuerbaren Energieträgern im nächsten werden — und das in Größenordnungen, die gerade
Jahrtausend nicht schaffen, meine Damen und Her- Sie als christliche Demokraten alarmieren müßten.
ren, dann werden wir mit den heute bekannten
Energieerzeugungstechnologien der selbstgestellten Es geht nicht um eine neue Klassenkampfposition.
globalen Energie- und Umweltfalle nicht entkommen Aber was Sie in schönem, altkonservativem Deutsch
können, und wir werden es gleichzeitig mit massivem einklagen — Verzicht, Solidarität —, das muß man
Arbeitsplatzverlust zu bezahlen haben. doch gerade gegenüber denen einklagen, die in
diesem Land stärkere Schultern haben und demnach
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auch mehr tragen können. Das ist doch der entschei-
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der dende Punkt. Es wird auf eine Spaltung dieser Gesell-
PDS) schaft hinauslaufen — das wird nicht eine Zweidrittel-
gesellschaft, sondern perspektivisch eine Halb-Halb-
In der Verkehrspolitik geht es mir doch nicht um Gesellschaft werden —: in Besitzstandswahrer mit
Automobilfeindlichkeit, um Technikfeindlichkeit. guten Einkommen, die weniger Steuern bezahlen
Das ist doch nicht die Frage. Unsere Opposition gegen wollen, als sie bezahlen müßten, die eine gute Ausbil-
den Transrapid begründet sich darin, daß wir nicht dung haben und hochkreativ sind, und diejenigen, die
glauben, daß diese Milliardenbeträge jemals rentier- über den Rand gedrückt werden und teilweise sogar
lich sein werden. Wir hätten diese Milliardenbeträge hinunterfallen. Eine solche Gesellschaft halten Sie
lieber in den Ausbau der heute vorhandenen Rad- auch mit mehr Polizei nicht mehr zusammen, Herr
Schiene-Systeme und in ihre Erneuerung investiert. Schäuble.
Das ist unser entscheidender Kritikpunkt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) bei der SPD und der PDS)
Wenn wir einer Meinung sind, daß wir Schienevor- Wenn man Solidarität neu definieren will, dann
rangpolitik betreiben wollen, Herr Bundeskanzler, gehört Mut dazu. Sie werden es hier bei BÜNDNIS 90/
dann haben Sie doch den Mut, den jetzigen Bundes- DIE GRÜNEN mit einer Opposition zu tun haben, die,
verkehrswegeplan zurückzuziehen! wenn Sie Besserverdienenden diese Wahrheit zumu-
ten werden, daraus keinen populistischen Gewinn
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schlagen wird, weil wir es für nötig halten, daß
Solidarität neu definiert wird.
Man kann ja darüber reden und streiten, welche
Verkehrswege „Straße" wir im Ost-West-Bereich Natürlich ist es nach wie vor so, daß wir eines der
brauchen. Aber ich kann Ihnen für Hessen — und ich reichsten Länder sind, in dem der Kindergartenplatz
nehme an, daß Herr Kollege Scharping das für Rhein- für jedes Kind eben nicht selbstverständlich ist. Als
land-Pfalz ebenfalls kann — aus dem Stand zehn ehemaliger Landespolitiker weiß ich: Wenn wir vom
Projekte nennen, bei denen es sich um Planungen der Kindergartenplatz für jedes Kind reden, dann reden
60er und 70er Jahre im Nord-Süd-Zusammenhang wir im Grunde von einem Alter von vier bis sechs
oder um die berühmt-berüchtigten Bürgermeister- Jahren. Wir wissen aber, wie wichtig es unter dem
72 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Joseph Fischer (Frankfurt)


Gesichtspunkt des Zusammenhalts der Familien ist, sie bei uns eingeführt wurde, überhaupt nicht einver-
die Vereinbarkeit von Familie und Beruf so zu orga- standen waren.
nisieren, daß sie funktioniert. Warum haben wir nicht
(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
die Kraft, hier aus diesem Bundestag heraus klarzu-
NEN)
machen, daß es einer großen Anstrengung bedarf, die
in hohem Maße eine Zukunftsinvestition ist? Und es ist Ich kann Ihnen nur sagen: Anders geht es nicht.
sinnvoll, diejenigen, die mehr belastet werden kön- Rückblickend muß man das feststellen. Diese Erfah-
nen, dafür auch mehr zu belasten, meine Damen und rung haben auch Sie gemacht, meine Damen und
Herren. Warum haben wir diese Kraft nicht? Herren. Nehmen Sie das nicht als Hohn, sondern
sehen Sie den echten Fortschritt. Nur: Der entschei-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dende Punkt wird sein, den nächsten Schritt zu
sowie bei Abgeordneten der SPD — Zuruf machen. Wir sind uns einig — wenn Sie so wollen, ist
des Abg. Dr. Hermann Otto Solms [F.D.P.]) das ein selbstkritisches Eingeständnis eines alten
68ers —, ob Familie oder Lebensgemeinschaft — das
— Nein, das tut ihr nicht. Wenn ihr das tätet, fände ich sehen wir nicht so ideologisch verengt wie Sie —:
das sehr gut. Das Gegenteil ist der Fall. Kinder müssen in einem festen emotionalen, elternbe-
Ich sage Ihnen noch etwas zu den Mieten. Herr zogenen Zusammenhang aufwachsen.
Bundeskanzler, Sie sollten einmal in Frankfu rt frei- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Was heißt
tags ab 12 Uhr vor dem Haus der „Frankfurter „elternbezogen"?)
Rundschau" sein. Da sehen Sie jeden Freitag eine
„Elternbezogen" heißt, daß sie mit den Eltern zusam-
„realsozialistische" Schlange von Menschen stehen,
men aufwachsen. Daß das heute nicht mehr in lebens-
die verzweifelt preiswerten Wohnraum im Ballungs-
langen Ehen allein geschieht, wissen Sie aus eigener
gebiet suchen. Sie sollten einmal in die Noteinwei-
Erfahrung in den Reihen Ihrer Fraktion.
sungsquartiere der großen Städte gehen. Dort sehen
Sie Menschen, die überhaupt nicht Ihrem gängigen (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/
Klischee entsprechen, sie bezögen Sozialhilfe und DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
wollten nicht arbeiten, sondern die auf Grund von SPD und der PDS)
individuellen Schicksalen — Mieterhöhungen, Ar-
Das finde ich auch völlig okay. Ich finde auch die
beitsplatzverlust und ähnlichem — in die Noteinwei-
Erklärung der katholischen Bischöfe völlig okay, daß
sung hineingedrängt wurden. Meine Damen und
Sie nicht mehr von den heiligen Sakramenten ausge-
Herren, wenn wir es mit dem Kampf gegen die schlossen werden, wenn Sie sich wieder verheiraten.
Wohnungsnot ernst meinen, ist das erste, was zu tun
Der Papst sieht das noch etwas anders. Aber diesen
ist, die Zweckentfremdung von Wohnraum in den
Streit brauchen wir heute nicht unter uns zu führen.
Ballungsgebieten zu unterbinden. Wir können gar
Ich glaube, der ganze Bundestag ist in dieser Frage
nicht so viel neu bauen, wie wir dadurch verlieren.
fortschrittlicher als Kardinal Ratzinger und die Kurie.
-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Das sollte man an anderer Stelle austragen.
bei der SPD und der PDS) Für mich ist der entscheidende Punkt: Wir müssen
den nächsten Schritt tun. Wir müssen die Bedingun-
Das zweite: Sie müssen endlich Mietpreise möglich gen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für
machen, die bezahlbar sind. Das ist der entscheidende Mann und Frau bei Arbeitsplätzen, bei Schulen,
Punkt. Wenn Sie bezahlen können, bekommen Sie Vorschulen, Kindergärten, im Versicherungsrecht,
heute sofort jede Wohnung. Aber diese Zahlungsfä- kurz: überall, schaffen.
higkeit haben die wenigsten Menschen in diesem
Lande, und das ist die eigentliche Tragödie. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Meine Damen und Herren, die Union hat die
Nur dann wird Frauengleichstellung wirklich kon-
Frauengleichstellung entdeckt. Das finde ich hervor-
kret.
ragend.
Lassen Sie mich zum Schluß noch einiges zur
(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Außenpolitik sagen. Herr Kollege Geißler hat ein Zitat
NEN) von mir gebracht. Das freut mich. Er hat nur nicht
vollständig zitiert.
Das meine ich überhaupt nicht zynisch. Es zeigt: Sie
begreifen, daß das traditionelle Geschlechterver- (Zuruf von der F.D.P.: Man soll es nicht
ständnis in unserer Gesellschaft nicht mehr durchsetz- übertreiben!)
bar ist. Der Wertewandel von 1968, Herr Kollege — Man soll es nicht übertreiben, aber man sollte
Schäuble, ist sozusagen unumkehrbar, so leid es mir immer das Richtige zitieren, und man sollte vollstän-
tut. dig zitieren. Denn unvollständige Zitate sind irrefüh-
(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ rend.
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
SPD) (Dr. Burkhard Hirsch [F.D.P.]: Das ganze
Buch kann er nicht vorlesen!)
Das haben Sie jetzt begriffen, und das finde ich sehr — Das kann ich Ihnen nur empfehlen. Aber bitte.
gut. Ich wünsche Ihnen bei der Durchsetzung der
Quote viel Erfolg. Das meine ich nicht zynisch. Denn (Heiterkeit im ganzen Hause — Ina Albowitz
ich selbst gehöre zu denen, die im Jahre 1982/83, als [F.D.P.]: Was kostet das Buch denn?)
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 73

Joseph Fischer (Frankfurt)


Der entscheidende Punkt, auf den ich zu sprechen sein. Darauf bezog sich mein Zwischenruf, Herr Kol-
kommen möchte, ist: Wird die Berliner Republik, wie lege Schäuble. Wissen Sie, was in der Koalitionsver-
sie von einigen bereits genannt wird, einen anderen einbarung steht? Darin steht — insofern guter Rechts-
Weg gehen als die Bonner Republik? Sie sagten: Nein. anwalt, der Sie sind, ist Ihre Kritik am Kollegen
Sie setzen auf Kontinuität. Das wollen wir untersu- Scharping formal korrekt, aber nur formal — auf
chen. Wir wollen nicht sagen: Kohl ist der neue Seite 35:
Nationalist. Vielmehr wollen wir untersuchen, ob Das bereits verabschiedete nationale CO2-Kon-
stimmt, was er sagt. Das ist eine Form von Opposition, zept zur Reduzierung von Kohlendioxid wird
die ich intelligent finde, statt, wie ihr das immer macht,
umgesetzt und fortentwickelt.
zu sagen: Die sind des Teufels. Die entscheidende
Frage ist, ob die Kontinuität in dem, was Sie tun, So! Nun wissen Sie so gut wie ich, Herr Schäuble
tatsächlich angelegt ist. Ich sehe die große Gefahr, daß — und Sie lachen; jetzt lassen Sie uns mal schwäbisch
es nicht zur europäischen Einigung kommt, und zwar schwätze —: Das ist natürlich eine Schlitzohrformulie-
aus einem bestimmten Grund, den ich Ihnen nennen rung; denn in diesem nationalen CO2-Konzept steht
will: weil der entscheidende qualitative Schritt, die nichts Konkretes drin. Das wissen Sie so gut wie ich.
Souveränitäts- und Demokratiefrage, bisher ausge- Da ist nicht eine konkrete Festlegung drin, meine
spart wurde. Damen und Herren!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Das Setzen darauf, Herr Bundeskanzler, wie es auch Insofern kann ich Ihnen nur sagen: Die neue Umwelt-
einige Kommentatoren, wie es auch kluge Analytiker ministerin und auch Sie, Herr Bundeskanzler, Sie
tun, daß sich die EG auf Grund der Notwendigkeiten waren ja in Rio; Sie werden gefragt sein. Wenn die
immer aus dem nächsten praktischen Schritt heraus Bundesrepublik Deutschland sich international bei
entwickelt habe, reicht nicht aus. Das haben die ihren CO2-Reduktionsverpflichtungen weiter so hän-
Volksbefragungen klargemacht, und das wird der genläßt, bedeutet das im Klartext, daß sich alle ande-
französische Präsidentschaftswahlkampf jetzt wieder ren wichtigen Industrienationen ebenfalls werden
klarmachen. Sie müssen doch jeden Abend Rosen- hängenlassen.
kränze beten, damit Ihr Parteifreund, der mit einer
antieuropäischen Plattform in Frankreich in die Wahl Deswegen wird es auch unter dem Gesichtspunkt
geht, nicht französischer Präsident wird! der globalen Entwicklung und der Entwicklung der
Arbeitsplätze von zentraler Bedeutung sein, daß die
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Bundesrepublik Deutschland vorangeht, und zwar mit
Der entscheidende Punkt ist: Wenn die Völker nicht konkreten Zahlen. Sie müssen endlich durchsetzen,
eingebunden werden, wenn es nicht zu einer wirkli- daß nicht mehr kleinkarierte, rückwärtsgewandte
chen Demokratisierung von EG-Europa kommt, Wirtschaftsinteressen, wie sie der Wirtschaftsminister
(Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: Kommt es gegenüber dem Bundesumweltminister vorgebracht
doch!) hat, die Oberhand gewinnen, sondern daß die Bun-
desregierung mit einem konkreten, an Daten und
dann werden Sie feststellen, daß es nicht weitergehen, Zahlen festgemachten Konzept nach Berlin geht, daß
sondern rückwärtsgehen wird, meine Damen und wir mit unserer globalen Verantwortung endlich Ernst
Herren. machen und uns davor nicht mehr drücken.
Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen. Wir Meine Damen und Herren, das sind für mich die
sehen doch gegenwärtig das Drama in Bosnien. Wir wichtigen Herausforderungen. Diese Herausforde-
erleben das grauenhafte Morden in Bihac. Herr Schar- rungen stellen sich in Ost- und Westdeutschland
ping hat vorhin angefügt: Europa besteht nicht nur aus gleichermaßen. Ich halte überhaupt nichts davon zu
Westeuropa, sondern auch aus Osteuropa, aus Paris, meinen, im Osten müsse man jetzt die 60er, 70er und
Prag, Berlin und Budapest; auch aus Sarajevo, muß 80er Jahre nachholen; irgendwann werde man mit
man hinzufügen. einer beschleunigten Aufholjagd dann schon den
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Standard des Westteils unseres Landes erreichen. Das
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) würde ein bitteres Erwachen geben. Der Aufbau Ost
Wir sollten alles tun, damit dieser grauenhafte Krieg kann nicht Nachbau West werden,
endlich zu einem Ende kommt. Sie haben hier für eine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Politik, die das Morden beendet, die Menschen
schützt und ihnen Hilfe gibt, die Unterstützung des sondern die neuen Länder müssen mit ihren Struktur-
ganzen Hauses. Aber, Herr Bundeskanzler, wir wür- entscheidungen der modernere Teil dieses Deutsch-
den uns auch wünschen, daß Ihr Innenminister dann lands werden, d. h. auch der umweltverträglichere.
aufhört, Menschen in die Kriegsgebiete abzuschie- Deswegen wird es von zentraler Bedeutung sein,
ben, daß z. B. Deserteure nicht mehr abgeschoben klarzumachen, daß der Kampf um die Arbeitsplätze,
werden. Dann wäre der Konsens noch wesentlich eine ökologische Strukturreform im Energie- und im
größer. Verkehrsbereich, eine Steuerreform auch und gerade
für Ostdeutschland von zentraler Bedeutung sind,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, wenn es nicht nur bei Versprechungen in bezug auf
bei der SPD und der PDS) die Arbeitsplätze, mehr Arbeit, mehr Investitionen
Lassen Sie mich noch auf einen letzten Punkt bleiben soll, bei denen letztendlich nichts oder nur
eingehen. Ganz entscheidend wird das Verhalten der sehr wenig herauskommen wird. Das sind die zentra-
Bundesrepublik auf dem Berliner Gipfel zu bewerten len Herausforderungen, vor denen dieses Land steht
74 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Joseph Fischer (Frankfurt)


— innenpolitisch, außenpolitisch, wirtschaftspolitisch erteilt und sich für eine erfolgreiche Zukunft entschie-
und umweltpolitisch. den.
Ich traue Ihrer Regierung die Kraft, diese Struktur- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU —
reformen anzupacken, nicht mehr zu, Herr Bundes-
Detlev von Larcher [SPD]: So klar, Herr
kanzler. Das zeigt auch Ihre Regierungserklärung. Kinkel, war das nicht!)
Statt dessen wird Deutschland mit Ihrer Regierung
weitere Jahre verlieren. Sie werden in diesen ent- Die Bürger wissen sehr wohl, daß das Schicksal
scheidenden Strukturreformen zu kurz springen, und dieses Landes bei dieser Regierung und bei dieser
deswegen wird es von zentraler Bedeutung sein, daß Koalition in guten Händen ist.
diese Koalition das Ende der Legislaturperiode nicht
erreicht. Detlev von Larcher [SPD]: Oh Gott, oh
Gott!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der SPD und der PDS) Als deutscher Außenminister füge ich noch hinzu: Das
Ausland weiß das erst recht.

Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Das Wort hat jetzt


-
(Zuruf des Abg. Dr. Helmut Lippelt [BÜND
der Bundesminister des Auswärtigen, unser Kollege NIS 90/DIE GRÜNEN])
Dr. Klaus Kinkel. — Warten wir es ab. Mit Ihnen werden wir uns
auseinandersetzen. Passen Sie auf.
Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister des Auswärtigen: Nun zu Ihnen, Herr Fischer. Schon zum zweiten Mal
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Entgegen muß ich Ihnen sagen: Lautstärke ersetzt nicht Argu-
dem, was Herr Fischer Ihnen hier gesagt hat — bei mente. Ich räume ein, daß sie vielleicht den Unterhal-
dem ganz offensichtlich der Wunsch der Vater des tungswert erhöht. Aber ich frage Sie erneut, warum
Gedankens ist und worauf ich nachher gern eingehen Sie hier immer so laut in den Saal brüllen.
möchte —, ist die Koalition gemeinsam entschlossen,
ihr Bündnis der Mitte fortzuführen. Wir Liberalen Daß Sie sich mit dem Liberalismus auseinanderset-
werden unseren zuverlässigen Anteil dazu beitra- zen und sich um die Zukunft der F.D.P. sorgen,
gen.
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne DIE GRÜNEN]: „Sorgen" ist übertrieben!)
ten der CDU/CSU)
das freut uns; das ehrt Sie auch. Aber — das muß ich
Auch da ri n, Herr Fischer, widerspreche ich Ihnen:
noch einmal wiederholen — bei Ihnen scheint der
Entgegen dem, was Sie meinen und gerne hätten, hat
Wunsch der Vater des Gedankens zu sein. Diesen
diese Koalition — jedenfalls auf Bundesebene — die
Wunsch werden wir Ihnen nicht erfüllen.
Kraft, die Kompetenz und im Gegensatz zu Ihnen auch
die Erfahrung für weitere vier gute Regierungs- - (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
jahre. ten der CDU/CSU)
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Weil Sie sich mit Wahlergebnissen auseinanderge-
Wir werden den Wählerauftrag ernst nehmen, der setzt haben, möchte ich Ihnen sagen: Sie sollten sich
lautet: das wiedervereinigte Deutschland erneuern. mit sich selber beschäftigen.
Ich sage Ihnen mit großer Gelassenheit und Ruhe:
(Ina Albowitz [F.D.P.]: Vor allem in den
SPD und Grüne werden sich für weitere vier Jahre auf
neuen Ländern!)
den harten Oppositionsbänken einrichten müssen.
Das sagen wir Ihnen voraus. — Ja, vor allem in den neuen Ländern. — Wir hatten
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) und haben schweres Fahrwasser und haben auch
unsere Sorgen. Sich aber so damit auseinanderzuset-
Dabei haben Sie von der Opposition sich große
zen, wie Sie das versucht haben, ist leicht schäbig.
Mühe gegeben, das Ergebnis der Koalitionsverhand-
Schauen Sie in Ihren eigenen Bericht und sorgen Sie
lungen mieszureden. Dem sachlichen Gehalt sowie
sich erst um Ihre eigene Partei! Dann können wir uns
den ehrgeizigen Zielsetzungen und konkreten Vorha-
hier gern wieder treffen.
ben, die wir in der Koalitionsvereinbarung festgehal-
ten haben, wird diese Kritik einfach nicht gerecht. (Beifall bei der SPD)
Ich kann verstehen, daß die SPD und insbesondere Und seien Sie ganz sicher: Was Ihre Themen, Ihr
Herr Scharping frustriert sind. Die ersten Auftritte im Programm, Ihre Visionen anbelangt, so werden wir
Deutschen Bundestag und auch innerhalb der SPD uns damit befassen, und zwar sehr genau.
waren ja alles andere als glänzend. Deshalb verstehe
ich, daß Sie frustriert sind. (Zurufe von der SPD und vom BÜNDNIS 90/
(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das sagen Sie, DIE GRÜNEN)
Herr Kollege! — Weitere Zurufe von der — Ja, wir werden uns sehr genau damit befassen. —
SPD) Joschka Fischer kommt plötzlich auf Samtpfoten
— Nein, Herr Scharping, hören Sie genau zu! Deutsch- daher. Da gilt, was bei Arzneimitteln nachzulesen ist:
land hat sich entgegen dem, was Sie gesagt haben, Zur Vermeidung von Risiken und Nebenwirkungen
eben nicht auf den Wechsel gefreut. Im Gegenteil, lesen Sie das Programm der GRÜNEN und von
Deutschland hat dem Wechsel eine klare Absage BÜNDNIS 90, dann wissen Sie, wohin die Reise gehen
Deutscher Bundestag — 13. Wahlpe ri ode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 75

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel


soll. — Das werden die Bürger tun, und das werden Haben Sie sich einmal den Dreck angesehen, den Sie
auch wir tun. dort hinterlassen haben, als Sie fortgegangen sind?

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU —
ten der CDU/CSU) Lachen und Widerspruch beim BÜND
NIS 90/DIE GRÜNEN)
Lieber Herr Fischer, wenn das Wirklichkeit würde,
was Sie in der Außen-, in der Sicherheits-, in der— Ja, den Dreck muß man sich ansehen. Jahrelang
hatten Sie die Chance, dort Ihre Visionen und Ihr
Wirtschafts- und in der Technologiepolitik in Ihrem
Programm und in Ihren Vorstellungen vorhaben, dannGeschrei in der Praxis zu verwirklichen. Aber es ist bei
kann ich nur sagen: Gute Nacht, Deutschland! Visionen und Theorie geblieben, und in der Praxis
haben Sie nichts gebracht; denn Hessen hat von
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- sämtlichen Länderregierungen mit am meisten abge-
ten der CDU/CSU) wirtschaftet. Daran sind Sie mit schuld.
Das ist auch der Grund, warum die Wähler richtig (Beifall bei der F.D.P. und der [CDU/CSU] —
entschieden haben, nämlich Sie auf Bundesebene Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Richtig,
nicht ranzulassen. ein Versager sind Sie! Schämen Sie sich! —
Zuruf von der SPD: Das ist doch kein
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Niveau!)
DIE GRÜNEN]: Hallo wach, Herr Kinkel!)
Meine Damen und Herren, ich will zu dem zurück-
— Herr Fischer, so wach wie Sie bin ich schon kommen, was ich eigentlich sagen wollte. Wir haben
lange. — ich sage es noch einmal, weil Sie es so miesgemacht
(Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Auch haben — eine gute Koalitionsvereinbarung. Sie ist
vom gemeinsamen Willen zum Handeln getragen.
schon in der Früh!)
Natürlich enthält sie Kompromisse — das sage gerade
Wenn Sie immer wieder den Eindruck erwecken ich als F.D.P.-Vorsitzender—, aber sie läßt jeder Partei
— wie es ja Ihr Programm ist —, als drehe sich die ihre eigene Identität. Die Qualität einer Koalitionsver-
ganze Welt, als drehe sich die Bundesrepublik allein einbarung wird nicht durch eilige Vorabkritik der
um ökologische Probleme, dann ist daran richtig, daß Opposition zu Beginn bestimmt, sondern durch das,
das alles außerordentlich wichtige Fragen für uns was am Ende der Legislaturperiode unter dem Strich
sind. Aber Sie müssen andererseits doch auch sehen, herauskommt. Da bin ich sicher: Diese Bilanz wird
daß die Zukunft dieses Landes und die Zukunft dieser nach vier Jahren positiv sein.
Welt nicht ausschließlich von diesem Thema abhän-
Sie wollen uns ja aus der Opposition heraus vier
gig ist, sondern auch noch von ein paar anderen
Jahre lang jagen. Ich kann Ihnen nur sagen: Dem
Fragen, und um die will ich mich anschließend küm-
sehen wir mit großer Gelassenheit und Ruhe entge-
mern.
- gen. Schon m an ches Jägerlatein war relativ früh am
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- Ende, und die Trefferquote bei den ersten Schüssen
ten der CDU/CSU) ging, wenn ich Ihnen das ehrlich sagen darf, gegen
Null. Also, wir sehen dem mit großer Gelassenheit
Wenn Sie, Herr Fischer, Solidarität von denen entgegen.
einfordern, die die Besserverdienenden sind, wie Sie
das nennen, von denen, die mehr verdienen, dann (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
kann ich Ihnen nur sagen: Sie übersehen offensicht- DIE GRÜNEN]: Sie müssen aufpassen, daß
lich, daß wir in diesem Land bewußt ein progressives Sie nicht auf die Rote Liste kommen!)
Steuersystem haben und daß beim Füllen der Steuer- Und weil Sie vorhin von den „wackelnden Zähnen"
körbe der wesentliche Anteil schon jetzt von denen gesprochen haben, halte ich Ihnen entgegen: Sie
erbracht wird, die mehr leisten und die Körbe mit — speziell Sie, Herr Fischer — werden sich an uns die
ihren Leistungen füllen. Dabei wollen wir es dann Zähne ausbeißen.
auch belassen, ohne die sozial Schwächeren auszu-
grenzen. Darauf will ich nachher gern noch einmal (Beifall bei der F.D.P. — Joseph Fischer
eingehen. [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
O ja!)
Hier den Eindruck zu erwecken, mit sozialem Neid
und bloßer Umverteilung kämen wir in diesem Land Meine Damen und Herren, Deutschland muß wirt-
und in Europa vorwärts, ist falsch, und das lassen wir schaftlich, sozial, ökologisch, als liberaler Rechtsstaat
auch nicht zu. und auch in der Außenpolitik Spitze bleiben. Unsere
Lösungsvorschläge sind: Wir wollen einen schlanken
(Beifall bei der F.D.P.) Staat mit weniger Bürokratie, weniger Vorschriften.
Im übrigen muß ich mein ganzes Konzept umstellen, Wir wollen die Modernisierung unserer Wirtschaft in
um mich jetzt mit Ihnen auseinanderzusetzen. Ich den alten und in den neuen Ländern durch konse-
halte Ihnen zum Schluß einen Punkt vor, Herr Fischer: quente Förderung des Mittelstands und Stärkung der
Wie lange waren Sie eigentlich in der hessischen Marktkräfte. Wir stehen gerade als F.D.P. für die
Landesregierung? Sicherung der Staatsfinanzen und die Fortsetzung
der Steuerreform. Und, Herr Fischer, wir setzen uns
(Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Zu für den Schutz der Umwelt durch mehr Marktwirt-
lange!) schaft und für die Festigung des Sozialstaats durch
76 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel


seinen Umbau ein, wohlgemerkt nicht durch den wären zum Scheitern verurteilt. Eine große Wirt-
Abbau von Sozialleistungen. schafts-, Industrie- und Kulturnation zu sein — ich
sage dies noch einmal — ist Anspruch und Verpflich-
Wir wollen schließlich eine Offensive für Bildung,
tung. Sie kann es sich nicht erlauben, sich zu sehr mit
Wissenschaft, Forschung und Kultur sowie den Erhalt
sich selber zu beschäftigen,
des inneren Friedens in diesem Land, weil wir eine
große Wirtschafts- und Kulturnation sind und bleiben (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)
wollen.
mit Themen und Problemen, die gar nicht von aller-
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- erster Bedeutung sind.
ten der CDU/CSU) (Beifall bei der F.D.P.)
Vor allem wollen wir die Einheit unseres Landes Wir müssen als Land nach außen hin orientiert bleiben
vollenden. Ich meine, daß die Menschen in den neuen und wieder zur Kenntnis nehmen, daß wir uns mit den
Ländern in der praktischen Politik spüren müssen, daß wirklichen Problemen befassen müssen, daß wir nicht
es uns damit ernst ist. allein auf dieser Welt sind und daß sich nicht alles nur
(Vor s i t z : Präsidentin Dr. Rita Süssmuth) um Deutschland und unsere Probleme dreht. Es gibt
ein paar Probleme mehr auf dieser Welt.
Meine Damen und Herren, diese Legislaturperiode
führt uns an die Schwelle des 21. Jahrhunderts. Nur (Beifall bei der F.D.P.)
wenn dieser 13. Deutsche Bundestag seine Kräfte für Genauso gilt natürlich: Nur wer zu Hause leistungs-
eine entschlossene Erneuerung unserer Gesellschaft fähig ist, kann nach außen handeln und gestalten. In
bündelt und nutzt, wird er seiner Verantwortung für der Entwicklungspolitik und in der humanitären Hilfe
die kommenden vier Jahre gerecht werden. Über können wir nur das verteilen, was wir vorher erwirt-
Parteigrenzen hinweg wird es im Bundestag und im schaftet haben. Deshalb ist auch außenpolitisch wich-
Bundesrat im Interesse unseres Landes und der Men- tig, was wir uns in der Koalitionsvereinbarung innen-
schen notwendig sein, Lösungen bei den wahrhaftig politisch vorgenommen haben.
nicht wenigen Sachproblemen zu finden. Dabei
mögen wir über die besten Wege zu diesen Lösungen Thema Umweltschutz. Auch hier heißt das Stich-
ruhig miteinander streiten und kämpfen. wort Innovation. Die wirtschaftlichen Anreize zu
einem schonenden Umgang mit Natur und Umwelt
Wir stehen, wenn ich es richtig sehe, vor einer müssen wir verstärken. Aber anders als die SPD und
doppelten Herausforderung: der Modernisierung DIE GRÜNEN setzen wir beim Umweltschutz auf
nach innen und dem globalen Wettbewerb nach marktwirtschaftliche Anreize für den Bürger statt auf
außen. Wir werden die Erneuerung nur dann schaffen, immer mehr Verbote gegen ihn.
wenn wir um uns herum gute Freunde, stabile Nach-
barn und offene Märkte haben. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
ten der CDU/CSU)
(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Richtig!) -
Die Ratschläge des Sachverständigenrats in seinem
Beispiel Umwelt: Der Ausstoß von CO2 und FCKW jüngsten Gutachten zeigen, daß wir uns auf dem
oder die Bekämpfung des Ozonlochs lassen sich doch richtigen Weg befinden. Die marktwirtschaftliche
nicht mehr im nationalen Alleingang bewältigen, Herr Weichenstellung in der Umweltpolitik wird unsere
Fischer. Beispiel Beschäftigung: Nur wenn die Unternehmen anspornen, immer bessere Umwelt-
Beschäftigungsinitiative der Europäischen Union ins- und Energiespartechniken zu entwickeln. So wird
gesamt gelingt und nur wenn wir offenen Zugang zu sich die Wettbewerbssituation auf diesem Sektor, wo
den asiatischen Wachstumsmärkten erhalten, werden wir schon heute Gott sei Dank Weltklasse sind — auch
wir zu Hause die notwendigen neuen Arbeitsplätze das muß einmal erwähnt werden —, weiter verbes-
schaffen können. Jede lohn- oder sozialpolitische sern.
Entscheidung hat unmittelbare Auswirkungen auf Thema Beschäftigungspolitik. Es ist schon gesagt
unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit, unsere worden: Wir brauchen Flexibilität und Deregulierung
Position im Wettbewerb. Wer diesen Wettbewerb für im Arbeitsmarkt, vor allem aber eine konzertierte
sich entscheiden will, muß die vorhandenen Kräfte Offensive in Bildung, Wissenschaft und Forschung.
bündeln und versuchen, neue Kräfte freizusetzen: Wer im eigenen Land keine international anerkann-
(Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Sieg- ten Spitzenkräfte hervorbringt, kann die Hoffnung auf
fried Hornung [CDU/CSU]) eine Spitzenposition im technologischen Wettbewerb
draußen — auf sie sind wir angewiesen — im eigenen
in Forschung, in Entwicklung, in Bildung und Ausbil- Interesse begraben.
dung, bei der Deregulierung und bei der ökologischen
Steuerreform. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
ten der CDU/CSU)
Meine Damen und Herren, ich komme zu einem
Punkt, der für mich sehr wichtig ist. Die klassische Wir dürfen nicht zulassen, daß die deutsche Hoch-
Trennung zwischen Innen- und Außenpolitik gehört schullandschaft für ausländische Studenten und For-
der Vergangenheit an. scher leider immer weniger attraktiv wird. Eine mög-
lichst große Zahl qualifizierter ausländischer Absol-
(Günter Verheugen [SPD]: Ja!) venten an unseren Universitäten ist auch eine ganz,
ganz wichtige Investition in unsere eigene Zukunft.
Erfolgreiche Innenpolitik, Umweltpolitik, Finanz-
politik ohne ein klares außenpolitisches Konzept (Beifall bei der F.D.P.)
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 77

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel


Im Wettbewerb mit Eliteuniversitäten wie Stanford Daß wir der Mittelstandspolitik künftig einen noch
oder Oxford werden wir aber nur dann bestehen stärkeren Impuls geben wollen, weist die Koalitions-
können, wenn auch in unsere Hochschullandschaft vereinbarung, wie ich finde, klipp und klar aus. Wir
der frische Wind des Wettbewerbs einzieht. werden einen Parlamentarischen Staatssekretär im
Wirtschaftsministerium für den Mittelstand einrich-
(Beifall bei der F.D.P.)
ten.
Wir müssen unsere Studenten mehr als bisher nach
(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Extra! — Günter
draußen schicken. Es ist ein riesiges Mißverhältnis,
Verheugen [SPD]: „Weniger Staat"!)
daß auf 30 asiatische Studenten in Deutschland nur
ein Deutscher kommt, der in Asien studiert. Ich habe Allen notorischen Nörglern sei ins Stammbuch
das Gefühl, daß uns das wahrhaftig zu denken geben geschrieben: Eine erfolgreiche Mittelstandspolitik
muß. wird das zentrale Thema der nächsten vier Jahre für
uns sein.
Thema Mittelstandspolitik.
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Rabattgesetz!) ten der CDU/CSU)
Selbständige, Existenzgründer und Freiberufler sind Was den Solidaritätszuschlag anbelangt, haben wir
Leistungsträger in unserer Gesellschaft. Der Mittel- vereinbart, daß dieser Solidaritätszuschlag keinen
stand braucht Erleichterungen und nicht eine zusätz- Tag länger aufrechterhalten werden soll als unbe-
liche Arbeitsmarktabgabe, wie die Opposition sie dingt notwendig.
fordert. Die SPD will dem Mittelstand wie einem
Packesel immer neue Belastungen aufbürden, statt (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)
dem Mittelstand zu helfen und ihn zu entlasten. Er Dies war ein starkes liberales Anliegen. Wir werden
braucht Entlastung und Hilfe und keine neuen Bür- uns dafür einsetzen, daß es in der Praxis tatsächlich so
den. kommt.
(Beifall bei der F.D.P. — Detlev von Larcher (Beifall bei der F.D.P.)
[SPD]: Wer hatte hier denn in den letzten vier Thema Sozialabgaben: Die Koalitionsvereinbarung
Jahren die Mehrheit? — Ingrid Matthäus- sieht die Einberufung einer Kommission vor,
Maier [SPD]: Ihr Minister hat doch die För-
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Schon wie
derkurse gestrichen!)
der!)
Wir planen die Abschaffung der Gewerbekapital- die unter Einschluß unseres Bürgergeldkonzepts
steuer zum 1. Januar 1996 als erste Stufe zu einer Lösungsvorschläge prüfen soll, wie wir künftig die
Abschaffung der Gewerbesteuer. Wir haben in der soziale Hilfe zielgenauer leisten können.
Koalitionsvereinbarung gerade für den Mittelstand
und — das ist ganz wichtig — vor allem für den Diese Bundesregierung wird die Anreize für regu-
Mittelstand in den neuen Ländern sehr, sehr viel. Dort - läre Erwerbsarbeit stärken und Sozialbürokratie
hat er nämlich gezeigt, was er in Wirklichkeit zu abbauen. Wir halten nämlich nichts davon, daß es
leisten in der Lage ist. Die weit überwiegende Zahl der heute bei den Sozialleistungen 37 Anlaufstellen für
Arbeitsplätze, die in den neuen Bundesländern 152 verschiedene Hilfearten gibt. Davon profitiert
geschaffen worden sind, kommt vom Mittelstand. Das erfahrungsgemäß nicht der, der Hilfe am meisten
muß man einmal anerkennen und deutlich und klar braucht, sondern derjenige, der sich am besten im
sagen. Paragraphendschungel auskennt. Das kann nicht
richtig sein; denn wir wollen denen helfen, die wirk-
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- lich hilfsbedürftig sind und Hilfe benötigen.
ten der CDU/CSU)
Ich bleibe dabei, daß mit der notwendigen Sensibi-
Im übrigen würde ich gern an die Adresse des einen lität auf sozialem Gebiet für uns gilt, daß sich ein
oder anderen selbsternannten Mittelstandspapstes Rechtsstaat, eine Demokratie dadurch auszeichnet,
(Detlev von Larcher [SPD]: Das sind Sie, die wie sie mit den Schwächeren, den nicht so Leistungs-
F.D.P.! — Zuruf des Abg. Dr. Gregor Gysi fähigen, den Ausgegrenzten und den Hilfsbedürfti-
[PDS]) gen umgeht. Das wird für uns mit erstes Motto sein
und bleiben.
— Sie, Herr Gysi, sind es sicher nicht , der versucht
hat, die Leistungen von Bundeswirtschaftsminister (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
Rexrodt herunterzureden, sagen — das sage ich auch ten der CDU/CSU)
gegenüber Herrn Scharping deutlich und klar —: Die Anreize zur Schwarzarbeit müssen endlich
Lassen Sie diese unfairen und unsachlichen Angriffe! beseitigt werden. Auch dazu kann das Bürgergeld-
Günter Rexrodt macht gute Wirtschaftspolitik, gerade konzept einen wichtigen Beitrag leisten.
für den Mittelstand.
Meine Damen und Herren, das sind einige Auf ga-
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- ben der Koalition im Innern. Aber es stehen natürlich
ten der CDU/CSU — Lachen bei der SPD — auch nach draußen gewaltige Probleme an.
Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Weiterhin im Kel- Wer glaubte, mit dem Ende der Ost-West-Ausein-
ler! — Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Erfolg- andersetzung werde der allgemeine Landfriede in
reich versteckt!) diesem Land oder in Europa einkehren, hat sich leider
— Sie haben es noch nicht gemerkt. Sie werden das bitter getäuscht. Richtig ist, daß wir im engeren
noch merken. Europa nicht mehr einer unmittelbaren militärischen
78 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel


Bedrohung gegenüberstehen. Darin liegt in der Tat — Hören Sie erst einmal zu!
ein enormer Gewinn für Frieden und Stabilität und ein
besonderes Glück für uns Deutsche. Das Ausländerrecht wird novelliert. Das Amt der
Ausländerbeauftragten wird gesetzlich geregelt —
Aber wir stehen heute vor anderen, neuartigen ein besonderes Kompliment an Frau Schmalz-Jacob-
Herausforderungen und völlig anderen und minde- sen, die diesem wichtigen Amt Profil gegeben hat.
stens so großen Risiken. Allein in den nächsten vier
Jahren wird die Menschheit um 400 Millionen wach- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
sen, d. h. um mehr als die gesamte Bevölkerung der ten der CDU/CSU — Joseph Fischer [Frank
erweiterten Europäischen Union. Wichtig ist: Über furt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da soll
90 % dieses Bevölkerungswachstums entfallen auf ten Sie Ihren Gesetzentwurf gleich einbrin
Entwicklungsländer. In vielen dieser Länder ist die gen!)
Hälfte der Bevölkerung jünger als 25 Jahre, hat aber
— Wenn Sie es für notwendig halten, dazu höhnische
so gut wie keine Zukunftsaussichten. Kein Wunder,
Bemerkungen zu machen: bitte. Ich finde, daß die
daß Fanatismus, fundamentalistische Strömungen
Arbeit von Frau Schmalz-Jacobsen wahrhaftig her-
und Gewaltbereitschaft immer mehr Zulauf erhal-
vorragend war und daß sie sich des Beifalls und der
ten.
Unterstützung des ganzen Hauses sicher sein kann,
Es ist uns nach dem Wegfall der Ost-West-Ausein- die sie verdient.
andersetzung die zweite große Weltgeißel geblieben:
die Nord-Süd-Problematik. Deshalb müssen wir die (Beifall bei der F.D.P. — Ingrid Matthäus
traditionelle Nord-Süd-Politik zu einer globalen Ent- Maier [SPD]: Was hat sie denn zu dieser
wicklungs- und Umweltpartnerschaft weiter entwik- Kinderstaatsangehörigkeit gesagt?)
keln. Es wird eine Reform des Staatsangehörigkeits-
Aber alle Entwicklungsbemühungen und Maßnah- rechts geben. Im Einbürgerungsverfahren werden
men zum Schutz der Umwelt sind zum Scheitern Ermessensentscheidungen durch Rechtsansprüche
verurteilt, wenn sie nicht durch eine konsequente ersetzt. Die Möglichkeiten einer Regelung zur Steue-
Bevölkerungspolitik begleitet werden. Die weiter rung und Begrenzung der Zuwanderung werden wir
wachsende Weltbevölkerung zu ernähren, weltweit untersuchen.
für menschenwürdige Arbeitsplätze zu sorgen und
gleichzeitig die ökologischen Auswirkungen des Im übrigen rufe ich, wie so oft nach drinnen und
draußen,
Wirtschaftswachstums unter Kontrolle zu halten, sind
die zentralen internationalen Aufgaben, denen wir (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Ich habe Sie noch
uns als 80-Millionen-Volk im Herzen Europas und als nie rufen hören!)
eines der reichsten Länder dieser Erde stellen müs-
sen. Ihnen hier im Deutschen Bundestag erneut zu, daß
- von diesem Land nie mehr Ausländerfeindlichkeit,
(Beifall bei der F.D.P. und bei der CDU/ Ausländerhaß und Antisemitismus ausgehen dürfen.
CSU) Sorgen wir gemeinsam dafür, daß das nie mehr
Wir brauchen, meine Damen und Herren, Solidari- möglich ist!
tät nach drinnen. Wir brauchen sie aber auch nach
draußen. Die Mobilität der Menschen nimmt zu. Die (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU
Gegensätze zwischen Arm und Reich, zwischen sowie bei Abgeordneten der PDS)
erfolgreichen Industriestaaten und in Not versinken- Auch die Kinderstaatszugehörigkeit ist ein Schritt
den Entwicklungsländern verschärfen sich. Wir haben nach vorne.
enorme Migrationsbewegungen. Der Wanderungs-
druck von Ost nach West und von Süd nach Nord wird (Detlev von Larcher [SPD]: Frau Schmalz
gerade Deutschland in den nächsten Jahren noch viel Jacobsen sieht das anders!)
stärker als bisher beschäftigen. Vor allem deshalb
brauchen wir eine zukunftsorientierte Ausländerpoli- — Hören Sie bitte erst einmal zu.
tik. In keinem anderen Bereich — das hat sich in den Wir haben uns sehr ernsthaft mit dem Kinderstaats-
Koalitionsverhandlungen gezeigt — wird die Ver- zugehörigkeitsproblem beschäftigt, das im Zusam-
knüpfung zwischen äußerer und innerer Entwicklung menhang mit Art. 16 und Art. 6 nicht unerhebliche
so deutlich, und in keinem anderen Bereich ist der Rechtsprobleme aufweist. Unter anderem diese
liberale Rechtsstaat so gefordert. Rechtsprobleme waren es, die in mancher Beziehung
Unser Ziel war und ist die bessere Integration der nur schwer überwindbar waren und zu der Einrich-
vor allem schon länger bei uns lebenden Ausländer, tung der Kinderstaatszugehörigkeit geführt haben.
die wir in unseren Kulturkreis, in unser Land aufneh- Ich muß Ihnen deutlich und klar sagen: Ich verwehre
men wollen und auch verkraften können. Darin ist sich mich gegen diejenigen, die gerade diesen Punkt zum
die Koalition einig. Im Ergebnis der Koalitionsver- Gegenstand billiger Polemik machen wollen. Dafür ist
handlungen haben wir durchaus Schritte getan, die die Sache zu ernst. Dafür haben wir zu sehr darum
sich sehen lassen können: gerungen! Dafür gab es zu große rechtliche Probleme.
Dafür ist zu wichtig, was jetzt für ausländische Kinder
(Lachen bei der SPD — Joseph Fischer in der dritten Generation in Deutschland, erreicht
[Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: worden ist.
Was ist denn mit dem Einwanderungsrecht,
Herr Kinkel?) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 79

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel


In diesen Zusammenhang gehört auch die Bekämp- schen Partner mit dem Ziel der Mitgliedschaft immer
fung der nationalen und der internationalen Krimi- enger an die Europäische Union heranführen.
nalität. Wir wollen vor allem ein Europa der Bürgernähe.
(Jörg Tauss [SPD]: In diesen Zusammen Wir haben in den Koalitionsverhandlungen darüber
hang?) gesprochen, daß gerade in letzter Zeit so unsinnige
Dinge wie ein einheitlicher Asbestanzug für sämtliche
Es ist schon darüber gesprochen worden: Das Organi- Feuerwehren in Europa eingeführt worden sind. Als
sierte Verbrechen, Drogen- und Menschenhandel, ob das nicht jede Gemeinde selbst regeln könnte!
Geldwäsche bedrohen unsere offene Gesellschaft.
(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sehr wahr!)
Stand früher der Schutz der Freiheitsrechte des ein-
zelnen vor dem Zugriff eines übermächtigen Staates Ich füge hinzu: Die Bürger mögen diesen Blödsinn
im Vordergrund, so geht es heute vielfach darum, und diese Regelungswut aus Brüssel nicht mehr.
unseren Bürgern das Gefühl zu geben, daß der Staat in Deshalb müssen wir Abhilfe schaffen.
der Lage ist, ihnen Schutz vor allem dann vor neuen (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU —
und bisher nicht gekannten Verbrechensformen zu Günter Verheugen [SPD]: Ich denke, Sie sind
gewähren. Die Prinzipien des liberalen Rechtsstaats, der Präsident da in Brüssel!)
auf den wir stolz sind, dürfen dabei aber nicht über
— Schreien Sie doch nicht so laut!
Bord gehen.
(Beifall bei der F.D.P.) In zwei Wochen werden wir Bilanz ziehen, was
unsere Präsidentschaft anbelangt. Entgegen dem,
Gerade in Zeiten, in denen die innere Sicherheit sehr was Sie vorher geäußert haben — ich verstehe ja, daß
im Vordergrund steht, müssen wir Augenmaß und Sie all das miesmachen wollen —, werden wir uns mit
rechtsstaatliche Sensibilität bewahren. dieser Bilanz draußen sehen lassen können. Sie wer-
Aber natürlich kann es nicht richtig sein — da waren den feststellen, daß wir dafür in Europa und interna-
und sind wir uns einig —, daß es ausgerechnet die tional Anerkennung bekommen werden, und zwar
Drogenhändler und Mafiabosse sind, die vom Wegfall klare Anerkennung!
der Zollschranken in Europa profitieren sollen. Der
Kampf gegen das internationale Verbrechen läßt sich
national nicht mehr gewinnen. Deshalb kann EURO- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Minister Kin-
POL, bei dem wir zugegebenermaßen nur sehr lang- kel, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordne-
sam vorankommen ten Frau Matthäus-Maier?

(Norbert Geis (CDU/CSU): Zu langsam!)


Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister des Auswärtigen:
— es liegt aber nicht an uns Deutschen, sondern an
Nein, bitte nicht; ich möchte im Konzept bleiben.
anderen hier in Europa — nur ein Anfang sein. Wenn
wir ernst machen wollen, brauchen wir eine neuartige (Zuruf von der SPD: Das ist peinlich!)
-
weltweite Allianz gegen das Verbrechen. — Nein, das ist nicht peinlich. Ich bin gern bereit, mich
Meine Damen und Herren, wo sind die Prioritäten mit Ihnen nachher zu unterhalten.
für die deutsche Außenpolitik in den nächsten vier (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das ist nicht
Jahren? Ich nenne vier Schwerpunkte. anonym Brüssel, sondern der Ministerrat!)
Erstens. Unser wichtigstes Ziel bleibt die Schaffung Auch künftig werden alle Mitglieder der Union
einer handlungsfähigen und bürgernahen Europäi- gleichermaßen gebraucht, die kleinen wie die großen,
schen Union. Wir wollen, daß Europa in der Welt mit und allen Mitgliedern müssen alle Felder gemeinsa-
einer einzigen Stimme auftreten und sich Gehör mer europäischer Politik gleichermaßen offenste-
verschaffen kann. Deshalb brauchen wir weiterhin hen.
den engen Schulterschluß mit Frankreich. Ich frage Zweitens. Wir brauchen ein System europäischer
mich tatsächlich, Herr Scharping, wo es da Probleme und transatlantischer Sicherheit, das die Vereinigten
geben soll. Nun mache ich schon seit über zweiein- Staaten weiterhin fest an Europa bindet und anderer-
halb Jahren Außenpolitik in engstem Schulterschluß seits Rußland nicht ausgrenzt. Das europäisch-ameri-
mit den Franzosen, doch die Probleme, die Sie — er ist kanische Verhältnis bedarf gerade jetzt aufmerksa-
leider nicht da — geisterhaft geschildert haben, sehe mer Pflege.
ich nicht. Ich sage nochmals: Das transatlantische Verhältnis
(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: ist weit mehr als ein rein militärisches Zweckbündnis.
Die hat ihm der Verheugen aufgeschrie Die Wertegemeinschaft, die uns mit den USA verbin-
ben!) det, ist ein Grundelement unseres außenpolitischen
Selbstverständnisses.
Ich würde gerne von Ihnen in einem Privatissimum
hören, wo es diese Probleme geben soll. Die NATO bleibt unentbehrlich zentrales Funda-
ment unserer Sicherheit. Ihre Kernfunktionen dürfen
Daß Frankreich mit uns zusammen Achse und nicht ausgehöhlt und ihr innerer Zusammenhalt darf
Motor dieser europäischen Einigung bleiben muß, nicht geschwächt werden.
darüber sind wir uns Gott sei Dank einig.
Ein Wort zu Jugoslawien. Es ist heute von der
Wir wollen den Vertrag von Maastricht in all seinen NATO im Zusammenhang mit den Ereignissen in der
Teilen einschließlich der Wirtschafts- und Währungs- Bihac-Zone ein zweiter Angriff geflogen worden. Was
union umsetzen und unsere mittel- und osteuropäi im früheren Jugoslawien nach wie vor an Schreckli-
80 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel


chem geschieht, ist und bleibt eine Schande für Bewältigung der globalen Herausforderung und zur
Europa. Friedenserhaltung, ebenso wie zur Sicherung der
Es bleibt dabei: Es gibt keine Alternative zu dem Menschenrechte. Mit Beginn des kommenden Jahres
Friedensplan der Europäischen Union. Militärische wird Deutschland für zwei Jahre einen nichtständigen
Sitz im Sicherheitsrat der UN einnehmen. Wir haben
Aktionen allein können den Frieden in dieser Region
jedenfalls nicht bringen. Wir müssen alles, wirklich damit die Chance, uns in gewissem Sinne auf einen
alles tun, um den Menschen humanitär zu helfen und ständigen Sitz vorzubereiten, den wir ja gemeinsam
den Zusammenhalt der Kontaktgruppe aufrechtzuer- wollen und bei dem ich sicher bin, daß wir ihn in
absehbarer Zeit, allerdings nicht schnell und nicht in
halten.
den nächsten Jahren, direkt erhalten werden. Schon
Ich habe für den 2. Dezember die Außenminister der jetzt wird im UNO-Rahmen weit mehr als bisher von
Kontaktgruppe nach Brüssel eingeladen, und ich uns erwartet, bei der Förderung demokratischer
werde am Samstag mit dem russischen Außenminister Strukturen, bei der Konfliktprävention, bei Wahlbe-
Kosyrew in Bonn zusammentreffen, um diese Fragen obachtungen, insbesondere bei der humanitären
vorzubereiten. Hilfe. Gerade hier vertraue ich auf die Bereitschaft des
Die Aggressoren müssen wissen — ich hoffe, daß Deutschen Bundestages, uns Mittel, die dem ständig
dieses Hohe Haus das unterstützt —, daß die NATO weiterwachsenden Bedarf entsprechen, zur Verfü-
bereit und fähig ist, wenn notwendig, militärisch zu gung zu stellen.
handeln. Sie hat das heute erneut gezeigt. Diejenigen, Deutschland wird auch künftig gut beraten sein,
die bei den bosnischen Serben Verantwortung tragen wenn es dem Erhalt des Friedens weiterhin vor allem
— an der Spitze Herr Karadzi ć —, müssen wissen, daß mit nichtmilitärischen Mitteln dient. Dabei wird es
es nicht richtig sein kann, daß eine Million Menschen, auch bleiben, schon deshalb, weil man mit Panzern
angeführt von einer verbohrten Führerschaft im mili- und Raketen keine Schulen errichten und keine
tärischen und politischen Bereich, die Welt drangsa- Brunnen bohren kann.
liert und in Atem hält. Das kann und darf nicht richtig
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
sein.
ten der CDU/CSU)
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU Aber, meine Damen und Herren von der Opposi-
sowie bei Abgeordneten der SPD und des tion, mit einer Schönwetteraußenpolitik allein ist es
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) eben nicht getan. Wir können nicht mehr Mitsprache
Die Angriffe auf Biha ć müssen unverzüglich been- fordern und uns dann verstecken, wenn von uns ein
det werden. Auch mein Appell an Karadzi ć und seine Engagement gefordert wird, wie es unsere Freunde
Helfer in Pale ist: Akzeptieren Sie endlich den Frie- und Partner schon jahrelang auch für uns leisten.
densplan und stellen Sie sich nicht auf Dauer außer- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
halb der Staatengemeinschaft! ten der CDU/CSU)
Die schrittweise Erneuerung der NATO muß in - Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
engem Zusammenhang mit der Erweiterung der hat für unsere Soldaten endlich Klarheit geschaffen.
Europäischen Union und der WEU stehen. Innerhalb Auf unsere Bundeswehr kommen neue Aufgaben und
der EU darf es keine Zonen unterschiedlicher Sicher- Risiken zu. Nicht nur in Somalia haben unsere Solda-
heit geben. Wir können nicht unsere wirtschaftlichen ten gezeigt, daß sie sich schnell und gut in neue,
und sozialen Geschicke mit neuen Partnern verflech- wichtige Rollen hineinfinden. Wir sind stolz auf unsere
ten, diese aber zugleich sicherheitspolitisch ausgren- Bundeswehr. Sie war und bleibt Garant von Frieden,
zen. Freiheit und Demokratie. Dafür gebührt ihr Dank, und
Umgekehrt sind neue Sicherheitsgarantien wenig dafür verdient sie Ihre Unterstützung.
glaubwürdig, wenn sie nicht durch ein solides Funda- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
ment politischer, wirtschaftlicher und kultureller ten der CDU/CSU)
Gemeinsamkeiten untermauert werden.
Zu den Menschenrechten: Respekt vor den Men-
Auch das neue Rußland muß seinen legitimen Platz schenrechten ist die notwendige Voraussetzung für
in dieser neuen Ordnung finden. Wir müssen dafür Frieden, kulturelle und gesellschaftliche Vielfalt.
sorgen, daß die Staaten, die der NATO nicht beitreten Diese gesellschaftliche Vielfalt ist für mich nicht
wollen oder können, das Bündnis als Sicherheitspart- Gefahr, sondern Bereicherung. Ich bin überzeugt: Der
ner und nicht als Gegner betrachten. Denn ohne Zusammenprall der Kulturen, den einige voraussagen
Rußland wird es keine kooperative Friedensordnung und den man vielleicht ja auch in gewissen Bereichen
in Europa geben. Im Hinblick auf diese neue Ordnung befürchten muß, ist keineswegs unabwendbar.
bleibt für uns die KSZE ein ganz unentbehrlicher
Pfeiler, (Freimut Duve [SPD]: Eine völlig falsche
These!)
(Dr. Gregor Gysi [PDS]: Den Pfeiler habt ihr
Gerade deshalb brauchen wir das klare Bekenntnis zu
abgebaut!)
universal gültigen Menschenrechten. Das meine ich,
den wir weiter verstärken wollen und in bezug auf den wenn ich von „wertorientierter Außenpolitik" spre-
wir in Budapest dazu beitragen wollen, daß neue che.
Ideen, die auch von uns kommen, durchschlagen.
Die unsäglichen „ethnischen Säuberungen" sind
Wir brauchen drittens eine funktionsfähige UNO. Schandflecke des internationalen Friedens. Deshalb
Wir brauchen Instrumente zur Konfliktprävention, zur ist es dringend notwendig, daß wir die Ins trumente zur
Deutscher Bundestag — 13. Wahlpe riode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 81

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel


Durchsetzung dieser Menschenrechte schaffen und gelungen. Da samma wieder, und diesmal mit 30 Ab-
stärken. geordneten.
Schließlich brauchen wir ein liberales Weltwirt- Nun könnte man natürlich davon ausgehen, daß
schaftssystem, das dem Kampf gegen den Protektio- eine Gruppe mit 30 Abgeordneten parlamentarisch
nismus verpflichtet bleibt. Wenige Länder sind vom mehr Rechte hat als eine mit 17 Abgeordneten. Aber
Außenhandel derart abhängig wie Deutschland: das Gegenteil ist der Fall. Dafür will ich einige
Unsere Außenhandelsintensität pro Kopf ist fast dop- Beispiele nennen.
pelt so hoch wie die Japans oder der USA. Bei uns wird
Pro Parlamentsstunde steht uns eine Redezeit von
jede vierte Mark im Export verdient. Als bedeutende
fünf Minuten zu. Das hat sich nicht geändert. Am
Handelsnation brauchen wir offene Weltmärkte wie
Anfang der 12. Legislaturperiode durften wir unsere
der Fisch das Wasser. Der Wettbewerb um Absatz-
Redezeit bei längeren Debatten so zusammenziehen,
märkte und technologische Innovationen wird härter
daß ein geschlossener Vortrag von 20 Minuten mög-
werden. Wir wollen keine Festung Europa; wir wollen
lich war. Dies wurde dann geändert, und wir durften
aber auch keine Festung Asien-Pazifik.
bei längeren Debatten nur noch 15 Minuten sprechen
Ich komme zum Schluß. — wie gesagt, bei 17 Abgeordneten. Heute ist mir bei
Meine Damen und Herren, in letzter Zeit ist viel einer vorgesehenen neunstündigen Debatte nur noch
über Macht- und Interessenpolitik geschrieben und eine maximale Redezeit von 10 Minuten eingeräumt
geredet worden. Natürlich verfolgt Deutschland seine worden; insofern lohnt es sich ohnehin kaum.
Interessen wie jeder andere Staat. Wir können unsere (Zuruf von der CDU/CSU: Das sind neunein
Interessen aber dann am besten durchsetzen, wenn halb Minuten zuviel!)
wir erkennen, daß sie mit denen unserer Nachbarn
untrennbar verflochten sind. Bemerkenswert ist, daß diese Initiative im Ältestenrat
vom parlamentarischen Geschäftsführer der SPD,
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
Herrn Struck, ausging und daß der parlamentarische
ten der CDU/CSU — Freimund Duve [SPD]:
Geschäftsführer von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dem
Daß niemand Angst vor uns hat!)
stillschweigend zugestimmt hat. Denn sie dürfen ja
— Ja, daß niemand Angst vor uns hat. — Macht und die Redezeit von über vier Stunden zusammenfassen.
Einfluß in der Welt beruhen heute nicht mehr primär Aber gerade er war es, der sich in der letzten Legis-
auf der Fähigkeit, mit militärischer Macht zu drohen, laturperiode, als auch die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE
sondern auf den kreativen Ressourcen, auf der Fähig- GRÜNEN davon be troffen war, vehement dafür ein-
keit, zur Bewältigung globaler Herausforderungen setzte, daß die Gruppen die Möglichkeit erhalten, ihre
beizutragen. Redezeiten auch zusammenhängend zu nutzen.
Wer über Gewaltmittel verfügt, wird gefürchtet, wer (Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE
aber Vertrauen erwirbt und Investitionen in die GRÜNEN]: Das tun wir auch heute noch!
Zukunft erbringt, wird als Partner gesucht und geach- Reine Legendenbildung!)
tet. Das wollen wir sein. Faire Partnerschaft, gleichbe- -
rechtigte Kooperation, Vertrauensbildung, Freiheit Er begründete das hier in einer öffentlichen Debatte
und die Herrschaft des Rechts und der Demokratie mit dem Schutz von Minderheitenrechten. Nun stellt
sind die außenpolitischen Leitbilder, denen sich diese sich aber heraus: Es ging doch nur um die eigenen
Bundesregierung verpflichtet fühlt. Rechte und nicht um ein generelles Plädoyer für
Minderheitenrechte.
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Im Inneren ist es aber das Gleichgewicht von (Beifall bei der PDS)
Liberalität und Gemeinsinn, Leistung und sozialer Das Besondere besteht also darin, daß die Initiative
Verantwortung, das den großen Erfolg unseres Lan- von der SPD ausgeht, die GRÜNEN dazu schweigen
des nach dem Krieg ausgemacht hat. Diesen Erfolg und CDU/CSU und F.D.P. selbstverständlich begei-
wollen wir durch einen neuen Aufbruch in eine neue stert zustimmen.
Zeit hineinführen. Dafür sind wir angetreten, und das Diese ganze Kleinkariertheit, diese mangelnde
werden wir auch gemeinsam schaffen. Souveränität und Gelassenheit begleitet uns nun seit
(Anhaltender Beifall bei der F.D.P. und der dem ersten Tag dieses 13. Bundestages. Es begann mit
CDU/CSU) der Arroganz der Macht gegenüber dem Alterspräsi-
denten dieses Bundestages, Stefan Heym. Es setzt sich
dadurch fort, daß erstmalig im Regierungsbulletin die
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht Rede des Alterspräsidenten nicht veröffentlicht wird.
der Abgeordnete Dr. Gregor Gysi. Es zeigt sich darin, daß wir in diesem Saal kleinlich in
die zweite Reihe verdammt werden, und da rin, wie
Dr. Gregor Gysi (PDS): Frau Präsidentin! Meine selbstverständlich entschieden wurde, daß uns entge-
Damen und Herren! In der 12. Legislaturperiode zog gen dem bisherigen Rechnungsmodell im Bundestag
die PDS auf Grund eines spezifischen Wahlrechts mit weder ein Ausschußvorsitz noch ein stellvertretender
17 Abgeordneten in den Deutschen Bundestag ein. Vorsitz übertragen wird. Das wird sich fortsetzen,
Alle anderen Parteien haben sich in den letzten vier wenn es um die Frage des Fraktionsstatus oder um
Jahren reichlich Mühe gegeben und mit allen Mitteln andere Fragen geht.
versucht, den Wiedereinzug der PDS in den Deut- Aber, meine Damen und Herren, wir sind an die
schen Bundestag nach Wegfall dieser spezifischen Beschränkung unserer Rechte gewöhnt und werden
Regelung zu verhindern. Dies ist bekanntlich nicht auch in Zukunft damit umgehen. Letztlich fallen diese
82 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Dr. Gregor Gysi


