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Plenarprotokoll 14/3

Deutscher Bundestag
Stenographischer Bericht

3. Sitzung

Bonn, Dienstag, den 10. November 1998

Inhalt:

Gedenkworte für die Opfer der Naturka- Kerstin Müller (Köln) BÜNDNIS 90/
tastrophe in den vier mittelamerikanischen DIE GRÜNEN............................................. 85 D
Staaten El Salvador, Honduras, Guatemala Dr. Wolfgang Gerhardt F.D.P.......................... 91 A
und Nicaragua ................................................ 47 A
Dr. Gregor Gysi PDS....................................... 96 D
Begrüßung des Beauftragten der OSZE für
Medienfreiheit, Herrn Freimut Duve.............. 67 C Michael Glos CDU/CSU ................................. 102 B
Helmut Wieczorek (Duisburg) SPD ............ 102 D
Begrüßung des neuen Direktors beim Deut-
schen Bundestag, Dr. Peter Eickenboom ..... 67 C Hans-Peter Repnik CDU/CSU..................... 103 A
Joseph Fischer, Bundesminister AA................ 107 C
Verabschiedung des Direktors beim Deut-
schen Bundestag, Dr. Rudolf Kabel ............. 67 C Rudolf Scharping, Bundesminister BMVg ...... 112 B
Dr. Helmut Haussmann F.D.P. ........................ 115 B
Tagesordnungspunkt 1:
Volker Rühe CDU/CSU .................................. 116 C
Regierungserklärung des Bundeskanz-
lers mit anschließender Aussprache........... 47 C Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministe-
rin BMZ ....................................................... 119 A
in Verbindung mit Wolfgang Gehrcke PDS .................................. 121 C
Tagesordnungspunkt 2: Angelika Beer BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . 122 D
Jürgen Koppelin F.D.P.. .............................. 123 B
Antrag der Bundesregierung
Gernot Erler SPD............................................. 124 D
Deutsche Beteiligung an der NATO-
Luftüberwachungsoperation über den Rudolf Bindig SPD.......................................... 127 A
Kosovo (Drucksache 14/16)....................... 47 C
Nächste Sitzung ............................................... 128 D
Gerhard Schröder, Bundeskanzler ................... 47 C
Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU ................. 67 D Anlage 1
Dr. Peter Struck SPD ....................................... 80 A Liste der entschuldigten Abgeordneten .......... 129 A
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(A) (C)

3. Sitzung

Bonn, Dienstag, den 10. November 1998

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Wolfgang Thierse: Meine Damen und Heinz Westphal verstorben. Wir werden seiner in ei-
Herren, die Sitzung ist eröffnet. nem Staatsakt am 19. November 1998 gedenken. Die
Einladung geht Ihnen gesondert zu.
(Die Anwesenden erheben sich)
Eine beispiellose, in ihren Ausmaßen und Wirkungen Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 1 und 2 auf:
unvorstellbare Naturkatastrophe hat in der vergange-
Regierungserklärung des Bundeskanzlers mit
nen Woche die vier mittelamerikanischen Staaten El
anschließender Aussprache
Salvador, Honduras, Guatemala und Nicaragua ge-
troffen. Die von einem Tropensturm ausgelösten Über- Beratung des Antrags der Bundesregierung Deut-
schwemmungen, Erdrutsche und Schlammlawinen ha- sche Beteiligung an der NATO-Luftüberwa-
ben in diesen Ländern einen großen Teil der Ernten, chungsoperation über dem Kosovo
Nahrungsmittelvorräte und darüber hinaus fast die ge-
samte Infrastruktur vernichtet. In letzten Meldungen ist – Drucksache 14/16 –
(B) von rund 12 000 Toten und 13 000 vermißten Personen Überweisungsvorschlag: (D)
die Rede. 3 Millionen Menschen sind obdachlos und le- Auswärtiger Ausschuß (federführend)
ben unter freiem Himmel. Hunger und Seuchen bedro- Rechtsausschuß
hen unmittelbar nach der Katastrophe die Überlebenden. Verteidigungsausschuß
Haushaltsausschuß
Die Zerstörung der Verkehrswege hat zur Folge, daß
Hilfslieferungen, die die internationale Staatengemein- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die
schaft und die Hilfsorganisationen leisten, nur mühsam heutige Generaldebatte im Anschluß an die Regierungs-
und verspätet zu den bedrohten Menschen geschafft erklärung mit den Themenbereichen Europa, Außen-
werden können. Die am stärksten betroffenen Länder und Sicherheitspolitik sowie Entwicklungspolitik und
sind von der Katastrophe um mehrere Jahrzehnte in ihrer Menschenrechte bis 16 Uhr dauern. – Ich höre keinen
Entwicklung zurückgeworfen worden. Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich möchte an dieser Stelle an die Hilfs- und Spen- Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
denbereitschaft der deutschen Bevölkerung appellieren, Herr Bundeskanzler Gerhard Schröder.
die notleidenden, von Hunger und Seuchen bedrohten
Menschen in den mittelamerikanischen Staaten weiter-
hin zu unterstützen. Vergegenwärtigen wir uns die dort Gerhard Schröder, Bundeskanzler: Herr Präsident!
herrschende Not, so werden manche unserer Sorgen und Meine sehr verehrten Damen und Herren! Erstmals in
Probleme – sosehr sie uns auch im Einzelfall drücken – der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland haben
ziemlich klein. Eine zusammenwachsende Welt macht die Wählerinnen und Wähler durch ihr unmittelbares
uns bewußt, daß Not und Elend, auch wenn sie weit von Votum einen Regierungswechsel herbeigeführt.
unserer Haustür entfernt sind, uns nicht gleichgültig las- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
sen dürfen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ich möchte die in Mittelamerika leidenden Menschen Sie haben Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grü-
unserer Hilfsbereitschaft versichern. Den Parlamenten nen beauftragt, Deutschland in das nächste Jahrtausend
der betroffenen Staaten, den Verletzten, Erkrankten und zu führen. Dieser Wechsel ist Ausdruck demokratischer
Hinterbliebenen drücke ich im Namen des Deutschen Normalität und Ausdruck eines gewachsenen demokrati-
Bundestages unser tiefempfundenes Mitgefühl aus. – schen Selbstbewußtseins. Ich denke, meine sehr verehr-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der vorletzten ten Damen und Herren, wir können alle stolz darauf
Woche ist unser ehemaliger Kollege und Vizepräsident sein, daß die Menschen in Deutschland rechtsradikalen
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Bundeskanzler Gerhard Schröder

(A) und fremdenfeindlichen Tendenzen eine deutliche Ab- muß das sagen, auch wenn es Ihnen nicht paßt –: Milli- (C)
fuhr erteilt haben. ardenschwere Haushaltsrisiken wurden ignoriert;
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeord- Einnahmen wurden zu hoch veranschlagt; Ausgaben
neten der F.D.P.) wurden zu niedrig veranschlagt: Jahrelang hat man den
An dieser Stelle möchte ich noch einmal meinem Haushalt nur durch Einmaleffekte ausgeglichen. Deren
Vorgänger im Amt, Herrn Dr. Helmut Kohl, für seine Wirkung ist gleich wieder verpufft. Die großen Haus-
Arbeit und für seine noble Haltung bei der Amtsüberga- haltslasten aber, die schwerwiegenden strukturellen Pro-
be danken. bleme des Bundeshaushaltes, hat man einfach in die Zu-
kunft verlagert.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.) (Dr. Theodor Waigel [CDU/CSU]: Wie sieht
es denn in Niedersachsen aus?)
Vor uns liegen gewaltige Aufgaben. Die Menschen
erwarten, daß eine bessere Politik für Deutschland ge- Nach den jetzt ermittelten Zahlen müßte die jährliche
macht wird. Wir wissen: Ökonomische Leistungsfähig- Neuverschuldung mittelfristig um bis zu 20 Mil-
keit ist der Anfang von allem. Wir müssen Staat und liarden DM höher ausgewiesen werden, als Sie, Herr
Wirtschaft modernisieren, soziale Gerechtigkeit wieder- Waigel, das im Finanzplan gemacht haben. Das ist Ihr
herstellen und sie sichern, das europäische Haus wirt- Problem, und das belastet jeden, der damit fertig werden
schaftlich, sozial und politisch so ausbauen, daß die ge- muß.
meinsame Währung ein Erfolg werden kann. Wir müs- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
sen die innere Einheit Deutschlands vorantreiben; und 90/DIE GRÜNEN)
vor allem und bei allem: Wir müssen dafür sorgen, daß
Meine Damen und Herren, das kann und will ich
die Arbeitslosigkeit zurückgedrängt wird, daß bestehen-
nicht akzeptieren. Deshalb sage ich gleich am Anfang
de Arbeitsplätze erhalten bleiben und neue Beschäfti-
dieser Regierungserklärung: Diese finanzielle Erblast,
gung entsteht.
die uns hinterlassen worden ist, zwingt uns zu einem
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS entschlossenen Konsolidierungskurs.
90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
der PDS) 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei der
Dafür brauchen wir neue Unternehmen, neue Pro- CDU/CSU und der F.D.P.)
dukte, neue Märkte und vor allen Dingen schnellere In- Wir werden angesichts dessen, was wir vorgefunden ha-
(B) novation. Wir brauchen eine bessere Ausbildung und ei- ben, um strukturelle Eingriffe nicht herumkommen. Alle (D)
ne Steuer- und Abgabenpolitik, die vor allem die Kosten Ausgaben des Bundes müssen auf den Prüfstand.
der Arbeit entlastet.
(Zurufe von der CDU/CSU: Ah ja! – So, so!)
Diese Bundesregierung wird die Probleme schultern,
und sie wird die schöpferischen Kräfte, die es in unse- Der Staat muß zielgenauer und vor allen Dingen wirt-
rem Land überreich gibt, mobilisieren. schaftlicher handeln.

Die Bedingungen, unter denen wir an den Start ge- Der Mißbrauch staatlicher Leistungen muß einge-
hen, sind alles andere als günstig. dämmt werden. Subventionen und soziale Leistungen
werden wir stärker als bisher auf die wirklich Bedürfti-
(Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P. – gen konzentrieren.
Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
(Beifall bei der F.D.P.)
90/DIE GRÜNEN)
Die Bürgerinnen und Bürger erwarten von uns nicht,
Entgegen dem, was gelegentlich von der Opposition im daß wir alles in kurzer Zeit schaffen. Aber sie haben ei-
Haus verbreitet wird, hat uns die alte Bundesregierung nen Anspruch darauf, daß wir nicht nur reden – wie das
keineswegs ein bestelltes Haus hinterlassen. bisher getan worden ist –, sondern auch handeln.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Heidi 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/
Knake-Werner [PDS] – Lachen bei der CSU und der F.D.P.)
CDU/CSU)
Wir haben gesagt: Wir wollen nicht alles anders, aber
Das Ergebnis unseres vorläufigen Kassensturzes zeigt vieles besser machen. Daran werden wir uns halten. Das
den Ernst der finanzpolitischen Lage. sagen wir denen, die heute die Schlachten des Wahl-
(Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.) kampfes noch einmal schlagen wollen. Das scheint auch
auf der rechten Seite des Hauses so zu sein. Nur, beson-
Die Verschuldung des Bundes ist auf weit über 1 Billion ders erfolgreich sind Sie nicht gewesen. Das werden Sie
DM getrieben worden. Der laufende Bundeshaushalt ist zugeben müssen.
mit Zinsverpflichtungen von mehr als 80 Milliarden DM
belastet. Das heißt, jede vierte Mark, die der Bund an (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
Steuern und Abgaben einnimmt, muß für diese gewalti- 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten
gen Zinslasten ausgegeben werden. Hinzu kommt – ich der PDS)
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Bundeskanzler Gerhard Schröder

(A) Da gibt es diejenigen, die schon wieder Schwarzma- An ihre Stelle setzen wir eine Politik, die die Eigenver- (C)
lerei betreiben und diesen lähmenden Pessimismus ver- antwortlichkeit der Menschen fördert und sie stärkt. Das
breiten, der unser Land lange genug gehindert hat, die verstehen wir unter der Politik der Neuen Mitte.
nötigen Schritte zur Anpassung an die Wirklichkeit zu
tun. Aber das rufen wir auch denjenigen zu, die meinen, Diesen Weg werden wir partnerschaftlich beschrei-
das jetzt Beschlossene gehe nicht weit genug. ten. Jeder im In- und Ausland kann sich darauf verlas-
sen, daß diese Regierung zu ihrer politischen, aber eben
Wir wollen die Gesellschaft zusammenführen, die tie- auch zu ihrer sozialen Verantwortung steht. Die Hoff-
fe soziale, geographische, aber auch gedanklich- nungen, die auf uns ruhen, sind fast übermächtig.
kulturelle Spaltung überwinden, in die unser Land gera-
ten ist. (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)

(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Aber eine Regierung allein kann das Land nicht verbes-
sern. Daran müssen alle mittun. Je mehr Menschen sich
Wir werden Deutschland entschlossen modernisieren mit ihrer Initiative und ihrer Leistungsbereitschaft an der
und die innere Einheit vorantreiben. Voraussetzung da- Reform unserer Gesellschaft beteiligen, desto größer
für ist eine schonungslose Beurteilung der Lage, aber werden die Erfolge sein.
auch und vor allem das Besinnen auf die Stärken der
Menschen in unserem Land und das Zutrauen darauf, Den Menschen in Deutschland mangelt es nicht an
daß wir es schaffen können. schöpferischen Kräften. Wir werden helfen, sie zur Ent-
faltung zu bringen.
Dieser Regierungswechsel ist auch ein Generations-
wechsel im Leben unserer Nation. Mehr und mehr wird (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
unser Land heute gestaltet von einer Generation, die den 90/DIE GRÜNEN)
zweiten Weltkrieg nicht mehr unmittelbar erlebt hat. Es
wäre nun gefährlich, dies als einen Ausstieg aus unserer Meine Damen und Herren, es ist kein Zweifel: Unser
historischen Verantwortung mißzuverstehen. Jede Gene- drängendstes und auch schmerzhaftestes Problem bleibt
ration hinterläßt der ihr nachkommenden Hypotheken, die Massenarbeitslosigkeit. Sie führt zu psychischen
und niemand kann sich mit der „Gnade“ einer „späten Zerstörungen, zum Zusammenbruch von Sozialstruktu-
Geburt“ herausreden. ren. Den einen nimmt sie die Hoffnung, und den anderen
macht sie angst. Sie belastet unser Gemeinwesen derzeit
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS mit Kosten von jährlich 170 Milliarden DM.
90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten
der PDS) Die Bundesregierung ist sich völlig im klaren dar-
über, daß sie ihre Wahl wesentlich der Erwartung ver-
(B) Für manche ist dieser Generationswechsel eine große dankt, die Arbeitslosigkeit wirksam zurückdrängen zu (D)
Herausforderung. Schon ein Blick auf die Regierungs- können. Genau dieser Herausforderung werden wir uns
bank oder auch in dieses Parlament zeigt, was die große stellen.
Mehrheit unter uns politisch geprägt hat. Es sind die
Biographien gelebter Demokratie. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten
Wir haben den kulturellen Aufbruch aus der Zeit der der PDS)
Restauration miterlebt und mitgemacht. Viele von uns
waren in den Bürgerbewegungen der 70er und Jede Maßnahme, jedes Instrument kommt auf den
80er Jahre engagiert. Die ehemaligen Bürgerrechtsgrup- Prüfstand, um festzustellen, ob es vorhandene Arbeit si-
pen aus der DDR, die gemeinsam mit den ostdeutschen chert oder neue Arbeit schafft. Wir wollen uns jederzeit
Sozialdemokraten die friedliche Revolution mitgestaltet – nicht erst in vier Jahren – daran messen lassen, in wel-
haben, chem Maße wir zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit
beitragen.
(Widerspruch bei Abgeordneten der
CDU/CSU) Die Steuerreform, mit der wir in diesen Tagen be-
ginnen, ist dazu ein erster Schritt. Wir werden nicht
sind an dieser Regierung beteiligt. weitere 16 Jahre über die Notwendigkeit einer Steuerre-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS form reden und das Für und Wider der Interessengrup-
90/DIE GRÜNEN) pen abwägen. Nein, meine Damen und Herren, wir ma-
chen diese Steuerreform.
Diese Generation steht in der Tradition von Bürger-
sinn und Zivilcourage. Sie ist aufgewachsen im Aufbe- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
gehren gegen autoritäre Strukturen und im Ausprobieren 90/DIE GRÜNEN)
neuer gesellschaftlicher und politischer Modelle. Jetzt ist
sie – und mit ihr die Nation – aufgerufen, einen neuen Die Reform basiert auf der Einsicht in die ökonomi-
Pakt zu schließen, gründlich aufzuräumen mit Stagna- schen Notwendigkeiten. Sie verbindet modernen Prag-
tion und Sprachlosigkeit, in die die vorherige Regierung matismus mit einem starken Sinn für soziale Fairneß. Im
unser Land geführt hat. Mittelpunkt steht die Entlastung der aktiv Beschäftigten
und ihrer Familien sowie der kleinen und mittleren Un-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ternehmer.
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
PDS) (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Wann?)
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Bundeskanzler Gerhard Schröder

(A) Deren Innovationskraft wollen und werden wir stärken. Wir werden – das ist schon an unseren ersten Schrit- (C)
ten sichtbar – das Steuerrecht transparenter
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN) (Lachen bei der CDU/CSU)
Beides zusammen wird helfen, Arbeitslosigkeit abzu- und damit effizienter machen.
bauen, neue Arbeitsplätze zu schaffen und bestehende
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
zu sichern.
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Unsere Steuerreform erschließt Entlastungen von ins-
Überflüssige Steuersubventionen sollen abgeschafft und
gesamt 57 Milliarden DM.
wertvolle Steuergelder nicht länger in unsinnigen Steu-
(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Wann?) ersparmodellen verschwendet werden.
Nach der Gegenfinanzierung bleiben Bürgerinnen und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
Bürgern sowie Unternehmen 15 Milliarden DM als 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten
Nettoentlastung. Die Einkommensteuersätze werden der PDS)
nachhaltig gesenkt, das Kindergeld wird erhöht. Über
Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, einen
die Legislaturperiode betrachtet, wird das einer durch-
Satz zu der im Koalitionsvertrag angekündigten umfas-
schnittlich verdienenden Familie mit zwei Kindern eine
senden Verbreiterung der Bemessungsgrundlage sa-
Nettoentlastung von 2 700 DM im Jahr bringen.
gen. Interessierte Kreise haben ja so getan, als wollten
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS wir mit unserer Steuerreform den Unternehmern buch-
90/DIE GRÜNEN) stäblich die Butter vom Brot nehmen. Dazu ist zu sagen,
daß in den vergangenen Jahren nur einige wenige von
Steuerschlupflöcher werden wir stopfen, ungerecht-
Steuerentlastungen profitiert haben. Die große Mehrheit
fertigte Vergünstigungen werden wir abbauen. Das
hat unter Steuerbelastungen leiden müssen. Jede ver-
macht deutlich, daß wir die Lasten in unserer Gesell-
nünftige Steuerreform hat diesen von Ihnen verursachten
schaft gerechter verteilen.
Trend erst einmal zu stoppen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN)
90/DIE GRÜNEN)
Wir werden auch die Unternehmensbesteuerung
Inzwischen melden sich – und das ist gut so – immer
grundlegend reformieren. Unternehmenseinkünfte sollen
mehr Ökonomen und weitsichtige Unternehmer zu
mit höchstens 35 Prozent besteuert werden.
Wort, die sehen, daß diese Steuerreform für sie eine
(B) (Michael Glos [CDU/CSU]: Ja, am Sankt- große Chance ist. Sie sehen die Perspektive, die wir mit (D)
Nimmerleins-Tag!) unseren schrittweisen Entlastungen aufzeigen. Ich habe
überhaupt keine Scheu, den Begriff „schrittweise“ dick
Dafür schaffen wir jetzt die gesetzlichen Voraussetzun-
zu unterstreichen. Für die Betroffenen im Land ist es
gen. Wir entlasten damit den Mittelstand, dem – ich sage
nämlich besser, sie bekommen schrittweise etwas in die
es noch einmal – eine Schlüsselrolle bei der Schaffung
Hand, als daß sie über Jahrzehnte lediglich mit Rederei-
von Arbeitsplätzen zukommt.
en vertröstet werden. In der Tat unterscheiden wir uns,
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS was das Machen von Politik angeht.
90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
Meine Damen und Herren, auch sonst haben wir ent- 90/DIE GRÜNEN)
gegen dem, was gelegentlich verbreitet wird, die Anlie-
Die Menschen im Land sehen die Trendwende, die
gen des Mittelstandes berücksichtigt.
wir eingeleitet haben: Entlastung und Vereinfachung
(Lachen bei der F.D.P.) statt wie bisher immer höhere Sätze und immer weniger
Transparenz. Ich denke, alle diejenigen, die sich wirk-
Der Verlustvortrag bleibt erhalten. Ein einjähriger Ver-
lich mit inhaltlichen Fragen beschäftigen, nehmen be-
lustrücktrag bleibt ebenfalls noch für Verluste, die 1999
reitwillig unsere Einladung an, in einer gemeinsamen
und 2000 entstehen und nicht mehr als 2 Millionen DM
Kommission über die Strukturreform des Steuerrechtes
betragen. Die Wiederanlage von Gewinnen aus der Ver-
begleitend zu beraten.
äußerung von Grund und Boden und Gebäuden wird wie
bisher nach § 6 b Einkommensteuergesetz begünstigt. Eines will ich allerdings denen, die uns in den letzten
Wochen mit schrillsten Vorwürfen überzogen haben, sa-
Die Sonder- und Ansparabschreibungen für die Exi-
gen: Niedrige und einfache Steuersätze wie zum Bei-
stenzgründer können unverändert in Anspruch genom-
spiel in den USA zu wollen, gleichzeitig aber an einer
men werden. Für kleine und mittlere Betriebe bleiben sie
hohen Zahl von Ausnahmetatbeständen wie bisher in
bis zum Jahr 2000 erhalten.
Deutschland festzuhalten, das geht nicht.
Die Tarifermäßigung für Veräußerungsgewinne wird
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
durch rechnerische Verteilung des Gewinns nur umge-
90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten
staltet; sie wird nicht gestrichen. Damit werden zwar
der PDS)
– das gilt es einzuräumen – Verlustzuweisungsmodelle
eingedämmt, aber für die Betriebsnachfolge wird das Wir werden – das ist Teil des Konzeptes zur Entla-
keine Verschlechterung bedeuten. stung der aktiv wirtschaftlich Tätigen – die Nutzung der
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998 51
Bundeskanzler Gerhard Schröder

(A) wirtschaftlichen Ressourcen endlich marktwirtschaftli- Wir müssen alle miteinander lernen, die Dinge zu (C)
cher Vernunft unterwerfen. Deshalb steigen wir sofort in verknüpfen und in solchen Zusammenhängen zu den-
eine ökologische Steuer- und Abgabenreform ein. Wir ken: Wir stehen nicht für eine rechte oder linke Wirt-
vollziehen damit, meine sehr verehrten Damen und Her- schaftspolitik, sondern für eine moderne Politik der so-
ren, eine längst überfällige Kehrtwende. Natur und zialen Marktwirtschaft.
Energie als endliche und mithin knappe Güter werden (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und
über den Preis verteuert mit dem einzigen Ziel, Arbeit, der F.D.P.)
die reichlich vorhanden ist, billiger zu machen, damit
mehr Menschen Arbeit haben. Die Bundesregierung macht endlich wieder Wirtschafts-
politik. Wir eröffnen den Menschen die Perspektive der
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS Selbständigkeit. Wer eine Existenz gründen, eine gute
90/DIE GRÜNEN) Idee vermarkten will, dem werden wir nach Kräften hel-
Ich unterstreiche es auch hier noch einmal: Es geht uns fen. Wir wissen, daß unsere Banken bei der Bereitstel-
nicht um die Erschließung einer weiteren Einnahme- lung von Geld für Unternehmensgründungen immer
quelle für den Staat. noch zu zögerlich sind. Sie nennen das Risikokapital.
Für uns ist das Chancenkapital, das Unternehmensgrün-
(Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.) dern helfen soll. Darauf legen wir Wert.
Mit der Energiebesteuerung folgen wir dem Beispiel un- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
serer Nachbarn in Dänemark, den Niederlanden und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Österreich. Wir lösen damit die Probleme einer moder- Neuesten Umfragen zufolge geben heute mehr als die
nen Gesellschaft mit den Mitteln einer modernen Gesell- Hälfte derer, die demnächst die Schule oder die Univer-
schaft. sität abschließen werden, als Ziel die berufliche Selb-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS ständigkeit an. Das wäre vor gar nicht so langer Zeit
90/DIE GRÜNEN) noch undenkbar gewesen. Aber die neue Gründerzeit –
das ist auch gut so – hat längst begonnen. Wir als Regie-
Die Einnahmen – das ist der Kernpunkt – aus der rung haben ihre Zeichen begriffen, und wir werden dafür
Energiesteuer verwenden wir nur zur Senkung der ge- Zeichen setzen.
setzlichen Lohnnebenkosten. Mit den Anreizeffekten der
Wir werden dies vor allem für den Mittelstand tun.
Energiesteuer fördern wir die Schaffung neuer Arbeits-
Moderne Mittelstandspolitik ist für uns: weniger Büro-
plätze in nachhaltigen Zukunftstechnologien. Gerade bei
kratie, schnellere Innovation, besserer Zugang zu den
den Lohnnebenkosten ist über die Jahre hinweg über die
neuen Technologien, effizientere Vermarktung sowie
Notwendigkeit ihrer Senkung geredet worden. Unter der
(B) alten Regierung sind sie Jahr für Jahr gestiegen. Wir Hilfe und Unterstützung auf internationalen Märkten. (D)
Dies wird Kennzeichen einer mittelstandsorientierten
machen damit Schluß, meine Damen und Herren.
Politik der neuen Bundesregierung sein.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
90/DIE GRÜNEN) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Damit führen wir im Rahmen dessen, was europäisch Ich habe darauf hingewiesen, daß das auch für die Entla-
machbar und – auch das gilt es zu erkennen – sozial stung von Steuern und Abgaben gilt.
vertretbar ist, Marktwirtschaft in die Ressourcennutzung
Im übrigen: Wenn wir in der Altersvorsorge mehr
ein. Wir setzen dabei auf die Beschäftigungseffekte ei-
private Vorsorge wollen, dann müssen wir die Nettoein-
ner zukunftsorientierten Produktion.
kommen auch so entlasten, daß sich die Menschen diese
Das ist für uns moderne Steuer- und Wirtschafts- private Vorsorge buchstäblich leisten können, sonst
politik. Wir streiten eben nicht um die Scheinalterna- funktioniert das nämlich nicht.
tive: Angebots- oder Nachfrageorientierung. Dieser (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Streit führt nämlich zu nichts. Angebots- und Nachfra-
georientierung stehen nicht im Widerspruch zueinander. Wenn wir die Leistungsbereitschaft der Menschen
Wir brauchen eine Nettoentlastung der Haushalte zur fördern wollen, dann müssen wir dafür sorgen, daß sich
Belebung der Binnenkonjunktur, damit die Menschen Leistung auszahlt.
auch kaufen können, was die Wirtschaft herstellt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Meine Damen und Herren von der F.D.P., das Pro-
blem besteht darin, daß Sie Leistung immer nur als die
Durch Marktöffnung und Entbürokratisierung, durch Leistung ganz weniger ganz oben verstehen.
die Förderung von Innovation und Zukunftsindustrien
verbessern wir die Angebotsbedingungen für Produkte, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
neue Märkte und neue Verfahren. Beides gehört zu- 90/DIE GRÜNEN)
sammen. Das eine gegen das andere auszuspielen ist Wir verstehen Leistung in erster Linie als Leistung der
töricht. Krankenschwestern, der Ingenieure, als Leistung der
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Facharbeiterinnen und Facharbeiter.
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)
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Bundeskanzler Gerhard Schröder