Methoden immer auf die Verursacher zurück; denn Sie hätten doch längst prüfen können, um jetzt die
diejenigen, die uns gewählt haben, wissen schon, daß Veränderungen herbeizuführen.
sie damit gemeint sind. Es werden ja die Rechte ihrer Lassen Sie mich etwas zu Ihren Stichworten sagen:
Vertreterinnen und Vertreter eingeschränkt. Schlanker Staat — das klingt ja gar nicht schlecht.
(Beifall bei der PDS) Entbürokratisierung ist wichtig. Ich komme aus einem
Land, wo die Bürokratie wirklich irrsinnige Blüten
Dann wird gesagt, es gehe um Integration. In der trieb. Das ist alles wahr. Nun bin ich aber in ein Land
Praxis jedoch geht es nur um Ausgrenzung und um gekommen, wo die Bürokratie noch irrsinnigere Blü-
nichts anderes. ten treibt. Das hätte ich mir gar nicht vorstellen
Da können Sie auch nicht zwischen uns einerseits können.
und unseren Wählerinnen und Wählern andererseits (Beifall bei der PDS — Dr. Wolfgang Freiherr
splitten und teilen. Das wird nicht funktionieren. von Stetten [CDU/CSU]: Aber rechtsstaat
Zu alledem gehört auch die Zerstörung der politi- lich!)
schen Kultur. Das Spiel von Heckelmann und Kanther — Ja, das ist doch richtig. Der Unterschied wird doch
im Vorgriff auf die Eröffnung des 13. Bundestages war gar nicht geleugnet.
gesetzwidrig und abenteuerlich.
Wissen Sie, was das Problem ist? Wenn Sie sich das
Heute muß sich ein Mann wie Stefan Heym mit genau ansehen, dann geht es tatsächlich gar nicht um
seiner Biographie für irgendein imaginäres Telefon- Entbürokratisierung, sondern um zwei andere Dinge.
gespräch aus dem Jahre 1966 rechtfertigen. Aus Sie wollen den Staat aus seiner Verantwortung entlas-
seinem privaten Tagebuch, das ihm die Staatssicher- sen, für ökologische Umgestaltung und soziale
heit gestohlen hatte und das jetzt wiederum aus seiner Gerechtigkeit zu sorgen. Das nennen Sie dann einen
Opferakte gestohlen worden ist, wird im öffentlich- schlanken Staat.
rechtlichen Fernsehen zitiert — so weit sind wir
runtergekommen —, und das bei seiner Biographie, (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/
die einigen in diesem Saal nicht paßt, weil er nicht bis CSU]: Kompletter Unsinn!)
zum „Endsieg" wie Sie, Herr Dregger, gekämpft hat, Das ist aber ein Staat, der seiner Verantwortung nicht
sondern weil er die Waffe gegen den deutschen gerecht wird. Das ist etwas völlig anderes als ein
Faschismus in die Hand genommen hat. Das ist die schlanker Staat.
Tatsache.
(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Ich habe ge
(Beifall bei der PDS sowie des Abg. Uwe dacht, Sie sind ein bißchen intelligenter!)
Hiksch [SPD] — Dr. Werner Hoyer [F.D.P.]: Sie wollen Bürgerrechte einschränken. Ein Beispiel
Peinlich!) — und jetzt wird das wahr, was ich vor vier Jahren
Jetzt komme ich zum Thema. Jetzt ist nur noch angekündigt habe —: Sie benutzen den Osten als
wenig Zeit für die Regierungserklärung. Aber es war - Testfeld. Dort haben Sie das Verkehrswegeplanungs-
ja auch insgesamt wenig Zeit. Da die Regierungser- beschleunigungsgesetz eingeführt, um zu sehen, wie
klärung auch nicht so gewichtig war, kommt es auch es funktioniert, wenn man Bürgerinnen und Bürgern
nicht darauf an, daß man viel Zeit darauf verwen- wesentlich weniger Rechtsmittel gibt. Jetzt sagen Sie,
det. das hat so wunderbar funktioniert, da kann man schon
(Beifall bei der PDS) nach sechs Wochen eine Autobahn bauen, das wollen
wir auch im Westen haben. Deshalb werden Sie den
Wahr ist schon: Wir stehen vor riesigen Herausfor- Rechtsmittelabbau auch im Westen fortsetzen.
derungen. Sie haben viel von Zukunft gesprochen,
Herr Bundeskanzler. Aber ohne Visionen gibt es (Beifall bei Abgeordneten der PDS)
keine Zukunft. Aber das ist kein schlanker Staat, sondern das ist ein
Ich füge hinzu: Wir stehen vor großen Herausforde- Staat mit weniger Rechten für Bürgerinnen und Bür-
rungen, die neue Antworten erfordern. Aber im ger und Demokratieabbau. Das ist bestimmt nicht der
Grunde genommen wollen Sie so weitermachen wie Ansatz zur Lösung der Probleme, vor denen wir
bisher. Das Ganze ist Rumgewurschtel, und so wird es stehen.
nicht funktionieren. Offensichtlich trägt auch die (Beifall bei der PDS)
knappe Mehrheit dazu bei. Wenn man aber so viele Ein Zweites: Sie sprechen vom Umbau des Sozial-
Stimmen verliert und nur noch knapp regieren kann, staates. Das ist eine vornehme Formulierung. Wenn
wäre doch die Stunde der Selbstkritik gekommen, in man aber genau hinsieht, geht es um den Abbau des
der man sich überlegen muß, was man anders als Sozialstaates. Soweit Sie Anträge usw. entbürokrati-
bisher machen muß. Ich habe davon im wesentlichen sieren wollen, haben wir nichts dagegen. Wo steht
nichts festgestellt. denn eigentlich geschrieben, daß ein Antrag auf
(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Da dürfen Sozialhilfe, auf Wohngeld oder Kindergeld derartig
Sie bei sich zuerst anfangen!) kompliziert und umfassend sein muß, daß man zwei
Hochschulabschlüsse braucht, um den bloß ausfüllen
Da, wo Sie etwas andeuten, sagen Sie, Sie wollen zu können, und daß man den dann auch noch perma-
prüfen. Wie lange denn noch? Sie regieren doch schon nent wiederholen muß, weil ein tiefes Mißtrauen
seit zwölf Jahren. gegen die eigene Bevölkerung besteht?
(Beifall bei der PDS — Ernst Hinsken [CDU/ Da könnten Sie wirklich Bürokratie abbauen. Aber
CSU]: Erfolgreich!) das machen Sie ja nicht. Nein, Sie wollen den Sozial-
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 83

Dr. Gregor Gysi


staat umbauen. Wenn man sich das genau ansieht, Mieten natürlich drastisch angehoben werden. Das ist
geht es um zunehmende soziale Kälte. Es geht darum, die Tatsache.
daß Sie z. B. die Arbeitslosen, die Arbeitslosenhil- Lassen Sie mich ein weiteres Beispiel sagen, es geht
feempfängerinnen und -empfänger und vor allem die um Massenarbeitslosigkeit. Was tun Sie denn nun
Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger benach- wirklich dagegen? Wo sind denn die großen Refor-
teiligen wollen. men? Ich will nur vier Dinge nennen, die wir unbe-
Ich sage Ihnen: Ich finde es unerträglich, wie hier dingt ändern müßten. Das wissen Sie auch; kein Wort
immer Polemik gegen die Ärmsten in der Gesellschaft davon in der Regierungserklärung.
gemacht wird, indem ihnen immer in Nebensätzen Erstens. Wenn Sie das Verhältnis von Finanz- und
vorgeworfen wird, daß sie eigentlich zum Arbeiten zu
Produktionskapital nicht ändern, werden wir kein
faul sind und nicht bereit sind, sich an den Leistungen
Investitionsklima erreichen. Solange es sich in erster
dieser Gesellschaft zu beteiligen, nachdem dieseLinie lohnt, sein Geld und seinen Gewinn zur Bank zu
Gesellschaft ihnen die Möglichkeit zum Arbeiten bringen, und dort die höhere Rendite erwirtschaftet
vorenthält. wird als in der Wirtschaft, wird niemand in die
Wirtschaft investieren. Sie müssen das Finanzkapital
(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten
der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- entprivilegisieren. So müßte eine Steuerreform ausse-
NEN) hen. Nichts davon in Ihren Vorschlägen.
(Beifall bei der PDS)
Das ist doch die entscheidende Tatsache.
Zweitens. Sie müßten bereit sein, die Lohnneben-
Sie sagen, Sie wollen straffen. Was heißt denn kosten ganz anders zu berechnen, und zwar genau
Leistung straffen? Das heißt doch eigentlich kürzen nicht mehr nach der Zahl der Beschäftigten, sondern
und nichts anderes. Sprechen Sie das doch wenigstens endlich nach Umsatz und Gewinn, so daß ein Unter-
direkt aus. nehmen mit vielen Beschäftigten belohnt wird im
(Beifall bei der PDS) Vergleich zu einem Unternehmen mit hohen Gewin-
Dann wollen Sie Arbeitszwang für Sozialhilfeemp- nen, aber wenig Beschäftigten. Jetzt ist es umgekehrt.
fängerinnen und Sozialhilfeempfänger einführen und Sie bestrafen indirekt immer Beschäftigung, weil das
drohen mit Leistungskürzung, wenn dem nicht die Einnahmen des Unternehmens reduziert. Ändern
gefolgt wird. Das alles finde ich in einer Gesellschaft Sie das Abgabenrecht. Sorgen Sie dafür, daß in die
ziemlich schlimm, die so reich ist wie unsere und in der Versicherungssysteme nach Umsatz und Gewinn ein-
man im Grunde genommen die wirklich Vermögen- gezahlt wird und nicht länger nach den Lohnkosten
den, die Reichen und die Besserverdienenden, auch und nach der Zahl der Beschäftigten, um hier wirklich
zu mehr Solidarität bewegen könnte, wenn man sich eine Umgestaltung zu erreichen.
wenigstens die Mühe geben würde, sie an ihre Ver- Drittens brauchen wir mehr soziale Gerechtigkeit,
antwortung zu erinnern, statt immer Entschuldigun- um die Kaufkraft zu erhöhen und damit es aufhört, daß
gen dafür zu finden, daß sie nicht solidarisch sein die einen, die Reichen nämlich, immer reicher werden
müssen, weil angeblich die Armen in dieser Gesell- und wir uns andererseits an Armut gewöhnen, die Sie
schaft eh faul sind und ihre Solidarität nicht verdient dann mit mehr Polizei beherrschen wollen.
haben. So stellen Sie das immer wieder dar.
Viertens brauchen wir eine tiefgreifende ökologi-
Jetzt nenne ich noch ein Beispiel —ich habe mir Ihre sche Umgestaltung. Dazu hat Joschka Fischer gespro-
Koalitionsvereinbarung genau angesehen —: Woh- chen. Ich sage hier dazu nichts, weil die Zeit dafür
nen und Mieten. Da schlagen Sie vor, daß das Bauen nicht reicht.
billiger werden muß. Darüber kann man ja reden.
(Zurufe von der CDU/CSU: Gott sei Dank! —
Aber das ist doch zunächst nur eine Leistung für den
Weil Sie nichts davon verstehen!)
Vermieter. Wo folgt denn dann der Vorschlag, daß Sie
auch garantieren, daß bei billigerem Bauen wirklich — Es tut mir leid. Sie haben Ihren Beitrag mit dazu
die Mieten billiger werden? Wo sind überhaupt die geleistet, daß wir nur zehn Minuten sprechen dür-
Vorschläge für sozialverträgliche Mieten? fen.
(E rnst Hinsken [CDU/CSU]: Haben Sie schon Ich sage Ihnen als letztes: Auch was Sie an Integra-
einmal etwas von Angebot und Nachfrage tionsvorschlägen für den Osten gemacht haben, ist
gehört?) völlig unbefriedigend. Keine Aussage, wann die
Gehälter und Löhne in Ost und West endlich angegli-
Davon steht in Ihrer Vereinbarung gar nichts drin. chen werden sollen. Keine Aussage, wie Sie die
Schauen Sie sich die an. Ostdeutschen vor erhöhten Mieten schützen wollen.
Sie wollen ein einheitliches Wohngeld. Wissen Sie, Keine Aussage darüber, wie Sie Kultur- und Wis-
was drin steht? Sie wollen die Vergleichsmiete im senschaftseinrichtungen wirklich erhalten oder auf-
Osten 1995 einführen. Haben Sie auch den Menschen bauen wollen. Sie wollen plötzlich die Industriefor-
im Osten einmal gesagt, was für eine Miete damit auf schung wieder entwickeln, nachdem Sie sie im Osten
sie zukommt, welche Steigerungen damit verbunden schon fast auf Null gefahren haben.
sind? Ich sehe doch, wie das heute organisiert wird.
Schauen Sie sich einmal den Prenzlauer Berg an: an (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/
CSU]: Ist doch nicht wahr!)
jeder dritten Ecke eine ganz teure Oase. Das wird
dann alles in die Vergleichsmieten einbezogen. Und Keine Aussage darüber, wie Sie konkret den Mittel-
dann werden die auch heute noch relativ niedrigen stand fördern wollen.
84 Deutscher Bundestag — 13. Wahlpe riode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Dr. Gregor Gysi


Und keine Aussage darüber, wie Sie das politische Fischer und mir klar war, gestern im Ältestenrat eben
Strafrecht im Rentenrecht beseitigen wollen. Alle nicht klar.
haben das im Wahlkampf angekündigt. Was steht in (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/
der Koalitionsvereinbarung? Wir wollen es prüfen. CSU]: Zehn Minuten reichen aus! — Freimut
Alles. Keine Aussage, wann und in welchem Umfang Duve [SPD]: Es wird festgestellt, daß wir
politisches Strafrecht im Rentenrecht abgeschafft füreinander Gegner sind! Das ist doch
wird. okay!)
(Widerspruch bei der CDU/CSU)
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Gysi, trotzdem der Abgeordnete Günter Verheugen.
ist Ihre Redezeit beendet.
Günter Verheugen (SPD): Frau Präsidentin! Meine
Dr. Gregor Gysi (PDS): In Ihrem Kampf gegen sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte mich
Rechtsextremismus und Kulturlosigkeit fällt Ihnen auf den außenpolitischen Teil der Regierungserklä-
nichts anderes ein als eine lächerliche doppelte rung und der bisherigen Debatte beschränken und
Staatsbürgerschaft für Kinder, für eine so begrenzte zunächst folgendes sagen: Eine außenpolitische
Gruppe von Menschen, daß Sie sich schämen sollten, Betrachtung an der Schwelle des Jahres 1995 macht
das als liberalen Ansatz hier überhaupt zu verkau- sehr schnell deutlich, daß deutsche Außenpolitik
fen. unter anderen Voraussetzungen und Bedingungen
und vor einem anderen historischen Hintergrund
(Anhaltender Beifall bei der PDS — Ernst betrieben werden muß als die Außenpolitik anderer
Hinsken [CDU/CSU]: Keine Ahnung!) Länder.
Ich habe hier allein die Liste der Gedenktage der
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ich möchte für das ersten fünf Monate des Jahres 1995 liegen. Ich will
Präsidium noch einmal klarstellen: Uns liegt die Ihnen ein paar nennen: 5. Januar Julius Leber ermor-
Information vor, daß die Redezeit unter den parlamen- det; 26. Januar KZ Auschwitz befreit; 2. Februar Carl
tarischen Geschäftsführern vereinbart worden ist. Friedrich Goerdeler ermordet; 4. Februar Konferenz
(Widerspruch bei der PDS) von Jalta; 13. Februar Zerstörung Dresdens. All dies
geschah jeweils vor 50 Jahren. Das geht weiter bis
— Entschuldigen Sie. Wir sind auch in der Vergan- zum 8. Mai, Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa,
genheit so vorgegangen. Wenn das heute streitig und dem Atombombenabwurf auf Hiroshima am
gestellt ist, muß es im Ältestenrat besprochen wer- 6. August 1945.
den.
Wir werden uns ja mit all diesen Daten im nächsten
Das Wort zur Kurzintervention hat zunächst Herr Jahr zu beschäftigen haben. Ich möchte aus gemach-
Schulz. ter Erfahrung mit einer Bitte beginnen: Unser Umgang
mit unserer eigenen Geschichte ist nicht immer von
We rner Schulz (Berlin) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜ- besonderer Sensibilität geprägt gewesen. Es wäre gut,
NEN): Kollege Gysi, ich möchte mit aller Deutlichkeit wenn wir uns darauf verständigten, dieses ganz
klarstellen, daß wir uns in keinster Weise an einer besondere Jahr 1995, gerade auch wegen der hohen
Diskriminierung Ihrer Bundestagsgruppe beteiligen. außenpolitischen Bedeutung, die diese Gedenktage
Das gilt hinsichtlich der Zusammenlegung der Rede- haben, so zu gestalten, daß sich rechtzeitig Regierung,
zeiten, der Anerkennung des Fraktionsstatus und Parlament, Parteien und gesellschaftliche Gruppen
auch in der Frage, wo und wie Sie sitzen. darüber verständigen, wie wir mit diesen Gedenkta-
gen umgehen wollen.
(Zurufe von der PDS)
(Beifall bei der SPD)
Wenn es nach uns ginge — hören Sie doch wenigstens
zu —, dann sollten Sie hier mit vollen parlamentari- Es ist eigentlich bedauerlich, daß man eine solche
schen Rechten arbeiten. Bitte äußern muß, weil es für selbstverständlich gehal-
ten werden sollte. Aber die Regierung hat es in der
Ich lasse aber nicht zu, daß Sie, bevor Sie Ihre Vergangenheit eben zu häufig an der notwendigen
eigenen Geschichtslügen geklärt haben, hier bereits Sensibilität im Umgang mit diesen Fragen fehlen
neue Legenden in Umlauf bringen. lassen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Der SPD-Vorsitzende hat heute morgen in seiner
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und grundsätzlichen Antwort auf die Regierungserklä-
der F.D.P. — Dr. Gregor Gysi [PDS]: Beifall rung darauf hingewiesen, daß dem außenpolitischen
von der CSU!) Teil der Regierungserklärung im Grundsatz zuge-
stimmt werden kann. Es ist richtig und notwendig,
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Müller, bitte. auch in einer solchen Stunde den Konsens in den
Grundfragen der Außenpolitik noch einmal heraus-
zuarbeiten, weil wir fest davon überzeugt sind, daß ein
Manfred Müller (Berlin) (PDS): Herr Schulz, Sie Volk, wenn es in Frieden miteinander und mit den
werden doch wohl bestätigen, daß ich gestern mit anderen leben will, nicht nur Übereinstimmung über
meiner Forderung — mindestens 15 Minuten — völlig die Grundfragen seiner staatlichen, seiner sozialen,
alleine gestanden habe und mich niemand unterstützt seiner wirtschaftlichen und seiner rechtlichen Ord-
hat. Insofern war das, was heute früh zwischen Herrn nung haben muß, sondern daß es auch in Übereinstim-
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 85

Günter Verheugen
mung in den Grundfragen seiner außenpolitischen Deutsche Außenpolitik muß in allen ihren Schritten
Orientierung leben muß. und in allen ihren einzelnen Aktionen erkennbar dem
Ziel der Schaffung, der Sicherung und der Erhaltung
Wenn wir heute feststellen können, daß wir gemein- des Weltfriedens dienen. Dazu gibt es eine Menge von
sam sagen, die deutsche Zukunft liegt in Europa, es Fragen zu stellen, die in der Regierungserklärung
wird keine deutschen Sonderwege mehr geben, dann leider nicht beantwortet worden sind.
waren nicht alle Fraktionen dieses Hauses von Anfang
an auf diesem Weg. Das ist ja auch nicht schlimm. Wie geht es denn nun weiter mit der europäischen
Sicherheit? Wie stellen Sie sich denn nun wirklich die
Wenn wir heute feststellen, daß die Atlantische europäische Sicherheitsarchitektur vor? Vor der Bun-
Partnerschaft, die feste Einbindung in das westliche destagswahl haben wir erlebt, daß der Widerspruch in
Verteidigungsbündnis für unser Land unverzichtbar Ihrer Regierung kurz aufbrach. Dann hat der Bundes-
geworden ist, dann waren auch nicht alle von Anfang kanzler einen Deckel darauf gemacht und Ihnen, Herr
an auf diesem Weg. Kinkel, und Herrn Rühe ein Redeverbot erteilt. Aber
wir möchten doch nun einmal gerne wissen: Wie ist
Wenn wir feststellen, daß Entspannungspolitik der das denn nun mit der Zukunft der NATO und ihrer
Weg gewesen ist, der das herbeigeführt hat, was der Osterweiterung? Soll das denn nun schnell gehen?
Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung so her- Wer soll dabeisein? Wo soll die Ostgrenze der NATO
ausgehoben hat — den Zustand, daß wir als ein sein? Oder soll es nur in Verbindung mit der Ost-
vereintes Land und Volk in Frieden leben mit allen erweiterung der Europäischen Union geschehen? Soll
unseren Nachbarn und mit Freunden und Partnern es vielleicht in zehn Jahren angefaßt werden? Wie
nah und fe rn gute Beziehungen haben —, dann ist denken Sie sich das?
dieses Ergebnis das Ergebnis einer Politik, der auch
nicht alle in diesem Hause von Anfang an zugestimmt Wie stellen Sie sich vor, daß unsere Partner die
haben. Ausdehnung der Sicherheitsgarantie der NATO auf
(Beifall bei der SPD) osteuropäische Länder gestalten wollen und wir mit
ihnen, solange nicht klar ist, wie Rußland in die
Was mir leider gefehlt hat — auch bei Ihnen, Herr europäische Sicherheitsarchitektur insgesamt einge-
Kollege Dr. Kinkel —, das ist der Hinweis, daß neben bunden wird? Ich war etwas erstaunt darüber, daß
den Fragen Europa, atlantische Partnerschaft und heute morgen in dem außenpolitischen Teil der Reden
neue Ostpolitik die Nord-Süd-Dimension unserer so wenig von Rußland die Rede war. Man hat fast das
Außenpolitik mindestens genauso wichtig geworden Gefühl gehabt, als bestünde hier die Auffassung, daß
ist, wenn nicht noch wichtiger. Rußland gar nicht zu Europa gehört.
(Beifall bei der SPD) (Jörg van Essen [F.D.P.]: Dann haben Sie
nicht zugehört!)
Ich habe nicht gerne gehört, was Sie, an den
— Ich habe sehr gut zugehört.
Kollegen Fischer gerichtet, gesagt haben: daß sich
nicht alles um die Ökologie dreht. Nicht alles dreht So richtig das mit Polen, Ungarn, Tschechien und
sich um die Ökologie. Aber ohne ökologische Rück- der Slowakei alles ist: Die entscheidende Frage ist
sicht können Sie heute auch keine Außenpolitik mehr doch die: Gelingt es uns, eine tragfähige europäische
betreiben. Sicherheitsarchitektur zu schaffen, die nicht gegen
irgendwen gerichtet ist, die nicht irgendwer als ein
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Instrument verstehen muß, das ihn bedroht oder das
DIE GRÜNEN — Bundesminister Dr. Klaus andere vor ihm schützen soll, die also eine neue
Kinkel: Das steht in meiner Rede!) sicherheitspolitische Spaltung in Europa bedeuten
würde, oder gelingt es uns, in Europa ein Sicherheits-
Wenn Sie nicht verstehen, daß Friedenssicherung,
system zu schaffen, das alle einbezieht und ganz
Kooperation, weltweiter ökologischer Umbau und
besonders auch Rußland?
Konfliktprävention zusammengehören, dann werden
wir uns an diesem Punkt nicht verstehen. (Beifall bei der SPD)

Unabhängig davon, daß es in den Grundfragen Deshalb hätte ich mir gewünscht, daß in der Regie-
weitgehende Übereinstimmung gibt, muß und darf es rungserklärung etwas mehr Gewicht auf die Möglich-
in außenpolitischen Fragen auch Streit geben. Wir keiten gelegt worden wäre, die die KSZE bietet. Die
haben in der vergangenen Legislaturperiode genug KSZE — ein Instrument, das bald zwanzig Jahre alt ist;
davon gehabt. Ich sehe auf Grund dessen, was uns ursprünglich auch umkämpft — hat einen ganz
heute vorgetragen worden ist, daß es auch in den vor wesentlichen Beitrag dazu geleistet, daß Konflikte in
uns liegenden Jahren eine Menge Gelegenheit zur Europa frühzeitig erkannt und friedlich geregelt wer-
außenpolitischen und sicherheitspolitischen Ausein- den können. Es wurde eine Menge von Instrumenten
andersetzung geben wird. Wir werden diese Ausein- entwickelt, von denen wenig die Rede ist. Ich will
andersetzung mit dem Ziel führen, für unser Land jedoch einmal erwähnen, daß es schon heute eine
einen Weg zu finden, der das sichert, was wir immer Anzahl von erfolgreichen und wichtigen KSZE-Mis-
als Grundlage unserer deutschen Außenpolitik emp- sionen gibt.
funden haben: Deutschland als ein Ort, von dem Ich wünschte mir, daß von unserer Regierung mehr
immer wieder neue und starke Initiativen zur Schaf- Initiative ausginge, die KSZE in ihren Instrumenten, in
fung einer dauerhaften friedlichen Weltordnung aus- ihren Institutionen und in ihren rechtlichen Grundla-
gehen. gen weiter auszubauen. In der KSZE haben wir den
(Beifall bei der SPD) sicherheitspolitischen Rahmen, der ganz Europa und
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Günter Verheugen
Nordamerika einbezieht. Ich möchte sehr davor war- Ihre Vorgänger haben das vermeiden können. Sie
nen, eine Politik zu betreiben, die in einseitiger sollten nicht damit beginnen.
Fixierung auf die NATO oder auf die Europäische
Union und der damit notwendigerweise verbundenen (Beifall bei der SPD)
Grenzziehung irgendwo — wo immer diese Ostgrenze
sein wird; aber irgendwo wird sie sein — die Möglich- Meine Damen und Herren, die Außenpolitik der
keiten außer acht läßt, die uns die KSZE bietet: am letzten Jahre und das, was wir heute gehört haben,
Ende eben doch zu einem ganz Europa umfassenden bestätigen leider etwas, was ich als Vermutung seit
System gegenseitiger Sicherheit zu kommen. langer Zeit habe, als Verdacht seit einiger Zeit und als
Ich möchte auch fragen, Herr Bundeskanzler und Gewißheit seit kurzem: daß ein Gesamtkonzept deut-
Herr Außenminister, wie die Position der Bundes- scher Außenpolitik unter den völlig veränderten Rah-
regierung in den konkreten Fragen der europäischen menbedingungen, den weltpolitisch neuen Bedin-
Zukunft, der Zukunft der Europäischen Union ist. gungen nicht mehr erkennbar ist. Wir haben eine
Außenpolitik, die die Probleme auflistet. Das haben
Sie heute wieder getan. Prioritäten haben Sie in
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Verheugen, Wahrheit nicht gesetzt. Wir haben eine Außenpolitik,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten die reagiert, bei der ich aber nicht erkennen kann, was
Irmer? sie tut, um vorbeugend zu wirken. Denn es ist ja nicht
so, als wüßten wir nicht, welche Fragestellungen,
welche Probleme, welche Gefahren, ja welche tödli-
chen Risiken in der Zukunft auf uns warten. Warum
Günter Verheugen (SPD): Nein, ich möchte keine
geschieht da nichts? Warum werden die Möglichkei-
Zwischenfragen zulassen.
ten der Konfliktvermeidung, der Konfliktprävention,
Ich höre sehr wohl die deutlichen Bekenntnisse zu der Früherkennung von Konflikten und der friedli-
Europa. Aber ich war doch schon mehr als irritiert, chen Konfliktregelung nicht in den Mittelpunkt der
Herr Dr. Kinkel, daß ausgerechnet Sie, der deutsche Außenpolitik gestellt?
Außenminister und Vorsitzende des Rates der Euro-
päischen Union, sich hier hinstellen und Europaver- Ich will ein Beispiel nennen. Sie haben auf den
drossenheit in der Art und Weise fördern, wie ich das Einsatz der Bundeswehr in Somalia hingewiesen.
sonst nur an deutschen Stammtischen gehört habe. Sie Auch wir haben der Bundeswehr für das gedankt, was
sollten sich nicht hier hinstellen und darüber klagen, sie in Somalia geleistet hat. Denjenigen, die den
daß irgendwo anonym in Brüssel zuviel reglementiert Einsatz angeordnet haben, ist allerdings nicht zu
wird, sondern Sie sollten darüber aufklären, wer es in danken. Denn sie haben die Bundeswehr in einen
Europa ist, der diese Reglementierungen betreibt. Auftrag geschickt, der nicht zu erfüllen war und bei
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dem auch gar nicht erkennbar war, was er am Ende
der PDS) eigentlich sollte.
Sie haben am allerwenigsten Grund, sich über
Reglementierungswut zu beklagen. Denn in Ihrer (Beifall bei der SPD)
Hand liegt es, dafür zu sorgen, daß sie nicht stattfindet.
Sie sollten die Vermischung von Innen- und Außen- Ich nenne nur die Frage: Wäre es nicht sehr viel
politik, von der Sie gesprochen haben, nicht so weit klüger, statt, wie im Falle Somalia, alles in allem wohl
treiben, daß Sie wichtige außenpolitische Fragen in mehr als 2 Milliarden Dollar auszugeben, um ein in
den Dienst Ihrer innenpolitischen Bedürfnisse stellen, Bürgerkrieg verstricktes Land zu befrieden, rechtzei-
Herr Außenminister. tig dafür zu sorgen, daß durch eine vernünftige Politik
der Entwicklungszusammenarbeit, durch eine ver-
(Beifall bei der SPD — Ingrid Matthäus-
nünftige Politik der internationalen Wirtschafts- und
Maier [SPD]: Das war nicht in Ordnung, Herr
Finanzbeziehungen, durch eine vernünftige Ent-
Kinkel!)
schuldungsstrategie der Länder der Dritten Welt sol-
Wenn ich schon bei diesem Thema bin, will ich che sozialen und ethnischen Konflikte in den Ländern
gleich noch etwas anmerken. Wenn es stimmt, was ich der Dritten Welt gar nicht erst entstehen.
heute in einer großen Tageszeitung gelesen habe, daß
Sie die Politik fortsetzen wollen, das Auswärtige Amt (Beifall bei der SPD — Dr. Wolfgang Freiherr
als „Entsorgungsanstalt" für ausgediente Politikerin- von Stetten [CDU/CSU]: Warum sind Sie so
nen Ihrer Partei zu benutzen, blauäugig, Herr Verheugen?)
(Freimut Duve [SPD]: An sich mehr „Versor-
gung" ! ) — Ich will Ihnen einmal etwas sagen. Ich beschäftige
dann will ich Sie eindringlich davor warnen, das zu mich mit diesen Ländern seit vielen Jahren, wahr-
tun. Ich weiß nicht, ob es stimmt. Sie werden Gelegen- scheinlich etwas länger als Sie. Und es ist nicht
heit haben, dazu noch Stellung zu nehmen. blauäugig, wenn ich Ihnen sage, daß ich vor vier
Jahren in diesem Bundestag darauf hingewiesen
(Dr. Werner Hoyer [F.D.P.]: Das stimmt nicht! habe, was in Ruanda und Burundi passieren wird. Es
— Bundesminister Dr. Klaus Kinkel: Das wäre möglich gewesen, etwas zu tun. Heute lesen Sie
stimmt nicht!) 'in den Berichten der Agenturen, daß jetzt in Burundi
— Dann ist es ja gut. Dann bin ich um so beruhigter. das Massakrieren anfängt. Was hat denn diese Regie-
Dann gehen Sie gar nicht erst auf diesen Weg. Alle rung getan? Was hat sie ernsthaft getan, um dafür zu
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 87

Günter Verheugen
sorgen, daß dort etwas geschieht, damit es nicht so meinen als Aufrechterhaltung von Frieden, dann muß
anfängt? das sehr deutlich gesagt werden. Dann bleibt es dabei,
daß an dieser Stelle die Grenze der Konsensbereit-
(Beifall bei der SPD — Dr. Wolfgang Freiherr
schaft liegt.
von Stetten [CDU/CSU]: Was hätte sie denn
machen sollen?) Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion wird
in jedem einzelnen Fall, wo Sie die Absicht haben, die
Das ist nicht blauäugig, verehrter Kollege, das ist das
Bundeswehr im Rahmen von internationalen Frie-
Erkennen der Tatsachen, mit denen wir es in der Welt
densoperationen einzusetzen, prüfen, ob das Mandat
zu tun haben.
politisch so gewertet werden kann, daß die Operation
Wer glaubt, daß das noch viele Jahre so weitergeht, auch zu einem politischen Ziel führt, so daß am Ende
daß wir die Augen vor den Entwicklungen in der wirklich ein stabiler Friede steht.
Dritten Welt, der Welt, die so zu nennen wir uns
(Ulrich Irmer [F.D.P.]: Das wird der ganze
angewöhnt haben, fest verschließen, daß wir sie fest
Bundestag tun, nicht nur die sozialdemokra
vor der Erkenntnis verschließen, was dieses Bevölke-
rungswachstum, diese Verelendung, diese Zunahme tische Fraktion!)
von Menschenrechtsverletzungen und Konflikten Es wird sehr genau geprüft werden, ob deutsche
bedeutet, wer glaubt, daß wir uns auf eine Wohl- Beteiligung in dem gegebenen Einzelfall zweckmäßig
standsinsel zurückziehen könnten, die wir mit neuen ist. Es kann immer einmal Fälle geben, wo gerade
Mauern und eines Tages vielleicht mit Stacheldraht deutsche Beteiligung das genau nicht ist. Und es wird
gegen die anderen verteidigen, der täuscht sich. sehr genau geprüft werden müssen, ob auch ein
nationales Interesse vorliegt; denn nicht in jedem Fall
Jetzt müssen wir uns diesen Problemen stellen,
müssen wir dabeisein, wenn irgendwo in der Welt
meine Damen und Herren, jetzt müssen wir es tun!
etwas gemacht werden muß. Das wird zu prüfen
(Beifall bei der SPD) sein.
Dazu brauchen wir eine Außenpolitik, die andere Wir sehen eine unverrückbare Grenze auf jeden
Instrumente einsetzt als bisher. Sie haben in Ihrem Fall dort, wo deutsche Soldaten jenseits der Landes-
Auswärtigen Amt den Titel „Demokratisierungs- verteidigung oder der Bündnisverteidigung in einen
hilfe", Herr Kinkel. Dieser Titel ist so lächerlich Krieg geschickt werden sollen. Da werden Sie nicht
ausgestattet, und ich weiß, wie wichtig er ist. mit der Unterstützung der sozialdemokratischen Par-
(Zuruf von Bundesminister Dr. Klaus tei und Bundestagsfraktion rechnen können, auch in
Kinkel) den nächsten Jahren nicht. Wenn Sie das vorhaben
— ich hoffe es nicht —, dann werden Sie harte
— Nein, nein, wir haben immer mehr verlangt, das Debatten nicht nur in diesem Parlament, sondern auch
können Sie schon glauben. in der deutschen Öffentlichkeit erleben.
Diese Demokratisierungshilfe für Länder, die sich in - Ich sage Ihnen noch einmal, was ich schon oft gesagt
Krisen befinden, ist ganz sicher wichtiger und besser habe: Es wird von uns auch nicht verlangt, daß wir uns
angelegtes Geld — wir sparen am Ende auch noch an solchen militärischen Operationen beteiligen. Was
etwas dabei —, als dann, wenn es zu spät ist, die der Bundeskanzler gesagt hat, ist richtig: Wir sollen
Bundeswehr oder Verbündete hinzuschicken, die unsere Rechte und Pflichten als Mitglied der Verein-
wieder Ordnung schaffen sollen. ten Nationen erfüllen. Dazu gehört aber nicht, daß wir
(Beifall bei der SPD) uns an Kriegen irgendwo in der Welt beteiligen. Das
ist weder das Recht noch die Pflicht der Mitglieder der
Die internationale Verantwortung unseres Landes, Vereinten Nationen.
von der in der Regierungserklärung des Bundeskanz-
lers die Rede war, ist ein Thema, das uns in der letzten (Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/
Legislaturperiode vor allen Dingen im Zusammen- DIE GRÜNEN)
hang mit dem Einsatz und der Erweiterung der Ich wünschte mir, daß Sie sich etwas mehr mit der
Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr beschäftigt Frage beschäftigen würden, wie man die Vereinten
hat. Nationen arbeitsfähiger und konfliktlösungsfähiger
Der Bundeskanzler hat in seiner Rede eine bemer- machen kann, als mit der Frage, wie man die Bundes-
kenswerte Formulierung gebraucht. Er hat gesagt, wehr einsetzen kann. Das ist jahrelang versäumt
daß wir uns künftig grundsätzlich an Maßnahmen der worden. Die Jahre, in denen die Vereinten Nationen
internationalen Gemeinschaft zur Aufrechterhaltung über ihre Reform diskutierten, sind nicht gerade von
des Friedens und der internationalen Sicherheit betei- deutschen Beiträgen bestimmt gewesen. Man kann
ligen werden. Ich wiederhole es noch einmal: daß wir das nur bedauern.
uns grundsätzlich an Maßnahmen zur Aufrechterhal- Die Frage der deutschen Mitgliedschaft im Sicher-
tung des Friedens und der internationalen Sicherheit heitsrat — gegen die ich überhaupt nichts habe; im
beteiligen werden. Ich will hier keine Wortklauberei Gegenteil, ich habe vor Herrn Kinkel schon gesagt,
betreiben; aber das Wort Aufrechterhaltung verstehe daß es richtig wäre, im Sicherheitsrat vertreten zu sein
ich so, daß die Bundesregierung sich dem nähert, was — haben Sie in den letzten Jahren in den Mittelpunkt
wir schon seit einigen Jahren sagen, daß sich nämlich Ihrer operativen Außenpolitik gestellt.
unsere Mitwirkung darauf beschränken sollte, die
Vereinten Nationen bei friedenswahrenden Operatio- (Zuruf von der CDU/CSU: Doch nicht in den
nen zu unterstützen. So verstehe ich das Wort „Auf- Mittelpunkt!)
rechterhaltung von Frieden". Wenn Sie etwas anderes — Aber ja.
88 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Günter Verheugen
Die Grundfragen sind überhaupt noch nicht geklärt. Hintergrund des jüngsten Einsatzes der Nato gegen
Wie sieht denn die Strukturreform des Sicherheitsra- serbische Stellungen: Wir sollen die Soldaten nicht
tes aus, in dem wir Mitglied sein wollen? Wie wird er überfordern. Der Frieden ist die Aufgabe der Politik
regional zusammengesetzt sein? Wie wird das mit den und nicht des Militärs, meine sehr verehrten Damen
Vetorechten geregelt sein? Wird es Mitglieder erster, und Herren.
zweiter, dritter Klasse in diesem Sicherheitsrat geben (Beifall bei der SPD)
oder nicht? Unter welchen Bedingungen wollen Sie Das letzte Mittel der Politik sind niemals Soldaten,
eigentlich hinein? Ich rate sehr dazu, diese Frage ein sondern die friedenschaffenden Mittel der Diploma-
bißchen niedriger zu hängen. Schon heute steht fest, tie, des Miteinander-Redens, des vertrauensvollen
daß die von Ihnen genannten Daten, wann Deutsch- Aufeinander-Zugehens.
land ständiges Mitglied im Sicherheitsrat sein wird,
unerreichbar sind. Das wird in diesem Jahrhundert (Beifall bei der SPD)
nicht mehr geschehen. Das ist völlig eindeutig. Meine Damen und Herren, vollkommen gefehlt
haben in den Darstellungen der Regierung Initiativen
Besser ist es, wir betreiben eine aktive Politik in den
zum Thema Abrüstung und Rüstungskontrolle. Es hat
Vereinten Nationen, die sie stärkt und die sicher
gefehlt das Thema Nichtweiterverbreitung von Mas-
macht, daß die Vereinten Nationen auch wirklich tätig
senvernichtungswaffen, es hat gefehlt das Thema
werden können, daß nicht nur die Probleme vor ihrer
Sicherheit der osteuropäischen Kernkraftwerke.
Haustür abgeladen werden, aber sie nicht die Mittel
und die Instrumente bekommt, um mit diesen Proble- (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Das
men auch umgehen zu können. geht alles von meiner Redezeit ab!)
Lassen Sie mich an dieser Stelle ein Wort zur Ich will Sie nur darauf hinweisen, daß dies brennende
Bundeswehr sagen. Die Bundeswehr ist und bleibt für außenpolitische Fragen sind, mit denen wir uns drin-
uns nach wie vor das entscheidende Instrument der gend beschäftigen müssen, nicht zuletzt deshalb, weil
Landesverteidigung. Die Landesverteidigung ist die wir es doch sicherlich gemeinsam erreichen wollen,
ethische und die staatspolitische Begründung für die endlich dahin zu kommen, daß uns die Veränderung
Existenz der Bundeswehr. Dabei muß es auch bleiben. der weltpolitischen Lage, der Abbau der Spannungen,
Es reicht nicht, wenn hinsichtlich der Bundeswehr das Ende der Blockkonfrontation auch in die Lage
schöne Lippenbekenntnisse hier abgegeben werden, versetzen sollen, unsere schöpferischen Kräfte, unsere
sondern man muß sich den Zustand der Bundeswehr, technologischen Fähigkeiten, unsere finanziellen und
insbesondere ihren inneren Zustand, ansehen, um zu wirtschaftlichen Ressourcen nicht länger für Rüstung
begreifen, was hier in den letzten Jahren vernachläs- und Überrüstung auszugeben, sondern für Werke des
sigt worden ist. Friedens.
Die Angehörigen der Bundeswehr beklagen zu Ich danke Ihnen.
Recht, daß sie keine Planungssicherheit mehr haben. (Beifall bei der SPD)
Die Menschen in unserer Bundeswehr — es ist unsere
gemeinsame Bundeswehr, nicht die der Regierung —,
d. h. die Soldaten, die zivilen Mitarbeiter und deren Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächstes spricht
Familien, haben einen Anspruch darauf, endlich ein- der Bundesminister für Finanzen Dr. Theo Waigel.
mal klar von Ihnen zu hören, was eigentlich ihr
Auftrag ist, in welcher militärischen Struktur dieser
Dr. Theodor Waigel, Bundesminister der Finanzen:
Auftrag erfüllt werden soll, wie sicher ihre Arbeits-
plätze, ihre Dienstposten, eigentlich sind, und vor Frau Präsident! Meine sehr geehrten Damen und
allen Dingen, wann sie endlich für das, was sie tun Herren! Das heute von Bundeskanzler Helmut Kohl
sollen, angemessen ausgebildet und ausgerüstet wer- vorgetragene Regierungsprogramm bietet ein solides
den sollen. Fundament für die politische Arbeit der kommenden
vier Jahre.
Die Stimmung und die Motivation von Soldaten und
Interessant ist der Dissens, der sich hier zwischen
zivilen Mitarbeitern in der Bundeswehr ist so schlecht
Herrn Scharping und Herrn Fischer ergeben hat.
wie noch nie. Deshalb brauchen wir endlich eine
Während sich Herr Scharping realistischerweise auf
Gesamtbestandsaufnahme. Geben wir der Bundes-
vier Jahre Opposition einstellt, glaubt Herr Fischer,
wehr ein konkretes Ziel, und halten wir gemeinsam
das verkürzen zu sollen, aber dann muß er sagen, mit
daran fest. Ich glaube, wir brauchen ein Bundeswehr- welchem Instrument. Er kann es in den vier Jahren nur
aufgabengesetz, das das regelt. mit einem konstruktiven Mißtrauensvotum tun, und
Ich empfehle Ihnen sehr, meine Damen und Herren dann müßte er auf jeden Fall auf die Stimmen der PDS
von der Koalition: Hören Sie endlich einmal auf den zählen.
Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages, der (Beifall bei der CDU/CSU)
seit Jahren mit wachsender Deutlichkeit auf die sozia- Dann müssen sich die Herrschaften bei den GRÜNEN/
len Defizite, vor allen Dingen aber auch auf die BÜNDNIS 90 überlegen, ob sie in einer so entschei-
Führungsmängel innerhalb der Truppe hinweist. denden Frage mit den Kommunisten, ihren schärfsten
(Beifall bei der SPD) Feinden von gestern, gemeinsame Sache machen
wollen.
Wir danken der Bundeswehr für das, was sie für die
Integration unseres Landes in den Westen und für die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Einheit unseres Landes geleistet hat. Ich möchte aber Herr Kollege Verheugen, Sie haben ein ganz wich-
eines ganz deutlich machen, gerade auch vor dem tiges Thema am Rande angesprochen. Sie haben dem
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 89

Bundesminister Dr. Theodor Waigel


Außenminister vorgeworfen, er habe nichts zur sieht: Wir haben sie richtig gestellt.
Sicherheit der osteuropäischen Kernkraftwerke ge- Die sechs Forschungsinstitute, der Sachverständi-
sagt. Es gibt niemanden in der Welt, der wie Deutsch- genrat, aber auch die OECD und der IWF bestätigen
lan d sich dieses Themas auf allen Konferenzen der den Aufschwung. Die Wachstumswerte werden stän-
Außenminister, der Finanzminister und der Regie- dig nach oben korrigiert. Inzwischen können wir für
rungschefs angenommen hat. Wir haben die entschei- Gesamtdeutschland 1995 real 3 % Wachstum erwar-
denden Initiativen in Tokio, vorher schon in München, ten. Die Rezession ist überwunden. Alle Konjunktur-
über die entsprechenden Programme Europas mit in indikatoren zeigen aufwärts, der Arbeitsmarkt wird
die Wege geleitet. Wir wären dankbar, wenn auch folgen, und die D-Mark ist stabil geblieben.
andere endlich dieses Engagement zeigen würden;
denn die anderen sind davon genauso betroffen wie Meine Damen und Herren, die heute vorgenom-
Deutschland und alle anderen Staaten in Europa und mene Steuerschätzung 1995 bestätigt den Auf-
in der Welt. schwung. Mir liegt zu diesem Zeitpunkt nur die
Schätzung für den Bund vor: Durch die bessere
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Konjunktur erwarten wir für den Bund 3,5 Milliarden
In den Vereinbarungen zwischen den Koalitions- DM mehr Steuereinnahmen, als noch im Mai ange-
parteien haben wir die vor uns liegenden Herausfor- nommen. Damit ist der Haushalt 1995 von seiten der
derungen definiert und Lösungswege aufgezeigt, die Steuereinnahmen abgesichert. Die Mehreinnahmen
sich nicht an Versprechungen, sondern am politisch fließen voll in die Senkung der Nettokreditauf-
Machbaren orientieren. Mit der Vorstellung des nahme.
Regierungsprogramms, der Wahl des Bundeskanzlers
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
und der Bildung des neuen Kabinetts haben die
Koalitionspartner ihre Handlungsfähigkeit bestätigt Nur zwei Länder erfüllen bereits 1994 alle Kriterien
und die Entschlossenheit unterstrichen, aufbauend des Maastrichter Vertrages, nämlich Luxemburg und
auf der erfolgreichen Arbeit seit 1982 Deutschlands Deutschland. Neueste, uns jetzt vorliegende Berech-
Weg in die Zukunft mit Mut und Augenmaß zu nungen zeigen erstmals: Deutschland wird auch im
gestalten. Meine Damen und Herren von der Opposi- Jahre 1995 alle Kriterien von Maastricht erfüllen.
tion, das haben Sie nicht erwartet, daß innerhalb von
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. —
vier Wochen alle wichtigen Entscheidungen stattfin-
Freimut Duve [SPD]: Dann freuen wir uns mit
den und diese Koalition Handlungsfähigkeit unter
Ihnen!)
Beweis gestellt hat.
— Herr Duve, ich bedanke mich. Sie lernen in Sachen
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Finanzpolitik dazu.
Einer unter Ihnen, der die Dinge realistisch sieht, ist
Ministerpräsident Oskar Lafontaine; (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Innerhalb von drei
Minuten!)
(Detlev von Larcher [SPD]: Aha! — Freimut
Duve [SPD]: Sehr gut!) - Beim Defizitkriterium unterschreiten wir mit 2,5 %
die 3-%-Grenze klar.
denn er hat sein Bundestagsmandat zurückgege-
ben, Auch beim Schuldenstandskriterium bleiben wir
trotz der Übernahme der Erblastenschuld in einer
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und Größenordnung von fast 400 Milliarden DM unter der
der F.D.P.) Grenze von 60 %. Dieser große und noch vor kurzem
in der rechten Erkenntnis: Hier ist die nächsten vier für nicht möglich gehaltene Erfolg ist ein unmittelba-
Jahre für Sie, Herr Lafontaine, und Ihre Freunde kein res Ergebnis der besseren Konjunktur und unserer
Blumentopf zu gewinnen. Insofern ist es richtig, sich Konsolidierungspolitik.
auf das Saarland zu konzentrieren. (Freimut Duve [SPD]: Und des Wegdrückens
Meine Damen und Herren, wir werden die erfolg- in Schattenhaushalte!)
reiche Finanzpolitik fortsetzen. — Nein, nein, da ist alles enthalten. Das wissen Sie
(Freimut Duve [SPD]: Hat einen leeren ganz genau. Alle Instrumente der Wiedervereinigung
Finanztopf und spricht hier von Blumentöp werden ab 1995, dazu noch die Bahnschulden, voll in
fen!) den Haushalt einbezogen. Sie wissen das ganz
— Seit wann verstehen Sie, Herr Duve, etwas von genau.
Geld? (Ulrich Irmer [F.D.P.]: Der Duve weiß das
(Freimut Duve [SPD]: Ich gebe die Frage nicht!)
zurück an Sie, Herr Waigel!) Es gibt überhaupt keine Möglichkeit, das zu kritisie-
Es wundert mich schon, daß Sie von Geld reden. ren.
Brecht hat davon mehr verstanden. Meine Damen und Herren, soeben noch hat die
In der 12. Legislaturperiode haben wir die Weichen EU-Kommission auch Deutschland einen blauen Brief
für die Bewältigung der deutschen Einheit und die wegen der im nächsten Jahr erwarteten knappen
Überwindung der Rezession gestellt. Jeder, der mit Überschreitung des Schuldenstandskriteriums ge-
klarem Blick urteilt, schrieben.
(Freimut Duve [SPD]: Ja, aber Herr Waigel (Freimut Duve [SPD]: Das war eine rote
nicht!) Karte!)
90 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Bundesminister Dr. Theodor Waigel


Dieser Brief ist damit bereits erledigt. Ich bin zuver- desregierung. Dazu kommen etwa 370 Milliarden DM
sichtlich, daß das auch der letzte blaue B ri ef war, den im Erblastentilgungsfonds, die allein durch das
Deutschland bis zum Eintritt in die dritte Stufe erhält. marode SED-Regime entstanden sind.
Meine Damen und Herren, wer hätte es für möglich
gehalten, daß wir neben Luxemburg der einzige Staat 290 Milliarden DM von den 470 Milliarden DM
sein werden, neuen Bundesschulden entfallen auf den Zeitraum
zwischen 1990 und 1995. Allein die Finanztransfers
(Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: Richtig!) aus dem Bundeshaushalt in die neuen Länder betra-
der bereits 1994 und 1995 alle Stabilitätskriterien, die gen aber in den Jahren 1991 bis 1995 netto über
wir in den Vertrag von Maastricht hineingeschrieben 350 Milliarden DM. Schon daraus ist ersichtlich, daß
haben, erfüllen wird — trotz der Probleme mit der wir vor allen Dingen durch Sparen und durch
deutschen Einheit und der finanziellen Mehrbela- Umschichtung den entscheidenden Beitrag dafür
stung, die kein anderes Land in dieser Größenord- geleistet haben, um durch Verzicht im Westen das
nung hat, obwohl wir 5 % des Bruttosozialprodukts für Notwendige im Osten finanzieren zu können.
den Wiederaufbau des anderen Teils des Vaterlandes
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
zur Verfügung stellen?
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Die Koalition hat die Eckpunkte der Finanzpolitik
für die 13. Legislaturperiode festgelegt. In ihnen
Das ist, wie ich meine, ein beachtlicher Erfolg der zeigen sich Kontinuität, Verläßlichkeit, Ehrgeiz und
deutschen Finanzpolitik. zielbewußte Entschlossenheit. Der Konsolidierungs-
Auch beim strukturellen Defizit zeigen die neu- kurs wird ohne Wenn und Aber fortgesetzt. Auf dieser
esten Berechnungen 1994 einen Rückgang um 10 Mil- Basis kann dann die für den Standort Deutschland
liarden DM, 1995 um weitere 8 Milliarden DM an. unverzichtbare Rückführung der Steuer- und Abga-
Damit hat sich unser strukturelles Defizit in nur vier benlast angepackt werden.
Jahren halbiert. Das Vertrauen der internationalen
Wir müssen bei den finanz- und steuerpolitischen
Finanzmärkte und unserer Partner in die Stabilitäts-
Kennziffern mittelfristig wieder die Zahlen erreichen,
politik Deutschlands wird damit ein weiteres Mal
die wir vor der Wiedervereinigung durch eine konse-
eindrucksvoll bestätigt.
quente Politik der Defizitbegrenzung erreicht hatten.
Dabei muß man, liebe Kolleginnen und Kollegen, Die Staatsquote von jetzt knapp 51 % muß bis zum
einmal darauf hinweisen, welche Aufgaben wir in den Jahr 2000 wieder auf knapp 46 % gesenkt werden.
letzten Jahren zu bewältigen hatten. Die öffentliche
Hand hat zwischen 1990 und 1994 Jahr für Jahr für die Allen Koalitionspartnern ist klar: Nur das unbedingt
neuen Länder rund 150 Milliarden DM bereitgestellt. Notwendige kann seriös finanziert werden. S tr ikte
Ein neuer Finanzausgleich zugunsten der neuen Län- Konsolidierung bedeutet, das Haushaltsmoratorium
der ist unter Dach und Fach und kann 1995 wirksam gilt weiter für die gesamte Legislaturperiode. Wir
werden. Der Bund hat durch massive Aufstockung der begrenzen den Ausgabenanstieg auf einen Wert deut-
direkten Bundesergänzungszuweisungen und durch lich unter dem Zuwachs des nominellen Bruttoinland-
die Abgabe von Umsatzsteuerpunkten über 30 Milli- produkts.
arden DM, insbesondere zugunsten der neuen Län- Bereits Mitte Dezember werden wir den Haushalt
der, zur Verfügung gestellt. 1995 vorlegen. Es wird im wesentlichen der bereits
Mit dem Erblastentilgungsfonds übernehmen wir bekannte Entwurf sein, allerdings werden wir die
ab 1. Januar 1995 die Hinterlassenschaft von 40 Jah- deutlich niedrigere Kreditaufnahme von 1994 auch für
ren sozialistischer Mißwirtschaft. Dabei zeichnet sich 1995 festschreiben. Dies ist allerdings nur möglich,
ab: Die vorsichtigerweise dafür angesetzten 400 Mil- weil 1995 einige einmalige Einnahmen anfallen: Pri-
liarden DM werden wir wohl nicht ganz in Anspruch vatisierung Lufthansa, Privatisierung DKB, Fusion der
nehmen. Nur, es war wichtig, bei der Einschätzung Staatsbank mit der KfW. 1996 stehen diese Einnah-
und bei der Berechnung auf der sicheren Seite zu men nicht zur Verfügung. Das heißt, der Konsolidie-
kalkulieren. Es ist allzumal besser, am Schluß nicht so rungskurs muß unbeirrt und klar fortgesetzt werden,
viel ausgeben zu müssen, wie wir befürchtet hatten. auch wenn die Konjunktur heute gewisse Erhellungen
zeigt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Deutschland hat die finanziellen Belastungen der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Einheit verkraftet, ohne die innere und äußere Stabi- Die finanziellen Spielräume ab 1996 sind außeror-
lität zu gefährden. Die D-Mark hat nicht gewackelt,
dentlich eng und müssen vorrangig für die notwendi-
Spekulanten haben sich daran die Zähne ausgebis- gen steuerlichen Verbesserungen beim Existenzmini-
sen. Das Vertrauen der Kapitalmärkte und unserer mum und beim Familienleistungsausgleich genutzt
Partner in Europa ist gestärkt worden. werden. Weitere Spielräume müssen durch die Fort-
Horrormeldungen über die Höhe der Staatsver- führung des Konsolidierungskurses erst verdient wer-
schuldung, meine Damen und Herren, nutzen nie- den. Konjunktur, Wachstum, Investitionen für neue
mandem. Die Zahlen sind allen bekannt. Von der Arbeitsplätze haben unmittelbar mit dem Standort
Staatsverschuldung 1995, die voraussichtlich etwa Deutschland zu tun. Den stärken wir nicht, wie man-
2 050 Milliarden DM betragen wird, entfallen etwa che glauben, mit konsumorientierter Umverteilung,
780 Milliarden DM auf den Bund. Davon haben wir sondern mit investitionsorientierter Wachstumspoli-
308 Milliarden DM 1982 vorgefunden. Das macht tik.
rund 470 Milliarden DM neue Schulden dieser Bun- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 91

Bundesminister Dr. Theodor Waigel


Darum muß die Unternehmensteuerreform in der als jetzt für ein Hauen und Stechen gesorgt. Meine
kommenden Legislaturperiode fortgesetzt werden. Damen und Herren, ich wundere mich über manche
Publikationen: In den letzten Jahren wurde uns, wenn
Unsere exportorientierte Wirtschaft steht in schar-
wir nur einen einzigen der über 70 in der Experten-
fem weltweiten Wettbewerb. Auch bei kleinen Ver- gruppe genannten Punkte diskutiert haben, sofort
besserungen in den letzten Jahren liegen laut einer sozialer Kahlschlag vorgeworfen. Jetzt, wo wir das
neuen Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft
addiert, fünfzig-, sechzigfach, umsetzen sollen, wird
die Lohnstückkosten in Deutschland immer noch dies in den Kommentaren als ein großartiger Wurf der
weltweit an der Spitze, trotz unserer hohen Produkti- Neuregelung des Steuerrechts bezeichnet. Die Auf-
vität. fassungen sollten in sich konsistent sein, bevor man
Immer noch haben wir international fast einmalig eine solche Bewertung abgibt, die für den Kenner der
hohe Steuersätze und ertragsunabhängige Belastun- Szene sehr problematisch ist.
gen. Für die Betriebe fällt insbesondere die — in
Österreich soeben abgeschaffte — Sonderbelastung (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
mit der Gewerbesteuer ins Gewicht. Im Vordergrund Der Vorschlag des Kollegen Schleußer führt aller-
muß dabei die Senkung der Gewerbesteuerbelastung
dings in eine Richtung, die wir nicht einschlagen
stehen. Die ertragsunabhängige Gewerbekapital-
wollen. Hier feiert die leistungsfeindliche Ergän-
steuer soll abgeschafft werden. Es muß weitere mittel-
zungsabgabe der SPD in anderem Gew an d fröhliche
standsfreundliche Entlastungen bei der Gewerbeer-
Urständ: Jeder fünfte Steuerzahler in Deutschland
tragsteuer geben. Die Gemeinden sollen einen fairen
wird zusätzlich belastet. Wir streben einen Tarif an,
Ausgleich erhalten. Wir werden mit den Ländern, mit
der ohne Mehrbelastung auskommt.
den Kommunen und mit der Wirtschaft darüber zu
reden haben, welchen Anteil die Kommunen an einer Ich bleibe dabei: Das Ziel muß eine Lösung sein, die
der großen Steuern, wie es der Kollege Schäuble das Existenzminimum bei geringen Einkommen in
erwogen hat, an der Lohn- und Einkommensteuer, verfassungskonformer Weise steuerfrei stellt und den
gegebenenfalls an der Körperschaftsteuer oder an der geradlinig ansteigenden Steuertarif, den Hauptvorteil
Umsatzsteuer, zu erhalten haben. Das sind die zwei der Steuerreform 1990, beibehält. Auch eine lei-
Möglichkeiten, über die zu reden sein wird, und zwar stungsfeindliche Verschärfung der Progression muß
deswegen, weil das Interesse an einer Ansiedlung von vermieden werden.
Gewerbebetrieben dadurch gewahrt bleibt. Dazu
brauchen wir eine Steuerkoalition der Vernunft. (Detlev von Larcher [SPD]: Geht es denn ein
bißchen konkreter?)
Sie, Herr Kollege Scharping, haben sich vor einiger
Zeit für eine grundlegende Reform des Steuersystems — Das kommt bald; eines nach dem andern. Sie
ausgesprochen. Ich greife dieses Angebot gerne auf. müssen sich heute mit so vielem beschäftigen, daß Sie
Wenn Sie und die SPD-regierten Länder bei Vorschlä- damit überlastet werden.
gen der Gutachter, die sehr schwierig und umstritten
sind, mitziehen, bin ich zu einer offenen Diskussion (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der
jederzeit bereit. F.D.P.)
Meine Damen und Herren, wir müssen bei der Dabei ist eine abnehmende Entlastung bei steigen-
Unternehmensteuerreform aber auch sehen, daß nur den Einkommen verfassungsgemäß. Das hat das Bun-
eine für die öffentliche Hand aufkommensneutrale desverfassungsgericht in seinem Urteil schwarz auf
Gestaltung durch eine Verbreiterung der Bemes- weiß ausgeführt. Ich zitiere:
sungsgrundlage bei den Unternehmenssteuern mög-
lich ist. Das bedeutet allerdings nicht, daß jeder Steuer-
pflichtige vorweg in Höhe eines nach dem Exi-
Nach dem Spruch des Bundesverfassungsgerichts stenzminimum bemessenen Freibetrags ver-
muß die Bundesregierung bis zum 1. Januar 1996 eine
schont werden muß.
dauerhafte Neuregelung der Steuerfreistellung des
Existenzminimums vorlegen. Dazu gibt es Thesen Die weitere Verbesserung des Familienleistungs-
einer vom Finanzministerium eingesetzten Gutach- ausgleichs ist ein wichtiges Element in der Politik der
tergruppen, seit letzter Woche auch einen Vorschlag Bundesregierung. Durch den stufenweisen Ausbau
meines nordrhein-westfälischen Kollegen Schleußer. des 1983 von dieser Regierung wieder eingeführten
Die Thesen der Gutachter laufen auf eine sehr weit- Kinderfreibetrags auf jetzt rund 4 100 DM und die
gehende Veränderung unseres gesamten Systems der Aufstockung des Erstkindergeldes auf 70 DM werden
Einkommensbesteuerung hinaus. seit 1992 im Ergebnis rund 6 200 DM pro Kind
Eine so drastische Umstellung unseres Einkom- steuerfrei gestellt. Insgesamt haben wir die steuer-
mensteuerrechts ist unter den gegebenen politischen lichen Entlastungen und Geldleistungen für die Fami-
Konstellationen, aber auch bereits wegen der Kürze lien in 1994 auf 60 Milliarden DM erhöht. Dies sind
der Zeit, wie ich meine, nicht zu verwirklichen. 32 Milliarden DM mehr als 1982.
Unabhängig davon besteht bei einzelnen Vorschlä- In dieser Legislaturperiode soll der Kinderfreibetrag
gen sicherlich Diskussionsbedarf. um weitere 1 000 DM erhöht werden. Langfristig soll
Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die das Existenzminimum eines Kindes voll durch den
Diskussion bei der großen Steuerreform 1986, 1988 Kinderfreibetrag abgedeckt werden. Kindergeld be-
und 1990. Damals hatten bereits vorgeschlagene Ge- kommen dann Familien mit niedrigem Einkommen
genfinanzierungen in erheblich geringerem Umfang oder Familien mit mehreren Kindern.
92 Deutscher Bundestag — 13. Wahlpe riode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Bundesminister Dr. Theodor Waigel


Nun zum Solidarzuschlag. Der Solidarzuschlag Auch an einer Straffung und Vereinfachung der
muß so schnell wie möglich wieder abgeschafft wer- Planungs-, Genehmigungs- und Verwaltungsge-
den. richtsverfahren kommen wir nicht vorbei. Wenn bei
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) uns bei Großvorhaben Planungs- und Genehmi-
gungsverfahren bis zu zwei Jahre, vor unserer Haus-
Steuersenkungen aber müssen erst durch Konsolidie-
tür in Ungarn, Tschechien oder Polen nur drei bis vier
rung erwirtschaftet werden. Mit dem Jahr 1995 über-
Monate dauern, dann dürfen wir uns nicht wundern,
nehmen wir erhebliche Lasten der Einheit in den
wenn Arbeitsplätze mittelfristig exportiert werden.
Bundeshaushalt. Noch weitere Ansprüche kommen in
den nächsten Jahren auf den Haushalt zu, beispiels- Immer dort, wo es sinnvoll ist, muß Staatstätigkeit
weise die Neuregelung des Existenzminimums und durch privates Handeln ersetzt werden. Die unmittel-
die Fortsetzung der Bahnreform. Es wäre daher ver- baren und mittelbaren Beteiligungen des Bundes sind
früht, bereits heute einen detaillierten Zeitplan für von 956 in 1982 auf unter 400 in 1994 zurückgeführt
den Abbau des Solidaritätszuschlags festzulegen. Der worden. Diesen Weg werden wir konsequent weiter-
Solidarzuschlag wird aber jedes Jahr an Hand objek- verfolgen.
tiver Kriterien überprüft werden. Sollten gegenüber
Der erste Schritt der Privatisierung der Deutschen
dem Finanzplan die Finanzausgleichsleistungen für
Telekom AG 1996 wird die bisher größte deutsche
die neuen Bundesländer deutlicher als erwartet
Aktienplazierung sein. Die Börseneinführung und die
zurückgehen, sollten die Steuereinnahmen auf Grund
internationale Plazierung der Telekom-Aktien ist
der konjunkturellen Entwicklung besser sein als bis-
auch ein wichtiger Beitrag zur Stärkung des Finanz-
her erwartet, dann werden wir dies an den Bürger
platzes Deutschland.
zurückgeben.
Auch die Restprivatisierung der Lufthansa und die
Deshalb wird der Solidaritätszuschlag von 7,5 % zur Umsetzung der Bahnreform werden wir entschlossen
Lohn-, Einkommen- und Körperschaftsteuer nicht in weiter betreiben.
den neuen Steuertarif eingearbeitet. Damit machen
wir deutlich: Der Solidaritätszuschlag darf keine Mit den Verträgen von Maastricht haben wir einen
Dauerbelastung werden. konsequenten Prozeß zur weiteren politischen und
wirtschaftlichen Einigung Europas in die Wege gelei-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) tet. Nur wenn die europäischen Staaten auf der
Meine Damen und Herren, unser Steuerrecht mit Grundlage nationaler Selbständigkeit, freiheitlicher
vielen Ausnahmen, Vergünstigungen und Sonder- Demokratie und marktwirtschaftlicher Ordnung ihre
regeln ist zu kompliziert geworden. Im Interesse der Zusammenarbeit intensivieren, wird Europa sein
Steuerzahler und der Finanzverwaltung gilt es, das internationales wirtschaftliches und politisches Ge-
Ruder jetzt herumzuwerfen. Die Steuergesetzgebung wicht auf der Schwelle ins nächste Jahrtausend auf-
muß wieder in ruhigeres Fahrwasser gebracht wer- rechterhalten können.
den. Das Steuerrecht muß deutlich vereinfacht und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
transparenter gestaltet werden. -
ordneten der F.D.P.)
Zur Steuervereinfachung habe ich bereits Anfang Der Ausbau der Europäischen Union muß dabei auf
September ein Diskussionspaket vorgelegt. Dieser zwei Pfeilern aufbauen: Nach innen gilt es, die Union
Plan ist in den Koalitionsverhandlungen akzeptiert durch institutionelle Reformen zu stärken und die
worden und wird nun umgesetzt. Zusammenarbeit in der Innen-, Rechts- sowie in der
Um auch mit den kommenden Gesetzgebungsvor- Außen- und Sicherheitspolitik zu verstärken.
haben die Finanzverwaltungen nicht zu überlasten, Nach außen müssen wir die Gemeinschaft offenhal-
werden wir sie in einem Gesetz, nämlich dem Jahres- ten für beitrittswillige und beitrittsfähige Staaten.
steuergesetz 1996, zusammenfassen. Österreich, Finnland, Schweden und, ich hoffe, auch
(Detlev von Larcher [SPD]: So toll ist das Norwegen werden hier am 1. Januar 1995 den Anfang
machen.
nicht!)
Konsolidierung muß auch für Europa gelten. Spar-
Meine Damen und Herren, Kostensenkung, Ratio-
samste Haushaltsführung, Konzentration und Bünde-
nalisierung und Steigerung der Produktivität sind für
lung von Aufgaben sind notwendig. Darum müssen
jedes Unternehmen im Wettbewerb eine Dauerauf-
nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa alle
gabe. Das gilt auch für den Staat. Unter dem Stichwort
Programme auf den Prüfstand, ob sie noch notwendig
„schlanker Staat" werden wir daher die kritische
sind und ob sie ihren Sinn erfüllen.
Durchleuchtung der Staatstätigkeit weiterführen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
Dabei haben wir bereits einiges erreicht. Nachdem
ordneten der F.D.P.)
durch die deutsche Einheit der Personalbestand bei
den Bundesbehörden zunächst angewachsen war, Anläßlich der Revisionskonferenz 1996 wird das
werden zwischen 1991 und 1995 fast 52 000 Stellen Funktionieren des Vertrags von Maastricht einer Prü-
abgebaut. Das bedingt Arbeitsvereinfachungen, Ra- fung unterzogen und weiterentwickelt. Dabei stehen
tionalisierung und Dezentralisierung. Bei 70 000 DM für uns die harten Kriterien nicht zur Disposition. In
pro Stelle im Durchschnitt ist das zugleich eine dau- jedem Fall wird für den Beginn der dritten Stufe und
erhafte Entlastung für den Haushalt von etwa 3,5 Mil- für die Auswahl der Teilnehmer allein die Erfüllung
liarden DM pro Jahr. Bis 1998 werden wir weitere der im Vertrag niedergelegten Konvergenzkriterien
12 000 Stellen abbauen. entscheidend sein. Für uns gilt: Strikte Konvergenz
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 93

Bundesminister Dr. Theodor Waigel


hat Vorrang vor starren Zeitplänen. Ich habe immer unternehmen wir einen mutigen Schritt, um diese
auf ein Europa konzentrischer Kreise hingewiesen. Einbürgerung zu erleichtern.
Verschiedene Integrationsdichten sind heute bereits (Lachen bei Abgeordneten des BÜNDNIS
europäische Realität. Die Wirtschafts- und Währungs- SES 90/DIE GRÜNEN)
union sieht eine Integration mit unterschiedlichen
Die Zulassung der Mehrfachstaatsangehörigkeit
Geschwindigkeiten ausdrücklich vor.
muß auch in Zukunft die Ausnahme für echte Pro-
Wie die Europäische Union muß sich auch die blemfälle bleiben.
Nordatlantische Allianz Schritt für Schritt den osteu- (Beifall bei der CDU/CSU)
ropäischen Reformstaaten öffnen. Dies läßt sich nur
auf der Grundlage einer dauerhaften und verläßlichen Gegen ausländerfeindliche Ausschreitungen hilft der
Partnerschaft mit Rußland und den anderen Nachfol- Besitz von zwei oder mehreren Pässen nicht. Hier hilft
gestaaten der Sowjetunion verwirklichen. In der jetzi- nur ein konsequenter Einsatz von Polizei und Justiz.
gen Zeit des weltweiten Umbruchs und der damit (Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr wahr!)
verbundenen Unsicherheit bleibt die NATO das Fun- Gleiches gilt für jene Ausländer, die sich bei uns
dament der äußeren Sicherheit des geeinten Deutsch- schwerkrimineller Vergehen schuldig machen und
lands. die entsprechend dem geltenden Ausländerrecht kon-
Die Gewährleistung der inneren Sicherheit muß zu sequent verfolgt und auch abgeschoben werden müs-
einem Schwerpunkt der politischen Arbeit der kom- sen.
menden vier Jahre werden. Wir brauchen ein gemein- Meine Damen und Herren, wir haben den politi-
sames nationales Sicherheitsprogramm gegen die sich schen Kurs für die kommenden vier Jahre abgesteckt.
immer stärker ausbreitende internationale Kriminali- Das Regierungsprogramm ist eine Plattform, in der
tät von Rauschgift- und Waffenhändlern genauso wie sich jeder Koalitionspartner wiederfindet; es ist ein
gegen die besorgniserregende Massenkriminalität, Kompromiß, ein demokratischer Interessenausgleich
vom Autodiebstahl angefangen bis hin zu den Woh- aller drei Koalitionspartner. Es verdeutlicht den Vorrat
nungseinbrüchen. an Gemeinsamkeiten zwischen CDU, CSU und der
F.D.P. Die CSU steht zur Koalition der Mitte. Wir
(Beifall bei der CDU/CSU) werden weiterhin eine stabilisierende Kraft dieser
Koalition sein.
Wir haben in der zurückliegenden Legislaturpe-
riode wichtige Maßnahmen zur besseren Verbre- Nach dem Ende des Kalten Krieges befinden wir
chensbekämpfung auf den Weg gebracht. Wir werden uns inmitten einer grundlegenden Zeitenwende.
in den vor uns liegenden Monaten die Effizienz dieser Deutschland ist wiedervereinigt; Europa gibt sich eine
Maßnahmen gegen die Geldwäsche und die organi- neue Struktur.
sierte Kriminalität überprüfen. Wir werden das Meine Damen und Herren, in seiner ersten Rede vor
gesetzliche Instrumentarium verbessern, wo es not- dem Deutschen Bundestag hat der Abgeordnete
wendig ist. - Heym darauf hingewiesen, man könne und dürfe die
Einheit nicht vordringlich dem Finanzminister über-
Das neue Asylrecht greift. Viele haben das vor zwei
lassen. Das ist richtig. Nur, der Bundesfinanzminister,
Jahren nicht für möglich gehalten.
das Finanzministerium und die Finanzpolitik haben
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- einen wesentlichen Beitrag zur deutschen Einheit
ordneten der F.D.P.) geleistet,
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
Unsere Änderung war notwendig, sinnvoll und erfolg-
ordneten der F.D.P.)
reich. Die Zahl derjenigen, die ausschließlich aus
wirtschaftlichen Gründen bei uns Asylanträge stellen, während Herr Heym zur deutschen Einheit nichts,
hat erheblich abgenommen. Wir wollen diese Politik aber auch gar nichts beigetragen hat.
konsequent fortsetzen und den gezielten Kampf (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
gegen das unmenschliche Schlepperwesen verschär- ordneten der F.D.P.)
fen. Deutschland kann in diesem Prozeß seiner politi-
Für die politisch tatsächlich Verfolgten bleibt unser schen und historischen Verantwortung nur gerecht
Tor offen. Aber das Asylrecht ist kein wirksames werden, wenn wir den Kurs der politischen Mitte, der
Instrument zum Abbau des Wohlstandsgefälles zwi- Verläßlichkeit nach außen und der Stabilität nach
schen Westeuropa und den Ländern der dritten oder innen beibehalten und allen extremen Positionen, ob
der vierten Welt. von links oder von rechts, eine klare Absage ertei-
len.
(Zuruf von der SPD: Das stimmt!)
Für unsere Ausländerpolitik muß gelten: weitere Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Minister Wai-
Begrenzung der Zuwanderung bei gleichzeitiger ech- gel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordne-
ter Integration der rechtmäßig und längerfristig bei ten Duve?
uns lebenden ausländischen Mitbürger.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. Theodor Waigel, Bundesminister der Finanzen:
Mit der Einführung des Instituts der Staatszugehörig Ja, weil er sich vorhin in der Finanzpolitik lernfähig
keit für Ausländerkinder der dritten Generation gezeigt hat.
94 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Freimut Duve (SPD): Herr Bundesminister, sind Sie der Franco-Zeit auseinanderzusetzen, und daß die
— auch bei Passagen starker Polemik — bereit, demokratischen Parteien vereinbart hatten, nach
anzuerkennen, daß ein Beitrag zur deutschen Einheit vorne zu schauen; denn eine allzu hartnäckige und
durch einen Literaten, durch einen Autor, der in allen administrative Aufarbeitung der Franco-Zeit hätte zu
deutschsprechenden Staaten gelesen wird, immer Ergebnissen geführt, die dem ganzen spanischen
geleistet wird und daß bei Ihrem Urteil über Herrn Volk nicht zugute gekommen wären. Er hat aber
Heym seine Leistung als Autor nicht berücksichtigt gleich hinzugefügt: Ich weiß, daß das bei euch sicher-
worden ist? lich anders ablaufen wird.
Meine Damen und Herren, ich glaube, daß wir
Dr. Theodor Waigel, Bundesminister der Finanzen: wirklich Veranlassung hätten, bei dieser Auseinan-
Daß Herr Heym auf deutsch schreibt, ist kein Beitrag dersetzung nicht in unehrliche Polemik zu verfallen.
zur Wiederherstellung der politischen, sozialen und Genau das werfe ich der CDU/CSU hier an erster
kulturellen deutschen Einheit. Stelle vor.
(Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von der
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
SPD)
der PDS)
— Sie können sich beruhigen, ich komme zum
Schluß. Ich finde, Ihr Umgang mit dem Alterspräsidenten des
Deutschen Bundestages ist nicht gerade ein Glanz-
(Zuruf von der CDU/CSU: Weiter so!) stück der deutschen Parlamentsgeschichte gewesen.
Deutschland wird in der internationalen Völkerge- Wenn Sie Herrn Heym und seine Rolle in dem System
meinschaft als friedliebender, gleichberechtigter überhaupt würdigen wollen, empfehle ich Ihnen ein-
Partner respektiert und geschätzt. Diesen Weg konse- mal, den „König-David-Bericht" zu lesen — ich bin
quent weiterzugehen, das ist die wichtigste Aufgabe sicher, daß nicht einmal 5 % Ihrer Fraktion das Buch in
der 13. Legislaturperiode. der Hand gehabt haben —; dann wüßten Sie, daß er
Ich danke Ihnen. sich hier in Form eines Gleichnisses, einer Parabel
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) eben auch mit diesem System und seinen Denkverbo-
ten auseinandergesetzt hat. Meine Damen und Her-
ren, ich bitte Sie, Ihre Haltung noch einmal zu
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt überprüfen.
der Ministerpräsident des Saarlandes Oskar Lafon-
taine. Zweitens. Es ist nun einmal eine Tatsache — das
muß klargestellt werden und geht an Ihre Adresse,
Herr Dr. Kohl und Herr Dr. Schäuble —, daß Sie auf
Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland):
kommunaler Ebene und auf der Ebene der Landkreise
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
mit der PDS eine Koalition haben.
Herren! Erlauben Sie mir zunächst zwei grundsätz-
liche politische Bemerkungen. In dieser Debatte ist (Detlev von Larcher [SPD]: Hemmungslos!)
wiederum mehrfach — in moderater Form in der
Wer angesichts dieses Sachverhalts so redet, wie Sie
Erklärung des Herrn Bundeskanzlers, in etwas pole-
das immer tun, ist entweder nicht ganz normal oder
mischerer Form in der Erklärung des Fraktionsvorsit-
pharisäerhaft. Ich muß das hier in aller Klarheit
zenden der CDU/CSU und auch jetzt wieder in dem
sagen.
Beitrag des Bundesfinanzministers und CSU-Vorsit-
(Beifall bei der SPD und der PDS)
zenden — die Frage des Umgangs mit der PDS und
der DDR-Vergangenheit Gegenstand der Erörterun- Drittens. Ich würde auch gegenüber den Mitglie-
gen gewesen. dern der ehemaligen Blockparteien hier gerne anders
Erlauben Sie mir dazu zunächst eine Bemerkung: argumentieren. Aber durch Ihre unehrliche, phari-
Ich habe es im Vorfeld dieser Auseinandersetzungen säerhafte Vorgehensweise erzwingen Sie eine Aus-
für richtig gehalten, dem spanischen Ministerpräsi- einandersetzung, die nicht gerade der Integration
denten Felipe Gonzalez eine Frage zu stellen, als ich dienlich ist. Sie mögen es ja für richtig gehalten haben,
einmal die Gelegenheit hatte, mit ihm zu sprechen. trotz der Warnung Ihres ehemaligen Generalsekre-
Herr Bundeskanzler, ich duzte ihn schon, bevor Sie tärs, Herrn Rühe, der damals auf die Integration der
ihn kannten. Blockparteien angesprochen, noch sagte: Wer sich
neben einen solchen stinkenden Haufen stellt,
(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Mit
beginnt selber zu stinken. Sie mögen es ja im nach-
Honecker auch!)
hinein anders gesehen haben, aber dann stehen Sie
— Wenn ich jetzt alle aus Ihren Reihen vorführen auch dazu. Versuchen Sie nicht, auf pharisäerhafte
würde, die sich bei Honecker angebiedert haben, Art und Weise unterschiedliche Maßstäbe anzule-
müßte ich meine Redezeit damit ausschöpfen. gen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der PDS)
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Die standen auf der Leipziger Messe immer Schlange;
deshalb bin ich schon gar nicht mehr dahin gegangen, Die Blockparteien haben das System, die Mauer, den
meine Damen und Herren. Also lassen wir das Stacheldraht und all die Fehlentwicklungen mitgetra-
Thema. gen.
Felipe Gonzalez hat mir damals gesagt, daß es für Hören Sie endlich auf mit dieser Diskussion! Sie
ein Land wie Spanien natürlich schwierig war, sich mit gewinnen dabei keinen Blumentopf. Sie haben bei
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 95

Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland)


uns keine Möglichkeit, diese Diskussion so zu führen, geringachteten. Auch hier möchte ich Ihre Heransge-
daß wir in irgendeiner Form vor Ihnen zurückweichen hensweise ausdrücklich unterstützen.
müssen. Einigkeit besteht darin, daß der Ausgabenanstieg
(Freimut Duve [SPD]: Jetzt stinkt es gewal des Gesamthaushaltes und der Einzelhaushalte
tig!) immer unter dem nominalen Anstieg des Bruttosozi-
alproduktes liegen muß. Wir haben sonst keine
Herr Dr. Schäuble hat den Bundesrat angespro- Chance einer längerfristigen Perspektive für die Kon-
chen. Nun komme ich zu dem Anliegen, das ich hier solidierung der öffentlichen Haushalte.
heute vortragen wollte. Er hat wieder gesagt: Der
Bundesrat möge keine Obstruktionspolitik betrei- Ich möchte für die Sozialdemokraten diese Heran-
ben. gehensweise nachdrücklich und ausdrücklich unter-
stützen. Dabei versteht es sich von selbst, daß wir nicht
Meine Damen und Herren, ich sage jetzt für den nur in den Ländern — das sollte hier auch einmal
Bundesrat: Das ist eine falsche Herangehensweise an registriert werden; wir sollten uns das nicht gegensei-
die Aufgabe, die wir zu lösen haben. Wir haben die tig, wie vorhin im Fall des Landes Niedersachsen
Aufgabe, die unterschiedlichen Mehrheitsverhält- wieder geschehen, um die Ohren schlagen — bei der
nisse zu respektieren, zu wissen, daß es unterschied- Konsolidierung der Haushalte die Personalausgaben
liche Vorstellungen gibt, und bei unseren Vorschlä- zurückfahren müssen.
gen die unterschiedlichen Vorstellungen, die es mm
einmal gibt, zu berücksichtigen. Da hat es keinen Das gilt für den Bund und für die Länder. Es ist wenig
Sinn, der jeweils anderen Seite vorzuwerfen, sie suche sinnvoll, sich das dann gegenseitig immer wieder um
nicht die Kooperation oder sie betreibe Obstruktion. die Ohren zu schlagen.
Wenn es um Kooperation und Zusammenarbeit geht, Wir sollten aber so ehrlich sein, gleich hinzuzufü-
sind Bundesrat und Bundestag gleichwertige Organe. gen, daß dies über kurze F ri st — das gilt auch für die
Sie sollten das bei Ihren Formulierungen im Interesse mittelbaren Bereiche Post und Bahn — natürlich nicht
der Zusammenarbeit berücksichtigen und beherzi- zu einer Steigerung der Beschäftigung führen wird,
gen. sondern nur längerfristig, indem produktivere Investi-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) tionen durch sparsame öffentliche Haushalte ermög-
Nun komme ich zu dem Gegenstand, zu dem ich licht werden.
heute sprechen wollte, zur Wirtschafts- und Finanzpo- Soweit meine Bemerkungen zu Ihrem Herangehen
litik. an die bisherigen Probleme. Ich nehme an, daß Sie
erkennen, daß es hier nicht um Polemik um ihrer
(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Für selbstwillen geht.
Wirtschaft ist doch Schröder zuständig!)
Natürlich bin ich auch hierhergekommen, um zu
— Ach Gott, Herr Dr. Schäuble, Sie haben schon erfahren, wie die Fragen, die wir nun seit Monaten
bessere Zwischenrufe gemacht. Sie sind für alles und Jahren erörtern, von Ihrer Seite angegangen und
zuständig, insofern sind Sie ein ganz großer M ann. - gelöst werden sollen. Es ist keine Polemik, wenn ich
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) feststelle, daß die Erklärungen doch bisher reichlich
unverbindlich waren. Ich bedauere dies. Die Länder
— Gucken Sie genau, wer da klatscht; sie sollten von und die Gemeinden warten darauf, daß sie für ihre
den Hinterbänken aufrücken dürfen. Planungen der nächsten Jahren wissen, wie es jetzt
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD) mit der Steuerpolitik weitergeht, welche Einnahme-
ausfälle sie zu verkraften haben, welche Umschich-
Ich komme zunächst einmal zur Haushaltspolitik tungen eventuell zu erwarten sind. Daher hätten wir
und möchte sagen, wo es Gemeinsamkeiten gibt. Ich uns gewünscht, daß trotz der Schwierigkeiten konkre-
halte es für richtig, daß der Bundesfinanzminister in tere Ankündigungen gekommen wären, wie denn die
den Verhandlungen, auch in den Koalitionsverhand- einzelnen Fragen zu lösen seien.
lungen, Überlegungen widerstanden hat, leichtfertig
auf öffentliche Einnahmen zu verzichten. Er hat die (Beifall bei der SPD)
Situation der öffentlichen Haushalte, hier weniger auf Ich spreche zunächst das Existenzminimum an.
die Maastricht-Kriterien bezogen, relativ positiv dar- Herr Kollege Waigel, da werden Sie nicht sagen
gestellt. Ich werde dazu nachher noch etwas sagen. können, wir würden Sie jetzt unnötig unter Zeitdruck
Ich habe es aber im Interesse des Ganzen für richtig setzen. Sie selbst und die Bundesregierung haben
gehalten, nicht leichtfertig vorzeitige Ankündigun- bereits mehrfach angekündigt, für den Sommer dieses
gen in die Welt zu setzen, die die öffentlichen Haus- Jahres entsprechende Vorlagen zu erarbeiten.
halte wiederum in Schwierigkeiten bringen wür- (Zurufe von der SPD: Ja, ganz konkret! — Ein
den. Gesamtkonzept!)
Zweitens. Ich habe bereits vor der Wahl signalisiert, Nun ist das, wie wir vermutet haben, im Hinblick auf
daß die Herangehensweise an das Existenzminimum den Wahlkampf nicht geschehen. Dann haben wir
unsere Unterstützung findet. Es wäre sicherlich ver- gedacht, Sie hätten das Expertengutachten zurückge-
messen, wenn wir von einer Größenordnung von über halten, hätten daraus vielleicht einige Vorschläge
40 Milliarden DM reden und uns dabei selbst täuschen realisieren wollen und hätten aus Opportunitäten der
würden, wenn es darum ginge, solche Einnahmeaus- Wahlkampfführung heraus bis zum Wahltag ver-
fälle zu verkraften, und wenn wir die Schwierigkeiten, schwiegen, daß Sie solche Pläne haben. Aber auch
die aufkämen, wenn man das anders lösen würde, zu dies scheint nun ein Irrtum zu sein.
96 Deutscher Bundestag — 13. Wahlpe riode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland)


Nun frage ich aber, nachdem Sie die Vorschläge der Wenn man dann andere Lösungen als eben die
Expertenkommission verworfen haben und nachdem einer Veränderung des Tarifs mit stärkerer Besteue-
Sie hier etwas zu den Vorschlägen des nordrhein- rung der höheren Einkommen hat, dann soll man sie
westfälischen Finanzministers gesagt haben: Wo sind hier vortragen, und dann soll man auch die ökonomi-
denn eigentlich ihre Vorschläge? sche Schlüssigkeit vortragen. Dann sind wir zu einem
Gespräch bereit.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Das zweite ist der Familienlastenausgleich. Der
PDS — Zuruf von Bundesminister Dr. Theo- Kollege Scharping und der Kollege Fischer haben,
dor Waigel) wenn ich das richtig mitbekommen habe, ja bereits
darauf hingewiesen. Nun hören wir aus dem Papier
Der Herr Bundesfinanzminister sagt, ich solle noch der Kirchen, wie schlecht es den Familien geht. Das ist
ein Weilchen warten. Aber wir haben jetzt schon viele ja aus der Sicht der Kirchen auch verständlich. Aber
Weilchen gewartet. wenn Sie in allen Erklärungen immer wieder sagen,
wie schlecht es den Familien geht und daß der
(Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Bis
Familienlastenausgleich ungerecht ist, und wenn der
zum Christkind!)
Bundespräsident, der ja bestimmt unverdächtig ist,
— Bis zum Christkind sollen wir warten. Immerhin ist sagt, der Familienlastenausgleich in unserem Lande
das eine Perspektive, die wir haben. ist ungerecht, und das Steuerrecht ist familienfeind-
lich, dann sind doch die Fragen aufzuwerfen: Wer ist
(Zurufe von der SPD) denn dafür verantwortlich? Wer hat denn zwölf Jahre
regiert?
Ob dies dann aber wirklich ein Geschenk Gottes zu
Weihnachten wird, das weiß ich natürlich nicht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Aber bitte jetzt ernsthaft: Es ist wirklich ein Vorwurf, DIE GRÜNEN sowie des Abg. Manfred Mül
den man Ihnen machen muß, daß Sie die Vorlage viel ler [Berlin] [PDS])
zu lange verzögern. Dies ist für die Planungen des Sie mögen ja, wie das der Kollege Schäuble wieder
Gesamtstaates und natürlich auch der Gemeinden, getan hat, unsere Vorschläge für falsch halten, aber
der Länder und der Wirtschaft schädlich. dann legen Sie doch einmal Ihre Vorschläge auf den
(Beifall bei der SPD) Tisch.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Ich war gestern auf der Tagung eines Wirtschafts-
verbandes und wurde immer wieder gefragt und auch Außer allgemeinen und unverbindlichen Ankündi-
immer wieder auf die unterschiedlichsten Modelle gungen, daß man die Freibeträge wieder erhöhen und
angesprochen. Ich habe dafür plädiert, auch die natürlich beim Kindergeld etwas tun will, habe ich
Vorschläge der Bareis-Kommission nicht in Bausch nichts gelesen und nichts gehört.
und Bogen zu verdammen, sondern sie objektiv zu - (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Voll
diskutieren, weil sich der wissenschaftliche Sachver- mer)
stand ja allmählich verarscht, entschuldigen Sie, vor-
kommen muß, wenn er monatelang in Anspruch Meine Damen und Herren, wir teilen die Auffas-
genommen wird, aber dann, sobald Vorschläge vor- sung der Kirchen, daß über die Kinderfreibeträge nun
gelegt werden, in Bausch und Bogen verdammt wird. einmal die Kinder wohlhabender Familien über
Das ist eine falsche Herangehensweise, meine Damen Gebühr vom Staat gefördert werden. Daher halten wir
und Herren. Ihre in Umrissen bekannten Vorschläge für falsch.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN)
In bezug auf das Existenzminimum haben wir also Nun komme ich zur Unternehmensteuerreform. Sie
keine Vorlage der Bundesregierung. Wir wissen nicht, haben gesagt, sie wollen die Gewerbekapitalsteuer
wie es weitergehen soll. Sie haben bei der Ergän- abschaffen. Dazu ist allerhand zu sagen. Zunächst
zungsabgabe bei den Vorstellungen des Herrn Kolle- einmal ist es interessant, daß man jetzt von unter-
gen Schleußer wieder gegen leistungsfeindliche schiedlichen Modellen hört, wie das denn finanziert
Besteuerung polemisiert. Erlauben Sie mir hier noch werden soll. Auch da lautet mein Vorwurf: Die Ankün-
einmal eine Wiederholung, meine Damen und Her- digung nützt doch wenig, wenn Sie nicht sagen, wie
ren. Die Tatsache, um das einmal ganz klar zu sagen, das finanziert werden soll.
daß das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat,
daß widerrechtlich über 40 Milliarden DM unten Ich habe auch zur Kenntnis genommen, daß der
weggesteuert werden, ist nicht ein Skandal für die Herr Kollege Schäuble auf dem Forum des „Handels-
oberen Einkommensschichten und die Leistungsträ- blatts" einen bestimmten Vorschlag gemacht hat. Sie
ger, von denen Sie jetzt wieder gesprochen haben. Es haben den jetzt noch in Ihr Manuskript eingebunden.
ist ein Skandal für die unteren Einkommensschichten. Das ist ja auch in Ordnung. Sie selber, Herr Kollege
Das ist der entscheidende Unterschied. Waigel, haben hier — da war der Vorschlag von Herrn
Schäuble noch nicht enthalten — gesagt: Die Gemein-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten den sollen einen fairen Ausgleich erhalten, am besten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der durch einen orts- und wirtschaftsbezogenen Anteil an
PDS) der Umsatzsteuer.
Deutscher Bundestag — 13. Wahlpe riode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 97

Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland)


Natürlich stellen wir dann die Fragen: Wer soll denn Thema zu einer Lösung zu führen. Doch es bleibt
diesen Anteil an der Umsatzsteuer aufbringen? Soll gleichwohl auf der Tagesordnung.
die Umsatzsteuer erhöht werden? Ich habe immer
wieder versucht, von Ihnen Klarheit zu erhalten. Das Statt dessen — ich sage das auch auf Grund der
haben dann alle — ob es ihnen heute leid tut, weiß ich jüngsten Diskussionen — sind Sie dann hingegangen
nicht — dementiert. Sie müssen sagen, wer etwas und haben den ordnungspolitischen Sündenfall der
abgeben soll, meine Damen und Herren. Es hat doch letzten Legislaturperiode begangen, indem Sie die
keinen Sinn, immer wieder solche Geschichten in die Pflegeversicherung beitragsfinanziert gestaltet und
Welt zu setzen. damit die Lohnnebenkosten noch weiter in die Höhe
getrieben haben. Ich sage das hier einmal in aller
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Klarheit — auch für viele Kollegen aus dem Bundes-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) rat — : Dies war der ordnungspolitische Sündenfall der
Weder beim Existenzminimum noch beim Familienla- letzten Legislaturperiode.
stenausgleich, noch bei der Unternehmenssteuerre-
form ist also irgendeine Klarheit geschaffen. Wenn ich jetzt sehe, daß an dem mühsam erarbei-
teten Kompromiß wieder überall — auch von den
Ich will Ihnen zur Gewerbesteuerreform noch CDU-Fraktionsvorsitzenden und von einzelnen Bun-
etwas sagen, meine Damen und Herren: Manchmal ist desländern — herumgefummelt wird, dann stellt sich
es auch gut, wenn hier Leute tätig sind, die über allmählich die Frage, was Absprachen überhaupt
längere Zeit in Gemeinden Verantwortung hatten. noch wert sind.
Dann wüßten Sie vielleicht — Herr Kollege Kinkel
ist — — (Beifall bei der SPD — Dr. Hermann Otto
Solms [F.D.P.]: Die Pflegeversicherung ha
(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Glauben
ben doch Sie gefordert!)
Sie, Sie sind das alleine?)
— Ich bin dankbar, daß noch einer dabei ist. Ich — Herr Kollege Solms, ich schicke Ihnen gerne das
begrüße Sie herzlich. Regierungsprogramm zu, für das ich 1990 gestanden
habe. Darin stand — richtigerweise, wie ich es sehe —:
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD) Steuerfinanzierte Lösung mit Bedürftik geitsprüfung.
Ich spreche das nur an, weil der Kollege Kinkel hier Die Lösung für die jetzt auch die F.D.P. gestimmt hat,
Ausführungen gemacht hat, daß der Mittelstand nicht ist eine Lösung zur Schonung der Vermögenden und
genügend gefördert würde und daß insbesondere die der Erben, und diese halte ich ordnungspolitisch für
Sozialdemokraten da besondere Versäumnisse hät- falsch, um das einmal in aller Klarheit zu sagen.
ten. Es wäre einmal an der Zeit, daß bei Ihnen bekannt
würde, daß die große Mehrheit, und zwar zwei Drittel (Beifall bei der SPD — Dr. Hermann Otto
der Be tr iebe, überhaupt keine Gewerbesteuer zahlt. Solms [F.D.P.]: Sie haben doch zuge
- stimmt!)
(Beifall bei der SPD)
— Hier haben wir uns ein bißchen auf Sie verlassen,
Es wäre notwendig, daß Sie das einmal klarmachen,
aber da war unser Kalkül leider nicht ganz richtig.
wenn Sie von Klein- und Mittelbetrieben reden. Sie
können ja nicht diese zwei Drittel der Betriebe als Statt eine Minderheit von Unternehmen zu entla-
nichtexistent bezeichnen und deren Beitrag für den sten, müßten wir in einer Situation, in der wir viel
Arbeitsmarkt ignorieren, meine Damen und Herren. zuwenig Beschäftigung haben, die erste Priorität dort
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) setzen und nicht bei einer Minderheit von Unterneh-
men. Wenn Sie es sich genauer ansehen, ist es eine
Etwas gemeindliche Praxis wäre vonnöten. Dann verschwindend geringe Zahl von Unternehmen, die
käme es nicht zu Vorschlägen, die in der Priorität den Löwenanteil der Gewerbesteuer aufbringen. Das
falsch gesetzt sind. scheint Ihnen gar nicht klar zu sein. Man darf nicht bei
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der verschwindenden Minderheit von Unternehmen
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des ansetzen, sondern muß es bei der großen Mehrheit,
Abg. Manfred Müller [Berlin] [PDS]) also bei denen, die Beschäftigung schaffen — das ist
auch der kleinste Unternehmer mit einer Halbtags-
Viel sinnvoller nämlich wäre es, statt bei der Gewer- kraft —, und dort muß man die Lohnnebenkosten
besteuer immer wieder irgendwelchen Forderungen senken. Das wäre prioritär, würde den Standort nach
entgegenzukommen, dann aber andere Prioritäten vorn bringen und der Beschäftigung dienen.
nicht setzen zu können, die Lohnnebenkosten endlich
zurückzufahren, die an der Grenze nicht hängenblei- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
ben und die in einer Exportnation wie der unsrigen auf des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
dieser Höhe nicht bleiben können und schon gar nicht PDS)
immer weiter nach oben gefahren werden können.
Dies kann auch gegenfinanziert werden, wenn man
(Beifall bei der SPD)
denn bereit ist, mutige Schritte zu machen, indem man
Hier ist leider in den letzten Jahren nichts gesche- dies mit der ökologischen Steuerreform verbindet,
hen. Der Kollege Biedenkopf und ich haben bei den wie wir oft genug gesagt haben. Daß sich hier die
Verhandlungen zum Solidarpakt versucht, das Thema Koalition nicht zu einer klaren Auffassung durchrin-
einmal einzuspeisen. Aber vielleicht war die Zeit bei gen kann, daß jetzt selbst Herr Necker für den BDI
diesen schwierigen Verhandlungen nicht reif, das zumindest verbal einen größeren Reformeifer an den
98 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland)


Tag legt als die Koalition, ebenso der Wirtschaftsver- Erlauben Sie mir noch einige Bemerkungen zur
band, bei dem ich gestern zu sprechen hatte, Wirtschafts- und Währungsunion. Ich habe mit Inter-
esse dem zugehört, was Sie jetzt vorgetragen haben.
(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Da waren Sie Der Bundeskanzler hatte sich hinsichtlich des Zeit-
aber nicht besonders gut, ist mir gesagt plans heute morgen etwas anders geäußert. Ich will
worden!) ausdrücklich unterstreichen, daß der Zeitplan nicht
ist nicht verständlich. das erste Kriterium sein darf — wie Sie es hier
angeführt haben —, sondern es muß sicher sein, daß
Ich möchte daher wiederholen, was Rudolf Schar- diese Währungsunion tatsächlich eine Stabilitäts-
ping hier bereits angesprochen hat: Diese Koalition ist union wird und daß die Stabilitätskriterien nicht
leider nicht mehr in der Lage, solche entscheidenden aufgeweicht werden. Selbst wenn Sie, Herr Kollege
Reformschritte auf den Weg zu bringen, die wir Waigel, das in guter Absicht getan haben und wenn es
eigentlich schon viel früher gebraucht hätten. auch Argumente dafür gibt — Sie haben sie ja schon
mehrfach vorgetragen —: Die Kritik, die national und
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
inte rn ational aufgekommen ist, hat sicherlich ihre
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
Berechtigung. Denn der Verdacht, daß allzusehr poli-
PDS)
tisch statt nach objektiven ökonomischen und finanzi-
Meine Damen und Herren, wenn Sie sich hinter der ellen Kriterien entschieden werden könnte, ist ja auf
Europäischen Gemeinschaft verstecken, dann wer- Grund der Geschichte der Europäischen Union nicht
den wir eines Tages feststellen, daß wir dieses Reform- von der Hand zu weisen.
vorhaben viel zu spät auf den Weg gebracht haben (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Ich
und daher diesem Standort keinen Dienst erwiesen selber habe das kritisiert!)
haben.
— Ja. Ich sage also: Wir wollen an den Stabilitätskri-
Ich sage es noch einmal: Unser Vorsprung auf dem terien festhalten. Aber ich füge hinzu: Sie allein
Gebiet der Umwelttechnik und Umweltwirtschaft ist reichen ökonomisch gesehen nicht aus. Nach diesen
nicht das Ergebnis einer gezielten Politik, sondern das Kriterien erfüllt auch Malaysia die Voraussetzungen,
Ergebnis des außerparlamentarischen Engagements in die europäische Wirtschaftsunion aufgenommen zu
vieler Bürgerinnen und Bürger, die in unserer Gesell- werden.
schaft das Klima dafür bereitet haben, daß wir in
Deutschland frühzeitig und rechtzeitig mit dem (Widerspruch bei der CDU/CSU)
Umweltschutz begonnen haben. — Das ist nun einmal so.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Aber
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der nur eine geringe Chance! Die haben auch
PDS — Zurufe von der CDU/CSU) keinen Antrag gestellt!)
Meine Damen und Herren, ich habe hier auch Ich will damit nur sagen: Es handelt sich um einen
wieder gehört, daß die Steuervereinfachung ein ökonomischen Prozeß, der mit Haushaltskriterien
Thema ist. Auch da müßten wir natürlich konkret allein nicht zu beschreiben ist. Oder anders ausge-
werden. Das Ziel ist unstreitig. Sie wissen selbst, Herr drückt: Bei dem Zusammemschluß verschiedener
Kollege Waigel, wie Ihre Vorschläge, auf die Sie Volkswirtschaften unter dem Dach einer gemeinsa-
Bezug genommen haben, kommentiert worden sind. men Währung spielen die Produktivität und die Lei-
Ich hatte ja bereits bei der letzten Bundesratsausein- stungsfähigkeit der Volkswirtschaften die entschei-
andersetzung darauf hingewiesen, daß allein zu dende Rolle, nicht die schlichten Haushaltskriterien.
Beginn dieses Jahres — ich wollte es zunächst selbst Wenn das wieder übersehen wird, kommt es zu
nicht glauben — über 100 neue Rechtsvorschriften in Fehlentwicklungen, die wir nicht wollen.
Kraft getreten sind. Ich will das nicht Ihnen allein Sie haben wiederum von den zwei Geschwindigkei-
vorwerfen; denn das wäre wirklich unfair. Wir sind da ten gesprochen. Das ist ein Problem. Als diese Gedan-
ja alle beteiligt. Aber man faßt sich allmählich nur ken zum erstenmal vorgetragen wurden, habe ich
noch ans Hirn, wenn man sieht, in welchem Umfang mich dazu geäußert. Es haben sich auch andere
über Gesetze und Verordnungen das Steuerrecht so geäußert. Ich will es noch einmal ansprechen. Es gab
kompliziert gemacht worden ist, daß es sozial unge- einmal einen Konsens, daß man zuerst die politische
recht geworden ist. Union anstrebt und dann die Wirtschafts- und Wäh-
rungsunion. Als der Vertrag von Maastricht auf den
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Weg gebracht worden ist, hat man den gegenteiligen
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Weg gewählt. Das wurde damals auch gleich kritisiert.
Wenn Finanzwissenschaftler sagen, Steuern zahlten Nun ist man in dem Spannungsverhältnis, daß dieje-
nur noch die Dummen — wie wir jetzt wieder lesen nigen, die sich politisch zur Europäischen Gemein-
konnten —, dann ist das doch ein Alarmsignal und ein schaft bekennen, nicht gleichzeitig die strengen Vor-
Auftrag an uns alle, die Steuervereinfachung jetzt aussetzungen einer Währungsunion erfüllen. Dieses
wirklich beherzt und energisch anzugehen. Hierzu Dilemma gilt es so zu lösen — hier kommt uns
erwarten wir nun einmal, Herr Bundesfinanzminister, besondere Verantwortung zu —, daß es bei den
Vorschläge, die — ich sage das ganz klar — über die kleineren und insbesondere bei den schwächeren
Ankündigungen, die Sie vor einigen Monaten oder Staaten in Europa nicht zu Mißtrauen kommt. Das ist
Wochen vorgelegt haben, hinausgehen. Wir brauchen die schwierige Aufgabe. Ich sage hier in diesem
hier energischere Schritte. Parlament noch einmal: Mir wäre der andere Weg
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 99

Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland)


lieber gewesen. Die europäischen Staaten sind den arbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Dikta-
Maastrichter Weg gegangen. Wir haben das als Aus- tur in Deutschland" gehabt. Dort ist nachzulesen, wie
gangsposition zu respektieren. Aber wir sollten alles das geschichtlich zu beurteilen ist. Darauf will ich gar
daransetzen, daß es hier nicht zu einer Fehlentwick- nicht eingehen. Das Entscheidende ist: Es ist völlig
lung und zu einem Aufweichen der Stabilitätskriterien unseriös,
kommt.
(Freimut Duve [SPD]: Daß die einen dahin
Ich fasse zusammen, meine Damen und Herren. Es
gegangen sind und die anderen weiterge
ist kein polemischer Vorwurf, wenn Ihnen verschie-
macht haben?)
dene Sprecher dieses Hauses vorgeworfen haben, daß
Ihre Regierungserklärung und Ihre Koalitionsverein- die Mitglieder der Blockparteien, die sich demokrati-
barung Dokumente der Schwäche sind. Ich habe ein schen Parteien angeschlossen haben, genauso wie die
Angebot gemacht, indem ich Ihnen gesagt habe, Herr früheren Mitglieder der SED, die jetzt möglicherweise
Kollege Waigel, wo wir Ihren Ansatz unterstützen. Das bei Ihnen oder bei anderen Parteien sind, und die
gilt auch für den Bundesrat. Ich habe versucht, deut- SED-Mitglieder, die heute noch in ihrer alten Partei
lich zu machen, daß wir zur Lösung der anstehenden sind und die alte Politik weitermachen, in einem Topf
Fragen auch gesprächsbereit sind. Aber Sie müssen zu werfen.
sich schon der Aufgabe unterziehen, die konkreten
Fragen zu beantworten: Wie wollen Sie das Existenz- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU —
minimum freistellen, und wie wollen Sie das finanzie- Widerspruch bei der SPD)
ren?
Das ist doch ein Unterschied, und deswegen halte ich
(Beifall bei der SPD)
das für unseriös. Jeder muß doch das Recht haben, sich
Wie wollen Sie den Familienlastenausgleich gestal- zum demokratischen Staat zu bekennen und daran
ten, und wie wollen Sie das finanzieren? Wie wollen mitzuwirken, wie auch immer seine Vergangenheit
Sie die Gewerbesteuersenkung gegenfinanzieren? war.
Sie sollten sich nicht mit vagen Ankündigungen des (Zurufe von der SPD und der PDS)
Kollegen Schäuble oder auch Ihren Erklärungen, die
ich hinterfragt habe, begnügen. Sie sollten endlich Aber das heute in einen Topf zu werfen ist völlig
erkennen — Stichworte: Pflegeversicherung und Ver- unzulässig.
doppelung der gesetzlichen Lohnnebenkosten in den
letzten zwanzig Jahren —, daß es sich bei den Lohn- (Detlev von Larcher [SPD]: Nein, es ist für Sie
nebenkosten um ein vorrangiges Strukturproblem unangenehm!)
unserer Volkswirtschaft handelt und daß wir hier Das muß ich hier noch einmal sagen.
Prioritäten setzen sollten. Wir bieten an, die ökologi-
sche Steuerreform damit zu verbinden. Weiter zur Pflegeversicherung, Herr Lafontaine.
Meine Damen und Herren, wenn wir den Proble- Das ist nun auch wieder eine Geschichtsklitterung.
-
men ausweichen, stabilisieren wir vielleicht für eine Hätten Sie in den, weiß Gott, schwierigen Beratungen,
Zeitlang eine Koalition. Aber unserem Lande haben die sich über Monate und Jahre hingezogen haben,
wir damit nicht gedient. die Position durchgehalten und vertreten, daß die
Pflegeversicherung jedenfalls für die heute Pflegebe-
(Anhaltender Beifall bei der SPD — Beifall dürftigen und für die pflegenahen Jahrgänge steuer-
beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei finanziert werden müßte und daß für die jüngeren
der PDS) Jahrgänge ein Kapitaldeckungsverfahren aufgebaut
werden kann, dann hätten wir sehr schnell ein viel
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt besseres Modell gefunden.
der Fraktionsvorsitzende der F.D.P., Hermann Otto (Beifall bei der F.D.P.)
Solms.
(Freimut Duve [SPD]: Das war eine Pre Aber Sie sind ja von Ihren Grundüberlegungen
miere!) abgewichen, haben das beitragsfinanzierte System
von Herrn Blüm unterstützt, auch über die Bundeslän-
der, und damit ist diese Pflegeversicherung, wie wir
Dr. Hermann O tt o Solms (F.D.P.): Frau Präsidentin! sie heute haben, verabschiedet worden, und zwar im
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die einfüh- Bundestag genauso wie im Bundesrat. Sie haben
renden Worte von Herrn Lafontaine bringen mich zugestimmt, nicht nur wir.
dazu, von meinem Konzept abzuweichen
(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Der Bun
(Zustimmung bei Abgeordneten der SPD —
desrat hat sie noch verschlechtert!)
Freimut Duve [SPD]: Bravo!)
und auf die wirklich höchst unsoliden und unseriösen Sie haben zugestimmt, ganz persönlich.
Bemerkungen
(Beifall bei der F.D.P.)
(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Was? — Freimut
Duve [SPD]: Vorsitz!) Deswegen bitte ich: Machen Sie hier nicht so eine
zur Tätigkeit von Blockparteien und Blockparteimit- Fehldarstellung. So ist die Sache zustande gekom-
gliedern einzugehen. men.
Meine Damen und Herren, wir haben hier im Meine Damen und Herren, ich hatte eigentlich
Deutschen Bundestag die Enquete-Kommission „Auf- gedacht, wir sollten heute gejagt werden. Ich habe
100 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Dr. Hermann Otto Solms


von der Jagd noch nicht viel gemerkt, aber vielleicht mer und der Verwaltung — wegen der Verwaltungs-
kommt das noch. vereinfachung.
(Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Seien Sie doch (Zustimmung bei der F.D.P. — Detlev von
nicht so ungeduldig!) Larcher [SPD]: Gehen Sie doch einmal auf
das Argument ein!)
Das einzig Neue, was heute vorgetragen worden ist,
ist dieser so schnell, zügig und sachverständig Meine Damen und Herren, zur Steuerpolitik ist noch
zustande gekommene Koalitionsvertrag. Das ist es ja, einiges andere zu sagen, wenn ich an Ihre Klage
was Sie verwirrt hat: daß wir so schnell einen so denke, das Konzept läge nicht vor. Der Bundesfinanz-
weitreichenden Koalitionsvertrag zustande bringen minister hat mir gerade gesagt,
und die Regierungsbildung so problemlos gestalten (Freimut Duve [SPD]: Er arbeitet daran!)
würden, wie es gelungen ist.
daß in wenigen Wochen, noch in diesem Jahr oder
Es ist gut so, daß es gelungen ist. Was mich nur mindestens im Januar nächsten Jahres, das Konzept
irritiert — — vorgelegt wird.
(Freimut Duve [SPD]: Daß nichts drinsteht!) (Detlev von Larcher [SPD]: Er wollte es vor
dem Sommer machen!)
Wir stehen jetzt vor einer vierjährigen Periode. Alles
andere ist Wunschdenken. — Ich sage ja gerade, in den nächsten Wochen. Herr
Lafontaine, Sie haben dann wieder Gelegenheit, hier
(Freimut Duve [SPD]: Was irritiert Sie? Die herzukommen und dazu Stellung zu nehmen. Das ist
vier Jahre? Können wir verkürzen!) ja für Sie eine Chance und keine Belastung.
Wir stehen vor einer vierjährigen Periode .
(Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Und für Sie ein
Gewinn! )
(Freimut Duve [SPD]: Die vier Jahre sollten
Sie doch nicht irritieren!) Diese wenigen Wochen können wir abwarten; denn
das Gesetz muß ja bis Mitte nächsten Jahres verab-
Sie tragen im Bundesrat große Verantwortung, und es schiedet sein, damit es in der Verwaltung rechtzeitig
gibt Anlaß, in vielen Bereichen Möglichkeiten der eingearbeitet werden kann.
Zusammenarbeit zu eruieren.
(Detlev von Larcher [SPD]: Vor dem Sommer
Wenn ich bei der Finanzpolitik bleibe, so haben wir 1994 sollte das kommen!)
beispielsweise ein Angebot gemacht und im Koali-
tionsvertrag ausdrücklich festgeschrieben, daß dar- Meine Damen und Herren, jetzt stellt sich die Frage,
über mit den Ländern, mit den Kommunen und mit der ob Sie die Politik der grundsätzlichen Erneuerung
Wirtschaft gesprochen werden soll. Es geht um das unserer gesellschaftspolitischen Strukturen mitge-
Konzept einer durchgreifenden Gemeindefinanzre- - hen wollen oder nicht. Wollen Sie blockieren, oder
form mit dem Ziel der Abschaffung der Gewerbe- wollen Sie mitmachen? Seinerzeit unter Willy Brandt
steuer und damit einer erheblichen Steuervereinfa- ist die SPD als Reformpartei angetreten, um mehr
chung. Denn die beste Steuervereinfachung ist natür- Demokratie zu wagen. Heute hat sie sich zu dieser
lich die Abschaffung einer Steuerart. Strategie noch nicht durchringen können. Noch
beschränkt sie sich auf Ablehnung und Blockade. Das
Nun sollte man jetzt nicht polemisieren, Herr Lafon- wird aber nicht weit tragen. Das liegt natürlich daran,
taine, wie das gegenfinanziert wird, sondern sagen: daß die klaftertiefen Widersprüche in der SPD ausge-
Wir nehmen das Angebot an, setzen uns zusammen klammert werden müssen, weil Sie sich in der eigenen
und schauen, ob wir dieses Werk zuwege bringen. Partei auf eine solche Politik jedenfalls bis jetzt
nicht einigen können.
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der
CDU/CSU) (Beifall bei der F.D.P. — Detlev von Larcher
[SPD]: So einfach können Sie es sich nicht
Denn jeder, der sich in irgendeiner Weise mit einmal in der Grundschule machen!)
Wirtschafts- und Finanzpolitik beschäftigt, weiß doch,
daß die Gewerbesteuer, wie wir sie in der Bundesre- Das war auch nicht anders zu erwarten.
publik haben, äußerst beschäftigungsfeindlich ist. Sie (Beifall bei der F.D.P. — Joachim Poß [SPD]:
wirkt sich beschäftigungsfeindlich aus, weil sie die Herr Solms, Sie haben es bei dem Zustand
Investitionsfähigkeit der deutschen Wirtschaft ein- der F.D.P. gerade nötig, solche Bemerkun
schränkt. Deswegen muß sie beseitigt werden. Dazu gen zu machen!)
muß man ein neues Konzept finden. Weil dafür
voraussichtlich eine Verfassungsänderung notwendig Joschka Fischer, der wohl die Absicht hat, die
sein wird, bedarf es ohnehin Ihrer Mithilfe auch hier GRÜNEN in einem Schnellzug von der Fundamental-
im Bundestag, nicht nur im Bundesrat. opposition hin zur rechten Machtbeteiligung zu füh-
ren, hat sich heute so geäußert, daß er doch neidisch
Deswegen wäre es gut und vernünftig, wenn wir zur F.D.P. schielt und gerne unsere Position überneh-
zusammenkommen und sagen würden: Wir wollen men will.
uns hinsetzen und grundsätzlich und gründlich über-
legen, wie wir so eine für die Bundesrepublik drin- (Beifall bei der F.D.P. — Lachen beim BÜND
gend notwendige Reform zustande bringen können, NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne
übrigens im Interesse der Wirtschaft, der Arbeitneh ten der SPD)
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 101

Dr. Hermann Otto Solms


Das wird nicht passieren. Das kann ich Ihnen versi- Bei den Finanzen geht es darum, den Haushalt so zu
chern. gestalten, daß wir die Neuverschuldung reduzieren
können und die Steuerbelastung der Bürger abbauen
Wir haben kein gutes Wahlergebnis erzielt. Es war
können. Beides kann gelingen. Der Finanzminister
allerdings kaum schlechter als Ihres, zwei oder drei
hat gerade darauf hingewiesen, daß wir auf gutem
Zehntel, ich weiß es nicht. Aber wir haben die Lehre
Wege sind. Das entpricht auch dem, was vor 2000
verstanden. Wir sind dabei, zu einer grundsätzlichen
Jahren Marcus Tullius Cicero schon gesagt hat: Der
Erneuerung von Politik, Organisation und Personal
Staatshaushalt muß ausgeglichen sein, die öffentli-
des organisierten Liberalismus zu kommen.
chen Schulden müssen verringert, die Arroganz der
(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Behörden muß gemäßigt und kontrolliert werden.
Ich kann Ihnen zusagen, daß Sie mit uns rechnen (Beifall bei der F.D.P.)
müssen. Wir werden die Position in der Mitte des
Parteienspektrums, in der wir verwurzelt sind, nicht Recht hat der Mann! Man muß sich eben immer
aufgeben. wieder auf alte Lehren besinnen.
(Beifall bei der F.D.P.)
(Freimut Duve [SPD]: Eben war es die
Wir werden uns weder nach links noch nach rechts Erneuerung, und jetzt kommt Cicero! Also
bewegen, wenn schon, dann nur nach vorne in Rich- wirklich!)
tung Modernisierung und Erneuerung. Dazu sind wir
bereit, und dazu sind wir fest entschlossen. Deswegen Bei den Ausführungen von Herrn Fischer habe ich
bin ich zuversichtlich, daß wir wieder interessante und — genau wie bei den Ausführungen von Herrn
positive Entwicklungen in der F.D.P. vor uns haben. Lafontaine vor einigen Wochen — gemerkt, daß viele
das Funktionieren unseres Steuersystems gar nicht
Uns geht es jetzt um eine liberale Erneuerung der richtig verstehen. Wir haben einen progressiven Steu-
Gesellschaft. Wir wollen die Bürgerfreiheiten durch ertarif, der die Menschen so belastet, wie es ihrer
Förderung von Eigenverantwortung, Leistungsbereit- Leistungsfähigkeit, d. h. ihrer Einkommenssituation,
schaft, Kreativität und Mitmenschlichkeit sichern. Wir entspricht. Das ist eine Spannbreite zwischen gar
wollen uns vom Gedanken der Subsidiarität leiten keiner Besteuerung bei Geringverdienern über rund
lassen und dadurch staatliche Bevormundung zurück- 20 % Besteuerung beim Eingangssteuersatz bis hin zu
drängen. Kurz gesagt: Wir setzen auf den Menschen 60 % Besteuerung unter Einschluß des Solidarzu-
als Mittelpunkt unserer Bemühungen, auf seine Ver- schlages und der Kirchensteuer bei Vielverdienern.
nunft, sein Verantwortungsgefühl, seine schöpferi-
schen Fähigkeiten und seine Leistungsbereitschaft. (Zuruf von der SPD: Eine Verhöhnung ist
das!)
In diesem Sinne ist die Koalitionsvereinbarung ein
Dokument der Erneuerung Deutschlands für Freiheit, — Das ist keine Verhöhnung, das ist ein Faktum.
Fortschritt, Leistung und soziale Verantwortung. -
Gerade in diesen Punkten finden Sie immer wieder Wer das sieht, weiß eben, daß wir an dieser Steuer-
die liberale Handschrift. Darauf ist es uns angekom- schraube nicht weiterdrehen können, wenn wir die
men. Leute nicht dahin bringen wollen, die Leistung zu
(Beifall bei der F.D.P.) verweigern oder sich dieser Belastung zu entziehen.
Deswegen geht kein Weg daran vorbei, diese Bela-
Ich will nur auf einzelne Gesichtspunkte eingehen: stung zu senken. Das gilt auch für den Solidarzu-
schlanker Staat — ein urliberales Thema. schlag, der so schnell wie möglich abgebaut werden
(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) muß.