(A) Die werden wir entlasten, meine Damen und Herren, auf Dabei setzen wir vor allem auf die Innovations- und (C)
sie kommt es nämlich in dieser Zeit und in diesem Land Entwicklungspotentiale bei den erneuerbaren Ener-
an. gien. Wir setzen auf eine konsequente Nutzung der Ein-
sparmöglichkeiten: bei der Stromerzeugung, bei elektri-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
schen Geräten, bei den Gebäuden, aber auch im Stra-
90/DIE GRÜNEN – Beifall bei Abgeordneten
ßenverkehr. Mit der Energiewirtschaft werden wir aus-
der F.D.P.)
kömmliche Lösungen zu einer Zukunft ohne Atom-
Das meinen wir, wenn wir von einer neuen Politik spre- kraftwerke vereinbaren.
chen, einer Politik, die eben nicht in Kästchen denkt,
Die Koalitionspartner sind sich darin einig, daß die
sondern die die Probleme im Zusammenhang begreift.
Beendigung der Kernenergienutzung im Konsens erfol-
Deshalb sage ich: Unsere Steuerreform ist ein guter gen soll – ohne daß es zu Regreßansprüchen kommt.
Anfang. Aus den Gesprächen der vergangenen Jahre wissen wir,
daß wir zu einer einvernehmlichen Lösung kommen
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
können. Sie ist an dem Widerstand – dem unverständli-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
chen Widerstand – auf der rechten Seite dieses Hauses
Aber damit ist das Ziel eines überschaubaren und lei- gescheitert.
stungsgerechten Steuersystems nicht erreicht. Dieses
Ziel werden wir Schritt für Schritt verwirklichen, und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
Sie werden jeden einzelnen Schritt aufmerksam und si- 90/DIE GRÜNEN)
cher auch kritisch begleiten dürfen – aber aus der Oppo- Das Problem der Entsorgung radioaktiver Abfälle – das
sition heraus, meine Damen und Herren. gilt es zu erkennen – bleibt uns und unseren Nachkom-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS men allerdings noch auf Jahrtausende erhalten.
90/DIE GRÜNEN) Das bisherige Entsorgungskonzept ist inhaltlich ge-
In den zurückliegenden Jahren ist viel über die Vor- scheitert. Wir werden statt dessen einen nationalen Ent-
und Nachteile des sogenannten Standorts Deutschland sorgungsplan erarbeiten. Entsorgung wird auf direkte
diskutiert worden. Der Begriff ist ein wenig verräterisch: Endlagerung beschränkt werden.
„Standort“, das kann auch – und das war es ja auch in (Beifall bei Abgeordneten der SPD und dem
der letzten Zeit – „Stillstand-Ort“ sein. Wir machen die- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
ses Land wieder zu einem Bewegungs-Ort.
Atommülltransporte quer durch die Republik, die
Meine Damen und Herren, wir werden mit der Ener- nur durch massiven Polizeischutz zu sichern sind, pas-
(B) giewirtschaft und den Umweltverbänden neue Wege der sen nicht zu einer auf Konsens und Zukunftsfähigkeit (D)
Energieversorgung beschreiten. ausgerichteten Demokratie.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN) 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten
Die Nutzung der Kernenergie ist gesellschaftlich der PDS)
nicht akzeptiert. Allerdings gilt es hier zu bedenken, daß die vorherigen
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Regierungen völkerrechtlich bindende Verträge über die
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wider- Rücknahme atomarer Abfälle abgeschlossen haben.
spruch bei der CDU/CSU) Auch das müssen wir mit unseren Partnern in England
und Frankreich einvernehmlich regeln. Wir wollen sol-
Sie ist mithin auch volkswirtschaftlich nicht vernünftig. che Transporte nur noch dann zulassen, wenn am Kraft-
Das ist der Grund, warum wir sie geregelt auslaufen las- werk selbst keine genehmigten Zwischenlagerkapazitä-
sen werden. ten existieren.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des In einem neuen Energiemix werden wir auch Stein-
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) kohle und Braunkohle brauchen. Dabei drängen wir auf
Für die Bundesregierung steht dabei nicht ein Ausstieg die Verwendung modernster Technik mit hohen Wir-
im Mittelpunkt. Es geht vielmehr um den Einstieg in kungsgraden und auf eine bessere Nutzung von Fern-
eine zukunftsfähige Energieversorgung. wärme und Kraft-Wärme-Kopplung.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Der Anteil der Kernenergie wird schrittweise reduziert Den Kohlekompromiß vom März 1997 werden wir
und schließlich ganz ersetzt. umsetzen und in Brüssel absichern. Bei der sozial ver-
träglichen Neustrukturierung des deutschen Kohleberg-
(Zuruf von der CDU/CSU: Wann?)
baus brauchen wir rechtzeitig eine Orientierung auch für
Dies, meine Damen und Herren, ist ein gewaltiges die Zeit nach dem Jahre 2005. Es geht uns auch hier
Investitionsprogramm, das auch und gerade neue Ar- darum, Planungssicherheit für die Unternehmen und
beitsplätze in diesen Bereichen schaffen wird. materielle Sicherheit für die Beschäftigten zu schaffen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS Die Klimaforscher und die vorbildlichen Unterneh-
90/DIE GRÜNEN) men, die vor ein paar Tagen mit dem Bundesum-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998 53
Bundeskanzler Gerhard Schröder

(A) weltpreis ausgezeichnet worden sind, haben der Politik Ich sage es deutlich: Diese Bundesregierung will kei- (C)
ins Stammbuch geschrieben – wir werden das beachten –: nen Bevormundungsstaat, nein, sie will einen Staat, der
Gerade beim Klimaschutz dürfen die Verantwortlichen die Menschen ermutigt. Aber den Staat schlanker und
nicht auf Erkenntnisse über weitere Schädigungen unse- effizienter zu machen, das darf nicht heißen, daß man
rer Umwelt warten; sie müssen aktive Vorsorge treffen. ihn dort schwächt, wo vor allem die Schwächeren auf
Wir werden das tun. ihn angewiesen sind.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN) 90/DIE GRÜNEN)
Meine Damen und Herren, der Staat und die ver- Wir wollen deshalb einen Staat, der die Bürgerrechte
schiedenen Wirtschaftszweige müssen ihre Zusammen- schützt und erweitert. Wir beharren auf dem Schutz der
arbeit verbessern, um auf diese Weise Synergieeffekte Schwächeren durch das Recht und durch den Staat.
besser nutzen zu können. Wo die Bundesregierung das
Ihrige dazu tun kann, da wird sie es tun. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wir werden die Verwaltung schlanker und effizien-
ter machen, und wir werden hemmende Bürokratie rasch Ich will keine Gesellschaft, in der sich einige wenige
beseitigen. Beispielsweise werden wir die Vielzahl ver- Schutz kaufen können und die Mehrheit Angst vor Ver-
schiedener Umweltbestimmungen in einem Umweltge- brechen hat.
setzbuch zusammenfassen. Dabei werden wir überflüs- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
sige Vorschriften streichen und auf diese Weise die Re- 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten
gelungsdichte vermindern. der PDS)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Deshalb sage ich: Härte gegen das Verbrechen und seine
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Erscheinungsformen, aber eben auch Härte gegen die
Eine grundlegende Justizreform werden wir zügig in Ursachen des Verbrechens, das ist meine, das ist unsere
Angriff nehmen. Unsere Zivil- und Strafjustiz ist heute Vorstellung von einem Staat, der seine Schutzaufgabe
noch aufgebaut wie vor hundert Jahren. Sie muß ent- erfüllt.
schlackt und sie muß modernisiert werden. Die Bürge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
rinnen und Bürger wollen und sollen schneller zu ihrem 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten
Recht kommen, und die Gerichte müssen entlastet wer- der PDS – Widerspruch bei der CDU/CSU)
den. Auch um die Vereinfachung von Gesetzestexten
Wir werden deshalb die Kriminalität in all ihren Er-
(B) werden wir uns zielstrebig kümmern. Die Rechte der (D)
Opfer von Verbrechen werden wir stärken. Dies gilt scheinungsformen entschlossen bekämpfen. Die Polizei
ganz besonders für die Schwächsten in unserer Gesell- kann sich darauf verlassen, daß wir sie bei dieser Auf-
schaft: mißbrauchte und mißhandelte Kinder. gabe unterstützen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Chaostage! –
90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten Weitere Zurufe von der CDU/CSU)
der PDS) Aber zugleich gilt: Eine gute Politik der inneren Sicher-
Wo immer das möglich ist, werden wir den Täter- heit darf nicht auf Polizei und Strafrecht beschränkt
Opfer-Ausgleich stärken und die gemeinnützige Arbeit bleiben.
als moderne Sanktionsform ausbauen. Es ist im Interesse (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
der Gesellschaft, daß vor allem Straftäter, die bislang zu BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
kurzen Freiheitsstrafen verurteilt wurden, nicht zusätzli-
che Kosten für den Staat verursachen, sondern gemein- Ein eigenverantwortliches Leben setzt zuallererst
nützige Arbeit leisten. Soweit die Gemeinschaft nicht voraus, für sich selbst sorgen zu können. Wie sollen un-
vor ihnen geschützt werden muß, sollen sie sich für die sere jungen Menschen unsere Gesellschaft und unsere
Gemeinschaft nützlich machen. Zukunft gestalten, wenn wir ihnen nicht einmal die
Möglichkeit geben, für sich selber zu sorgen? Hierin
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS liegt der Grund dafür, warum die Bundesregierung ein
90/DIE GRÜNEN) Sofortprogramm auflegen wird, um 100 000 Jugendliche
Große Aufmerksamkeit richten wir auf die Förderung so schnell wie möglich in Ausbildung und Beschäfti-
der Verfahren zur Schlichtung. Es muß Schluß gemacht gung zu bringen.
werden mit der verhängnisvollen Entwicklung, immer (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
mehr zivile, soziale, wirtschaftliche oder sogar politi- 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten
sche Streitfälle auf die Gerichte abzuwälzen. Die Mög- der PDS)
lichkeiten, Streitfälle außergerichtlich zu regeln, werden
wir stärken und bürgernah ausgestalten. Wir verbinden Ich sage es noch einmal vor diesem Hohen Hause:
damit den Appell an Bürgerinnen und Bürger, aber auch Gerade diejenigen, die die Jugendkriminalität zurück-
an Interessengruppen, diese Möglichkeiten auszuschöp- drängen wollen und dies mit aller Entschiedenheit mit
fen, bevor die Justiz bemüht wird. Hilfe des Staates durchsetzen wollen, haben auf der
54 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998

Bundeskanzler Gerhard Schröder

(A) anderen Seite die Verantwortung, jungen Menschen eine Daß Sie sich beim Thema Ausbildungschancen der jun- (C)
Perspektive für Ausbildung und Arbeit zu geben. gen Leute hier hinsetzen und so tun, als wenn Sie das
nichts anginge, das ist eine Schande. Sie sollten sich
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS schämen!
90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten
der PDS) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten
Wir werden angesichts der Gefährdungen, die sich für der PDS)
die gesamte Gesellschaft aus einem Mangel an Perspek-
tive ergeben, bei der Realisierung dieses Programmes Für uns jedenfalls ist klar – auch wenn das die rechte
einen besonderen Schwerpunkt in Ostdeutschland set- Seite dieses Hauses nicht interessiert – –
zen. Dies ist – zugegeben – ein erster Schritt, aber ein
eminent wichtiger, um dort helfen zu können. (Zurufe von der CDU/CSU: Pfui! – Weitere
Zurufe von der CDU/CSU)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) – Da merkt man, welches Interesse Sie an diesen Fragen
haben.
Meine Damen und Herren, Ziel einer aktiven Ar-
beitsmarktpolitik muß es sein, den Menschen eine Brük- (Weitere lebhafte Zurufe von der CDU/CSU)
ke in den ersten Arbeitsmarkt zu bauen. Wir alle wissen,
Meine Damen und Herren, für uns ist klar – in diesem
daß eine gute Ausbildung die beste Voraussetzung für Punkt lassen wir uns nicht beirren –: Wirtschaft und öf-
eine gesicherte berufliche Zukunft ist. Unser duales Sy- fentliche Verwaltung stehen in der Pflicht, die Lehr-
stem der Ausbildung ist noch immer vorbildlich in Eu- stellenzahl zu erhöhen und nicht zu senken.
ropa. Aber die schleichende Verstaatlichung der Ausbil-
dung muß aufhören. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Lachen und Widerspruch bei der CDU/CSU)
– Das ist so. Sie haben es noch immer nicht verstanden. Wir wollen und wir werden erreichen, daß alle Ju-
gendlichen einen qualifizierten Ausbildungsplatz be-
Das ist tatsächlich so. Sie werden es nie verstehen.
kommen. Das ist ihre Erwartung an Politik, und die
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS werden wir erfüllen, sosehr Sie auch dagegen schimp-
90/DIE GRÜNEN) fen.
Sie interessiert das nicht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN)
(B) (Lebhafter Widerspruch bei der CDU/CSU) (D)
Bei der Mobilisierung der Ausbildungsplätze setze
Aber mich macht das besorgt. Daß Sie an den jungen ich auf die Mitarbeit der Wirtschaft. Ich weiß: Hundert-
Leuten nicht interessiert sind, merkt man an Ihrem Ge- tausende von Handwerksmeistern sowie kleine und
brüll. Man merkt an der Art und Weise, wie Sie mit die- mittlere Unternehmen tun jedes Jahr ihre Pflicht. Aber
sem Thema umgehen, bei den großen Unternehmen muß zugelegt werden; das
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS gilt es gemeinsam zu erreichen.
90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
der PDS)
90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten
wie wenig Sie das Thema der Ausbildungsperspektiven der PDS)
für junge Leute interessiert.
Ich setze bei der Mobilisierung von Ausbildungsplätzen
(Widerspruch bei der CDU/CSU und der darauf, daß wir keine Zwangsmaßnahmen benötigen. –
F.D.P.) Jetzt könnt ihr auch klatschen!
Ich sage Ihnen eines: Die Zahl der Ausbildungsplätze, (Heiterkeit bei der SPD)
die die Wirtschaft zur Verfügung gestellt hat, ist in Ihrer
Regierungszeit kontinuierlich zurückgegangen. Das ist Aber ich sage unseren Jugendlichen, daß ihr morali-
das Problem, vor dem wir stehen. sches Recht auf Arbeit und Ausbildung – auch das muß
ausgesprochen werden – die Pflicht einschließt, Ange-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS bote zur Berufsausbildung anzunehmen. Mobilität darf
90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten kein Fremdwort in diesem Sektor sein oder werden.
der PDS)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Das sollten Sie nicht lächerlich machen. Darüber sollten
Sie nicht lachen. Denn der wirkliche Skandal in unserer Auch folgendes muß deutlich werden: Nicht jeder
Gesellschaft ist, daß die jungen Leute von Ihnen allein wird seinen Traumberuf erlernen können. Wir werden
gelassen worden sind. Das ist das Problem. Deshalb sind kein Volk von Bankkaufleuten und Versicherungskauf-
Sie auch abgewählt worden. leuten werden können, bei allem Respekt vor dieser Be-
rufsgruppe.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und der PDS) (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998 55
Bundeskanzler Gerhard Schröder

(A) Im europäischen Vergleich brauchen junge Menschen Die Hochschulen werden wir stärken. Sie müssen (C)
bei uns zu lange, bevor sie berufliche Verantwortung Zentren der Ideenfindung und der Problemlösung sein.
übernehmen können. Uns geht es nicht um eine Verkür- Sie sollen nach unserer Auffassung auch Zukunftswerk-
zung der Ausbildungszeit und schon gar nicht um eine stätten werden. Wir müssen den Trend zur Abwande-
Verschlechterung der Ausbildung; es geht uns vielmehr rung unserer Grundlagenforscher stoppen und gleichzei-
um eine bessere Verteilung der Ausbildung auf die Le- tig die anwendungsorientierte Forschung nachhaltig för-
benszeit. Das ist das, was im Vordergrund unserer Be- dern.
mühungen steht. Ausbildung, Ausbildungsordnungen
Wir brauchen eine bessere Bildungsplanung, und wir
und Ausbildungsinhalte werden wir flexibler gestalten.
werden sie machen. Denn wir können es uns nicht län-
Die Verbesserung und Modernisierung beruflicher Bil-
ger leisten, daß ein bedenklich großer Teil unseres wis-
dung und Qualifikation sollte ständiges Gesprächsthema
senschaftlichen Nachwuchses völlig vorbei an den Er-
im Bündnis für Arbeit sein.
fordernissen des Arbeitsmarktes qualifiziert wird.
Wir wollen uns fit machen für die europäische Wis- Auch an Universitäten und Fachhochschulen muß es
sensgesellschaft. Darunter soll man sich nicht eine Ge- Wettstreit geben. Konkurrenz belebt auch dort das Ge-
sellschaft aus lauter Superhirnen und Weißkitteln vor- schäft.
stellen. Wissensgesellschaft, meine Damen und Herren,
das heißt für mich: Qualifikationsgesellschaft. Das be- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
trifft die ganze Breite unserer Gesellschaft, das betrifft F.D.P.)
alle Menschen und nicht nur die wissenschaftlich-
Die Hochschulen müssen viel stärker als bisher auch
technischen Eliten.
zu Existenzgründungen ermuntern. Forschung und
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Lehre sollen durch Budgetierung und mehr Autonomie
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) entbürokratisiert und so wettbewerbsfähiger gemacht
werden. Das Dienstrecht des Hochschulpersonals wer-
Das ist der Grund, warum die Bundesregierung die den wir umfassend modernisieren, um auch hier mehr
Aufgabe einer Bildungs- und Qualifizierungsoffensive Anreize für Leistung und Innovation zu schaffen.
rasch anpacken wird. Wir wollen bestmögliche Bildung
für alle, mehr Chancengleichheit, die Förderung unter- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
schiedlicher Begabungen, mehr Effizienz, aber auch des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
mehr Wettbewerb. F.D.P.)
Wir sollten uns nichts vormachen: Der Transfer von
Diese Regierung hat nichts gegen die Herausbildung
Wissenschaft zur Wirtschaft liegt in Deutschland im ar-
von Eliten. Auch unsere demokratische Gesellschaft
(B) gen. Die Transferzeiten, also die Umsetzung wissen- (D)
braucht Eliten. Allerdings kommt es mir darauf an, was
schaftlicher Erkenntnisse in die Produktionswirklichkeit,
man unter Elite und ihrer Herausbildung versteht. Ge-
sind bei uns noch immer viel zu lange. Bei der Innovati-
prägt von eigener Erfahrung sage ich: Zur Elite gehört
onsgeschwindigkeit hinken wir hinter den USA, aber
man nicht durch die Herkunft der Eltern; zur Elite gehört
auch den europäischen Ländern, die vergleichbar sind,
man durch Leistung.
hinterher. Die USA verdienen jedes Jahr mehr als
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 30 Milliarden DM mit dem Export von Verfahren, von
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Lizenzen und von Patenten ins Ausland. Unsere Wirt-
PDS) schaft hingegen muß heute mehr Ingenieurleistungen
importieren, als sie exportiert. Das kann, das darf nicht
Eliten in einer Demokratie erwachsen aus gleichen so bleiben.
Chancen im Zugang zu den Bildungseinrichtungen. Das
ist wichtig, meine Damen und Herren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten Forschung, Lehre und Wirtschaft haben sich viel zu
der F.D.P. und der PDS) weit voneinander entfernt. Die Hochschulen stehen vor
Umwälzungen, die denen der 70er Jahre vergleichbar
Sie erwachsen aus dem, was bei gleichen Zugangsvor- sind. Dieser Herausforderung wird sich die Bundesregie-
aussetzungen zu den Bildungseinrichtungen der einzelne rung stellen – wieder einmal, bin ich versucht zu sagen.
in eigener Verantwortung daraus macht. Eines jedenfalls Wir werden die Investitionen in Forschung und Bildung
muß gelten: Der Geldbeutel der Eltern darf nicht über in den nächsten fünf Jahren verdoppeln.
die Lebenschancen in unserer Gesellschaft bestimmen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS Wir werden auch auf europäischer Ebene die Anstren-
90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten gungen bei der Entwicklung neuer Technologien ver-
der PDS) stärken. Zusammen mit unseren Partnern wollen wir
Das ist der Grund, warum wir bereits 1999 mit der Re- transeuropäische Netze und eine moderne wissen-
form der Ausbildungsförderung beginnen werden. Wir schaftliche Infrastruktur schaffen.
werden dabei alle ausbildungsbezogenen staatlichen Es ist schon richtig: Kreativität, künstlerische Phanta-
Leistungen zusammenfassen. sie, handwerkliches Können, die geniale Idee, der Mut
56 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998

Bundeskanzler Gerhard Schröder

(A) zur bahnbrechenden Neuerung – all das kann vom Staat Das Bündnis für Arbeit ist der richtige Ort, um sich (C)
nicht herbeiorganisiert werden. Es ist das Ergebnis eines den drängenden Fragen zu stellen: Welche Spielräume
Prozesses von zahllosen kleinen Verbesserungen, an de- kann die Abgabenpolitik des Staates, kann die Tarifpo-
nen Tausende von kreativen, phantasievollen, kundigen litik schaffen? Was bedeutet es, die Sozialleistungen
und auch mutigen Menschen tagtäglich arbeiten. Deren stärker auf die Bedürftigen zu konzentrieren? Welche
Bemühungen zu unterstützen ist eine unserer wichtig- Spielräume schaffen wir damit für Investitionen, und
sten Aufgaben. welche Möglichkeiten bieten Instrumente wie Investiv-
lohn und ähnliches? Welche Chancen bieten sich für uns
Auf die jungen Menschen – ich unterstreiche es noch
alle, auch für die Beschäftigten, bei der Flexibilisierung
einmal – kommt es dabei ganz besonders an. Sie haben
der Arbeitszeiten?
die Chance, Erfahrungen zu machen, die die Älteren –
auch in diesem Hohen Haus – nie machen konnten. Wir Ich erwarte auch, daß wir in diesem Bündnis für Ar-
wollen, wir müssen und wir werden dafür sorgen, daß beit und Ausbildung die einmaligen Gelegenheiten nut-
sie nicht die Erfahrung machen, ausgeschlossen zu sein, zen, die uns die neuen politischen Konstellationen in Eu-
noch bevor sie in den Prozeß einsteigen konnten, den sie ropa bieten. Der Kampf gegen Arbeitslosigkeit kann mit
eigentlich gestalten sollen. dieser Bundesregierung nun endlich auch als europäi-
sche Frage behandelt werden.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
Aber machen wir uns nichts vor: Die Bewältigung 90/DIE GRÜNEN)
des Jahrhundertproblems Arbeitslosigkeit kann nur ge- In bezug auf diese Frage haben unsere Partner in Europa
lingen, wenn alle gesellschaftlich Handelnden dabei – bei allem Respekt vor sonstigem – lange gewartet.
mitmachen. Die eine, einzelne Maßnahme zur Lösung
Mit der Steuerreform, der Entlastung bei den Lohn-
des Problems gibt es nicht. Steuerpolitik, Abgabenredu-
nebenkosten und dem Sofortprogramm gegen Ju-
zierung, Zukunftsinvestitionen und Tarifpolitik müssen
gendarbeitslosigkeit bringt die Bundesregierung gute
einander sinnvoll ergänzen. Erst im Zusammenwirken
Vorleistungen in das Bündnis für Arbeit ein.
aller volkswirtschaftlichen Akteure kann dauerhaft mehr
Beschäftigung entstehen. Ich betone: im Zusammenwir- (Beifall bei der SPD)
ken aller volkswirtschaftlichen Akteure. Das ist die Er-
Ich erwarte, daß auch die anderen wirtschaftlich Han-
fahrung, die man in anderen Ländern hat machen kön-
delnden unserem Beispiel folgen. Die Menschen haben
nen.
ein Recht darauf, daß wir uns der Verantwortung stellen
Das ist auch die positive Erfahrung, die in vergange- und die Chancen entschlossen ergreifen, die uns ein
(B) nen Zeiten mit einem funktionierenden Modell Bündnis für Arbeit in Deutschland, mitten in einem so- (D)
Deutschland gemacht worden ist. Die deutschen Unter- zialer gewordenen Europa, eröffnet.
nehmer stehen dabei ebenso in der Verantwortung wie
Niemand erwartet von diesem Bündnis Patentlösun-
die Sozialverbände und die Gewerkschaften. Sie alle la-
gen. Aber alle stehen in der Pflicht, das Beste zu geben:
de ich zu einem Bündnis für Arbeit und für Ausbil-
Zusammenarbeit, Zukunftswillen und Zuversicht – das
dung ein. Ich bin froh, bestätigen zu können: Das erste
sind die Koordinaten des Bündnisses für Arbeit und
Treffen wird bereits Anfang Dezember stattfinden.
Ausbildung. Gelingen kann ein solches Bündnis nur,
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS wenn wir uns vorbehaltlos der Wirklichkeit stellen. Das
90/DIE GRÜNEN) mindeste, was die Bürgerinnen und Bürger von uns ver-
Dieses Bündnis wird als ständiges Instrument zur Be- langen können, ist der Wille zur Aufrichtigkeit, zur Be-
kämpfung der Arbeitslosigkeit eingerichtet. Ich weiß in- schreibung der Wirklichkeit. Wir dürfen auch vor unbe-
zwischen, daß die Beteiligten meiner Einladung folgen quemen Wahrheiten nicht haltmachen. Oft genug ist die
und ihren Teil der Verantwortung übernehmen wollen. gesellschaftliche Wirklichkeit verdrängt worden, zuge-
Ich erwarte, daß sich die Gesprächspartner vom Denken deckt mit Lebenslügen und voreiligen Versprechungen.
in angestammten Besitzständen und von überkommenen Ich unterstreiche: Diese Bundesregierung sagt den
Vorstellungen lösen. Das, meine Damen und Herren, gilt Menschen weder: „Alles ist schlecht“, noch sagt sie ih-
für alle Beteiligten. nen: „Alles wird gut.“ Aber sie sagt zum Beispiel, daß
Ich setze darauf, daß wir zu einer vorurteilsfreien Be- es in diesem Land Menschen gibt, die unter den Bedin-
urteilung der Lage kommen und daß unsere Diskussio- gungen nackter Ausbeutung arbeiten müssen.
nen vom fairen Ausgleich zwischen Geben und Nehmen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
geprägt sind. Bündnisse für Arbeit wirken bereits überall des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
mit Erfolg, in unseren Nachbarstaaten, aber auch in un- PDS)
gezählten Betrieben in unserem eigenen Land. Hier in
Deutschland haben sozial verantwortliche Unternehmer Daß solche Beschäftigungen illegal sind, daß sich oft
und tüchtige, ökonomisch denkende Betriebsräte unsere genug auch die Beschäftigten illegal hier aufhalten, das
Mitbestimmung zu einem modernen, weltweit vorbildli- ändert nichts an den menschenunwürdigen Zuständen,
chen Modell entwickelt. Dies werden wir verteidigen die damit verbunden sind und die wir beseitigen müssen.
und ausbauen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten
90/DIE GRÜNEN) der PDS)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998 57
Bundeskanzler Gerhard Schröder