Seit langem wird davon geredet. Auch in der letzten (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
Legislaturperiode haben wir einige konkrete Be- ten der CDU/CSU)
schlüsse dazu gefaßt; ich erinnere an das Investitions-
Meine Damen und Herren, wir brauchen eine
erleichterungs- und Wohnbaulandgesetz. Das reicht
durchgreifende Modernisierung unserer Wirtschaft.
nicht aus. Wir müssen hier schneller und energischer
Die Wettbewerbsverhältnisse haben sich verschlech-
vorankommen.
tert und erschwert, nicht zuletzt durch den Wegfall
Dies muß in den Köpfen der Menschen, gerade des Eisernen Vorhangs. Wir haben es mit einem
derjenigen in der Verwaltung, beginnen. Die Verwal- brutalen Kostenwettbewerb zu tun. Wer unsere Wirt-
tung muß lernen, daß sie zur Dienstleistung am schaft stärken will, muß sie flexibler handeln lassen
Bürger und nicht zur Bevormundung des Bürgers können. Das gilt insbesondere für die kleinen und
berufen ist. mittleren Unternehmen, auf die es ja zentral
(Beifall bei der F.D.P.) ankommt, weil sie die Beschäftigung werden sicher-
stellen müssen; die großen werden ja über Rationali-
Wenn es uns gelingt, dies in die Köpfe einzupflanzen,
sierung weiter Personal entlassen, und das kann nur
dann können wir auch eine neue Politik gestalten.
von den kleinen und mittleren Gesellschaften im
Deswegen bedarf es dieser breiten gesellschaftspo- Dienstleistungsbereich, bei Handel, Handwerk und
litischen Diskussion. Denn wir machen keinen guten Gewerbe sowie bei den freien Berufen aufgefangen
Staat mit immer mehr Staat. Wir brauchen einen werden. Darauf müssen wir uns im Rahmen der
effizienten, leistungsfähigen und schlanken Staat, der Wirtschaftspolitik ganz besonders konzentrieren.
weiß, daß er eine dienende Funktion zu übernehmen Wenn wir sie nämlich nicht besser differenzieren und
hat. flexibler handeln lassen, bleiben wir gnadenlos in
102 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Dr. Herm an n Otto Solms


diesem Wettbewerb zurück. Das darf auf keinen Fall Sie gehört aber mit zu den wichtigsten Lebensgrund-
geschehen. lagen einer Gemeinschaft. Private und öffentliche
Förderung der Kunst erfolgt nicht, weil sie unterhalt-
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne-
same, vergnügliche Dinge zuwege bringt — auch das
ten der CDU/CSU)
tut sie und soll sie natürlich tun; man sollte das nicht zu
Das nächste Thema, um das es mir geht, ist das gering schätzen —, die Förderung der Kunst erfolgt,
Thema Umbau des Sozialstaates. Herr Kinkel hatte ja weil die Kreativität des Menschen das Herzstück
schon darauf hingewiesen, daß wir heute etwa 150 dessen ist, was wir unter Freiheit verstehen. Die
soziale Leistungen durch über 30 Behörden auszahlen Rahmenbedingungen für diesen liberalen Grundsatz
lassen. Kein Mensch in der Republik hat noch einen zu verbessern ist unser engagiertes Ziel.
Überblick darüber, was dort wirklich geschieht. Das (Abg. Freimut Duve [SPD] meldet sich zu
führt zwingend dazu, daß die Schlauen das System einer Zwischenfrage)
mißbrauchen und ausnützen, während die, die wirk-
lich bedürftig, aber nicht ganz so clever sind, nicht — Bitte schön.
einmal das bekommen, was ihnen zusteht. Das ist (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Das
nicht mehr erträglich. Dieses System führt eben auch Wort erteilt die Frau Präsidentin! — Freimut
zu sozialer Ungerechtigkeit. Wer mehr soziale Duve [SPD]: Darf ich Ihnen eine Zwischen
Gerechtigkeit im Sozialstaat will, muß sich dieser frage stellen?)
Reform, dem Umbau des Sozialstaats, stellen,
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Nein, Sie dürfen
ten der CDU/CSU) erst, wenn ich den Redner gefragt habe, ob er eine
damit er effizienter wird, damit er sozial gerechter Zwischenfrage zuläßt.
wird, damit die Bedürftigen das bekommen, was (Beifall bei der CDU/CSU)
ihnen zusteht, und damit der Übergang aus Lohner-
satzleistungen oder aus der Sozialhilfe hin in die
Beschäftigung gleitender und mit weniger Widersprü- Freimut Duve (SPD): Frau Präsidentin, darf ich eine
chen gelingen kann, so daß es immer einen Anreiz Zwischenfrage stellen? — Herr Kollege, Sie haben
gibt, eine ordentliche Beschäftigung am ersten eben Kunst und Kultur sehr lobend erwähnt. Darf ich
Arbeitsmarkt aufzunehmen. Dafür haben wir unser daraus entnehmen, daß sich die F.D.P.-Fraktion,
Bürgergeldsystem angeboten; das muß noch einmal obwohl dieser Bereich in der Regierungserklärung
genau überprüft werden. Man muß auch einen Stu- weggefallen ist, in besonderer Weise zur Wiederher-
fenplan entwickeln, wie man zu mehr Transparenz stellung der Bundesfinanzierung einsetzen wird?
und zu mehr Kontrollierbarkeit des Sozialstaates
kommt. Das ist ein Angebot, und das ist eine Aufgabe, Dr. Hermann Otto Solms (F.D.P.): Sie wissen ja, daß
der wir uns keinesfalls entziehen dürfen. wir die sogenannte Leuchtturmliste beschlossen
-
Ein weiterer Punkt ist die stärkere Betonung von haben, zugunsten der besonders herausragenden
Bildung, Forschung und Kultur in unserem Lande. Kulturdenkmäler in den neuen Bundesländern. Dar-
Das ist ein Thema, das gerade im Bund — weil er hier über hinaus wollen wir uns bemühen, das Stiftungs-
nur teilweise und begrenzt zuständig ist — häufig recht im Sinne der besseren Kulturförderung zu ver-
unter den Tisch fällt. Wir müssen uns der Bildungs- bessern, damit auch mehr privates Kapital für die
politik stärker annehmen, denn die Bildung ist Grund- Finanzierung kultureller Dinge bereitgestellt wird.
lage der Zukunft für unsere jungen Leute. Je besser sie (Beifall bei der F.D.P.)
ausgebildet sind — je vielfältiger, je moderner —,
desto leistungsfähiger und wettbewerbsfähiger wird Das ist vereinbart, muß aber natürlich konkretisiert
die Gesellschaft in Zukunft sein. Deswegen dürfen wir werden. Die „Leuchtturmliste" — Sie kennen sie
das auf gar keinen Fall vernachlässigen. sicher — ist konkret.
(Freimut Duve [SPD]: Das ist eine Leucht
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)
wurmliste geworden!)
Dabei geht es uns insbesondere darum, eine Gleich- — Nun, das fällt immerhin eigentlich in die Hoheit der
behandlung von beruflicher, allgemeiner und Hoch- Länder. Wir leisten hier Zusätzliches.
schulbildung zu erreichen. Die berufliche Bildung
wird leider schlechter behandelt und diskriminiert. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. —
Sie wird nicht in dem Maße in den Mittelpunkt der Ulrich Irmer [F.D.P.]: Das ist doch toll gewor
Bemühungen gestellt, wie es notwendig wäre. den! Das müssen Sie zugeben, Herr Duve!)
Meine Damen und Herren, Gesetz und Ordnung
(Zuruf von der SPD: Also, was wollt ihr sind in unserem Staatswesen kein Selbstzweck. Ihren
machen?) Rang und ihre Würde erhalten sie dadurch, daß sie die
In unserer Verfassung ist von Kunst nur einmal die Voraussetzung für ein freies geistiges, politisches,
Rede: In Art. 5 Abs. 3 des Grundgesetzes ist festgelegt, soziales und wirtschaftliches Leben schaffen. Denn
daß die Kunst frei ist. Das ist auch alles, was ein einer verbreiteten Vorstellung von Freiheit zum Trotz
freiheitlich-demokratischer Staat über das Verhältnis sind Freiheit und Schrankenlosigkeit nicht dasselbe.
von Staat und Kunst festlegen kann. Jedes Wort mehr Sie kann nur in einem Klima gedeihen, das von
wäre von Übel. Aber in einer Demokratie sollte es Toleranz und Verantwortung bestimmt ist. Auch
keine geistige Trennung zwischen Kunst, Staat und innere Sicherheit und persönliche Freiheit gehören
Gesellschaft geben, denn dann gibt es keine Kultur. zusammen.
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 103

Dr. Hermann Otto Solms


Deshalb wollen wir mit allem Nachdruck die Politik muß ein Rechtsanspruch auf Einbürgerung beste-
und den Vollzug der Verbrechensbekämpfung ver- hen.
bessern, allerdings ohne die Grundrechte, die Persön- Sorgen allerdings bereitet unseren Mitbürgern der
lichkeitsrechte in unserer Verfassung einzuschrän- gewaltige S trom an Zuwanderung in den letzten fünf
ken. Ich glaube, daß man bis zu dieser Schranke der Jahren; denn jedes Land hat eine gewisse Kapazität
Einschränkung der Grundrechte noch vieles tun kann für Integration und Aufnahme.
und wir zunächst die erheblichen Vollzugsdefizite, die
wir bei Polizei und Justiz haben, schließen sollten,
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege,
bevor man überhaupt über einen solchen Schritt
nachdenkt. Das ist die für uns entscheidende Ihre Redezeit geht zu Ende.
Maxime.
Dr. Hermann O tt o Solms (F.D.P.): Vielen Dank. Ich
In diesem Sinne möchte ich auch etwas zu dem
komme zum Schluß, Frau Präsidentin.
Argument von Herrn Scharping in bezug auf das
Geldwäschegesetz sagen: Wenn wir genügend Erfah- Hier müssen die Regeln des Asylrechts in aller
rungen damit haben — es ist ja erst zwei Jahre in Strenge angewendet werden. Auch darauf will ich
Kraft —, dann werden wir überprüfen, ob das geän- hinweisen.
dert und verbessert werden muß. Das haben wir in der Meine Damen und Herren, Sie sehen: Wir werden
Koalitionsvereinbarung verabredet. Das heißt aber uns nicht, wie zu lesen und zu hören war, zufrieden
nicht, daß man gleich dazu übergehen muß, Art. 14 zu zurücklehnen, sondern wir haben uns ein sehr ambi-
ändern, die Eigentumsgarantie in Frage zu stellen, tioniertes Programm gesetzt. Wir werden in vier
und Vermögensbeschlagnahme schon im bloßen Ver- Jahren — davon bin ich überzeugt — Rechenschaft
dachtsfalle durchführen kann. Meine Damen und über eine Politik der Reformen und des Fortschritts
Herren, wer dazu übergeht, der stellt natürlich unsere ablegen können, die unserem Volk den Schritt in die
verfassungsrechtliche Ordnung auf den Kopf. Zukunft mit Zuversicht ermöglicht. Wir laden Sie,
insbesondere die SPD, ein, bei dieser Politik mitzuwir-
(Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Dr. Ru
ken; denn Sie haben über Ihre Mehrheit im Bundesrat
pert Scholz [CDU/CSU])
entsprechende Verantwortung. Wir können viele
Im bloßen Verdachtsfalle — selbst im Falle eines Dinge nur gemeinsam tun; wir sollten sie aber auch
begründeten Verdachts — zur Vermögensbeschlag- gemeinsam tun.
nahme zu greifen, bedeutete eine Änderung unserer Vielen Dank.
Grundrechte, ein Angriff auf die Eigentumsgarantie,
was ich nicht mittragen könnte. Hier muß man eben (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
immer abwägen, welchen Schritt zu gehen man bereit
ist. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt
der Abgeordnete Ludger Volmer.
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Dies gilt -
auch für unsere Mitbürger mit anderen Nationalitä-
ten. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Interes-
(Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Joseph santeste, Herr Solms, an Ihrer Rede fand ich, daß Sie
Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ sich bei der Zitierung der lateinischen Klassiker der
NEN]) „Zizero"- und nicht der „Kikero " -Schule zugeschla-
Wir haben diese Menschen eingeladen, zu uns zu gen haben. Das ist ein wichtiger Ansatzpunkt zwi-
kommen. Sie haben Anteil daran, daß unser Zuhause schen GRÜNEN und F.D.P., wahrscheinlich aber auch
funktioniert. Sie tragen zu unserem Wohlstand, unse- der einzige. Denn die Ausführungen, die Sie zum
rer starken deutschen Wirtschaft, unserem Sozialpro- Liberalismus gemacht haben, teilen wir überhaupt
dukt bei. Sie zahlen Steuern, sie leisten Sozialabga- nicht.
ben für unser ganzes System. Sie leben also mit ihren (Dr. Werner Hoyer [F.D.P.]: Da sind wir aber
Familien mitten unter uns. froh!)
Für ihr Lebensgefühl hat es ein elementares Wir sind mittlerweile die Partei, die die Menschen
Gewicht, wie sich ihre staatsbürgerliche Stellung angesprochen hat, die für Menschenrechte, für Bür-
entwickelt. gerrechte, für Minderheitenrechte und für Frauen-
rechte eintritt.
(Freimut Duve [SPD]: Sehr richtig!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Für sie ist von Bedeutung, eines Tages endlich die
Empfindung loszuwerden, nur mitarbeitende Bürger Diese Menschen haben wir gesammelt, und sie wer-
zu sein. Wir müssen uns weiter für ihre Integration und den wir nicht mehr hergeben. Ihren unsozialen Wirt-
Gleichberechtigung einsetzen. Das haben wir ja auch schaftsliberalismus mögen Sie behalten; da gibt es
in den Koalitionsvereinbarungen festgeschrieben, keine Anknüpfungspunkte. Wir werden uns ener-
auch wenn das, so sage ich freimütig, nicht so weit gisch dagegen einsetzen. Ich kann Ihnen sagen: In
geht, wie wir uns das gewünscht haben. Aber es geht dieser Frage werden wir Fundamentalisten bleiben.
weiter, als es vorher der Fall war. Wir wollen nach wie vor den Globus und nicht die
F.D.P. vor dem Untergang retten.
(Beifall bei der F.D.P.)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN —
Es ist richtig, was Herr Schäuble gesagt hat: Für Dr. Hermann Otto Solms [F.D.P.]: Das hat
lange Zeit und dauerhaft hier wohnende Ausländer auch niemand verlangt!)
104 Deutscher Bundestag — 13. Wahlpe riode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Ludger Volmer
Zurück zur Außenpolitik. Wir alle vermuten, daß die Deutsche Interessenwahrung gegenüber den Ent-
Bundesregierung auch Außenpolitik betreiben will. Das wicklungsländern. Das steht im Koalitionsvertrag.
entnehmen wir zwar nicht der Koalitionsvereinbarung Nicht deren Schulden aus der Entwicklungshilfe und
oder der Regierungserklärung. Ein Indiz dafür könnte den Hermes-Krediten will die Regierung erlassen,
aber sein, daß der Bundeskanzler einen Außenminister nicht Armut will sie bekämpfen, nicht selbsttragende
ernannt hat. Was dieser wirklich will, wissen wir auch Entwicklungen fordern, nicht den europäischen
nach seiner Rede noch nicht so genau. Aber auf der Markt für Produkte des Südens öffnen, nein, selbst
Grundlage einzelner Versatzstücke, die man in den den Ärmsten der Armen gegenüber hat sie nur das
letzten Monaten vernehmen konnte, könnte man Ziel der deutschen Selbstbehauptung. Und auch dafür
zumindest einige Mutmaßungen anstellen. will sie Europa instrumentalisieren — Zitat aus dem
Vertrag —:
Beginnen wir mit der Frage — das ist eine theoreti-
sche Frage —: Was müßte eine Regierung tun, um,
ohne öffentliches Aufsehen zu erregen, unter dem Die EU muß als Instrument zur Stärkung einer
Deckmantel deutscher Normalisierung eine neue, solchen Ordnung, insbesondere auch über die
national orientierte, militärgestützte Außenpolitik Welthandelsorganisation (WTO), konsequent
durchzusetzen? Sie könnte das nicht mehr als einzel- eingesetzt werden.
ner Nationalstaat tun — diese Zeiten sind vorbei —,
wohl aber im Tandem mit einem anderen, der auf Meine Damen und Herren, früher nannte man so
nationale Größe Wert legt, am besten mit einem etwas schlicht Imperialismus.
Atomstaat, z. B. mit Frankreich. Neben diesem Land
müßte ein ständiger Sitz im Weltsicherheitsrat ange- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
strebt werden. Zusammen könnten sie sich zum Kern- sowie bei Abgeordneten der SPD und der
europa erklären, das für den Rest des Kontinents den PDS)
Takt angibt. Gemeinsam müßten sie die Anker eines
eigenen westeuropäischen Militärsystems bilden. Die Wo ausschließlich eigene Interessenvertretung
Streitkräfte müßten so umstrukturiert werden, daß sie handlungsleitend ist, müssen wir befürchten, daß die
nicht nur der Landesverteidigung dienen, sondern Bundesregierung die Menschenrechtsfrage miß-
weltweit intervenieren können. Um überall operieren braucht, um einem historisch überholten Militär
zu können, müßten die Luftlandekapazitäten ausge- neuen Sinn zu geben. Man wird den Eindruck nicht
baut werden. Ein als Flugzeugträger und Landungs- los, wenn immer ein regionaler Konflikt entsteht, fragt
schiff verwendbares Mehrzweckschiff könnte der die Bundesregierung nicht, wie dieser zu lösen sei,
Partner bauen, während man selber die Flugzeuge sondern wie sich die Bundeswehr beteiligen könne.
dazu beisteuert. In den eigenen verteidigungspoliti- Mit dieser Haltung aber wird die notwendige Diskus-
schen Leitlinien müßte als Ziel die Sicherung von sion um eine moderne Sicherheitspolitik zunichte
Rohstoffen und Handelswegen genannt werden.
- gemacht. So mancher würde sich durchringen kön-
Wer nun glaubt, dies alles seien Phantasiegebilde, nen, auch einer deutschen Beteiligung bei friedenser-
der irrt. All dies sind Elemente der Koalitionspolitik, so haltenden Maßnahmen der UNO oder bei der Über-
wie sie in einzelnen Äußerungen führender Mitglie- wachung von Embargomaßnahmen zuzustimmen,
der in den letzten Monaten zum Ausdruck kamen. wenn er nicht mit der berechtigten Furcht konfrontiert
Wenn man genau hinschaut, findet man vieles davon wäre, dies sei nur der Türöffner für eine militärge-
im Koalitionsvertrag wieder, vor allem in seinen stützte deutsche Großmachtpolitik.
Weglassungen. Auf der einen Seite ist er so konkret,
daß er ein ganzes Kapitel zu der Selbstverständlich- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
keit enthält, daß der Bundestag über Entwürfe von sowie bei Abgeordneten der SPD und der
Vorschriften der Europäischen Union unterrichtet PDS)
werden muß. Na bravo! Auf der anderen Seite findet
man dort aber nicht ein einziges Wort zur Durchset- Friedenserhaltende Maßnahmen und Sanktionsüber-
zung der Menschenrechte — auch das ist eine Aus- wachung brauchen extra ausgebildete und in Kon-
sage —, kein ernstzunehmendes Wort über die Besei- fliktvermittlung trainierte Einheiten. Die Bundeswehr
tigung weltweiten Unrechts. taugt dazu nicht.
Schauen wir uns die Nord-Süd-Politik an. Das
Schlußkapitel des Vertrages enthält dazu Aussagen, Statt zu fragen, welche neuen sicherheitspolitischen
wie sie allsonntäglich von bayerischen Kanzeln ver- Instrumente wir angesichts der veränderten global
kündet werden. Der konkrete Gehalt erschließt sich politischen Lage brauchen, wird gefragt, welche Auf-
gaben wir für die bestehende Militärstruktur erfinden
erst bei einem Blick auf die Handelspolitik. Kein Wort
ist dort über eine ökologische und solidarische Umge- können. Damit wird die einmalige historische Chance,
staltung der Weltwirtschaft zu finden. Im Gegenteil. die das Ende der strategischen Zweiteilung der Welt
Man findet — wenn man das Wortgeklingel weg- bietet, leichtfertig verspielt. Nach dem Ende der
läßt — den bemerkenswerten Kernsatz — ich zitiere —: atomaren Vernichtungsdrohung müßten doch alle
Kräfte eingesetzt werden, um zu einer umfassenden
Ein offenes, multilateral geordnetes System des multilateralen Abrüstung zu gelangen, zu Sofortmaß-
Welthandels bleibt der beste Rahmen zur Wah- nahmen wie einem Atomteststopp, einer Verlänge-
rung der weltweiten Interessen der deutschen rung der Nichtverbreitung von Atomwaffen, der
Wirtschaft ... auch im Verhältnis zu den Entwick- Beseitigung aller biologischen und chemischen Waf-
lungsländern. fen, einer Reduzierung der Truppenstärke, der Ver-
Deutscher Bundestag — 13. Wahlpe riode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 105

Ludger Volmer
nichtung aller taktischen Atomwaffen in Europa. Das gesagt, eine Angelegenheit für die Geschichtsbücher.
fordern wir. Auch Herr Kinkel tönte so. Eine Woche vor der Wahl
aus Profilgründen sein Kurswechsel: Plötzlich ent-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
deckte er die KSZE. — Nun steht sie im Koalitionspa-
Es muß nach Sicherheitsmodellen gesucht werden, pier, leider nur an die Idee der NATO-Erweiterung
die nicht neue Blockkonfrontationen heraufbeschwö- angehängt, den Militärstrategien nachgeordnet. Den-
ren, sondern die Gegner von einst mit dem Ziel der noch sehen wir dies als Bestätigung unserer Auffas-
Nichtangriffsfähigkeit unter einem Dach vereinen. Es sung, daß sich eine moderne Sicherheitspolitik über
muß nach Methoden der Konfliktvorhersage, nach die KSZE verwirklichen muß.
Frühwarnsystemen, nach nichtmilitärischer Konflikt-
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS
regelung und, wo Zwang denn notwendig werden
SES 90/DIE GRÜNEN)
sollte, nach nichtmilitärischen Formen gesucht wer-
den. Warum wird nicht dieselbe Intelligenz, politische Statt diese Chancen zu sehen, verkrampft sich die
Energie, Finanzkraft und strategische Planung, wie Bundesregierung in dem Versuch, nationale Interes-
sie eine Militäroperation erfordert, in Wirtschafts- sen zu definieren. Als sei nicht die Idee der Nation
sanktionen investiert? Sie wären wahrscheinlich selbst historisch überholt! Dabei hat ihr Beharren auf
höchst effektiv. Praktisch aber werden Sanktionen so der Idee des Nationalen schon so furchtbare Folgen
lasch gehandhabt, als wolle man ihr Scheitern gera- gehabt.
dezu demonstri eren, um endlich wieder Waffen ein- Heute stehen wir fassungslos vor den Geschehnis-
setzen, um Waffen so lange in Nichtspannungsgebiete sen in Bihač, wo sich die Barbarei nackter Nationalis-
exportieren zu können, bis sie zu Spannungsgebieten men entlädt, in einem Staatsgebiet, das eigentlich
werden. multikulturellen Charakter tragen könnte. Wenn aber
In Deutschland hängen nur noch 140 000 Arbeits- heute die Serben in ihrem nationalistischen Wahn
plätze direkt von der Rüstungsproduktion ab. Warum unfaßbare Greueltaten begehen, dann hat das auch
wird diese Branche nicht geschlossen? Weil die damit zu tun, daß die Nationalstaatsbildung als
Rüstungsfirmen gleichzeitig die vom Staat am meisten Lösungsmodell für den Jugoslawienkonflikt von deut-
geförderten Forschungseinrichtungen sind. Warum scher Seite mit befördert worden ist.
legt die Bundesregierung nicht ein umfassendes Kon- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS
versionsprogramm auf, das die Technologieentwick- SES 90/DIE GRÜNEN)
lung nicht an die Bedürfnisse der Militärs bindet, Das war Wasser auf die Mühlen der ohnehin national
sondern an die der Umweltschützer und Ökologen? denkenden Serben. Wenn heute niemand mehr so
Weil sie immer noch nicht begriffen hat, daß die recht weiß, was noch zu tun ist, wenn alle Seiten dieses
größten Gefahren, die der Menschheit drohen, aus der Hauses sich im Entsetzen und im Abscheu einig sind,
negativen Wechselwirkung von Armut und Umwelt- dann sollten sie sich auch einig sein, die einzig
zerstörung, Hunger und Flucht resultieren. Auch die mögliche Lehre zu ziehen, nämlich daß Nationalismus
Kriege der Zukunft, die Kriege in der Dritten Welt nie eine Lösung ist, sondern immer das Problem.
werden hier ihre Ursache haben. Wir halten dagegen: -
Wer heute statt in Rüstung in die natur- und kulturan- Danke.
gepaßte Technologieentwicklung investiert, braucht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
morgen keine Zinksärge für die eigenen Kinder, die er sowie bei Abgeordneten der SPD — Beifall
in den Krieg geschickt hat, um die Folgen seiner bei der PDS)
Fehlentscheidungen zu beseitigen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt
bei der PDS sowie bei Abgeordneten der der Abgeordnete Dr. Alfred Dregger.
SPD)
Auch in der wichtigsten strategischen Frage, näm- Dr. Alfred Dregger (CDU/CSU): Frau Präsidentin!
lich der nach der Rolle von NATO und KSZE hat die Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Gestat-
Bundesregierung keine Antwort. Der Verteidigungs- ten Sie mir, daß ich am Beginn einer neuen Legislatur-
minister drängt auf die Osterweiterung der NATO, bis periode einige Gedanken vortrage, die mir wichtig
er sogar von seinem amerikanischen Kollegen erscheinen.
gebremst wird. Und der Außenminister schweigt. Wer
macht in dieser Regierung eigentlich die Außenpoli- Das vereinigte Deutschland ist verläßlicher Verbün-
tik: die Militärs oder die Zivilisten? Wie stark kann deter des Westens und zugleich geschätzter und
eigentlich ein Außenminister sein, der sich als Vorsit- gesuchter Partner des Ostens. Mit all unseren Nach-
zender einer untergehenden Partei nur soeben in eine barn, auch im Norden und im Süden, unterhalten wir
politische Weiterexistenz retten konnte? freundschaftliche Beziehungen. Das hat es in der
deutschen Geschichte noch nie gegeben. Es ist das
Die Diskussion über die KSZE macht dies deutlich, Ergebnis deutscher Politik von Konrad Adenauer bis
Herr Kinkel. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben Helmut Kohl.
Monate vor der Wahl gefordert, daß die KSZE zum
neuen politischen Kern eines Systems kollektiver (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der
Sicherheit werden müsse, das die alten Militärstruk- SPD: Willy Brandt!)
turen ablöst. Hohngelächter haben wir geerntet, nicht Unsere Nachbarn verbinden mit ihren gutnachbar-
nur wegen unserer Utopie einer zivilen Außenpolitik, lichen Beziehungen zu Deutschland zunehmend
auch weil wir die KSZE überhaupt wieder ins Hoffnung für sich selbst, Hoffnung in einem Ausmaß,
Gespräch brachten. Sie sei doch längst tot, wurde uns wie es vor Jahren noch nicht zu erwarten war
106 Deutscher Bundestag — 13. Wahlpe riode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Dr. Alfred Dregger


Deutschland nicht mehr als Bedrohung, sondern als Bürger erkennbar werden, daß die Europäische Union
Hoffnungsträger seiner Nachbarn? In gewissem nicht zu Lasten ihrer Nationalstaaten verwirklicht
Umfang sind wir es; wir sind es auf Gegenseitigkeit. wird, die ihnen Schutz, Geborgenheit und Identität
Auch wir verbinden damit Hoffnungen und Erwartun- geben, sondern zu deren Nutzen und Ergänzung.
gen an unsere Nachbarn.
Meine Damen und Herren, Nationalstaat und Euro-
Bei dieser außerordentlichen Verflechtung der päische Union widersprechen sich nicht. Zusammen
Beziehungen und Interessen ist es wichtig, daß wir uns sind sie das Modell der Zukunft. Das sollte unsere
in die Lage unserer Nachbarn versetzen können und Botschaft in der Europadebatte sein.
diese sich in die unsrige. Auch wenn die Entscheidun-
gen auf nationaler Ebene getroffen werden, die Aus- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
wirkungen werden auch die anderen mitzutragen ordneten der F.D.P.)
haben. Deswegen meine ich: In dieser Lage hat jeder Meine Damen und Herren, im Laufe dieser Legisla-
nicht nur mit dem eigenen Kopf, sondern auch mit turperiode werden wichtige Entscheidungen darüber
dem Kopf des Nachbarn zu denken. getroffen, ob, wann und wie die Staaten Ostmitteleu-
Meine Damen und Herren, Grundlage unserer ropas einschließlich der baltischen Staaten Vollmit-
Europapolitik ist und bleibt unser Zusammengehen glieder der Europäischen Union werden. Es liegt nicht
mit Frankreich. Es schützt uns vor der Gefahr der nur im deutschen, sondern auch im europäischen
Isolierung, die in der ersten Hälfte des Jahrhunderts Interesse, daß das geschieht und daß es bald
unser Schicksal gewesen ist. Solange Frankreich an geschieht. Schwebezustände führen zu Instabilität.
unserer Seite steht, kann es eine Gleichgewichtspoli- Sicherheit wollen und können diese Staaten nur
tik unseligen Angedenkens gegen Deutschland als durch ihre Zugehörigkeit zum Westen finden. Die
dem wirtschaftlich stärksten Staat Europas nicht mehr NATO zögert bisher, sie aufzunehmen. Das ist gefähr-
geben. Die deutsch-französische Sonderbeziehung lich, nicht nur für diese Staaten selbst, sondern für
kann aber nur Bestand haben, wenn sie europabezo- ganz Europa. Denn ihre Unsicherheit wäre auch die
gen, und zwar auf das ganze Europa bezogen, bleibt. unsrige.
Auch Großbritannien, Italien, Spanien, Polen, Ungarn
Deshalb sollte meines Erachtens Europa selbst aktiv
und die anderen sind selbstverständlich wichtige
werden und diesen Völkern eine konkrete Perspek-
Partner für uns.
tive bieten, nicht nur für ihren Beitritt zur Europäi-
Neben Paris ist Washington unsere wichtigste schen Union, sondern auch zur gemeinsamen Sicher-
Adresse. Die USA waren diejenigen, die uns bei der heit des Westens. Die politische Anbindung der Staa-
Wiedervereinigung ohne jeden Vorbehalt unterstützt ten Ostmitteleuropas an die Europäische Union ist
haben. Sie haben sich als stark und verläßlich erwie- meines Erachtens noch wichtiger als die ökonomische
sen. Einen solchen Verbündeten muß man pflegen; Anbindung.
denn er wird nicht zu ersetzen sein. Auch deshalb sage
ich: Es kann keine europäische Konstruktion geben, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
-
die die Allianz mit den USA ersetzen könnte. Im übrigen hängt eines vom anderen ab. Erst wenn die
Sicherheit gewährleistet ist, werden die Investoren
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
kommen, vorher nicht.
ordneten der F.D.P.)
Meine Damen und Herren, Europa braucht außer
Unsere Beziehungen zu Moskau sind anderer Art,
einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik
aber ebenfalls von größter Bedeutung. Wir müssen
auch eine gemeinsame Wirtschafts- und Währungs-
Rußland helfen, damit es die Chance hat, seine jetzige
politik. Das jetzt geltende Europäische Währungssy-
Krise zu überwinden. Wir Deutsche tun in dieser
stem (EWS) ist meines Erachtens besser als sein Ruf. Es
Hinsicht mehr als alle anderen zusammen.
hat den Vorteil, daß unterschiedliche Inflationsraten
Aber ebenso klar ist: Wir Deutsche könnten nicht in Europa durch Auf- und Abwertungen aufgefangen
damit einverstanden sein, wenn Rußland den ostmit- werden können. Die Einführung einer europäischen
teleuropäischen und den baltischen Staaten als Hege- Einheitswährung setzt meines Erachtens voraus, daß
monialmacht gegenübertreten wollte. Das widersprä- die Produktivitäts- und Stabilitätsunterschiede zwi-
che geschlossenen Verträgen und würde im zusam- schen den europäischen Volkswirtschaften mehr als
menwachsenden Europa jedes Vertrauen zerstören. bisher einander angeglichen sind.
Rußland ist seit dem nordischen Krieg Anfang des Auch unsere Partner werden verstehen, daß wir
18. Jahrhunderts europäische Großmacht. Es war als Deutsche nicht bereit sind, auf unsere stabile Wäh-
solche an allen gesamteuropäischen Entscheidungen -rung zu verzichten. Wir sind aber bereit, die D
beteiligt. Das wird so bleiben. Wir können und wollen Mark-Prinzipien der Geldwertstabilität auf ganz
die europäische Friedensordnung daher nicht gegen, Europa auszudehnen, wenn unsere Partner es wollen
sondern mit Rußland bauen. und bereit sind, die Konsequenzen zu tragen, die
damit verbunden sind. Wie hervorragend diese Prin-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
zipien sind, hat sich in diesen Monaten gezeigt.
ordneten der F.D.P.)
Unsere D-Mark ist unter der Belastung des Aufbaus
In der Demokratie wird politisches Bewußtsein vor Ost nicht weich, sondern noch härter geworden.
allem durch die öffentliche Auseinandersetzung ver-
mittelt. Deshalb brauchen wir eine große öffentliche (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Debatte über Inhalt, Ziel und Weg der europäischen Deshalb werden wir an den im Vertrag von Maas-
Integration. Darin muß meines Erachtens für unsere tricht vereinbarten Stabilitätskriterien mit aller Ent-
Deutscher Bundestag — 13. Wahlpe riode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 107

Dr. Alfred Dregger


schiedenheit festhalten. Sie aufzuweichen würde Eine ähnliche Dankesschuld empfinde ich auch
nicht nur uns, sondern allen Beteiligten schaden. Ich gegenüber Joseph Rovan, einem in Berlin aufgewach-
glaube, mit Herrn Ministerpräsidenten Lafontaine in senen Franzosen, der als Jude Dachau überlebt hatte
diesem Punkt einer Meinung zu sein. und dennoch schon 1945 dazu bereit war, im Auftrag
der französischen Regierung ein Hilfsprogramm
Meine Damen und Herren, es gibt neben dem gegen die schreckliche Not der deutschen Kriegsge-
politischen und ökonomischen noch einen dritten fangenen in den Rheinwiesen-Lagern durchzuführen.
Grund, warum gerade wir Deutschen auf Europa Dieser Franzose und Europäer, emeritierter Professor
angewiesen sind. Meines Erachtens ist er der wichtig- für Geschichte an der Sorbonne, war der würdige
ste. Frieden für Deutschland gibt es nur — das zeigt Festredner auf der zentralen Gedenkfeier am 17. Juni
die Geschichte — im europäischen Verbund. 1993 zum 40. Jahrestag des Volksaufstandes vom
Deutschland liegt in der Mitte. Es ist wirtschaftlich und
17. Juni 1953. Rovan hat in seiner Rede, die ich
sozial stärker als jeder seiner Nachbarn. Es hat mit
insbesondere Herrn Abgeordneten Heym zur Lektüre
Ausländern mehr als 80 Millionen Einwohner. In empfehlen möchte, die Freiheitskämpfer des 17. Juni
Frankreich sind es mit Ausländern 57,5 Millionen, in in eine Reihe gestellt mit jenen, die 1814 gegen die
Großbritannien 57,8 Millionen. Dieser Größenunter-
Despotie Napoleons aufgestanden sind; er hat sie
schied macht uns bei unseren Nachbarn nicht belieb- verglichen mit den demokratischen Freiheitskämp-
ter. Hinzu kommen die Lasten der Vergangenheit, die fern von 1848 und mit den Widerstandskämpfern des
sich unschwer gegen Deutschland instrumentalisie-
20. Juli 1944, die Deutschland von Hitler befreien
ren lassen. Wenn Deutschland nicht im europäischen
wollten.
Verbund lebte, könnte sich wiederholen, was in der
ersten Hälfte unseres Jahrhunderts geschehen ist. Joseph Rovan schloß seine Rede mit der Feststel-
Daher sage ich: Friede, Freiheit, Sicherheit, Wohl- lung — ich zitiere ihn —:
stand — all das geht nicht ohne Europa. Wäre die
Politische Union Europas, die wir jetzt bauen, schon zu Die Frauen und Männer des 17. Juni sind damit in
Beginn des Jahrhunderts entstanden, dann wären uns die Reihen derer getreten, denen das deutsche
— davon bin ich überzeugt die beiden Weltkriege Volk es verdankt, daß es in Ehren weiterleben
erspart geblieben. kann.
(Beifall bei der CDU/CSU)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Meine Damen und Herren, in Ehren weiterleben zu
Europapolitik ist daher vor allem Friedenspolitik. können, das scheint mir das Wichtigste für den
Bestand und die Zukunft der deutschen Nation zu
1995 wird das Ende des Zweiten Weltkrieges
50 Jahre zurückliegen. Der Bundeskanzler hat heute sein.
morgen daran erinnert. Ich gehöre zu den letzten in Die Maximen von Joseph Rovan sollten wir uns zu
diesem Hause, die diesen Krieg als Frontsoldaten eigen machen. Mir geht es, wenn ich mich dafür
mitgemacht haben. Ich bin Angehöriger des Jahr- einsetze, nicht um die Vergangenheit, sondern um die
gangs 1920, eines Jahrgangs, der schon wegen seines Zukunft unseres Volkes. Denn kein Volk erträgt es,
damaligen Lebensalters Hitler nicht gewählt hat, der immer nur an den dunklen Seiten seiner Geschichte
aber von Hitler in den Krieg geschickt wurde. Über die gemessen zu werden.
Hälfte dieses Jahrgangs ist gefallen. Als Vertreter der
Kriegsgeneration, die auch die Generation war, die (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
Deutschland nach dem Krieg wiederaufgebaut hat, DIE GRÜNEN]: Na ja!)
möchte ich sagen: Niemand hat das Recht, den deut-
— Sie können das aushalten, Herr Fischer; aber kein
schen Soldaten des Zweiten Weltkrieges pauschal die
Volk würde das aushalten, auch das unsrige nicht.
Ehre abzusprechen.
Deshalb sage ich: Unsere Geschichte hat nicht
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
zwölf, sondern 1 200 Jahre gedauert. Was in diesen
der F.D.P.)
1 200 Jahren auf nahezu allen Gebieten in auf bauen-
Das wäre nicht nur ungerecht, sondern würdelos. Es der Weise geleistet wurde, darauf können wir Deut-
würde in extremem Gegensatz zu dem stehen, was die sche ebenso stolz sein wie auf das, was wir zur Zeit als
Gründer unserer Republik, Konrad Adenauer, Kurt freier, demokratischer Staat für Europa und die Welt
Schumacher und Theodor Heuss, dazu gesagt haben. leisten.
Auch unsere ehemaligen Kriegsgegner sehen das (Beifall bei der CDU/CSU)
nicht anders.
Zum Schluß ein Wort zum Zusammenwachsen der
Anläßlich der „Abmeldung" der letzten russischen Nation im vereinten Deutschland. Wir sind in man-
Soldaten aus Deutschland, an die der Bundeskanzler chen unserer Auffassungen noch sehr verschieden,
ebenfalls erinnert hat, sagte Präsident Jelzin am was kein Wunder sein kann, da wir in vielen Jahr-
31. August dieses Jahres in Berlin, Hitler habe die zehnten ganz unterschiedliche Erfahrungen gemacht
Sowjetunion zum Krieg gezwungen. Das deutsche haben und auch heute die Herausforderungen nicht
Volk sei daran nicht schuld gewesen. Man habe sogar für alle dieselben sind. Jetzt müssen wir in einem
in den Jahren „schwierigster Prüfungen" eine klare mühsamen und manchmal schmerzlichen Prozeß
Grenze zwischen den Deutschen und der verbreche- zusammenwachsen. Da hat es keinen Sinn, die Unter-
rischen Führung gezogen, die in Deutschland an die schiede zu verkleistern und auf Harmonie zu machen.
Macht gekommen sei. — Wir sollten Präsident Jelzin Wir müssen miteinander reden, gegebenenfalls auch
für diese noble Geste dankbar sein. miteinander streiten. Aber wir sollten es nicht als Ossis
108 Deutscher Bundestag — 13. Wahlpe riode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Dr. Alfred Dregger


und Wessis tun, sondern als Deutsche, die die Einheit dem Sie in Ihrer Partei Heimat und Aktionsrahmen
wollen. bieten.
Wir wissen in Ost und West noch zuwenig vonein- Wir brauchen in Deutschland keine „kommunisti-
ander, zuwenig über die Zeit unserer Trennung und sche Plattform", ebensowenig wie wir nach 1945 eine
zuwenig auch über unsere gemeinsame Geschichte. nationalsozialistische Plattform gebraucht haben.
Der totale Krieg, die totale Niederlage, die Teilung der
Nation und ihr Aufgehen in entgegengesetzten politi- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
schen Systemen waren ein ungeheurer Eingriff in die Die Kommunisten haben über Deutschland genug
Gefühlswelt der Menschen, insbesondere unserer Unglück gebracht, in der Weimarer Zeit sogar zeit-
Landsleute im Osten, die sich jetzt nach der Wieder- weise im Bündnis mit den Nationalsozialisten. Nein,
vereinigung zum Teil, wenn auch unbegründet, als wir brauchen keine Plattform dieser Art. Wir brauchen
Verlierer betrachten. Demokraten.
In Wahrheit sind alle Deutschen in Ost und West (Andrea Lederer [PDS]: Solche wie Sie!)
Gewinner der deutschen Einheit. Nur die Träger des
alten Gewaltregimes haben einen Teil ihrer Privile- Auf Kommunisten sind wir auf Grund der Wahler-
gien verloren. Das war auch dringend notwendig. Alle gebnisse auch nicht angewiesen, Gott sei Dank,
aber haben die Menschenrechte gewonnen, alle sind weder im Osten noch im Westen; es sei denn, uns sind
frei und können sich frei entfalten. Das ist mehr als der Posten von Gnaden der Kommunisten wichtiger als
unsere demokratischen Grundsätze und Überzeu-
materielle Lebensstandard, der sich im Schnitt für alle
verbessert hat. gungen.

Wir müssen zur inneren Einheit finden. Im politi- In Magdeburg hat die SPD diese Wertung leider
schen Bereich müssen wir allerdings Unterschiede nicht vorgenommen.
machen. Wir Christlichen Demokraten und Christlich- (Zuruf von der SPD: Jetzt reicht es aber!)
Sozialen sind gegen alle totalitären Systeme, auf der
Rechten wie auf der Linken. Wir sind deshalb auch — Sie müssen die Wahrheit anhören. — Auch in
Antikommunisten, und die Menschen in der ehemali- Schwerin scheint es ihr schwerzufallen, sich eindeutig
gen DDR sind es in ihrer großen Mehrheit auch. Wir von der kommunistischen SED/PDS zu distanzieren.
müssen diesen Menschen, die ja nicht über alles (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
orientiert waren — das waren wir in der Hitler- der F.D.P.)
Diktatur auch nicht —, sagen, daß die neue PDS die
alte SED mit neuem Namen ist. Die SPD schadet sich dadurch zunächst selbst, aber
darüber hinaus unserem freiheitlichen System, das
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wir nicht verraten, sondern ausbauen wollen.
Es waren SED-Kommunisten — niemand anderes —, Meine Damen und Herren, unsere Aufgaben wer-
die die DDR ruiniert und ausgebeutet haben, die im den auch in der jetzt beginnenden Legislaturperiode
Auftrag des SED-Staates schreckliche Verbrechen - nicht leicht sein, aber sie sind erfüllbar, und wir
begangen haben, die ihre Bürger an der Grenze werden sie erfüllen. Das bisher Geleistete ist eine
erschossen haben wie die Hasen. Auch das Zuchthaus Ermutigung für das, was vor uns liegt.
Bautzen und seine Folterer können und dürfen wir
nicht vergessen. Die bisherigen Ergebnisse, Einheit in Freiheit, sta-
biles Geld für alle Deutschen, eine unter dem euro-
Hinzu kommt, daß die SED/PDS aus der Geschichte, päischen Durchschnitt liegende Neuverschuldungs-
auch aus ihrer eigenen, bisher nichts gelernt hat. Wer, rate — und das trotz der ungeheuren finanziellen
wie Sie noch heute, meine Damen und Herren von der Anstrengungen für den Aufbau Ost — der begonnene
PDS, „gesellschaftliche Investitionslenkung" will, wer Wirtschaftsaufschwung und die Tatsache, daß diejeni-
wie Sie „Wirtschafts- und Sozialräte auf nationaler, gen, die die deutsche Einheit wollten und sie herbei-
regionaler und lokaler Ebene schaffen" will, wer wie geführt haben, wiederum vom deutschen Volk den
Sie — man höre genau hin — „den außerparlamenta- Auftrag zur Regierungsbildung erhalten haben, sind
rischen Kampf und gesellschaftliche Veränderungen eine große Ermutigung für uns und für alle, die jetzt in
für entscheidend" hält, der steht nicht voll und ganz der inneren Einheit Deutschlands die vorrangige
auf dem Boden unseres Grundgesetzes. Der will Aufgabe sehen.
fortführen, was Ulbricht, Honecker und Genossen in
Deutschland angerichtet haben. Die fünfte Regierung Kohl setzt sich aus erfahrenen
Ministern und aus jungen Talenten zusammen. Vor
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — allem aber ist es ein Glück für Deutschland, daß
Widerspruch bei der PDS) Helmut Kohl wieder Bundeskanzler ist.
Meine Damen und Herren, im Ergebnis wären das (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
wiederum Unterdrückung statt Menschenwürde, Un- ordneten der F.D.P.)
freiheit statt Freiheit, Kommandosystem und Kollekti-
vismus statt Sozialer Marktwirtschaft, Verarmung Alle unsere Partner in Ost und West haben darauf
statt Wohlfahrt. Ich füge hinzu: Sagen Sie sich los von gehofft. Helmut Kohl verkörpert ein Vertrauenskapi-
Ihrer „kommunistischen Plattform", dem Stoßtrupp tal, das uns unsere weitere Arbeit für Deutschland
der DDR-Vergangenheit, erleichtern wird. Natürlich wird die Opposition oppo-
nieren, das ist ihre Aufgabe. Aber sie sollte sich hüten,
(Andrea Lederer [PDS]: Das überlassen Sie zu blockieren, wie sie es zum Schaden des deutschen
mal uns!) Volkes, zum Schaden unserer Demokratie, letztlich
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 109

Dr. Alfred Dregger


aber auch zum eigenen Nachteil beim Asyl allzu lange hin ein anderer ist? Wir sind nämlich zukünftig an der
gemacht hat. Formulierung von Europapolitik beteiligt. Das ist
(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ keine Sache, die Sie uns über die Presse mitteilen
CSU]: Sehr wahr!) können. Insofern ist es vielleicht besser, wenn Sie uns
ihre Absichten schriftlich mitteilen. Denn es gab
Meine Damen und Herren, auch BÜNDNIS 90/DIE Ankündigungen — und dabei ist es geblieben —,
GRÜNEN sollten ihre Haltung überprüfen. Sie haben informelle Ratstagungen und Schauveranstaltungen,
gemerkt, daß wir bereit sind, wenn es vertretbar ist, die in letzter Konsequenz keinerlei praktisches Ergeb-
auch mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Herr Volmer nis gebracht haben, weder bei der Frage der Harmo-
hat mich heute allerdings nicht gerade ermutigt, nisierung der Quellensteuer noch im Wohnungsbau
darauf zu hoffen. noch in irgendeinem anderen Bereich. Selbst die
Wir alle aber, Regierung und Opposition, haben den Würzburg-Tagung der Kulturminister, bei der eigen-
Vorzug, vom deutschen Volk zu seinen Vertretern artigerweise der Außenminister den Vorsitz geführt
gewählt worden zu sein. Wir alle sollten uns dessen hat, hat für die Menschen in unserem Lande keine
würdig erweisen. praktischen Ergebnisse gebracht.
Glückauf! Es lebe Deutschland, unser Vaterland! Ich will an dieser Stelle verkürzt sagen: Hätten diese
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) 13 informellen Ratstagungen nicht stattgefunden und
wäre statt dessen ein wirklich entscheidender
Beschluß zur Frage der Bekämpfung von Arbeitslo-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat nun sigkeit gefaßt worden, dann hätte das dem Europäi-
die Abgeordnete Heidemarie Wieczorek Zeul. - schen Rat und dem Ministerrat zur Ehre gereicht. Das
wäre das gewesen, was in dieser Phase notwendig
gewesen wäre.
Heidemarie Wieczorek Zeul (SPD): Frau Präsiden-
-
(Beifall bei der SPD — Abg. Ulrich Irmer
tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich werde heute
[F.D.P.] meldet sich zu einer Zwischen
hier den Schwerpunkt Europapolitik mit ansprechen.
frage)
Vorher möchte ich sagen: Es gäbe hier vieles an die
Adresse des letzten Redners zu kommentieren. Was Wir haben in der Diskussion der letzten Wahl-
z. B. den Umgang mit der Geschichte angeht, so halte kampfwochen ein Kerneuropa-Papier gehabt, das zu
ich es — und ich denke, eine große Mehrheit der großer Verwirrung bei den europäischen Nachbar-
deutschen Bevölkerung ebenfalls — mit dem, was staaten beigetragen hat. Karl Lamers, der außenpoli-
Richard von Weizsäcker aus Anlaß des 8. Mai 1945 tische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, hat sich jetzt
gesagt hat: Das Geheimnis der Versöhnung .heißt noch einmal auf einer Reise in den europäischen
Erinnerung. — Ländern bemüßigt gesehen, zu erklären, was gemeint
sei. Ich stelle fest: Das hat, jedenfalls nach Berichten
(Beifall bei der SPD) von Kolleginnen und Kollegen, zu mehr Verwirrung
Aus dieser Erinnerung werden wir hoffentlich alle - geführt als zu mehr Klarheit. Ich frage mich, was
unsere Verantwortung für die Zukunft unseres Landes eigentlich in den Koalitionsvereinbarungen jetzt aus
tragen. So habe ich das immer verstanden. diesem Konzept Kerneuropa geworden ist. Ist es jetzt
Das zweite, was ich sagen wollte — deshalb werde wirklich auf diese Art und Weise erledigt? Oder sind
ich mich in diesem Deutschen Bundestag jedenfalls da wieder Formelkompromisse gemacht worden, die
nicht mit der CDU/CSU und auch nicht mit der F.D.P. dann nicht hier im Deutschen Bundestag politisch
und schon gar nicht mit anderen Parteien in eine diskutiert werden, sondern die uns anschließend in
Diskussion darüber begeben —: Herr Dr. Dregger, die einer neuen Form von Regierungskonferenz, Maas-
Sozialdemokratische Partei ist die einzige Partei, die tricht II, sozusagen durch die Hintertür mit Konzepten,
nach dem Ende des Nationalsozialismus ihren ehr- etwa zur europäischen Verteidigungspolitik oder der-
lichen Namen nicht hat ändern müssen. Und von gleichen, serviert werden?
Parteien, die das von sich nicht sagen können, lassen
wir uns keine Belehrungen in Demokratie und Men- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin,
schenrechte geben. gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten
Irmer?
(Beifall bei der SPD — Dr. Wolfgang Freiherr
von Stetten [CDU/CSU]: Das ist Geschichts-
Heidemarie Wieczorek Zeul (SPD): Nein danke, der
-
klitterung! — Weitere Zurufe von der CDU/
Herr Irmer kann sich wieder setzen.
CSU)
(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der
Ich möchte diese Diskussion heute dazu benutzen,
SPD)
um im Vorfeld des europäischen Gipfels am 9. und
10. Dezember das zu tun, was eigentlich eine Notwen-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie
digkeit von seiten der Bundesregierung gewesen
eine Zwischenfrage des Abgeordneten Günther
wäre, nämlich etwas zur Bilanz der europäischen
(Duisburg)?
Ratspräsidentschaft zu sagen.
(Zuruf des Bundesministers Dr. Klaus Kin- Heidemarie Wieczorek Zeul (SPD): Nein, auch
-

kel) nicht.
— „Schriftlich vorlegen! " Herr Dr. Kinkel, haben Sie
immer noch nicht gemerkt, daß der Umgang des Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie gar
Deutschen Bundestages mit der Europapolitik fürder- keine Zwischenfragen?
110 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD): Das kommt rung daraus? Ich habe von Waigel heute hier nur ein
drauf an. Vielleicht kommt noch etwas Interessanteres entschiedenes „Weiter so à la Maastricht" gehört. Das
an Rückfragen. würde das Ansehen Europas endgültig demolieren.
(Zuruf von der F.D.P.: Sie hat Angst vor der Wäre es nicht besser, liebe Kolleginnen und Kolle-
Wahrheit!) gen, sich mit dem Datum 1996 für die Revision des
Ich komme auf das Thema zurück: Was ist aus dem Maastricht-Vertrages nicht selbst unter Zeitdruck zu
Konzept des Kerneuropa geworden? Ich will an dieser setzen, die dann wieder die üblichen Konsequenzen
Stelle darauf hinweisen, daß in der Phase der Ratsprä- produzierte und unter Ausschluß der Öffentlichkeit
sidentschaft der Bundesrepublik nichts beschlossen stattfände,
worden ist, was real die Situation von Menschen (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Sagen Sie
verbessern würde. doch einmal, was Sie wollen!)
Ich sage an die Adresse des Sozialministers: Eine und statt dessen in großen Foren sowie in Anhörungen
der großen Ankündigungen war, wir bräuchten ein des Deutschen Bundestages und in der Öffentlichkeit
europäisches Gesetz, das Lohn- und Sozialdumping der Bundesrepublik Deutschland die weitere Ent-
auf den Baustellen in unserem Land und bei Dienst- wicklung der Europäischen Union nach der Auf-
leistungen verhindert. Es ist nicht nur nicht gekom- nahme Schwedens, Finnlands, Österreichs und hof-
men, fentlich auch Norwegens zu diskutieren und dabei vor
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) allem die Frage der Stärkung der parlamentarischen
sondern es findet sich auch in den Koalitionsvereinba- Demokratie und die Leistungsfähigkeit der Europäi-
rungen überhaupt nicht mehr als Ziel der jetzigen schen Union in den Vordergrund zu stellen? Das muß
Bundesregierung. Das heißt: Es war offensichtlich meines Erachtens die Orientierung sein, damit die
lediglich eine Ankündigung im Wahlkampf. Akzeptanz in der Bevölkerung überhaupt wieder
(Horst Kubatschka [SPD]: Denen sind ja auch erreichbar ist.
die Bauarbeiter wurscht!) (Beifall bei der SPD)

Selbstverständlich teile ich die Auffassung, wenn Welche Schlußfolgerungen — das ist heute bei
gesagt wird, es gehe darum, daß es in europapoliti- Joschka Fischer angeklungen — zieht denn die Mehr-
schen Fragen in den Grundlinien Gemeinsamkeiten zahl konservativer Regierungen in Europa aus der
gibt. Aber auch hier die gleiche Konzeptionslosigkeit: veränderten Lage nach dem Wegfall der Mauer in
Was jetzt hier vorgelegt worden ist und was heute die wirtschaftspolitischen Fragen? Unter dem neuen
Vertreter der Regierung in europapolitischen Fragen Druck von Wettbewerb setzen sie auf Lohnsenkungen
dargestellt haben, zeigt, daß „Durchwurschteln" bei und Sozialabbau. Das ist ihr Konzept.
Ihnen angesagt ist und daß es Unklarheiten gibt. Der Ich meine, es wäre die große Chance für die
Hauptgrund für diese Unklarheiten ist meines Erach- Westeuropäer, das zu stärken, was in Westeuropa am
tens, daß die Bundesregierung es immer noch nicht meisten vorhanden ist, was den Menschen insgesamt
verstanden hat, daß eine zentrale Voraussetzung der am meisten nutzt, nämlich die Qualifikation der
bisherigen Europapolitik heute nicht mehr existiert, Arbeitskraft von Menschen, die Ausbildung von Men-
nämlich die unbestrittene Akzeptanz in der Bevölke- schen, ihre Arbeitsmöglichkeit und ihre Berufstätig-
rung. keit. Arbeitslosigkeit zerstört jeden Tag aufs neue das
Wichtigste, das Menschen besitzen, nämlich ihre
berufliche Qualifikation und Fähigkeit.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Es liegt noch eine
Von der Bundesregierung ist zu diesem Bereich der
Bitte nach einer Zwischenfrage vor.
Europapolitik überhaupt keine Aussage zu hören
gewesen. Wenn es aber nicht gelingt, den 18 bis
20 Millionen arbeitslosen Menschen in Europa wieder
Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD): Danke. — Es ist Arbeit zu geben, dann brauchen wir uns über die
alles wahr und richtig, was an dieser Stelle Herr Akzeptanz der europäischen Einigung überhaupt
Dregger und auch der Bundeskanzler zur Frage der keine Gedanken mehr zu machen, weder mit erster,
Friedenssicherung durch die Europäische Union zweiter oder dritter Geschwindigkeit, liebe Kollegin-
gesagt haben. Das ist alles wahr und richtig. nen und Kollegen.
Aber es ist auch wahr und richtig — und wir wie die
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Bundesregierung müssen daraus Konsequenzen zie-
DIE GRÜNEN)
hen —: Für die Mehrzahl der Menschen in Europa
rechtfertigt sich die europäische Einigung heute nicht Die Diskussion über zwei Geschwindigkeiten oder
mehr allein aus den schrecklichen Erfahrungen der was auch immer interessiert die Leute nämlich einen
europäischen Geschichte, und sie rechtfertigt sich feuchten Kehricht.
noch weniger allein aus dem großen gemeinsamen Ein anderer Punkt bei den Grundfragen, die wir uns
Markt. In den 50er und 60er Jahren stand Europa für stellen müssen, die sich diese Bundesregierung und
den demokratischen Aufbau und für die Verbesse- im übrigen eine — hoffentlich bald kommende —
rung von Wohlstand. Heute wird es — und dies muß sozialdemokratisch geführte Bundesregierung stellen
doch einmal ehrlich zugegeben werden — bestenfalls muß: Die alte Europäische Gemeinschaft konnte noch
als Reparaturbetrieb angesehen. auf dem ungebrochenen Vertrauen in die Unerschöpf-
Welche Konsequenzen ziehen die Regierungen lichkeit natürlicher Grundlagen, von Rohstoffen,
daraus? Welche Konsequenz zieht die Bundesregie- Umwelt usw. aufbauen. Heute wissen die Menschen,
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 111

Heidemarie Wieczorek-Zeul
daß wir auf eine globale Katastrophe zusteuern, wenn men werden, sind es über 100 Milliarden DM. Die
dieser Ansatz beibehalten wird. Wenn das knappe Übertragung der EU-Agrarpolitik auf die Länder Mit-
Drittel der Menschen, die in Westeuropa, in Japan und tel- und Osteuropas würde in deren Agrarpolitik
in den USA leben, für zwei Drittel der Belastung des unmittelbar eine Katastrophe bewirken. Sie würde
Ökosystems verantwortlich ist, dann muß zuallererst längerfristig nochmals zu rund 100 Milliarden DM
hier bei uns etwas geändert werden. Und dann wäre Kosten führen.
es doch die Aufgabe der Europäischen Union, Initia- Jetzt müssen Sie Ihre Widersprüche klären und
tiven für einen Öko-Gipfel und für Maßnahmen zum offen auf den Tisch des Hauses legen. Wenn die
Energiesparen und zur ökologischen Modernisie- Bundesregierung also für die Einbeziehung dieser
rung der Industrie in allen zwölf — und künftig 16 — Länder in die wirtschaftliche europäische Integration
Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu ergrei- ist, muß sie entweder der Bevölkerung in Deutschland
fen. sagen, daß es teuer wird, daß es mit hohen Transfers
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ verbunden ist, oder sie muß sagen, daß es nicht
DIE GRÜNEN) machbar ist, oder sie muß sich — drittens — dafür
einsetzen, daß die EU-Agrarpolitik endlich so refor-
Ein weiterer Punkt, liebe Kolleginnen und Kollegen, miert wird, daß die Aufnahme dieser Länder auch in
bei dem die Bundesregierung unehrlich ist: An meh- wirtschaftliche Strukturen der Europäischen Union
reren Stellen heißt es in den Koalitionsvereinbarun- möglich ist.
gen, es gehe darum — und das ist auch hier wieder
gesagt worden —, die Länder Mittel- und Osteuropas (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Sieg
in die Europäische Union aufzunehmen. An anderen fried Hornung [CDU/CSU]: Sie redet von
wieder heißt es, notwendig seien strikte europäische etwas, wovon sie nichts versteht!)
Haushaltsdisziplin — das hat die Abteilung Waigel — Herr Kollege, die Tatsache, daß in Ihren Reihen
hier vorgetragen — und die Überprüfung von Pro- offensichtlich immer noch sexistische und machisti-
grammen. Weiter wird im Agrarkapitel die Fortset- sche Zwischenrufe an der Tagesordnung sind,
zung der bisherigen Form der EU-Agrarpolitik als
Forderung aufgenommen. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Wundert dich
das?)
(Zuruf von der CDU/CSU: Aber selbstver-
spricht Bände. Sie sollten einmal darüber nachden-
ständlich!)
ken!
Im Wirtschaftskapitel — und heute wieder in allen (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Ich habe
Reden — wird überall eine Deregulierungsoffensive gesagt, daß Sie davon nichts verstehen!)
und die Verbesserung der Marktkräfte gefordert. Ich
frage Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen: Welcher Mehr Frauen in Ihren Reihen wären auch unter
Bereich ist mehr reguliert und bürokratisiert als die solchen Gesichtspunkten gut.
EU-Agrarpolitik? (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
-
(Beifall bei der SPD) GRÜNEN und der PDS — Joseph Fischer
[Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Wer es wirklich ernst nimmt, der setzt an dieser Stelle Ab auf die Hinterbank!)
einmal an, weil sich Arbeitnehmer fragen, warum die
segensreichen Kräfte des Marktes eigentlich nur bei Es ist im übrigen auch notwendig, klarzumachen,
ihnen und ihrer Situation wirken sollen und warum es daß dann andere Sprüche, die der Außenminister oder
Bereiche gibt, die völlig aus dem Markt herausgenom- der Finanzminister manchmal bringen, einem Test zu
men sind. unterziehen sind. — herr Waigel ist jetzt leider nicht
(Beifall bei der SPD) da. — Wenn die Agrarreform stattfände und der
Anteil der Agrarausgaben von jetzt 50 am EU-
Ich sage also: Keines der vier Ziele, die da formuliert Haushalt reduziert würde, wären zum einen die finan-
sind, ist mit den anderen drei Zielen in irgendeiner ziellen Rückflüsse in die Bundesrepublik sehr viel
Form zu vereinbaren. Sie werden aber unverbunden höher. Zweitens wären Betrugsmöglichkeiten, die der
in diese Koalitionsvereinbarung übernommen. Ent- Europäische Rechnungshof in den letzten Wochen
weder ist es also so, wie — in diesem Fall einmal aufgedeckt hat — die offensichtlich auch in Deutsch-
zutreffend — Herr Ministerpräsident Stoiber gesagt land praktiziert werden —, auf diese Art und Weise
hat, daß diese Bundesregierung auch auf Grund der leichter zu verhindern, und man könnte so dazu
Organisation von Europapolitik überall etwas und im beitragen, daß keine Finanzmittel verschleudert wer-
Außenministerium eher die Frühstücksdirektoren den.
stelle — entweder ist sie also wirklich so unkoordi-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, wir
niert —, oder die Bundesregierung erzählt der Bevöl-
müssen eine Grundentscheidung treffen — davor
kerung in diesen Fragen bewußt nicht die Wahrheit —
drückt sich die Bundesregierung in all diesen Diskus-
oder beides. Wir verlangen aber Wahrheit und Klar-
sionen —, wie stark wir die Ausweitung der Europäi-
heit.
schen Union über die jetzt aufzunehmenden Länder
Die Bundesregierung weiß — Herr Kollege Dreg- Schweden, Finnland und Österreich — und hoffent-
ger, das muß dann auch gesagt werden —, daß die lich auch Norwegen — hinaus wollen. Wir müssen uns
Aufnahme von Tschechien, der Slowakischen Repu- klarmachen, daß es dabei auch Grenzen gibt. Eine
blik, Polen und Ungarn in die Strukturfonds der Europäische Union, in der sich demokratische Mitwir-
Europäischen Union 52 Milliarden DM jährlich kostet. kung, regionale Eigenständigkeit und sozialer Zu-
Wenn alle Länder in Mittel- und Osteuropa aufgenom- sammenhalt nicht mehr organisieren lassen, ist nicht
112 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Heidemarie Wieczorek-Zeul
die Europäische Union, die die Gestaltung Europas Rudolf Seiters (CDU/CSU): Frau Präsidentin!
und die Entwicklung unseres Kontinents nach dem Meine Damen und Herren! Ich bin in diesen Tagen in
Ende des Ost-West-Konflikts ermöglichen würde. Gesprächen mit polnischen und auch tschechischen
Ich möchte einen praktischen Vorschlag in die Gesprächspartnern noch einmal an den deutsch-
Diskussion bringen. Der Maastricht-Vertrag sieht ja polnischen Asylvertrag, den wir im letzten Jahr abge-
nur die Möglichkeit der wirtschaftlichen Assoziierung schlossen haben, und an den deutsch-tschechischen,
dritter Staaten vor, also die Integration in die wirt- Herr Kollege Kanther, den wir in diesem Jahr abge-
schaftlichen Strukturen. Warum ändern wir den schlossen haben, erinnert worden. Ich finde, beide
Maastricht-Vertrag nicht so, daß ab 1997 die Assozi- Verträge sind Beispiele für eine faire inte rnationale
ierung mittel- und osteuropäischer Lander an die Zusammenarbeit und Lastenteilung, wie auch von
gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sowie an unseren polnischen und tschechischen Gesprächs-
die Innen- und Rechtspolitik möglich wird, damit wir partnern immer wieder unterstrichen wird.
für diese Länder eine europäische Perspektive bieten, Ich erwähne dies deshalb, weil ich heute sagen
die sie brauchen, um ihre Reformen abzusichern? möchte: Wohin wir auf unserem Kontinent auch blik-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) ken, die Probleme in Europa und die internationalen
Herausforderungen sind fast überall mit nationalen
Ich füge hinzu: Das hat auch Konsequenzen für Maßnahmen und Programmen allein nicht zu bewäl-
Marktöffnungen. Denn absichern und finanziell hel-
tigen, sondern nur durch gemeinschaftliches Handeln
fen müssen wir. Aber ich wage zu bezweifeln, daß es und aus gemeinsamer Verantwortung zusammen mit
diesen Ländern oder der Europäischen Union insge- unseren europäischen und amerikanischen Nach-
samt nutzt, wenn sie in eine unreformierte Europäi- barn: die Wohlstandsgrenze, die mitten durch Europa
sche Union einbezogen würden. verläuft, die Konflikte und Krisen in unserer Nachbar-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) schaft, die labile Situation in Rußland und auch die
Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute ist von Weiterentwicklung der Europäischen Union.
einem der GRÜNEN-Diskussionsredner bemängelt Wir sollten dabei die Rolle des wieder vereinten
oder sozusagen am Rande gesagt worden, es sei Deutschlands nicht überschätzen; aber ohne jeden
überflüssig, daß in der Koalitionsvereinbarung stehe, Zweifel ist unsere Verantwortung größer geworden.
die Bundesregierung wolle den Bundestag frühzeitig Unsere Partner in der Welt erwarten auch, daß wir die
über europäische Regelungen unterrichten, die Verantwortung wahrnehmen. Und an die Adresse des
geplant seien. Ich möchte an dieser Stelle ausdrück- Kollegen Verheugen will ich doch sagen, weil er die
lich sagen: Offensichtlich hat die Bundesregierung außenpolitische Rolle der Bundesregierung, wie ich
Art. 23 der Verfassung nicht richtig gelesen. Es geht finde, heute morgen sehr oberflächlich bemäkelt hat:
nicht nur darum, daß sie den Deutschen Bundestag Ich meine, daß wir in Sachen Verläßlichkeit, Vertrau-
frühestmöglich informiert. Nach dem Grundgesetz ist enswürdigkeit und Solidarität mit unseren Partnern
der Deutsche Bundestag Teil der Willensbildung der keinen Nachholbedarf haben.
Bundesrepublik Deutschland in der Europäischen -
Union. Es ist ein ganz hohes politisches Gut, daß wir heute
(Beifall bei der SPD) sagen können: Das Ausland, unsere Nachbarn, sie
vertrauen Deutschland, sie vertrauen diesem Kanzler
Wir wollen nicht nur unterrichtet werden, sondern uns und dieser Bundesregierung.
an der Willensbildung beteiligen. Wir wollen vor allen
Dingen dazu beitragen, daß die Bundesregierung (Beifall bei der CDU/CSU)
diese Stellungnahmen berücksichtigt. So sagt es näm- Ich finde, das ist eine sehr gute und tragfähige
lich das Grundgesetz. Grundlage für die Außenpolitik der kommenden
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß: Wenn Jahre.
man an der Regierung ist, fällt einem das schwer. Ich
Als erstes möchte ich auch aus der Sicht unserer
sage es in Kenntnis der Tatsache, daß ich dafür streite, Bundestagsfraktion die Bedeutung der Regierungs-
daß die Sozialdemokratie in diesem Land so schnell konferenz 1996 und die Notwendigkeit der Vertie-
wie möglich die Regierung stellt, damit die verlorene fung der Europäischen Union unterstreichen, weil
Zeit in europapolitischen wie auch anderen Fragen, diese Konferenz zu einer deutlichen Stärkung der
die wir heute diskutiert haben, endlich aufgeholt wird, Europäischen Union in den politischen Schlüsselbe-
damit Gestaltung und vor allem die ehrliche Beant- reichen führen, die gemeinsame europäische Vertei-
wortung von Grundfragen angesagt ist. digung schaffen und die institutionelle Handlungsfä-
Es ist bei der Frage der Kosten der deutschen higkeit der Union deutlich verbessern muß.
Einheit so viel gelogen worden, und es muß endlich
auch mit den Lügen im Bereich der europäischen Ich stimme Ihnen zu, Frau Kollegin Wieczorek-Zeul:
Einigung Schluß sein. Die Vorbereitung dieser Regierungskonferenz sollte
auch nach unserer Meinung nicht nur eine Angele-
Ich danke Ihnen sehr. genheit der zuständigen Ministerien, der Abgeordne-
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Joseph ten oder kleiner Kreise in Publizistik und Wissenschaft
Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ sein. Denn wir sollten auch aus der Debatte um
NEN]) Maast ri cht gelernt haben. Wir brauchen eine breite
öffentliche Diskussion über die Inhalte und Ziele der
Regierungskonferenz, auch darüber, daß wir uns
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt einen Stillstand nicht leisten können. Die Bürger
der Abgeordnete Rudolf Seiters. müssen nachvollziehen und akzeptieren können,
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 113