(A) Diese Bundesregierung sagt auch, daß es in diesem Das soziale Netz muß nach unserer Auffassung zu ei- (C)
Land Arbeit gibt, gutbezahlte Arbeit, die an den Sozial- nem Trampolin werden. Von diesem Trampolin soll je-
systemen vorbei als „Schwarzarbeit“ angeboten – und der, der vorübergehend der Unterstützung bedarf, rasch
nachgefragt – wird. Niemand sollte diese Schwarzar- wieder in ein eigenverantwortliches Leben zurückfedern
beit verharmlosen oder aufhören, sie von Rechts wegen können.
zu bekämpfen. Sie ist und bleibt Betrug an der Solidar-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
gemeinschaft.
Das, meine Damen und Herren, meinen wir, wenn wir
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sagen, daß es uns wichtiger ist, Arbeit zu finanzieren, als
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Arbeitslosigkeit bezahlen zu müssen.
PDS)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Aber es gilt zu erkennen, daß Schwarzarbeit erst dann des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
ganz verschwinden wird, wenn sich die reguläre, ver- PDS)
steuerte und sozialversicherte Arbeit wieder lohnt,
In diesen Zielen wissen wir uns übrigens mit der gro-
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) ßen Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland einig; wir
wissen sie hinter uns. Doch die Initiativen der Bundes-
wenn die Menschen für ihre Arbeit wieder mehr Geld
regierung werden kaum ausreichen, den Kostendruck
ins Portemonnaie bekommen. Das ist der Sinn bei den
entscheidend zu lindern. Bei einem gerechten Umbau
Entlastungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
des Sozialstaates sind alle Beteiligten gefragt: die Ver-
Wir werden diese Entlastung vornehmen; Sie haben das
sicherten wie auch die Verbände und die Versiche-
nicht getan.
rungsträger, die Unternehmer und die Gewerkschafter.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Dabei werden wir uns von einem Grundsatz leiten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der lassen: Die Stärke des Sozialstaates bemißt sich nicht an
F.D.P.) den Milliarden, die er ausgibt. Sie muß sich beweisen an
Deshalb wird auch bei der Bekämpfung der illegalen der Qualität der Leistungen, die erbracht werden.
Arbeit der Satz gelten: Hart gegen den Rechtsbruch, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
aber nicht minder hart gegen die Ursachen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
Wie für die innere Sicherheit so gilt auch für die so- F.D.P.)
ziale Sicherheit: Wir wollen alles tun, damit sich alle Damit hier keine Mißverständnisse aufkommen: Un-
Bürger sicher fühlen können. Aber wir haben Grund zu sere Gesellschaft erwirtschaftet genug, um sich den So- (D)
(B) der Annahme, daß es die Systeme der sozialen Siche-
zialstaat leisten zu können. Was wir uns nicht leisten
rung selbst sind, die durch ihre hohen Kosten immer können, sind Ungerechtigkeit und Untätigkeit. Wir
mehr Menschen in die Flucht aus diesen Sozialsystemen brauchen die Menschen in Deutschland nicht auf „Blut,
treiben: in illegale, sozial nicht abgesicherte Arbeit oder Schweiß und Tränen“ einzustimmen. Die Menschen ha-
in Scheinselbständigkeit. Wenn das so ist, heißt das, daß ben gezeigt, daß sie bereit sind zu teilen und zu geben.
eine abstrakte soziale Sicherheit in immer mehr Einzel- Wie sonst, wenn nicht durch den Elan und die Solidari-
fällen konkrete soziale Unsicherheit produziert und daß tät der Menschen im Osten und im Westen hätte es die
die Art, wie wir soziale Sicherheit organisieren, tatsäch- – bei allen Defiziten – doch beachtlichen Leistungen
lich Arbeitsplätze vernichten oder gefährden kann. Des- beim Aufbau der Wirtschaft in den neuen Ländern
halb müssen die Systeme und die Kosten der sozialen geben können? Ich sage ganz deutlich: Wir werden diese
Sicherung insgesamt auf den Prüfstand. Solidarität mit den Menschen im Osten des Landes auch
weiterhin brauchen.
Wir werden die Augen vor solchen Wahrheiten nicht
verschließen, und wir werden auch Konsequenzen dar- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
aus ziehen. 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall der Abg. Michaele Hustedt [BÜND- Wer die dafür nötigen Leistungen zurückfährt, der ge-
NIS 90/DIE GRÜNEN]) fährdet das Erreichte. Wir sind noch immer weit entfernt
von gleichwertigen Lebensbedingungen in Ost und
Erstmals, meine Damen und Herren, geht eine deutsche West.
Bundesregierung daran, mit staatlichen Mitteln die
Lohnnebenkosten zu senken. Die Entlastung der Ar- Das heißt konkret: Der Solidarpakt von 1993 wird
beitskosten durch Senkung der Rentenbeiträge um auch weiterhin das finanzielle Rückgrat des wirtschaftli-
0,8 Prozent zum 1. Januar 1999 wird pünktlich in Kraft chen Aufbaus bleiben. Wir werden die Maßnahmen der
treten. aktiven Arbeitsmarktpolitik in den neuen Ländern, die –
das kennen wir ja schon – vor der Wahl kurzfristig
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS hochgefahren wurden und jetzt, wenn nichts geschähe,
90/DIE GRÜNEN) wieder ausliefen, auf dem bisherigen Niveau verstetigen.
Wir sind darüber hinaus bereit, gezielt Sozialabgaben (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
zu bezuschussen, wenn dadurch weniger produktive Ar- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
beit bezahlbar gemacht werden kann. PDS)
58 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998

Bundeskanzler Gerhard Schröder

(A) Über Bildungs- und Qualifizierungsangebote wollen Wir wollen die Anstrengungen zur Sanierung und (C)
wir möglichst vielen den Weg zurück in den ersten Ar- Gestaltung der Städte verstärken und auch darüber
beitsmarkt ebnen. Dennoch wird eine aktive Beschäfti- wieder mehr Menschen in Beschäftigung bringen.
gungspolitik auf relativ hohem Niveau im Osten
Deutschlands noch für eine ganze Weile notwendig und Ich habe als Bundeskanzler erklärt, den Aufbau Ost
unverzichtbar bleiben. Auch die bislang bis Ende 1998 zur Chefsache zu machen. Die Kompetenzen dafür wer-
befristeten Regelungen zum Investitionsvorrang für den gebündelt. Mir wird ein Staatsminister im Bundes-
Ostdeutschland werden wir fortführen. Diese Bundes- kanzleramt zur Seite stehen, der vor allem für eine sehr
regierung, meine Damen und Herren, weckt auch dort enge Koordination mit den Landesregierungen in den
keine Illusionen. Sie sagt, daß uns noch eine lange und ostdeutschen Ländern sorgen wird.
schwierige Wegstrecke des wirtschaftlichen Aufbaus in
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
den neuen Bundesländern bevorsteht. Aber sie zollt Le-
bensleistung und Biographien der Menschen im Osten Das Bundeskabinett wird alle zwei Monate in einem
Achtung und hohen Respekt. der neuen Länder tagen, um mit den dortigen Landesre-
Die Anstrengungen werden sich lohnen, denn wir ha- gierungen die Lage zu erörtern und konkrete Projekte
ben die Chance, überall in Ostdeutschland Regionen mit auf den Weg zu bringen, die der Situation dort gerecht
ökonomischem und ökologischem Vorbildcharakter zu werden.
schaffen, wirklich neue Wege zu gehen, statt Abziehbil-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
der der alten Bundesrepublik herzustellen.
90/Die GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Gerade in den neuen Bundesländern haben die Bürge-
rinnen und Bürger ihre ganz speziellen Erfahrungen mit
Die Menschen in den neuen Ländern – auch das gilt Dichtung und Wahrheit in der Politik gemacht.
es zu erkennen – haben Deutschland auch und gerade
kulturell stark bereichert. Viele im Westen können und (Beifall bei der SPD)
sollten von ihrer Zivilcourage, ihrer Kreativität und ih-
rem Erfindungsreichtum lernen. Wir wissen, meine Da- Sie haben deshalb einen Anspruch darauf, daß wir die
men und Herren, daß wir eine Nation mit einer gemein- Probleme vor Ort beim Namen nennen, vor Ort Lösun-
samen Kultur, Sprache und Geschichte sind, allerdings gen entwickeln und sie dann auch zügig durchsetzen.
auch eine Nation, die 40 Jahre Spaltung in getrennte Realitätssinn und Reformwillen sind schließlich keine
Staaten hat erdulden müssen. Optionen, die wir nach Belieben umsetzen und aus-
schlagen könnten.
(B) Wir kennen die Mängel in den Regelungen über die (D)
Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer von Kurz vor der Jahrtausendwende ist die Welt in bahn-
DDR-Unrecht, und wir werden die Härten beseitigen. brechenden Veränderungen begriffen. Die Digitalisie-
rung des Wissens und der Produktion, die Globalisie-
Gegen die Spaltung setzen wir den Willen zu mehr rung der Waren- und Finanzmärkte zwingt uns zu An-
Normalität im Umgang miteinander. Besserwisserei und passungen und zum Umdenken, zum Abschied von lieb-
Larmoyanz, die Geringschätzung des anderen, seiner gewordenen Traditionen und Gewohnheiten. Das macht
Vorlieben, seiner Gewohnheiten, all das hat in einer vielen Menschen angst. Aber, meine Damen und Herren,
modernen Demokratie nichts zu suchen. Angst haben müssen wir nicht vor der Veränderung,
Was wir allerdings verbessern wollen und müssen, ist Angst haben müssen wir nur davor, im Stau selbstge-
die Zielgenauigkeit der Aufbau- und Fördermaßnah- setzter Blockaden stecken zu bleiben.
men. Die Bundesregierung wird ein Förderkonzept ent-
wickeln, das sich an drei Zielen ausrichtet: erstens der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
Sicherung der Förderpräferenz für die neuen Bundeslän- 90/DIE GRÜNEN)
der, zweitens dem verstärkten Ausbau der infrastruktu- Die Wirklichkeit unseres Erwerbslebens hat sich
rellen Versorgung insbesondere in den wirtschaftlichen drastisch verändert. Der schöne und viele Jahre Sicher-
Problemregionen sowie drittens der Stärkung der Inno- heit verheißende Ausdruck, jemand habe nach der be-
vationsfähigkeit der Unternehmen und dem Ausbau von ruflichen Qualifikation „ausgelernt“, hat seine Bedeu-
Finanzierungsformen, die den besonderen Problemen tung verloren. Das Weiter- und das Dazulernen sind
ostdeutscher Unternehmen gerecht werden. heute unabdingbare Anforderungen für jeden. Diese gilt
(Beifall bei der SPD) es zu realisieren. Aber sie sind auch eine Herausforde-
rung an die Neugier und Leistungsbereitschaft eines je-
Die Eigenkapitalbasis der Unternehmen im Osten den.
muß gestärkt werden.
Vor allem die jungen und noch nicht so finanzstarken Dieser veränderten Realität muß sich auch unser So-
Kleinbetriebe in den neuen Ländern leiden existentiell zialsystem anpassen. So werden wir bei der Rentenre-
unter einer zunehmend laxer werdenden Zahlungsmoral. form selbstverständlich die Zunahme der sogenannten
Wir werden deshalb dafür sorgen, daß zahlungsunwilli- unsteten Erwerbsverläufe angemessen berücksichtigen.
ge Schuldner begreifen, daß schlechte Zahlungsmoral Insbesondere Frauen dürfen eben nicht dafür bestraft
sich auch finanziell nicht lohnt. werden, daß sie ihr Leben flexibel gestalten, daß Phasen
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998 59
Bundeskanzler Gerhard Schröder

(A) der Kindererziehung, der Erwerbsarbeit und des Lernens zungen dafür schaffen, daß Frauen, die es wollen, am (C)
einander abwechseln. Erwerbsleben teilhaben können. Dabei haben wir nicht
nur gegen überkommene Strukturen in der Gesellschaft
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS zu kämpfen. Wir müssen auch ein Schul- und Betreu-
90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten ungssystem schaffen, das die Lebenswirklichkeit mo-
der PDS) derner Familien und von Alleinerziehenden ausreichend
Meine Damen und Herren, wer das Lernen gering- berücksichtigt.
schätzt und die Möglichkeiten des Wissens nicht nutzt, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
läuft in eine Falle. Wenn wir die ökologische Moderni- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
sierung wollen, dann heißt das auch, daß wir die enor- PDS)
men Möglichkeiten, die uns die Bio-, die Medizin- und
die Gentechnik bieten, in verantwortbarem Rahmen nut- Die Bundesregierung wird schon Anfang 1999 ein
zen und entwickeln wollen. Wenn wir den Weg in eine Aktionsprogramm „Frau und Beruf“ initiieren. Wir wer-
Gesellschaft gehen wollen, die industriell stark, tech- den ein wirksames Gleichstellungsgesetz vorlegen, auf
nisch innovativ, sozial gerecht und serviceorientiert ist, Chancengleichheit bei der Ausbildung insbesondere in
dann können wir es uns nicht leisten, gerade die perso- zukunftsorientierten Berufen achten, Existenzgründerin-
nenbezogenen oder die im Haushalt erbrachten Dienst- nen besonders unterstützen und die Bedingungen für
leistungen als minderwertig zu diskriminieren. flexiblere Arbeitszeiten verbessern.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ilja Sei- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
fert [PDS])
Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub werden wir zu
Wir werden uns von der Vorstellung trennen müssen, einem Elterngeld und zu einem flexiblen Elternurlaub
nur die in der unmittelbaren Produktion erbrachte kör- weiterentwickeln. Die Schaffung von größeren und bes-
perliche "Maloche" oder der Dienst im Büroalltag seien seren Angeboten zur Kinderbetreuung werden wir unter-
wirkliche Arbeit. Unser Augenmerk gilt allen, die ge- stützen.
sellschaftlichen Wohlstand und gesellschaftliches Wohl-
ergehen schaffen, den produktiv Beschäftigten ebenso Aber ein solches Aktionsprogramm bleibt ein Trop-
wie den vielen, die das Wagnis der Existenzgründung fen auf den heißen Stein, solange wir nicht die objektive
auf sich nehmen, und genauso sehr denen, die sich um Benachteiligung von Frauen aufheben, etwa in der Ren-
die Belange der Menschen kümmern. tenversicherung. Auch darüber ist viele Jahre geredet
worden, aber es ist nichts geschehen. Was geschehen ist,
(B) Haushaltshilfe und Altenbetreuung, Einpack- oder hat die Lage der Menschen eher verschlechtert. Deshalb (D)
Einpark-Service sind Dienstleistungen an der Allge- sind wir auch hier gefordert, zu modernisieren und so-
meinheit, deren sich niemand schämen muß. Diejenigen, ziale Gerechtigkeit wiederherzustellen.
die diese Dienstleistungen in Anspruch nehmen wollen
und sie angemessen zu bezahlen in der Lage sind, wer- Die Bundesregierung wird zunächst die von ihrer
den in unserer Gesellschaft immer mehr. Auch deshalb Vorgängerin getroffenen Maßnahmen zur Verschlechte-
werden wir die sogenannten 620-Mark-Jobs nicht ein- rung der Rentnerinnen und Rentner aussetzen.
fach abschaffen. Aber wir werden sie angemessen in die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Sozialversicherungspflicht einbeziehen. der PDS)
(Beifall bei der SPD) Wir sagen ausdrücklich „Maßnahmen“ und nicht „Re-
Die Grenze werden wir auf 300 DM festlegen. Da wir form“, denn die Reform liegt noch vor uns.
gleichzeitig die Pauschalbesteuerung aufheben, werden (Beifall bei der SPD)
diese Tätigkeiten nicht unzumutbar verteuert.
Wir wollen den Begriff der Reform wieder in sein
Man sieht daran: Die Bundesregierung erkennt aus- Recht setzen. Reform – das Wort war einmal klar defi-
drücklich die Notwendigkeit und Berechtigung solcher niert als Programm oder Projekt, das die Lebensverhält-
Beschäftigungsverhältnisse an: sowohl für die Arbeitge- nisse der Menschen verbessert. So war das damals bei
ber als auch für die betroffenen Arbeitnehmerinnen und der Einführung des Frauenwahlrechts vor – fast auf den
Arbeitnehmer und für die Verbraucher. Aber wir wollen Tag genau – 80 Jahren, eine Reform, die August Bebel
gemeinsam mit Arbeitgebern und Gewerkschaften den und die Sozialdemokraten erkämpft hatten. So war das
Mißbrauch, der mit dieser Regelung betrieben worden auch in den 70er Jahren, als Sozialdemokraten und ihre
ist, ernsthaft bekämpfen. Bündnispartner unter Willy Brandt und Helmut Schmidt
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Rezzo tatsächlich „mehr Demokratie wagten“ und mehr Chan-
Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) cengleichheit herstellten.

Mehr Flexibilität im Arbeitsleben darf nicht auf Ko- Heute stehen wir erneut vor der Notwendigkeit von
sten sozialer Sicherheit gehen. Vor allem darf sie nicht Reformen, die das Leben der Menschen verbessern sol-
zu Lasten der Frauen gehen, denen die Gesellschaft len. Es geht nicht zuletzt darum, die gewaltig entfalteten
schon immer mit größter Selbstverständlichkeit höchste Produktivkräfte, den immensen Reichtum an Waren und
Flexibilität abverlangt hat. Wir müssen die Vorausset- Dienstleistungen, den wir erwirtschaften, wieder in
60 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998

Bundeskanzler Gerhard Schröder

(A) einen sozialen, in einen sinnstiftenden Zusammenhang um Raum für wirklich zukunftsfähige Lösungen zu (C)
zu integrieren; denn das ist verlorengegangen. schaffen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das muß das große gesellschaftliche Projekt der Neu- Die Verschlechterungen beim Kündigungsschutz
en Mitte sein: die ökologische und solidarische Erneue- und bei der Lohnfortzahlung werden wir – wie wir es
rung unserer Gesellschaft und Ökonomie zu einer mo- versprochen haben – zum 1. Januar 1999 aufheben.
dernen sozialen Marktwirtschaft. Daran werden wir ar- (Beifall bei der SPD)
beiten; das werden wir miteinander leisten.
Im Gesundheitswesen werden wir die Belastungen
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Kranken, vor allem der chronisch Kranken und der
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) älteren Patienten, zurückführen. Die Zuzahlungen der
Versicherten bei Medikamenten werden ebenfalls zum
Das ist auch der Grund, warum wir bei der Alterssi- 1. Januar 1999 gesenkt. Das sogenannte Krankenhaus-
cherung eine echte Solidarität der Generationen, nicht notopfer wird ab sofort ausgesetzt.
nur eine Solidarität der Berufsgruppen erzielen wollen.
Wir wollen einen mit Leben erfüllten Generationenver- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
trag, keinen Vertrag zu Lasten der Arbeit. In diesem des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Sinne werden wir dem Bundestag Vorschläge zur Re-
form der Alterssicherung vorlegen, die auf Solidarität, Auch im Gesundheitswesen reichen die heute zur
aber auch auf die gesellschaftliche Realität abzielen. Verfügung stehenden Finanzmittel für eine qualitativ
hochwertige Versorgung im Prinzip aus. Nicht die Ra-
Dabei geben wir eine dreifache Garantie ab: Wir tionierung in der gesetzlichen Krankenversicherung,
werden den heute in Rente lebenden Menschen ihre sondern die Rationalisierung in der Versorgung ist der
Rente sichern und ihnen jedenfalls ihre ohnehin oft ge- richtige Weg – und den werden wir gehen, meine Da-
ringen Einkünfte nicht kürzen. Denjenigen, die heute in men und Herren.
die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen, sagen wir
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
zu, daß sie damit einen wirksamen und leistungsgerech-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
ten Rentenanspruch erwerben. Denjenigen, die jetzt ins
Berufsleben eintreten, sichern wir den Umbau der Al- Ich weiß, die Tradition, die soziale Sicherheit zu wah-
terssicherung zu einem transparenten, zukunftsfähigen ren, gilt heute manchen schon als revolutionär. Dafür die
Versicherungspakt zu. traditionellen Mittel aufzuwenden wäre aber womöglich
(B) (D)
reaktionär. Weder auf dem Renten- noch auf dem Ge-
Dieser Pakt wird auf vier Säulen stehen: Das sind die sundheitssektor werden wir uns in diesem Widerspruch
gesetzliche Rentenversicherung, die betriebliche Alters- verfangen. Wir stehen auch in diesen Bereichen für eine
vorsorge, die private Vorsorge, deren Organisation vom Reform, die sich an den Realitäten orientiert.
Staat, etwa in steuerlicher Hinsicht, ermutigt wird, und
die Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- Die Realität lehrt uns zum Beispiel, daß Deutschland
mer am Produktivkapital und an der Wertschöpfung in in den vergangenen Jahrzehnten eine unumkehrbare
den Unternehmen. Für den Nutzen der Reform, die wir Zuwanderung erfahren hat. Wir haben die Menschen,
im Grundsatz vereinbart haben, gibt es auf der ganzen die in den 50er Jahren zu uns kamen, eingeladen. Heute
Welt gute Beispiele; von denen können, von denen wer- sagen wir diesen unter uns lebenden Mitbürgerinnen und
den wir lernen. Mitbürgern, daß sie keine Fremden sind. Zu Fremden
machen sich vielmehr diejenigen, die in unserem Land
Bei der gesetzlichen Rentenversicherung müssen wir den Fremdenhaß propagieren.
die finanzielle Grundlage verbreitern und versicherungs-
fremde Leistungen staatlich finanzieren. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und der PDS)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Das wollen wir nicht. Diesen verblendeten Minderheiten
Bei den Lebensversicherungen werden wir für mehr setzen wir eine entschiedene Politik der Integration ent-
Wettbewerb und mehr Transparenz sorgen. Die zu- gegen.
kunftsfähige Erneuerung der betrieblichen Altersvorsor-
(Beifall bei der SPD)
ge muß im Bündnis für Arbeit und Ausbildung fest ver-
einbart werden. Die Beteiligung der Arbeitnehmerinnen Den Zuwanderern, die bei uns arbeiten, sich legal in
und Arbeitnehmer am Produktivvermögen werden wir Deutschland aufhalten, Steuern zahlen und sich an die
unterstützen. Durch die Nettoentlastung der Lohn- und Gesetze halten, ist viel zu lange gesagt worden, sie seien
Einkommensteuerzahler schaffen wir auch auf diesem bloß Gäste. Dabei sind sie real längst Mitbürgerinnen
Sektor beachtliche Spielräume für die Tarifpartner. und Mitbürger geworden.
Eine derartige Reform wird ihren Namen verdienen – (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
anders als die Rentenkürzungen und die weiteren sozia- 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten
len Einschnitte, die wir noch in diesem Jahr aussetzen, der PDS)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998 61
Bundeskanzler Gerhard Schröder

(A) Diese Bundesregierung wird deshalb ein modernes Es waren in der Vergangenheit immer die gefährli- (C)
Staatsangehörigkeitsrecht entwickeln. Es wird die chen Schieflagen im nationalen Selbstbewußtsein, die zu
Voraussetzungen dafür schaffen, daß diejenigen, die auf Extremismus und Unfrieden geführt haben. In diesen
Dauer bei uns leben und deren Kinder, die hier bei uns Tagen ist es 80 Jahre her, daß der erste Weltkrieg zu
geboren sind, volles Bürgerrecht erhalten können. Ende gegangen ist. In Frankreich und Deutschland ist
damit das Gedenken an Leid und unsagbaren Schmerz
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
verbunden. Beide Völker sind deswegen unumkehrbar in
90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ilja Sei-
dem Bewußtsein geeint: „Nie wieder!“
fert [PDS])
Niemand, der Deutscher werden will, soll dafür seine Für uns Deutsche ist der gestrige Tag, der
ausländischen Wurzeln aufgeben oder verleugnen müs- 9. November, geschichtsbeladen und ambivalent wie
sen. Deshalb werden wir eine doppelte Staatsbürger- kein anderer. Kein anderes Datum symbolisiert Stolz
schaft ermöglichen. und Schmerz, Freude und Schande in der Geschichte un-
serer Nation so sehr wie dieser 9. November. Es ist der
(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie Tag, da die erste deutsche Republik entstand. Es ist der
beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Beifall Tag, an dem für Millionen von Ostdeutschen die Berli-
bei Abgeordneten der PDS) ner Mauer passierbar wurde. Aber es ist auch der Tag
Integration erfordert auch und gerade die aktive Mitwir- der Reichspogromnacht, als 1938 Deutsche in verbre-
kung derer, die sich integrieren sollen. Aber wir werden cherischem Rassenwahn im ganzen Land Synagogen
denen, die dauerhaft hier leben, arbeiten, ihre Steuern anzündeten, die Häuser und Geschäfte jüdischer Mitbür-
zahlen und die Gesetze achten, die Hand reichen, damit ger zerstörten und die jüdischen Mitbürgerinnen und
sie sich in unsere Demokratie als Menschen auch wirk- Mitbürger töteten.
lich einbringen können. Vieles, was die Väter und Mütter unserer Verfassung
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) konzipiert haben, geschah vor allem in Erinnerung an
diese nationalsozialistische Schreckensherrschaft. Die
So nehmen wir die Wirklichkeit in Europa positiv zur gemeinsame Geschichte verpflichtet auch uns. Aber in-
Kenntnis, so wollen wir das miteinander halten, und so zwischen – das ist gut so – ist unsere Demokratie kein
sollte es in Deutschland üblich werden. zartes Pflänzchen mehr, sondern ein starker Baum. Die
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS Deutschen haben mit Hilfe ihrer Freunde und Verbün-
90/DIE GRÜNEN) deten die staatliche Einheit in Frieden und Selbstbe-
stimmung vollenden können. Wir bekennen uns unein-
Unser Nationalbewußtsein basiert eben nicht auf den geschränkt zu unserer Verankerung im westlichen
Traditionen eines wilhelminischen „Abstammungs- Bündnis und in der Europäischen Union. Wir sind heute (D)
(B) rechts“, sondern auf der Selbstgewißheit unserer Demo-
Demokraten und Europäer – nicht, weil wir es müßten,
kratie. Wir sind stolz auf dieses Land, auf seine Land- sondern weil wir es wirklich wollen, meine Damen und
schaften, auf seine Kultur, auf die Kreativität und den Herren.
Leistungswillen seiner Menschen. Wir sind stolz auf die
Älteren, die dieses Land nach dem Krieg aufgebaut und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
ihm seinen Platz in einem friedlichen Europa geschaffen 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten
haben. Wir sind stolz auf die Menschen im Osten unse- der F.D.P.)
res Landes, die das Zwangssystem der SED-Diktatur ab-
Als Demokraten und Europäer wollen wir die Instru-
geschüttelt und die Mauer zum Einsturz gebracht haben.
mente der Demokratie weiterentwickeln. Wir werden sie
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS an den Erfordernissen einer modernen Politik ausrichten,
90/DIE GRÜNEN) die auf Partnerschaft und Dialog gegründet ist. Die de-
Was ich hier formuliere, ist das Selbstbewußtsein mokratischen Beteiligungsrechte der Bürgerinnen und
einer erwachsenen Nation, die sich niemandem über-, Bürger werden wir stärken. Wir werden mit den Um-
aber auch niemandem unterlegen fühlen muß, weltverbänden über ein Verbandsklagerecht reden, das
nicht noch mehr politische Entscheidungen auf die Justiz
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) abwälzt, sondern die Beteiligung betroffener und sach-
die sich der Geschichte und ihrer Verantwortung stellt, kundiger Bürger schon im Vorfeld stärkt; darum geht es
aber bei aller Bereitschaft, sich damit auseinanderzuset- uns.
zen, doch nach vorne blickt. Es ist das Selbstbewußtsein Wir werden da, wo es geht, Gesetze mit einem Über-
einer Nation, die weiß, daß die Demokratie nie für die prüfungsvorbehalt versehen und sie nach einem ver-
Ewigkeit erworben ist, sondern daß Freiheit, wie es schon nünftigen Zeitraum der Erprobung erneut dem Parla-
in Goethes „Faust“ heißt, „täglich erobert“ werden muß. ment vorlegen, um sie zu korrigieren oder auch zu be-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) stätigen.
Auch unsere Nachbarn in Europa wissen, daß sie uns als Wir halten es mit der Maxime des großen Philoso-
Deutschen um so besser trauen können, je mehr wir phen Ernst Bloch:
Deutschen selbst unserer eigenen Kraft vertrauen. Alles Gescheite mag schon siebenmal gedacht wor-
(Beifall des Abg. Hans Büttner [Ingolstadt] den sein. Aber wenn es wieder gedacht wurde, in
[SPD]) anderer Zeit und Lage, war es nicht mehr dasselbe.
62 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998