Rudolf Seiters
warum die Vertiefung der Europäischen Union not- erlebt, wie schwierig das Ringen um die dringend
wendig ist. notwendige gemeinsame Politik zur Bekämpfung des
internationalen Verbrechens und um eine gemein-
Aber gerade deswegen — ich sehe auch den Kolle-
same Strategie der Europäischen Union in der Asyl-
gen Lamers im Plenum — waren und sind die Über-
und Zuwanderungspolitik war und heute noch ist.
legungen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zur eu-
ropäischen Politik wichtig, weil wir bei der konse- Die Entscheidungen für Europol sind im Grundsatz
quenten Weiterentwicklung der Europäischen Union gefallen. Ganz wichtig bleiben der Abschluß der
niemanden von unseren Partnern ausschließen. Doch Konvention und der Ausbau von Europol zu einem
es gilt auch der Satz des Bundeskanzlers: Wir wollen europäischen Polizeiamt mit den notwendigen Hand-
nicht, daß das langsamste Schiff im Geleitzug das lungsmöglichkeiten. Das ist eine aktuelle und unver-
Tempo der europäischen Entwicklung bestimmt. zichtbare Aufgabe und Herausforderung angesichts
der Bedrohung von Staaten und Gesellschaften durch
(Josef Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE das internationale Verbrechen.
GRÜNEN]: Deshalb muß man nicht wie ein
Nashorn durchs europäische Unterholz tra- Ebenso wichtig ist ein anderes Feld der Zusammen-
ben! Der Name des Nashorns ist bekannt! — arbeit, auf dem sich die Mitgliedstaaten noch sehr
Ulrich Irmer [F.D.P.]: Im europäischen Unter- schwer tun und auf dem auch der Gedanke der
holz gibt es keine Nashörner!) Lastenteilung und der Solidarität unter den europäi-
schen Staaten noch nicht besonders ausgeprägt ist: ein
Bei der europäischen Währungsunion, Herr Fischer, gemeinsames Asylrecht, eine gemeinsame Flücht-
gilt das gleiche. Unsere Bürger werden die Währungs- lingspolitik, eine gerechte Verteilung von Flüchtlin-
union, die zu einem weiteren Souveränitätsverzicht gen auf die Mitgliedstaaten und — nicht zu verges-
führen wird, akzeptieren, wenn sie auch deren Vor- sen — eine gemeinsame Politik zur Verbesserung der
teile und deren Notwendigkeit erkennen, wenn sie Lebensbedingungen in den Herkunftsländern. Denn
also das sichere Gefühl haben, daß ihnen die Wäh- es bleibt wahr: Das Asylrecht kann frühestens an
rungsunion nützt und daß sie der Stabilität und unseren eigenen Grenzen Wirksamkeit entfalten. Die
Prosperität der europäischen und damit der deutschen Ursachen für Wanderung und Flucht aber liegen in
Wirtschaft dient, und wenn sie die Überzeugung den Herkunftsländern. Sie müssen dort mit unserer
haben, daß die künftige europäische Währung wirksamen gemeinsamen Hilfe beseitigt oder jeden-
genauso stabil wie die Deutsche Mark sein wird. Theo falls gemildert werden. Es wäre auch im Hinblick auf
Waigel hat heute für die Regierung in einer sehr die deutschen Interessen kurzsichtig, wollten wir
überzeugenden Weise die Erfolge der Stabilitätspoli- unseren Nachbarn diese Hilfe verweigern.
tik der Bundesregierung und auch völlige Klarheit bei
den Zielen dargestellt, so daß diese Klarheit von dem Die vierte Bemerkung: Der Deutsche Bundestag hat
Kollegen Lafontaine nicht angemahnt werden in seinem Entschließungsantrag zur europäischen
mußte. Integration vom 15. Oktober 1993 von einem dringen-
den Handlungsbedarf in der gemeinsamen Außen-
Unser Ziel bleibt, daß die Wirtschafts- und Wäh- und Sicherheitspolitik gesprochen. Es gibt wohl
rungsunion vertragsgemäß bei strikter Beachtung der nichts, was klarer für die Notwendigkeit eines
im Vertrag festgelegten Kriterien verwirklicht wird. gemeinsamen Vorgehens und einer gemeinsamen
Ich erinnere aber auch an den gemeinsamen Beschluß Verteidigungspolitik im Kontext zur transatlantischen
des Deutschen Bundestages vom 1. Dezember 1992 zu Zusammenarbeit spricht als die jüngste Entwicklung
der Frage, wie im Rahmen der Endstufe dauerhaft im ehemaligen Jugoslawien einschließlich der Frage
eine gleichgerichtete Wirtschafts- und Fiskalpolitik in des Waffenembargos. Ich denke, zur Ehrlichkeit
allen Mitgliedsländern erreicht werden kann, und an gehört auch die Selbstkritik. Der Eskalation der Kon-
unsere Forderung, bei der Revisionskonferenz 1996 flikte, dem Morden und der Brutalität hätte ganz
diesen Teil des Vertrages präziser zu fassen. anders begegnet und Einhalt geboten werden kön-
Jedenfalls bleibt es dabei: Die angestrebte Wirt- nen, wenn die Völkergemeinschaft von Anfang an in
schafts- und Währungsunion ist ein Schlüsselfaktor der Lage gewesen wäre, entschlossen und geschlos-
für wirtschaftliche Stabilität und Wohlstand in Europa. sen zu handeln, oder wenn sich, mit Blick auf die
Aber diese Währungsgemeinschaft ist nur als Stabili- Europäer, Europa wenigstens in der Bewertung der
tätsgemeinschaft möglich und darf nur jenen Ländern Vorgänge einig gewesen wäre.
eröffnet werden, die die im Vertrag von Maastricht Es geht uns wahrscheinlich doch allen gemeinsam
geforderten Kriterien erfüllen. Anders gesagt, auch so: Fassungslosigkeit, daß am Ende dieses Jahrhun-
mit Blick auf unsere Bevölkerung — das sagen wir derts mitten im zivilisierten Europa so etwas möglich
auch als Vertreter der eigentlichen deutschen Stabili- ist, Trauer über die Ereignisse und auch der Zorn, daß
tätspartei —: es bisher nicht möglich war, den schrecklichen Krieg
(Lachen bei der SPD) einzudämmen oder zu beenden.
Wir werden die Stabilität der Währung nicht auf dem Natürlich ist es beklagenswert, daß die USA jetzt in
Altar der europäischen Wirtschafts- und Währungs- der Frage der Überwachung des Waffenembargos
union opfern. einseitig von der gemeinsam vereinbarten Linie abge-
wichen sind. Es muß alles getan werden, um eine Krise
(Beifall bei der CDU/CSU)
im Bündnis und damit auch in der Europäischen Union
Die dritte Bemerkung: Ich habe auch als Innenmi- zu vermeiden. Aber das kann nicht die einzige Ant-
nister in den vergangenen Jahren auf internationalen wort auf die Probleme sein, die sich hier stellen. Es
Konferenzen und in bilateralen Verhandlungen wird jetzt entscheidend darauf ankommen, nicht nur
114 Deutscher Bundestag — 13. Wahlpe riode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Rudolf Seiters
den internationalen Druck auf die bosnischen Serben Ich habe dann noch einmal in die Koalitionsverein-
zu erhöhen, die den internationalen Friedensplan barungen geschaut, die eher ein Dokument der Aus-
ablehnen und ständig gegen UNO-Beschlüsse versto- klammerung und des Stillstandes sind, und fand dort
ßen, sondern auch, wenn nötig, erneut die notwendi- einen Satz, in dem zwar auch von Zukunft die Rede ist,
gen militärischen Maßnahmen zu ergreifen. Der Bun- der aber trotzdem schlagartig alle meine aufkeimen-
deskanzler hat mit seiner Forderung recht, die kriege- den Hoffnungen zerschlug. Es heißt in diesem Satz:
rischen Handlungen endlich zu beenden, die humani- „Aus unseren Erfahrungen und Leistungen der ver-
täre Hilfe endlich zuzulassen und den Friedensplan gangenen Jahre leitet sich unser Anspruch ab, die
endlich anzuerkennen. Zukunft weiterhin erfolgreich zu gestalten. " Das ist
Vorrangiges Ziel deutscher Außenpolitik bleibt die nicht nur Arroganz, das ist wirklich eine Drohung.
Sicherung von Frieden und Freiheit. Dieses Ziel Statt Zukunft, Erneuerung, sozialer Gerechtigkeit,
werden wir nur dann erreichen, wenn wir verläßliche sicherer Finanzen, Gemeinsinn und Wärme, die Sie
Partner sind, Solidarität mit unseren Nachbarn üben uns hier in schönen Reden versprechen, heißt die
und uns der größer gewordenen Verantwortung Parole genau wie im Wahlkampf: Weiter so, Deutsch-
Deutschlands in der Welt nicht entziehen. Nachdem land! Das ist tatsächlich eine unverhohlene Kampf an-
das Bundesverfassungsgericht Klarheit über die Ein- sage, nicht nur an zwei Drittel der Menschen in
satzmöglichkeiten der Bundeswehr geschaffen hat, unserem Land, sondern auch an die Umwelt dieses
können zu Recht unsere Partner in der NATO von uns Landes. Sie entzieht allem, was in der Koalitionsver-
Deutschen ein klares Ja zur europäischen Verteidi- einbarung dann noch an teilweise sogar Sinnvollem
gungspolitik und zur Verteidigung und die Bereit- folgt, jede Glaubwürdigkeit.
schaft der Bundesrepublik Deutschland erwarten, sich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
im vollen Umfang auf der Grundlage der Bestimmun- Seit Jahren, seit sie an der Macht sind, sprechen die
gen der Charta der Vereinten Nationen an Maßnah- Vertreter der Bundesregierung von der Konsolidie-
men der Staatengemeinschaft zur Aufrechterhaltung rung der öffentlichen Finanzen und von Steuerrefor-
des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit
men. Herr Kohl und Herr Waigel, was haben Sie denn
zu beteiligen. Auch die Opposition sollte begreifen eigentlich all die Jahre gemacht? Tatsächlich hat diese
— das hat mit Militarisierung der Außenpolitik nichts Regierung doch die öffentlichen Schulden in eine
zu tun —: Wenn es um Frieden und Freiheit in der Welt unvorstellbare Höhe getrieben, und der Finanzmini-
und Europa sowie um internationale Solidarität geht, ster hat sich rettungslos im Gestrüpp einer konzep-
darf Deutschland nicht abseits stehen und keine tionslosen Steuerpolitik verheddert.
Sonderrolle spielen. Dies wäre für die Zukunft unseres
Landes verhängnisvoll. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Schuldenmajor!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Die Kosten dieser Politik werden den Schwachen und
Wehrlosen dieser Gesellschaft auferlegt, oder sie
- werden über Schulden einfach in die Zukunft verla-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt
der Abgeordnete Gerald Häfner. gert. Der Finanzminister hat in den Jahren des Wachs-
tums geschludert. Heute, wo wir das Geld dringend
bräuchten, fehlt nicht nur das Geld, sondern es fehlt
Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ver- auch jedes Konzept für die Meisterung der Krise.
ehrte Frau Präsidentin Vollmer! Liebe Kolleginnen Die Verschuldung der öffentlichen Haushalte wird
und Kollegen! Weihnachten naht, und der Finanzmi- bis zum Jahre 1995 auf sage und schreibe mehr als
nister, der sich selbst laut meiner Tageszeitung in 2,3 Billionen DM steigen. Das bedeutet eine Verdop-
erstaunlicher Verkennung des Realitätsbezugs von pelung in einem Zeitraum von lediglich fünf Jahren.
Vornamen und übrigens auch der neutestamentlichen Die Bundesschulden machen dabei den allergrößten
Theologie für ein Göttergeschenk hält und dies öffent- Teil der Gesamtverschuldung aus. Mit 800 Milliarden
lich erklärt hat, spricht vom Christkindl und verspricht DM im Jahr 1995 werden sie um fast 300 Milliarden
auch hier heute Wunderbares, nämlich die Gewähr- DM höher liegen als noch vor fünf Jahren. Hinzu
leistung solider Staatsfinanzen, die Sicherung und kommen die Schulden aus den Erblastentilgungs-
Schaffung von Arbeitsplätzen und ein größtmögliches fonds und den anderen Nebenhaushalten, so daß die
Maß an sozialer Gerechtigkeit. Gesamtschuldenbelastung des Bundes bei etwa 1 400
(Detlev von Larcher [SPD]: Das hat er schon Milliarden DM liegen wird.
immer verheißen!) (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Was ist
Als dann der Bundeskanzler heute noch von Erneue- denn mit dem Geld alles gemacht wor
rung und Herr Kinkel, man höre, von Gemeinsinn und den?)
sogar Herr Schäuble von einer Gesellschaft sprach, Damit wird die finanzpolitische Handlungsfähigkeit
die Schwache schützt und Geborgenheit und Wärme immer weiter eingeschränkt. Schon heute muß jede
vermittelt, da wollte ich es am liebsten selbst schon fünfte Steuermark für Zinsen aufgewendet werden.
glauben. 1995 werden die Zinsausgaben sogar ein Viertel des
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Steueraufkommens absorbieren.
DIE GRÜNEN]: „Halleluja" kann man da nur Je nachdrücklicher Sie, Herr Bundesfinanzminister,
noch sagen!) von einer Konsolidierung der Staatsfinanzen gespro-
Denn jeder Mensch, auch der schwärzeste, ist zur chen haben, desto ungezügelter ist die Neuverschul-
Erkenntnis und zur Umkehr fähig. dung des Bundes angestiegen. So wird es sich auch in
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 115

Gerald Häfner
Zukunft verhalten. Die Zahlen, die Sie in der Prognose GRÜNEN aufruft, können Sie sich nicht mehr einkrie-
bis 1998 vorgelegt haben, werden sich schon bald als gen.
Makulatur erweisen. In einem Punkt kann man sich,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN —
denke ich, tatsächlich auf den Finanzminister verlas-
Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
sen: Seine Zahlen sind mit Sicherheit falsch, sie sind
DIE GRÜNEN]: So wandert der Segen wei
geschönt, sie entsprechen nicht der Wirklichkeit.
ter!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die steuerliche Freistellung des Existenzminimums
wird nach Ihrer sehr niedrig angesetzten Schätzung
Weder für die Steuerbefreiung des Existenzmini-
15 Milliarden DM kosten. Abgesehen davon, daß Sie
mums noch für die Verbesserung des Familienlasten-
noch nicht einmal dafür eine finanzielle Vorsorge
ausgleichs noch für die Unternehmensteuersenkun-
getroffen haben, wird eine solche Schmalspurreform
gen, die Sie sinnwidrigerweise versprechen, sind in
kaum ausreichen. Nötig ist eine Gesamtrevision unse-
der Planung entsprechende Mindereinnahmen be-
res Steuerrechts. Nötig ist es, ungerechte Privilegien
rücksichtigt. Selbst das Bundeskanzleramt, also quasi
abzuschaffen. Sie erinnern sich an das Expertengut-
das Hauptquartier der Bundesregierung, hat jetzt
achten für die Umweltministerkonferenz, das seiner-
Alarm geschlagen und festgestellt, daß die Zahlen des
zeit festgestellt hat, daß Subventionen in Höhe von
Finanzministers eine Lücke von 30 Milliarden DM
10 Milliarden DM einseitig umweltschädliches Ver-
offenbaren.
halten fördern. Hier könnten Sie, angefangen beim
Ich fordere Sie deshalb auf, endlich ein Finanz- Flugbenzin, endlich einmal mit dem Abbau von Sub-
tableau vorzulegen, ventionen und einer Vereinfachung des Steuerrechts
im Sinne der Schaffung von mehr Transparenz und
(Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Das hat mehr Steuergerechtigkeit Ernst machen.
doch bei Ihnen keinen Sinn! Sie können doch
nicht rechnen!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ihre Politik ist nicht nur sozial ungerecht, sie ist in
das glaubwürdige, wahrheitsgemäße Zahlen enthält hohem Maße auch wirtschaftspolitisch — das meine
und alle finanzpolitischen Risiken berücksichtigt. ich im wahrsten Sinne des Wortes — kontraproduktiv.
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Denn z. B. durch die Verlagerung eines Großteils der
DIE GRÜNEN]: Schluß mit den Luftbuchun- Kosten der deutschen Einheit in die Sozialversiche-
gen! Jetzt wollen wir mal die Wahrheit rungssysteme hinein haben Sie die vielfach beklagten
hören!) Lohnnebenkosten in diesem Land nach aktuellen
Schätzungen um etwa 100 Milliarden DM angeho-
Ich denke, nicht nur wir, dieses Parlament, sondern ben.
auch die Bürgerinnen und Bürger haben ein Anrecht Wieder bosseln Sie am Steuerrecht herum. Wieder
auf die Wahrheit. - wollen Sie hier und da etwas ändern. Wieder werden
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie es mit Ihren Plänen nur verschlimmbessern. Wie-
der gehen Sie die eigentliche Aufgabe nicht an,
Sie sprechen immer noch von Reformen, aber Sie nämlich eine grundsätzliche Überarbeitung des
haben in Ihrer Amtszeit noch keine einzige vernünf- Steuerrechts mit dem Ziel der Vereinfachung, der
tige Reform zustande gebracht. Verständlichkeit und der sozialen Gerechtigkeit.

(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Vor allem vor der größten Aufgabe, Herr Finanzmi-
DIE GRÜNEN]: So ist es!) nister, kneifen Sie vollständig: nämlich vor einer
Ökologisierung unseres Steuerrechts. Es ist doch
Sie haben, statt mehr soziale Gerechtigkeit zu schaf- völlig absurd und auch durch nichts gerechtfertigt,
fen, die Lasten immer mehr auf den Schwachen dieser daß wir die menschliche Arbeitskraft steuerlich mas-
Gesellschaft abgeladen und vor den mächtigen Inter- siv verteuern, während der Verbrauch von Umwelt
essengruppen gekuscht. Mit christlich und mit sozial und Umweltgütern so billig wie nur irgend möglich
hat das, Herr Waigel, schon lange gar nichts mehr zu gehalten wird. Es ist nicht immer nur böser Wille,
tun. Vielmehr haben die Finanz- und Steuerpolitik der wenn ein Unternehmer teure Arbeitskräfte entläßt
letzten Jahre sowie der Kahlschlag bei den Soziallei- und durch wesentlich billigere Maschinen — Maschi-
stungen die Spaltung der Gesellschaft vertieft. Weil nen übrigens, die sehr viel Energie und Rohstoffe
Sie und Ihre Parteifreunde sich über die gemeinsame verbrauchen — ersetzt, sondern Sie zwingen ihn mit
Erklärung der Bischöfe in Deutschland aufgeregt und Ihrer Steuerpolitik in vielen Fällen dazu. Immer öfter
gefordert haben, die Kirchen sollten sich gefälligst aus ist das Folge eines anachronistischen, sozial- und
dem Wahlkampf und dem Parteienstreit heraushal- umweltschädlichen Steuerrechts.
ten,
Sie predigen doch so gerne Marktwirtschaft. Was
(Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Sie aber, Herr Minister, wenn der Markt nicht funktio-
können ja frei reden!) niert, weil die von Ihnen gesetzten Rahmendaten
schon längst nicht mehr stimmen? Marktwirtschaft
muß ich Sie daran erinnern, wie Sie, Herr Waigel, sich müßte doch eigentlich bedeuten, daß knappe Güter
immer über das alle vier Jahre rechtzeitig erschei- sehr viel teurer, während Güter, bei denen das Ange-
nende Hirtenwort der Bischöfe gefreut haben, als es bot die Nachfrage überwiegt, billiger sind. Aber wie
noch die Wahl Ihrer Partei empfahl. Heute, wo es ist es denn nun bei den beiden Produktionsfaktoren
zwischen den Zeilen zur Wahl von BÜNDNIS 90/DIE Umwelt und Arbeit? Durch die vielen Belastungen, die
116 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Gerald Häfner
auf den Arbeitskosten liegen, sind Arbeitskräfte, Veränderungen gegeben hat, ist ihm offensichtlich
obwohl im Übermaß vorhanden, enorm teuer. Umwelt entgangen.
dagegen — heute wahrlich ein knappes Gut — gibt es Die F.D.P.-Bundestagsfraktion, meine Damen und
quasi zum Nulltarif. Die ökologischen Folgekosten Herren, stellt mit Befriedigung fest, daß die Regie-
tauchen in der unternehmerischen Kalkulation gar rungserklärung des Bundeskanzlers die Durchset-
nicht auf. Sie werden vielmehr auf die Bürgerinnen zung der Koalitionsvereinbarungen in vollem Umfang
und Bürger abgewälzt. Das führt zu einem völlig beinhaltet.
verzerrten Wettbewerb zuungunsten der Umwelt und
der Menschen in unserem Land, die Arbeit suchen. (Detlev von Larcher [SPD]: Das kann man
doch gar nicht feststellen!)
Die Zustimmung zu unserem Konzept einer ökolo-
gischen und sozialen Steuerreform geht inzwischen Ein Schwerpunkt für die Freien Demokraten bleibt
weit über Umweltverbände hinaus. Auch die Gewerk- der Politikbereich, der letztendlich 1982 zum Wechsel
schaften, die Kirchen, der Bundesverband junger der Koalition und zur Neuorientierung der deutschen
Unternehmer, die Arbeitsgemeinschaft selbständiger Politik geführt hat: die Sicherung der Staatsfinanzen.
Unternehmer in Deutschland, ja sogar der Sachver- Ein Endpunkt dieser erfolgreichen Politik ist die
ständigenrat für Wirtschaftsfragen haben dies aufge- Erringung der deutschen Wiedervereinigung in Frei-
griffen. Nur die Bundesregierung ist alleine, mauert heit. Wir stellen uns gerne den daraus resultierenden
sich ein und hält sich die Ohren zu. Aufgaben, die natürlich, Herr Kollege, eine ganze
Wir brauchen eine ökologische Steuerreform mit Menge mit Finanzen zu tun haben.
dem Ziel, die Umwelt zu schützen und Arbeitsplätze Durch die jahrzehntelange sozialistische Mißwirt-
zu schaffen. Sie, Herr Waigel, tun keines von beiden. schaft in der DDR und durch die Notwendigkeit der
Damit aber stehen Sie bald alleine. Im bekannterma- Umstrukturierung und der Privatisierung der Staats-
ßen nicht sehr umfangreichen Metaphernschatz des wirtschaft ist es zu enormen Umwälzungen gekom-
Bundeskanzlers spielt der Zug, den man erwischen men, nicht nur im Osten, sondern in ganz Deutsch-
muß, eine große Rolle, auch wenn der Bundeskanzler land. Wir wollen die Bereitschaft der Bürger, den
meistens mit dem Auto bzw. dem Flugzeug reist. Notwendigkeiten der deutschen Einheit Rechnung zu
Dieser Zug ist ohne Sie abgefahren. Sie haben ihn tragen, auch wenn diese Bereitschaft ab und an mit
verpaßt. Andere sitzen schon längst drin. Sie sollten einigem Murren versehen ist, hier und heute erneut
schauen, daß Sie schleunigst aufspringen. Sie sollten würdigen. Alle unsere Bürger haben aus dem Geschil-
nicht den alten Wein in kaum runderneuerten Schläu- derten Lasten zu tragen. Sie sind hierzu bereit.
chen verkaufen, sondern sich den großen Aufgaben Daß, meine Damen und Herren, der Umbruch einen
der Zukunft stellen. enormen Leistungstransfer in die neuen Bundeslän-
Hier bieten wir unsere Zusammenarbeit an. Wir der bedeuten mußte und daß dies auch die Bürger im
werden unsere Vorstellungen und Konzepte, unsere Westen an allen Ecken und Enden spüren, muß
Alternativen einbringen und zur Diskussion stellen. - erwähnt werden. Wir müssen dankbar dafür sein, daß
Wir hoffen als Opposition darauf, in der einen oder sie es akzeptieren. Es ist selbstverständlich, daß wir
anderen Frage hier Mehrheiten zu finden. Denn auch diese Leistungen im Sinne der inneren Einheit
dort, wo es die Vernunft am schwersten hat, nämlich Deutschlands gern erbringen. Wir wissen auch, daß
dort, wo Partei- und Fraktionsgrenzen eine Rolle die Belastungen der Menschen im Osten noch größer
spielen, wollen wir unsere Hoffnung auf Vernunft und sind. Aber die Situation wird von Tag zu Tag bes-
auf Reformfähigkeit nicht aufgeben. ser.
Ich danke Ihnen. Die Wirtschafts- und Währungsunion bedeutete ein
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) weltweit nie dagewesenes Expe riment. Der Mut der
Koalition, die Finanzierungsfolgen der deutschen Ein-
heit aus laufenden Mitteln zu versuchen, hat sich
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt gelohnt. Überall geht es aufwärts.
der Abgeordnete Dr. Wolfgang Weng. (Beifall bei der F.D.P. und bei der CDU/
CSU)
Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (F.D.P.): Frau Prä- So begründet der Hinweis von Herrn Scharping,
sidentin! Meine Damen und Herren! Eine Reihe den Herr Häfner gerade wiederholt hat, ist, daß ein
Kollegen der Grünen haben ausweislich des Hand- Teil der Leistungen aus den Sozialetats geschehen ist,
buchs ihre vierjährige Abwesenheit im Parlament zur daß also Transfers aus den Sozialetats stattgefunden
Fortbildung genutzt. Der Kollege Häfner hat das haben, muß dem doch entgegengehalten werden, daß
leider versäumt. eine Alternative dazu weder gegeben war noch
damals oder heute von Ihnen dargestellt worden wäre.
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Die Frage, ob all die Leistungen steuerfinanziert aus
DIE GRÜNEN]: Da haben Sie noch viel öffentlichen Haushalten hätten getragen werden kön-
Fortbildungszeit vor sich in den kommenden nen, muß verneint werden.
20 Jahren! — Ingrid Matthäus-Maier [SPD]:
Sie haben das leider gar nicht genutzt!) (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Nein! Das ist
falsch! Solidaritätszuschlag wäre richtig ge
Denn das, was er hier vorgetragen hat, begann
wesen!)
eigentlich nahtlos dort, wo er vor vier Jahren aufge-
hört hat. Das Interessante, daß es nämlich in der Deswegen geht das Klagelied von Herrn Scharping
Zwischenzeit in unserem Land eine ganze Reihe von ins Leere. Frau Kollegin Fuchs, die neben Ihnen
Deutscher Bundestag — 13. Wahlpe ri ode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 117
Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen)
sitzende Kollegin hat über zu viele Ausgaben aus dem nen Herr Fischer und seine Fraktion deutlich machen,
öffentlichen Haushalt immer vehement geklagt. Sie daß sie, wie Sie heute morgen angekündigt haben,
hat Finanzierungen für zusätzliche Wünsche nie in Herr Fischer, tatsächlich eine eigenständige Opposi-
genügendem Umfang deutlich gemacht tionsrolle spielen, daß sie nicht von vornherein zu
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: „Zuviele allem nein sagen, was von der Seite der Koalition auf
Schulden", habe ich gesagt!) den Tisch kommt. Auch im zukünftigen Wettbewerb
der politischen Parteien in geänderter Parteienland-
Ich bitte Sie wirklich, ganz sorgfältig einmal aufzuli- schaft wird niemand für Fundamentalopposition dau-
sten — nicht an dieser Stelle; das können Sie schrift- erhaft Anhänger finden. Der Wettbewerb wird härter,
lich nachreichen —, in welcher Weise die Steuerbela- damit aber auch interessanter. Wir sind überzeugt,
stung der Bürger gestiegen wäre, wenn die Leistun- daß wir ihn bestehen, sosehr Sie hier auch mit Ansprü-
gen der Sozialetats in die neuen Bundesländer ausge- chen in einer Reihe von Politikbereichen antreten. Wir
fallen wären und hier eine totale Haushaltsfinanzie- werden denen entgegentreten und inhaltlich darüber
rung hätte stattfinden müssen. Das wäre nicht zu diskutieren.
leisten gewesen.
(Detlev von Larcher [SPD]: Wir reden nach
(Jörg Tauss [SPD]: Aber ehrlicher!) der nächsten Landtagswahl weiter!)
Erfreulich in diesem Zusammenhang sind Meldun-
gen, daß der Zuschußbedarf sinkt — Wir vertrauen auf mündige Bürger, die erneut
Liberale in die Parlamente senden werden.
(Abg. Anke Fuchs [Köln] [SPD] meldet sich
zu einer Zwischenfrage) (Peter Dreßen [SPD]: Da gibt es nur noch
wenige!)
— nein, Frau Präsidentin, ich möchte im Zusammen-
hang sprechen —, weil die beginnende Dynamik der Die Koalitionsvereinbarung beinhaltet die Fortfüh-
Wirtschaftsentwicklung auch am Arbeitsmarkt Besse- rung der Privatisierung. Dieses betrifft nicht nur
rung bringt. Die Voraussage, daß die Bundesanstalt Industrievermögen des Bundes — Sie wissen, daß wir
für Arbeit im kommenden Jahr einen wesentlich hier in den vergangenen Jahren das Wesentliche
geringeren Zuschuß benötigt, als dies bisher progno- getan haben —, sondern ganz nachhaltig auch den
stiziert war, signalisiert auch einen Teil Entspannung. Dienstleistungsbereich. Natürlich betrifft es ebenso
Auch hier sehen wir richtige Politik mit guten Ergeb- die Gebietskörperschaften, die Länder und Gemein-
nissen. den, in denen in viel größerem Umfang als beim Bund
Privatisierungen möglich sind. Wir haben in der
Es bedeutet Mut, und die Koalition hat diesen Mut,
Endphase der vergangenen Wahlperiode mit der
daß trotz knapper Kassenlage steuerliche Entlastung
Änderung des Haushaltsgrundsätzegesetzes noch
und steuerliche Veränderungen in wichtigen Berei-
einen Versuch gemacht. Hierauf wollen wir zurück-
chen in Angriff genommen werden. Das gilt für den
kommen; denn es besteht, wie schon gesagt, dringen-
Familienlastenausgleich ebenso wie für die geplante
Freistellung des Existenzminimums von Steuern. - der Handlungsbedarf.

(Detlev von Larcher [SPD]: Ihr habt genug Auch hier möchte ich die SPD gerade wegen ihrer
Zeit gehabt!) heute mehrfach erwähnten Verantwortung im Bun-
desrat und wegen ihrer Verantwortung in vielen
Das gilt aber auch für die Ankündigung von Verän- Städten und Gemeinden unseres Landes auffordern,
derungen bei der Gewerbesteuer. Es ist, meine den gesellschaftlichen und politischen Notwendigkei-
Damen und Herren, eine Uraltforderung der F.D.P., ten Rechnung zu tragen. Sie sollten zukunftsgerich-
die Gewerbesteuer durch ein anderes Steuersystem tete Politik nicht blockieren.
für die Kommunen zu ersetzen.
(Detlev von Larcher [SPD]: Die machen Sie ja
(Peter Dreßen [SPD]: Von den kleinen Leuten nicht! — Jörg Tauss [SPD]: Dann legen Sie
zu den großen!) mal Ihre zukunftsgerichtete Politik auf den
Es ist außerordentlich erfreulich, daß nach langen Tisch! Das ist ja unglaublich!)
Jahren auch bei vielen Kommunen ein Umdenken
stattgefunden hat. Sie könnten, wie schon so oft, zu spät die Kurve
kriegen; denn daß weniger Staat, daß mehr Politik mit
(Beifall bei der F.D.P. — Peter Dreßen [SPD]: weniger öffentlichen Geldern die zwangsläufige Ent-
Bei welchen denn?) wicklung der kommenden Jahre ist, ist nicht zu
Die Ankündigungen des Herrn Bundeskanzlers in bestreiten.
der Regierungserklärung heute morgen und auch die Meine Damen und Herren, die Reduzierung des
vom Kollegen Schäuble hierzu gemachten Ausfüh- Personalbestands in den Bundesbehörden ebenso
rungen waren so vernünftig, daß ich die sehr harsche wie die Zusammenlegung und Auflösung von nicht
Ablehnung durch Herrn Scharping nicht verstehen mehr notwendigen öffentlichen Einrichtungen gehö-
kann. Ich fordere die SPD-Fraktion dringend auf, zu ren mit zur Politik der Koalition.
diesen Vorschlägen nicht ohne Prüfung nein zu sagen,
denn diese Vorschläge bedeuten für den Wirtschafts- (Detlev von Larcher [SPD]: Das ist noch keine
standort Bundesrepublik Deutschland eine nachhal- Staatsreform!)
tige Verbesserung, ja eine Notwendigkeit.
Wir werden im Bereich der Ministerien zusätzlich ein
Ich will in diese Aufforderung auch BÜNDNIS 90/ Augenmerk darauf richten, daß die während des
DIE GRÜNEN ausdrücklich einbeziehen. Hier kön Einheitsprozesses erforderlichen zahlreichen Stellen
118 Deutscher Bundestag — 13. Wahlpe riode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen)


für Spitzenbeamte wieder auf das Normalmaß zurück- sie nicht genügend aufgepaßt, um das begreifen zu
geführt werden, können.
(Detlev von Larcher [SPD]: Und das ist Staats- Meine Damen und Herren, die Koalitionsvereinba-
reform?) rung und die heutige Regierungserklärung sind eine
gute Basis für zukunftsgerichtete Arbeit der Koalition
dies verbunden mit Organisationsstrukturen der künf-
aus Union und F.D.P. Wir wissen, daß diese Arbeit bei
tigen Ministerien, Herr Kollege von Larcher, die
knapper gewordener Mehrheit nicht leicht wird. Aber
effektiv und ohne unnötig aufgeblähten Wasserkopf
wir stellen uns dieser Aufgabe im Bewußtsein, daß die
sein müssen.
Mehrheit der Wähler unsere zukunftsgerichtete Poli-
(Vorsitz : Vizepräsident Hans Klein) tik wünscht. Die Freien Demokraten im Deutschen
Hierzu erbitte ich schon heute die Flankierung Bundestag werden jeden möglichen Anteil zum
durch den Bundesrechnungshof, der als Beauftragter Gelingen der Koalition und ihrer Politik leisten.
für die Wirtschaftlichkeit der Verwaltung unser natür- Vielen Dank.
licher Partner ist. Natürlich wissen wir, daß es mit der (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Bundesregierung ein bißchen schwieriger werden
wird. Vermutlich ist es auch deswegen nicht gelun-
gen, dies in dem Maße in die Koalitionsvereinbarung Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat die Kollegin
zu bringen, wie ich es hier vorgetragen habe. Andrea Lederer.
Meine Damen und Herren, die Vereinfachung des
Steuerrechts ist angekündigt. Ich will zusätzlich dar- Andrea Lederer (PDS): Herr Präsident! Liebe Kolle-
auf hinweisen, daß auch Überlegungen bezüglich ginnen und Kollegen! Nach acht Stunden halten wir
flexiblerer Haushaltsverfahren und Instrumente jetzt um 17 Uhr unseren zweiten Redebeitrag. Da die
einen wichtigen Schritt in die Zukunft bedeuten. Wir Debatte auch im Vorfeld nicht strukturiert worden ist,
wünschen höhere Verantwortung an der Peripherie komme ich wieder auf die Außenpolitik zurück.
und werden daher Chancen für eine solche höhere
Verantwortung geben. Das heißt, die allzu starre Vorab aber eine Bemerkung zum Redebeitrag des
Einengung der handelnden Behörden wird künftig Abgeordneten Dregger: Ich weiß nicht, ob er hier
zumindest versuchsweise aufgelockert werden. seine verhinderte Alterspräsidentenrede gehalten
hat. Sollte das der Fall sein, kann man wirklich nur
Ich sage für die F.D.P.-Fraktion: Wir werden sehr dankbar sein, daß Stefan Heym Alterspräsident dieses
sorgfältig prüfen, ob der neuen Verantwortung ent- Parlaments geworden ist.
sprechend Rechnung getragen wird; denn wenn wir
erreichen, daß das November-/Dezemberfieber wirk- (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten
lich abgeschafft wird, wollen wir damit natürlich des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
keinen allgemeinen Schlendrian oder fehlende Trans- In ähnlich diffamierender Weise habe ich den Bei-
parenz beim Umgang mit öffentlichen Mitteln und mit trag des Finanzministers Waigel zu Stefan Heym
dem Geld des Steuerzahlers bekommen. verstanden. Solche Beiträge werden Ihnen knallhart
Mehr Verantwortung bei Angehörigen des öffentli- auf die Füße zurückfallen. Das garantiere ich Ihnen.
chen Dienstes kann mehr Risiko für diese Angehöri- (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
gen bedeuten, auch wenn unsere Idee einer Beförde- DIE GRÜNEN]: Das will er doch!)
rung auf Zeit nicht Teil der Koalitionsvereinbarung Zur Außenpolitik: Der bisherige Kurs der „interes-
wurde. senwahrenden und wertorientierten Außenpolitik"
Das Haushaltsmoratorium, die Ankündigung ge- der Bundesregierung soll entschlossen fortgesetzt
ringeren Wachstums des Bundesetats gegenüber dem werden. Diese Kontinuität wird in der Außenpolitik in
Sozialprodukt, liest sich in der Vereinbarung ganz der Tat zu einer Bedrohung. Deshalb hat es mich
einfach. Es wird in der Durchführung manches Zäh- erschrocken, feststellen zu müssen, daß der Vorsit-
neknirschen bei den Kollegen geben, die die Finan- zende der SPD-Fraktion nicht eine Nuance anderer
zierung von Wünschen nicht durchsetzen können. Vorstellungen in der Außen- und Sicherheitspolitik,
Auch hier könnte eine konstruktive Opposition in als sie die Regierung hier vertreten hat, nennen
Zukunft beweisen, daß es ihr wirklich um unser Land konnte — nicht eine einzige! Das haben die Beiträge
und seine Bürger geht und sie nicht mit schlichter des Kollegen Verheugen und von Frau Wieczorek-
Blockadehaltung parteipolitischen Vorteil zu gewin- Zeul ein wenig wiedergutgemacht. Aber nicht einmal
nen sucht. zum Thema „Rolle der Bundeswehr" hat er nur eine
abweichende Vorstellung geäußert. Man hatte gar
den Eindruck, es handele sich in diesem Bereich schon
Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Weng, Sie wieder um eine große Koalition.
sind schon ein Stück über die Zeit. Zu dieser Koalitionsvereinbarung läßt sich folgen-
des feststellen: Erstens. Für die Bundesregierung heißt
Außenpolitik Europapolitik, vor allem Westeuropa,
Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (F.D.P.): Herr Prä- Westeuropa und nochmals Westeuropa. An die osteu-
sident, das ist zu bedauern, weil ich noch so viel zu ropäischen Staaten werden im wesentlichen schöne
sagen hätte, was sagenswert ist. Worte gerichet.
(Lachen bei der SPD) Zweitens. Der Rest der Welt wird praktisch unter
Ich ende dann, obwohl das nicht gerade nach Zustim- den Gesichtspunkten „Eindämmung von Flüchtlings-
mung der Kollegen klingt; aber wahrscheinlich haben strömen" und „Erschließung neuer Märkte" abge-
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 119

Andrea Lederer
handelt. Der Absatz zur sogenannten Entwicklungs- zum Fernhalten von und Abschotten vor Flüchtlingen
politik ist angesichts der globalen Probleme purer abschließen.
Zynismus.
Die zwölf Zeilen zur Entwicklungspolitik — ich
Drittens das mögen Sie noch hundertmal bestrei- habe es bereits erwähnt — sind rein zynisch. Anstatt in
ten —: Das Militärische wird zunehmend Charakteri- diesem Bereich, der sich immerhin mit globalen Pro-
stikum deutscher Außenpolitik, sowohl hinsichtlich blemen zu befassen hat, konkrete Vorschläge zur
der Rolle und der Aufgaben der Bundeswehr als auch Bekämpfung von Massenarbeitslosigkeit, zur Siche-
in der Schwerpunktsetzung nunmehr in der Europa- rung sozialer und anderer Menschenrechte, zur
politik. Es gibt die Militarisierung der deutschen Bewältigung ökologischer Fehlentwicklungen und
Außenpolitik. Auch wenn Sie es, wie gesagt, hundert- vor allem zur Konfliktvorbeugung zu unterbreiten,
mal bestreiten, werden wir es immer wieder feststel- wird auch dieser Bereich unter das „deutsche Inter-
len. esse" subsumiert. Besorgt stellt man fest, daß wohl
mehr Unterstützung verlangt werden wird, aber nicht
Bei der Europapolitik sieht es folgendermaßen aus: ein Vorschlag zur Veränderung der Weltwirtschafts-
Die einmal als „zaghafte Überlegungen" titulierten ordnung wird unterbreitet.
Vorstellungen und Vorschläge des Fraktionsvorsit-
zenden der CDU/CSU zur Europapolitik sind jetzt So, wie Sie im Inneren des Landes Politik betreiben,
Regierungsprogramm. Es soll ein Europa der zwei bis so betreiben Sie auch Außenpolitik: auf Kosten der
fünf Geschwindigkeiten geben, eine Europäische Schwächeren und zum Nutzen der Stärkeren. Wenn
Union, die kaum Rücksicht auf schwächere Staaten Sie darauf verweisen, daß Entwicklungshilfe schließ-
nimmt, eine Union, die nicht nur einen Kern hat, lich erwirtschaftet werden muß, so können wir uns
sondern einen Kern des Kerns, und diesen bilden eines ausmalen: Der künftige Entwicklungshilfehaus-
Deutschland und Frankreich. Das ist heute wiederholt halt wird real sinken, d. h. es gibt nichts, abgesehen
worden. von Profiten für einige deutsche Unternehmen.
In drei zentralen Bereichen soll die Europäische Wir fordern die Bundesregierung auf, im Hinblick
Union, wie Sie es nennen, eine Erneuerung erfahren: auf die Revisionskonferenz zum Maastricht-Vertrag
Zum einen ist zu befürchten, daß die Währungsunion alle Anstrengungen darauf zu richten, mehr Demo-
rücksichtslos, ohne die Folgen für ökonomisch schwä- kratie, mehr soziale Gerechtigkeit, mehr Solidarität
chere Länder zu berücksichtigen und ohne Maßnah- gegenüber den anderen Kontinenten und mehr Maß-
men dagegen zu ergreifen, durchgesetzt wird. Die nahmen zur Aufrechterhaltung des Friedens zu errei-
katastrophalen Folgen für solche Länder, die dort chen. Wir werden im Laufe dieser Legislaturperiode
nicht mithalten können, sind den Autoren dieser konkrete Forderungen einreichen. Wir verlangen, daß
Vereinbarung nicht einmal eine Zeile wert. sich die Bundesregierung dafür einsetzt, daß Entwick-
lungsländer reale Chancen auf dem Weltmarkt erhal-
Zweitens soll mit der Entwicklung der Westeuropäi- ten, daß eine wirkliche Öffnung der Märkte erfolgt,
schen Union zum militärischen Arm der Europäischen daß Preis- und Absatzgarantien festgeschrieben wer-
Union eine Orientierung auf eine militärische Identi-
den.
tät der Union zum Schwerpunkt gemacht werden:
Identität Europas durch Soldaten. Ich habe jetzt schon Es jährt sich im nächsten Jahr auch der Tag der
Verteidigungsminister Rühe im Ohr, wie er davon Gründung der UNO. Nicht ein Vorschlag ist hier
schwärmen wird, wie der europäische Einigungspro- seitens des Außenministers Kinkel erwähnt worden.
zeß in einem Leopard-Panzer vorangebracht werden Er hat wiederum nur darüber palavert, daß der stän-
kann; so, wie er es damals getan hat, als es um die dige Sitz im UNO-Sicherheitsrat noch nicht erreicht
ost-west-deutsche Einigung ging und er uns hier sei und man nunmehr mit dem nichtständigen erst
vortrug, wie herrlich sich die beiden deutschen Solda- einmal eine Weile vorliebnehmen müßte. Nicht ein
ten aus Ost und West in einem Panzer verstanden Vorschlag zum Thema Reform und Demokratisierung
hätten. der UNO.
Die KSZE wird an keiner einzigen Stelle in der Im Februar 1995 wird der Weltsozialgipfel stattfin-
Vereinbarung erwähnt; sie ist heute auch in dem den. Die Bundesregierung hat sich geweigert, die von
Redebeitrag des Kanzlers nicht vorgekommen. Es ist der UNO geforderte nationale Kommission zur Vorbe-
bezeichnend, daß Sie diese Institution, die hier gelobt reitung überhaupt einzurichten, obwohl die soziale
wurde als eine Institution, die die Kultur des Gewalt- Situation weltweit unbestritten sehr viel mit der Ent-
verzichtes entwickelt habe, abgeschrieben haben; Sie stehung von Konflikten, von Kriegen, von Flüchtlings-
orientieren sich rein auf Militärbündnisse und die strömen — wie Sie es nennen — und von Verhältnis-
traditionellen Strukturen. sen, die dazu führen, daß Menschen ihre Heimat
verlassen müssen, zu tun hat.
Zum dritten sollen osteuropäische Länder erst dann
eingegliedert werden, wenn sich der Kern des Kerns Das Thema der Verlängerung des Vertrages über
und der Kern Westeuropas hierarchisch gefestigt die Nichtweiterverbreitung von Nuklearwaffen ist
haben. Die Mahnung des Kanzlers an die osteuropäi- der Koalition nichts wert. Es kann hier nicht nur darum
schen Staaten war mehr als deutlich. Es wird die gehen, den Vertrag zu verlängern, sondern es muß ein
Erfüllung politischer und ökonomischer Vorausset- für allemal im Grundgesetz verankert werden, daß
zungen gefordert. Ansonsten gibt es schöne Worte. dieses Land auf Nuklearwaffen, auf ABC-Waffen
Wenn diese Voraussetzungen nicht erfüllt sind, wird verzichtet. Die Bundesregierung muß sich dafür ein-
es keine Realisierung dieser schönen Worte geben, setzen, daß tatsächlich sämtliche Kernwaffen aus
sondern dann wird man nur bilaterale Abkommen Europa abgezogen werden.
120 Deutscher Bundestag — 13. Wahlpe riode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Andrea Lederer
Noch ein Thema, das wir ansprechen und zu dem Zusammenarbeit Carl-Dieter Spranger vorliegen, der
wir Vorschläge einbringen werden: Rüstungsexport. bittet, es zu Protokoll geben zu dürfen. Besteht Ein-
Wenn die Koalition unter der Überschrift „Deutsche verständnis des Hauses damit? — Das ist offensichtlich
Position in der Weltwirtschaft ausbauen" von der der Fall. *)
Harmonisierung der Exportkontrollregeln spricht, Dann erteile ich das Wort dem Bundesminister des
dann ist eben zu befürchten, daß damit wieder einmal Innern, Herrn Manfred Kanther.
alle Regelungen zum Rüstungsexport gemeint sein
werden, die auf möglichst niedrigem Niveau nivelliert (Detlev von Larcher [SPD]: Warum gibt er
werden sollen. Sie können sich jeden Verweis auf seine Rede nicht auch zu Protokoll?)
strenge deutsche Vorschriften ersparen; denn immer-
hin ist es der BRD trotz dieser Vorschriften gelungen,
auf der Liste der Länder mit den meisten Waffenex-
porten auf Platz 3 zu kommen. Wir fordern, daß die Manfred Kanther, Bundesminister des Innern: Herr
Rüstungsproduktion drastisch eingeschränkt, der Rü- Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Szenen-
stungsexport für dieses Land verboten und das auch wechsel zu einigen Bemerkungen zur Innenpolitik,
im Hinblick auf die Europäische Union angegangen die ein wesentliches Feld der kommenden Legislatur-
wird. periode sein wird, wobei sie bei ihren vielen Verant-
wortlichkeiten eine im Vordergrund sehen muß. Das
(Beifall bei der PDS und dem BÜNDNIS 90/
ist die dauerhafte Gewährleistung des inneren Frie-
DIE GRÜNEN)
dens. Ich betrachte das als einen weiteren Kreis um die
Zum Schluß noch eine Bemerkung zu der vom innere Sicherheit herum. Beides hat wichtige Zusam-
Kollegen Verheugen geäußerten Illusion, was das menhänge.
Verständnis der Bundesregierung zum Thema „Auf-
rechterhaltung des Friedens" anbelangt. Ich bin mir Natürlich ist die Bewahrung des inneren Friedens
sicher — und wer die Koalitionsvereinbarungen eine komplexe Aufgabe für Wirtschafts-, Sozial-,
genau liest, wird das auch feststellen können —, daß Gesellschafts- und Bildungspolitik; die Innenpolitik
die Bundesregierung leider nicht die Aufrechterhal- leistet aber ihre Beiträge dazu. Sie leistet ihre Beiträge
tung des Friedens mit entsprechenden Blau Helm- -
zur Gewährleistung eines verträglichen Zusammen-
Einsätzen meint — davon werden wir bzw. vor allem lebens der Gruppen und der einzelnen. Das ist eine
andere Länder in Zukunft auch betroffen sein —, entscheidende Aufgabe.
sondern davon ausgeht, daß die Bundeswehr grund- Wir werden nie erreichen, in einer konfliktfreien
sätzlich bei allen Maßnahmen uneingeschränkt mit- Gesellschaft zu leben. Die Zurücknahme der Konflikte
machen kann, d. h. auch im Rahmen von Sicherheits- auf die Basis der Verträglichkeit und der Bereitschaft
systemen, wie es das Karlsruher Urteil leider festge- zum generellen Konsens ist aber schon eine wesent-
schrieben hat. liche Aufgabe. Bei der Komplexität unserer Gesell-
schaft ist das eine Aufgabe, die viele Gruppen
betrifft.
Vizepräsident Hans Klein: Die Zeit, Frau Kollegin. Ganz besonders trifft dies für die Frage des verträg-
lichen Zusammenlebens von deutschen und auslän-
dischen Mitbürgern in Deutschland zu. Wir haben
Andrea Lederer (PDS): Ich komme zum Schluß. Es erlebt, wie diese Verträglichkeit im Vorfeld des Asyl-
geht dort nicht nur um UNO-Einsätze, sondern es wird kompromisses gefährdet war. Wir haben erlebt, wie es
um eigenständige Einsätze der NATO und der WEU in der Bevölkerung Angst gab vor unkontrollierter
gehen, und wir werden hier auch konfrontiert sein mit Zuwanderung, die die Politik der Mitte nicht mehr
Kampfeinsätzen, an denen sich die Bundeswehr betei- steuern kann, wie praktische Probleme zugenommen
ligen soll. Ich stelle die Frage an alle Oppositionspar- haben und wie schwierig es war, die sehr plötzliche
teien: Was haben Sie vor, um Barrieren dagegen übergroße Zuwanderung im Griff zu behalten.
aufzustellen? Wir werden jedenfalls unser antimilita-
ristisches Engagement so fortsetzen, wie wir es in der Das Phänomen dieses Zusammenlebens als einer
letzten Legislaturperiode gemacht haben. herausragenden und wichtigen Frage des inneren
Friedens wird uns weiter begleiten. Die Vorstellung,
Ich danke.
eine solche Problematik könne uns in Zukunft verlas-
(Beifall bei der PDS)
sen, ist irreal. Das Zusammenleben der Deutschen mit
einer großen Zahl von Ausländern wird dauerhaft
unsere Zukunft sein. Denn die Bedingungen dafür
Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Lederer, werden fortbestehen.
ich glaube nicht, daß der Ausdruck „palavern" ausge-
sprochen unparlamenta ri sch wäre. Nicht nur die 7 Millionen Ausländer, die im Land
leben, sondern auch die vielfältigen Konfliktfelder in
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
der Welt, die magnethafte Anziehungskraft unseres
DIE GRÜNEN]: Na ja!)
Landes, offene Grenzen, um die wir lange Jahre
Nur kann nach allgemeinem Sprachverständnis ein gestritten haben und die bei aller Notwendigkeit ihrer
einzelner nicht palavern; das kann nur eine Sicherung fortbestehen werden, bedeuten, verträgli-
Gruppe. ches Zusammenleben zwischen Deutschen und Aus-
(Zurufe von der SPD: Oh!) ländern zu gestalten.
Meine Damen und Herren, ich habe hier das Rede-
manuskript des Bundesministers für wirtschaftliche *) Anlage 2
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 121

Bundesminister Manfred Kanther


Die Aufgabe ist, dies realitätsbewußt zu tun und unzumutbare Härten das verlangen. Überhaupt tritt
nicht von irgendwelchem Wunder- und Wunschglau- unsere Rechtsordnung ausländischen Mitbürgern
ben oder hinter Schimären herjagend geleitet. ohne solche Härten entgegen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
ordneten der F.D.P.) DIE GRÜNEN]: Was ist denn die Haltung der
Dazu gehört, daß wir natürlich ein Integrationsange- Frau Justizministerin? Die soll mal was dazu
bot, soweit das nach unseren Kräften möglich ist, an sagen!)
jeden machen, der es annehmen will und kann. Ich Aber wir werden uns nicht weismachen lassen, daß
schiebe jetzt nur ein, ohne es näher auszuführen, daß juristische Schritte Integration ersetzen können.
wir nicht ausschließlich Integration anbieten. Es ist
(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/
natürlich das Recht von Ausländern, in Deutschland
CSU]: Sehr richtig!)
auch nicht integriert zu leben.
Vor kurzem habe ich einen der letzten Beiträge in
Aber bleiben wir bei dem schwierigen Feld der
diesem Zusammenhang gelesen, der da sagt: dop-
Integration. Das hat etwas mit der Zahl derer zu tun,
pelte Kinderstaatsangehörigkeit für all diejenigen
an die sich das Angebot wendet und die die Forderung
Ausländerkinder, die hier geboren sind. Das ist zum
erheben. Das hat etwas mit der Zeitschiene zu tun, auf
Teil auch Ihre Position. Wenig später las ich das
der sie sich abspielen kann. Das hat etwas mit der
Argument: Abkehr vom Abstammungsrecht und
Gewöhnung der Menschen an das Phänomen in der
Ersetzung durch das Bekenntnis zur Verfassung und
Zeit zu tun. Damit werden auch die Grenzen der
zu den Gesetzen des Gastlandes.
gesellschaftlichen Leistungskraft deutlich, Grenzen,
die sich aus Sprache und Bildung, aus Fragen von (Zuruf von der SPD: Sehr gut!)
Arbeit und Nichtarbeit, aus Fragen der Eingewöh- Meine Damen, meine Herren, Sie müssen sich schon
nung in die Gesetze des Gastlandes oder ihres Bruchs einmal überlegen, welches Argument sie wollen:
ergeben. Abstammung oder Jus soli? Aber wenn Jus soli, dann
Deshalb wird diese Koalition alles tun, was prakti- doch bitte nicht verschnitten mit der Verfassungstreue
sche Integrationshilfen bedeuten kann. Wir werden des hier geborenen Säuglings.
alles tun, was das Leben der ausländischen Mitbürger
(Detlev von Larcher [SPD]: Das stimmt!)
mit ihren deutschen Mitbürgern verbessern kann.
Aber wir können nicht glauben, daß bare juristische Man muß sich nur einmal an einem Beispiel überle-
Schritte an die Stelle wirklicher Integration in die gen, was die Argumente taugen. Dann kommt man
Lebensumstände treten können. auch zu praktischen Lösungen für dieses schwierige
Feld.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Wir werden uns deshalb, oft eingefordert, um (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
zusätzliche Chancen für die Integration von jungen - DIE GRÜNEN] Verfassungstreue eines
Ausländern, von ausländischen Kindern bemühen: Säuglings!?)
auf der EG-Basis, beim Schüleraustausch, bei Schü- — Sie müssen sich nur die Argumente überlegen, Herr
lerreisen, studentischem Leben. Das werden wir mit Fischer.
einer hohen Wahrscheinlichkeit noch während unse- Ich bin für die praktischen Eingliederungshilfen
rer Präsidentschaft leisten können. Das war immer zuständig und nicht für die juristischen Schimären wie
eine wichtige Forderung. den Rechtsanspruch auf doppelte Staatsangehörig-
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ keit. Ausländerwahlrecht per se ohne Integration,
DIE GRÜNEN]: Das ist aber auch alles, was Einwanderungsgesetz ohne zu sagen, was man damit
Sie hinbekommen!) will und wie es aussehen soll, und auch die übergroße
Bleiben wir bei den menschlichen Dingen, lieber Zahl noch immer unberechtigter Asylbewerber oben-
Herr Fischer: daß ausländische Schüler im Bus, wenn drauf — dies alles trägt nicht zum inneren Frieden bei,
sie mit der Klasse nach Österreich fahren wollen, sondern bringt ihn eher in Gefahr.
keinen anderen Paß vorzeigen müssen als deutsche (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf des Abg.
Kinder. Das war ein Teil dieser Forderungen. Das Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
werden wir mit der Kinderstaatsangehörigkeit und DIE GRÜNEN])
dem gleichen Paß leisten. Bleiben wir bei den kleinen
Deshalb besteht eine wichtige Aufgabe der Innen-
praktischen Fragen,
politik — und die kann nur von Bund und Ländern
(Jörg Tauss [SPD]: Ein deutscher Eltern gemeinsam gelöst werden — in der Durchführung des
teil!) gefundenen Asylkompromisses in allen seinen Kom-
und reiten wir nicht die juristischen Schimären zu ponenten: in der Gewinnung von Grenzsicherheit, in
Tode. den Verfahren im Inland, in der Notwendigkeit der
Abschiebung von nicht zum Aufenthalt berechtigten
Doppelte Staatsangehörigkeit als Rechtsanspruch Ausländern und in der Absicherung dieser Politik in
wird es nicht geben, weil sie die Integration behindert Rückübernahmeabkommen mit unseren Nachbarlän-
und nicht fördert. dern bis hin zu den Herkunftsländern.
(Beifall bei der CDU/CSU) Nur wer den Asylkompromiß getreulich erfüllt,
Doppelte Staatsangehörigkeit als Ausnahme ist längst kann auf seine friedenstiftende Wirkung rechnen.
gängige Praxis in Deutschland, nämlich dort, wo Wer ihn mit Abschiebestoppabkommen, unterschied-
122 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Bundesminister Manfred Kanther


lieh nach jedem einzelnen sozialdemokratisch regier- Schule, der zwei Jahrzehnte lang in manchen Bundes-
ten Land, unterläuft, ländern niedergemacht worden ist,
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU —
DIE GRÜNEN]: Na! Na!) Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/
leistet keinen Beitrag zu diesem inneren Frieden. DIE GRÜNEN: Oh!)
die kritische Einstellung zu Medienbeiträgen, die
(Beifall bei der CDU/CSU)
Wiederbelebung einer Wertediskussion, die mit
Sekundärtugenden abgewertet worden ist.
(Eckart Kuhlwein [SPD]: Wir warten seit 1983
Vizepräsident Hans Klein: Herr Bundesminister, auf die geistig-moralische Führung! —
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Burk- Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
hard Hirsch? DIE GRÜNEN]: Jawohl, Herr Hauptfeldwe
bel!)
Weil uns die Sekundärtugenden jetzt fehlen, sieht
Manfred Kanther, Bundesminister des Innern: manches in der inneren Sicherheit so schlecht aus. Das
Nein. alles hat etwas mit den Präventivkräften der Gesell-
schaft zu tun.
Dazu gehören europäische Regelungen, die nicht
allein von uns erarbeitet werden können. Die über- (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
wältigende Mehrzahl der Asylbewerber und Flücht- DIE GRÜNEN]: Wer macht denn die Medien
linge in Europa hat in Deutschland Unterkunft gefun- politik? Wer hat denn 10, 20, 30 Kanäle
den. Schwachsinn zu verantworten?)
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ — Herr Fischer, da ich doch Ihre Zwischenrufe nun seit
DIE GRÜNEN]: Ein echter Eisenbeißer!) zehn Jahren von anderer Stelle alle kenne,
Leider ist es so, daß unsere westlichen Nachbarn es (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
nicht schrecklich eilig haben, sich diese Belastung mit DIE GRÜNEN]: Die werden Sie auch noch
uns zu teilen. An dieser Stelle werden wir noch eine weitere Jahre ertragen müssen!)
wichtige europäische Überzeugungsarbeit leisten antworte ich Ihnen gerne auf die Frage nach den
müssen. privaten Medien und ihrem unerfreulichen Gewalt-
Die Komplexität dieser Politik muß offen erklärt und angebot, das sich allerdings nur minimal von dem der
keine ihrer Facetten darf verschwiegen werden. Denn öffentlichen Sender unterscheidet, aber es immer
wenn die demokratische Mitte in den Geruch kommt, noch übertrifft.
mit diesen Problemen nicht fertigzuwerden — und in (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. —
dem Geruch war sie vor dem Asylkompromiß —, dann - Widerspruch bei der SPD — Zuruf des Abg.
ist das die Stunde der Rattenfänger von rechts mit Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
ihren vereinfachten Ordnungskonzepten. DIE GRÜNEN])
(Beifall bei der CDU/CSU) — Herr Fischer, es ist wieder ein Zeichen Ihrer
Daß wir sie niedergerungen haben, war eine heraus- Maschinenstürmerei und Technikabwendung,
ragende Leistung nicht nur der Union, aber auch und (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
ganz besonders der Union. Auf diesem Wege wollen DIE GRÜNEN]: Ach, woher! — Widerspruch
wir fortfahren: die Radikalen von allen Seiten, aber bei der SPD)
natürlich auch von rechts, in der Bedeutungslosigkeit
daß Sie nicht unterscheiden können, daß man mit dem
zu halten, in die sie gehören.
Hammer einen Schädel einschlagen oder einen Nagel
Das ist um so wichtiger, als sich das Thema des in die Wand klopfen kann, und so ähnlich ist es mit den
verträglichen Zusammenlebens von Deutschen und privaten Medien.
Ausländern mit wichtigen Fragen des engeren Kreises
(Beifall bei der CDU/CSU)
der inneren Sicherheit begegnet. Einige Bemerkun-
gen zu diesem unendlich wichtigen Thema der Daß sie ihren Unterhaltungsauftrag mit dem Angebot
Gewährleistung der inneren Sicherheit, des Schutzes an Gewaltsendungen, das sie heute produzieren,
der Bürger vor Verbrechen gegen Leib und Leben, falsch erfüllen, sage ich jeden Tag,
Eigentum und persönliche Bewegungsfreiheit. (Detlev von Larcher [SPD]: Stellen Sie es
Wir wissen, daß dazu zuallererst die Abwehrkräfte ab!)
der Gesellschaft im ganzen gestärkt werden müssen. und wir werden sie dahin bringen, daß sie eine
Alle Antworten, die mit Polizei und Gericht am Ende unschädlichere Form von Unterhaltung anbieten.
der Kette gegeben werden, sind schlechter als dieje-
nigen, die die Gesellschaft präventiv geben kann. (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf des Abg.
Dazu muß sie zusammenrücken. Dazu muß sie Fehl- Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
entwicklungen korrigieren. Dazu müssen Politiker DIE GRÜNEN])
viele, viele ihrer Verheißungen der Vergangenheit Nur, das ist keine Aufgabe, die sich allein an private
überprüfen. Ich will das jetzt nicht im einzelnen Medien richtet. Das ist ein Aspekt. Dazu müssen die
ausführen, aber dazu gehören die Stärkung von Fami- Kräfte der Wirtschaft, die daran beteiligt sind, diese
lie, die Stärkung des Erziehungsgedankens in der Werbeecken zu suchen, und die Agenturen, die dort
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 123

Bundesminister Manfred Kanther


hinschalten, und die Unternehmungen, die dort ihre schreitende Kriminalität im Schlepperunwesen; Nu-
höchsten Einschaltquoten für die Konsumgüterwer- klearkriminalität, Kraftfahrzeugdiebstahl oder orga-
bung suchen, mitwirken. Ganz am Schluß gibt es eine nisierter Einbruch; neue Methoden und Techniken
hohe Einschaltquote nur deshalb, weil irgend jemand sowie neues Management im organisierten Verbre-
den Apparat anschaltet. Dann schließt sich ein Kreis chen, eine grenzüberschreitende Kriminalität, die im
zur schwierigen Erziehungsaufgabe z. B. in der Fami- Bereich der organisierten Kriminalität überwiegend
lie oder in der Schule. ist. Zwei Drittel bis drei Viertel aller Delikte der
organisierten Kriminalität haben internationale Zu-
(Beifall bei der CDU/CSU) sammenhänge. An über der Hälfte der Delikte im
Natürlich gehört zu den präventiven Kräften in Land sind Ausländer beteiligt, deliktorientiert nach
einem engeren Sinne, bestimmten ethnischen Gruppen.
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Es liegt auf der Hand, daß wir neues Handwerks-
DIE GRÜNEN]: Ein echter Kulturkämpfer!) zeug benötigen, um in so abgeschlossene Gruppen
daß wir uns auf das besinnen, was wir auch neu von Kriminalität mit neuen Methoden der Bekämp-
können in der Prävention. Was die Prävention bei fung hineinzukommen, mit technischen Methoden,
weitem noch heute zu wenig bedenkt, ist der ganze mit Kronzeugenregelung und natürlich — das füge ich
Sektor der Ausstattung von Waren und Dienstleistun- hinzu — mit dem Abhören von Gangsterwohnungen
gen mit inhärenter Sicherheit. Das ist nicht nur eine als für mich unverzichtbare Notwendigkeit der Krimi-
Forderung der Verbrechensbekämpfung, das ist auch nalitätsbekämpfung.
eine Chance für Märkte von morgen, wie wir sie etwa
in der Umweltpolitik wahrnehmen. Wir können zwar (Beifall bei der CDU/CSU — Joseph Fischer
auf den Mond fliegen, aber wir lassen uns 144 000 [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Autos stehlen. Es werden weniger gestohlen, wenn sie Und wieso steht das nicht in der Koalitions
endlich eine elektronische Wegfahrsperre haben wer- vereinbarung?)
den.
— Ich bestreite doch nicht, daß es darüber einen
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Konflikt in der Koalition gibt, den wir noch nicht haben
DIE GRÜNEN]: Liegt das am Innenminister, lösen können.
oder woran liegt das?)
Deshalb ringen wir um diesen Weg, und Sie wissen, (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
daß wir dazu eine Änderung des EG-Rechts brauchen, DIE GRÜNEN]: Aha! — Gegenruf von der
von der ich hoffe, daß wir sie bald bekommen. Wir CDU/CSU: Na und?)
müssen unsere Kräfte in der Wirtschaft anstrengen.
Ich habe auch nicht vor, bei den Maßnahmen, die wir
Ein Viertel des Schadens beim Kreditkartenbetrug ergreifen werden, Ihnen die heile Welt vorzuspiegeln.
tritt auf dem Versandwege ein; ich wiederhole: ein - In einigen Punkten werden wir uns bei der Über-
Viertel des Schadens auf dem Versandweg. Also prüfung des geltenden Handwerkszeugs zusammen-
müssen wir uns darüber unterhalten, wie wir Kredit- raufen. Aber wir werden das leisten.
karten so einrichten, daß sie nicht bereits vor dem
Ankommen beim Empfänger mißbraucht werden Vor allem werden wir die unerfreuliche Entwick-
können. lung der Kriminalität im Bereich der organisations-
und bandenmäßig begangenen Kriminalität mit
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
neuen Methoden angehen. Wir werden uns dabei
DIE GRÜNEN]: Ein Zeitzünder!)
nicht von den abgestandenen Vorschlägen der Ver-
Viele Punkte gehören dazu. gangenheit leiten lassen. Wir werden dabei nicht über
In diesen Zusammenhang der Prävention gehört die die unerfreulichen Aspekte des Themas hinwegse-
Bemerkung, daß es falsch ist, Hemmschwellen zu hen, weil das wieder ein Punkt ist, an dem mit den
senken, Massendelikte und geringe Mengen oder vereinfachten Ordnungskonzepten der Rechten die
bestimmte Gruppen von Rauschgiften straffrei zu Menschen eingefangen werden können, wenn das
stellen. Notwendig ist, die Hemmschwelle hochzuhal- demokratische Zentrum in der Verbrechensbekämp-
fung vor den Mitbürgern nicht hochleistungsfähig
ten
(Beifall bei der CDU/CSU) erscheint.

und die gesellschaftlichen Kräfte so zu stärken, daß


Diese Aufgabe wird die Bundesregierung ganz
entschieden und mit den Bundesländern anpacken.
die Zahl der Delikte abnimmt, aber nicht vor der Zahl
der Delikte durch Stellung von Straffreiheit zu kapi-
Heute morgen hat Herr Scharping zu meinem gerin-
tulieren. gen Vergnügen — wie Sie sich vorstellen können —
darauf hingewiesen, daß binnen kurzem in 14 von
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
16 Bundesländern Sozialdemokraten mitregieren.
ordneten der F.D.P.)
Zu den Neuheiten in unserem Leben gehört be- (Joseph Fischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
dauerlicherweise, insbesondere nach der Öffnung von NEN]: Das wird so bleiben! — Gegenruf von
Grenzen, eine Vielzahl von Delikten, die wir vor vier der CDU/CSU: Das ändern wir wieder!)
bis fünf Jahren in der organisierten Kriminalität kaum
oder nur im Ansatz gekannt haben: neue Rauschgift- — Sehen wir einmal, ob es so bleibt! Darüber unter-
routen an den östlichen Landesgrenzen; grenzüber halten wir uns noch einmal!
124 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Bundesminister Manfred Kanther


Das bedeutet eine maßgebliche Mitverantwortung Dr. Angelika Köster Loßack (BÜNDNIS 90/DIE
-

von Sozialdemokraten für die innere Sicherheit in GRÜNEN): Herr Kanther, ich stelle fest, daß Sie gesagt
Deutschland. haben, der innere Frieden in dieser Republik sei erst
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) durch die Verabschiedung des Asylkompromisses
wiederhergestellt worden. Es ist eine Pervertierung
Denn Polizei und Ge ri chte sind ihre Sache, zuvörderst des Begriffs „innerer Frieden", ihn in diesem Zusam-
in den Ländern. Das heißt für den Bundesinnenmini- menhang zu erwähnen. Sie haben gesagt, die Rechten
ster natürlich: Zusammenwirken mit den Ländern so seien von Ihnen niedergerungen worden. Das Gegen-
gut und so oft und intensiv, wie es geht. Gerade teil ist der Fall: Sie haben sie mit dem Nachgeben
deshalb ist es falsch, die Einheitlichkeit von Innen- gegenüber diesen menschenfeindlichen Forderungen
politik durch Länderalleingänge zu unterlaufen. Das eingebunden, die heute dazu führen, daß Menschen
sage ich noch einmal. Das gilt nicht nur für den in Kriegsgebiete oder in Gebiete abgeschoben wer-
Asylbereich. Davor muß man auch in anderen Sekto- den, wo sie der Folter, der Inhaftierung und dem
ren warnen und rechtzeitig die Stimme erheben, um sicheren Tod ausgesetzt werden. Ich kenne sehr viele
die Kräfte der Verbrechensbekämpfung in einheitli- Fälle. Ich komme aus der Asylarbeit.
chen Konzepten zusammenzuführen, wie wir uns das
in der Koalitionsvereinbarung vorgenommen haben (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN —
und wie es eine Ebene der Politik nicht für sich allein Zuruf von der CDU/CSU: Das merkt man!)
kann — nicht nur Bund und Länder zusammenzufüh- Wenn heute in diesem Hause angesichts der Tatsa-
ren, sondern weit darüber hinaus, weil die wirklichen chen so argumentiert wird, dann müssen Sie sich auch
Probleme der Verbrechensbekämpfung leider die gefallen lassen, daß wir Sie immer wieder darauf
neuen Facetten ihrer Internationalität sind, auf euro- hinweisen, wenn Sie von der inneren Sicherheit
päischer und darüber hinausgehender Ebene zusam- reden, daß Sie die Verantwortlichkeiten verschieben,
menzuarbeiten, auch mit unseren östlichen Nachbar- indem Sie auch noch mit ethnischen Kategorien
staaten. Es gehört leider zur Realität Europas - der operieren und in bezug auf Ausländerkriminalität
Bundeskanzler hat das heute morgen in Bemerkun- diese nicht nur als eine Globalkategorie benennen,
gen zu Europol oder Schengen angesprochen —, daß sondern auch noch bestimmte ethnische Gruppen
unsere Bereitschaft zur Zusammenarbeit deutlich aus- nebulös irgendwo erwähnen.
geprägter ist, was vielleicht auch etwas mit unserer (Beifall des Abg. Joseph Fischer [Frankfurt]
zentralen Lage und den vielen offenen Landgrenzen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
zu tun hat, als die anderer europäischer Partner. So ist
dies eine noch keineswegs erfüllte, sondern eine Das erinnert mich durchaus an Argumentationsfi-
angegangene Aufgabe. guren, die wir vor fünfzig und vor sechzig Jahren
schon einmal hatten.
Es gibt Streit um Fragestellungen der europäischen
Sicherheitspolitik, den man nur mühsam nachvollzie- (Zurufe von der CDU/CSU: Pfui! — Ul rich
hen kann. Warum man, wenn man Europol will, über - Heinrich [F.D.P.]: Unglaublich! — Dr. Wolf
die Rechnungsprüfung von Europol zwischen zwölf gang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: So ein
Regierungen streiten muß, ist mir absolut unerfind- Unfug! — Weitere Zurufe)
lich. Ich lebe mit nahezu jedem Rechnungsprüfungs- Ich bin der Meinung, daß so etwas unterbleiben muß.
modell, das man sich da ausdenken kann. Aber ich Jeder, der sich mit Kriminologen und Kriminologin-
möchte gern, daß Europol schnell für die Drogenseite nen unterhält, weiß, daß solche Behauptungen unhalt-
und möglichst weitere Deliktbereiche in Gang gesetzt bar sind. Sie stiften inneren Unfrieden in dieser
wird. Republik
(Beifall bei der CDU/CSU)
(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/
Ich kann aber leider nicht darüber hinwegsehen, daß CSU]: Ein Unfug!)
andere Länder, mit denen wir auskommen wollen und
mit solchen Argumentationsfiguren.
müssen und ohne die wir in der Verbrechensbekämp-
fung gar nicht können, hier den Kernbereich ihrer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
nationalen Souveränität angetastet sehen — ob wir sowie bei Abgeordneten der SPD und der
das nun für richtig halten oder nicht — und deshalb PDS)
ein mühsamer Überzeugungsweg gegangen werden
muß.
Diese Komplexität der Aufgabe wollte ich Ihnen Vizepräsident Hans Klein: Frau Abgeordnete, Sie
vorstellen. In diesem Sinne werden sich Koalition und sind neu in diesem Parlament. Ich darf Ihnen sagen: Es
Bundesregierung an die Bewältigung dieser heraus- ist hier eine Tradition, Vergleiche der Art, wie Sie sie
ragenden, schwierigen und wichtigen Aufgabe der soeben gezogen haben, in der Argumentation mit dem
kommenden vier Jahre machen. politischen Gegner nicht zu ziehen.
Ich danke Ihnen. (Zuruf von der PDS: Das ist ja ein Witz! —
Weitere Zurufe)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Herr Bundesminister Kanther, wenn Sie wünschen,
haben Sie das Wort zu einer Replik.

Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wort zu (Bundesminister Manfred Kanther: Dazu fällt
einer Kurzintervention der Abgeordneten Dr. Köster- mir nicht viel ein!)
Loßack. — Danke.
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 125

Vizepräsident Hans Klein


Ich erteile dem Abgeordneten Otto Schily das spricht und jedenfalls das Abstammungsprinzip um
Wort. das Jus soli ergänzt. Ich glaube, dann sind wir endlich
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ auf dem Niveau europäischer Zivilisation ange-
DIE GRÜNEN]: Ja, Otto, zeig es ihm! Hau langt.
ihn!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Otto Schily (SPD): Herr Präsident! Meine Damen Das ist, Herr Kanther, nicht nur eine rechtstechnische
und Herren Kollegen! Eine Gesellschaft, in der die Angelegenheit; das verstehen Sie nicht richtig. Das ist
Legitimationskraft der staatlichen Institutionen er- eine Frage auch der Bewußtseinsbildung, des geisti-
kennbar dramatisch abnimmt und daraus folgend die gen Standortes der Menschen in Deutschland. Das
Konsensfähigkeit gefährdet wird, befindet sich in der können natürlich Sandkastenspiele mit einer befriste-
Krise. Darauf müssen wir eine Antwort finden. In der ten Staatsangehörigkeit, einer Staatsangehörigkeit
Regierungserklärung finden wir sie nicht. mit eingebautem Verfalldatum, nicht leisten.
Die Wirklichkeit hat das Vorstellungsvermögen der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Bundesregierung längst überholt. Es hilft dieser Bun- DIE GRÜNEN)
desregierung wenig, daß sie ein Zukunftsministerium So etwas taugt nur zur Verba ll hornung unserer Ver-
einrichtet, solange sie so vielen verstaubten Vergan- fassung und zu sonst nichts.
genheiten verhaftet bleibt wie bisher.
Großzügigkeit, meine Damen und Herren Kollegen,
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
ist gefordert, nicht Kleinlichkeit in solchen Fragen.
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
Gewiß ist eine unbeschränkte Zuwanderung in einem
PDS)
dichtbesiedelten Gebiet wie Deutschland in Mitteleu-
Welchen kläglichen, armseligen Begriff präsentieren ropa nicht möglich.
Sie uns mit Blick auf die Zukunft! Wenn Herr Hintze
mit seinem bekannten ängstlichen Musterschüler (Zuruf von der CDU/CSU: Aha!)
Lächeln ankündigt, er wolle Deutschland für die Die Änderung des Art. 16 des Grundgesetzes war aus
Zukunft, für das nächste Jahrhundert fit machen, diesem Grunde, so schmerzlich das für viele aus sehr
(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ ehrenwerten Gründen gewesen sein mag, unum-
CSU]: Das macht er sehr gut!) gänglich. Aber das zweite Teilstück dieser Reform
steht noch aus: ein Gesetz zur Regelung der Zuwan-
dann wissen wir genau, daß von dieser Regierung
derung, die wir nicht allein auf wirtschaftliche Inter-
nichts mehr zu erwarten ist.
essen beziehen und reduzieren sollten.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
PDS) - Sonst landen wir am Ende bei dem in der Schweiz
Du lieber Himmel, eine Regierung als Fitneßcenter: neuerdings diskutierten Modell von Einwand erungs-
Das ist zu dürftig für dieses große Land, meine Damen zertifikaten, die von der Industrie meistbietend erstei-
und Herren. gert werden.
(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Vor allem bei Wir sollten auch darauf Bedacht nehmen, daß sich
diesem schlappen Bundeskanzler! — Dr. unsere Bereitschaft zur Asylgewährung für politisch
Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Verfolgte nicht in der kalten und starren Vollstrek-
Das war kein guter Vergleich!) kung von Gesetzesvorschriften erschöpfen darf. Die
Nein, es ist an der Zeit, daß wir Gesellschaft und Staat moralische Instanz unseres Gewissens muß an der
erneuern, die Demokratie vertiefen, der Freiheit mehr einzelnen Entscheidung immer noch beteiligt bleiben.
Raum geben und Solidarität üben. Das ist nämlich aus Wir sollten deshalb der Ausländerbeauftragten und
den Flüchtlingshilfeorganisationen ein stärkeres Mit-
dem berühmten Dreiklang der Französischen Revolu-
tion ein wenig in den Hintergrund gerückt worden. spracherecht verleihen.
Solidarität gehört auch zu Freiheit, Gleichheit, Brü- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
derlichkeit — so hieß es damals, heute würden wir DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
Geschwisterlichkeit sagen —, Solidarität üben übri- F.D.P.)
gens auch ganz im buchstäblichen Sinn.
Warum ist es beispielsweise nicht möglich, der
Den inneren Frieden werden wir nur wahren, wenn Ausländerbeauftragten ein Vetorecht zuzubilligen,
es uns gelingt, uns als moderner, weltoffener Staat damit Härtefälle vernünftig und menschlich gelöst
weiterzuentwickeln. Dazu gehört vor allem, daß wir werden können? Das würde uns als Land im Herzen
Zuwanderung als demographische, kulturelle, huma- Europas auszeichnen.
nitäre und auch wirtschaftliche Notwendigkeit aner-
kennen. Auch die Indust ri e hat das längst erkannt, (Beifall bei der SDP sowie bei Abgeordneten
Herr Bundesminister Kanther. der F.D.P.)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Die Koalitionsfraktionen loben die Kirchen, aber sie
Kernstück einer Neubestimmung unserer staatli- nehmen ihre Mahnungen nicht ernst. Das ist doch das
chen Fundamente muß daher eine grundlegende Faktum.
Reform des Staatsangehörigkeitsrechts sein, das (Beifall bei der SPD)
dann dem Niveau der europäischen Zivilisation ent- In diesem Kirchenpapier heißt es wörtlich:
126 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Otto Schily
Wie wir mit Flüchtlingen und Asylsuchenden übersehen habe, daß Herr Kanther nicht mehr hier ist.
umgehen, ist ein Lern- und Bewährungsfeld Jetzt ist auch sein Stellvertreter nicht mehr da.
dafür, ob wir in der Lage sein werden, uns als (Zuruf von der SPD: Wo ist er denn?)
offene demokratische und soziale Gesellschaft
den dahinterliegenden, weit umfassenderen Her-
ausforderungen zur Überwindung der Flücht- Vizepräsident Hans Klein: Gestatten Sie eine kleine
lingsursachen zu stellen. Zwischenbemerkung, die das aufklärt?
Wie wahr! Nehmen Sie ernst, was in diesem Papier
steht, und handeln Sie danach! Das ist keine Sonn- Ott o Schily (SPD): Bitte sehr.
tagspredigt, das ist eine Aufforderung zum Handeln,
meine Damen und Herren aus den Koalitionsfraktio- Brigi tt e Baumeister (CDU/CSU): Der Innenmini-
nen. ster, Herr Kanther, hat sich ordnungsgemäß entschul-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ digt. Sein Staatssekretär ist hier. Herr Kanther mußte
DIE GRÜNEN) zu einer Veranstaltung und ist schon länger hierge-
Warum sträubt sich der Bundesinnenminister Kan- blieben als geplant. Insofern kann man ihm überhaupt
ther dagegen, 40 000 Vietnamesen, die seit Jahren, kein Versäumnis vorwerfen. Er ist unterwegs und geht
wenn nicht seit Jahrzehnten in Deutschland leben seiner Pflicht nach.
— wenn auch zunächst einmal im anderen Teil (Widerspruch bei der SPD)
Deutschlands —, auf geräuschlose und anständige
Weise in unsere Gesellschaft zu integrieren? O tt o Schily (SPD): Frau Kollegin Baumeister, ich
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten möchte nur auf folgendes hinweisen: Die Tatsache,
der PDS — Detlev von Larcher [SPD]: Wo ist daß wir so fahrlässig mit Parlamentsdebatten umge-
denn Herr Kanther geblieben?) hen, bedeutet auch eine Schwächung der Legitima-
Das wäre nicht nur eine richtige humanitäre Maß- tionsinstrumente für die Politik.
nahme, sondern übrigens auch — hören Sie gut zu! — (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
ein Gebot wirtschaftlicher Klugheit. Bekanntlich blok- GRÜNEN und der PDS)
kiert die starre Haltung des Bundesinnenministers die Wir sollten das Parlament sorgsamer behandeln.
deutsche Wirtschaft in der Anbahnung ihrer wirt-
schaftlichen Beziehungen zu Vietnam, die sehr viel- Legitimationsschwächen des Staates lassen sich im
versprechend sind. Eine Milliarde DM geht uns durch übrigen nur aufholen, wenn sich die Bürgerinnen und
die Bockbeinigkeit des Herrn Kanther auf diese Weise Bürger stärker als bisher an Entscheidungen und an
verloren. deren Vorbereitung beteiligen können. Sie haben sich
in der vergangenen Legislaturperiode nicht dazu
Wenn sich Herr Kanther als Mitglied der Bundesre- durchringen können, einen Volksentscheid auf Bun-
gierung derart schwerhörig gegenüber humanitären desebene in die Verfassung aufzunehmen.
Anliegen gebärdet wie etwa im Fall des 13jährigen
türkischen Jungen Muzafer Ucar, dann muß er sich im
übrigen nicht wundern, wenn in der Gesellschaft Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Schily, es
dieselben Verhaltensweisen und dieselbe Hartherzig- besteht ein weiterer Fragewunsch. Der Kollege Hirsch
keit in anderer und möglicherweise aggressiverer würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Form wiederkehren.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ O tt o Schily (SPD): Herr Kollege Hirsch, sehr
DIE GRÜNEN) gerne.

Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Schily, Dr. Burkhard Hirsch (F.D.P.): Herr Kollege Schily,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kuhl- ehe Sie sich einem anderen Thema zuwenden und
wein? weil der Bundesinnenminister mir vorhin die Zwi-
schenfrage nicht gewährt hat: Empfinden Sie es nicht
ebenso wie ich als ein bißchen beschämend, daß zwar
O tt o Schily (SPD): Bitte schön. die überwiegende Mehrheit der Asylbewerber, die
sich heute in der Bundesrepublik melden, aus dem
Ecka rt Kuhlwein (SPD): Herr Kollege Schily, ist Gebiet des früheren Jugoslawien kommt, daß es aber
Ihnen aufgefallen, daß der Bundesinnenminister, mit Bund und Ländern bisher trotzdem nicht gelungen ist,
dem Sie sich jetzt zu Recht auseinandersetzen wollen, den im Asylkompromiß vereinbarten gesonderten
gar nicht mehr im Saal ist und daß er auch nicht Bürgerkriegsstatus für Flüchtlinge aus diesen Gebie-
hinterlassen hat, warum er den Saal verlassen ten herbeizuführen?
mußte? (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Ott o Schily (SPD): Es fällt manchmal nicht auf, wenn Wäre es nicht wichtig, daß auch die Länder, an deren
Herr Kanther nicht da ist. Das mag deshalb verzeihlich Regierungen die Sozialdemokraten beteiligt sind,
sein. Ich erinnere mich an ein Wort des Kollegen einen Schritt auf uns zu machen, um endlich eine
Fischer, gewandt an den Herrn Bundeskanzler, daß er finanzielle Einigung herbeizuführen?
nur den Bundeskanzler sehe und dahinter nicht sehr (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Herr Waigel
viel. Ich denke, das ist der Grund dafür, daß ich ist zu geizig!)
Deutscher Bundestag — 13. Wahlpe ri ode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 127
Dr. Burkhard Hirsch
Ich schäme mich, daß es uns nicht gelungen ist, diesen rung in seinem Leben vermittelt wird, werden wir
wichtigen Teil des Asylkompromisses zu verwirk- nach meiner Überzeugung nach neuen Formen der
lichen. Strafjustiz suchen müssen. Das gilt insbesondere für
(Beifall bei der F.D.P.) die Jugendgerichtsbarkeit. In der Anwendung des
Jugendstrafrechts und im Jugendstrafvollzug haben
wir in der Vergangenheit nach meiner Überzeugung
Otto Schily (SPD): Herr Kollege Hirsch, ich stimme schwerwiegende Fehler gemacht, deren Aufarbei-
Ihnen ausdrücklich zu, daß die Lösung solcher Fragen tung dringlich ist.
nun wirklich nicht an finanziellen Engherzigkeiten
scheitern darf. Ich möchte Ihnen ausdrücklich zustim- (Beifall bei der SPD)
men. Das setzt stärkere Verantwortung und mehr Phan-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD — Zuruf tasie voraus, als wir bisher investiert haben. Den nicht
von der CDU/CSU: Auf der Bundesratsbank immer einfach durchschaubaren Zusammenhang von
sitzt ja keiner mehr! — Weitere Zurufe) gesellschaftlicher Entwicklung und Aufkommen von
Kriminalität dürfen wir nicht aus dem Auge verlieren.
Sie haben sich in der vergangenen Legislatur-
Auch die besorgniserregende Ausbreitung der orga-
periode — wenn Sie erlauben, daß ich an meinen
nisierten Kriminalität ist in gewisser Weise das Resul-
Gedankengang anknüpfe; ich glaube, daß das auch
tat des Auseinanderbrechens des Wertegefüges unse-
den Kollegen Hirsch interessiert nicht dazu durch-
rer Gesellschaft und des Legitimationsverlustes des
ringen können, einen Volksentscheid auf Bundes-
Staates. Wenn bittere Armut, soziales Elend, Obdach-
ebene in die Verfassung aufzunehmen. Wer aber Staat
losigkeit eine Alltäglichkeit werden, die wir achsel-
und Demokratie festigen will, darf sich nicht scheuen,
zuckend hinnehmen, wird das nicht ohne Auswirkun-
das Volk unmittelbar an Sachentscheidungen zu
gen auf das allgemeine Rechtsempfinden der Men-
beteiligen. Daran werden wir Sie auch im Verlaufe
schen bleiben.
dieser Legislaturperiode im Blick auf die künftige
(Beifall bei der SPD)
Arbeit erinnern, solange Sie sich nicht zu einer besse-
ren Einsicht bequemen. Das gleiche gilt für ein ungerechtes, wirtschaftsfeind-
liches und innovationshemmendes Steuersystem.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Bei der Kriminalitätsbekämpfung, gerade was die
Ein Satz, meine Damen und Herren Kollegen, gilt organisierte Kriminalität angeht, sollten wir viel stär-
allgemein — vielleicht für einige Juristen eher über- ker darauf bedacht sein: Wie können wir die Gesell-
raschend: Alles Recht, das zwischen Menschen schaft gegen Kriminalität immunisieren? Das ist eine
besteht und entsteht, verdankt seine Geltung nicht in Aufgabe der Erziehung, der Selbsterziehung, der
erster Linie oder wohlmöglich sogar ausschließlich Kultur. Nach einem Be ri cht der Tageszeitung in dieser
den Zwangsmitteln, die zu seiner Durchsetzung ver- Woche hat Palermos oberster Ermittlungsrichter
hängt werden, sondern dem Einverständnis der Men- Caselli, der an vorderster Front gegen die Mafia
schen untereinander. Geht die Konsensfähigkeit ver- kämpft, erklärt, daß nicht die Staatsanwälte und die
loren, dann ist es um das Recht geschehen. Da hilft Polizei, sondern nur ein kultureller Wandel Erschei-
keine Polizei und kein Gerichtsvollzieher. nungen wie die Mafia besiegen kann.
Gewiß, der Staat darf nicht vor der Gewalt oder vor (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
dem Unrecht zurückweichen. Polizei und Justiz müs- Das kann nur heißen — und das sollten wir ernst
sen mit den notwendigen Instrumenten ausgerüstet nehmen —, daß wir die Maßlosigkeit überwinden und
sein, um ihren Aufgaben gerecht zu werden. Wie zu einer Kultur des Maßes gelangen müssen, in der
diese Instrumente auszusehen haben, darüber gibt es der Egoismus nicht das alleinherrschende Leitmotiv
bekanntermaßen erheblichen Streit. Dieser Streit unseres Wandeins bleibt.
kann nur sachgerecht entschieden werden, wenn in
aller Ruhe und ohne Hektik nationale und internatio- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
nale Erfahrungen bei der Bekämpfung der Kriminali- DIE GRÜNEN)
tät geprüft werden. Die Empfehlung von Heribert Selbstverständlich bedeutet das nicht den Verzicht
Prantl, die Effizienz der letzten gesetzgeberischen auf entschiedenes Vorgehen von Justiz und Polizei.
Neuerungen zu untersuchen, bevor neue ergriffen Durch gutes Zureden lassen sich weder gewalttätige
werden, sollten wir beherzigen. Keinesfalls kann der extremistische Jugendliche noch international organi-
Kampf gegen das Verbrechen dadurch gewonnen sierte Banden von Gewalttaten und sonstigen Verbre-
werden, daß wir bewährte rechtsstaatliche Grund- chen abhalten. Aber es sollte uns schon zu denken
sätze aufgeben. Das gilt in jeder Blickrichtung. geben, daß sich jugendliche Gewalttäter vor allem
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dort zusammenrotten, wo die kulturelle Verarmung
der F.D.P.) am weitesten vorangeschritten ist.
Wir werden uns aber auf die Frage einlassen müs- Wenn heute in einer großen Tageszeitung geschil-
sen, ob die Ausgestaltung der Strafgerichtsbarkeit in dert wird, daß Eltern in den USA gegenüber ihren
den überkommenen Formen Kriminalität so zu begeg- Kindern in der Regel mit Zeit und Raum knausern,
nen weiß, daß daraus so etwas wie ein gesellschaftli- dann trifft diese Kritik auch uns, wenn wir unseren
cher Heilungsprozeß entstehen kann. Wenn wir das Kindern und Jugendlichen nicht genügend Raum und
Wort „richten" in seinem Wortsinn so verstehen, daß Zeit für ihre Entfaltung bieten und sie statt dessen der
dem abirrenden Menschen die Einsicht in seine geistigen Verödung und Verrohung überlassen. Dies
Schuld und die Notwendigkeit einer Richtungsände- betrifft nicht zuletzt das, was wir hier diskutiert haben:
128 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Otto Schily
daß in den elektronischen Medien Abend für Abend die Grundzüge der Reform des öffentlichen Dienst-
Bilder über die Mattscheibe ausgestrahlt werden, die rechtes wird eine Verständigung über die Verfahrens-
sich als Nachbilder in die Tiefen des Bewußtseins von weise bei dessen Verwirklichung keine allzu großen
Kindern absenken. Die Gefahren einer solchen Ent- Schwierigkeiten bereiten. Ein reformiertes öffentli-
wicklung sollten wir nicht unterschätzen. ches Dienstrecht wird die Effizienz staatlichen Han-
delns steigern, seine Plausibilität erhöhen und die
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Eigenverantwortung der einzelnen Menschen stär-
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der ken.
PDS)
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich mit
Kriminalitätsbekämpfung es scheint so, als würden

folgenden Worten schließen: Viele setzen in dieser
wir uns in diesem Punkt sogar ein wenig treffen; aber unsteten, risikoreichen und gefährdeten Welt auf die
dies ist, so denke ich, in der Tat nur scheinbar der Restauration überkommener Wertvorstellungen. Das
Fa ll — ist daher auch und vielleicht zuallererst eine ist eine Illusion. Die Werte werden von den Menschen
Erziehungsaufgabe. nicht mehr von außen angenommen, sie werden nicht
Wenn wir die Legitimationskraft des Staates und mehr von außen oktroyiert werden können. Unsere
seiner Institutionen stärken wollen — lassen Sie mich, Hoffnung ruht auf dem Menschen selbst, auf dem
meine Damen und Herren, auch auf diesen Punkt Menschen, der zu sich „ich" sagt und darin seine
noch eingehen —, müssen wir ein weiteres großes Würde und Verantwortlichkeit erkennt. Nirgendwo
Reformvorhaben auf die Tagesordnung dieser Legis- anders wird mit dem Beginn des nächsten Jahrhun-
laturperiode setzen: die Neuordnung des öffentlichen derts und Jahrtausends eine Verankerung des inneren
Dienstes. Zusammen mit den Ländern und Kommu- und äußeren Friedens möglich sein.
nen wird der Bund die Aufgabenstellung des öffentli- Ich sage es mit den Worten von Paolo Flores
chen Dienstes auf der Grundlage folgender Fragestel- d'Arcais — ich zitiere —:
lungen überdenken müssen: Erstens. Welche Aufga- Das Bewußtsein der endlichen Existenz enthält
ben nehmen der Staat und die Kommunen wahr? Die die Aufgabe, darin so etwas wie einen fragilen
Überfrachtung des Staates einerseits und die übermä- provisorischen Sinn zu finden, durch die mit allen
ßige Ausdehnung des Staatsapparates andererseits ist geteilte Erfahrung der ernstgenommenen Demo-
eine Fehlentwicklung, die als solche von allen Seiten kratie.
erkannt wird. Vielleicht empfiehlt es sich, wieder an Das ist eine Botschaft auch an dieses Parlament.
Überlegungen anzuknüpfen, die Wilhelm von Hum-
boldt in seiner Schrift „Ideen zu einem Versuch, die Vielen Dank.
Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen" (Anhaltender Beifall bei der SPD und dem
zu Papier gebracht hat. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN — Beifall bei
Abgeordneten der PDS)
Die zweite Frage, mit der wir uns auseinandersetzen
müssen: Wie nimmt der Staat seine neu zu bestimmen-
Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Struck
den Aufgaben wahr, in öffentlich-rechtlicher Verant-
wortung, durch Umstellung der Behördenstruktur auf wünscht das Wort zur Geschäftsordnung. Bitte, Herr
privatrechtliche Organisationsabläufe oder in öffent- Kollege Struck.
lich-rechtlicher Verantwortung durch Delegation an
privatrechtliche Organisationen? Diese Alternativen Dr. Peter Struck (SPD): Herr Präsident! Meine
werden vernünftig und in objektiver Form zu disku- Damen und Herren! Da ich es für einen sehr eigenar-
tieren sein. tigen Vorgang halte, daß der Bundesinnenminister
hier eine Rede abläßt und sich dann auf Wahlkampf-
Die dritte Frage: Wer wird diese Aufgaben wahrzu- reise oder sonstwohin begibt
nehmen haben? Soll der Beamtenstatus geändert
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
werden, auf hoheitliche Tätigkeiten in engerem Sinne
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
beschränkt werden, und sollen für die übrigen Aufga-
PDS)
benbereiche dann Angestellte und Arbeiter nach den
Maßstäben des allgemeinen Tarifrechts tätig sein? und es nicht nötig hat, in der parlamentarischen
Eine solche Übung wäre allerdings dann für die Katz, Auseinandersetzung die Argumentation der Opposi-
wenn es dabei bleibt, daß solche Tarifverträge ent- tion anzuhören, beantrage ich bis zum Wiedereintref-
sprechend der derzeitigen Sachlage inhaltliche Paral- fen des Bundesinnenministers eine Unterbrechung
lelen zum Beamtenrecht haben. Dann würde die der Sitzung.
Sache nur weitaus teurer, wie sich auch aus einer (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
jüngst veröffentlichten Studie des baden-württember- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
gischen Finanzministeriums ergibt. PDS)
Wir fordern die Bundesregierung auf, zur Reform
des öffentlichen Dienstrechtes ein schlüssiges Ge- Vizepräsident Hans Klein: Herr Bundesminister
samtkonzept vorzulegen. Angesichts der Tatsache, Bohl.
daß genügend Materialien vorliegen, müßte es der
Bundesregierung selbst bei schleppender Arbeits- Friedrich Bohl, Bundesminister für besondere Auf-
weise möglich sein, ein solches Konzept binnen eines gaben und Chef des Bundeskanzleramtes: Herr Präsi-
halben Jahres zu erarbeiten. Zu einer konstruktiven dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich
Mitwirkung an einem solchen Reformvorhaben sind glaube, es ist in diesem Hause schon häufiger der Fall
wir bereit. Bei einer grundsätzlichen Einigung über gewesen, daß Abgeordnete der Opposition, aber auch
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 129

Bundesminister Friedrich Bohl


Regierungsmitglieder Verpflichtungen eingegangen Ich habe daraufhin mit Herrn Kollegen Kanther im
sind, Auto telefoniert. Er hat selbstverständlich seine Fahrt
(Eckart Kuhlwein [SPD]: Er hat hier aber sofort abgebrochen und wird in wenigen Minuten im
doch eine Regierungserklärung abgelassen Deutschen Bundestag eintreffen. Deshalb liegt es
und will nicht zuhören, wenn wir darüber selbstverständlich im Ermessen des Deutschen Bun-
reden!) destages, die Beratung für einige Minuten zu unter-
brechen oder meiner Versicherung zu glauben, daß er
die von der Gegenseite akzeptiert wurden. in schätzungsweise fünf Minuten hier sein wird.
(Eckart Kuhlwein [SPD]: Ein unglaubliches Ich bitte den Bundestag und insbesondere die
Verhalten!) Oppositionsfraktionen noch einmal um Nachsicht. Es
Es hat dann immer auch Möglichkeiten gegeben, sich war keine böse Absicht. Es ist selbstverständlich, daß
darüber zu verständigen. sich die Bundesregierung auch bei der Debatte über
die innere Sicherheit und die Regierungserklärung
(Detlev von Larcher [SPD]: Erst reden und hier im Deutschen Bundestag der Auseinanderset-
dann weggehen!) zung stellt.
Im konkreten Fall ist Herr Bundesminister Kanther Herzlichen Dank für Ihre freundliche Aufmerksam-
vor Monaten eine Verpflichtung eingegangen. keit.
(Eckart Kuhlwein [SPD]: Wir auch! Wir hat (Beifall bei der CDU/CSU)
ten auch welche, aber wir sind hier! —
Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Sie Vizepräsident Hans Klein: Meine Damen und Her-
mußten damit rechnen, bei der Bundestags ren, erlauben Sie mir bitte eine Frage an die Kollegin
wahl zu verlieren!) Kerstin Müller. Bezieht sich Ihr Redebeitrag wesent-
Er glaubte, daß er sich angemessen entschuldigt lich auf die Innenpolitik?
hätte. (Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
(Eckart Kuhlwein [SPD]: Es gibt keine Ent GRÜNEN]: Ja, sicherlich!)
schuldigung dafür!) Dann, meine Damen und Herren, schlage ich vor, daß
— Nun hören Sie doch einmal zu. wir dem Antrag folgen und warten, bis der Bundesin-
nenminister wieder eingetroffen ist.
(Eckart Kuhlwein [SPD]: Die Regierung gibt
hier eine Erklärung ab, und dann muß sie (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
sich auch anhören, was dazu gesagt wird!) DIE GRÜNEN)
— Aber vielleicht hören Sie sich erst einmal an, was (Unterbrechung von 18.12 Uhr bis 18.26
ich Ihnen sage. Dann können Sie anschließend ant- Uhr)
worten.
(Eckart Kuhlwein [SPD]: Was Sie sagen, kann - Vizepräsident Hans Klein: Meine Damen und Her-
überhaupt nichts entschuldigen! — Joseph ren, ich bitte, Platz zu nehmen. Wir setzen die unter-
Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ brochene Sitzung fort.
NEN]: Laß ihn doch! Er will nur Zeit schin Ich erteile das Wort der Kollegin Kerstin Müller.
den! Friedrich, komm zum Schluß!)
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
also üblich in diesem Hohen Hause gewesen. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
(Eckart Kuhlwein [SPD]: Aber nicht, daß man Kanther!
sich klammheimlich verpissen darf! — (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS
Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der
DIE GRÜNEN]: Laß ihn doch!) PDS)
Noch nie hat es wohl eine Regierungskoalition fertig-
gebracht, eine derart dürftige Koalitionsvereinba-
Vizepräsident Hans Klein: Meine Damen und Her- rung vorzulegen. 40 Seiten Blindtext, dazwischen
ren, hören Sie sich doch die paar Sätze des Kollegen einige versteckte Gemeinheiten — wirklich eine reife
Bohl bitte an. Leistung. Auch die Regierungserklärung des Bundes-
kanzlers sowie die Ausführungen von Herrn Kanther
haben uns nicht weitergeführt. Diese Regierung hat
Friedrich Bohl, Bundesminister für besondere Auf- meiner Meinung nach nichts anzubieten, was zur
gaben und Chef des Bundeskanzleramtes: Herr Kan- Lösung der drängenden Probleme in unserer Gesell-
ther ist davon ausgegangen, daß er sich auch ange- schaft taugt. Wo sind Ihre Ideen, wo Ihre Vorschläge
messen entschuldigt hat. für Reformen? Wo ist das Neue in Ihrer Politik? Was Sie
Die Bundesregierung — das will ich hier in aller uns heute hier gesagt haben, das hören wir von der
Form tun — bittet um Nachsicht, wenn dieses offen Bundesregierung schon seit zwölf Jahren.
ichtlich nicht der Fall war. Es ist selbstverständlich, -s Mit schwarzen Leihstimmen hat es die F.D.P. noch
daß Herr Bundesminister Kanther, wenn die Opposi- einmal in den Bundestag geschafft; jetzt kassiert die
tion es wünscht — und diesen Wunsch hat sie deutlich Union vor allem bei der Innen- und Rechtspolitik die
zum Ausdruck gebracht —, an dieser Debatte weiter- Leihgebühren. Die F.D.P. sucht ihr liberales Heil im
hin teilnimmt. Koalitionsvertrag in vagen Formulierungen. Bei ein-
130 Deutscher Bundestag — 13. Wahlpe riode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Kerstin Müller (Köln)


deutigeren Aussagen wäre Ihnen doch Ihr eigener — wie wir ja heute wieder hören konnten —, keine
Laden um die Ohren geflogen. Der politische Deal ist: erleichterte Einbürgerung.
Für Zugeständnisse an die F.D.P.-Wirtschaftspolitik Deshalb fordern wir: Wer in Deutschland geboren
ist man bereit, den Schutz und den Ausbau von ist oder fünf Jahre hier lebt, soll einen Rechtsanspruch
Bürgerrechten abzuschreiben. auf den deutschen Paß bekommen. Der Maßstab für
(Bundesminister Manfred Kanther führt eine die Erlangung der Staatsbürgerschaft darf nicht län-
Unterredung — Rudolf Bindig [SPD]: Das ist ger das Blut der Ahnen sein. Das ist wilhelminischer
unverschämt!) Anachronismus.
— Ich warte. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Kriminalitätsbekämpfung, Drogenpolitik, Staats-
bürgerschaftsrecht — kein Jota des liberalen Pro- Wir wollen die doppelte Staatsbürgerschaft ermög-
gramms wurde umgesetzt. lichen, weil sie, Herr Kanther, nicht die Integration
verhindert, sondern sie gerade erst möglich macht.
Sehr geehrte Damen und Herren von der F.D.P.,
dieser Ausverkauf der Ideen des politischen Libera- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS
lismus wird Sie aber nicht retten, sondern nur noch SES 90/DIE GRÜNEN)
schneller in den Abgrund treiben. Schon der Vorschlag der Ausländerbeauftragten,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Frau Schmalz-Jacobsen, wäre da ein großer Fort-
schritt.
Den Vogel abgeschossen haben Sie allerdings mit der
Diese Fragen sind für viele Menschen sehr drän-
Einführung einer neuen Rechtskategorie, nämlich der
gend, und, ich finde, es besteht Handlungsbedarf.
der „deutschähnlichen Kinder". Diese Schnupper-
Deshalb habe ich folgenden Vorschlag: Lassen Sie uns
staatsbürgerschaft ist juristisch, finde ich, bestenfalls
auf der Grundlage des Entwurfs der Ausländerbeauf-
Flickschusterei. Diesen mißratenen Vorschlag präsen-
tragten über die Parteigrenzen hinweg mit einer
tieren Sie den Bürgerinnen und Bürgern doch bloß
tatsächlichen Reform des Staatsbürgerschaftsrechts
deshalb als Verlegenheitslösung, weil Sie immer noch
beginnen. Wir sind dazu bereit.
nicht anerkennen wollen, daß die Bundesrepublik
längst ein Einwanderungsland geworden ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD und der
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN PDS)
sowie bei Abgeordneten der SPD und der
PDS) Herr Schily hat dazu auch schon einiges gesagt.
6,9 Millionen Ausländer leben in Deutschland. (Detlev von Larcher [SPD]: Wieso klatscht da
Allein 1993 wurden 100 000 hier geboren. Sie alle sind nicht einmal die F.D.P.?)
Inländer. Das deutsche Staatsbürgerschaftsrecht aber Herr Schäuble, meine Damen und Herren von der
-
macht sie weiterhin zu Ausländern. Das ist ein Skan- CDU, verlassen auch Sie endlich die Wagenburg und
dal, und an diesem Skandal will die Regierung nichts erkennen Sie an, daß die Bundesrepublik ein Einwan-
ändern. derungsland ist! Nach Hünxe und Mölln, nach
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Hoyerswerda und Solingen brauchen wir ein klares
SES 90/DIE GRÜNEN) Signal. Dieses Signal muß lauten, daß die Einwande-
rer zur Gesellschaft gehören. Ich fordere Sie auf, die
Statt dessen präsentieren Sie uns eine Staatszugehö- Sonntagsreden über die „lieben ausländischen Mit-
rigkeit auf Probe, die womöglich nicht einmal vor bürger" zu lassen und ihnen statt dessen gleiche
Abschiebung schützt. Ich garantiere, das wird in Rechte zu geben.
Karlsruhe keinen Bestand haben. Dieser Vorschlag ist
nicht einmal einer der berühmten ersten Schritte in die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
richtige Richtung; er ist ein Rohrkrepierer. Mit der sowie bei Abgeordneten der SPD und der
neuen Staatszugehörigkeit bleibt alles beim alten. PDS)
Einwanderer sollen auch weiterhin nicht zu dieser Während Sie in der Ausländerpolitik mit einem
Gesellschaft gehören. Millionen von Menschen zah- politischen Scherzartikel aufwarten, bieten Sie uns in
len Steuern und haben keine politischen Rechte. Ihre der Kriminalpolitik, finde ich, nur die alten Kamellen.
Steuergelder finden im Haushalt Verwendung, aber Wie wir von Herrn Kanther heute auch hören konnten,
über die Politik dieses Landes dürfen sie nicht mitbe- erhält die F.D.P. in Sachen großer Lauschangriff doch
stimmen. Herr Kanther, ich sage: Es muß endlich nur eine Gnadenfrist. Jetzt müssen Sie Ihren Offenba-
Schluß sein mit dieser juristischen Apartheid! rungseid noch nicht leisten, Herr Kinkel, das reicht
auch noch während der Wahlperiode; das haben die
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
CSU-Verhandlungsführer gönnerhaft erklärt. Bei der
sowie bei Abgeordneten der SPD und der
Kriminalitätsbekämpfung setzen Sie weiter auf Re-
PDS)
pression und Abbau von Grundrechten, statt die
Die politische Aufgabe, die ganz oben auf der Ursachen von Kriminalität anzugehen.
Tagesordnung steht, ist die, auch der ersten und
(Zuruf von der CDU/CSU: Ach je!)
zweiten Einwanderergeneration eine Perspektive der
Integration zu bieten. Wer hier auf Dauer lebt, muß Krassestes Beispiel hierfür ist die Drogenpolitik der
auch gleiche Rechte haben. Aber genau dagegen Bundesregierung. Wir haben 1 700 Drogentote jähr-
sperren Sie sich: keine doppelte Staatsbürgerschaft lich. Jeder zweite Diebstahl, jeder dritte Einbruch,
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 131

Kerstin Müller (Köln)


mehr als jeder fünfte Raub fällt unter die Beschaf- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN —
fungskriminalität. Damit steht fest: Ihre Drogenpolitik Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
ist gescheitert. DIE GRÜNEN]: Was ist daran Unsinn? Kau
fen Sie mal eine Flasche Schnaps, dann
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wissen Sie, wie das wirkt!)
sowie bei Abgeordneten der SPD) Machen Sie endlich Schluß mit Ihrer Obstruktions-
Sie ist, so könnte man auch sagen, ein einziges politik gegen städtische Spritzenräume wie in Frank-
Arbeitsbeschaffungsprogramm für organisierte Kri- furt! Die können nämlich helfen, die Ausbreitung von
minalität. Aids und Hepatitis unter Süchtigen einzudämmen.
Geben Sie doch Ihre ideologische Blockadepolitik auf!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Und schicken Sie um Gottes willen endlich Ihren
sowie bei Abgeordneten der SPD) Drogenbeauftragten, Herrn Lintner, in den Ruhe-
stand!
Denn mit der Kriminalisierung des Drogengebrauchs Danke schön.
und -erwerbs garantieren Sie dem illegalen Drogen-
handel enorme Gewinnspannen. Ohne die Beschaf- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
fungskriminalität würde vielen Hehlerinnen und sowie bei Abgeordneten der SPD und der
Hehlern die ökonomische Basis entzogen. Was Sie PDS)
unter dem Stichwort Drogenpolitik vereinbart haben,
ist daher nicht mehr als Pfeifen im Walde, eine
Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile der Bundesmi-
Aneinanderreihung von frommen Wünschen: Verrin-
nisterin der Justiz, Sabine Leutheusser-Schnarrenber-
gerung der Zahl der Drogeneinsteiger, Auseinander-
ger, das Wort.
setzung mit den Ursachen, noch entschlossenere
Bekämpfung der Drogenkriminalität. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Herrn Lintner zurück an die
Meine Damen und Herren, würden Sie nun einmal Maas! „Ozapft is" heißt die Drogenpolitik in
sagen, wie Sie diese Ziele erreichen wollen! Dieses Bayern!)
Drogenkonzept ist symptomatisch für die Hilflosigkeit
Ihrer Innen- und Rechtspolitik. Mit einem trotzigen
„Weiter so" verschärfen Sie die Probleme. Statt den Sabine Leutheusser Schnarrenberger, Bundesmi-
-

Teufelskreis von Sucht und Kriminalität zu durchbre- nisterin der Justiz: Herr Präsident! Meine sehr verehr-
chen, drehen Sie weiter an der Schraube des Drogen- ten Damen und Herren Kollegen! Frau Müller, Herr
elends. In der Tat muß man höchste Besorgnis haben, Volmer, Ihre Arroganz den Wählerinnen und Wählern
was die Entwicklung im Drogenbereich anbelangt. gegenüber ist ja sehr bezeichnend.
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der
Auch wir wollen nicht mehr Abhängige. Auch wir
wollen, daß weniger Süchtige Autos oder Wohnungen - CDU/CSU)
aufbrechen oder zur Prostitution gezwungen werden. Stimmen, die ganz bewußt auf Grund einer Koalitions-
Aber das geht nur, wenn Sie endlich anfangen, Lehren aussage, die ganz selbstverständlich war — vielleicht
aus dem gescheiterten Konzept des Drogenkriegs zu machen Sie ja in vier Jahren auch einmal eine ganz
ziehen. Wir brauchen eine Abrüstung im Drogen- bestimmte Koalitionsaussage ,
krieg. Wir wollen eine grundlegende Wende in der (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
Drogenpolitik. Die Parole vor allem an die Konsumen- DIE GRÜNEN]: Das nächste Mal wählen Sie
ten muß heißen: Die Waffen nieder! Die Antwort auf uns, Frau Leutheusser-Schnarrenberger! In
Krankheit und Sucht darf nicht länger das Strafrecht vier Jahren wählen Sie uns!)
sein.
abgegeben worden sind, sind keine Leihstimmen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Außerdem besitzt man die Stimmen von Wählerinnen
sowie bei Abgeordneten der SPD und der und Wählern nicht, sondern man muß versuchen, sie
PDS) durch die eigene Politik bei den nächsten Wahlen zu
gewinnen.
Die Bundesregierung muß auch den Mut finden, die (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)
rechtlichen Ungereimtheiten zu beseitigen, die durch
Dazu muß man in einen Wettbewerb eintreten. Genau
den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts gege-
das werden wir tun.
ben sind. Nun ist zwar der Besitz kleiner Mengen Hanf
de facto straflos, aber nicht der entsprechende Erwerb (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der
durch den Konsumenten. Stellen Sie sich das einmal CDU/CSU — Joseph Fischer [Frankfurt]
übertragen auf einen anderen, einen legalen Suchtbe- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sollten
reich vor: Der Besitz einer Flasche Schnaps wäre das gemeinsam tun!)
straffrei; wenn der Trinker aber den Schnaps kaufen — Ich glaube nicht, daß wir allzuviel Gemeinsamkei-
wollte, läge eine Straftat vor. Das ist doch absurd. ten haben und das deshalb gemeinsam tun können,
Herr Fischer. Wir werden das deshalb tun, weil wir,
(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ und zwar die Liberalen, den organisierten Liberalis-
CSU]: Das ist doch Unfug, was Sie da erzäh- mus
len!)
(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Wer
— So ist das. ist das?)
132 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger


gerade auch in dieser Legislaturperiode und bei den wirklich der richtige Schritt in die richtige Richtung
wichtigen Fragen der Rechts- und Innenpolitik deut- getan wird.
lich machen werden.
(Zuruf des Abg. Detlev von Larcher [SPD]) Vizepräsident Hans Klein: Frau Ministerin, gestat-
— Nein, überhaupt nicht. ten Sie eine Zwischenfrage?
Wie ich vernommen habe, haben Sie, Frau Müller,
anscheinend die Koalitionsvereinbarung gerade zu Sabine Leutheusser Schnarrenberger, Bundesmi-
-

den Punkten, in denen sie konkret ist, nicht richtig nisterin der Justiz: Ja, bitte.
gelesen. Deshalb erlaube ich mir, hier auch ein
bißchen Nachhilfeunterricht zu geben.
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. — Uwe Frau Kollegin, wären Sie so freundlich, uns Abgeord-
Lühr [F.D.P.]: Das brauchen die!) neten mitzuteilen, auf wie viele der hunderttausend in
Denn die Koaltionsvereinbarung im Bereich der Deutschland geborenen Ausländer in jedem Jahr
Rechts- und Innenpolitik ist davon getragen, daß wir diese Regelung der Kinderstaatsbürgerschaft für die
den liberalen Rechtsstaat stärken, die Bürgerrechte dritte Generation, die ja sehr eingeschränkt ist, indem
verteidigen und auch die Sicherheit der Bürger ein Elternteil in Deutschland geboren sein muß und
gewährleisten wollen. Deshalb ist das Ausländer- und die Eltern sich mindestens zehn Jahre hier aufhalten,
Staatsangehörigkeitsrecht für uns ein ganz wesentli- zutreffen würde.
cher Bereich, weil wir durch konstruktive Politik keine
Ängste entstehen lassen wollen oder aber Ängste und Sabine Leutheusser Schnarrenberger, Bundesmi-
-

Befürchtungen, die entstanden sind, abbauen wol- nisterin der Justiz: Zunächst einmal darf ich auf die
len. Frage antworten, daß Sie auch wissen, daß da ein sehr
Das geht dadurch, daß man konkrete Vorschläge dynamisches Element enthalten ist, weil wir sich
macht. Das, was hier von Frau Müller an die Adresse ständig entwickelnde und im Zweifel steigende Zah-
der Bundesregierung gefordert wird, steht schon in len haben werden.
der Koalitionsvereinbarung, nämlich eine umfas- (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
sende Reform des Staatsangehörigkeitsrechts. Da
Denn es ist keine Ist-Zustandsbeschreibung,
wird nicht geprüft, ob wir eine Reform vornehmen
wollen. Nein, es wird eine umfassende Reform des (Zuruf von der SPD: Nennen Sie doch einmal
Staatsangehörigkeitsrechts von seiten der Bundesre- eine Zahl!)
gierung vorgenommen, weil wir Ihnen, dem Parla- sondern es sind alle Kinder der dritten Generation.
ment, die Vorschläge vorlegen werden. (Beifall des Abg. Ulrich Irmer [F.D.P.])
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. — Anke Ich kann Ihnen die genaue Zahl nicht sagen. Sie ist
-
Fuchs [Köln] [SPD]: In welche Richtung?) fünfstellig. Selbstverständlich, da können Sie nachfra-
— Das steht genau auf Seite 41, zweiter Absatz, erste gen. Aber ich kann sie Ihnen nicht genau sagen, weil
Zeile. Da steht es ganz konkret. wir auch nicht zu allen diesen Punkten im einzelnen
die ganz konkreten Zahlen vorliegen haben.
(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Aber
mehr als eine Zeile ist das auch nicht!) Aber ich glaube, Herr Beck, es geht doch überhaupt
nicht um die absoluten Zahlen. Es geht um das, was
Natürlich gibt es sehr viele Einzelpunkte, über die dahintersteckt.
manche vielleicht unterschiedlicher Meinung sein
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
würden. Aber, worum es uns geht, ist — —
ten der CDU/CSU)
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Es geht nämlich darum, daß wir gesagt haben: Wir
DIE GRÜNEN]: Das wird mit der F.D.P. doch wollen für Kinder ausländischer Eltern der dritten
nichts!) Generation hier die Möglichkeit eröffnen, mit Geburt
— Das wird ganz hervorragend. Sie sollten weiter einen besseren Status als jetzt zu haben, und ihnen ab
zuhören, was wir noch alles machen wollen. dem 18. Lebensjahr die Umwandlung in die deutsche
Staatsangehörigkeit unter bestimmten Voraussetzun-
(Beifall des Abg. Dr. Hermann Otto Solms gen ermöglichen.
[F.D.P.])
(Detlev von Larcher [SPD]: Das haben wir ja
In diesen Zusammenhang gehört auch das hier so nun kapiert!)
geschmähte Institut der Kinderstaatszugehörigkeit.
Wenn wir bei diesem Punkt sauber debattieren,
Es ist neu, und von daher muß es nicht gleich von
dann müssen wir auch trennen: einmal zwischen dem
vornherein, ohne daß man sich vielleicht etwas näher
Jus soli, nämlich den Elementen des Territorialprin-
damit beschäftigt hat, mit einer polemischen und
zips, das wir mit der Kinderstaatszugehörigkeit in
pauschalen Kritik überzogen werden.
einem ersten Ansatzpunkt hier aufnehmen, in Ergän-
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der zung zum geltenden Abstammungsrecht und zum
CDU/CSU) anderen der doppelten Staatsangehörigkeit.
Wenn Sie sich die Eckpunkte — und die stehen zu (Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE
diesem Punkt in der Koalitionsvereinbarung auf GRÜNEN]: Sie wissen nicht, was Sie da
Seite 41 — ansehen, dann werden Sie sehen, daß hier reden! Es ist doch entsetzlich!)
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 133

Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger


— Nein, das ist genau das, was sich aus diesem aus etwas anderes, mehr in eine Richtung, vorgestellt,
meiner Sicht richtigen Schritt in die richtige Richtung aber verwischen Sie bitte nicht immer zwei Elemente,
ergibt. Ich kann offen sagen, wir hätten gerne noch nämlich Jus soli und die doppelte Staatsangehörig-
mehr gewollt. keit! Das ist zu trennen. Das ist etwas Unterschiedli-
(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ches.
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)
— Wieso lachen Sie da? Es ist doch richtig, daß man
sich auf das verständigt, was im Moment konsens- und Ich bin auch nicht der Meinung, daß wir für jeden,
einigungsfähig ist. Ich halte es für richtig, wenn wir der in Deutschland geboren ist, oder für jeden, der sich
das tun, gerade zur Stärkung der Integration von hier einige Jahre aufgehalten hat, generell die dop-
Kindern, die hier in Deutschland geboren werden, pelte Staatsangehörigkeit schaffen sollten. Ich bin
unter bestimmten Voraussetzungen. Wir werden, zwar schon der Meinung, daß das unter bestimmten
wenn wir an die gesetzliche Ausformulierung gehen, Voraussetzungen — gerade auch in Härtefällen —
uns über die Einzelheiten sehr wohl und in Ruhe möglich sein muß, und das kann man auch noch weiter
unterhalten. Dann wird man sehen, was sinnvoll ist. fassen, als das bisher der Fall ist, aber ich halte nichts
Aber an konkreten Aussagen ist, glaube ich, gerade von einer generellen doppelten Staatsangehörigkeit
dieser Punkt in der Koalitionsvereinbarung nicht zu auf Dauer.
überbieten.
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der
Vizepräsident Hans Klein: Frau Ministerin, der Kol- CDU/CSU)
lege Sperling würde ebenfalls gerne eine Zwischen-
frage stellen. Das ist die unterschiedliche politische Ansicht, die
wir eben zu diesem Punkt haben. Aber da muß man
Sabine Leutheusser Schnarrenberger, Bundesmi-
-
auch sauber argumentieren, das sauber auseinander-
nisterin der Justiz: Ja, bitte. halten und nichts miteinander verwischen.

(Detlev von Larcher [SPD]: Sie haben doch


Vizepräsident Hans Klein: Bitte, Herr Kollege.
viel mehr Differenzen zur CSU als zu uns!)
Dr. Dietrich Sperling (SPD): Frau Ministerin, ist denn Vor allem darf man das auch nicht mit dem Recht
auch ein Kinderwahlrecht vorgesehen, damit sich das, der Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung
was Sie da vorschlagen, auch positiv auf Ihre Partei verwischen.
auswirken kann?
(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) (Zuruf von der SPD: Das haben wir doch auch
nicht!)
Sabine Leutheusser Schnarrenberger, Bundesmi-
Was heißt das? Auch Sie haben wieder nichts
-

nisterin der Justiz: Aus Ihrer Frage merke ich, daß es gelesen. Schauen Sie bitte einmal in das Koalitions-
Ihnen nicht ernsthaft um die Kinder geht, mit denen papier. Wir haben in der Koalitionsvereinbarung zu
wir uns hier beschäftigen. diesem Punkt — ich sage Ihnen auch offen, warum —
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) einen Prüfungsauftrag für Regelungen zur Steuerung
Von daher möchte ich eigentlich gerne fortfahren und und Begrenzung der Zuwanderung aufgenommen,
noch hinzufügen, was wir denn im Bereich der besse- weil es, glaube ich, kaum möglich ist, innerhalb
ren Integration von Menschen ausländischer Her- kürzester Zeit Kriterien für die Steuerung der Zuwan-
kunft in Deutschland weiter tun wollen. derung vorzulegen, die sowohl arbeitsmarktpoli-
Wir werden die Ermessensentscheidungen, die in tischen als auch humanitären Gesichtspunkten Rech-
vielen Bestimmungen in unserem Ausländergesetz nung tragen.
enthalten sind, in Rechtsansprüche, soweit es geht,
(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Burkhard
verändern. Das heißt eine ganz erhebliche Besserstel-
Hirsch)
lung. Wir werden die Einbürgerung erleichtern,
indem wir die Fristen des Aufenthaltes von derzeit Das ist schwierig. Wir müssen uns über folgendes
15 Jahren verkürzen. Das wird weniger sein, das unterhalten: Wie ist es mit denjenigen, die einen
werden möglicherweise zehn Jahre sein, vielleicht ist Rechtsanspruch haben, sich hier aufhalten zu können?
es auch eine andere Zahl, etwa acht. Aber darüber Wie bringen wir dies beides zusammen?
wird man sich verständigen. Das ist ja nicht der
entscheidende Streitpunkt. Wir ich sage: die Liberalen — wollen das, aber wir
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ können Ihnen auch nicht sofort ein fertiges Konzept
DIE GRÜNEN]: Sieht das die CDU auch auf den Tisch legen.
so?)
(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das
Es geht doch um das Gesamtkonzept, mit dem wir wußten wir schon länger!)
hier nämlich an vielen Punkten ansetzen und tatsäch-
lich etwas zur Verbesserung der Integration — nicht Deshalb werden wir uns dafür einsetzen, daß wir uns
zur Assimilation — der Menschen, die sich hier in gerade mit diesen Fragen mit Hilfe von Experten
Deutschland auch integriert fühlen und hier leben beschäftigen — vielleicht auch unter Berücksichti-
wollen, tun. Von daher halte ich es wirklich für sehr gung dessen, was wir in anderen Ländern sehen, die
polemisch, diesen Vorschlag hier in Bausch und ganz andere Bedingungen haben —, die dann auch
Bogen abzutun. Sagen Sie ehrlich, Sie hätten sich Vorschläge machen, die in eine Regelung zur Steue-
134 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger


rung und Begrenzung der Zuwanderung einfließen Deshalb steht in der Koalitionsvereinbarung auch
können. ganz klar, daß ihre Rechtsstellung und ihre Funktion
(Beifall des Abg. Detlef Kleinert [Hannover] gesetzlich geregelt werden soll. Natürlich verbinden
[F.D.P.]) wir damit die Auffassung, daß sie eine stärkere
Möglichkeit als bisher haben muß, ihre Stimme
Das ist ehrlich, weil es das ist, was wir im Moment — auch hier im Parlament — zu erheben, und daß sie
tatsächlich in der Lage sind zu leisten. auch im Rahmen der Bundesregierung noch mehr
Möglichkeiten der Beteiligung bekommen kann.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Gestatten Sie
(Detlev von Larcher [SPD]: Und was sagt die
eine Zwischenfrage des Abgeordneten Irmer?
CDU dazu?)