Bundeskanzler Gerhard Schröder

(A) Nicht nur dein Denken, sondern vor allem das zu Über das geplante Holocaust-Mahnmal in Berlin (C)
Bedenkende hat sich unterdes geändert. wird nicht per Exekutivbeschluß entschieden, sondern
unter Berücksichtigung der breiten öffentlichen Debatte
Daran orientieren wir uns, wenn wir sagen: Wir wollen hier im Deutschen Bundestag. Wir sind sicher, daß wir
uns den Realitäten stellen und wieder einmal mehr De- dabei eine würdige Lösung finden werden, die in ein
mokratie praktizieren. Gesamtkonzept für die Gedenkstätten in Deutschland
Meine Damen und Herren, es ist heute eine lebendige eingebettet wird.
und stabile Demokratie, die wir beim Umzug der Ver-
Aber in diesem Geschichtsbewußtsein sagen wir
fassungsorgane nach Berlin mitnehmen. Die Baumaß-
auch, daß Berlin noch für ganz andere Traditionen steht
nahmen dafür werden zügig zu Ende geführt, und die
als nur für die Erinnerung an totalitäre Schreckensherr-
Bundesregierung wird helfen, die Voraussetzungen zu
schaft. Berlin steht auch für demokratische Selbstbe-
schaffen, die Berlin braucht, um seiner Aufgabe als
hauptung und Freiheitswillen; beides wurde vor allem
Hauptstadt gerecht zu werden. Insbesondere die städte-
von den sozialdemokratischen Stadtoberhäuptern Ernst
bauliche Neuordnung der Berliner Mitte werden wir
Reuter und Willy Brandt verkörpert.
unterstützen.
(Beifall bei der SPD)
Aber es geht ja um mehr als um einen Umzug, meine
Damen und Herren. Es geht auch hier um einen Auf- Berlin steht für ein weltoffenes Klima, das die Stadt
bruch. Wir gehen übrigens nicht nach Berlin, weil wir in zum Anziehungspunkt für die Jugend und für die kultu-
Bonn gescheitert wären. Ganz im Gegenteil! Das relle Avantgarde aus ganz Europa gemacht hat. Die
40jährige Gelingen der Bonner Demokratie, die Politik kulturellen Brücken nach New York, Warschau, Moskau
der Verständigung und guten Nachbarschaft, die und Paris sind längst wieder geschlagen. Für die jünge-
Leuchtkraft eines Lebens in Freiheit haben dazu beige- ren Deutschen und Europäer ist Berlin vor allem eine
tragen, die deutsche Teilung zu überwinden und das zu heitere und aufregende Stadt, die sie von Klassenreisen,
ermöglichen, was wir heute gemeinhin „Berliner Re- Fußballspielen oder auch von der Love-Parade her ken-
publik“ nennen. Jürgen Habermas und viele andere er- nen.
hoffen sich von dieser Berliner Republik ein, wie er
formuliert hat, „ziviles Land, das sich kosmopolitisch (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
öffnet und behutsam-kooperativ in den Kreis der ande- Herr Fraktionsvorsitzender, ich weiß nicht, warum
ren Nationen einfügt“. Daran wollen wir arbeiten. Sie so besonders lächeln.
In der öffentlichen Diskussion hat es aber auch Ein- (Dr. Peter Struck [SPD]: Wir gehen zusammen
wände gegen diesen Begriff gegeben. Manchen klingt zur Love-Parade!)
(B) Berlin immer noch zu preußisch-autoritär, zu zentrali- (D)
stisch. Dem setzen wir unsere ganz und gar unaggressive Auch und gerade an diesen Traditionen werden wir an-
Vision einer Republik der Neuen Mitte entgegen. Die- knüpfen, wenn wir Berlin zur Hauptstadt einer Republik
se Neue Mitte grenzt niemanden aus. Sie steht für Soli- der Neuen Mitte machen wollen.
darität und Innovation, für Unternehmungslust und Bür-
Die Bundesregierung bekennt sich ausdrücklich zur
gersinn, für ökologische Verantwortung und eine politi-
kulturellen Förderung Berlins.
sche Führung, die sich als modernes Chancenmanage-
ment begreift. Symbolisch nimmt diese Neue Mitte Ge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
stalt in Berlin an: mitten in Deutschland und mitten in 90/DIE GRÜNEN)
Europa.
Diese wird mit Unterstützung kultureller Projekte und
Allerdings bleibt auch hier die Vergangenheit leben- Einrichtungen in den neuen Ländern einhergehen. Zur
dig. In jüngster Zeit, meine Damen und Herren, werden Bündelung der kulturpolitischen Kompetenzen des Bun-
große deutsche Unternehmen mit dieser Vergangenheit des schaffen wir das Amt eines Staatsministers für
in besonderem Maße konfrontiert. Deshalb habe ich kulturelle Angelegenheiten. Er wird Impulsgeber und
noch vor der Aufnahme meiner Amtsgeschäfte betroffe- Ansprechpartner für die Kulturpolitik des Bundes sein
ne Industrieunternehmen zusammengerufen, um über und sich auf internationaler, aber vor allem auf europäi-
einen gemeinsamen Fonds zur Entschädigung berech- scher Ebene als Interessenvertreter der deutschen Kultur
tigter Ansprüche von Zwangsarbeitern zu sprechen. verstehen. Auch dadurch wird die Bundesregierung
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Kulturpolitik wieder zu einer großen Aufgabe europäi-
GRÜNEN und der PDS) scher Innenpolitik machen.

Gemeinsam heißt hier Gemeinsamkeit der Unterneh- Meine Damen und Herren, die Republik der Neuen
men. Ich habe den Eindruck, daß die Unternehmen zu Mitte ist auch eine Republik des Diskurses. Er findet
einer fairen Lösung hinsichtlich der berechtigten An- nicht hinter den verschlossenen Türen der Gremienvor-
sprüche bereit sind. stände statt. Die Neue Mitte sucht den Konsens über das
beste Ergebnis und nicht den Kompromiß über den
Aber ich sage genauso deutlich: Wo es nicht um den kleinsten gemeinsamen Nenner.
Ausgleich erlittenen Unrechts geht, werden wir unseren
Unternehmen und damit auch ihren Arbeitnehmerinnen Die neuen Medien sind für sie nicht in ein paar mehr
und Arbeitnehmern im Inland, aber auch im Ausland oder ein paar weniger Kanälen im Privatfernsehen, son-
Schutz gewähren. dern bedeuten für sie den technisch unbegrenzten
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998 63
Bundeskanzler Gerhard Schröder

(A) Zugang zum Wissen und zum weltweiten Informations- Von Koalition ist bei uns meist nur die Rede, wenn es (C)
austausch. um Parteien geht. Diese braucht man auch. Wir streben
jedoch eine große gesellschaftliche Koalition an, eine
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Koalition aller Kräfte, die den Wandel in Deutschland
Wir werden uns dafür einsetzen, gemeinsam mit den gestalten wollen. Wir bieten nicht nur ein Bündnis für
Ländern und den Partnern aus der Industrie an den Arbeit an. Nein, meine Damen und Herren, wir wollen
Schulen einen kostenlosen oder zumindest kostengünsti- ein Zukunftsbündnis in diesem Land schaffen.
gen Internetzugang zu ermöglichen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Im Zeitalter von Internet und Online-Kommunikation
muß aber auch das Wort von der demokratischen Öf- Berlin ist aber auch die Stadt, die quälende Jahr-
fentlichkeit einen neuen Klang bekommen. Die neuen zehnte lang durch den Ost-West-Konflikt geteilt war. So
Wege der Informationsvermittlung sind eine hervorra- glücklich wir Deutschen über dessen Überwindung sind,
gende Chance, die Gesellschaft zum Sprechen zu brin- so bewußt sind wir uns auch, daß das Ende des kalten
gen; aber sie bergen auch Gefahren. Einer verantwortli- Krieges noch lange nicht den Weltfrieden gebracht hat.
chen Medienpolitik kommt deshalb zentrale Bedeutung
Der weltpolitische Umbruch hat in vielen Regionen
zu. Jeder soll Zugang zu den neuen Medien haben, jeder
neue Instabilitäten und gewaltsame Konflikte ausgelöst,
soll ihren Nutzen und ihre Grenzen kennen. Deshalb
auch vor unserer Haustür in Europa. Flüchtlingselend,
meinen wir es wörtlich, wenn wir dazu auffordern, unse-
Ressourcenknappheit und Umweltzerstörung in den
re Kinder den Umgang mit Computern zu lehren: nicht
Ländern des Südens sind ein gefährlicher Nährboden für
nur die Technik, sondern mehr noch die Kultur dieser
diese und neue Konflikte.
Form der Kommunikation.
Aus Bonn, meine Damen und Herren, nehmen wir Angesichts solcher Risiken, aber vor allem angesichts
eine gelebte, eine lebendige demokratische Transparenz der Chancen internationaler Zusammenarbeit erwartet
mit nach Berlin. Diese Transparenz wird hier in diesem die Welt von uns mehr als je zuvor, daß wir unseren
Haus des Deutschen Bundestags in großartiger Archi- Verpflichtungen im Rahmen unserer Bündnisse gerecht
tektur sichtbar. werden. Wir bleiben in Europa und in der Welt verläßli-
che Partner.
Den Reichstag, der nun bald Deutscher Bundestag
sein wird, überwölbt eine gläserne Kuppel, wir wir wis- Der Freundschaft mit den Vereinigten Staaten von
sen. Das ist nach meiner Auffassung mehr als ein hüb- Amerika verdanken wir viel: nicht weniger als den
sches architektonisches Detail. Es sollte ein Symbol für Frieden und unsere Freiheit. Ich will es gar nicht ver-
neue Offenheit und für demokratische Renovierung die- hehlen, meine Damen und Herren: Etliche, die heute in
(B) diesem Deutschen Bundestag sitzen, und auch manche, (D)
ses so sehr geschichtsbeladenen Gebäudes sein. Es kann
ein Symbol für die moderne Kommunikation einer die jetzt Mitglieder der Regierung sind, waren nicht im-
staatsbürgerlichen Öffentlichkeit werden. mer mit allem einverstanden, was unsere amerikani-
schen Partner vor allem in der Hochrüstungsphase des
Diese Öffentlichkeit beschränkt sich nicht auf die kalten Krieges getan und vorgeschlagen haben.
Politik. Die Zusammenarbeit mit den Kirchen und Re-
ligionsgemeinschaften als wichtigen Kräften des kultu- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
rellen, politischen und sozialen Lebens werden wir för- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von
dern und fortsetzen. Wir begrüßen den Dialog der Reli- der CDU/CSU: Das hat Helmut Schmidt ge-
gionsgemeinschaften untereinander und ihre Bereit- spürt!)
schaft, zu den brennenden sozialen, wirtschaftlichen und
kulturellen Gestaltungsfragen mit Anregungen und Kri- Sie standen damit übrigens nicht allein in der westlichen
tik beizutragen. Welt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Es ist aber dieselbe Generation, die von kaum einem
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Ereignis der Nachkriegsgeschichte so geprägt worden ist
PDS – Zuruf des Abg. Dr. Wolfgang Schäuble wie von John F. Kennedys Berlin-Besuch und seinem
[CDU/CSU]) Bekenntnis zur Freiheit Westberlins.
Das Engagement vieler Bürgerinnen und Bürger in (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Vereinen und Verbänden, im Sport, in Bürgerinitiativen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
und Selbsthilfegruppen ist eine der Keimzellen unseres
sozialen Zusammenlebens und einer eigenverantwortli- Schriftsteller haben diese Generation als – ich zi-
chen Gestaltung unserer Existenz. tiere – „Kinder der amerikanischen Zone“ bezeichnet.
Sie ist mit amerikanischer Kultur und amerikanischen
Herr Kollege Schäuble, verzeihen Sie, aber weil Sie Produkten aufgewachsen. Aus der kritischen Distanz der
dies alles – ein wenig machtverliebt und machtversessen – Kinder wurde die Partnerschaft von Erwachsenen. Die
übersehen haben, haben Sie verloren. Das ist der Grund. Freundschaft mit Amerika wurde dieser Generation
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS nicht aufgezwungen, sie wurde ihr von amerikanischer
90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten Demokratie und Kultur angeboten. Es ist eine Freund-
der PDS – Michael Glos [CDU/CSU]: So eine schaft, die auf gegenseitiges Verständnis und immer
Frechheit!) bessere gegenseitige Kenntnis gebaut ist.
64 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998

Bundeskanzler Gerhard Schröder

(A) Es ist eine Freundschaft, die sich bewährt hat und vor Ausdrücklich danken wir den jungen Deutschen, die (C)
keiner Bewährungsprobe steht. Wir garantieren sie nicht in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo militärisch und
nur aus Kontinuität und Bündnistreue heraus, nein, wir zivil den Frieden wahren helfen.
garantieren sie aus jenem Vertrauen, das nur aus part-
nerschaftlichem Miteinanderreden und Miteinanderfüh- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
len entstehen konnte. Wir stehen überzeugt zu unse- 90/DIE GRÜNEN)
ren Verpflichtungen im Rahmen der Atlantischen Sie wissen, welche Hypothek sie tragen, wie genau ihr
Allianz. Auftritt in der Welt, aber auch hier in Deutschland be-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten obachtet wird. Und sie lösen ihre Aufgabe mit bewun-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dernswerter Disziplin und Professionalität.
Die Instrumente der gemeinsamen europäischen Au- Selbstverständlich wird die Bundeswehr weiterhin
ßen- und Sicherheitspolitik wollen wir ausbauen und zur Landes- und Bündnisverteidigung befähigt bleiben.
nutzen, um Europa in der internationalen Politik endlich Eine Wehrstrukturkommission wird bis Mitte der Le-
handlungsfähig zu machen. Darauf warten auch unsere gislaturperiode Vorschläge unterbreiten über Auftrag,
Freunde in den Vereinigten Staaten mit Ungeduld. Umfang, Ausrüstung und Ausbildung der Streitkräfte.
Deutsche Außenpolitik ist und bleibt Friedenspolitik. Dabei betonen wir allerdings in aller Deutlichkeit,
Dabei bekennen wir uns ausdrücklich zu der Bereit- daß das Vorhalten militärischer Potentiale der Krisen-
schaft, an friedenssichernden und friedenserhaltenden prävention dienen soll, wie auch ihr Einsatz die Ultima
Maßnahmen und Missionen mitzuwirken. Das gilt be- ratio der Friedenspolitik bleiben muß.
sonders auch für die Lage in Südosteuropa.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
Wir wissen sehr genau, daß es nicht genügt, zur 90/DIE GRÜNEN)
Durchsetzung der Menschenrechte etwa im Kosovo ein
militärisches Drohpotential zu mobilisieren und, sollte Wir werden unsere Bemühungen zur weltweiten Abrü-
dies unvermeidlich sein, es auch einzusetzen. Viel stung und Rüstungskontrolle noch verstärken. Die Bun-
wichtiger als ein eventueller Militärschlag ist die Aufga- desregierung hält an dem Ziel der vollständigen Ab-
be, die Einhaltung geschlossener Abkommen zu über- schaffung der Massenvernichtungswaffen fest.
wachen und die Friedenssicherung vor Ort zu gewährlei-
sten. Auch bei der Erfüllung dieser Aufgabe werden sich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
unsere Partner auf uns verlassen können. 90/DIE GRÜNEN)

(Beifall bei der SPD) Wir wissen, daß es der Welt nicht gutgehen kann,
(B) wenn es wenigen immer besser und vielen immer (D)
In Europa kommt dabei der OSZE als der einzigen schlechter geht. Die Überwindung der Kluft zwischen
gesamteuropäischen Sicherheitsorganisation überragen- armen und reichen Weltregionen bleibt die größte inter-
de Bedeutung zu. Bei der Befriedung des Kosovo hat sie nationale Herausforderung an der Schwelle zum 21.
sich bereits eine Aufgabe neuer Qualität gesetzt. Die Jahrhundert.
Bundesregierung unterstützt diese Mission mit allen
Kräften. Der Anteil der Entwicklungshilfe am Bruttosozial-
produkt ist in den vergangenen 16 Jahren um beinahe
Wir liefern damit auch eine hochmoderne Definition die Hälfte gesunken, auf jetzt noch 0,28 Prozent. Diesen
vom Wirken der Bundeswehr als einer Armee, die dem Abwärtstrend werden wir stoppen und dabei auf Effizi-
Frieden dient. Unsere Soldaten setzen heute ihr mili- enz und Kohärenz der Maßnahmen zur Bewältigung
tärisches Know-how in immer mehr Bereichen zivil globaler Zukunftsaufgaben achten.
ein.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
(Zuruf von der CDU/CSU: Howgh! – Unruhe 90/DIE GRÜNEN)
bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
– Jetzt haben Sie aber was! Es sei Ihnen gegönnt. Dem Wirtschaftsgipfel 1999 in Köln werden wir
eine Initiative zur weiteren Erleichterung der Schulden-
(Heiterkeit bei der SPD) last der ärmsten Entwicklungsländer unterbreiten. Ge-
meinsam mit unseren Partnern in der Europäischen Uni-
Eine entscheidende politische Schwäche wurde soeben
on werden wir die regionale Zusammenarbeit mit den
ausfindig gemacht.
Ländern in Asien, Afrika und Lateinamerika ausbauen.
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Den von verheerenden Naturgewalten heimgesuchten
Staaten Zentralamerikas werden wir helfen,
Das wird so weitergehen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
Bei der Befriedung des Kosovo – ich hatte es schon 90/DIE GRÜNEN)
gesagt – hat die Bundeswehr sich bereits eine Aufgabe
neuer Qualität gesetzt. Die Aufgaben der Bundeswehr nicht nur mit unmittelbarer humanitärer Hilfe, sondern
reichen von der Eindämmung von Naturkatastrophen bis auch mit Mitteln für den Wiederaufbau ihrer fast voll-
hin zu aktiver Demokratisierungshilfe. ständig zerstörten Infrastrukturen. Deshalb werden wir
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998 65
Bundeskanzler Gerhard Schröder

(A) uns in den zuständigen internationalen Gremien für weltunion wird es gelingen, unser Europa bürgernah zu (C)
einen möglichst umfassenden Schuldenerlaß einsetzen. gestalten.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
der PDS)
Durch den Regierungswechsel in Deutschland und
Den Vereinten Nationen werden wir eigenständige durch die neuen politischen Realitäten in Europa ergibt
Einheiten für friedenserhaltende Maßnahmen anbieten. sich endlich die Chance einer europäischen Sozial- und
Dabei setzt sich die Bundesregierung aktiv dafür ein, das Beschäftigungspolitik. Der Kampf gegen die Arbeitslo-
Gewaltmonopol der Vereinten Nationen zu bewahren sigkeit kann endlich auch als europäische Frage behan-
und die Rolle des Generalsekretärs zu stärken. delt werden. Er ist eben nicht mehr länger eine Fußnote
zu den Beschlüssen des Ministerrates, sondern er steht
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
auf der europäischen Tagesordnung ganz oben.
90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
Die Möglichkeit, Ständiges Mitglied im Sicherheitsrat
90/DIE GRÜNEN)
der Vereinten Nationen zu werden, werden wir wahr-
nehmen, sofern ein gemeinsamer europäischer Sitz nicht Unser Ziel ist ein europäischer Beschäftigungspakt.
erreichbar ist. In ihm sollen ausdrücklich verbindliche Ziele zum Ab-
Wir maßen uns nicht an, international die Rolle einer bau der Jugend- und Langzeitarbeitslosigkeit sowie zur
Führungsmacht zu spielen oder in Krisensituationen oh- Überwindung der Diskriminierung von Frauen auf dem
ne Abstimmung mit unseren Partnern politische Initiati- Arbeitsmarkt aufgenommen werden. Zur Schaffung von
ven zu ergreifen. Uns ist weltweit an guter Zusammen- zukunftsfähigen Arbeitsplätzen werden wir uns auch in
arbeit gelegen. Auch unsere Außenwirtschaftsbeziehun- der Europäischen Union für eine Politik der ökologi-
gen sollen dem Frieden und der Demokratisierung die- schen Modernisierung einsetzen.
nen. Die Europäische Währungsunion ist eine unum-
Als dritte Säule unserer Außenpolitik werden wir die kehrbare Tatsache. Der Euro wird uns die völlige Ver-
auswärtige Kulturpolitik stärken und ausbauen. Das ist gleichbarkeit der Preise und der Leistungen bringen.
gerade unter den Bedingungen der Globalisierung un- Damit ist die Zeit nationaler Alleingänge endgültig vor-
verzichtbar. bei. Das gilt zum Beispiel auch für die Weiterentwick-
lung der ökologischen Steuerreform. Sie muß und sie
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) kann nur in einem europäischen Rahmen auf Dauer ge-
(B) lingen. (D)
Wir wissen aus eigener Erfahrung: Frieden braucht wirt-
schaftliche Entwicklung, und die wirtschaftliche Ent- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
wicklung braucht Frieden. Nur dort können Krisen auf
Dauer gelöst werden, wo die Menschen spüren, daß sich Die gemeinsame Währung muß ein Erfolg werden.
Frieden und Demokratie lohnen und daß friedliche Ent- Das heißt: Sie muß stabil sein und stabil bleiben.
wicklung ihre Lage spürbar verbessert. Die Stabilitätsorientierung der künftigen europäi-
Eine solche Aufgabe stellt sich uns gemeinsam mit schen Geldpolitik stellen wir nicht in Frage. Aber auch
unseren europäischen Partnern etwa im Nahen Osten. die vom Bundesbankpräsidenten selbst als wünschens-
Im Friedensprozeß zwischen Israel, den Palästinensern wert bezeichnete Diskussion um die Zinspolitik – um
und den arabischen Nachbarstaaten können und wollen auf einen aktuellen Punkt einzugehen – wollen und wer-
wir nicht die Rolle des Paten im Friedensprozeß spielen. den wir führen.
Dieser Part kommt den Vereinigten Staaten von Ameri- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
ka und den internationalen Organisationen zu. Aber wir 90/DIE GRÜNEN)
Europäer können und sollten durch gezielte Wirtschafts-
hilfe, durch Öffnung der Märkte und durch die Beteili- Dabei hat niemand – ich wiederhole: niemand – die Un-
gung an Infrastrukturmaßnahmen dazu beitragen, den abhängigkeit der Bundesbank und der Europäischen
Friedensprozeß unumkehrbar zu machen. Damit können Zentralbank in Frage gestellt.
wir unserer historischen Verantwortung gerecht werden
– auch und gerade für Israel und für den Frieden. (Zurufe von der CDU/CSU: Ha, ha!)

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS – Sie interpretieren das immer gerne anders. Aber es ist
90/DIE GRÜNEN) so, wie ich es Ihnen hier sage; glauben Sie es mir.

Die Einbindung Deutschlands in die Europäische (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Union ist von zentraler Bedeutung für die deutsche Diese Unabhängigkeit ergibt sich aus dem Bundes-
Politik. Die Bundesregierung wird deshalb insbesondere bankgesetz und aus dem Maastrichter Vertrag. Dort
die deutsche Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr wurde sie verankert, weil sie sachlich geboten ist und
1999 nutzen, um den europäischen Integrationsprozeß weil sie der Stabilität dient.
voranzutreiben. Nur durch die Weiterentwicklung zu
einer Politischen Union sowie zu einer Sozial- und Um- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
66 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998

Bundeskanzler Gerhard Schröder

(A) Aber ich füge hinzu: Dabei entspricht es entwickelter Wir werden aktiver Schrittmacher bei der Reform der (C)
und guter europäischer Tradition demokratisch verfaßter EU sein. Wir wollen nicht, daß der Euro deutsch spricht.
Gesellschaften – auch deshalb steht dies darin –, daß Wir wollen, daß D-Mark, Franc und Schilling europä-
zum Beispiel die Europäische Zentralbank ihre in voller isch sprechen.
Souveränität gefaßten geldpolitischen Entscheidungen
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des
regelmäßig dem Europäischen Parlament darlegen wird.
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
Was spricht dagegen?
PDS)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS Die Erwartungen unserer Nachbarn und Partner an
90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten diese Bundesregierung sind enorm. Wir werden versu-
der PDS) chen, diese Erwartungen nicht zu enttäuschen. Die re-
Der Bundesfinanzminister hat als einer der ersten auf gelmäßigen Konsultationen mit Frankreich und Groß-
die Notwendigkeit hingewiesen, zu wirksamen interna- britannien sind für uns keine bloße Formsache. Die
tionalen Vereinbarungen zu kommen, um die Turbulen- deutsch-französische Freundschaft ist das Fundament
zen auf den Weltfinanzmärkten zu glätten. Diese Not- unserer Europapolitik. Diese Freundschaft wollen wir
wendigkeit wird heute bei der Bundesbank, bei den auf eine noch breitere gesellschaftliche und vor allem
europäischen und nordamerikanischen Partnern – bis hin kulturelle Grundlage stellen.
zur Weltbank und zur US-Notenbank – genauso gese- Unseren Nachbarn im Osten versichern wir, daß wir
hen. Auch und gerade wegen der internationalen die Chance der EU-Osterweiterung entschlossen nut-
Finanzkrisen müssen wir darauf hinwirken, daß Europa zen wollen. Europa wird und darf nicht am ehemaligen
mit einer Stimme spricht. Eisernen Vorhang oder an der deutschen Ostgrenze en-
Es wird deshalb ein erster Schwerpunkt der Ratsprä- den.
sidentschaft sein, die Deutschland am 1. Januar 1999 (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
übernimmt, die Verhandlungen zur Agenda 2000 bereits des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
bei einem Sondertreffen des Europäischen Rates im
Frühjahr 1999 abzuschließen. Das ist gewiß eine im- Die Deutschen werden eben nicht vergessen, welch un-
mens schwierige Aufgabe. Aber wir wollen den ernst- schätzbaren Beitrag die Völker in Ungarn und in Polen
haften Versuch unternehmen, diese Aufgabe zu erfüllen. zumal zur Überwindung der deutschen Teilung geleistet
haben. Wir wollen sie partnerschaftlich in die EU inte-
Im Rahmen der Neuregelung der EU-Finanzen wol- grieren.
len wir dabei auch zu einer höheren Beitragsgerechtig-
keit kommen und die deutsche Nettobelastung auf ein (Beifall bei der SPD)
(B) faires Maß verringern. Ich muß aber in diesem Zusam- (D)
Dazu gehört auch die Beachtung angemessener Über-
menhang darauf hinweisen, daß diese Belastungen im gangsfristen, zum Beispiel bei der Arbeitnehmerfreizü-
Jahre 1992 mit der Stimme der damaligen Bundesregie- gigkeit. Dies bitte ich wirklich alle zu verstehen. Die
rung unter anderen Bedingungen – das ist gar keine Fra- Beachtung dessen dient eben nicht der Abwehr und Ver-
ge – beschlossen worden sind und daß es schwierig sein zögerung, sondern dem vollständigen Gelingen und der
wird – das weiß jeder, der sich dieser Aufgabe ange- Integration.
nommen hat –, diese Beschlüsse, auf deren Realisierung
viele der Partner setzen, wenigstens in etwa zu korrigie- Die Bundesregierung ist sich ihrer besonderen histo-
ren. Wir werden daran arbeiten. In diesem Punkt sind rischen Verantwortung gegenüber Polen bewußt. Sie
wir uns ja alle in diesem Hause einig. wird ihr mit dem Angebot einer immer engeren Partner-
schaft sowie der Verstärkung der Zusammenarbeit zwi-
Bei der Agrarpolitik werden wir uns auf europäi- schen Deutschland, Frankreich und Polen gerecht wer-
scher Ebene für grundlegende Veränderungen einsetzen. den.
Wo die Angleichung der Preise an das Weltmarktniveau
die deutschen Bauern benachteiligt, müssen wir in Eu- Die Bundesregierung wird zügig daran arbeiten, auf
ropa ein System direkter Einkommensbeihilfen durch- Grundlage der Deutsch-Tschechischen Erklärung noch
setzen, ein System, das auch national ergänzt werden bestehende Probleme im Verhältnis zur Tschechischen
können muß. Republik abzubauen.
(V o r s i t z : Vizepräsident Rudolf Seiters)
Auch die EU muß sparsam wirtschaften, ihre Mittel
effizient und zielgerecht einsetzen und den Subventi- Meine Damen und Herren, die gemeinsame Währung
onsmißbrauch bekämpfen. Auch in Europa müssen wir ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur europäischen
uns auf die strukturschwächsten und förderungsbedürf- Integration. Aber sie gibt nur einen Rahmen vor, einen
tigsten Regionen konzentrieren. Dabei dürfen die neuen Rahmen, den wir mit Leben füllen müssen.
deutschen Bundesländer gegenüber vergleichbaren Re-
gionen Europas nicht in einen Nachteil geraten. Wir brauchen eine zügige und glaubwürdige Demo-
kratisierung der europäischen Institutionen. Dabei steht
Wir werden dafür sorgen, daß Deutschland in der EU für die Bundesregierung fest, daß unser Europa die na-
nicht länger als Bremser bei der Sozialpolitik auftritt. tionalen Identitäten nicht ersetzen oder aufheben soll.
Dennoch oder gerade deshalb scheint eine föderale Ord-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nung in Europa die beste Gewähr für Solidarität und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Fortschritt zu sein.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998 67
Bundeskanzler Gerhard Schröder