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesmi- Das werden wir im Rahmen der gesetzlichen Rege-
nisterin der Justiz: Ja. lung, die wir schaffen wollen, erörtern. Aber das zeigt
doch, wie wichtig gerade uns diese Fragen insgesamt
sind und daß es nicht angebracht ist, hier so pauschal
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Bitte, Herr Kol- in Bausch und Bogen etwas abzulehnen, was wirklich
lege. diese Kritik in der Form bei weitem nicht verdient
hat.
Ulrich Irmer (F.D.P.): Frau Bundesministerin, bin ich Aber ich möchte gern — und das ist bei der Debatte
richtig informiert, daß die Türkei, die ja ein starkes der Innen- und Rechtspolitik notwendig — auch zum
Interesse daran hat, daß hier lebende Türken bei uns Bereich der Kriminalitätsbekämpfung und der inne-
eingebürgert werden können, durch Änderung ihrer ren Sicherheit etwas sagen. Dazu möchte ich zwei
eigenen Gesetzgebung selbst Erhebliches dazu bei- Aussagen machen.
tragen könnte, daß den Türken dieser Schritt z. B.
dadurch erleichtert wird, daß die Türkei in ihrem Die erste ist, daß in der Koalitionsvereinbarung
Erbrecht oder in ihrem Grund- und Bodenrecht Ände- entscheidend ist, daß wir die verabschiedeten Gesetze
rungen vornimmt, so daß Türken, die sich hier einbür- und die, die am 1. Dezember in Kraft treten werden,
gern lassen, dann keine Nachteile mehr erleiden, nämlich das Verbrechensbekämpfungsgesetz, das wir
wenn sie ihre eigene angestammte türkische Staats- ja in einem gemeinsamen Kompromiß zustande
angehörigkeit aufgeben? gebracht haben, sich erst einmal bewähren lassen
wollen. Wir wollen Erfahrungen mit den Änderungen
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
sammeln, und es sind ja weitgehende Änderungen,
die wir dort im Bereich der Bekämpfung der Krimina-
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesmi- lität, der organisierten Kriminalität wie auch der
nisterin der Justiz: Wir beschäftigen uns mit der Massenkriminalität der Eigentumsdelikte, vorgenom-
erweiterten Hinnahme der doppelten Staatsangehö- men haben. Letzteres ist ja gerade der Deliktsbereich,
rigkeit, gerade weil es besonders in der Türkei bisher der insbesondere zu Ängsten und Befürchtungen der
ganz, ganz schwierig ist, die türkische Staatsangehö- Bevölkerung führt.
rigkeit aufzugeben, bzw. weil in manchen Fällen
solche Nachteile erlitten werden, daß es wirklich nicht Rechtspolitik und Kriminalitätsbekämpfung heißt
zumutbar ist, daß sie aufgegeben wird. Die Türkei auf der einen Seite natürlich wie wir das kennen —:
selbst könnte natürlich ganz entscheidend durch Immer prüfen, ob wir andere Gesetze brauchen, ob wir
Änderung ihrer Bestimmungen dazu beitragen, mehr Gesetze brauchen, ob wir Lücken schließen
müssen. Aber allein die gesetzgeberische Aufrüstung
(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) ist nicht Ziel von Kriminalitätsbekämpfung, sondern
den Menschen, die in Deutschland leben, die Ent- dazu gehört gerade eine moderne Politik der Ursa-
scheidung zu erleichtern. chenbekämpfung, die wirksame internationale Zu-
(Detlev von Larcher [SPD]: Es ist für die sammenarbeit und ein funktionierender Vollzug der
F.D.P. auch leichter, wenn die Türken das beschlossenen Gesetze.
ändern!) (Beifall bei der F.D.P.)
Das wäre ein ganz wesentlicher Schritt in die richtige
Richtung. Aber solange das nicht der Fall ist, ver- Dieser Punkt ist schon von einigen Rednern heute
suchen wir wirklich, mit unseren Möglichkeiten hier angesprochen worden. Denn wenn wir Defizite
eindeutig Verbesserungen zu bekommen. haben, dann beim Vollzug der bestehenden Gesetze,
nicht in erster Linie bei den Eingriffsbefugnissen und
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeord-
Eingriffsmöglichkeiten, die man dem Staat geben
neten der CDU/CSU)
möchte.
Im Zusammenhang mit der Ausländer- und Staats-
angehörigkeitspolitik spielt die Ausländerbeauf- Aber Kriminalitätsbekämpfung kann auch nicht
tragte eine ganz entscheidende Rolle; heißen, daß jedes Mittel nur deswegen gewählt wer-
den könnte, weil es möglicherweise nützlich ist. Denn
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
genau wie die innere Sicherheit und der Erhalt der
DIE GRÜNEN]: Leider nicht!)
inneren Sicherheit wichtig ist, müssen die Bürger-
denn sie ist ja das Sprachrohr derjenigen, die mit zu und Freiheitsrechte beachtet werden und muß ihnen
den Schwächeren in Deutschland gehören. vor allen Dingen das nötige Gewicht beigemessen
(Beifall der Abg. Anke Fuchs [Köln] [SPD]) werden.
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 135

Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger


Da ist — und das hier zu sagen liegt mir doch am und da ist es genau die Argumentation.
Herzen — in jüngster Zeit eine ganz andere Argumen-
tation entstanden, und zwar die Argumentation, aus Dazu kann ich nur sagen: Wir können nur diejeni-
unserer Verfassung und aus den Grundrechten herzu- gen Möglichkeiten und Maßnahmen ernst nehmen,
leiten, daß der Staat schon nach dem Grundgesetz die nicht dazu führen, daß das, was in unserer Verfas-
verpflichtet sei, den Bürger vor Grundrechtseingrif- sung als Wertesystem verankert ist, auf das sich heute
fen Dritter zu schützen, und zwar auch um den Preis viele in dieser Debatte zu Recht berufen haben,
eines staatlichen Eingriffs in die Grundrechte der auseinanderbricht.
Bürger. Den originär als Abwehrrechte gegen staatli-
che Eingriffe konzipierten Grund- und Freiheitsrech- Deshalb, meine Damen und Herren, haben wir aus
ten wird auf diese Weise eine Pflicht des Staates guten Gründen in unsere Koalitionsvereinbarung
entgegengesetzt, dann in diese bürgerlichen Rechte nicht einen Strauß von Maßnahmen, von Möglichkei-
eingreifen zu müssen, wenn dies zum Schutz vor ten aufgenommen.
Eingriffen Dritter erforderlich sei.
(Beifall des Abg. Ulrich Irmer [F.D.P.])
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Was ist die Position der Denn wir können das im Moment auf Grund der
Bundesregierung? Ihre oder die des Bundes- vorliegenden Erkenntnisse und Erfahrungen nicht
innenministers?) vertreten und nicht rechtfertigen. Darüber hinaus sind
— Nein, das ist nicht die Position der Bundesregie- wir ganz klar der Auffassung, daß Vertrauen in den
rung. Wenn Sie die politischen Äußerungen verfolgen Rechtsstaat, in die Institutionen dieses Staates nicht
— ich denke einmal an das, was der Innenminister des durch Aktionismus bei der Gesetzgebung gewonnen
Landes Brandenburg sagt —, werden kann, sondern in erster Linie dadurch, daß
diese Institutionen funktionieren und ihre Aufgaben
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ wahrnehmen können. Damit wird das Vertrauen in sie
DIE GRÜNEN]: Uns interessiert, was für eine
verstärkt und verbessert!
Haltung die Bundesregierung hat!)
dann ist das eine Überlegung, die immer stärker um (Beifall des Abg. Ulrich Irmer [F.D.P.])
sich greift, um alle Eingriffsmaßnahmen und -mög-
lichkeiten zu legitimieren, die, angeblich begründet Hier, meine Damen und Herren, müssen wir noch
aus einer Schutzpflicht des Staates, hergeleitet aus der einiges tun. Es reicht nicht, daß wir die Justiz in den
Verfassung, gegeben seien. neuen Bundesländern funktionsfähig gemacht haben.
Es fehlen noch wesentliche Dinge. Ich denke an die
Ich warne davor, diese Verfassungsinterpretation, die
Fragen des Jugendstrafvollzugs — Herr Schily, ich
das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil aus
glaube, Sie haben das angesprochen, oder Sie, Frau
dem Jahre 1975 zum § 218 zum Schutz des ungeborenen
Müller —, an gesetzliche Grundlagen für den Straf-
Lebens entwickelt hat, auszudehnen, überzuinterpre-
vollzug gerade von Jugendlichen — das ist so in die
tieren und zu weit zu fassen, weil das nämlich dazu
Koalitionsvereinbarung eingegangen und an Rege-
führen würde, daß letztendlich über alle politisch zu
lungen für die Untersuchungshaft von Jugendlichen.
treffenden Maßnahmen das Bundesverfassungsgericht
Das ist ein wichtiger Punkt, den wir uns vorgenommen
entscheiden würde, weil jeder klagen würde, weil der
haben, den wir in der letzten Legislaturperiode, in der
Staat aus seiner Sicht nicht alles, was die Verfassung
wir uns mit den rechtlichen Herausforderungen der
eigentlich hergebe, zum Schutz seiner Rechtsgüter
täte. deutschen Einheit intensiv beschäftigt haben, nicht
mehr haben bewältigen können. Das haben wir nicht
Deswegen halte ich es für ganz wichtig, daß wir uns mehr schaffen können.
gemeinsam darüber einig sind, daß diese Argumenta-
tion nicht greifen kann und nicht die richtige ist, wenn
Dazu gehört ein weiterer wichtiger Punkt, der sich
es um die wichtige Frage geht: Was darf ein Staat, wiederum an den Gesetzgeber richtet. Wir haben uns
welche Eingriffsmöglichkeiten geben wir ihm, und wo bisher in der Debatte mit der Rechtsstellung ausländi-
ziehen wir klar die Grenzen? scher Kinder beschäftigt und suchen nach vernünfti-
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ gen Lösungen, sie zu verbessern. Es gibt jedoch auch
DIE GRÜNEN]: Was sagt die Bundesregie- sehr, sehr viel zu tun, um die Rechtsstellung der
rung dazu?) Kinder, die in Deutschland geboren sind und deutsche
Eltern haben, zu verbessern und zu stärken.
Deshalb mein Appell an alle hier, sich an dieser — —
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)
GRÜNEN]: Was Sie und der Bundes-
innenminister meinen, das ist von Interesse!) Das betrifft gerade die Situationen, wo sich die Eltern
trennen oder nicht miteinander verheiratet sind. Hier
— Nein, nein, schauen Sie bitte einmal in die Länder.
muß es im Bereich des Sorgerechts, des Umgangs-
Was wird denn dort teilweise alles gefordert? Ich
rechts und des Unterhaltsrechts erhebliche Verbesse-
schaue nach Brandenburg und lese sehr gründlich,
rungen geben, damit unsere Kinder eine bessere
was dort gefordert wird,
rechtliche Absicherung haben. Denn sie haben einen
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE Anspruch auf ihre Eltern. Sie haben einen Anspruch
GRÜNEN]: Wir sind nicht in Brandenburg, darauf, daß sich auch der unverheiratete Vater mit
sondern im Deutschen Bundestag! Wir wollen seinem Kind treffen kann, daß es Umgangsregelun-
wissen, was die Bundesregierung meint!) gen gibt, daß die Eltern, die nicht verheiratet sind,
136 Deutscher Bundestag — 13. Wahlpe ri ode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger


gemeinsam die Sorge für ihr Kind oder ihre Kinder außerhalb des Ministeriums prüfen, welche Bestim-
ausüben können, wenn sie es wollen. mungen wir nicht brauchen, wo wir Bestimmungen
aufheben können, wo wir sie befristen können. Denn
(Zustimmung bei der F.D.P.)
es nützt nichts, einen Begriff zu gebrauchen und ihn
Ich glaube, im Interesse der Kinder sind wir gut dann nicht mit Leben zu füllen. Das müssen wir — ich
beraten, wenn wir in dieser Legislaturperiode hier die glaube, Sie alle können das gut beurteilen — mit
Schwerpunkte im Bereich der Familienrechtspolitik Experten tun, die Situationen von außen viel krasser,
und der Kindschaftsrechtspolitik setzen. viel deutlicher, viel kritischer beurteilen und bewer-
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) ten können als diejenigen, die diese Bestimmungen
liebevoll in jahrelanger Arbeit geschaffen haben,
Finanzielle Verbesserungen sind wichtig und not- Bestimmungen, die von Ihnen, den Parlamentariern,
wendig. Wir haben sie in die Koalitionsvereinbarung in vielen Punkten zu Recht angemahnt und gefordert
aufgenommen. Aber auch die Stellung der Kinder worden sind. Das ist ein wichtiger Bereich.
muß rechtlich abgesichert sein, ihr Recht, besser als
bisher mit den Eltern umgehen zu können, wenn diese (Dr. Hermann Otto Solms [F.D.P.]: Und die
sich nicht mehr verstehen und auseinandergehen. Das die Kommentare dazu schreiben!)
ist ganz wichtig. — Die natürlich auch Kommentare und Aufsätze dazu
(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das hat schreiben, über die wir dann hier debattieren kön-
doch Herr Kinkel vor vier Jahren schon nen.
vergeblich angekündigt!) Schlanker Staat muß auch die Übertragung von
— Sie wissen auch, Herr Schmidt, daß das ein Vorha- Verantwortung bedeuten, die Übertragung von
ben ist, das sich nicht aus ein oder zwei Bestimmungen Kostenverantwortung und die Mobilisierung des
zusammensetzt. Vielmehr ist es ein ganz wichtiges Beamtenapparates. Wer dem Staat lebenslänglich
gesellschaftspolitisches Vorhaben. In der letzten dienen will, muß das da tun, wo der Staat ihn für die
Legislaturperiode sind dazu drei Gesetzentwürfe in Erfüllung seiner hoheitlichen Aufgaben auch tatsäch-
die Beratungen eingebracht worden. Sie sind in den lich braucht, aber nicht für Aufgaben, die sehr wohl
Ausschüssen nicht mehr abschließend beraten wor- auch von anderen langfristig besser, flexibler, mobiler
den. und effektiver wahrgenommen werden können.

(Margot von Renesse [SPD]: Warum wohl?) (Beifall bei der F.D.P.)

— Das kann ich Ihnen sagen: weil gerade im Rechts- Damit wir einen funktionsfähigen öffentlichen
ausschuß als dem federführenden Ausschuß die wich- Dienst haben, den wir alle brauchen und der Ver-
tigen Fragen für die neuen Bundesländer beim trauen verdient, müssen wir dort natürlich auch die
Bodenrecht, bei den Vermögensfragen oder bei den Leistungsanreize verbessern. Es müssen gute Aus-
Eigentumsfragen rechtliche Sicherheit zu schaffen sichten bestehen, berufliche Karriere machen zu kön-
die Zeit in Anspruch genommen hat. Es gab sogar nen; aber das darf keine Automatik sein. Es darf mit
nächtelange Sondersitzungen. Deshalb war es leider dem Eintritt in den Staatsdienst nicht sicher sein, wie
nicht mehr möglich, diese Gesetze im Rechtsausschuß die Karriere in 15 Jahren verlaufen sein wird.
abschließend zu beraten. Das meinen wir, wenn wir in die Koalitionsverein-
Das heißt aber, daß wir in dieser Legislaturperiode barung die Stärkung der Attraktivität und die Verbes-
diese Gesetze wie auch die wichtigen Regelungen serung der Mobilität aufgenommen haben. Wir wer-
zum Sorgerecht und zum Unterhaltsrecht einbringen den uns auch mit einigen Entwicklungen beschäftigen
und beraten werden. Die Vorarbeiten sind geleistet. müssen, die immer wieder als feste Größe behandelt
Die Überlegungen und Vorstellungen, die unter Hin- werden, nämlich mit der Frage: Wie ist jemand
zuziehung von Fachleuten entwickelt worden sind, flexibler an einem anderen Ort, vielleicht auch bei
sind schon sehr weit fortgeschritten. Ich bin sehr einem anderen Dienstherrn einsetzbar? Davor werden
zuversichtlich, daß wir hier bald in die parlamentari- wir nicht haltmachen. Das wird auch bei den Beratun-
schen Beratungen und Auseinandersetzungen gehen gen zum öffentlichen Dienstrecht und zur Reform des
und dann wirklich in dieser Legislaturperiode die öffentlichen Dienstrechts insgesamt ein wesentlicher
große Chance haben, rechtliche Regelungen aus Punkt sein.
einem Guß zu verabschieden. (Zuruf von der SPD: Da bin ich aber
Ich rechne damit und bitte darum, daß alle diejeni- gespannt!)
gen, die sich in der vergangenen Legislaturperiode zu Ja, das werden Sie dann, hoffe ich, etwas gründli-
Recht mit diesen Fragen beschäftigt haben, jetzt cher ausgearbeitet als das, was in der Koalitionsver-
konstruktiv mitarbeiten, damit wir auch bei diesen einbarung enthalten ist, vorfinden und in Ruhe disku-
wichtigen Punkten zu einem Abschluß der Gesetzge- tieren und bewerten können.
bung kommen können.
Meine Damen und Herren, wenn wir die Bereiche
Erlauben Sie mir noch ein Wort zu dem Begriff des Ausländerstaatsangehörigkeitsrecht, innere Sicher-
schlanken Staates, der in vielen Bereichen eine wich- heit, Kriminalitätsbekämpfung, Familienrecht, Stär-
tige Rolle spielt. Der schlanke Staat ist mehr als nur kung der Institutionen dieses Staates und ihrer Tätig-
Deregulierung, d. h. mehr als Aufhebung rechtlicher keiten, Verbesserung der Verfahrensabläufe sehen,
Vorschriften. dann wird deutlich, daß die Bewertung der Bundesre-
Ich kann Ihnen zu diesem Punkt nur sagen: Im gierung, man solle nicht in erster Linie nur auf mehr
Justizministerium werden wir auch mit Experten von und andere Gesetze setzen, richtig ist.
Deutscher Bundestag — 13. Wahlpe ri ode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 137

Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger


Es ist richtig und wichtig, den liberalen Rechtsstaat Zuständigkeiten und gesellschaftlicher sowie bürger-
zu erhalten, dem Bürger mehr zu vertrauen, gerade licher Eigenverantwortung. Wir sprechen vom schlan-
den Begriff der Freiheit sehr ernst zu nehmen, die ja, ken Staat. In der Tat, jetzt ist — nicht nur unter dem
wie schon ganz andere vor vielen Jahren viel besser Druck der leerer gewordenen öffentlichen Kassen —
gesagt haben, wenn, dann scheibchenweise stirbt, die Stunde der Besinnung auf die Fragen: Was kann
was man meist erst merkt, wenn es zu spät ist. der Staat leisten, was hat er zu leisten, und wo hat er
Deshalb stehe ich als Vertreterin liberaler Politik zu sich im Zeichen richtig verstandener Subsidiarität
denen, die im Staat den Verwalter und den Sachwalter zurückzunehmen?
der unterschiedlichen und wandelbaren Wertvorstel-
Das ist aber eine schwierige Aufgabe. Ich habe mit
lungen, Interessen und Lebensentwürfe der Bürger
großer Freude einiges von dem gehört, was Herr
sehen. Nur der Staat der offenen Gesellschaft, der
Schily gesagt hat. Ich frage mich, ob das vielleicht die
seine Stärke aus der konsequenten Erfüllung der ihm
sozialdemokratische Politik der Zukunft ist, ob der
legitim übertragenen Aufgaben bezieht, nicht aber
Glaube der Sozialdemokraten hinsichtlich der All-
aus einem Zusammensuchen immer neuer Befugnisse
macht des Staates selbstkritischer geworden ist.
zum Eingriff in Grundrechte, kann seine Legitimität
aus der Freiheit des einzelnen Bürgers beziehen. Sich Das wäre ein gutes Zeichen, meine Damen und
dafür einzusetzen lohnt sich. Gerade das ist eine Herren. Denn wir müssen kritisch staatliche Zustän-
wichtige Aufgabe der F.D.P. in dieser Koalition, in digkeiten zurücknehmen. Der grundgesetzliche
dieser Regierung. Dafür stehen wir. Deshalb, Herr Rechtsstaat, der liberale Rechtsstaat, ist ganz ent-
Fischer, scheuen wir auch nicht den Wettbewerb mit scheidend auf Subsidiarität angelegt und nicht auf
den Grünen in diesem Punkt. Ich glaube, da haben wir hypertrophe Verwaltungsstaatlichkeit mit einem für
einiges mehr zu bieten als Sie. den Bürger immer undurchschaubarer werdenden
Vielen Dank. Verwaltungsmachtanspruch. Das geht nicht mehr.
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Das geht aber auch in der Gesetzgebung nicht
mehr. Das heißt, wir haben diese Frage auch uns selbst
zu stellen. Die Gesetzgebungsmaschinerie läuft
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat der bekanntlich von Legislaturperiode zu Legislaturpe-
Abgeordnete Professor Rupert Scholz. riode immer schneller, immer breiter und immer
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ intensiver. Wir müssen uns ganz ehrlich und wie-
DIE GRÜNEN]: Jetzt kommt das Gegenpro- derum selbstkritisch die Frage stellen, ob es wirklich
gramm! Nach der liberalen Position die fun- immer richtig ist, jedes Detail gesetzlich zu regeln.
damentale Position!) Wer über die Gesetzgebung immer mehr Einzelfall-
gerechtigkeit gewährleisten will, schafft in Wahrheit
nämlich immer mehr Undurchschaubarkeit und damit
Dr. Rupe rt Scholz (CDU/CSU): Wollen wir den auch mangelnde Gerechtigkeit.
Clown erst abschalten?
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.
(Zuruf des Abg. Joseph Fischer [Frankfurt] sowie bei Abgeordneten der SPD und des
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir haben heute viel über — zusammenge- Wir müssen uns der Frage stellen, ob das Verhältnis
faßt — unseren Rechtsstaat gesprochen. Ich glaube, er von Gesetzgebung und Exekutive nicht grundlegend
steht mit Recht ganz entscheidend im Zentrum der überdacht werden muß, dann allerdings auch im
begonnenen neuen Legislaturperiode. Dieser Rechts- Sinne einer Stärkung der Eigenverantwortung der
staat hat sich bewährt; darüber besteht sicherlich Exekutive. Wenn der Gesetzgeber glaubt, daß er
Konsens. Er hat Freiheit und Liberalität garantiert, er berufen ist, mehr oder weniger gar jedes vollzugstech-
hat lange Zeit ein hohes Maß an Rechtssicherheit nische Detail selbst zu regeln, dann macht er einen
gewährleistet, und er hat ein außerordentlich hohes Fehler. Er überfordert sich im Ergebnis selbst, und er
Maß an Rechtsförmlichkeit, ja Justizförmlichkeit in entmündigt, er demotiviert die Exekutive.
unsere staatlichen Verfahren gebracht.
Die Verwaltung kann und darf nicht demotiviert
Inzwischen häufen sich aber deutlich die kritischen werden. Wir sprechen mit Recht davon — ich habe mit
Symptome und die kritischen Entwicklungen. Des- FreudnZstimghör,daßucSieH
halb bedarf dieser Rechtsstaat wieder der Stärkung Schily, über diese Frage nachdenken —, daß wir das
auf unterschiedlichen Gebieten und in unterschiedli- öffentliche Dienstrecht anfassen müssen. Das öffent-
chen Richtungen. Er bedarf in vielfältiger Hinsicht der liche Dienstrecht ist aber ein Feld, das im Grunde ein
Erneuerung, gerade da, wo es um Verkrustungen, den Instrument unseres Verständnisses von Verwaltung
Abbau von Überregulierungen — Punkte, die bereits und Exekutive ist. Das heißt, das öffentliche Dienst-
angesprochen worden sind — his hin zu Fragen des recht schwebt nicht in freiem Raum. Wenn ich lei-
effektiven Rechtsschutzes geht. Er bedarf in vielfälti- stungsbewußte, leistungsbereite öffentliche Bedien-
ger Hinsicht auch der Wiederbesinnung auf das, was stete haben will, dann muß ich auch das Verständnis
seinen Grundwert ausmacht: Freiheit in Verantwor- von Aufgaben und Verantwortung der Angehörigen
tung, d. h. Liberalität und nicht Libertinage. des öffentlichen Dienstes entsprechend definieren.
Erstens. Es geht um die Grenzen staatlicher Zustän- Das heißt, die Fragen hängen in ganz entscheidender
digkeiten. Es geht um das Verhältnis von staatlichen Weise miteinander zusammen.
138 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Dr. Rupert Scholz


Unser Staat muß sich also rückbesinnen, auf Kern- Kinder nachts nicht allein in der U-Bahn fahren lassen.
verantwortung, auf ein wirklich auch operativ umge- So wird es von den Menschen empfunden.
setztes Subsidiaritätsprinzip. Er muß den Schritt der
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
Privatisierung weitergehen. Hier hat die Koalition in
ordneten der F.D.P.)
der vergangenen Legislaturperiode bereits Wesentli-
ches und Grundlegendes geleistet. Der Ruf nach Wir müssen Signale ernst nehmen, wie etwa jene
Deregulierung darf kein Lippenbekenntnis bleiben. Umfragen, denenzufolge heute schon rund 40 % der
jüngeren Menschen in unserem Land das Gewaltmo-
Dies alles formuliert im Ergebnis aber eine buch- nopol des Staates in Frage stellen, es für einen nicht
stäblich fundamentale Gemeinschaftsaufgabe von mehr verteidigungswürdigen oder sehr akzeptablen
Bund und Ländern bis hin zu den Kommunen. Das Wert bezeichnen. Es gibt keinen wehrhaften Rechts-
kann nicht allein in diesem Hause geleistet werden. staat, der gerade für die Schwächeren und auch für die
Heute war sehr häufig mit Recht die Rede davon, daß Minderheiten Sicherheit gewährleisten kann, wenn
auch das andere Verfassungsorgan, der Bundesrat, nicht das Gewaltmonopol des Staates absolut außer
konstruktiv sein und das, was dieses Haus beschließt, Streit steht.
aufnehmen muß, daß er eben nicht blockieren darf. Es
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
gibt kaum eine größere Herausforderung, als unseren
der F.D.P.)
Staat dort zu modernisieren, und zwar in dem hier
bereits vielfältig konsensmäßig konstatierten Sinne, Viertens. Wir müssen uns um das Rechtsbewußtsein
das aufzunehmen, gemeinsam zu erarbeiten und der Bürger kümmern. Ich nehme das Wort von Ihnen,
umzusetzen. Herr Scharping, auf, das Sie heute früh gebraucht
haben. Sie haben zur Ermutigung zivilen Engage-
Zweitens. Unser Rechtsschutz ist perfekt. Es gibt ments aufgerufen. Ich glaube, daß das durchaus
kein Land in der Welt, das ein so perfektes Rechts- richtig ist. Aber wir dürfen auf der anderen Seite,
schutzsystem wie die Bundesrepublik Deutschland wenn wir an den Bürger in diese Richtung appellieren,
hat. Trotzdem haben wir auch hier inzwischen Defi- ihn nicht allein lassen. Das heißt, vor allem der
zite zu beklagen. Der Rechtsschutz ist immer perfek- Gesetzgeber, aber auch die Exekutive darf den Bürger
tionierter geworden. Er ist damit immer komplizierter mit seinen Ängsten, mit seinen Sorgen nicht allein
geworden. Er ist immer langsamer geworden. Ganz lassen.
entscheidend ist: Wenn man Recht gibt, und der
Bürger hat ein Recht auf Recht, dann muß Recht auch Wir haben in der vergangenen Legislaturperiode
schnell gegeben werden. Wer effektiven Rechtsschutz Wesentliches auf den Weg gebracht. Das Verbre-
wirklich will, muß Rechtsschutz und Recht schnell chensbekämpfungsgesetz war ein entscheidender
geben. Fortschritt. Aber wie schwer haben Sie sich getan:
Hier haben Sie abgelehnt, dann ging die Sache zum
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Bundesrat, in den Vermittlungsausschuß — hin und
- her. Das ist wie beim Asylkompromiß gewesen. Sie
Auch hier müssen wir die Wege finden, von mancher brauchen immer so unendlich lange, bis Sie zur
Überperfektionierung und Überkomplizierung Ab- Vernunft kommen.
schied zu nehmen.
(Jörg Tauss [SPD]: Ihr hetzt immer, das ist
Drittens. Unser Rechtsstaat muß wieder wehrhafter euer Problem! Es geht euch doch nicht um die
werden. Das Grundsystem, das Grundbild unseres Lösung von Problemen!)
grundgesetzlichen Rechtsstaates ist das des wehrhaf- — Ich schlage vor, daß Ihre Zwischenrufe zu Protokoll
ten Rechtsstaates. Das heißt, wir müssen die richtigen genommen werden. Ich werte sie gerne als Zwischen-
Antworten finden auf das Anwachsen der Kriminali- frage, dann geht meine Erwiderung nicht zu Lasten
tät, der organisierten Kriminalität, der internationalen meines Zeitkontos. So, glaube ich, haben wir eine gute
Kriminalität, der Drogenkriminalität, auf all das, was Lösung.
heute vielfältig angesprochen wurde und was ich hier
nicht erneut aufnehmen will. (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Der weiß doch
gar nicht, was er will!)
Wir müssen vor allem die Ängste der Bürger ernst
Fünftens. Wir dürfen nicht den Weg der Bagatelli-
nehmen, die heute beginnen, wenn sie ihr Haus
sierung von Kriminalität gehen.
verlassen und Angst vor einem Einbruch haben. Die
Bürger haben Angst, ein öffentliches Verkehrsmittel (Beifall bei der CDU/CSU)
zu benutzen, sie haben Angst, nachts mit der U-Bahn Ich erinnere an das, was der Deutsche Anwaltverein
zu fahren. kürzlich gesagt hat. Unter dem sicherlich lobenswer-
Wer das Vertrauen des Bürgers auf den Rechtsstaat ten Vorzeichen, die Justiz zu entlasten, vertrat er die
voraussetzt — ich glaube, es ist doch wohl unsere ganz Auffassung, daß etwa Ladendiebstähle künftig erst
entscheidende Aufgabe, dieses Vertrauen zu stützen beim fünftenmal strafbar sein sollen.
und diesem Vertrauen gerecht zu werden —, der muß (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
diese Ängste der Bürger sehr, sehr ernst nehmen. Im DIE GRÜNEN]: Zwick!)
Rahmen der Umweltschutzpolitik wird davon gespro-
Wer in dieser Weise sozusagen auf mehrfache Wie-
chen, die Menschen sollten nicht oder weniger Auto
dervorlage setzt — und auch der Ladendiebstahl ist
fahren, sie sollten öffentliche Verkehrsmittel benut-
Diebstahl —,
zen. Sprechen Sie mit den Menschen auf der Straße!
Die sagen Ihnen: Ich kann meine Frau oder meine (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 139
Dr. Rupert Scholz
bis die Tat als Unrecht geahndet werden soll, der Mund nehmen und das mir fast verhängnisvoll
erschüttert das Rechtsbewußtsein in entscheidender erscheint: an den Ruf nach Waffengleichheit mit den
Weise. heute hochtechnisierten internationalen Banden.
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Wenn die Polizei schon nach Waffengleichheit rufen
DIE GRÜNEN]: Wie ist das mit Steuerhinter- muß, dann stimmt etwas in unserem Staat nicht
ziehung und mit Spezis?) mehr.
(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/
Das gilt im übrigen ganz genauso für das, was hier
CSU]: Ja, so ist es!)
vorhin von einer meiner Vorrednerinnen zur Drogen-
kriminalität gesagt worden ist. Das erinnert mich ein bißchen an jene Argumentation,
die immer gegen das Gewaltmonopol des Staates
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- angeführt wurde und mit der nach Gegengewalt
ordneten der F.D.P.) gerufen wurde. Das ist das umgekehrte Vorzeichen.
Ich nenne das Beispiel der Fixerräume. Aber eine Polizei, die erst Waffengleichheit einfordern
muß, ist keine wirklich leistungsfähige rechtsstaatli-
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ che Polizei mehr.
DIE GRÜNEN]: Ja, wollen Sie, daß die sich
auf dem Bahnhofsvorplatz die Spritze setzen, (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/
wie auf dem Bahnhof Zoo? Wollen Sie CSU]: Richtig!)
das?) Auch die Polizisten sind Bürger unseres Landes.
— Herr Fischer, ich weiß, daß Sie während jeder Rede, Auch sie haben ein Recht darauf, nicht nur in bezug
die hier gehalten wird, 50 % der Redezeit in Anspruch auf die Waffen gleichgestellt zu werden, sondern
nehmen. Das weiß ich, und deshalb antworte ich auch insgesamt, von der Gesetzgebung bis hin zur Technik,
gerne auf Sie. mit dem Instrumentarium ausgerüstet zu werden, daß
sie ihren Dienst, den sie übernommen haben und der
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ vielfältig gefahrvoll und hart ist, so leisten können, wie
DIE GRÜNEN]: Herr Professor, wenn Sie so es von ihnen erwartet wird und wie es unsere Bürger
etwas absondern, dann gehe ich darauf von ihnen mit Recht fordern.
ein!) Ich danke Ihnen.
— Lieber Herr Fischer, ich gehe doch auf Sie ein. Darf (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
ich jetzt replizieren?
Sie stellen die Frage völlig falsch. Daß ein Mensch,
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat die
der drogenabhängig ist, ein schwerkranker Mensch
Abgeordnete Frau Däubler Gmelin.
ist, dem man helfen muß, ist wohl unbestritten. Aber
-

wer aus diesem Tatbestand gleichzeitig schließt


— deshalb stelle ich das unter die Überschrift verfehlte Dr. Herta Däubler Gmelin (SPD): Herr Präsident!
-

Bagatellisierung, ja Banalisierung einer solchen fun- Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Scholz,
damentalen Gefahr für Menschen, vor allem für jün- lassen Sie mich mit dem Satz beginnen, mit dem Sie
gere Menschen —, man müsse Drogen quasi legalisie- aufgehört haben, nämlich mit Ihrer Forderung nach
ren, wie das selbst bei Ihrem dummen Beispiel mit der Waffengleichheit zwischen Polizeibeamten und Kri-
Schnapsflasche zum Ausdruck kam, minellen. Ich finde, Sie sollten sich schon die Sprache,
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ in der Sie Ihre Forderungen vortragen, genauer über-
DIE GRÜNEN]: Was ist denn daran dumm? legen.
Das ist eine legale Droge, und zwar eine sehr (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
harte Droge!) DIE GRÜNEN)
der kann nicht erwarten, daß junge Menschen begrei- Ich habe den Eindruck, Herr Kollege Scholz: Uns
fen, vor welcher Gefahr sie stehen. Vor dieser Gefahr allen geht es um den inneren Frieden. Es besteht auch
sind junge Menschen zu schützen! Einigkeit darüber, daß wir genau überlegen müssen,
welche Rolle der Staat spielen und was in den näch-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — sten vier Jahren Ihre Politik zur Sicherung des inneren
Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Friedens sein muß. Nur, eines dürfen wir nicht
DIE GRÜNEN]: Sie mit Ihrer Politik betrei- machen: aus Hilflosigkeit, weil Sie keine vernünftigen
ben die Geschäfte derer, die an den Drogen Konzepte haben, in militärische Sprache und in fal-
verdienen!) sche Vergleiche abdriften.
Ich komme zu meinem sechsten Punkt, meine (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Damen und Herren. Wir haben natürlich die Justiz zu des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
stärken, und wir haben es der Justiz leichter zu PDS)
machen. Dies wiederum ist eine entscheidende Auf-
„Waffengleichheit" zwischen jenem, der den
gabe auch der Gesetzgebung. Wir haben aber auch
für die Polizei ganz Entscheidendes zu tun. Die Polizei Rechtsstaat verteidigt und den inneren Frieden ver-
tritt, und einem Kriminellen, der ihn angreift, darf es
ist zwar Ländersache, aber auch wir haben hier, so
nicht geben. Polizei und andere, die den inneren
glaube ich, einen wichtigen, einen zentralen Beitrag
zu leisten. Frieden verteidigen und vertreten, müssen mit unse-
rer Unterstützung die Möglichkeit haben, Rechtsbre-
Ich erinnere an das Wort, das Vertreter der Polizei cher und Kriminelle zu bekämpfen. Aber seien Sie so
gerade heute, häufig in anklagendem Tone, in den freundlich und hören Sie auf, von Waffengleichheit zu
140 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Dr. Herta Däubler-Gmelin


sprechen. Sie setzen nicht vergleichbare Dinge gleich. sion, nicht begegnet werden kann. Wir brauchen
Den Schaden hat der Rechtsstaat. vielmehr die Rückbesinnung auf die Aufgabe des
(Beifall bei der SPD) Staates in einer sozialen Demokratie. Sonst geben wir
ja nicht nur das auf, was die Väter und Mütter des
Grundgesetzes bei der Schaffung des Grundgesetzes
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Kollegin, als epochale Erneuerung wollten. Wir müßten ver-
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen rückt sein, das ausgerechnet in einer Zeit zu tun, in der
Scholz? wir uns daran erinnern sollten, daß dieser soziale und
demokratische Rechtsstaat die Antwort auf die
Dr. Herta Däubler Gmelin (SPD): Aber gern.
- Erkenntnis war, daß allein der Rechtsstaat, wenn
nichts anderes hinzukommt, zu Weimar führt, wenn
die Zeiten härter werden.
Dr. Rupe rt Scholz (CDU/CSU): Frau Däubler-Gme-
lin, verzeihen Sie, wenn ich Sie gleich zu Beginn Ihrer (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Rede mit einer Zwischenfrage störe. Mir geht es des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
darum: Haben Sie bei dem, was ich gesagt habe,
Diese Erinnerung, Herr Scholz, bitte ich Sie - ich
zugehört?
weiß, daß Sie das wissen — nicht nur im Kopf zu
(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Ja!) haben, sondern auch tatsächlich darüber zu reden.
Ich habe mich gegen den Begriff der Waffengleichheit
Jetzt zur Sorge für den inneren Frieden. Ich habe
gewandt. Haben Sie das zur Kenntnis genommen?
den Eindruck, daß die Koalition wirklich gut daran tut,
Dieser Begriff ist in der Tat unvergleichbar. Deshalb
ihr Konzept für den inneren Frieden in den nächsten
bitte ich Sie, das zu akzeptieren.
vier Jahren nicht nur zu überdenken, sondern alles
das, was da an Überlegungen kam — Bewahren durch
Dr. Herta Däubler Gmelin (SPD): Hervorragend. Ich
-
Erneuerung und Reform —, ernst zu nehmen. Warum?
bin für diese Klarstellung sehr dankbar. Es ist gut, Herr Einfach deswegen, weil die Anlässe für die Sorge um
Scholz, wenn Sie das so gemeint haben. Das haben wir den inneren Frieden in unserem Land auf der Hand
alle anders verstanden. liegen. Es sind doch nicht nur wir, die in den Zeitun-
(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Nein, nein, gen lesen, daß die Zahl rechtsextremistischer Gewalt-
nein!) taten eben nicht so abgenommen hat, wie wir es gerne
Aber ich bin froh, daß es dieses Mißverständnis nicht hätten. Es sagen nicht nur uns Behinderte, daß sich
mehr gibt. Eine Waffengleichheit zwischen Men- das Klima auf der Straße verändert habe, rauher
schen, die den inneren Frieden vertreten, und Krimi- geworden sei, daß ellbogenmäßig stärker gegen sie
nellen kann es nicht geben. Ich danke Ihnen. vorgegangen werde, daß man sie häufiger diskrimi-
niere und mißachte. Da war natürlich das Theater in
Es gibt noch einen zweiten Punkt, Herr Scholz, von der Verfassungskommission um die Nichtdiskriminie-
dem ich glaube, daß es sich lohnt, wenn wir uns rung von Behinderten nicht sehr hilfreich. Das hat
-
darüber unterhalten, vielleicht auch streiten. Das ist auch dazu beigetragen.
die Frage nach der Rolle des Staates zur Sicherung
des inneren Friedens. Ich stimme vielem, was Sie hier (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
vorgetragen haben, zu. Nur, Herr Scholz, müssen Sie des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
eines bedenken: Sie reden über den Staat. Sie haben Meine Damen und Herren, natürlich ist das Anstei-
unsere Unterstützung darin, daß wir Bürokratie und
gen der Kriminalität in bestimmten Bereichen eine
diese ständig zunehmende Regelungsdichte, die den Bedrohung des inneren Friedens, um die sich diese
Menschen das Leben schwerer macht, abbauen und
Koalition mit Sicherheit kümmern muß. Wenn ich mir
Zurückhaltung in der Gesetzgebung üben müssen.
das alles anschaue, dann kann ich schon verstehen,
Nur: Es wäre ganz gut, Sie würden damit anfangen. daß Sie sagen: Ihre bisherige Konzeption war wohl
Ich darf Sie daran erinnern: Sie regieren seit zwölf nicht erfolgreich. Ich stimme Ihnen da völlig zu. Die
Jahren. Die Gesetze, die Sie uns vorlegen, sind doch war es wirklich nicht. Deswegen ist der Ruf nach
immer vom gleichen Typus.
Erneuerung und Reform richtig.
(Beifall bei der SPD)
Da freut man sich dann an manchem, was bei Ihnen
Ich stimme Ihnen auch darin zu, daß wieder mehr anklingt. Als Sozialdemokratin lassen Sie mich sagen:
Raum für Entscheidungsfreiheit geschaffen werden Wir alle kennen das Wort, ein sehr überlegtes Wort
muß. Das ist alles richtig. Aber in einem Punkt müssen von Gustav Heinemann, dem ehemaligen Justizmini-
Sie das, was Sie gesagt haben, nochmals genau ster und Bundespräsidenten, der gesagt hat: In einer
überdenken. Der Staat, den wir wollen, ist nicht nur sich so schnell verändernden Welt kann nur bewah-
der Rechtsstaat, nicht allein der starke Rechtsstaat, ren, wer zu verändern bereit ist.
sondern ist der Staat des Grundgesetzes. Dies bedeu-
tet: der demokratische und soziale Rechtsstaat. (Beifall bei der SPD sowie beim BÜND
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) NIS 90/DIE GRÜNEN)
Das ist sehr wichtig, weil ich glaube, daß der Sorge Dafür sind wir auch wenn es um den inneren Frieden
um die innere Sicherheit bei all dem, was man hier an geht, gerade wenn es um die Erhaltung des Vertrauen
Unterschiedlichkeit zwischen Herrn Kanther, Frau der Bürger in den Rechtsstaat geht. Nur, meine Damen
Leutheusser-Schnarrenberger und Ihnen im einzel- und Herren, was kommt denn dann heraus, wenn man
nen heraushören konnte, alleine mit einer Rückbesin- Ihre Rede, wenn man Ihre Koalitionsvereinbarung
nung auf den Rechtsstaat, sprich bei Ihnen: Repres- und wenn man die Regierungserklärung auf das hin
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abklopft, was Sie sagen? Ich habe den Eindruck, daß dem zu tun, was diese Kinder an Gewalt erfahren
die alten Denkfehler und die nicht gezogenen Konse- haben, in welcher Vereinsamung, in welcher geisti-
quenzen doch immer wieder durchscheinen. Ich kann gen Verwahrlosung sie haben aufwachsen müssen.
Sie nur auffordern, diese Denkfehler zu beseitigen
und die Konsequenzen richtig zu ziehen. Ich will (Beifall bei der SPD)
Ihnen einiges dazu sagen. Das zu wissen heißt natürlich auch, daß man dieses
Denkfehler Nr. 1 ist folgender: Innerer Friede Phänomen nicht nur beschreiben kann, um dann zu
braucht sozialen Frieden. Das heißt: Wer inneren sagen: Die Eltern sind schuld, die Lehrer sind schuld.
Frieden will, muß sich mit der Politik, die er betreibt, Nein, Ihre Verantwortung als Regierung ist es, dann,
nicht nur um den Rechtsstaat, sondern zugleich auch wenn Sie diesen Werteverfall feststellen, mit Ihrer
um den sozialen Frieden kümmern. Politik nicht nur über diesen Werteverfall zu jammern,
sondern politisch die Strukturen zu schaffen, die z. B.
(Beifall bei der SPD) Kindern nicht nur mehr Chancen, sondern eben auch
Dies ist eine ganz einfache Grundwahrheit, die in den Geborgenheit, Förderung und Forderung, soziales
letzten Jahren leider Gottes nicht genügend berück- Lernen und Verantwortung ermöglichen.
sichtigt wurde. Dabei haben Sie im auswärtigen
(Beifall bei der SPD)
Bereich gar keine Schwierigkeiten, das zuzugeste-
hen. Friede ohne Gerechtigkeit ist nicht möglich. Das Da, lieber Herr Kanther, fehlt bei Ihnen eine ganze
wissen wir im Bereich des Auswärtigen alle. Aber so Menge. Ich weiß, daß vieles in der Kompetenz der
ist es auch im Innern. Inneren Frieden ohne Solidarität Länder liegt; darüber müssen Sie mit mir nicht strei-
und eine Politik der Solidarität, d. h. der Solidarität der ten.
Stärkeren mit den Schwächeren, eine Politik der
Verantwortlichkeit der Stärkeren für die Schwäche- Nehmen wir aber einmal den Bereich der Gewalt-
ren kann es nicht geben. bekämpfung. Sie machen es sich da zu einfach, wenn
Sie sagen: Ja, ich bin auch der Meinung, daß die
Heute morgen hat Herr Kinkel in bezug auf die privaten Medienanstalten zuviel Gewalt bringen!
südliche Halbkugel unserer Erde davon geredet, daß Richtig ist, die beuten alles, jedes menschliche Gefühl
es einen klaren Zusammenhang zwischen Chancen- aus und auch sonst alles, was die Einschaltquoten
losigkeit, Perspektivlosigkeit, Fanatismus, Extremis- erhöht, denn davon leben sie. Zensur, meine Damen
mus und Kriminalität gebe. Aber, meine Damen und und Herren, wird — abgesehen davon, daß keiner von
Herren von der Koalition, das gilt doch nicht nur auf uns dafür ist — viel zu spät greifen. Das heißt: Wenn
der südlichen Halbkugel. Das gilt auch bei uns im Sie nicht wollen, daß mit Gewaltdarstellungen die
Innern. Einschaltquoten erhöht werden, wenn Sie — mit
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten uns — nicht wollen, daß jedes 18jährige Kind in
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der seinem Leben schon etwa 20 000 Morde gesehen hat,
F.D.P.) dann müssen wir über die Strukturen nachdenken, die
Existenzbedingungen für Privatfernsehen mit dem,
Das heißt, der Grundsatz, daß derjenige, der den was an gesellschaftlichen, grundgesetzlichen Werten
inneren Frieden will, mit seiner Gesellschaftspolitik in unserer Gesellschaft umgesetzt werden muß, ver-
für den sozialen Frieden sorgen muß, ist richtig. Diese binden.
Erkenntnis zieht aber eine ganze Reihe von Folgerun- (Beifall bei der SPD)
gen nach sich. Gestern haben der Rat der Evangeli-
schen Kirche in Deutschland und die deutsche Klagen über „Libertinage" reichen nicht mehr.
Bischofskonferenz in ihrem gemeinsamen Wort dar- Auch ein Zitat von Herrn Bischof Lehmann, so sym-
auf aufmerksam gemacht, was in bezug auf den pathisch es auch ist, reicht nicht. Sie werden in den
sozialen Frieden in unserem Land falsch ist. Und wie nächsten vier Jahren von uns und von den Bürgerin-
ist Ihre Reaktion? Sie sagen freundlich ja in der nen und Bürgern dieses Landes herausgefordert,
Hoffnung, es werde dann niemand darüber reden, daß Politik für die innere Sicherheit, aktive Gesellschafts-
es Ihre Politik war, die Spaltung vertieft, Risse vergrö- politik zu betreiben.
ßert, sozialen Unfrieden zuläßt und verstärkt. Lassen Sie mich noch etwas sagen: Wir haben
(Beifall bei der SPD) immer bestritten, daß unsere Gesellschaft, unser Staat
eine Schönwetterdemokratie sei. Wir alle haben
Meine Damen und Herren, Sie sind hier mit neuer
davon geredet, daß sich unsere soziale, rechtsstaatli-
Politik gefordert, gerade auch den inneren Frieden zu
che Demokratie auch in stürmischen Zeiten bewähren
bewahren.
muß und kann. Ich halte das für richtig. Nur, meine
Der zweite Punkt betrifft etwas, was Herr Kanther Damen und Herren, in Zeiten schweren Wetters, wenn
angesprochen hat. Herr Kanther, ich finde es schön, es ökonomisch nicht gut läuft, ist Politik für den
daß Sie wieder hier sind. inneren Frieden und soziale Gerechtigkeit noch mehr
gefordert. Das heißt: Es muß eine Politik her, die
(Bundesminister Manfred Kanther [CDU/
Solidarität fördert, sie nicht verhindert. Es muß eine
CSU]: Ich bin ganz hingerissen!)
Politik her, die die Verantwortlichkeit von Stärkeren
—Ja, das ist hervorragend. Es reicht nicht aus, daß Sie gegenüber Schwächeren fördert, sie nicht verhindert.
mit uns die Auswirkungen des Werteverfalls bekla- Es muß eine Politik her, die die Integration von
gen. Gewaltanwendung durch immer jüngere Täter Minderheiten fördert, nicht sie weiter an den Rand
entspringt nicht dem „Bösen im Menschen" oder dem schiebt. — Ich war ganz gerührt, als ich Frau Leut-
Bösen in diesen Kindern, sondern hat viel auch mit heusser-Schnarrenberger zugehört habe, die auch
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noch diese „Schnupperzugehörigkeit" für ausländi- Dann muß natürlich mehr Substitutionstherapie
sche Kinder hat vertreten müssen. Sie Arme, Sie tun her. Und wenn uns die Mediziner sagen, daß Süchtige
mir wirklich furchtbar leid. im Endstadium von Aids oder HIV-Infektionen
geschützt werden müssen, dann brauchen wir auch
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten die kontrollierte Abgabe, um diesen Menschen zu
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der helfen.
PDS)
Der dritte Punkt — Herr Scholz, jetzt wird es speziell
Meine Damen und Herren, eine Politik, die in
für uns Innen- und Rechtspolitiker interessant —: Ich
Kenntnis der Probleme — fragen Sie doch einmal Ihre
glaube schon, daß wir uns dazu durchringen müssen,
Ausländerbeauftragte — die Probleme nicht einmal
ganz klar zu sagen: Was den Besitz von Drogen zum
mehr ordentlich beschreibt, geschweige denn die
Eigenverbrauch angeht, gehen wir vom Legalitäts-
längst vorhandenen und bekannten Wege zu ihrer
prinzip auf das Opportunitätsprinzip über, und wir
Lösung aufzeigt, kann für den inneren Frieden so
stecken alle Ressourcen in die Verfolgung der Mafia
wenig bewirken, wie das in den vergangenen Jahren
bosse und der Dealer.
der Fall war.
Lassen Sie mich noch etwas zur Politik gegen (Beifall bei der SPD)
Drogen sagen. Herr Scholz, ich muß noch etwas Wenn wir dies nicht tun, haben wir keine Chance.
ergänzen, weil Sie das angesprochen haben. Zum Ich werbe deswegen für dieses gesamte Antidrogen-
ersten: Richtig, Ihre Drogenpolitik ist gescheitert. konzept. Ich hoffe, daß Sie sich dazu durchringen
Unsere Kinder werden nicht mehr geschützt. Jeder, können. Wir werden immer wieder darauf zurück-
der etwas anderes behauptet, hat unrecht; das wissen kommen.
auch Sie. Zum zweiten: Den Süchtigen wird nicht
geholfen. Ich finde sehr gut, was Sie gesagt haben. Es Jetzt lassen Sie mich noch einmal zur Integration
sind in der Tat Kranke. Zum dritten: Wir haben eine von „ausländischen Mitbürgern", wie es immer so
große Begleit- und Beschaffungskriminalität, die Poli- schön heißt, kommen. Im nächsten Jahr jährt sich zum
zeitätigkeit und Gerichte verstopft und vieles von 40. Mal das Datum des ersten Anwerbevertrages der
dem, was bei der Bekämpfung schwerer Verbrechen Bundesrepublik Deutschland. Seit dieser Zeit sind die
notwendig wäre, nicht mehr zuläßt. Ganz abgesehen Menschen hier. Seit dieser Zeit befolgen sie unsere
davon verdienen natürlich die Mafiabosse und viele Gesetze. — Die ausländische Wohnbevölkerung ist
andere ihr Geld auch auf Grund dieser verfehlten nicht krimineller als die deutsche; das wissen alle. —
Politik gegen Drogen. Ich glaube, dies muß man der (Beifall bei der SPD)
Ehrlichkeit halber sagen.
Seit dieser Zeit arbeiten sie für unseren Wohlstand,
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zahlen Steuern wie die Deutschen, sogar den Solida-
der PDS) ritätsbeitrag für die deutsche Einheit. Aber seit dieser
Was ist denn die Folgerung daraus? Herr Scholz, ich - Zeit haben sie keine aktiven Staatsbürgerschafts
stimme Ihnen zu: Es ist völlig unsinnig, daß sich die rechte. Das muß geändert werden.
Justizminister, obwohl sie es heute müssen, darüber Sie können das begründen, wie Sie es wollen. Ich
streiten, ob jetzt eine, zwei oder drei Portionen des
begründe das aus dem Demokratiegebot: Eine
Eigenbesitzes von Cannabis zur Anklage führen sol-
anständige Demokratie kann sich auf Dauer Men-
len. Erforderlich ist vielmehr eine Gesamtstrategie, schen erster und zweiter Klasse nicht leisten. Sonst ist
die den gesellschaftspolitischen Teil ebenso wie den
sie nicht mehr anständig.
Teil der Repression — ich bin sehr dafür — wie auch
den Teil der Prävention mit einbezieht. Was heißt (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei
das? Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
Erstens. Sie müssen sich dazu durchringen, generell GRÜNEN und des Abg. Jürgen Koppelin
[F.D.P.])
eine Politik gegen die Suchtabhängigkeit zu wollen,
meine Damen und Herren von der Koalition. Deswegen bin ich der Meinung, daß es Integrations-
(Beifall bei der SPD) gesichtspunkte, Gleichberechtigungsgesichtspunkte
sind, die uns dazu veranlassen müssen, unser Staats-
Da stockt vielen von Ihnen schon der Atem. Sie waren angehörigkeitsrecht wieder auf die Höhe der europäi-
doch noch nicht einmal in der Lage, mit uns am Ende schen Zivilisationen zu bringen. Otto Schily hat dazu
der letzten Legislaturperiode ein Gesetz durchzuset- etwas ausgeführt.
zen, das für Gaststätten und öffentliche Treffs vorge-
sehen hätte, daß das billigste Getränk ein alkohol- Meine Damen und Herren von der Union, ich weiß
freies sein muß. ja, daß Sie das nicht wollen. Aber wenn Sie so
freundlich wären, einfach einmal nach Frankreich
(Beifall bei der SPD) oder in die Schweiz zu gucken: Diese beiden Länder
Wenn es um Alkohol- oder um Zigarettenwerbung leben mit der Hinnahme der Doppelstaatsangehörig-
geht, dann hören Sie doch schon auf zu denken. keit, sie leben mit der Ergänzung des Abstammungs-
prinzips durch das Territorialprinzip seit langen Jah-
Der zweite Punkt: Wir müssen uns dazu durchrin- ren. Nicht einmal Sie würden der Schweiz oder
gen, Süchtige als Kranke zu behandeln und ihnen eine rankreich den Charakter eines zivilisierten europäi-
Abstinenztherapie zu ermöglichen. Das gilt bei Dro- schen Rechtsstaats absprechen. Oder ist es nicht so?
gensüchtigen genauso wie bei Alkoholkranken; da
gibt es keinen Unterschied. (Beifall bei der SPD)
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Das sind die Punkte, auf denen wir bestehen. Ich Herzlichen Dank.
sage Ihnen: Sie werden sich dazu durchringen müs- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
sen, oder Sie entlarven alles das, was Sie zur Demo- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
kratie, zur Gleichberechtigung oder zur Integration PDS)
sagen, als das, was es ist, nämlich Heuchelei.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat der
Abgeordnete Repnik.
Ich sage das ganz abgesehen davon, daß wir hun-
derttausendfach Doppelstaatler in unserem Land
haben; das wissen Sie. Wer heute eine Französin oder Hans Peter Repnik (CDU/CSU): Herr Präsident!
-

einen Italiener heiratet, der wird selbstverständlich Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach
Doppelstaatler, wie auch seine Kinder. Das stört diesem innen- und rechtspolitischen Schlagabtausch
überhaupt niemanden. möchte ich Sie noch einmal einladen zu einem Diskurs
zu wirtschafts- und finanzpolitischen Fragen.
Bei der Bekämpfung von Kriminalität hätte ich die
Bitte, Herr Kanther und Frau Leutheusser-Schnarren- (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
berger, daß Sie viel stärker als bisher auf Prävention DIE GRÜNEN]: Heilix Blechle!)
setzen. Ich glaube, da gibt es eine Menge guter — Für die Regie trage ich keine Verantwortung, Herr
Beispiele. Erst dann, wenn Prävention die Repression Kollege Fischer.
ergänzt, wird ein wirklicher Schuh daraus. Dann In der vergangenen Woche ist, wie wir alle wissen,
haben wir eine Chance, mit Kriminalität fertigzuwer- Helmut Kohl zum fünften Mal zum Bundeskanzler
den. gewählt worden.
Ich bin dankbar, daß Sie sagen, daß würden künftig (Beifall bei der CDU/CSU — Joseph Fischer
mehr Gewicht im internationalen Bereich auf Koope- [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
ration über die Grenzen legen. Halleluja, halleluja! Der Herr ist groß in
seiner Gnade!)
Ich darf jedoch noch einmal sagen — Sie sind seit
Das ist gut so. Es kann nicht oft genug gesagt werden,
zwölf Jahren an der Regierung —: Die Tatsache, daß
gerade auch nach dem Beitrag von Herrn Kollegen
Europol nicht weiter funktioniert, ist nicht unsere
Scharping heute vormittag: Die vergangenen zwölf
Schuld, sondern mit Ihre.
Jahre unter der Regierung Kohl waren zwölf gute
(Beifall bei der SPD) Jahre für Deutschland,
(Beifall bei der CDU/CSU — Joseph Fischer
Die Tatsache, daß heute ein Justizangestellter, ein [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Richter oder ein Polizist in Baden, wenn er mit seinen Aber Herr Repnik, für einen Ministranten
Kollegen im Elsaß nicht nur gelegentlich zusammen- sind Sie viel zu alt! Lassen Sie das Weih
arbeiten, sondern gemeinsam Verbrechensbekämp- - rauchfaß doch weg!)
fung betreiben will — ich meine jetzt nicht das
Problem der Nacheile —, einen irrsinnig langen Weg nicht zuletzt im Bereich der Finanz- und der Wirt-
der Bürokratie über Stuttgart, über Bonn, über Paris schaftspolitik.
und wieder zurück nach Straßburg gehen muß, behin- Meine sehr verehrten Damen und Herren von der
dert die Verbrechensbekämpfung über die Grenzen Opposition, auch wenn es weh tut: Ich will Ihnen die
hinweg. Wahrheit nicht ersparen. Die unter SPD-Kanzlerschaft
zerrütteten Staatsfinanzen wurden konsolidiert.
Daß wir z. B. im Waffenrecht oder daß wir bei den
Grundsätzen der Bioethikkonvention endlich Über- (Lachen und Widerspruch bei der SPD —
einstimmung und eine Anpassung der Grundsätze Rudolf Bindig [SPD]: Zwei Billionen Schul
brauchen, das ist eine schlichte Konsequenz aus der den!)
Internationalisierung, aus der internationalen Ver- Das bildete erst die Grundlage für den längsten
flechtung, die nicht nur die Wirtschaft, die Umwelt Aufschwung in der Geschichte der Bundesrepublik
oder die Friedenspolitik, sondern selbstverständlich Deutschland. —
auch die Bekämpfung des Verbrechens und damit die (Beifall bei der CDU/CSU)
Sicherung des inneren Friedens umfassen muß.
Herr Kollege Bindig, das kann doch überhaupt nicht
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch bestritten werden. Vielleicht darf ich hier zwei Zahlen
einmal sagen: Wir halten Ihr bisheriges Konzept zur nennen:
Sicherung des inneren Friedens für falsch. Sie selber (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
haben das auch dadurch, daß Sie ankündigt haben, DIE GRÜNEN]: Ein echter Historiker!)
Sie müßten Änderungen vornehmen, eingestanden. Das Finanzierungsdefizit der öffentlichen Hand belief
Wir werden darauf drängen, daß die Bewahrung des sich 1981 auf 76 Milliarden DM und machte damit
inneren Friedens durch die Veränderung der Wege 4,9 % des Bruttosozialproduktes aus.
sowohl im Bereich der Gesellschaftspolitik als auch im
Bereich der kriminalpolitischen Prävention wie auch (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
bei der Repression gewährleistet wird. Ich glaube, wir DIE GRÜNEN]: Und 1991?)
können dadurch unserem Land, den Bürgerinnen und Acht Jahre später, 1989, unter der Kanzlerschaft
Bürgern und ihrem Vertrauen in den Rechtsstaat Helmut Kohls, betrug das Finanzierungsdefizit der
einen guten Dienst erweisen. öffentlichen Hand 26,7 Milliarden DM, ein Anteil von
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Hans-Peter Repnik
lediglich noch 1,2 % am Bruttosozialprodukt. Dies, giert werden, so fallen sie jetzt besser aus als progno-
meine Damen und Herren, hat uns doch erst in die stiziert.
Lage versetzt, die großen Herausforderungen, die
durch die Wiedervereinigung und die weltweite (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
Rezession an uns gestellt wurden, zu meistern. DIE GRÜNEN]: Jetzt kommt das Christ
kind!)
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: So ein Käse!
—Abg. Jörg Tauss [SPD] meldet sich zu einer Diese Mehreinnahmen fließen — der Bundesfinanz-
Zwischenfrage) minister hat es heute bereits gesagt — voll in die
Senkung der Nettokreditaufnahme. Damit wird das
Vertrauen der internationalen Finanzmärkte und
Investoren in den Standort Deutschland erhöht.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege, Meine Damen und Herren, die steuerlichen Rah-
gestatten Sie eine Zwischenfrage? menbedingungen für Investitionen wurden in
Deutschland mit dem Standortsicherungsgesetz ent-
scheidend verbessert. Unsere fortgesetzte Politik der
Deregulierung und Privatisierung hat weitere Frei-
Hans-Peter Repnik (CDU/CSU): Ich würde gern räume für mehr wirtschaftliche Dynamik geschaffen.
hier im Zusammenhang vortragen, Herr Präsident. Der Aufschwung ist inzwischen doch für jedermann
Als Helmut Kohl am 1. Oktober 1982 Bundeskanzler sichtbar.
wurde, lag die Staatsquote bei 52 %. Seiner Regierung
(Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf der Abg.
ist es im Laufe der 80er Jahre gelungen, diese Zahl auf
Ingrid Matthäus-Maier [SPD])
rund 46 % zu senken.
— Verehrte Frau Kollegin Matthäus-Maier, Sie wissen
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
es doch besser, als es Ihr Zwischenruf belegt. — Wer es
DIE GRÜNEN]: Jubelt!)
immer noch nicht glaubt, werfe einen Blick in das in
Entscheidend in diesem Zusammenhang ist: Im Zuge der vergangenen Woche vorgelegte Jahresgutachten
dieses Aufschwungs ist es gelungen, innerhalb von des Sachverständigenrats zur gesamtwirtschaftlichen
zehn Jahren gut drei Millionen neue, zusätzliche Entwicklung. Dort heißt es — ich will nur wenige
Arbeitsplätze in Deutschland zu schaffen. Passagen zitieren — u. a. gleich zu Beginn:
(Beifall bei der CDU/CSU — Joseph Fischer Die wirtschaftliche Aktivität in Deutschl and hat
[Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: sich im Jahre 1994 in unerwartet starkem Maße
Das haben wir heute schon zigmal gehört! — belebt.
Gegenruf von der CDU/CSU: Das kann man
gar nicht oft genug hören!) „Unerwartet" möglicherweise für Sie. Ich kann nur
sagen: Der Bundeskanzler hat zu Beginn des Jahres
Meine Damen und Herren, weltweite Rezession und - exakt das prognostiziert.
deutsche Wiedervereinigung stellten die deutsche
Politik und die Gesellschaft als Ganzes dann jedoch in (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
der vergangenen Legislaturperiode vor große Heraus- DIE GRÜNEN]: L ang lebe der Bundes
forderungen. Wir sind sie beherzt angegangen, und kanzler!)
die gegen viel Kritik und Widerstand von seiten der — Ja, wir haben nun einmal einen guten Bundes-
SPD durchgesetzte Wirtschafts- und Finanzpolitik kanzler, und darum muß er auch gelobt werden, Herr
dieser Bundesregierung war und ist erfolgreich. Der
Kollege Fischer. —
konsequente Spar und Konsolidierungskurs schafft
-

Vertrauen auf seiten der Investoren und trägt (Beifall bei der CDU/CSU — Joseph Fischer
Früchte. [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ hat zuviel Weihrauch inhaliert!)
DIE GRÜNEN]: Aha!) Ursache dafür sind nach Ansicht der Sachverstän-
Nach der heute, Herr Kollege Fischer, vorgestellten digen — und auch hier lohnt sich ein Blick in das
Steuerschätzung ist der Haushalt 1994 voll abgesi- Gutachten, verehrte Kollegen von der SPD — eine
chert, und für 1995 werden etwa 3,5 Milliarden DM Expansion der Auslandsnachfrage und eine Exp an
Mehreinnahmen geschätzt. -sionderB nachfrge.