(A) Bei uns in Deutschland hat sich das föderale System Vizepräsident Rudolf Seiters: Liebe Kolleginnen, (C)
bewährt. Bund und Länder bleiben auf Kooperation an- liebe Kollegen, es ist mir eine große Freude, auf der Eh-
gewiesen. Kooperation bedeutet nicht die Aufgabe der rentribüne den Beauftragten der OSZE für Medien-
eigenen Interessen. Wer wüßte das besser als ich? Die freiheit, unseren langjährigen Kollegen Freimut Duve,
Bundesregierung wird sich an der gemeinsamen Formu- begrüßen zu dürfen.
lierung einer zeitgemäßen Aufgabenverteilung im Ver-
(Beifall im ganzen Hause)
hältnis zwischen Bund und Ländern beteiligen. Nur im
sachgerechten Interessenausgleich werden beide Seiten Lieber Kollege Duve, hier im Parlament werden Sie
ihrer gesamtstaatlichen und europäischen Verantwor- vermißt. Sie haben eine neue, verantwortungsvolle Auf-
tung gerecht. gabe übernommen. Ich möchte Ihnen im Namen des
Hauses für Ihre bisherige Arbeit herzlich danken und
Am Ende dieses Jahrtausends wird Deutschland zwei wünsche Ihnen für die Zukunft viel Erfolg.
internationale Großereignisse ausrichten. Im Jahre 1999
wird Weimar europäische Kulturhauptstadt sein; im (Beifall im ganzen Hause)
Jahr darauf findet die Weltausstellung 2000 in Hanno-
Bevor ich die Aussprache eröffne, möchte ich mittei-
ver statt. Beide Veranstaltungen werden die Bundesre-
len, daß heute zum erstenmal hinter dem Präsidenten-
publik Deutschland ins internationale Rampenlicht stel-
stuhl der neue Direktor beim Deutschen Bundestag, Herr
len. Weimar wird die erste europäische Kulturhauptstadt
Dr. Peter Eickenboom, Platz genommen hat.
in den neuen Bundesländern sein und versuchen, eine
Brücke zwischen dem kulturellen Erbe und dem histori- (Beifall im ganzen Hause)
schen Auftrag aus unserer Geschichte zu schlagen. Die
Expo 2000 wird für unseren Aufbruch in die Welt des Er folgt Dr. Rudolf Kabel nach. Dr. Kabel hat dieses
21. Jahrhunderts stehen. Amt mehr als sieben Jahre mit großer Sachkunde ausge-
übt und ist nunmehr in den Ruhestand getreten. Von die-
Die Bundesregierung ist sich der Bedeutung dieser ser Stelle aus nochmals herzlichen Dank für die im
beiden Ereignisse bewußt, und sie wird ihnen zu inter- Dienste des Parlaments geleistete Arbeit. Alles Gute
nationalem Erfolg verhelfen. Sie verläßt sich dabei auch auch ihm für die Zukunft.
auf die Leistungsbereitschaft, die Gastfreundschaft und (Beifall im ganzen Hause)
die Neugier der Menschen in Deutschland.
Den neuen Direktor haben Sie schon willkommen
Gegen die Konkurrenz der Wirtschaftsstandorte set- geheißen. Ich tue das auch noch offiziell. Ich wünsche
zen wir das Konzept von Europa als Lebensort und Le- ihm für sein verantwortungsvolles Amt eine glückliche
bensart. Wir stehen für das Zukunftsprojekt Deutschland Hand und Gottes Segen.
(B) in Europa. Dabei stehen wir in vorderster Reihe mit den (D)
sozialen Modernisierern unserer Nachbarländer. Diese (Beifall im ganzen Hause)
Chance, gemeinsam ein modernes Europa der sozialen Ich eröffne jetzt die Aussprache. Das Wort hat der
Marktwirtschaft und der ökologischen Verantwortung zu Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Dr. Wolfgang
bauen, werden wir ergreifen. Schäuble.
Wir machen keine unhaltbaren Versprechungen. Aber
wir können und wir wollen Mut machen, Mut zu einer Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Herr Präsi-
neuen Zivilität und zu mehr Partnerschaft, aber auch dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr
Mut zum Optimismus, zur Neugier auf die Zukunft. Bundeskanzler, es ist wahr: Sie haben am 27. September
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS mit Rotgrün die Wahl gewonnen. Wir haben Ihnen dazu
90/DIE GRÜNEN) gratuliert. Wir wünschen auch unter Ihrer Regierung un-
serem Land eine gute Zukunft.
Ich erinnere an Willy Brandt, der vor diesem Parla- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
ment 1973 in der Regierungserklärung seines Reform- ordneten der F.D.P.)
bündnisses den „vitalen Bürgergeist“ zitiert hat, der in
dem Bereich zu Hause sei, den auch Willy Brandt da- Sie werden allerdings in der Zukunft nicht jede sachli-
mals „die neue Mitte“ genannt hat. che Einwendung gegen Ihre Absichten und Ihre Politik
mit dem Hinweis auf das Wahlergebnis abtun können.
Helmut Schmidt hat vor diesem Haus in seiner Regie- Sie müssen sich in der Zukunft schon mit der Sache aus-
rungserklärung 1976 in vergleichbar schwieriger Wirt- einandersetzen.
schaftslage gesagt: Die Bundesregierung setzt bei ihren
Bemühungen zuallererst – ich zitiere ihn – auf den Fleiß, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
die Intelligenz und das Verantwortungsbewußtsein der ordneten der F.D.P.)
Deutschen. Daran knüpfe ich bewußt an, und ich bin si- Wir, die CDU/CSU-Fraktion, haben – nicht mit
cher, meine Damen und Herren, wir werden es schaffen, einem Übermaß an Freude, aber in demokratischem Re-
weil wir Deutschlands Kraft vertrauen. spekt – das Wahlergebnis nicht nur akzeptiert, sondern
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. den Oppositionsauftrag für diese vier Jahre angenom-
men. Wir werden eine kämpferische, eine kritische Op-
(Langanhaltender Beifall bei der SPD und dem position sein. Wir werden nicht Opposition um der Op-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) position willen betreiben. Wo Sie Absichten verfolgen,
68 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998

Dr. Wolfgang Schäuble

(A) eine Politik betreiben, der wir zustimmen, werden wir Berücksichtigung von Erziehungszeiten in der Ren- (C)
Sie nicht kritisieren, nur um andere Positionen zu ver- tenversicherung eingeführt worden ist, schon eine Un-
treten. Aber wo es um der Sache willen geboten ist, verschämtheit.
werden wir das Wächteramt der Opposition kämpfe-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
risch, aufmerksam wahrnehmen. Darauf können Sie
zählen. Wir haben den Erziehungsurlaub und das Erziehungs-
geld eingeführt. In Ländern, in denen die Union regiert,
(Beifall bei der CDU/CSU)
gibt es ein drittes Jahr Erziehungsgeld; in Ländern, in
So dienen wir gemeinsam in unterschiedlicher Verant- denen die SPD regiert, gibt es das nicht. Das ist der Un-
wortung und in demokratischer Gemeinsamkeit unserem terschied, und das darf man nicht verfälschen.
Land.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
Gleich zu Beginn sagen will ich auch: Ihre Regie- ordneten der F.D.P.)
rungserklärung war eine Enttäuschung. Was Sie zur Solidarität mit den Menschen im Osten,
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – in den neuen Bundesländern, gesagt haben, das will ich
Widerspruch bei der SPD) mit der Hoffnung so stehenlassen, daß das neue Amt Ih-
nen auch eine neue Einsicht gibt. Wer sich noch daran
Es ist eine Ansammlung von Überschriften und Ab- erinnert, was Sie als Ministerpräsident von Niedersach-
sichtserklärungen. Aber wo es um inhaltliche Substanz sen zur Solidarität mit den Menschen in den neuen Län-
geht, bleibt sie, trotz einer nicht unbeachtlichen Dauer – dern gesagt haben, kann nur hoffen, daß Sie in der neuen
aber eine Regierungserklärung am Anfang einer neuen Verantwortung ein neues Verständnis von Solidarität
Legislaturperiode muß alle Themen behandeln; das aller Deutschen in Ost und West haben.
braucht seine Zeit –, bemerkenswert blaß.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Als Sie von der Einbindung der Vertreter der Bürger-
Noch spannender ist im übrigen, was Sie in Ihrer Re- rechtsbewegung in der ehemaligen DDR in Ihre Regie-
gierungserklärung nicht erwähnt haben. Zwar haben Sie rung und Koalition sprachen, Herr Bundeskanzler, hät-
am Schluß, im Zusammenhang mit der Europäischen ten Sie auch ein Wort zu der Koalition von SPD und
Währungsunion und der aktuellen Debatte, die Ihr Fi- PDS in Mecklenburg-Vorpommern sagen müssen.
nanzminister nebst Frau Gemahlin ausgelöst haben,
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
(Heiterkeit bei der CDU/CSU – Ingrid Matt- ordneten der F.D.P. – Ernst Schwanhold
häus-Maier [SPD]: Macho!) [SPD]: Warum?)
(B) (D)
ein paar Bemerkungen dazu gemacht; aber ausschließ- – Das will ich Ihnen sagen, Herr Kollege. Ich habe dazu
lich in diesem Zusammenhang ist in Ihrer Regierungser- eine Agenturmeldung der „AFP“ vom 9. November.
klärung das Wort „Preisstabilität“ vorgekommen. Das ist Darin steht:
mir schon aufgefallen, und durchaus bemerkenswert.
Bundesinnenminister Otto Schily will die Überwa-
(Bundesminister Oskar Lafontaine: Das ist ja chung der PDS durch den Verfassungsschutz neu
wirklich das größte Problem!) überprüfen.
– Ganz langsam! Wir machen es ganz in Ruhe. Schily sagte am Montag vor Journalisten in Berlin,
Wir haben in Ihrer Regierungserklärung eine Menge es sei eine „vertrackte Situation“, wenn die PDS
ertragen müssen, was so nicht akzeptabel ist. Daß man wie in Mecklenburg-Vorpommern an der Regie-
nach einem demokratischen Wechsel alles ein wenig an- rung beteiligt sei und andererseits vom Verfas-
ders darstellt, ist ja in Ordnung. Aber mit Helmut- sungsschutz beobachtet werde.
Schmidt-Zitaten zu enden und zum deutsch- Der Mann hat recht: Das ist eine vertrackte Situation.
amerikanischen Verhältnis so zu reden, wie Sie es getan
haben, und gleichzeitig zu verschweigen, daß Sie gegen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
den NATO-Doppelbeschluß demonstriert und darüber ordneten der F.D.P. – Ernst Schwanhold
Helmut Schmidt gestürzt haben – während Helmut Kohl [SPD]: Es ist doch alles gesagt!)
und wir dafür gesorgt haben, daß er durchgesetzt werden – Natürlich, deswegen gehört das in eine Regierungser-
konnte –, ist schon ein starkes Stück. klärung, wenn man von der Bürgerrechtsbewegung
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – spricht. Wenn das eine vertrackte Situation ist, dann ist
Ernst Schwanhold [SPD]: Vor 15 Jahren!) die richtige Schlußfolgerung, mit der PDS keine Koali-
tion zu bilden, anstatt aufzuhören, sie durch den Verfas-
Man kann ja über Erblast und andere Dinge reden. sungsschutz überwachen zu lassen.
Aber ein paar Dinge müssen am Anfang klargestellt
sein: Davon zu reden, daß für die Frauen, für die Ver- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. –
einbarkeit von Familie und Beruf, nichts getan worden Ernst Schwanhold [SPD]: Ziehen Sie sich jetzt
sei in Deutschland, ist angesichts der Tatsache, daß in aus den Rathäusern zurück?)
den 16 Jahren, in denen Helmut Kohl Bundeskanzler – Über das Thema könnten wir noch länger reden.
war, in denen wir, die CDU/CSU und die F.D.P., ge-
meinsam Regierungsverantwortung getragen haben, die (Ludwig Stiegler [SPD]: Nur zu!)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998 69
Dr. Wolfgang Schäuble

(A) – Ja, natürlich! Die Regelanfrage bei der Stasi- werden, was die Eröffnungsbilanz Ihrer Regierung tat- (C)
Überwachungsbehörde abschaffen. Lesen Sie doch ein- sächlich ist.
mal nach, was Herr Gauck und Richard Schröder, Ihr
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Miserable Fi-
Parteifreund, dazu gesagt haben. Die PDS hat sich mit
nanzen!)
ihrer totalitären Vergangenheit nicht auseinandergesetzt.
Aber Sie wollen der PDS helfen, die Vergangenheit – Unsere Bundesregierung hinterläßt geordnete Staats-
wegzuwischen. Wir werden dabei nicht mitmachen. finanzen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
ordneten der F.D.P.) ordneten der F.D.P. – Lachen bei der SPD –
Ludwig Stiegler [SPD]: Ein Schweizer Käse
Ich rate dazu, daß wir die Verfassungsschutzbehörden ist dagegen eine Betonmauer!)
auch in der Zukunft ermuntern, die Frage, ob eine Orga-
nisation beobachtet werden muß oder nicht, nach ihrem Es ist bemerkenswert. Die wirtschaftswissenschaftli-
Gefahrenpotential für die freiheitlich-demokratische chen Forschungsinstitute haben in ihrem Herbstgutach-
Grundordnung zu beurteilen und nicht danach, ob die ten im Oktober doch mitgeteilt, daß nach ihrer Meinung
SPD mit der Organisation koaliert. Das ist der Punkt, ein Entlastungsspielraum für eine Steuerreform im Jahre
weshalb ich meine, daß die vertrackte Situation falsch 1999 in einer Größenordnung von gesamtstaatlich etwa
aufgelöst ist. 20 bis 30 Milliarden DM netto zur Verfügung steht. Das
ist das Ergebnis der Finanzpolitik unserer Regierung,
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- und das ist die Eröffnungsbilanz der Ihren.
ordneten der F.D.P.)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. –
Meine Damen und Herren, ich möchte noch eine an- Ludwig Stiegler [SPD]: 100 Milliarden DM
dere Agenturmeldung zitieren, die ich heute morgen mit Zinsen!)
Befriedigung gelesen habe. Sie ist von „dpa“. Da steht –
Herr Bundeskanzler, dazu haben Sie gar nichts gesagt, Die Steuereinnahmen sind im Jahre 1998 deutlich
obwohl Sie viel von Erblast gesprochen haben –: stärker gestiegen, als im Bundeshaushalt 1998 einge-
stellt, und die Ausgaben sind weniger gestiegen, als im
Niedrigste Preissteigerung seit Vereinigung: Bundeshaushalt 1998 vorgesehen.
0,7 Prozent. Die Lebenshaltungskosten sind in
Deutschland im Oktober um 0,7 Prozent gegenüber Die Arbeitslosigkeit ist stärker zurückgegangen, als
dem Vorjahresmonat gestiegen. wir selber dafür finanzielle Vorsorge getroffen haben.
Im Oktober war die Arbeitslosigkeit in Deutschland –
(B) Meine Damen und Herren, auch das gehört zur Eröff- das ist die Eröffnungsbilanz – um knapp 400 000 niedri- (D)
nungsbilanz dieser Regierung: ein Maß an Preisstabili- ger als im Oktober des Vorjahres. Ein Rückgang der Ar-
tät, wie wir es in Deutschland niemals zuvor gekannt beitslosigkeit in Deutschland um 400 000 in einem Jahr
haben. ist ein großer Erfolg der letzten Regierung. Dieser Trend
gehört zur Eröffnungsbilanz Ihrer Regierung.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Wer weiß und sich daran erinnert, daß Inflation im-
mer die brutalste Form der Ausbeutung der sozial Wir haben stabile Preise. Wir haben ein niedriges
schwächeren Bevölkerungsschichten gewesen ist, der Zinsniveau, ein Zinsniveau auf historischem Tiefst-
muß, wenn er für eine Politik der sozialen Gerechtigkeit stand. Das ganze Gerede von Herrn Lafontaine ist also
– im Ziel sind wir uns einig – stehen will, dafür sorgen, unhaltbar. Es ist eine geplante, langfristig angelegte
daß die Preisstabilität erhalten bleibt. Deswegen gehört Kampagne mit dem Ziel, die Unabhängigkeit von Bun-
das zur Eröffnungsbilanz Ihrer Regierung. desbank und Europäischer Zentralbank durch Ein-
schüchterung und politischen Druck schrittweise einzu-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- engen. Die ganze Kampagne entbehrt jeder sachlichen
ordneten der F.D.P.) Grundlage, denn wir haben in Deutschland niedrigere
Zinsen als in Amerika und in den meisten europäischen
Herr Bundeskanzler, wenn Sie Ihrem Vorgänger im
Ländern. Unser Zinsniveau ist auf einem historischen
Amt zu Recht bei vielen Gelegenheiten immer wieder
Tiefststand. Auch das gehört zur Eröffnungsbilanz.
Ihren Respekt bekunden, ist das in Ordnung. Den teilen
wir, sogar mehr als Sie. Aber dann die Ergebnisse und (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. –
die Politik von Helmut Kohl und seiner Regierung so zu Ernst Schwanhold [SPD]: Real sind sie relativ
verfälschen, wie Sie es in Ihrer Regierungserklärung hoch!)
getan haben, ist nicht in Ordnung. Das paßt nicht zu-
sammen. – Das kann man endlos weitermachen.
Wir haben eine Steuerquote von 21 Prozent, und die
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Staatsquote liegt in diesem Jahr unter 48 Prozent. Sie
Deswegen muß am Anfang der Debatte über Ihre Regie- liegt deutlich niedriger als am Anfang der Regierungs-
rungserklärung, am Beginn dieser Legislaturperiode von zeit von Helmut Kohl. Da Sie gerade Helmut Schmidt
der Opposition um der Wahrheit und der künftigen Be- zitiert haben: Es gehörte zur Eröffnungsbilanz unserer
wertung der Ergebnisse Ihrer Politik willen festgehalten Regierung, daß die Staatsquote damals über 50 Prozent
70 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998

Dr. Wolfgang Schäuble

(A) lag, und heute liegt sie trotz der Wiedervereinigung un- September anwesend. Herr Bundeskanzler, Herr Mi- (C)
ter 48 Prozent. Auch das gehört zur Eröffnungsbilanz. nisterpräsident außer Diensten – damals haben Sie als
Ministerpräsident gesprochen –, welche Zahl hat sich
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) seit Anfang September verändert? Es ist die Unwahrheit,
Deswegen sage ich noch einmal: Stabile Preise, soli- wenn Sie behaupten, bei Durchsicht der Bücher hätten
des Wirtschaftswachstum, 2,7 Prozent reales Wachstum Sie neue Löcher entdeckt. Alle Zahlen lagen auf dem
in diesem Jahr, rückläufige Arbeitslosigkeit – 400 000 Tisch. Wir haben Anfang September darüber diskutiert.
weniger in einem Jahr –, niedrige Zinsen, geordnete Nichts außer den Ankündigungen von Rot-Grün für eine
Staatsfinanzen – das ist die Eröffnungsbilanz Ihrer Re- künftige falsche Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik
gierung. An diesen Zahlen und Trends werden Sie sich hat sich geändert.
in der Zukunft messen lassen müssen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Nun sagen Sie, weil Sie ja die Kritik an den rotgrünen
Sie versuchen jetzt, die Prognosen zu verändern, in- Koalitionsvereinbarungen gehört haben, der Mittelstand
dem Sie sagen, im nächsten Jahr werde es schwieriger werde mit Ihrer Steuerpolitik doch entlastet oder nicht
werden, und indem Sie nach unten rechnen. Ich sage Ih- so belastet, wie man in den Zeitungen lese. Meine Da-
nen: Wenn sich die Prognosen für die gesamtwirtschaft- men und Herren, ich will an einem kleinen Punkt einmal
liche Entwicklung und für die Entwicklung am Arbeits- aufzeigen, mit welchen Kniffen und Tricks schon in die-
markt verändern sollten, dann wäre das vor allem und in ser Regierungserklärung gearbeitet wird.
erster Linie das Ergebnis der Ankündigungen einer fal- Sie haben mir ja das Manuskript Ihrer Rede liebens-
schen Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik von Rot- würdigerweise durch das Presse- und Informationsamt
Grün. der Bundesregierung um 8.22 Uhr übersenden lassen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Deswegen hatte ich Zeit, mir dies genau anzuschauen.

Sie haben angekündigt, daß Sie unsere Maßnahmen (Zurufe von der CDU/CSU: Unglaublich! –
rückgängig machen wollen, so zum Beispiel die Rege- Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Bei mir ist es
lung zum Schlechtwettergeld. Ich würde Ihnen raten: gar nicht angekommen! – Dr. Peter Struck
Überlegen Sie es sich noch einmal. Die Tarifpartner in [SPD]: Lächerlich!)
der Bauwirtschaft haben doch alles gut geregelt. Warum – Nein, ich bedanke mich doch, daß ich den Wortlaut
wollen Sie denn mit einer gesetzlichen Neuregelung der Pressemitteilung habe. Ich weiß gar nicht, warum
schon wieder in abgeschlossene Tarifverträge eingrei- Sie sich aufregen.
fen? Ich finde, wenn wir Dezentralisierung und Tarif-
(B) autonomie ernst nehmen, sollten wir das, was die Tarif- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Sagen Sie es bitte so (D)
partner in der Bauwirtschaft im Zusammenwirken mit deutlich, wie Sie es meinen! Peinlich! – Lud-
dem Gesetzgeber gut geregelt haben, nicht durch einsei- wig Stiegler [SPD]: Herzlich!)
tige Eingriffe des Gesetzgebers wieder rückgängig ma- – Noch herzlicher?
chen.
(Dr. Uwe Küster [SPD]: Ja!)
(Beifall bei der CDU/CSU)
– Wenn es Ihnen Freude macht, bedanke ich mich wirk-
Wenn Sie die Deregulierungen am Arbeitsmarkt – lich herzlich, Herr Kollege, daß ich durch das Presse-
von denen übrigens Helmut Schmidt in seinem neuen und Informationsamt der Bundesregierung um 8.22 Uhr
Buch gerade geschrieben hat, daß sie notwendig sind, den Inhalt Ihrer Regierungserklärung zugestellt bekom-
um mehr Arbeitsplätze zu bekommen – rückgängig ma- men habe. Deswegen habe ich jetzt die Gelegenheit, Ih-
chen, zum Beispiel eine gewisse Eigenbeteiligung bei nen an Hand des Textes – das Stenographische Protokoll
der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, auf die sich die habe ich ja noch nicht – die Tricks aufzuzeigen, mit de-
Tarifpartner zum Teil geeinigt haben, wenn Sie diese nen Sie arbeiten.
Maßnahmen, die uns in Deutschland mehr Arbeitsplätze
eingebracht haben, zurücknehmen, dann – das ist völlig Die Steuerentlastungen, die Sie vorsehen oder die
klar – wird das Ergebnis mehr Arbeitslosigkeit sein. Aus angekündigt werden – es wechselt ja; die Gesetzentwür-
diesem Grund verschlechtern sich die Prognosen. fe, die uns zugesandt werden,

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – (Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Wasser-
Widerspruch bei der SPD) standsmeldungen!)

Wenn Sie die Steuerbelastung für Unternehmen und werden ja zurückgezogen, bevor sie überhaupt nur die
für den Mittelstand erhöhen, dann werden Sie eben we- Geschäftsführung der Fraktionen erreicht haben. Aber
niger Investitionen, weniger Arbeitsplätze und weniger Spaß beiseite.
Wirtschaftswachstum haben, und dann werden natürlich (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Es gibt wenig-
auch die Steuereinnahmen wieder zurückgehen. stens welche!)
Die neuen Haushaltslöcher, die Sie angeblich aus- – Lenken Sie nicht ab. Sie wollen das, was ich Ihnen sa-
findig gemacht haben, haben Sie übrigens nicht be- ge, offenbar nicht hören. – In Ihrer Regierungserklärung
schrieben. Sie haben von 20 Milliarden DM gesprochen. haben Sie die geplanten Steuerentlastungen für die Jahre
Aber Sie waren doch bei der Haushaltsdebatte Anfang 1999, 2000, 2001 und 2002 wunderbar dargestellt, ohne
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998 71
Dr. Wolfgang Schäuble

(A) bei den Entlastungen zeitlich zu differenzieren. Dann – Ja, natürlich. Aber, Herr Finanzminister, von Ihnen (C)
haben Sie gesagt, der Mittelstand werde im übrigen gar wissen wir, daß Sie niemals entlasten, sondern allenfalls
nicht belastet. umverteilen wollen. Am liebsten würden Sie Steuern nur
erhöhen; denn je mehr Sie Steuern erheben, desto mehr
Und jetzt zitiere ich einmal: glauben Sie ja, daß Sie Rädchen haben, mit denen Sie
Die Sonder- und Ansparabschreibungen für Exi- die gesamtwirtschaftliche Entwicklung beeinflussen
stenzgründer können. Das allerdings ist altes Denken: keine Neue
Mitte, sondern alte Linke.
– Sie haben das auch so gesagt –
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
können unverändert in Anspruch genommen wer-
den; Selbst Ihre eigenen Darlegungen, so schön sie formu-
liert sind, sind ja, wenn man sie ein bißchen abklopft,
– o toll, und jetzt höre man weiter zu –
ziemlich fadenscheinig. Sie selber haben für das Jahr
für kleinere und mittlere Betriebe bleiben sie bis 2002 – das haben Sie zwar nicht gesagt, aber so ist es
zum Jahr 2000 erhalten. vorgesehen – eine Nettoentlastung von 15 Milliarden
DM versprochen. Dann haben Sie uns auch hier gesagt –
Sie werden also also gestrichen, ehe die Tarifentlastun- das haben wir alle gehört; ob Ihre Fraktion so genau zu-
gen überhaupt in Kraft treten können. Das ist die Wahr- gehört hat, weiß ich allerdings nicht sicher; aber wir ha-
heit. Der Rest ist gelogen. ben aufmerksam zugehört –, daß die durchschnittliche
(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der Familie um 2 700 DM entlastet werde. Stimmt das, Herr
F.D.P.) Bundeskanzler?
Da helfen die besten Spindoctors nicht. Die Substanz (Bundesminister Oskar Lafontaine: Stimmt!)
Ihrer Steuerpolitik bedeutet eine Mehrbelastung für
Jetzt wollen wir einmal rechnen, Herr Bundeskanzler:
Wirtschaft und Mittelstand und damit eine Belastung
Wie viele Familien kann man um 2 700 DM entlasten,
und Verhinderung von Investitionen und von Arbeits-
damit die Grenze von 15 Milliarden DM nicht über-
plätzen.
schritten wird?
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
(Ludwig Stiegler [SPD]: Das ist eine seltsame
Es kann nach den Grundregeln von Krafts Rechen- Bezugsgröße!)
buch und nach Adam Riese ja auch gar nicht anders
sein. Aber Adam Riese? Das sind rund 5 Millionen Familien.
(B) (Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Der gehört (Bundesminister Oskar Lafontaine: Das ist (D)
nicht zur Bundesregierung!) viel!)
Dazu hat das „Handelsblatt“ geschrieben: Gerhard – Ja, das ist viel. – Aber alle anderen werden nach Ihren
Schröder fordert Adam Riese heraus. Welch eine Her- eigenen Vorhersagen auch im Jahre 2002 nicht entlastet,
ausforderung, Herr Bundeskanzler! Aber das ist gefähr- und wir haben eine Bevölkerung von 80 Millionen Men-
lich. Man sollte die Grundrechenarten nicht außer Kraft schen. Die Behauptung, die allermeisten würden entla-
setzen. Ich kann nicht mehr Geld ausgeben und gleich- stet, ist auf Grund Ihrer eigenen Zahlen als wahrheits-
zeitig weniger einnehmen wollen; das geht nicht zu- widrig widerlegt.
sammen. Wer nicht die Kraft zum Sparen hat, der wird (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. –
die Betriebe und auch die Steuerzahler nicht entlasten. Widerspruch bei der SPD)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. –
Und das gilt erst für das Jahr 2002!
Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das müssen Sie
gerade sagen!) (Ludwig Stiegler [SPD]: Das ist Adam
Sie sehen jetzt keine Nettoentlastung vor. Heute ha- Schäuble! – Ernst Schwanhold [SPD]: Das ist
ben Sie gesagt: 15 Milliarden DM ab dem Jahr 2002; noch unter Adam Riese! – Weitere Zurufe von
Verzeihung, aber im Moment haben wir, wenn ich das der SPD)
richtig weiß, den 10. November 1998. Die Arbeitslosig- – Es trifft Sie offenbar! Wenn Sie selber merken, was in
keit ist das dringendste Problem in unserer Gesellschaft; Ihrer Regierungerklärung steht, dann ist die Erregung
ihre Bekämpfung kann nicht bis zum Jahr 2002 warten. bei der SPD groß. Bisher waren Sie ziemlich schläfrig
Wir brauchen jetzt Steuerentlastungen. Für 1999 haben während der Rede Ihres Bundeskanzlers gewesen; jetzt
Sie keine vorgesehen. sind Sie plötzlich wach geworden. Das ist die Wahrheit.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. –
Wenn es keine Entlastung gibt, dann muß der eine Ludwig Stiegler [SPD]: Im Giftspritzen ist er
mehr bezahlen, was der andere weniger bezahlen soll. immer stärker als im Rechnen!)
Es geht nicht anders zusammen. Sie haben diese zwei Stunden auch kaum ausgehalten.
(Zuruf des Bundesministers Oskar Deswegen sind Sie am Schluß der Rede auch alle gleich
Lafontaine) aus dem Saal gegangen.
72 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998

Dr. Wolfgang Schäuble

(A) Jetzt bleiben Sie ganz ruhig! Jetzt lassen Sie nach Veränderungen in der Welt um uns herum wie auch in (C)
diesen zwei Stunden auch der Opposition die Chance, an der Arbeitswelt
ein paar Punkten ein bißchen Substanz zu bieten und
(Ludwig Stiegler [SPD]: Und angesichts Ihrer
nicht nur im Glanz der Überschriften zu bleiben. Mit der
Hinterlassenschaft!)
Regierungserklärung sind die Zeiten der Inszenierungen
vorbei! Jetzt ist Substanz gefordert! dringlicher. Wir können nicht alles auf die lange Bank
schieben. Sie müssen handeln und entscheiden! Sie sind
(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der schlecht vorbereitet.
F.D.P.)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. –
Es ist wirklich wahr: Der Start ist Ihnen gründlich Ernst Schwanhold [SPD]: Ihre Hinterlassen-
mißlungen. schaft! Ihre Erblast!)
(Ludwig Stiegler [SPD]: Der Neid der Besitz- – Nein, nein.
losen!)
(Ludwig Stiegler [SPD]: Das sagen die Aus-
Das sage ja nicht nur ich; wenn ich das sagen würde, sitzer, die uns die Sachen hinterlassen haben!
dann würde jeder meinen, daß ich als Oppositionsführer Jetzt wird's plötzlich eilig! Jetzt pressiert's! –
das sagen muß. Weitere Zurufe von der SPD)

(Ernst Schwanhold [SPD]: Stimmt!) – Nein, nein.


(Anhaltende Zurufe von der SPD)
Es sagen aber alle Zeitungen, auch Ihre treuesten Hel-
fershelfer. Sie werden – ich sage es Ihnen voraus – eine – Herr Präsident, meine verehrten Kolleginnen und
neue Gemeinsamkeit mit Ihrem Amtsvorgänger entwik- Kollegen, die meisten Menschen, die die Plenardebatte
keln, Herr Bundeskanzler Schröder. Von Helmut Kohl an den Fernsehapparaten verfolgen – wenn es welche
wissen wir, daß er den „Spiegel“ ums Verrecken nicht tun –, bekommen nicht mit, was im Plenarsaal so alles
gern gelesen hat. Wenn Sie diese Woche die Überschrift dazwischengerufen wird. Entweder muß ich deswegen
„Wo ist Schröder?“ lesen und sich im Nebel von Lafon- sagen „Verehrte Zuschauer an den Fernsehgeräten, im
taine verschwinden sehen, dann sage ich Ihnen: Der Augenblick kann ich nicht weiterreden, weil die SPD ei-
„Spiegel“ wird Ihnen bald so widerwärtig sein, wie er nen solchen Lärm macht“, oder Sie müssen leise genug
Helmut Kohl es in den 16 Jahren gewesen ist. sein, damit ich trotz meiner Erklärung die Chance habe
weiterzureden. Wir haben Ihrem Bundeskanzler doch
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und auch gut zugehört.
(B) der F.D.P. – Bundeskanzler Gerhard Schröder: (D)
Wenn es dann auch 16 Jahre dauert, soll's mir (Weitere Zurufe von der SPD)
recht sein!) – Nein, es geht so nicht. Sie können nicht ein solches
– Schauen Sie, das ist wieder typisch, Herr Bundes- Sperrfeuer von Zwischenrufen machen. Das akzeptiere
kanzler: In öffentlichen Äußerungen haben Sie gesagt, ich nicht; und das sage ich dann immer, damit das je-
eine Amtszeit von mehr als acht Jahren wäre falsch; jetzt dermann weiß und damit jedermann versteht, warum ich
wollen Sie 16 Jahre. Das ist wie mit der Koalitionsver- im Moment nicht weiterreden kann.
einbarung: Die haben Sie morgens unterschrieben, und Der Einwand, die Tatsache, daß die Probleme so
abends haben Sie gesagt, sie müsse nachgebessert wer- dringlich seien, würde sich gegen uns richten, ist in der
den. Die Tinte war noch nicht trocken gewesen! Sache durch Ihre eigene Regierungserklärung widerlegt.
Ihre konkreten Ankündigungen bestehen doch nur darin,
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und das, was wir auf den Weg gebracht haben, damit es mit
der F.D.P. – Ludwig Stiegler [SPD]: Der Ap- der Arbeitslosigkeit in unserem Lande besser wird,
petit kommt beim Essen! 16 Jahre!) rückgängig zu machen. Lassen Sie die Entwicklung, die
Wenn ich in diesen Tagen erlebe, was in dieser Wo- wir auf den Weg gebracht haben, doch weitergehen!
che in erster Lesung auf die Tagesordnung des Hohen 400 000 Arbeitslose weniger – das ist eine gute Ent-
Hauses kommen soll und was nicht, so muß ich fest- wicklung. Die sollten Sie nicht zurückschrauben. Das ist
stellen: Die Vorlagen werden zugesandt, dann werden der Punkt.
sie wieder zurückgezogen. Dann heißt es, Herr Trittin (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
und Herr Lafontaine hätten sich über die Ökosteuer ge-
einigt. Wenn man aber nachliest, heißt es, sie hätten sich Wir haben die Schlachten doch oft geführt. Sie kön-
darauf geeinigt, daß sie eine Kommission einsetzen. Das nen uns doch nicht vorwerfen, daß die Steuerreform
hat ja das Niveau Ihrer Regierungserklärung. Selbst zum nicht zustande gekommen ist. Sie haben Sie doch mit Ih-
Thema Rente haben Sie gesagt, Sie wollten eine Kom- rer Mehrheit im Bundesrat blockiert. Jetzt – mit eigener
mission einsetzen, die alles prüfe – obwohl alle Zahlen Mehrheit – zeigen Sie sich unfähig, eine dem Arbeits-
auf dem Tisch liegen. Auch für die Reform des Finanz- markt gerecht werdende Steuerreform zustande zu brin-
ausgleichs im Bundesstaat wollen Sie bis zum Jahre gen. Das ist das Elend für unser Land.
2005 eine Kommission einsetzen. Herr Bundeskanzler, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
die Probleme unsres Landes sind angesichts der rasanten
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998 73
Dr. Wolfgang Schäuble

(A) Erst das Richtige blockieren und dann selber nicht in der „Leichtes Geld“ klingt ja schön, bedeutet aber für die (C)
Lage sein, das Richtige zu tun, das ist gefährlich für die Menschen Inflation. Die haben verstanden, daß man
Chancen unseres Landes. Das ist im Zusammenhang mit nicht mehr Geld ausgeben und weniger einnehmen kann,
der Steuerreform das eigentliche Drama. ohne mehr Schulden zu machen. Man kann sich nicht
gegen Adam Riese stellen; deswegen wird Ihre Politik
Wenn Sie von den Lohnzusatzkosten reden, dann
dazu führen, daß die Staatsverschuldung steigt, die
werden Sie doch nicht im Ernst glauben, daß Sie die
Preisstabilität abnimmt und die Inflation zunimmt. Das
Lohnzusatzkosten, die Staatsquote, die Abgabenquote in
ist keine sozial gerechte Politik, sondern das Gegenteil!
Deutschland dadurch senken können, daß Sie nur um-
verteilen. Ich erinnere an das Gerede von der Ökosteu- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
er. Nach neuestem Stand ist die Vorlage dazu gerade
wieder zurückgezogen worden. Über die Einzelheiten Weil dies so ist, wollen Sie Druck auf die unabhän-
werden wir noch streiten, aber zunächst einmal geht es gigen Notenbanken machen. Genau so ist der Zusam-
um das Prinzip. Wer die Umfinanzierung von Sozialab- menhang. Ich meine die Bundesbank und die künftige
gaben in Steuern – so ist der Sachverhalt – an Stelle von Europäische Zentralbank. Sie wollen, daß die Bundes-
Einsparungen bei den Sozialausgaben durchführt, der bank und künftig die Europäische Zentralbank an einer
wird die Staats- und Abgabenquote nicht senken und Politik des leichten Geldes, an einer Politik von mehr In-
auch nicht mehr Arbeitsplätze bekommen, sondern das flation mitwirken.
Gegenteil. Einsparungen sind durch nichts zu ersetzen. (Zurufe von der CDU/CSU: So ist es! – Ge-
Wer klagt, die Staatsquote sei zu hoch – das haben Sie, nau!)
Herr Bundeskanzler, in Ihrer Regierungserklärung getan
–, der muß auf der Ausgabenseite von öffentlichen Nicht anders sind Ihr Gerede und Ihre konzentrischen
Haushalten und Sozialversicherungen zu Einsparungen Angriffe, von Ihren Beratern bis zu Ihnen selbst Tag für
kommen. Sie aber wollen all diejenigen Einsparungen, Tag systematisch angelegt, zu erklären. Die Zinsen sol-
die wir – zum Teil schmerzlich, aber richtig – zur Be- len nach unten gehen, obwohl wir schon das niedrigste
kämpfung der Arbeitslosigkeit durchgesetzt haben, wie- Zinsniveau haben und obwohl wir die reale Zinsdiffe-
der rückgängig machen. Das ist der falsche Weg, wenn renz in Europa in einer Weise auseinandertreiben wür-
es darum geht, mehr Arbeitsplätze in Deutschland zu den, daß es unter dem Gesichtspunkt der beginnenden
bekommen, und Sie sind auf diesem falschen Weg. Währungsunion gar nicht zu verantworten wäre. Sie
wollen die Zinsen nach unten manipulieren, eine höhere
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Neuverschuldung vornehmen und mehr Inflation her-
Daher ist der entsprechende Vorwurf an uns unzutref- vorbringen. Das ist der falsche Weg, um die Reformen
fend. Es gehört zur Eröffnungsbilanz, daß wir das Land unseres Landes weiter voranzubringen.
(B) in eine solide wirtschaftliche Entwicklung – Preisstabi- (D)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
lität, niedrige Zinsen, rückläufige Arbeitslosigkeit – ge- der F.D.P.)
bracht haben. Und Sie drehen jetzt mit Ihren falschen
rotgrünen Maßnahmen diese Entwicklung wieder zu- Das wird nicht mehr Arbeitsplätze, sondern mehr Infla-
rück. Es handelt sich also nicht um einen neuen Auf- tion in Deutschland verursachen. Sichere Arbeitsplätze
bruch, sondern um eine Rolle rückwärts in eine falsche entstehen nur bei Stabilität.
Vergangenheit. Das ist das Problem.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Die Sache ist übrigens noch viel bedenklicher; des-
So wird das nichts mit der „Neuen Mitte“. Und dann wegen muß das am Anfang dieser Legislaturperiode
auch noch Ihr Gerede von der Berliner Republik! Herr ausgetragen werden. Dies sollte nicht freundlich gesche-
Bundeskanzler, von Neuer Mitte habe ich weder in Ihrer hen, denn daran ist nichts freundlich. Die Bundesrepu-
Regierungserklärung noch in Ihrer Koalitionsvereinba- blik Deutschland mußte große Anstrengungen unter-
rung irgend etwas gefunden, aber von der alten Linken nehmen, um unsere Partnerländer in Europa von der
sehr viel und von Durcheinander bei Ihren rotgrünen Umsetzung der deutschen Stabilitätskultur auch im
Koalitionsvereinbarungen noch mehr! Maastricht-Vertrag und im Stabilitätspakt zu überzeu-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- gen. Andere – ich sage das mit vollem Respekt vor der
ordneten der F.D.P.) Tradition und dem Verfassungs- und Staatsverständnis
unserer Freunde und Partner in Europa – haben ein ganz
Man fragt sich ja, wer in Deutschland eigentlich regiert. anderes Verhältnis zu der Vorstellung von einer auto-
(Bundesminister Oskar Lafontaine: Das ist die nomen Notenbank. In Frankreich ist nach dem dortigen
Preisfrage!) Staatsverständnis seit Jahrhunderten – bis zum Vertrag
von Maastricht – die Politik die oberste Instanz gewe-
– Ja, das ist wahr, Herr Ministerpräsident Lafontaine. – sen, die letzten Endes über alle Entscheidungsbereiche
Entschuldigung, es steckt noch so ein bißchen drin; Herr verfügen kann. Herr Lafontaine, so hätten Sie es gern;
Bundesfinanzminister! Wenn es Ihnen gar nicht mehr aber so ist es in Deutschland nicht. Es ist auch besser,
passiert, sich zu versprechen, dann ist es ja gut. daß es in Deutschland nicht so ist, und es darf nicht so
Herr Bundesfinanzminister, Ihre Politik ist eine Poli- werden.
tik des „leichten Geldes“. Natürlich hat Geld eine politische Funktion, natürlich
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) hat die Bundesbank eine politische Verantwortung. Aber
74 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998

Dr. Wolfgang Schäuble

(A) diese Verantwortung unterliegt nicht der Verfügung der voller Arbeit erreicht hat. Das hätten Sie hier mit etwas (C)
jeweiligen parteipolitischen Mehrheit. Das ist der Respekt vermerken sollen.
Grund, warum wir in Deutschland in diesen 50 Jahren
mehr Stabilität hatten. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Das wird übrigens nicht heißen, daß Deutschland als
ein wirtschaftlich stärkeres Land, als es andere heute
Nur dann, wenn wir uns diese Autonomie, diese Selb- sind, nicht auch in Zukunft mehr an der Finanzierung
ständigkeit, diese Eigenverantwortung, diese Nichtver- der Europäischen Union tragen muß als andere. Das ist
fügbarkeit der Geldpolitik der Zentralbank für Preissta- in Ordnung. Aber es muß ein faires Verhältnis zur Lei-
bilität, für Geldwertstabilität erhalten, können wir darauf stungsfähigkeit vorhanden sein. Dieses Verhältnis ist ein
vertrauen, daß die europäische Währung so stabil wird, Stück weit unfair geworden. Daß inzwischen alle Fi-
wie es die D-Mark Gott sei Dank – auch dank unserer nanzminister anerkannt haben, daß die heutige Regelung
Politik – geworden ist. jedenfalls nicht mehr den objektiven Gegebenheiten
unter den Mitgliedsländern der Europäischen Union ent-
Das war das eigentlich Schwierige, und das war der
spricht, ist ein großer Erfolg von Theo Waigel. Darauf
weite Weg, den andere auf dem Weg zur Europäischen
läßt sich aufbauen, verehrte Damen und Herren der
Union zurücklegen mußten. Das fordert von uns Re- neuen Bundesregierung und der neuen Mehrheit.
spekt, wie es übrigens auch Respekt vor der politischen
Führungsleistung und Staatskunst der bisherigen Bun- (Beifall bei der CDU/CSU)
desregierung, des Bundeskanzlers, des Finanzministers,
des Außenministers, fordert, Aber wenn Sie als neue Bundesregierung in
Deutschland die Grundlagen von Stabilität und Solidität
(Zustimmung bei der CDU/CSU) in der Europäischen Union untergraben, dann werden
daß es gelungen ist, die Unabhängigkeit der Notenbank, Sie Europa auch nicht in die Lage versetzen, das drin-
gende Projekt der Osterweiterung zustande zu bringen.
die Unverfügbarkeit der Geldwertstabilität für die je-
Herr Bundeskanzler, wir haben ja – ich hoffe, es hält –
weilige parteipolitische Mehrheit zum Prinzip auch der
Europäischen Währungsunion zu machen. mit einer gewissen Befriedigung vermerkt, daß Sie
schnell Äußerungen wieder in Ordnung gebracht haben,
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) die am Anfang nicht in Ordnung waren. Unseren Nach-
barn in Osteuropa zu sagen, mit der neuen Regierung
Wenn das jetzt gleich zu Beginn, noch ehe die Wäh- werde es jetzt ein wenig länger dauern, beschwor eine
rungsunion wirklich begonnen hat, ausgerechnet von gefährliche Entwicklung herauf. Herr Fischer mußte
Deutschland untergraben wird, dann fängt es in dann gleich nach Warschau fliegen. Auch Sie waren dort
(B) Deutschland schlecht an und wird in Europa noch und haben es in Ordnung gebracht. Ich hoffe, es bleibt (D)
schlechter enden, meine Damen und Herren. Deswegen dabei.
werden wir dagegen jeden Widerstand leisten.
Wir sollten uns als wiedervereintes Deutschland in
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) der Mitte Europas unabhängig von der Frage, wer gera-
Die Geldwertstabilität darf auch in der Europäischen de die Regierung und wer die Opposition stellt, darum
Währungsunion nicht aufs Spiel gesetzt werden. bemühen, ganz Europa zu einem Kontinent zu machen,
auf dem Frieden, Stabilität, wirtschaftliche, soziale
(Zustimmung bei der CDU/CSU) und ökologische Prosperität herrschen. Das ist das
wichtigste Projekt der Deutschen am Ende dieses und
Zu einer fairen Behandlung Ihres Vorgängers und der
am Beginn des kommenden Jahrhunderts. Dafür müs-
Vorgängerregierung hätte – bei allen politischen Unter-
sen wir arbeiten; dazu werden wir auch in Zukunft ste-
schieden – übrigens auch gehört, nicht nur über die
hen.
Notwendigkeit zu reden, Herr Bundeskanzler, die Fi-
nanzierung der Europäischen Union entsprechend der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
jeweiligen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ein Stück
fairer zu ordnen, als sie im Laufe der Jahre seit 1992 Das setzt aber voraus, daß jeder seinen Beitrag leistet.
geworden ist. Das ist 1992 so vereinbart worden – hier Stabilität beginnt immer zu Hause. Das gilt auch für die
haben Sie recht; das stimmt so –, weil seinerzeit eine be- Zukunft.
sondere Situation bestand. Aber im nächsten Jahr muß
Wenn Sie glauben, die Arbeitslosigkeit könne durch
eine Neuregelung der Finanzierung der Europäischen
den Europäischen Rat bekämpft werden, dann fürchte
Union erreicht werden. Das wird schwierig zu erreichen
ich, daß Europa eine gefährliche Entwicklung nimmt.
sein. Sie werden dabei auf unsere Unterstützung rechnen
Wir werden Europa besser voranbringen, wenn wir das
können.
Subsidiaritätsprinzip in Europa stärker durchsetzen,
Aber Sie hätten auch vermerken sollen, daß Sie nicht das heißt, wenn wir uns darüber verständigen, welche
nur auf unsere Unterstützung bei diesem schwierigen Ebene in Europa – europäische Ebene, Mitgliedstaaten
Unterfangen rechnen können, sondern daß Sie vor allen oder Regionen – für die Lösung welcher Probleme zu-
Dingen auf die Vorarbeit des bisherigen Bundesfinanz- ständig ist. Wer glaubt, europäische Beschäftigungs-
ministers Theo Waigel zählen können, der ja in Europa politik würde in Europa mehr Arbeitsplätze schaffen, ist
die Bereitschaft zu einer finanziellen Neuregelung in der auf dem Holzweg. Am Ende werden in Europa nur mehr
Europäischen Union in den letzten Monaten in mühe- Steuern, mehr Abgaben, mehr Bürokratie und weniger
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998 75
Dr. Wolfgang Schäuble

(A) Arbeitsplätze herauskommen. Wir werden Sie auf die- Jedesmal, wenn Sie in Zukunft versuchen, unter Ver- (C)
sem Weg nicht unterstützen. drehung der Wahrheit die Menschen darüber zu täu-
schen, werden wir uns in aller Entschiedenheit dagegen
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- wehren und der Öffentlichkeit die Wahrheit sagen. Es
ordneten der F.D.P.) handelt sich um zwei völlig unterschiedliche Konzepte.
Wir brauchen eine Steuerreform, die die Wachs- Letztendlich wollen Sie doch die Staatsquote gar
tumskräfte stärkt. Sie werden uns ja bei den steuerpoliti- nicht senken, sondern erhöhen. An keiner Stelle sehen
schen Diskussionen der kommenden Tage und Wochen Sie Einsparungen vor. In Ihrem Programm ist bisher le-
immer sagen – das ahne ich schon voraus –, diese und diglich vorgesehen, beschlossene Einsparungen rück-
jene Maßnahme zur Verbreiterung der Bemessungs- gängig zu machen und mehr Geld auszugeben. Ich sage
grundlage habe auch die CDU/CSU-F.D.P.-Koalition es Ihnen vorher: Der Sozialversicherungsbeitrag wird
einmal vorgesehen. nicht sinken, wie sehr Sie den Benzinpreis auch erhö-
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Aha! – Ernst hen. Dabei berücksichtigen Sie übrigens nicht, was das
Schwanhold [SPD]: So ist das!) sozial bedeutet.
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sie haben
– Sie sagen „Aha“, Frau Matthäus-Maier. Wären Sie
doch 50 Pfennig draufgelegt! – Weiterer Zuruf
doch einmal Fraktionsvorsitzende geworden, dann
von der SPD: Waren Sie nicht auch einmal für
könnten Sie gleich im Anschluß reden.
die Ökosteuer?)
(Dr. Peter Struck [SPD]: Machen Sie mal so – Frau Matthäus-Maier, Sie wollen immer, daß ich nett
weiter, Herr Schäuble! Dann fangen auch wir zu Ihnen bin. Das würde ich auch sein, wenn Sie nicht
gleich so an!) immer so irreführende Zwischenrufe machten.
– Sie fangen ja wirklich gut an, indem Sie hier dauernd (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das habe ich
dazwischenrufen. gar nicht gemacht! Haben Sie ihn erhöht oder
(Ludwig Stiegler [SPD]: Erst loben Sie, und nicht?)
dann beleidigen Sie!) – Wir haben jetzt vier Jahre Zeit, uns zu streiten, aber
– Wenn Sie vorhaben, wie Sie es mit solchen Zwischen- dabei wollen wir doch freundlich bleiben.
rufen schon bestätigen, die Unterschiede zweier völlig Lassen Sie uns also die Argumente austauschen: Un-
verschiedener steuerpolitischer Konzepte, nämlich Ihr ser Konzept war und bleibt, die Steuersätze zu senken,
falsches und unser richtiges, in der Öffentlichkeit zu die Steuerbelastung insgesamt netto zu reduzieren und
(B) verwischen im Zuge dessen auch Ausnahmen zu beseitigen. Ihr (D)
Konzept bringt keine Nettoentlastung, keine Senkung
(Lachen bei der SPD)
der Steuersätze. Sie wollen nur Ausnahmen von der Be-
dann muß ich es Ihnen entsprechend zurückgeben. Das steuerung abschaffen. Das sind Steuererhöhungen. Das
können Sie doch nicht anders erwarten. ist das Gegenteil unserer Politik. Das Ergebnis wird
mehr Arbeitslosigkeit und weniger Wachstum sein.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
Nach unserem Konzept sollen die Steuersätze und ordneten der F.D.P.)
zwar jetzt, nicht irgendwann – deutlich gesenkt werden.
Alle Steuersätze – Ihr Konzept ist, die beschlossenen und in Kraft ge-
setzten Maßnahmen zur Reduzierung des Anstiegs der
(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ausgaben in der Renten- und der Krankenversiche-
NEN]: Sechzehn Jahre habt ihr Zeit gehabt!) rung rückgängig zu machen. Sie werden nicht Beitrags-
satzstabilität bei der gesetzlichen Krankenversicherung
Spitzensteuersatz, Eingangssteuersatz und alle Sätze da- ernten, sondern Sie haben mit dem, was Sie ankündigen,
zwischen, Thesaurierungssatz und Ausschüttungssatz drastische Beitragssteigerungen in der gesetzlichen
bei der Körperschaftsteuer – sollen etwa um ein Drittel Krankenversicherung zu erwarten.
gesenkt werden. Dazu ist eine Nettoentlastung erforder-
lich, nicht irgendwann im nächsten Jahrhundert, sondern Wenn Sie jetzt die Ausgaben erhöhen, dann können
jetzt. Danach können Sie auch die Bemessungsgrund- Sie noch so viel Ökosteuer machen, wie Sie wollen, sie
lage verbreitern und Ausnahmeregelungen bei der Be- dient allenfalls dazu, die Beitragssatzsteigerungen zu
steuerung beseitigen. vermeiden, die durch erhöhte Ausgaben entstehen; sie
wird aber nicht zu dauerhaften Beitragssenkungen füh-
(Michael Glos [CDU/CSU]: Aber nur dann!) ren. Deswegen ist Ihre Politik falsch.
Wenn Sie aber die Steuersätze nicht senken und keine Sie können Umschichtungen nicht an Stelle von
Nettoentlastung ermöglichen, sondern nur die Bemes- Einsparungen machen; denn wir brauchen zuerst
sungsgrundlage verbreitern, dann nehmen Sie Steuerer- die Einsparungen. Über zusätzliche Umschichtungen
höhungen vor. Diese sind Gift für die Wirtschaft und können wir dann reden, sie sind aber nicht ohne Einspa-
den Arbeitsmarkt in Deutschland. Das ist der Unter- rungen möglich. Das ist der grundsätzliche Unterschied.
schied.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ordneten der F.D.P.)
76 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998