(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn die SPD
DIE GRÜNEN]: Es weihnachtet!) ständig, wie immer wieder geschehen, nach einer
Stärkung der Konsumnachfrage verlangt, dann sei ihr
Das ganze Horrorszenarium, das noch kurz vor den das Sachverständigengutachten auch in diesem Punkt
Wahlen im September in der ersten Lesung des zur Lektüre empfohlen. Auf Seite 3 belegt das Gut-
Bundeshaushalts entwickelt wurde, ist in sich zusam- achten, daß unsere angebotsorientierte Politik greift.
mengebrochen, sechs Wochen nach den entsprechen- Die Expansion der Binnennachfrage beruht demnach
den Wortbeiträgen der SPD. vor allem auf der Wohnungsbaunachfrage und zuneh-
(Beifall bei der CDU/CSU) mend auf den Investitionsausgaben der Unterneh-
men. Statt einer Alimentierung von Konsumenten
Auch hier, meine sehr verehrten Damen und Herren, schaffen wir damit neue Arbeitsplätze.
ist doch die Trendwende deutlich spürbar. Mußten
früher die Steuerschätzungen meist nach unten korri (Beifall bei der CDU/CSU)
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Hans-Peter Repnik
Meine Damen und Herren, die Gesamtrechnung es jetzt verspüren, erstirbt dieser Reformwille. Genau
der Sachverständigen für Deutschland prognostiziert diesen Fehler dürfen wir in der Politik, darf die
ein Wachstum des Bruttoinlandsproduktes von 3,5 % Wirtschaft und darf jeder einzelne Bürger in der
im Jahr 1995. Auch hier sind wir auf dem richtigen derzeitigen Aufschwungphase nicht machen.
Weg. Das Gutachten führt darüber hinaus aus: Wir sollten die Reformbereitschaft dort, wo sie beim
Entscheidend ist, daß die Entwicklung stetig nach Bürger vorhanden ist, nutzen. Wir müssen sie nur
oben führt. abholen. Ich bin sicher, das wird uns gelingen.
Auch hier pflichte ich den Gutachtern bei. Unsere (Beifall bei der CDU/CSU — Joseph Fischer
Wirtschaftspo li tik ist kein Jahrmarkt von Novitäten. [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Sie ist solide und führt belegbar zum Ziel. Dank Helmut Kohl!)
Meine Damen und Herren, so klar, wie die Erfolge Infolge des Aufbaus Ost sowie der weltweiten
der vergangenen Jahre sichtbar sind, so eindeutig Rezession ist die Staatsquote auf ein auf Dauer nicht
sind aber auch die Herausforderungen dieser Legisla- vertretbares Maß angestiegen. Deshalb ist es zwin-
turperiode. Ein wesentliches Ziel lautet: Abbau der gend erforderlich, den Staatsanteil auf das Niveau von
Sockelarbeitslosigkeit. Wir alle wissen: Es gibt hier 1989 zu senken. Auch hier sage ich, meine verehrten
kein Patentrezept; es gibt hier nicht den Königs- Kolleginnen und Kollegen von der Opposition: Was
weg. uns in den 80er Jahren gelungen ist, wird uns auch in
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ der Mitte der 90er Jahre gelingen. Wir sind entschlos-
DIE GRÜNEN]: Aber es gibt Helmut Kohl! sen, auch das umzusetzen.
Seien Sie doch nicht so ohne Vertrauen! Es (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
gibt Helmut Kohl, das ist der Königsweg!) ordneten der F.D.P.)
— Herr Kollege Fischer, nehmen Sie doch bitte zur
Kenntnis, daß in den ersten zehn Jahren der Kanzler- Die Koalition wird den Anstieg der Staatsausgaben
schaft Helmut Kohls in Deutschland 3 Millionen deutlich unter der Zuwachsrate des Sozialproduktes
Arbeitsplätze netto neu geschaffen wurden. Dies ist halten, die Defizite zurückführen sowie die Steuer-
seine Bilanz. Genau an diese Erfolge der ersten zehn und Abgabenbelastung schrittweise senken.
Jahre Kohl wollen wir auch in Zukunft anknüpfen. Wir Die CDU/CSU-Fraktion wird dafür Sorge tragen,
haben es bewiesen, und wir werden es ein weiteres daß der von Theo Waigel eingeschlagene Weg der
Mal beweisen. — Haushaltskonsolidierung konsequent fortgesetzt
(Beifall bei der CDU/CSU — Joseph Fischer wird. Auch die Tatsache, daß der Aufschwung voll im
[Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gange ist, darf keineswegs zu der irrigen Annahme
Seien Sie doch nicht so kleinmütig!) führen, es sei nunmehr wieder an der Zeit, die
Spendierhosen anzuziehen.
Meine Damen und Herren, der Abbau wird nur durch
ein ganzes Bündel von Einzelmaßnahmen gelingen, - (Beifall bei der CDU/CSU)
wie es die CDU/CSU in der vergangenen Legislatur- Wir begleiten den Finanzminister und bestärken ihn
periode bereits auf den Weg gebracht hat. Es zeigt auf seinem Weg der Solidität und der Konsolidie-
Wirkung; das kann doch gar nicht bestritten wer- rung.
den.
Bei unserem Aktionsprogramm für mehr Wachstum (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
ordneten der F.D.P. — Joseph Fischer
und Beschäftigung haben wir die Mittelstandsförde-
[Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
rung in das Zentrum gestellt. Unter anderem wird das
Eigenkapitalhilfeprogramm zur Förderung selbstän- Das klingt aber wie eine Drohung!)
diger Existenzen auch in den alten Bundesländern Wesentlich, meine sehr verehrten Damen und Her-
wieder eingeführt. Gerade mittelständische Unter- ren von der SPD, ist, daß man von dem verhängnis-
nehmen, die Märkte für neue Produkte erobern wol- vollen Gedanken abkommt, mit Steuern alle Politik-
len, leiden oft unter besorgniserregender Eigenkapi- bereiche steuern zu wollen. Das Haushaltsmorato-
talknappheit. Diese Unternehmen sind, wie wir wis- rium muß und wird bis auf weiteres Bestand haben.
sen, am ehesten geeignet, neue Arbeitsplätze zu
schaffen. Deshalb wird ab 1. Januar 1995 die eigen- (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Das ist
kapitalschonende Ansparförderung im Rahmen des auch gut so!)
Standortsicherungsgesetzes wirksam. Das ist ein wei- Vorrang in der kommenden Legislaturperiode
terer wichtiger Schritt, andere werden ihm folgen. haben steuerpolitische Aufgaben. Vereinfachung des
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Steuerrechts: Auch hierzu hat der Finanzminister
DIE GRÜNEN]: Jetzt hat der schon zehn heute vormittag schon entsprechende Ausführungen
Minuten Helmut Kohl nicht mehr gelobt! Das gemacht. Sein Katalog ist in die Koalitionsverein-
ist verdächtig!) barung eingeflossen. Neue Vorschläge treten hinzu.
Wir werden diese Vorschläge gemeinsam umsetzen,
Ich möchte auf eine Gefahr aufmerksam machen, und wir laden die SPD ein, sich ihrer Verantwortung
die bereits schleichend vorhanden ist. Solange die im Bundesrat zu stellen und nicht in Obstruktion zu
Situation schwierig ist, sind Reformvorhaben in aller verfallen, sondern gemeinsam mit uns an dieses große
Regel für jedermann einsichtig, die Bereitschaft zur Reformwerk heranzugehen.
Umsetzung von Reformen ist da. Sobald sich aber der
Wind dreht und die Konjunktur wieder läuft, wie wir (Beifall bei der CDU/CSU)
146 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Hans-Peter Repnik
Sie können Ihre Bereitschaft dazu relativ schnell keine. Deshalb ist es wichtig, daß wir Chancengleich-
beweisen. Die Neuregelung des steuerlichen Exi- heit einräumen. Deshalb ist es wichtig, daß wir die
stenzminimums ist dringend geboten. Wir haben nicht Gewerbesteuer auch hier absenken oder abschaffen.
viel Zeit. Sie muß bis Ende 1995 im Bundesgesetzblatt Das ist die große Herausforderung, vor der wir uns im
stehen. Da Verwaltung, Steuerberatung und nicht Sinne des Mittelstandes gestellt sehen.
zuletzt Steuerzahler Zeit haben müssen, um sich auf Meine Damen und Herren, das Bemühen um die
die Änderungen vorzubereiten, sollten wir anstreben, Begrenzung der Kosten der Arbeit muß fortgesetzt
das Gesetzgebungsverfahren bis zur Sommerpause werden. Hier ist in erster Linie nicht der Staat gefragt.
abzuschließen. Auch hier möchte ich die SPD einla- Die Tarifparteien haben in den letzten Jahren eine
den, im Bundesrat konstruktiv mitzuarbeiten. Denken äußerst vernünftige Lohn- und Gehaltspolitik betrie-
wir an die davon Betroffenen. Wenn Sie beweisen ben. Wir möchten sie ermuntern, in dieser verantwor-
wollen, wie ernst es Ihnen mit der sozialen Ausgestal- tungsbewußten Politik fortzufahren.
tung unseres Steuersystems ist, dann bringen Sie sich
in das große Reformwerk mit ein. Eines muß uns klar sein: Für einen stetigen realen
Einkommenszuwachs ist auch in den kommenden
Eine zweite große Herausforderung ist die Fortset- Jahren kein Spielraum vorhanden. Ich finde, wir
zung der Reform der Unternehmensbesteuerung, sollten mit den Bürgern, mit den Arbeitnehmern auch
einhergehend mit der Gemeindefinanzreform, in der in dieser Frage ehrlich umgehen und ihnen nichts
die Gewerbesteuer — mit dem Ziel der Abschaf- vormachen.
fung — gesenkt werden soll. In einer ersten Stufe soll
zum 1. Januar 1996 die Gewerbekapitalsteuer abge- Meine Damen und Herren, die CDU/CSU-geführte
schafft und die Gewerbeertragsteuer mittelstands- Bundesregierung hat von Beginn an eine konse-
freundlich gesenkt werden. Der Fraktionsvorsitzende quente Privatisierungspolitik be trieben. Seit Ende
Wolfgang Schäuble hat hierzu beachtenswerte Vor- 1982 konnte die Anzahl der Kapitalbeteiligungen des
schläge in die Diskussion eingebracht. Bundes und seiner Sondervermögen von 958 auf
gegenwärtig unter 400 reduziert werden. Mit der Post-
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich und Bahnreform sowie mit den Fortschritten bei der
möchte eine Anmerkung zu dem machen, was Mini- Privatisierung der Lufthansa sind weitere wichtige
sterpräsident Lafontaine zu diesem Thema heute Privatisierungsziele erreicht worden. Der Aktien-
nachmittag gesagt hat. Mit gespieltem Populismus hat marktzugang der Telekom im Jahre 1996 wird ein
er versucht, einen Gegensatz zwischen den Lohn- weiterer Meilenstein unserer Privatisierungspolitik
nebenkosten und der Abschaffung der Gewerbe- sein.
steuer zu begründen. Diesen Gegensatz vermag ich
beim allerbesten Willen nicht zu erkennen. Bei der Privatisierung öffentlicher Unternehmen
und Aufgaben ist aber nicht nur der Bund gefordert.
(Beifall des Abg. Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/ Vor allem Länder, vor allem die Gemeinden verfügen
CSU]) über ein enormes Privatisierungspotential. Auch hier
Beides ist sinnvoll, und beides ist notwendig. Beides regen wir an, daß sie Beispiel nehmen an dem, was der
müssen wir anpacken. Wenn nach seinen Angaben Bund in den vergangenen Jahren gemacht hat.
auch vielleicht nur ein Drittel der Unternehmen (Beifall bei der CDU/CSU)
Gewerbesteuer zahlt, so sind gerade dies Betriebe,
denen wir Chancengleichheit einräumen müssen. Um die Privatisierung auch auf der Ebene der
Länder und der Gemeinden voranzubringen, wollen
(Zuruf des Abg. Rudolf Scharping [SPD]) wir durch das Haushaltsgrundsätzegesetz die in der
— Verehrter Herr Kollege Scharping, als ein Mann, Bundeshaushaltsordnung bereits normierte Pflicht zur
der über Jahre Verantwortung in einem Land getra- verstärkten Privatisierung verankert sehen. Wir wis-
gen hat, das ein Grenzland zu Frankreich ist, müßten sen, daß die SPD-Mehrheit im Bundesrat dieser wie
Sie ebensogut wie Ihr Kollege Lafontaine um die auch anderen notwendigen Regelungen ihre Zustim-
Schwierigkeiten gerade im Grenzbereich wissen. Ich mung verweigert hat.
spreche jetzt von diesem einen Drittel, das in aller (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Regel zur Gewerbesteuer herangezogen wird. Herr
Lafontaine hätte es doch eigentlich besser wissen Ich würde Sie bitten, Ihre Haltung noch einmal zu
müssen. überdenken. Denn auch hier wurde einmal mehr
deutlich: In alter Gewohnheit wird dort, wo Verant-
Um es einmal mit der Erfahrung aus meinem wortung getragen wird, von der SPD eine Lösung
eigenen Bundesland Baden-Württemberg aufzuzei- verhindert. Man kippt dann anschließend der Bundes-
gen. Der mittelständische Unternehmer — export- regierung die Probleme, die sich aus der Verhinde-
orientiert, Gewinn machend — in Offenburg verliert in rung ergeben, vor die Tür. Dieses Spiel werden wir
aller Regel gegenüber dem französischen Kollegen nicht mitmachen. Wir nehmen Sie auch hier in die
die Auseinandersetzung in Straßburg, weil der eben Verantwortung.
gerade keine Gewerbesteuer bezahlt. Und wenn ich
meinen eigenen Wahlkreis sehe: Der mittelständische (Beifall bei der CDU/CSU)
Unternehmer in Konstanz, der mit der Gewerbesteuer Meine sehr verehrten Damen und Herren, die
belastet wird, verliert in der Konkurrenz mit dem Belastung der Wirtschaft durch ausufernde Recht-
Unternehmen in Winterthur in der Schweiz — Herr sprechung und Bestimmungen muß zurückgeführt
Kollege Bindig, Sie können das doch nachvollzie- werden; insbesondere müssen bürokratische Hinder-
hen —, weil der Konstanzer Unternehmer Gewerbe- nisse für Investitionen und Innovationen abgebaut
steuer bezahlt, der Winterthurer Unternehmer eben werden.
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 147

Hans-Peter Repnik
Ich glaube, dieser kurze Abriß hat gezeigt: Wir Einzelhändler in den neuen Bundesländern. Ihnen
werden den Herausforderungen dieser neuen Legis- war durch den Einigungsvertrag ein Abwehrrecht
laturperiode nur dann begegnen können, wenn Haus- gegen Kündigungen von Mietverträgen bei Gewer-
halts-, Finanz- und Wirtschaftspolitik aufeinander beräumen an die Hand gegeben.
abgestimmt sind. Alles, was wir in der Finanz- und Kündigungen konnte widersprochen werden, wenn
Steuerpolitik und in der Wirtschaftspolitik in den sie erhebliche Gefährdungen der wirtschaftlichen
kommenden Monaten und Jahren entscheiden, muß Lebensgrundlage zur Folge hatten. Der Vermieter war
sich weiterhin an der zentralen Aufgabe orientieren, sinnvollerweise bei Kündigungen im Zusammenhang
den Wirtschaftsstandort Deutschland konkurrenzfä- mit Mieterhöhungen an die ortsübliche Miete bei
hig zu halten. Die strikte Fortsetzung der Konsolidie- vergleichbaren Gewerberäumen gebunden.
rungspolitik ist zwingende Voraussetzung für die
Schaffung notwendiger Spielräume für Steuersen- Die Situation der Einzelhändler und der Gewerbe-
kungen. treibenden hat sich bis heute nicht grundlegend
gemildert. Eine allgemeine Kapitalschwäche kenn-
Verehrte Frau Kollegin Däubler-Gmelin, ich stimme
zeichnet die Situation, wobei das Verhältnis zwischen
den Ausführungen, die Sie ganz zum Schluß gemacht
Umsatz und Kosten bei den Gewerbemieten wesent-
haben, zu. Innerer Friede braucht sozialen Frieden.
lich ungünstiger als im Westen ist.
Innerer Friede ist nur dann möglich, wenn wir auch
sozialen Frieden haben. Aber deshalb ist doch gerade Die Politik der Bundesregierung, die durch den
wichtig, wenn wir — — sogenannten Solidaritätszuschlag abermals die Kauf-
kraft der Bevölkerung und damit die Umsätze der
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege, Mittelständler mindert, wird diese Situation erneut
Sie müssen zum Schluß kommen. Ihre Redezeit ist verschärfen.
abgelaufen. (Beifall bei der SPD — Dr. Kurt Faltlhauser
[CDU/CSU]: Aber ihr habt doch zuge
Hans Peter Repnik (CDU/CSU): Noch eine halbe
-
stimmt!)
Minute, Herr Präsident, wenn es gestattet ist. Nur
noch zwei Sätze. Gleichzeitig jedoch läuft dieses Abwehrrecht gegen
existenzgefährdende Kündigungen am 31. Dezember
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ dieses Jahres aus, und die Bundesregierung sieht
DIE GRÜNEN]: Helmut Kohl danken!) tatenlos zu.
Nur wenn wir im Wettbewerb um produktive
Hier werden Tausende von Änderungskündigun-
Arbeitsplätze international auch in Zukunft mithalten,
gen ins Haus stehen und gerade in den City-Lagen der
lassen sich auch soziale Leistungen, lassen sich Fami-
ostdeutschen Städte zu Konkursen bei Einzelhändlern
lienpolitik, Ausbildung und Infrastruktur überhaupt
und Gewerbetreibenden führen. Hier zu handeln
finanzieren. Nur ein wirtschaftlich starker Staat ist
wäre Aufgabe der Bundesregierung gewesen. Zu
auch ein sozial starker Staat. Hierzu, an diesem sozial
- diesem existentiellen Problem haben Sie jedoch
und wirtschaftlich starken Staat mitzuwirken, möchte
heute, wie in den letzten vier Wochen, geschwiegen,
ich auch die Opposition herzlich einladen.
meine Herren.
(Beifall bei der CDU/CSU)
(Beifall bei der SPD)
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat der Zweitens. Wie soll es in dieser Legislaturperiode bei
Abgeordnete Rolf Schwanitz. der Gesetzgebung im Zusammenhang mit den offe-
nen Vermögensfragen weitergehen? Es kann doch
Rolf Schwanitz (SPD): Herr Präsident! Meine sehr nicht ernsthaft die Meinung der Bundesregierung
verehrten Damen und Herren! Die Koalitionsverein- sein, daß dies nicht auch künftig ein Schwerpunkt der
barung liegt auf dem Tisch, und wir haben heute Rechtspolitik für Ostdeutschland sein wird. Zu hören
bereits mehrere Stunden lang der Bundesregierung war darüber bis heute nichts. Dabei ist der Handlungs-
über ihre politischen Ziele in dieser Legislaturperiode druck äußerst groß. Die Rechtsprechung in Zivilsa-
gelauscht. chen — übrigens auch beim Bundesgerichtshof —
Wer dabei jedoch gehofft hatte, etwas Substantiel- führt in zunehmendem Maße zur Umgehung und
les über Lösungsansätze zu dringenden Fragen in den Aushöhlung des Vermögensgesetzes.
neuen Bundesländern zu erfahren, wurde wieder Seit 1990 haben wir in diesem Hause darüber
einmal bitter enttäuscht. Ganze Problemfelder, die gestritten, wie beim Grundsatz Rückgabe vor Ent-
den Bundestag in den letzten vier Jahren auf das schädigung die Interessen der lauteren Erwerber
intensivste beschäftigt haben, z. B. auf rechtspoliti- gewahrt werden und sie vor Restitution geschützt
schem Gebiet in Ostdeutschland, sind für die Koalition werden können. Dabei war immer unstrittig, daß
offensichtlich völlig verschwunden. redlicher Erwerb von Eigentum durch den heutigen
(Beifall bei der SPD) Nutzer den Restitutionsanspruch des Alteigentümers
Dort, wo Zweckoptimismus und taktisches Kalkül abwehrt.
Rede- und Handlungsblockaden verursachen, hat Nunmehr lassen Alteigentümer auf dem Zivil-
Opposition dafür zu sorgen, daß der Blick wieder auf rechtsweg feststellen, ob der Eigentumserwerb in der
die Realitäten gelenkt wird. Dazu in aller Kürze vier damaligen Zeit überhaupt rechtswirksam zustande
Denkanstöße: gekommen ist. Wird dies durch die Gerichte verneint,
Erstens. Da ist z. B. die Situation der mittelständi- war der Erwerb mit Mängeln behaftet und rechtlich
schen Unternehmen, der Gewerbetreibenden und der unwirksam, so spielt die Redlichkeit des Erwerbers
148 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Rolf Schwanitz
überhaupt keine Rolle mehr. Die Schutzmechanismen bedurft, bis diese Gesetzgebung wenigstens in den
des Vermögensgesetzes greifen nicht. Grundpfeilern hervorkam.
Das kann vielleicht noch akzeptiert werden, soweit Während noch immer Tausende ehemaliger Häft-
es sich um Rechtsgeschäfte zwischen Bürgern han- linge vergeblich auf die Bearbeitung ihrer Anträge bei
delte. Denn auch der DDR-Bürger hatte sich zu der Berliner Stiftung warten, klagen nunmehr Opfer
vergewissern, ob in seinen privaten Rechtsgeschäften gegen dieses zweifelsfrei unzureichende Regelungs-
alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Trat jedoch werk in Karlsruhe.
der Staat zwischen den Alteigentümer und den heu- Die Bundesjustizministerin meint jedoch statt des-
tigen Nutzer, erwarb der DDR-Bürger das Haus aus sen gestern, sie sehe keine ernsthaften Schwierigkei-
Volkseigentum, so war das Leben bunt und die ten oder Defizite bei den Leistungen für SED-Opfer.
Rechtspraxis für den Käufer in den seltensten Fällen Der Bundeskanzler hat heute morgen ausgeführt, daß
zu überschauen. die Opfer mit ihren Rechten nicht hinter den Rechten
Solche Rechtsgeschäfte heute nach den Grundsät- der Täter zurückstehen dürfen. Wann gilt das endlich
zen des Rechtsstaates auf Mängel zu untersuchen auch für die Opfer des SED-Regimes?
stellt die frühere Situation auf den Kopf. Das DDR- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Recht muß im Lichte der damaligen politischen Ver- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
hältnisse bewertet werden. Dabei gehörte es zum
Ich fasse zusammen: Keine Aussage über die aus-
Kennzeichen des Systems, daß sich Partei und Staat
laufenden Schutzrechte der Mittelständler im Osten,
administrativ auch über geltendes Recht hinwegset-
keine Aussage über Milderung der neuen Eskalation
zen konnten. Wenn hierfür der Blick der Gerichte
bei den offenen Vermögensfragen, keine Aussage
verstellt bleibt, drohen die Nutzerrechte in Tausenden
über den weiteren Schutz der Nutzerrechte im Osten
von Fällen den Bach hinunterzugehen. Auch zu die-
und ebenfalls keine Aussage über den Fortgang der
sen drängenden existentiellen Fragen haben wir bis
Rehabilitierungsgesetzgebung. Das läßt über die Pas-
heute von der Bundesregierung nichts gehört.
sivität und Ignoranz dieser Bundesregierung hinsicht-
(Beifall bei der SPD) lich der Nöte und Ängste der Menschen in Ost-
Drittens. Wie soll es mit den Nutzerrechten im deutschland Böses erahnen. Die heutige Regierungs-
Zusammenhang mit dem Schuldrechtsanpassungsge- erklärung und die Debatte waren eine Enttäuschung
setz weitergehen? Obwohl die Koalition kurz vor der für die Leute.
Bundestagswahl endlich ihren Widerstand gegen eine (Beifall bei der SPD)
gerechte Regelung im Zusammenhang mit den „Dat-
schen-Nutzern" aufgegeben hatte, waren damit kei-
neswegs alle Regelungsdefizite vom Tisch. Ganze Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort zu
Gruppen von Nutzern bleiben bisher bei ihrem Kün- seiner ersten Rede in diesem Hause hat der Abgeord-
digungsschutz schlechtergestellt. Ich erinnere in die- nete Graf Einsiedel.
sem Zusammenhang z. B. an die Inhaber von Überlas- -
sungsverträgen zu gewerblichen Zwecken oder zu
Wohnzwecken, soweit die Nutzer nur geringfügig in Heinrich Graf von Einsiedel (PDS): Herr Präsident!
das Gebäude investiert haben. Hier laufen Schutz- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir Mit-
rechte Ende nächsten Jahres in Tausenden von Fällen glieder der PDS-Fraktion
aus. (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Ihr seid keine
Was will die Bundesregierung hier und auch bei Fraktion! — Zuruf von der PDS: Abwar
anderen Wohn-Mietverhältnissen unternehmen? Will ten!)
sie zusehen, wie Tausende durch Eigenbedarfsklagen haben sehr unterschiedliche politische Biographien
zwar ihre Datschen behalten, ihre Wohnungen aber und auch unterschiedliche Positionen
räumen müssen? Glaubt die Bundesregierung ernst-
haft, daß diese Menschen am ostdeutschen Woh- (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Ein Grüpp
nungsmarkt, der immer noch durch einen beispiello- chen!)
sen Wohnraummangel gekennzeichnet ist, erneut zu antimilitaristischen und pazifistischen Bestrebun-
entsprechenden Wohnraum finden werden? Dann ist gen.
ihr an dieser Stelle jeglicher Realitätssinn abzuspre- Ich selbst halte wie Bundeskanzler Kohl den provo-
chen, meine Damen und Herren. kativen Satz „Soldaten sind Mörder" in dieser ver-
(Beifall bei der SPD) kürzten, undifferenzierten Form für unerträglich, vor
allem aber für der Sache der Friedensbewegung
Viertens. Was will die Bundesregierung in dieser abträglich,
Legislaturperiode zur Verbesserung der Rehabilitie-
rungsgesetzgebung gegenüber den Opfern politi- (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/
scher Verfolgung aus der DDR-Zeit unternehmen? DIE GRÜNEN]: Tucholsky!)
Der damalige Bundesjustizminister hat sein Amt, das weil er kontraproduktiv wirkt. Die Soldaten der Alli-
später durch Frau Leutheusser-Schnarrenberger wei- ierten, die unter millionenfachen Opfern den Nazis-
tergeführt wurde, 1990 vor dem Hintergrund der mus niedergekämpft haben, waren natürlich keine
Verpflichtung nach Art. 17 des Einigungsvertrages Mörder. Die meisten deutschen Soldaten, die von
aufgenommen, unverzüglich eine Rehabilitierungs- einer verbrecherischen politischen, aber eben auch
gesetzgebung in die Wege zu leiten. Es hat fast vier von einer verbrecherischen militärischen Führung in
Jahre gedauert und vieler Eingriffe der Opposition den Krieg gejagt wurden, waren ebenfalls keine
Deutscher Bundestag — 13. Wahlpe riode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 149

Heinrich Graf von Einsiedel


Mörder, jedenfalls die meisten nicht. Sie waren in Sie halten sich doch alle für so lupenreine Demo-
vielfacher Weise Opfer. kraten in der Bundesrepublik, und Sie halten die
Bundesrepublik für die beste aller Welten. Aber
Der Zweite Weltkrieg hat uns wie alle Kriege dieses
wollen Sie sich nicht vielleicht auch einmal daran
Jahrhunderts gezeigt, wie leicht der Soldat zum Mör-
erinnern, daß diese Bundesrepublik von sehr vielen
der gemacht werden kann, wie leicht er zum Totschlä-
dieser Leute aufgebaut worden ist, die damals, vor
ger wird. Viele Millionen von den in diesen Kriegen
1945, auch sehr staatsnah waren?
umgekommenen Zivilisten, Frauen und Kindern, sind
der grausige Beweis für diese Tatsache. (Beifall bei Abgeordneten der PDS sowie des
Abg. Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜND
Nebenbei: Es ist meines Wissens Victor Hugo NIS 90/DIE GRÜNEN])
gewesen, der als erster in einem leidenschaftlichen
Aufruf gegen das Kriegshandwerk den Satz „Soldaten Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege
sind Mörder" niedergeschrieben hat. Auch darüber Graf Einsiedel, Sie müssen zum Schluß kommen. Ihre
sollte man vielleicht einmal nachdenken. Redezeit ist abgelaufen.
Ich wollte eigentlich zu der Klage des Bundeskanz-
lers über „das Gerede von der Militarisierung deut- Heinrich Graf von Einsiedel (PDS): Den ehemaligen
scher Außenpolitik" sprechen. Aber alles, was dazu zu SED-Mitgliedern aber wollen Sie das Recht abspre-
sagen ist, haben wir bereits in unserem Frankfurter chen, sich heute am Prozeß der Wiedervereinigung
Friedensmanifest vom 1. September 1994 gesagt. demokratisch zu beteiligen. Die PDS ist keine von
Zur Rede des Herrn Kollegen Dregger möchte ich einer äußeren Macht gesteuerte Partei mehr, wie die
jedoch einiges anmerken. Die PDS ist — auch wenn SED es lange war. Sie bekennt sich zur Demokratie,
Sie es noch so oft wiederholen — keine kommunisti- sie bekennt sich zum Sozialismus. Sie ist in einem
sche Partei. Prozeß des „Learning by doing". Warum wollen Sie
ihr denn das absprechen?
(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Nein, im (Zuruf von der CDU/CSU: Sie sind naiv!)
Gegenteil! Ganz im Gegenteil!)
Bekämpfen Sie uns doch, wenn Sie so lupenreine
Sie hat allen Prinzipien des Kommunismus, wie sie Demokraten sind, politisch und nicht mit Verleum-
von Lenin postuliert worden sind, abgeschworen. dung und mit kleinlichen Geschäftsordnungstricks!
(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) (Beifall bei der PDS — Jochen Feilcke [CDU/
CSU]: Sie werden mißbraucht!)
Sie hat erst recht dem Stalinismus abgeschworen,
(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Das sind alles Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat der
Meineide! — Detlef Kleinert [Hannover] Abgeordnete Detlef Kleinert.
[F.D.P.]: Das ist eine Meineidveranstal (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
tung!) - DIE GRÜNEN]: Oh, welche Alternative! Die
zu dessen Voraussetzung u. a. gehörte, daß fast die drogenpolitische Debatte ist doch zu
gesamte Kommunistische Partei Rußlands und auch Ende!)
Zehntausende russischer Kommunisten, die in der
stalinistischen Sowjetunion irrtümlicherweise vor den Detlef Kleinert (Hannover) (F.D.P.): Herr Präsident!
nazistischen Mördern Asyl gesucht hatten, vernichtet Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Liebe
worden sind. Kollegen! Herr Fischer, was haben Sie denn für ein
neueres Demokratieverständnis?
Hitler hat über 100 000 von 300 000 Kommunisten,
Ich meine, das, was Graf von Einsiedel soeben
also über ein Drittel, in Konzentrationslager und
gesagt hat, kann man so nicht stehenlassen. Ich gehe
Zuchthäuser gesteckt und 20 000 von ihnen ermorden
davon aus, daß selbst die extremsten Mitglieder des
lassen. Keine andere deutsche Partei hat so viele
Hauses, die durch die Sitzordnung leider nicht richtig
Opfer im Kampf gegen den Faschismus gebracht.
zu bezeichnen sind, Anspruch darauf haben,
Auch das darf doch vielleicht noch erwähnt werden.
Auch die Sozialdemokraten haben nicht so viele Opfer (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
gebracht, obwohl sie immerhin höchst tapfer und DIE GRÜNEN]: Die drogenpolitische De
unter ungeheurem Druck bewaffneter SA in der batte war vorhin!)
Kroll-Oper im Gegensatz zu den bürgerlichen Par- daß ihre Auseinandersetzung mit dem Nationalsozia-
teien gegen das Ermächtigungsgesetz gestimmt lismus, mit der jüngeren Geschichte ernstgenommen
haben. Dazu gehörte vielleicht mehr Mut und Zivil- wird. Wir können uns hier nicht neuerdings vorhalten
courage, als im Schutz der Wehrmachtsuniformen und lassen, wie soeben geschehen, die Kommunisten
hoher Dienstränge 1944 einen Militärputsch gegen seien diejenigen, die uns über den Nationalsozialis-
Hitler zu wagen, gegen einen Hitler, der bereits mus belehren müßten. Das geht ein wenig zu weit.
hoffnungslos geschlagen war. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der
Der Herr Kollege Dregger, ich, Hunderttausende CDU/CSU — Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/
meiner Altersgenossen, die „Verführer" vom 20. Juli, DIE GRÜNEN]: Ermächtigungsgesetz!)
fast die gesamte deutsche Führungselite, Richter, Im übrigen möchte ich die Gelegenheit dieser
Arzte, Ingenieure, Lehrer, Offiziere, Generale, Uni- kurzen Worte nutzen, um Frau Leutheusser-Schnar-
versitätslehrer haben einem einmalig verbrecheri- renberger, unserer Bundesjustizministerin, sehr herz-
schen System, dem Dritten Reich, gedient. lich dafür zu danken, daß sie die wesentlichen Punkte
150 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Detlef Kleinert (Hannover)


dessen, was wir mit Ihnen lieber als gegen Sie Detlef Kleinert (Hannover) (F.D.P.): Herr Präsident
durchzusetzen wünschen, Hirsch, ich bedauere das zutiefst.
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ (Lachen bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
DIE GRÜNEN]: Sie waren schon besser!) GRÜNEN und der PDS)
Aber im Hinblick darauf, daß die Aufnahmefähig-
hier so dargestellt hat, daß Sie es eigentlich hätten
keit
verstehen können, ja, müssen.
(Lachen bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
Ich komme am liebsten auf die Punkte zu sprechen, GRÜNEN und der PDS)
die streitig sind. Ein streitiger Punkt ist ganz zweifels-
frei gerade unter Liberalen in dieser Zeit die Frage: eines Teils der Mitglieder des Hauses offenbar nach-
Schutz gegen den Staat —das war 200 Jahre lang eine haltig eingeschränkt ist,
herausragende Aufgabe der Liberalen — oder Schutz (Lachen bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
durch den Staat und dessen Ermöglichung? GRÜNEN und der PDS)
An dieser Stelle ergeben sich sehr schwerwiegende bin ich durchaus der Meinung, daß wir eine Unterhal-
Fragen, die uns alle in diesem Hause bewegen sollten. tung über die rechts- und innenpolitischen Fragen, die
An dieser Stelle hier entschieden werden müssen, bei nächster Gele-
genheit in einer etwas verständigeren Atmosphäre
(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- fortsetzen sollten.
NEN]: Und hier und heute!)
(Beifall bei der F.D.P. — Lachen und Beifall
müssen wir wissen, ob das Abhören in Wohnungen bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
eine notwendige Erleichterung für die von uns allen NEN und der PDS — Rainder Steenblock
dringend benötigten Dienste der staatlichen Strafver- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eine nüch
folgungsbehörden bedeutet terne Rede!)
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Nein!) Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort zu
oder ob Art. 13 des Grundgesetzes so entscheidend ist, seiner ebenfalls ersten Rede in diesem Hause hat der
daß er uns daran hindert, die notwendigen Mittel zur Herr Kollege Zwerenz.
Verfügung zu stellen.
Die Sozialdemokratische Partei hat sich mit einer Gerhard Zwerenz (PDS): Herr Präsident! Meine sehr
ungewöhnlich knappen Mehrheit dafür entschieden, verehrten Damen und Herren! Ich muß gestehen: Ich
ja zu sagen. Wir haben uns noch nicht entschieden. bin nüchtern. Aber ich habe ein anderes Leiden: Ich
Das ist der interessante Punkt, der Sie dazu herausfor- habe nur fünf Minuten Redezeit und soll über Kultur
dert, hier über die Liberalen herzuziehen und zu sprechen. Das paßt natürlich ausgezeichnet; denn
sagen, sie seien entscheidungsunfähig. -
Kultur ist das fünfte Rad am Wagen.
Ich sage Ihnen etwas ganz anderes. Es ist nun Kultur ist, wie wir wissen, Ländersache. So haben
wirklich eine zutiefst liberale Frage — eine Frage, die wir heute entweder nichts oder Nichtssagendes dar-
die Freiheit des Individuums mehr betrifft als jede über gehört. Kultur ist: Berlin gibt 60 Millionen DM
andere —, wie man sich entscheidet. vergeblich für Olympiawerbung aus, und um dieses
Geld wieder reinzukriegen, bekommt das Schiller
Die Sozialdemokratie hat sich deshalb so schwerge- Theater das Aus aufgedrückt. Damit werden 40 Mil-
tan und ist deshalb mit einer so knappen Mehrheit aus lionen DM eingespart, und es bestehen nur noch
dieser Entscheidung herausgegangen, weil die Frage 20 Millionen DM minus.
so schwerwiegend ist. Deshalb werden wir uns auch in Ich muß ganz schnell auf die eigentliche Ursache
aller Ruhe mit Ihrer Genehmigung kommen, und das ist das Urheberrecht. Ich bekomme
(Lachen bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE eine Unzahl von Briefen von Kollegen, von bildenden
GRÜNEN und der PDS — Rainder Steen- Künstlern und von anderen. Ich soll hier verraten, daß
block [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Geneh- wir das schlechteste Urheberrecht haben. 50 Jahre
migt!) nach dem Tod — nach EG-Recht 70 Jahre nach dem
Tod — wird enteignet, und daraus werden Enteig-
weiterhin so sorgfältig mit der Frage beschäftigen, wie nungsorgien.
sie das verdient.
Wenn jemand 50 Jahre nach seinem Tod seinen
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ sonstigen Besitz einbüßen würde, gäbe es wohl einen
DIE GRÜNEN]: Allerdings!) Aufstand der Besitzbürger. Die geistigen Besitzbürger
lassen sich offenbar alles gefallen. Dort gibt es keinen
Mein Freund Rupert Scholz hat hier vorhin einige
kleinere Punkte angesprochen. Wir haben grundsätz- Aufstand. Und das halte ich für falsch.
lich, ganz grundsätzlich — — (Beifall bei der PDS und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Es gibt allerdings auch kuriose Geschichten. Ich will
ganz kurz an den Fall Karl May erinnern. Sie wissen:
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege Beim Fall Karl May ist es so:
Kleinert, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Sie müssen zum (Zuruf von der SPD: Ist das der, der „Winne
Schluß kommen. tou" geschrieben hat?)
Deutscher Bundestag — 13. Wahlpe riode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 151

Gerhard Zwerenz
— Genau, „Der Schatz im Silbersee" und solche 20 Jahren dagegen anschreiben, ändert sich daran gar
schönen Sachen. Er hat ein Testament hinterlassen. nichts. Sie haben einen Hitleridioten und Erzreaktio-
Laut dieses Testamentes sollen Schriftsteller, die in när und Antisemiten nach wie vor zum Vorbild der
Not sind, ein Stipendium bekommen. Nach dem Bundeswehr gemacht.
Zweiten Weltkrieg ist lange zwischen Staatsstellen (Beifall bei der PDS sowie Abgeordneten der
erst im Osten und den Erben und jetzt neuerdings den SPD)
Staatsstellen im Westen und den Erben hin und her
Nun kommen wir mit unseren Zitaten etwas in die
verhandelt worden. Dieses Vermächtnis ist einfach
Moderne. Ich muß ja jagen; denn in fünf Minuten kann
verschwunden. Wenn man nachfragt, hört man: Ja, da
man nicht richtig abrechnen.
hat es einmal irgend etwas gegeben.
(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Sie sind ein
Also, wenn Schriftsteller von erfolgreichen Vorgän- Komiker!)
gern etwas bekommen sollen, dann kann das ganz
leicht einfach abhanden kommen. Das spielt über- — Ach, Sie haben ja sowieso nichts zu sagen. Sie
haupt keine Rolle. Wir haben offenbar keine Standes- haben vorhin gesprochen. Was soll denn das? Wenn
vertretung, die sich dafür stark macht. wir beim Zitieren sind: Hierin hat sich Ihr verehrter
Bundeskanzler ja nun sehr gütlich getan.
Kultur ist bei uns vorwiegend Kürzung. Diese Kür-
zung kennen insbesondere diejenigen, die aus den (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Unser aller
neuen Ländern kommen. Dort grassiert diese Kür- Bundeskanzler!)
zung. — Unser aller Bundeskanzler. Ich beuge mich Ihrem
Sprachverständnis. Es hat ihm gefallen, nicht wahr. Es
(Beifall bei der PDS und dem BÜNDNIS 90/ hat ihm so großartig gefallen, den Genossen Kurt
DIE GRÜNEN) Schumacher zu zitieren — —

Was auch immer: Büchereien, Theater, Kulturhäuser,


Schulen, Volkshochschulen, sie werden gekürzt, sie Vizepräsident Hans Klein: Herr Abgeordneter, Ihre
werden geschrumpft. Redezeit ist abgelaufen. Sie müssen zum Schluß
Im Gegensatz dazu gibt es dann erstaunlich kommen.
schnelle Veröffentlichungen. Ich spreche jetzt kurz (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Gregor Gysi
nur von meinem Freund und Kollegen Stefan Heym, [PDS]: Sie haben noch einen Satz!)
dem es passiert ist, daß vor vielen Jahren der Staats-
sicherheitsdienst ein englisch geschriebenes Tage-
Gerhard Zwerenz (PDS): Ich möchte in diesem
buch weggenommen bzw. fotografiert hat. Die Stasi
hat es dann ins Deutsche übersetzen lassen. Diese Hause Halbsätze stehenlassen.
deutsche Fassung taucht jetzt über die Gauck (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten
Behörde wieder auf. Von dort geht sie zu den Medien. der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ
Daraus wird zitiert. Man kann sich vorstellen, was da - NEN — Zuruf von der CDU/CSU: Sauber,
zitiert wird; denn das ist eine Stasiübersetzung aus jawohl!)
dem Englischen ins Deutsche. Es ist ein Recht, das bei
uns jetzt offensichtlich ganz modern ist. Das läßt sich Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat die
ohne weiteres machen. Die Uhren gehen bei uns so Abgeordnete Ulla Jelpke.
allmählich immer mehr rückwärts.
(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Uns bleibt hier
Ich habe hier heute etwas gehört über neue Ideen nichts erspart!)
und neue Visionen, über Europa usw.
Es hat auch der Kollege Dregger wunderschöne Ulla Jelpke (PDS): Herr Präsident! Meine Damen
Sätze aus dem PDS Grundsatzprogramm zitiert. Dar-
- und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
aus soll also abgelesen werden, was die PDS für eine (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Uns bleibt auch
kommunistische Vereinigung ist. nichts erspart!)
(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Und ob!) — Ich weiß, daß Sie mich lieben, aber das macht
— Ich habe nichts verstanden. Ich bin ein Antikom- nichts. Sie bekommen das jetzt alles ganz geballt zu
munist, verehrter Kollege. Ich stehe dieser PDS nahe, hören. Das ist doch auch ganz nett.
und ich vertrete ihre Interessen gegenüber Ihnen, der Ich möchte noch einmal auf Innenminister Kanther
Sie keine Ahnung haben. eingehen, der heute davon gesprochen hat, daß er ein
(Beifall bei der PDS) verträgliches Zusammenleben mit Ausländern ge-
stalten möchte. Ich halte schon die Vokabel „verträg-
Nun lassen Sie mich etwas aus Ihrem Grundsatz- liches Zusammenleben" für ziemlich zynisch. Denn in
programm zitieren: der Koalitionsvereinbarung, so kann man lesen, heißt
Jeder Frontsoldat weiß, daß sich die Juden der es:
ganzen Welt zusammengeschlossen haben zur Die Koalition wird sich grundsätzlich weiterhin
Vernichtung Deutschlands und Europas. von einer Politik der Integration der Bürgerinnen
Soll ich noch mehr solche Zitate bringen? Meine und Bürger ausländischer Herkunft, die ihren
Damen und Herren von der Rechten, sie stammen von rechtmäßigen Aufenthalt in der Bundesrepublik
Ihrem großen Vorbild, dem Generaloberst Dietl, nach Deutschland haben, leiten lassen.
dem Sie heute noch in Füssen im Allgäu eine Kaserne Man muß schon ein sehr seltsames Verhältnis zur
benennen. Obwohl meine Kollegen und ich seit Wahrheit haben, um diesen Satz zu glauben, insbe-
152 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Ulla Jelpke
sondere wenn wir bedenken, daß die Unionsfraktion sagte nämlich: „Taktisch ein bißchen geändert und
in der vergangenen Legislaturperiode davon gespro- mit anderen Nuancen versehen — das nenne ich
chen hat, es stehe eine Neujustierung der Grund- Kompromißbereitschaft". Ich wundere mich doch
rechte an. Das bedeutete faktisch die Abschaffung des sehr, wie oppositionell die SPD heute auftritt, obwohl
Asylrechts. Und das bedeutet faktisch, daß es für sie genau diesem Paket kurz vor den Wahlen zuge-
Fremde heute kaum möglich ist, in dieses Land stimmt hat, weil sie im Wahlkampf keine Debatte zur
hineinzukommen bzw. in diesem Land eine entspre- inneren Sicherheit haben wollte.
chende Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten. Vom Bundeskanzler haben wir hier heute hören
Bürgerkriegsflüchtlinge wurden sozusagen in das müssen, daß er seinen Kampf gegen die rechten und
Asylverfahren gezwungen; zur Zeit werden sie wieder linken Extremisten führen wird. Ich möchte in diesem
abgeschoben. Ich möchte daran erinnern, daß am Zusammenhang daran erinnern —

Donnerstag auf der Innenministerkonferenz die Ent-


scheidung ansteht, ob Kurdinnen und Kurden abge- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Kollegin,
schoben werden können. Ich plädiere an diesem Ort Sie müssen zum Schluß kommen.
dafür, daß ein Abschiebestopp fortgilt. Denn meines
Erachtens hat sich in der Türkei, in Kurdistan über-
haupt nichts geändert, das eine Abschiebung legiti- Ulla Jelpke (PDS): — das mache ich —, daß es
mieren würde. Innenminister Kanther gewesen ist, der davon gespro-
chen hat, daß wir — wortwörtlich — „eine Politik
(Beifall bei Abgeordneten der PDS) machen müssen, die es den Republikanern wieder
Immer noch stehen wir vor der Situation, daß möglich macht, CDU/CSU zu wählen". Das macht
Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeiter kein meiner Meinung nach sehr, sehr deutlich, in welche
Bleiberecht haben, daß sie in diesem Land von Richtung es weitergehen wird.
Abschiebestopp zu Abschiebestopp leben, unter Danke.
immer schlechteren Bedingungen. (Beifall bei der PDS)
Bevor jetzt das öffentlich inszenierte Geschachere
um das Staatsangehörigkeitsrecht weitergeht wir

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat der
haben dazu heute schon einiges gehört —, möchte ich Abgeordnete Professor Heuer.
daran erinnern, daß der Entwurf von Frau Schmalz-
Jacobsen, der Ausländerbeauftragten des Bundes, in
der vergangenen Legislaturperiode über den Bundes- Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS): Verehrter Herr Präsi-
rat hier eingebracht, am Ende nur noch von zwei dent! Meine Damen und Herren! Die Frau Justizmini-
Gruppen unterstützt wurde, nämlich von BÜND- sterin hat vom liberalen Rechtsstaat gesprochen, als
NIS 90/GRÜNE und der PDS. sie sich auf die Koalitionsvereinbarung bezog. Leider
ist aber in der Koalitionsvereinbarung von einem
Ich denke, das macht sehr deutlich, um welche liberalen Rechtsstaat nicht die Rede. In der Koalitions-
Reform es hier geht. Auch meine Redezeit ist leider vereinbarung ist von einem „starken Rechtsstaat" die
sehr kurz. Deshalb muß ich darauf verweisen, daß Rede. Der Herr Bundeskanzler hat gesagt: „Die Rück-
andere hier bereits die Farce der Einbürgerung von führung des Staates auf seine originären Aufgaben,
Kindern ausländischer Herkunft dargestellt haben. d. h. innere und äußere Sicherheit, stärkt den Staat."
Reformiert wurden in der vergangenen Legislatur- Herr Scholz hat heute vom wehrhaften Rechtsstaat
periode allerdings die Abschiebemechanismen und gesprochen. Das heißt, es gibt eine ganze Reihe von
-methoden. Die Befugnisse des BGS-Personals für Vokabeln, die im Grunde vertuschen sollen, daß es
Verfolgungsmöglichkeiten von Ausländerinnen und nicht um den Rechtsstaat geht, sondern um den
Ausländern wurden erweitert. Ich möchte hier nur die Polizeistaat.
Tatsache zur Kenntnis geben, daß 1990 6 000 Men- (Beifall bei der PDS)
schen abgeschoben wurden, im Jahre 1993 36 000. Die Beispiele von Herrn Scholz hoben ausschließlich
Es gibt Tote in Abschiebeknästen. An den Grenzen hervor, wie notwendig die Polizei sei.
gibt es Tote, und, wie die „taz" schreibt, bereits seit Mein Problem besteht darin, daß von dieser Seite
1992 fallen an der ostdeutschen Grenze auch Schüsse. Kriminalitätsbekämpfung noch immer nur als Frage
Alles das, was hier in Sachen Ausländerinnen- und der Gewaltanwendung und als Frage der staatlichen
Ausländerpolitik angekündigt wird, kann man nur als Macht, als Frage der Repression angesehen wird.
Bedrohung verstehen, keineswegs als Integrations- Dabei sollte Einverständnis darüber bestehen, daß das
maßnahme, die den Namen verdient. Hauptproblem der Bekämpfung der Kriminalität die
Frage der Aufdeckung ihrer gesellschaftlichen Ursa-
„Starker Rechtsstaat" heißt das entsprechende
chen ist. Davon findet sich in den Reden der rechten
Kapitel in den Koalitionsvereinbarungen. Ich gehe
Seite dieses Hauses kein Wort.
davon aus, daß das Wort vom „starken Staat" den
Grundrechtsfundamentalisten in der F.D.P. zu ver- (Beifall bei der PDS — Dr. Kurt Faltlhauser
danken ist. Es macht deutlich, welche Kompromiß [CDU/CSU]: Die Linksradikalen müssen
olitik hier anstehen wird. -p wieder ran!)
Aber auch in Richtung SPD hat Herr Kanther im — Das hat doch mit Linksradikalen nichts zu tun.
Zusammenhang mit dem Paket zur inneren Sicherheit Machen Sie einfach Rechtsstaat; das wäre schon viel.
bzw. dem Verbrechensbekämpfungsgesetz sehr deut- Ich verlange von Ihnen doch keine Linksradikalität.
lich gemacht, welchem Gesetz sie zugestimmt hat. Er (Beifall bei der PDS)
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 153

Dr. Uwe-Jens Heuer


Meine Damen und Herren, in der Regierungserklä- Das ist teilweise schon geschehen, teilweise wird es
rung des Bundeskanzlers wurde zu den spezifischen zeitversetzt geschehen. Teils geschieht dies durch
Sorgen und Nöten der Ostdeutschen kein einziges Verwaltungs- oder Gerichtsentscheidungen, teils
Wort verloren. Der Bundeskanzler hat sich auf zwei wird es durch ökonomischen Druck geschehen.
Dinge beschränkt: Er will der PDS die Wähler weg- Dieser Prozeß wird begleitet mit einer Diffamierung
nehmen, und er will die alten Kader und Funktionäre der DDR. Dieser Prozeß wird damit begleitet, daß die
— offenbar soweit sie nicht der CDU angehören — alten Totalitarismustheorien von der Enquete-Kom-
bekämpfen. mission wieder aufgewärmt worden sind.
(Zustimmung bei der PDS sowie bei Abge Wir haben heute große Probleme, den Rechtsstaat
ordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ im Osten glaubwürdig zu machen. Ich habe in diesem
NEN) Hause schon mehrfach betont, daß ich den Rechtsstaat
Im übrigen hat er nichts zu den spezifischen Sorgen für eine zivilisatorische Errungenschaft halte. Ich
und Nöten der Ostdeutschen gesagt. meine, daß die DDR bis zum Schluß trotz erheblicher
Fortschritte kein Rechtsstaat war. Aber Sie diskredi-
Statt den Kalten Krieg, der nach dem Zerfall der tieren den Rechtsstaat durch Ihre Politik in Ost-
Blöcke im internationalen Leben beendet worden ist, deutschland. Das müssen Sie erkennen, und diese
auch in Deutschland zu beenden, statt die Opfer des Gefahr müssen Sie sehen.
Kalten Krieges auf beiden Seiten zu rehabilitieren und
befriedend zu wirken, hat die Regierung und die Die Benachteiligungen, die ich eben aufgeführt
Mehrheit des 12. Deutschen Bundestages den Kalten habe, zusammen mit dem Überstülpen eines unge-
Krieg in Deutschland wieder auf eine Höhe gebracht, heuer komplizierten Systems machen es außerordent-
auf der er zumindest in den 80er Jahren nicht mehr lich schwer, den Ostdeutschen deutlich zu machen,
war. daß der Rechtsstaat ein Fortschritt ist. Ich meine, daß
wir durch tatsächliche Handlungen zusammenwirken
Sie haben in einer Weise, die der deutschen Rechts- sollten. Das ist keine Frage der Belehrung. Das ist
ordnung fremd ist und die rechtsstaatlich bedenklich keine Frage, daß man es den Leuten sagt. Auch in der
ist, die Verjährung von Bagatellstraftaten, die teil- DDR ist den Leuten sehr viel gesagt worden, was sie
weise Jahrzehnte zurückliegen, verhindert, nur weil nicht geglaubt haben. Vielmehr geht es darum, daß
sie von Funktionsträgern der untergegangenen DDR Sie durch Taten beweisen, daß der Rechtsstaat ihr
begangen wurden. Es wurden und werden Menschen Instrument sein kann, daß sie mit dem Rechtsstaat
strafrechtlich verfolgt und beruflich ausgegrenzt leben können, daß er ihnen nützt. Wenn uns das nicht
allein wegen Handlungen, die sie in Ausübung gelingt, wäre es ein Verlust für die deutsche Einheit
hoheitlicher Befugnisse der DDR begangen haben. und auch eine Gefahr für unsere Entwicklung.
Sie haben Hunderttausenden zustehende Renten-
zahlungen allein wegen ihrer sogenannten Staats- Der Schriftsteller Christoph Hein hat in der Eröff-
nähe zum Staat DDR verweigert. nungsrede der Frankfurter Buchmesse gesagt: „Wir
- haben einen Sinn für das Dilemma entwickelt, den
Die Regierungsmehrheit hat in der 12. Legislatur- scheinbar unlösbaren Widerspruch eines Rechtsstaa-
periode verhindert, daß die Ostdeutschen an der tes, der kein Recht verschaffen kann." Er hat dieses
gemeinsamen Formung einer Verfassung für das Problem aufgeworfen.
vereinte Deutschland mitwirken. Dies ist nicht nur
eine verpaßte Gelegenheit, etwas Gemeinsamkeit Meine Damen und Herren, die Mehrheitsverhält-
Stiftendes zu schaffen. Es ist auch ein Verstoß gegen nisse in diesem Hause lassen hoffen, daß Rechtspolitik
Buchstaben und Geist des Art. 146 des Grundgeset- im 13. Deutschen Bundestag ein Beitrag zur Beendi-
zes. gung des Kalten Krieges auch in Deutschland leisten
wird. Ich befürchte, nach Erfahrungen, die ich mit
Die westlich dominierten Parteien des Bundestages Herrn Kittlaus und Herrn Schaefgen gemacht habe,
haben im Jahre 1990 mit der Entscheidung für Rück- daß die Staatsanwaltschaft und die Polizei weiter
gabe vor Entschädigung einen guten Schritt zur ermitteln werden, weiter verfolgen werden.
Aussöhnung verhindert. Günter Gaus, der heute sei-
nen 65. Geburtstag feiert, hat zutreffend festgestellt, Die Justiz ist nach meiner Ansicht zwiespältig. Es
gibt eine Reihe von höchstrichterlichen Urteilen, die
daß damit die Lösung der nationalen Frage der
Positives erwarten lassen. Aber die Justiz alleine kann
Eigentumsfrage geopfert wurde.
diesen Prozeß der politischen Verfolgung nicht been-
Im Sommer 1994 hat sich die Regierungsmehrheit den. Ich rufe Sie auf, im fünften Jahr der Vereinigung
wiederum für die Enteignung der Ostdeutschen ent- politische Entscheidungen vorzubereiten, um dieser
schieden; gut für die Wahlarithmetik — die Mehrheit politischen Verfolgung in Ostdeutschland ein Ende
der Wähler lebt ja bekanntlich im Westen —, schlecht zu machen.
für das Zusammenwachsen. (Beifall bei der PDS)
Man hat die Ostdeutschen bei dieser Gelegenheit Die Behandlung von Stefan Heym durch die Mehr-
über die große Bedeutung des Eigentums für die heit dieses Hauses — darüber ist heute schon gespro-
Freiheit aufgeklärt — besonders Herr Kollege Klei- chen worden — bestärkt mich in der Annahme, daß es
nert, der heute gesprochen hat, hat das in dankens- Ihnen gar nicht darum geht, was jemand in der
werter Weise getan; er sagt, Eigentum braucht man für Vergangenheit gemacht hat. Ich habe einmal in
Freiheit —, aber ihnen ist das in der DDR erworbene diesem Haus gesagt, wenn Havemann an der Spitze
Eigentum oder der eigentumsähnliche Besitz in gro- der DDR gestanden hätte, hätten Sie ihn trotzdem
ßem Umfang weggenommen worden. genauso bekämpft. Damals wurde mir hier widerspro-
154 Deutscher Bundestag — 13. Wahlpe riode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Dr. Uwe-Jens Heuer


chen. Aber die Behandlung Stefan Heyms zeigt: Es Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
geht gar nicht um die Vergangenheit, es geht darum,
(Beifall bei der PDS — Jochen Feilcke [CDU/
daß jemand bekämpft wird, der sich heute entschie-
CSU]: Sie wissen doch gar nicht, wie Dissi
den für ostdeutsche Interessen einsetzt und der nicht
dent geschrieben wird!)
bereit ist, Kübel von Dreck über die DDR auszugießen.
Dann kann er früher gemacht haben, was er will. Er
kann Dissident gewesen sein. Das zählt heute nicht
mehr. Er wird heute, weil er sich mit der PDS verbin-
det, von Ihnen angegriffen. Das halte ich für zutiefst Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Weitere Wort-
unaufrichtig, meine Damen und Herren. meldungen liegen nicht vor. Wir sind damit am Schluß
unserer heutigen Sitzung.
(Beifall bei der PDS)
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
Sie hätten Heym, wenn er im Jahre 1988 hierherge- destages auf morgen, Donnerstag, den 24. November
kommen wäre, als Dissidenten in diesem Hause 1994, 9.00 Uhr ein.
gefeiert. Jetzt halten Sie ihm alte Telefongespräche Die Sitzung ist geschlossen.
aus den 60er Jahren vor. Ich halte das für schlimm und
unverschämt von Ihrer Seite. (Ende der Sitzung: 20.44 Uhr)

-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlpe riode - 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994 155*

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 Der Entwicklungspolitik kommt bei dieser Aufgabe


eine Schlüsselrolle zu. Zusammenarbeit zum Wohle
Liste der entschuldigten Abgeordneten der Menschen ist das wirksamste praktische Mittel,
das uns in der Politik zur Verfügung steht, um den
entschuldigt bis Frieden zu sichern, einen gerechten Ausgleich zwi-
Abgeordnete(r)
einschließlich schen den Völkern zu schaffen und die großen Risiken
Altmann (Aurich), Gisela BÜNDNIS 23. 11. 94 für unsere Zukunft aufzufangen.
90/DIE Viele der Gefahren, die auch uns bedrohen, grün-
GRÜNEN den letztlich auf Unterentwicklung: in ihrer Größen-
Beucher, Friedhelm SPD 23. 11. 94 ordnung noch unüberschaubare Fluchtbewegungen,
Julius die immer noch ungebrochene Zerstörung natürlicher
Graf (Friesoythe), Günter SPD 23. 11. 94 Lebensgrundlagen, ein ungehemmtes Bevölkerungs-
Frhr. von Hammerstein, CDU/CSU 23. 11. 94 wachstum sowie die Ausbreitung von Seuchen, aber
Carl-Detlev auch der Drogenhandel und die Ausweitung des
Hampel, Manfred Eugen SPD 23. 11. 94 internationalen Verbrechertums. Es ist in erster Linie
die Entwicklungspolitik, die an den Ursachen ansetzt
Hasenfratz, Klaus SPD 23. 11. 94
und sich so den Gefahren auch für unsere Zukunft
Hilsberg, Stephan SPD 23. 11. 94 entgegenstemmt.
Dr. Höll, Barbara PDS 23. 11. 94
Hörsken, Heinz-Adolf CDU/CSU 23. 11. 94 Deshalb muß Entwicklungspolitik am Ende unseres
Dr. Graf Lambsdorff, Otto F.D.P. 23. 11. 94 Jahrhunderts, in dem ideologische Trennlinien hof-
fentlich immer mehr in den Hintergrund treten und
Lotz, Erika SPD 23. 11. 94
das gemeinsame Schicksal der Menschheit zuneh-
Maaß (Wilhelmshaven), CDU/CSU 23. 11. 94 mend ins Blickfeld rückt, als globale Strukturpolitik
Erich verstanden werden. Globale Strukturpolitik geht weit
Meckel, Markus SPD 23. 11. 94 über das überholte Verständnis von Entwicklungs-
Möllemann, Jürgen W. F.D.P. 23. 11. 94 hilfe, die versuchte, punktuelle Antworten auf punk-
Neumann (Gotha), SPD 23. 11. 94 tuelle Probleme zu geben, hinaus. Sie verknüpft, wie
Gerhard dies in der Koalitionsvereinbarung ausdrücklich fest-
Nickels, Christa BÜNDNIS 23. 11. 94 gelegt ist, die Bekämpfung der Armut mit der wirt-
90/DIE schaftlichen Zusammenarbeit - vor allem auch mit
GRÜNEN den Ländern des früheren Ostblocks - und der Not-
Dr. Pfaff, Martin SPD 23. 11. 94 und Katastrophenhilfe. Diese umfassende Funktion
der Entwicklungspolitik als Politik der Friedenserhal-
Saibold, Hannelore BÜNDNIS 23. 11. 94
tung und Zukunftssicherung in der öffentlichen Dis-
90/DIE
kussion und der Hierarchie der Regierungsaufgaben
GRÜNEN zu verdeutlichen, bleibt auch in der kommenden
Schumann, Ilse SPD 23. 11. 94 Legislaturperiode mein vordringliches Anliegen.
Schwanhold, Ernst SPD 23. 11. 94
Vergin, Siegfried SPD 23. 11. 94 Unsere Beweggründe für diese Politik beruhen auf
den Grundüberzeugungen der Humanität, sozialer
Dr. Wieczorek, Norbert SPD 23. 11. 94
Verantwortung und christlicher Wertvorstellungen.
Dabei handeln wir aber letztlich auch im eigenen
Interesse. Denn Armut, Umweltzerstörung und Kon-
Anlage 2 flikte in den Entwicklungsländern machen nicht an
denGrzHalt,sogefährdnucbis
Zu Protokoll gegebene Rede Lebens- und Entwicklungschancen zukünftiger Ge-
zu dem Tagesordnungspunkt: Regierungserklärung nerationen. Eigene Interessen nehmen wir auch in
des Bundeskanzlers mit anschließender Aussprache einem anderen Bereich wahr. Länder, denen der
Zugang zum Kreditmarkt offensteht, bedürfen der
Carl Dieter Spranger, Bundesminister für wirt-
- Unterstützung überwiegend nur noch in Form von
schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: Das Beratung sowie bei der Verbesserung der politischen
Programm der Bundesregierung für die 13. Legislatur- und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für ihre
periode steht unter dem Leitmotiv der Erneuerung Entwicklung. Ihr öffentliches Investitionsprogramm
und Zukunftssicherung. Die Aufgabe, Deutschlands kann durch eigene Mittel oder Aufnahme von Kredi-
Zukunft zu sichern, hat nicht nur eine innenpolitische ten am Kapitalmarkt finanziert werden. Mit solchen
Dimension. Sie erstreckt sich in ihrer globalen Dimen- Partnern findet die wirtschaftliche Kooperation im
sion auch auf die Rolle Deutschlands in der Welt. Wege eines gegenseitigen Gebens und Nehmens
Deutschland braucht nicht nur Märkte für den Export statt. Sie ist das Beispiel dafür, daß sich entwicklungs-
von Gütern und Dienstleistungen. Wir brauchen vor politische Ziele ohne weiteres mit der Wahrnehmung
allem Frieden, Stabilität und Sicherheit als Grundvor- wirtschaftlicher Interessen vereinbaren lassen. Mit
aussetzungen für eine menschengerechte Gestaltung dem in der letzten Legislaturperiode geschaffenen
der Zukunft auf dieser Erde. Darauf hinzuarbeiten Instrument des „2. Fensters" tragen wir solchen
sind wir gefordert. Gedanken Rechnung.
156* Deutscher Bundestag — 13. Wahlpe riode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. November 1994

Globale Strukturpolitik als übergeordnete Aufgabe Verbesserung der politischen und wirtschaftlichen
einer neu verstandenen Entwicklungspolitik setzt vor- Rahmenbedingungen gefragt. In Mittel- und Osteu-
aus, daß wir im Bereich der Krisen- und Katastrophen- ropa sowie den Nachfolgestaaten der Sowjetunion
prävention stärkere Akzente setzen. Katastrophen sehen wir die Förderung administrativer, rechtlicher
wie in Ruanda sind nicht durch Entwicklungsvorha- und wirtschaftlicher Rahmenbedingungen im Vorder-
ben herkömmlicher Art oder isolierte Anstrengungen grund. Im Mittelmeerraum und dem Nahen Osten
einzelner Geber zu verhindern. Wirksame Krisenprä- muß die Eindämmung von Konflikt- und Fluchtursa-
vention erfordert eine stärkere politische Zusammen- chen im Zentrum unserer Bemühungen stehen. Es
arbeit mit dem Ziel, politische und wirtschaftliche geht darum, unsere Konzepte und Instrumente geziel-
Konfliktpotentiale zu überwinden. Dies wiederum ter einzusetzen, um auf unterschiedliche Problemla-
bedeutet verstärkte Konzertierung und Abstimmung gen und auf unterschiedliche Interessen angemessen
zwischen bilateralen und multilateralen Entwick- zu reagieren.
lungsorganisationen. Wir wollen unseren Einfluß in
den multilateralen Organisationen wie den Vereinten Die Forderung nach mehr Kohärenz zwischen allen
Nationen, den Entwicklungsbanken und auch in der auf die Entwicklungszusammenarbeit einwirkenden
Europäischen Union stärken, um die großen, weltwei- Politiken ist nicht neu. Ich verspreche mir dafür jedoch
ten Umgestaltungsaufgaben mit unserer bilateralen durch die Diskussion im Rat der europäischen Ent-
Politik besser zu verzahnen und die Effizienz des wicklungsminister übermorgen einen neuen Anstoß.
Mitteleinsatzes weiter zu verbessern. Wir haben dieses Thema während der deutschen
Präsidentschaft vorangetrieben und werden nicht
Die Weichen für eine Entwicklungspolitik, die in nachlassen, die Kommission und unsere Partner in der
den Partnerländern mehr Wirkung erzielt und gleich- Europäischen Union zu Fortschritten bei diesem
zeitig Deutschlands Interessen in einem veränderten Strukturproblem der Entwicklungspolitik zu drän-
weltpolitischen Umfeld fördert, haben wir bereits in gen.
der letzten Legislaturperiode gestellt. Unsere Zusam-
menarbeit folgt klaren Kriterien. Menschenrechte, Wir werden den Stellenwert der Entwicklungspoli-
Rechtssicherheit, Teilhabe am politischen Meinungs- tik nur heben können und ihre Funktion als Politik der
bildungsprozeß und marktwirtschaftliche Ausrich- Zukunftssicherung nur bewußt machen, wenn wir sie
tung beschreiben gleichzeitig neue Felder der Zusam- fester und breiter in unserer Gesellschaft verankern.
menarbeit, auf denen wir zur Verbesserung der Rah- Ich appelliere daher an alle Nichtregierungsorganisa-
menbedingungen für eine menschengerechte Ent- tionen, ihre beachtlichen Bemühungen auf diesem
wicklung ansetzen. Die Hauptmerkmale von Unter- Gebiet fortzusetzen. Wir brauchen das Gespräch und
entwicklung, nämlich Armut, Umweltzerstörung und die Zusammenarbeit mit allen in die Entwicklungs-
mangelhafte Bildung, bleiben auch in Zukunft im politik eingebundenen gesellschaftlichen Gruppen.
Mittelpunkt unserer Anstrengungen. Hier gilt es, Lassen Sie uns an einer parteiübergreifenden Koali-
Beständigkeit walten zu lassen. tion der Vernunft arbeiten, um unser gemeinsames
Anliegen, für Frieden und menschliche Sicherheit in
Das erweiterte Verständnis von Entwicklungspoli- der Welt einzutreten, noch wirksamer zu verfolgen.
tik und die Fortentwicklung ihrer Konzeption werden Ich appelliere auch an die Medien, nicht nur dann
sich in Zukunft in einer stärkeren regionalen Differen- über entwicklungspolitische Fragen zu berichten,
zierung ausdrücken. Eine regionale Differenzierung wenn Negativ-Spektakuläres zu vermelden ist. Ent-
ist geboten, weil es angesichts der unterschiedlichen wicklung geht uns alle an. Diese Botschaft muß sich in
Entwicklungen in der Welt nicht mehr angebracht ist, der Öffentlichkeit festsetzen. Und schließlich bitte ich
alle Partner gleichzubehandeln. Während in Schwarz- auch die Kolleginnen und Kollegen in diesem Haus:
afrika die Nothilfe und Konfliktprävention im Vorder- Helfen Sie mit, daß wir die gestiegene Verantwortung
grund stehen, sind in den Schwellenländern Asiens Deutschlands in der Welt mit Leben erfüllen. Unter-
und Lateinamerikas mehr wirtschaftliche Zusammen- stützen Sie unsere Bemühungen, das friedliche Mit-
arbeit, Technologietransfer sowie Beratung bei der einander in der Welt zu fördern und auszubauen.

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