Dr. Wolfgang Schäuble

(A) Ich möchte zur Ökosteuer noch folgendes sagen: Ich Gerhardt [F.D.P.]: Was ist das für eine Öko- (C)
glaube nicht – ich habe die Berechnungen gesehen –, steuer? – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE
daß sie letzten Endes zu der Entlastung führen wird, von GRÜNEN]: Sie haben das verschlafen!)
der Sie sprechen. Erstens werden wir keine Beitragssen-
kung bekommen, und zweitens habe ich die „Frankfurter – Der Zwischenruf des Kollegen Schlauch veranlaßt
Allgemeine Zeitung“ von heute gelesen, wo es heißt: mich, auf einen weiteren der kleinen Kniffe in der Re-
gierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers noch ein-
Nach Berechnungen des Finanzministeriums hat mal zu sprechen zu kommen, den wahrscheinlich, weil
die ökologische Steuer- und Abgabenreform für ei- die Rede relativ glatt dahinplätscherte, nicht alle be-
nen Vier-Personen-Haushalt mit einem Jahresein- merkt haben. Die ganze rotgrüne Inszenierung vor und
kommen von 70 000 Mark brutto folgende Auswir- nach der Wahl hat doch suggeriert, Sie fangen jetzt
kungen: Bei der Rentenversicherung ergibt sich richtig kräftig an mit dem, was Sie Ökosteuer nennen.
Ich habe den Begriff immer für falsch gehalten, weil er
– durch die Beitragssatzsenkung –
nämlich verschleiert, daß Sie in Wahrheit nicht sparen
eine Ersparnis von 280 Mark. Die Energiebesteue- wollen. Aber ohne Sparen kommen Sie nicht hin. Daß
rung führt dagegen zu einer Belastung von 301 man darüber, wie man sparsamen Energieverbrauch
Mark: sicherstellt, trefflich streiten und miteinander ringen
kann, ist völlig in Ordnung. Aber Sie dürfen das nicht
Sie müssen den Menschen erklären, wie Sie die Fa- zur Grundlage der Finanzierung von Mehrausgaben in
milien entlasten, wenn sie für 280 DM Entlastung 301 der Sozialversicherung machen. Das ist der falsche Weg,
DM mehr bezahlen müssen. Das sind nach Berechnun- der verschüttet die Milch.
gen Ihres Hauses 21 DM mehr. Das Wort Entlastung
sollte Ihnen wirklich nicht mehr über die Lippen kom- Rotgrün kündigt also an – auch in Ihrer Regierungs-
men. erklärung, Herr Bundeskanzler; Sie sehen, ich habe zu-
gehört –, das wird jetzt kräftig gemacht. Dann kommt
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
das mit den sechs Pfennig – energieintensive Betriebe
ordneten der F.D.P.)
ausgenommen oder nicht; lassen wir den Koalitionsstreit
Sie machen Steuererhöhungen, um Ihre Unfähigkeit mal auf sich beruhen –, es wird aber gesagt: Das ist nur
zu Einsparungen finanzieren zu können. Im übrigen der erste Schritt, und in den nächsten Jahren geht es
wollen Sie mehr Schulden machen und die Inflation be- kräftig weiter. Denn sonst wäre es ja herzlich beschei-
schleunigen. Das ist der falsche Weg, und auf diesem den. Da waren wir schon mal weiter in unseren Überle-
Weg werden Sie mit unserer scharfen Kritik rechnen gungen; allerdings haben Sie dann die notwendigen Ein-
müssen. sparungen blockiert. Das war der Punkt, warum es nicht
(B) zustande gekommen ist. (D)
Die Steuerreform ist falsch, die Abgabenpolitik ist
falsch, die Stabilität in Europa wird untergraben, und Sie (Widerspruch des Abg. Rezzo Schlauch
machen nationale Alleingänge in der Energie- und Um- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
weltschutzpolitik.
Jetzt sagen Sie, Herr Bundeskanzler, die nächsten
(Zuruf des Abg. Rezzo Schlauch [BÜNDNIS Schritte können nur in Europa kommen. Das heißt, Sie
90/DIE GRÜNEN]) haben – wer von Ihren rotgrünen Genossen zugehört hat,
weiß das – schon gesagt: Genossinnen und Genossen,
– Ach, die Grünen. Wie war das mit den Grünen, Herr
laßt alle Hoffnung fahren; es gibt keine weiteren Schrit-
Kollege Schlauch? Mit was für großen hehren Vorsätzen
te! Ich sage Ihnen: Die sechs Pfennige werden vorne und
sind Sie einmal angetreten?
hinten nicht ausreichen, um die Ausgabensteigerungen
(Lachen bei der CDU/CSU) in der Krankenversicherung und der Rentenversicherung
aufzufangen. Deswegen ist Ihr Programm ein Programm
In dem Maße, in dem aus Turnschuhen Nadelstreifen zur Erhöhung des Sozialversicherungsbeitrags in
wurden, ist aus Grundsätzen hemmungsloser Opportu- Deutschland. Das ist die Wirklichkeit!
nismus geworden. Posten statt Ideen!
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so-
wie bei Abgeordneten der PDS – Ludwig Man kann in der Erwiderung auf die Regierungser-
Stiegler [SPD]: Und mit denen wollen Sie klärung, die alle Themen abdecken muß – wir werden
koalieren!) noch die ganze Woche debattieren –, in dem ersten Bei-
„Global denken, lokal handeln“ hat der Wahlspruch trag nicht bereits zu allen Themen Stellung beziehen.
geheißen. Jetzt machen Sie in der Energie- und Umwelt- Das ist auch in Ordnung, und das ist parlamentarischer
schutzpolitik nationale Alleingänge. Als ob irgendein Brauch.
Kernkraftwerk in Osteuropa durch einen nationalen Al- Ich will aber noch wenige Bemerkungen zum Thema
leingang Deutschlands sicherer würde! Das schafft doch der inneren Sicherheit machen.
nicht mehr Sicherheit.
(Zuruf von der SPD)
(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das ist doch völliger Kappes! Wieso ist – Ja, daran müssen Sie sich gewöhnen. Machen Sie nicht
die Ökosteuer ein nationaler Alleingang? Die solche Zwischenrufe wie „Gott sei Dank“! Sie müssen
anderen machen es doch vor! – Dr. Wolfgang auch in Ihrer Machtbesoffenheit schon ertragen, daß es
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Dr. Wolfgang Schäuble

(A) andere Meinungen in Deutschland gibt und daß diese Krawalle in Bonn, bei denen die Polizei eine Reihe von (C)
vorgetragen werden. Gewalttätern festgenommen hat.
(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der (Zuruf von der Regierungsbank)
F.D.P. – Lachen und Zurufe von der SPD und – Entschuldigung, die Landesregierung von Nordrhein-
dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Westfalen, die für den Polizeieinsatz in Bonn zuständig
Sie haben die Wahl gewonnen. Sie haben jetzt eine ist, wird doch von SPD und Grünen getragen. – Was ist
Mehrheit in Bundestag und Bundesrat. Das gibt Ihnen passiert? Ich könnte jetzt den gesamten Bericht vorlesen.
eine besondere Verantwortung. Aber ich rate Ihnen (Zuruf von der SPD: Nein!)
dringend: Gehen Sie damit – im Respekt vor der Mei-
nung anderer – mit ein bißchen mehr Bescheidenheit In der Menge sollten nach Angaben eines Polizei-
um! sprechers 20 Gewalttäter sein, die die Beamten mit
Flaschen, Steinen und anderen Gegenständen be-
(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS worfen hatten. ... Als Politiker von Bündnis 90/Die
90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD: Und Grünen auf ihrem Parteitag in der Beethovenhalle
das sagen Sie! – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS davon erfuhren, bahnte sich Ärger an. NRW-
90/DIE GRÜNEN]: Diese Belehrung brauchen Bauminister Michael Vesper, mehrere Bundestags-
wir nicht!) abgeordnete und der Bonner Landtagsabgeordnete
Roland Appel schalteten sich ein. Während Vesper
Es fängt schon damit an, wie Sie den ersten Oppositi- vor Ort mit dem Einsatzleiter über eine Freilassung
onsbeitrag in dieser Debatte nicht ertragen wollen. der Festgehaltenen verhandelte, fuhr Appel ins Prä-
Und jetzt sage ich Ihnen: Die Art, wie Sie in Ihre Ko- sidium.
alitionsvereinbarung hineingeschrieben haben: Stimmt So wollen wir in Deutschland nicht anfangen.
ihr für den Bundespräsidenten, kriegt ihr den Kommis-
sar für Europa, das ist ein nicht angemessener Umgang (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
mit den höchsten Ämtern in unserem Staat und in Euro- Die Polizei verrichtet in allen Ländern einen schwe-
pa. ren Dienst. Wir schulden den Polizeibeamten der Länder
(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der Dank und Unterstützung. Was wir unter gar keinen Um-
F.D.P.) ständen als Politiker – ob wir Regierungsverantwortung
tragen oder als Abgeordnete tätig sind – machen dürfen:
Das paßt ganz prima zu den Lafontaineschen Bemü- Wenn die Polizei bei gewalttätigen Krawallen – das ist
hungen in bezug auf Bundesbank und europäische No- für die Polizei eine schwierige Situation – Gewalttäter
(B) tenbank. festnimmt, dürfen Abgeordnete von Bundestag und (D)
Landtag – oder sogar Minister der Regierung, die der
(Widerspruch bei der SPD) Dienstherr dieser Polizeibeamten ist – nicht mit der
Ich sage Ihnen: Hochmut kommt vor dem Fall. Polizeieinsatzleitung darüber verhandeln, ob man die
Gewalttäter wieder freiläßt, so geht der Rechtsstaat vor
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – die Hunde. Das sollte man nicht anfangen.
Zuruf von der SPD: Darum sind Sie auch in
der Opposition!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Ich glaube nicht, daß Sie so die innere Sicherheit ver-
bessern werden.
Die Arroganz der Macht ist die größte Versuchung. Übrigens: Zur Eröffnungsbilanz Ihrer Regierung ge-
Dann sage ich Ihnen noch einmal das mit Herrn hört auch, daß die Kriminalität in Deutschland in den
Schily, weil Sie es immer noch nicht verstanden haben: letzten Jahren deutlich abgenommen hat und die Aufklä-
Es geht nicht an, daß ein Innenminister der Bundesrepu- rungsquote gestiegen ist.
blik Deutschland, wenn er ein Problem darin sieht, daß (Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
eine Partei, die Gegenstand der Beobachtung durch den NEN]: Das hat im Wahlkampf anders geklun-
Verfassungsschutz ist, nun in einer Landesregierung gen!)
beteiligt ist, sagt: Dann dürfen wir sie nicht mehr beob-
achten. Er müßte dafür eintreten, daß sie nicht Mitglied – Nein, überhaupt nicht. Aber die Verbesserung reicht
einer Landesregierung wird. Das wäre die einzig richtige noch nicht aus. Deshalb müssen Sie Ihren Parteifreund
Antwort! Vesper an die Leine nehmen, Herr Kollege Schlauch. Es
geht nun wirklich nicht, als Minister einer Landesregie-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – rung die Gewalttäter zu Verhandlungsführern zu ma-
Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- chen. – Die Kriminalität hat durch die Anstrengungen
NEN]: Ich dachte, ihr hättet die roten Socken von Bund und Ländern abgenommen. Das ist in erster
weggepackt!) Linie das Verdienst der Polizeibeamten. Wir müssen sie
bei ihrer Arbeit unterstützen und dürfen ihnen nicht in
Herr Kollege Schlauch, jetzt komme ich auf den Be- den Rücken fallen. Dafür appelliere ich, darum werbe
richt des Bonner „Generalanzeigers“ vom 26. Oktober ich.
zu sprechen. Er hat mich so empört, daß ich ihn heute
erwähnen muß. Der Bericht handelt über gewalttätige (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
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Dr. Wolfgang Schäuble

(A) Aber ich sage auch: Neben vielen wichtigen und Mitbürgern, die auf Dauer in Deutschland leben und von (C)
schwierigen Aufgaben ist die Bewahrung von innerer denen viele von uns einmal angeworben wurden – auch
Sicherheit in der modernen Welt eine der großen Her- das gehört zur Wahrheit und muß den Menschen immer
ausforderungen, für deren Bewältigung es kein Patentre- wieder gesagt werden –, also mit Menschen, die ganz
zept gibt. unterschiedlich sind, alle modernen Demokratien vor
große Herausforderungen, vor große Bewährungsproben
(Zuruf des Abg. Rezzo Schlauch [BÜNDNIS stellt. Das ist richtig; da sind wir uns einig.
90/DIE GRÜNEN])
Deswegen muß unser aller Ziel sein – ich hoffe, daß
– Herr Kollege Schlauch, wenn Sie in diesem Zusam- es hierbei in diesem Hause keine Unterschiede gibt –,
menhang noch einen Zwischenruf machen, muß ich über die auf Dauer rechtmäßig in Deutschland lebenden aus-
einen Vorgang berichten, bei dem Sie sich entschuldigen ländischen Mitbürger – vor allen Dingen die Kinder, die
mußten. Meine Kenntnisse über Ihren Umgang mit ba- hier geboren werden – so gut und so schnell wie mög-
den-württembergischen Polizeibeamten sind noch gut lich zu integrieren. Zur Verwirklichung dieses Ziels
genug, um Sie zu warnen: Seien Sie an dieser Stelle müssen wir auf allen Ebenen, also im Bund, in den Län-
ganz ruhig! dern und in den Gemeinden, sehr viele Anstrengungen
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- unternehmen. – Ich wiederhole: Kein Bundesland hat in
ordneten der F.D.P.) den Schulen mehr Stellen für die Integration von Kin-
dern ausländischer Eltern eingerichtet als der Freistaat
Die Bewahrung der inneren Sicherheit wird nicht ge- Bayern. Auch das gehört zur Wahrheit, wenn man fair
lingen, wenn wir nicht eine vernünftige Mischung von miteinander umgeht. –
verschiedenen Maßnahmen finden. Herr Bundeskanzler,
wir stimmen mit dem überein, was Ihr Innenminister im (Beifall bei der CDU/CSU)
Zusammenhang mit Maßnahmen zur Prävention – Ju- Wir müssen also gemeinsam auf allen Ebenen jede
gendarbeit, Musikschulen und dergleichen – gesagt hat. Anstrengung zur Förderung von Integration unterneh-
Diese Art von Prävention muß sich aber vor Ort, in der men. Die Union wird sich darin von niemandem über-
Kommunal- und Landespolitik abspielen. Je mehr es treffen lassen.
gelingt, mit Hilfe von Ehrenamtlichen – Herr Bundes-
kanzler, da haben Sie mich völlig falsch verstanden, ich Aber die ausnahmslose Hinnahme einer doppelten
hatte etwas anderes gesagt; ich wollte Sie gar nicht är- Staatsangehörigkeit ist der falsche Weg. Sie wird die
gern, sondern mich nur mit Ihnen politisch auseinander- Integration nicht fördern, sondern behindern. Deswegen
setzen – präventive Arbeit zu leisten, um so besser ist es. appelliere ich an Sie: Kehren Sie auf diesem falschen
Aber alle Prävention und alle Sozialtherapie wird den Weg um! Das Ergebnis wird nicht mehr Toleranz und
(B) Staat am Ende nicht der Verantwortung entheben, das mehr Ausländerfreundlichkeit, sondern das Gegenteil (D)
Gewaltmonopol durchsetzen zu müssen. Dafür brauchen sein. Wenn Sie die ausländischen Mitbürger mit dem
wir klare Gesetze, eine einsatzfähige Polizei und Ge- Privileg versehen, zwei Staatsangehörigkeiten haben zu
richte, die den Rechtsstaat durchsetzen. Das eine kann können, während die Deutschen nur eine haben, wenn
nicht durch das andere ersetzt werden. Sie die Staatsangehörigkeit nicht mehr als Abschluß
eines Integrationsprozesses verstehen, dann geht das am
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Kern des Problems vorbei, Herr Bundeskanzler. Es ist
ordneten der F.D.P.) die freie Entscheidung der Menschen, ob sie die deut-
Ich glaube übrigens, daß uns die Prävention und die sche Staatsangehörigkeit erwerben wollen, ob sie Deut-
Gewaltfreiheit um so besser gelingen werden, je mehr sche sein wollen oder nicht. Wir zwingen niemanden,
wir uns daran erinnern, daß grundlegende Werte und das Deutscher zu werden. Aber wer Deutscher werden will,
Bekenntnis dazu Grundlage jeder Freiheitsordnung sein muß die Entscheidung dazu treffen. Deswegen ist die
müssen und daß wir Institutionen brauchen, die Werte ausnahmslose Hinnahme einer doppelten Staatsangehö-
vermitteln. Anders wird es nicht gehen. rigkeit im Ergebnis nicht ein Programm zur Förderung
von Integration, sondern zur Förderung von Ausländer-
Rotgrün ist auf dem falschen Weg, wenn es die vor- feindlichkeit. Deswegen werden wir sie bekämpfen.
rangige Schutzfunktion von Ehe und Familie dadurch
untergräbt, daß es Ehe und Familie jeder anderen Form (Beifall bei der CDU/CSU)
menschlichen Zusammenlebens gleichsetzen will. Nach Meine Damen und Herren, der grundsätzliche Unter-
Artikel 6 des Grundgesetzes genießen Ehe und Familie schied zwischen dieser Regierung, der rotgrünen Koali-
vorrangigen Schutz. Diesen Schutz brauchen sie auch. tion, und der Union – über alle Einzelheiten und Einzel-
Wir respektieren jede Lebensform der Menschen. Wir fragen hinweg, über die wir uns Tag für Tag und Woche
schreiben niemandem etwas vor. Aber wir brauchen für Woche kämpferisch auseinandersetzen müssen und
Leitbilder und eine Wertorientierung, damit unsere Ge- auseinandersetzen werden – besteht letzten Endes in der
sellschaft auch im 21. Jahrhundert freiheitlich, tolerant Frage – in den Zielen sind wir uns ja häufig einig: Inte-
und menschenwürdig bleibt. gration, Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, Wohlstand
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- für alle, soziale Sicherheit, Frieden nach außen und in-
ordneten der F.D.P.) nere Sicherheit; über all das gibt es keinen Streit –: Wie
erreichen wir diese Ziele? Bei der Beantwortung dieser
Wir brauchen die richtigen Entscheidungen. Wir sind Frage setzen Sie, wenn es ernst wird, trotz aller schönen
uns einig, daß das Zusammenleben mit ausländischen Formulierungen in Ihrer Regierungserklärung immer auf
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998 79
Dr. Wolfgang Schäuble

(A) staatliche, zentralistische Regulierung und Reglementie- bessere Lösung, zum Beispiel zwischen Kommunen und (C)
rung und im Ergebnis auf Steuern, Abgaben und Büro- zwischen Bundesländern, geben. Diese bessere Lösung
kratie. muß dann Vorbild für die anderen sein. Die Ausgleichs-
systeme dürfen nicht dazu führen, daß am Schluß dieje-
Das ist nach unserer Überzeugung der falsche Weg. nigen mit den schlechtesten Ergebnissen an der Spitze
Wir trauen den Menschen, und wir trauen ihnen etwas stehen. Deswegen muß unser System des Föderalismus
zu. Deswegen wollen wir die Kräfte von Eigenverant- reformiert werden.
wortung, Freiheit, freiwilliger Solidarität, von Werten
und wertvermittelnden Institutionen stärken. Das ist der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
grundsätzliche Unterschied. Dieser Unterschied wird ordneten der F.D.P.)
sichtbar in der Sozialpolitik, in der Wirtschaftspolitik, in
der Finanzpolitik, in der inneren Sicherheit und bei der Wer den Wettbewerb nicht akzeptiert, hat die Grundre-
Integration ausländischer Mitbürger. geln für Innovations- und Zukunftsfähigkeit einer Wirt-
schafts- und Gesellschaftsordnung nicht verstanden. Mit
Dies ist letzten Endes eine Frage des Menschenbil- dieser grundsätzlichen Alternative werden Sie sich in
des. Nach unserer Überzeugung kann der Staat nicht al- den kommenden Jahren auseinandersetzen müssen. Wir
les, und er darf auch nicht alles können. Staatliche All- streiten mit Ihnen um den besseren Weg in eine gute
macht war in der Menschheitsgeschichte immer die Vor- Zukunft, und wir nehmen unsere Verantwortung ernst.
stufe zur Hölle. Deswegen sind Machtbegrenzung, De-
zentralisierung, Föderalismus, Autonomie und Wettbe- Ich sage noch einmal, weil ich ja weiß, daß Sie Ihre
werb der bessere Weg, um Freiheit und eine gute Zu- Wahlversprechungen schnell vergessen machen wol-
kunft zu sichern. Das ist der Weg der Union. len – deswegen muß es am Anfang und am Ende des er-
sten Diskussionsbeitrags zu dieser Regierungserklärung
(Beifall bei der CDU/CSU) gesagt werden –: Das Haus ist wohl bestellt, das Sie
Wir wollen einen handlungsfähigen Staat, der sein nach 16 Jahren CDU/CSU-FDP-Regierung übernommen
Gewaltmonopol ernst nimmt und durchsetzt. Wir brau- haben.
chen eine wettbewerbsfähige Wirtschaft. Herr Lafontai- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. –
ne, es hilft alles nichts: Die wirtschaftliche Entwicklung, Widerspruch bei der SPD)
die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft richtet sich
nach den Regeln von Markt und Wettbewerb im Zeital- Niemand hat je bestritten, daß wir eine Menge Probleme
ter der Globalisierung. Wer die bestehenden Regeln des haben. Sie haben uns doch in den letzten Jahren immer
weltweiten Wettbewerbs bestreitet, kann Deutschland wieder daran gehindert, die Probleme noch besser zu lö-
nicht in eine gute Zukunft führen. Für die Wettbewerbs- sen, als wir sie ohnehin schon gelöst haben. Aber es
(B) fähigkeit der Wirtschaft muß man die Regeln von Markt bleibt festzuhalten: Das Haus ist wohl bestellt. Wir ha- (D)
und Wettbewerb akzeptieren. ben eine rückläufige Arbeitslosigkeit; es gibt 400 000
Arbeitslose weniger als vor einem Jahr. Es sind über
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- 800 000 Arbeitsplätze im Verlauf dieses Jahres hinzuge-
ordneten der F.D.P.) kommen. Wir haben stabile Preise und die niedrigste
Aber das ist nicht alles. Wirtschaft und Wirtschaften Preissteigerungsrate seit vielen Jahren. Wir haben die
sind nie Selbstzweck. Ziel ist vielmehr, für die Men- niedrigsten Zinsen. Wir haben ein solides Wirtschafts-
schen mehr Erfüllung, mehr Glück, mehr Wohlstand, wachstum. Wir haben weniger Kriminalität und eine hö-
mehr soziale Sicherheit sowie mehr Frieden und Freiheit here Aufklärungsquote. Wir haben in den letzten Jahren
zu bewirken. Deswegen wollen wir eine sozial starke weniger Zuwanderung nach Deutschland gehabt. All
Gesellschaft. Wir müssen um die Frage „Wirtschaft wo- dies stellt die Ausgangslage dar, in der Sie anfangen.
zu?“ ringen, um die richtigen Antworten zu geben. Wirt- (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Eine Er-
schaftliche Leistungsfähigkeit, eine aktive, starke Ge- folgsbilanz!)
sellschaft, Solidarität, soziale Gerechtigkeit und Wärme
– das ist der Wettstreit, um den es geht. Angesichts des- Wenn sich in den kommenden Jahren die Entwick-
sen versagen Sie, indem Sie schon die Regeln von Markt lung zum Schlechteren verändert, dann sind das, Herr
und Wettbewerb nicht akzeptieren können. Bundeskanzler, Ihre Zahlen. Wenn die Arbeitslosigkeit
und auch die Inflation steigen und das Wirtschafts-
Herr Bundeskanzler, Sie haben in zwei Reden – am wachstum zurückgeht, dann ist das in der Verantwor-
1. September und am 3. Oktober dieses Jahres, noch als tung Ihrer Politik.
Bundesratspräsident – davon gesprochen, der Födera-
lismus dürfe nicht zu einem Wettbewerb zwischen den (Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr richtig!)
Bundesländern werden.
Daran werden Sie sich messen lassen müssen. Sie haben
Ich sage: In dieser Frage ist die CDU/CSU grund- gesagt, Sie wollen sich daran messen lassen; wir werden
sätzlich gegenteiliger Auffassung. Sie daran messen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Bei-
fall bei der F.D.P.)
Wenn dezentrale Systeme, die kommunale Selbstver-
waltung, der Föderalismus, die Gliederung staatlicher
Macht und Zuständigkeit in Bund und Ländern, einen Vizepräsident Rudolf Seiters: Das Wort hat der
Sinn machen sollen, muß es einen Wettbewerb um die Vorsitzende der SPD-Fraktion, Dr. Peter Struck.
80 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998

(A) Dr. Peter Struck (SPD): Herr Präsident! Meine Da- mit der PDS eingegangen ist. Uns dann hier Zusammen- (C)
men und Herren! Es gibt verschiedene Möglichkeiten, arbeit vorzuwerfen ist lächerlich.
im Parlament das Verhältnis zwischen den Koalitions-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
fraktionen und den Oppositionsfraktionen zu regeln.
Eines will ich Ihnen in aller Deutlichkeit sagen, Herr Wenn Sie, Herr Kollege Schäuble, uns auch noch anla-
Kollege Schäuble: Wer wie Sie uns „Machtbesoffen- sten wollen, daß die PDS in den Bundestag eingezogen
heit“ vorwirft, ist, dann sage ich Ihnen klipp und klar: Wir wollten
nicht – Verzeihung, Herr Kollege Gysi –, daß diese
(Zuruf von der CDU/CSU: Hat recht!)
Partei in den Deutschen Bundestag einzieht. Sie ist ein-
der darf sich dann nicht darüber wundern, daß ich ihm gezogen, weil Sie, meine Damen und Herren von der
entgegenhalte: Ihre Tiraden sind nur dadurch zu erklä- Opposition, in den neuen Ländern eine falsche Politik
ren, daß Sie die Regierungsmacht verloren haben und gemacht haben. Sie haben das zu verantworten, nicht
daß Sie selbst nicht Bundeskanzler der Bundesrepublik wir.
Deutschland werden konnten.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
Es macht mich sehr stolz, hier für die größte SPD-
90/DIE GRÜNEN)
Bundestagsfraktion sprechen zu dürfen, die je in diesem
Ich sage Ihnen noch eines, Herr Kollege Schäuble: Hause gearbeitet hat.
Sie brauchen hier keine Reden wie vor der Wahl zu
(Zurufe von der CDU/CSU)
halten, nach dem Motto: Wir übergeben ein wohl be-
stelltes Haus. Wenn das denn so wäre, so müßte man – Entschuldigen Sie; ich höre Zurufe von Herrn Waigel
fragen: Wieso sind Ihnen denn die Bürger, zum Beispiel und Herrn Glos. Ich will nur Herrn Kollegen Waigel sa-
die Mieter, weggelaufen? Können Sie mir das einmal gen – Herr Hintze hat sich schon verzogen –: Sie sind
erklären? Das ist ja geradezu absurd. nun absolut ungeeignet, in irgendeiner Weise Zurufe zu
machen, Sie als völlig gescheiterter Finanzminister der
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
Bundesrepublik Deutschland.
90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
Ich sage Ihnen auch noch klipp und klar: Wir können
90/DIE GRÜNEN)
vernünftig miteinander umgehen. Das sollten wir im In-
teresse unserer parlamentarischen Demokratie tun. Aber Die SPD-Kandidatinnen und -Kandidaten haben 212
dann müssen Sie, verehrter Herr Kollege Schäuble, es Wahlkreise direkt gewonnen, 109 mehr als bei der Wahl
auch ertragen, daß Zwischenrufe gemacht werden. Da- zum vergangenen Bundestag. Das hat es noch nie gege-
(B) bei müssen Sie nicht immer den Schutz des Präsidenten ben: 20 181 269 Wähler haben der SPD und Gerhard (D)
in Anspruch nehmen. Wenn Sie die SPD-Fraktion so Schröder ihre Zweitstimme gegeben. Meine Damen und
angreifen, wie Sie das getan haben, dann werden wir uns Herren, Herr Bundeskanzler, wir werden dieses Vertrau-
wehren, und dabei wird es bleiben. Nehmen Sie das zur en rechtfertigen.
Kenntnis!
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD)
Zum erstenmal in der Geschichte der Bundesrepublik
Ich war ja sehr gespannt auf die Rede, die Sie halten Deutschland ist – das ist der tiefere Grund für die Ver-
würden, weil ich dachte: Was kommt denn nun? Ich ver- bitterung und für die teilweise unsinnigen Tiraden Ihres
stehe – weil wir das ja selbst 16 Jahre lang als Opposi- Fraktionsvorsitzenden – eine Regierung komplett ab-
tion ertragen mußten –, daß der Vorsitzende einer Oppo- gewählt worden. Zum erstenmal haben Oppositionspar-
sitionsfraktion versuchen muß, die eigenen Leute zu teien per Wahl das Kanzleramt errungen. Ihnen mag das
mobilisieren. nicht passen, aber es sollte Sie freuen; denn es ist ein
Beleg dafür, wie demokratisch und lebendig unsere
(Michael Glos [CDU/CSU]: Scharping hat das
Bürger entscheiden können, wenn es um die Frage geht,
immer gemacht!)
wer politische Verantwortung in unserem Land haben
Ich kann nachvollziehen, wie schwer das für Sie ist und soll.
daß man dann natürlich versuchen muß, auch kräftige
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Worte zu finden. Aber, Herr Kollege Schäuble, Ihre
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
heuchlerischen Ausführungen zu der Frage des Ver-
hältnisses zwischen PDS und SPD Wir, die SPD-Fraktion, werden uns – trotz dieses sehr
schlechten Anfangs von Ihrer Seite, Herr Kollege
(Michael Glos [CDU/CSU]: „Heuchlerisch“?
Schäuble –
– Weitere Zurufe von der CDU/CSU)
(Lachen bei der CDU/CSU)
gehen weit über die Grenze hinaus.
durch die gewonnene Stärke nicht zu Arroganz verleiten
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
lassen. Allen Fraktionen bieten wir eine faire, konstruk-
90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten
tive Zusammenarbeit an, schon deshalb, weil wir aus
der PDS)
16 Oppositionsjahren wissen, wie es ist, wenn alle Ei-
Wir wissen doch ganz genau, daß in 44 Gemeinden und geninitiativen von der Dominanz der Regierungsfraktio-
Landkreisen in den neuen Ländern die CDU Koalitionen nen vom Tisch gefegt werden.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998 81
Dr. Peter Struck

(A) Wo ich gerade die F.D.P. sehe sagen: Auch die längste Reise beginnt mit dem ersten (C)
Schritt.
(Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Wir waren
die ganze Zeit hier!) Sie können sicher sein, daß wir es ernst meinen mit
– ja, ich weiß –: Der arme Herr Gerhardt muß jetzt ganz der Erkenntnis, die der Vorsitzende der Unionsfraktion,
alleine da vorne in der ersten Reihe sitzen. Kollege Schäuble – er ist gerade nicht im Saale anwe-
send –,
(Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Ich bin in
guter Gesellschaft!) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Er
kommt gleich wieder!)
Als wir – das muß ich Ihnen einmal sagen, Herr Ger-
hardt; vielleicht wissen Sie das nicht – in der Situation 1994, bei der letzten Regierungserklärung Helmut Kohls
waren, in der Sie jetzt sind, ging es um die Frage, wie zum Anfang einer Legislaturperiode, hier zum Besten
viele Stühle in der ersten Reihe die Fraktionen haben gegeben hat: „Wir wissen nicht alles, und wir wissen
dürfen. Die SPD-Bundestagsfraktion hat damals der nicht alles besser.“ Das ist eine richtige Erkenntnis. Ich
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen freundlicherweise ei- werde ihn noch persönlich darauf ansprechen, wenn er
nen ihrer Plätze zur Verfügung gestellt. Daran, daß Sie Gelegenheit hat, wieder hier im Plenum zu sein.
jetzt dort alleine sitzen müssen, sehen Sie, wie Ihr ehe-
maliger Koalitionspartner mit Ihnen umgeht. 1994 war dies eine kluge Einschätzung. Wie recht er
damit hatte, hat das Wählervotum gezeigt. Das war auch
(Beifall bei der SPD) die Antwort darauf, daß die Unionsfraktion entgegen ih-
So ist das, wenn man nicht mehr gebraucht wird. rer vorgetragenen Einschätzung glaubte, das Land mit
ihrer Besserwisserei überziehen zu können. Das glauben
Ihre Fraktion ist ein bißchen kleiner geworden, und Sie heute übrigens – wie die Rede von Herrn Schäuble
die Anreden in Ihrer Fraktion müssen sich auch ändern: gezeigt hat – noch immer. Wie anders ist zu verstehen,
Sie können nicht mehr „Herr Minister“ und „Herr daß Sie auf Ihrem Parteitag und auch eben wieder eine
Staatssekretär“ sagen. Sie regieren zum erstenmal seit vermeintliche Erfolgsbilanz vorlegten? Nehmen Sie
29 Jahren nicht mehr mit, aber – das muß ich Ihnen ehr- doch den Rat an, der Ihnen in den Medien erteilt wird.
lich sagen, Herr Gerhardt – ich habe überhaupt kein Sie machen sich lächerlich, wenn Sie, Herr Waigel, Herr
Mitleid mit Ihnen. Es freut mich geradezu. Glos und andere, sich nach einer so heftig verlorenen
Wahl auf die Schulter klopfen. Was Sie hinterlassen ha-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
ben, ist kein Fundament für eine gute Zukunft, wie Sie
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr.
es kürzlich und gerade eben wieder behauptet haben.
Guido Westerwelle [F.D.P.]: Wir haben auch
(B) kein Problem damit!) (Beifall bei der SPD) (D)
Da ich nun gerade meinen Blick schweifen lasse:
Meine Aufgabe ist es nicht, Ursachenforschung für
Herr Altbundeskanzler Kohl, es ist viel davon gespro- das Desaster der Union zu betreiben. Das machen Leute
chen worden, in welch würdiger Art und Weise der wie Rüttgers, Blüm, Geißler, Biedenkopf oder angeb-
Amtswechsel vollzogen worden ist und wie Sie diese liche „Junge Wilde“ – was daran wild sein soll, ist mir
Wahlniederlage hingenommen haben. Ich will das nicht noch nie aufgegangen – mit weit intimerer Kenntnis.
wiederholen; ich finde, das ist nun oft genug gesagt
worden. Aber ich möchte sagen – Sie werden es mir per- Die Kirchen haben Sie gewarnt; die Gewerkschaften
sönlich nicht übelnehmen, Herr Altkanzler Kohl –: Mir haben Sie gewarnt. Dennoch haben Sie eine Politik be-
wäre es lieber gewesen, wenn Sie diese würdige Art, ei- trieben, die gegen die Interessen der großen Mehrheit
ne Wahlniederlage hinzunehmen, schon viel früher als der Bevölkerung gerichtet war. Das ist jetzt sogar Nor-
1998 hätten zeigen können. bert Blüm aufgefallen. Er sagt – ich zitiere –: „Vielleicht
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Klaus haben wir den Eindruck erweckt, unsere Vorschläge
Bühler [Bruchsal] [CDU/CSU]: Arroganz der stammten aus dem sozialen Kühlhaus.“ – Herr Kollege
Macht! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU) Blüm, das war nicht nur irgendein Kühlhaus. Manchmal
hat Ihre Regierung den Eindruck erweckt, als sei ihr so-
– Ja, die Wahrheit hört man nicht gerne. Herr Waigel, ziales Gewissen tief im ewigen Eis Grönlands eingefro-
setzen Sie sich mal lieber ganz nach hinten; dort stören ren.
Sie am wenigsten. Ihre Zeit ist sowieso schon lange vor-
bei. (Beifall bei der SPD)
Wer hätte erwartet, daß diese Koalition der Erneue- Inzwischen aber tauen selbst die sozialen Gefühle des
rung in Rekordzeit einen vertragsfähigen Handlungs- neuen CDU-Vorsitzenden auf. Fast anrührend gab er
rahmen abstecken würde? Das sind keine Blütenträume, am 29. Oktober zu Protokoll, daß wir wieder eine Ge-
sondern das Konzept, wie es der Herr Bundeskanzler für sellschaft brauchen, in der niemand sich selbst überlassen
die nächsten vier Jahre vorgestellt hat, ist sehr reali- bleibt, eine Gesellschaft – so Herr Kollege Schäuble –,
stisch. Manchem Bürger geht das nicht weit genug; in der soziale Gerechtigkeit herrscht. – Ich glaube,
mancher hätte mehr Aufbruch erwartet. Ich glaube aber, Herr Schäuble, Sie verwechseln da eine Kleinigkeit: Sie
daß Rot und Grün das rechte Augenmaß für Kontinuität müssen jetzt Opposition gegen Rotgrün machen, oppo-
und Erneuerung hatten. Für unseren Start in Jahre har- nieren im Augenblick aber gegen Ihre Thesen von ge-
ter Arbeit gilt, was die Chinesen mit einem Sprichwort stern aus dem Kühlhaus. Lesen Sie doch nach, was Sie
82 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998

Dr. Peter Struck

(A) vor zwei Jahren in der Akademie in Tutzing gesagt ha- nicht mehr Rechnung getragen wurde, Sie haben aktiv (C)
ben: dazu beigetragen, indem Sie gesellschaftliche Gruppen
gegeneinander ausgespielt und in weiten Teilen Klien-
Das Desaster der Union ist nicht mein Thema.
telpolitik betrieben haben.
Mein Thema ist die Frage, wie eine Regierung so
sehr die Notwendigkeit des Zusammenhalts dieser (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Gesellschaft aus den Augen verlieren konnte. der PDS)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Meine Damen und Herren, genau das wollen wir
In den CDU-Sozialausschüssen bemängelt man, die nicht. Wir wollen die Gerechtigkeitslücke schließen.
Bundesregierung habe nicht leidenschaftlich genug für Wir haben keine großen Versprechungen, wir haben
den Konsens gekämpft und sei – Zitat – in die Kon- vor allen Dingen keine falschen Versprechungen ge-
fliktfalle geraten. – Das stimmt nur zum Teil. Die ehe- macht, Herr Kollege Kohl. Wir halten Wort und werden
malige Regierung Kohl hat sich nicht in die Kon- deshalb unverzüglich die von der Regierung Kohl vor-
fliktfalle verirrt. Das Scheitern des „Bündnisses für Ar- genommenen Verschlechterungen beim Kündigungs-
beit“ war die logische, wenn auch absolut falsche Kon- schutz, bei der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall,
sequenz einer Politik, die immer nur die alttestamentari- beim Schlechtwettergeld der Bauarbeiter und bei den
sche Alternative im Auge hatte: Wer nicht für mich ist, Renten korrigieren.
ist wider mich. (Beifall bei der SPD)
In diesem Land ist von Ihnen zu lange ein Freund- Nur ein Beispiel daraus: Das Schlechtwettergeld,
Feind-Schema gezüchtet worden. In diesem Land ge- das 1959 als soziale Errungenschaft am Bau gefeiert
hörte nur der zu den Guten, der Ihrer Meinung war. In wurde, wird 1999 mit uns wieder eingeführt. Wir korri-
diesem Land wurde nicht zusammengeführt, sondern ge- gieren den Wahnsinn einer sogenannten Reform, mit der
spalten. im Winter massenhaft Bauarbeiter entlassen wurden und
(Beifall bei der SPD) auch im Frühjahr auf der Straße standen. Winterrisiko
darf kein Arbeitsplatzrisiko sein.
Da wurden einzelne Menschen wie der Schriftsteller
Günter Grass an den Pranger gestellt, weil sie unbeque- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
me Meinungen zum Beispiel in der Ausländerpolitik der PDS)
hatten. Da wurden Fernsehjournalisten mit sanftem Ich warte eigentlich immer noch auf den Kollegen
Druck aus dem Kanzleramt kaltgestellt, weil sie Kohls Schäuble, weil ich einige Worte an ihn richten will.
Weg in die Einheit kritisch begleiteten. Da wurden Vielleicht könnte die Geschäftsführung mir einmal mit-
(B) Gruppen wie Atomkraftgegner mitunter wie Staatsfeinde teilen, ob er noch zu kommen beabsichtigt. Ich möchte (D)
behandelt. auf ihn eingehen. Er hat ja gerade gesagt: Wir wollen
Fast ein Viertel der Wähler in den neuen Ländern ha- eine Debatte haben. Aber wie kann ich mit ihm eine De-
ben Sie mit Ihren Polarisierungen in die Hände der PDS batte führen, wenn er nicht da ist?
getrieben. Sie finden es jetzt aber absurd, daß diese Par- (Beifall bei der SPD)
tei am politischen Prozeß beteiligt werden muß.
Union und F.D.P. kritisieren die Finanzpolitik der
Zur PDS hat der Kollege van Essen in der für die neuen Regierung und unsere Steuerreform – Herr
Union fürchterlich peinlichen Geschäftsordnungsdebatte Schäuble hat das eben auch getan –, offensichtlich ohne
zu Beginn der Arbeit dieses Bundestages zwei richtige genau hingesehen zu haben. Ein Satz von Herrn
Sätze gesagt, die ich nur unterstreichen kann. Ich zitiere: Schäuble ist absolut rekordverdächtig: „Unsere Bundes-
Die PDS lebt doch gerade davon, sich als verfolgt, regierung“, so hat er gesagt, „hinterläßt geordnete
als benachteiligt darzustellen. Wir sollten ihr genau Staatsfinanzen.“
diesen Gefallen nicht tun. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
So ist es. Wir werden die PDS ordentlich in die Parla- Dr. Uwe Küster [SPD]: Wo denn?)
mentsarbeit einbeziehen. Dieser Satz qualifiziert Herrn Schäuble aus meiner Sicht
(Beifall bei Abgeordneten der PDS – Michael sofort und unwiderruflich und ohne jeden Gegner als
Glos [CDU/CSU]: So wie in Mecklenburg!) nächsten Kandidaten für den Orden wider den tierischen
Ernst.
– Ich komme auf das Thema noch zu sprechen, Herr
Kollege Glos. (Beifall bei der SPD)
Meine Damen und Herren, Gerhard Schröder und Es ist bei den Löchern, die uns Herr Waigel hinterlassen
Oskar Lafontaine haben immer wieder klargemacht, hat, absolut lächerlich, von „geordneten Staatsfinanzen“
worauf es auch und vor allem ankommen wird. Oskar zu sprechen. Er hat, wie man sehen kann, inzwischen
Lafontaine hat das auf einen einfachen Satz aus dem den Raum auch fluchtartig verlassen.
Volksmund gebracht: „Was du nicht willst, daß man dir
Die wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinsti-
tu', das füg' auch keinem andern zu.“ Das ist banal. Aber
tute sagen in ihrem Herbstgutachten:
auf dieser Banalität beruht alles vernünftige Miteinander
von Menschen in unserem Lande. Sie haben aber nicht Die bisher vorliegenden Ergebnisse der Koalitions-
nur billigend in Kauf genommen, daß dieser Erkenntnis verhandlungen deuten auf eine leichte Lockerung
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998 83
Dr. Peter Struck

(A) der Konsolidierung hin, trotz veränderter finanzpo- Denn schließlich sind bekanntlich fehlende und falsche (C)
litischer Akzente, aber nicht auf einen generellen Analysen von Wahldebakeln das Schlimmste an Ihnen.
Kurswechsel. Das einzige, was beim neuen CDU-Vorsitzenden außer
der bekannten und auch hier wieder praktizierten Pole-
Und ein anderes Zitat: mik deutlich geworden ist: Herr Schäuble hofft, daß die
Die künftige Bundesregierung scheint nach den Oppositionszeit schnell vorüber ist.
bisherigen Verlautbarungen an der mittelfristigen
Rückführung des Budgetdefizits festhalten zu wol- (Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Viele ande-
len. Dies ist zu begrüßen. re auch!)

Was ist denn nun? Ist die Finanzpolitik katastrophal Das kann ich verstehen. Ich weiß aber, auch aus eigener
oder eine Fortsetzung der alten? Ich sage: Weder Sie, leidvoller Erfahrung: So schnell vergehen Oppositions-
die Unionsfraktion, noch die Institute haben recht. Die zeiten nicht.
Finanzpolitik vollzieht einen längst fälligen Kurswech- (Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Das muß ja
sel zu mehr Gerechtigkeit, zu mehr Investitionen. Sie ein schlimmes Trauma sein!)
entlastet die Arbeitnehmer und die Leistungsträger und
stärkt die Nachfrage. Jetzt aber zu Ihrer Bewertung unseres Koalitionsver-
trages. Er habe, so sagte Herr Schäuble eben, nur schö-
(Beifall bei der SPD)
ne Überschriften gelesen, sonst nichts. Wenn er nur
Sie bekämpfen unseren Einstieg in die ökologische Überschriften liest, ist das sein Problem. Ich helfe ihm
Steuerreform, obwohl Herr Schäuble es besser weiß bei zwei Punkten einmal nach, bei denen es die
und das in Sonntagsreden auch sagt oder in Büchern CDU/CSU-Fraktion aus unterschiedlichen Gründen be-
schreibt. Ich will Ihnen noch einmal vorhalten, was die sonders schmerzt.
wirtschaftswissenschaftlichen Institute dazu sagen:
Zum Beispiel die Familienpolitik.
Ein ökologisch orientierter Umbau des Abgabesy-
stems mit einer höheren Belastung des Faktors (Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Jetzt hören
Energie bei gleichzeitiger Entlastung des Faktors wir zu!)
Arbeit kann sowohl positive Umwelteffekte als
Da klagen Sie beredt, daß die Zukunft unserer Kinder
auch positive Wirkung auf die Beschäftigung ha-
bei Rotgrün in schlechter Hand sei. Ihr Fraktionskollege,
ben.
Herr Laumann, Sprecher der Arbeitnehmergruppe Ihrer
Genau das wollen wir. Fraktion – ich weiß nicht, ob er da ist; er macht viel-
leicht schon Mittagspause –, sieht das ganz anders.
(B) Wir wollen darüber hinaus eine Steuerreform, die (D)
sozial gerecht und solide finanziert ist. Wir werden (Michael Glos [CDU/CSU]: Ihre Fraktions-
eine Reform vorlegen, mit der Bürgerinnen und Bür- kollegen wären auch schon gegangen, wenn
ger in drei Stufen in einem Gesamtvolumen von sie dürften!)
54 Milliarden DM entlastet werden. Wir werden über
die Steuerreform am Freitag noch ausführlich diskutie- – Ist ja gut! – Herr Laumann glaubt offensichtlich, daß
ren. in den letzten 16 Jahren nicht genug für Familien getan
worden ist. Denn wie anders ist es zu verstehen, daß er
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir werden gerade jetzt fordert, die Unterstützung der Familien
uns auch sehr intensiv mit der Frage beschäftigen müs- müsse wieder – so das Zitat – „ins besondere Licht der
sen, wie wir in den nächsten vier Jahren jeweils unsere Öffentlichkeit“ gerückt werden? Wir tun das, meine
Aufgaben erfüllen werden, Sie als Opposition, als deut- Damen und Herren. Das hat der Bundeskanzler eben ge-
lich kleiner gewordene CDU/CSU-Fraktion, was mich rade vorgetragen.
herzlich freut – Sie haben 47 Abgeordnete verloren –,
wir als Regierungskoalition. (Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Aber wir
haben das permanent getan!)
(Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Herr
Struck, jetzt reicht es!) Lesen Sie auch bitte einmal das Kleingedruckte im
Koalitionsvertrag. Wenn Herr Schäuble nur Zeit hat,
Sie tun so, als sei die Opposition eine Episode.
Überschriften zu lesen, dann empfehle ich Ihnen: Lesen
(Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Ach was!) Sie die Seiten 41 und 42 des Koalitionsvertrages zu die-
sem Thema. Dort heißt es:
– So war die Rede von Herrn Schäuble.
Wir sorgen dafür, daß sich die wirtschaftliche und
(Michael Glos [CDU/CSU]: Eine ernst zu
soziale Lage der Familien spürbar verbessert. . .
nehmende Rede!)
Mit der Steuerreform wird mehr Steuergerechtig-
Wenn Sie diesen Eindruck erwecken wollen, kann ich keit für Familien geschaffen. Eine durchschnittlich
das verstehen. Aber wenn Sie bei sich zu Hause, partei- verdienende Familie mit zwei Kindern wird um
intern, kaum ein Wort über die Ursachen Ihrer Niederla- rund 2 700 DM entlastet.
ge verlieren, irritiert das doch.
(Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Bei
(Zuruf von der CDU/CSU: Wen?) 50 000 DM!)
84 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998

Dr. Peter Struck

(A) Das Kindergeld für das erste und zweite Kind wird – Herr Kollege Schäuble, ich hatte Sie mehrfach ange- (C)
1999 auf 250 DM und im Jahr 2002 auf 260 DM. . . sprochen; mir wurde gesagt, daß Sie zurückkommen.
angehoben.
(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Jeder
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten muß einmal raus!)
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Bri-
– Ja, natürlich, selbstverständlich. – Aber ich möchte
gitte Baumeister [CDU/CSU]: Mit welchem
jetzt die Gelegenheit nutzen, Herr Kollege Schäuble,
Jahreseinkommen? 50 000!)
trotz der Schärfe, die wir hatten, Ihnen auch im Namen
Ist das nichts, meine Damen und Herren? Natürlich ist der SPD-Bundestagsfraktion herzlich zu Ihrer Wahl zum
dies nicht alles, aber jedenfalls mehr als Sie, Herr Lau- CDU-Parteivorsitzenden zu gratulieren. Das tue ich
mann, seinerzeit von Ihrer eigenen Regierung erwarten gerne.
durften. Sie, Herr Altkanzler Kohl, sind nie in der Lage
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
gewesen, das Kindergeld von 220 DM auf 250 DM zu
der CDU/CSU)
erhöhen. – Wenn Sie zustimmend nicken, dann sagen
Sie, daß ich recht habe. Ich weiß, Herr Kollege Schäuble, das ist ein schwieriges
Amt. Es würde mich reizen, ein paar Personalentschei-
Jetzt will ich etwas zu dem Thema der doppelten
dungen Ihres Parteitages zu kommentieren. Meinen Sie,
Staatsbürgerschaft sagen. Ich finde es schon merkwür-
ich sollte es nicht machen? Dann sage ich nur den einen
dig,
Satz – den werden Sie mir noch gestatten, Herr Kollege
(Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr!) Schäuble –: Wie jetzt jemand, der wie der Kollege
Wulff zweimal Landtagswahlen verloren hat, plötzlich
wie Herr Schäuble über unseren Vorstoß zur doppelten der große Hoffnungsträger sein soll, müssen Sie mir erst
Staatsbürgerschaft gesprochen hat. Er hat nur die Flos- einmal erklären. Ich verstehe es nicht so richtig, aber Sie
kel verwandt – so Herr Schäuble am vergangenen vielleicht schon.
Samstag auf dem Parteitag –, Integration werde nicht
dadurch gefördert, daß die Staatsbürgerschaft zur Belie- (Heiterkeit und Beifall bei der SPD)
bigkeit werde.
Ich war bei der doppelten Staatsbürgerschaft stehen-
(Michael Glos [CDU/CSU]: Das war eine an- geblieben. Ich möchte Sie daran erinnern, daß diese vor-
gemessene Antwort!) schnell eingenommene Ablehnung beim Ausländerrecht
Sie in das Dilemma bringt, das Sie in den 70er Jahren
Auch hier empfehle ich: Lesen Sie mehr als nur Über- mit Ihrer Haltung zu den Ostverträgen hatten. Ihre heu-
schriften! tige Haltung zum Thema doppelte Staatsbürgerschaft
(B) Im übrigen, meine Damen und Herren, finde ich diese könnte Ihnen wie damals über etliche Jahre den Verlust (D)
abschätzige Bemerkung gegenüber all jenen ausländi- der politischen Mitte und der Politikfähigkeit der Union
schen Mitbürgern schäbig, die seit Jahren gerade auf bescheren. Damals ging es um eine Öffnung nach außen.
diese Chance gehofft haben. Heute geht es um eine Öffnung, die dem inneren Frieden
in unserem Lande dient.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
PDS) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Für sie ist die Entscheidung zwischen deutscher und Macht es Sie gar nicht stutzig, daß Sie in dieser Frage
– sagen wir – türkischer Staatsbürgerschaft keine belie- im ganzen Haus isoliert dastehen? Wir jedenfalls bieten
bige Frage. Ihrem ehemaligen Koalitionspartner F.D.P. an: Machen
Sie mit! Lassen Sie uns das Staatsbürgerschaftsrecht so
Herr Schäuble, Ihre Bemerkung ist aber auch schäbig gestalten, Herr Kollege Gerhardt, daß es den Bedingun-
gegenüber all den Kolleginnen und Kollegen in Ihrer ei- gen des neuen Jahrhunderts gerecht wird! Wir sind zur
genen Fraktion, die ähnliche Regelungen beim Staats- Zusammenarbeit bereit. Lassen wir die CDU da stehen,
bürgerschaftsrecht für geboten halten. Wir kennen doch wo sie hingehört, nämlich in der Ecke der sich verwei-
die Diskussion aus der vergangenen Legislaturperiode. gernden Opposition.
Wie gehen Sie denn mit diesen Kollegen um? Einmal
haben Sie den Eindruck vermittelt, daß Sie ein solches (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Projekt unterstützen würden. Dann sind Sie wegen der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
ablehnenden Haltung der CSU zurückgeschreckt. Jetzt Daß es in der Politik immer auch um Macht geht und
haben Sie den Kollegen auf Ihrem Parteitag am Samstag daß eine Regierung um den Machterhalt kämpft, ist klar.
gesagt, das sei keine Frage von Belang. Sie werden sich Aber Machterhalt darf nicht alles sein. Erhard Eppler
täuschen. Während Sie noch Ihre vermeintlichen Erfolge hat dazu in seinem Buch „Die Wiederkehr der Politik“
von gestern feiern, sind Sie gerade in dieser Frage dabei, geschrieben:
Ihre Fehler von morgen zu machen.
Wer Politik auf ein steriles Spiel mit der Macht und
(Beifall bei der SPD – Zuruf von der um die Macht reduziert, wer sie löst von der Frage,
CDU/CSU: Mühsamer Beifall! – Abg. Dr. wie Menschen leben wollen und leben sollen, läßt
Wolfgang Schäuble [CDU/CSU] kehrt zurück in der Tat nur etwas übrig, was für die übrige Ge-
in den Saal) sellschaft ohne Belang ist, einen Kampfplatz oder
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998 85
Dr. Peter Struck

(A) auch nur einen Spielplatz, bei dem es um Ränge Rau wird nach Gustav Heinemann der zweite sozial- (C)
und Medaillen geht, um die Befriedigung von Gel- demokratische Bürgerpräsident der Bundesrepublik
tungsbedürfnis und Machthunger . . . Deutschland.
Herr Schäuble, dem Machterhalt haben Sie in der (Beifall bei der SPD)
vergangenen Legislaturperiode alles untergeordnet. Aus
Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen, den ich
Machterhalt haben Sie noch vor wenigen Wochen Jür-
für mitentscheidend für das Scheitern der bürgerlichen
gen Trittin als Altkommunisten beschimpfen lassen, die
Koalition halte. Wir Sozialdemokraten – und ich denke,
Grünen als Chaostruppe abgetan. Jetzt reden Sie von
auch die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen – werden
Schwarzgrün in den Landesparlamenten. Für wie dumm
diesen Fehler nicht wiederholen. Ich meine das man-
halten Sie eigentlich die Wähler, Herr Kollege
gelnde konstruktive Zusammenspiel zwischen der Re-
Schäuble?
gierung und den Fraktionen von Union und F.D.P.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Kollege Schäuble, bei Ihrem Amtsantritt 1994 haben Sie
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der zwar den Eindruck erweckt, Ihre Fraktion zu einem
Abg. Maritta Böttcher [PDS]) Machtzentrum auszubauen, aber wie die Praxis aussah,
wissen viele Frauen und Männer Ihrer Fraktion aus ei-
Der 27. September 1998 war für Sie mehr als der genem Erleiden: Gerade bei wichtigen Reformvorhaben
Machtverlust in Bonn. Er hat bloßgelegt, was der Kolle- sind Entscheidungen an den Regierungsfraktionen vor-
ge Helmut Kohl mit seiner mächtigen Figur lange ver- bei in sogenannten Spitzengesprächen gefällt und die
bergen konnte. In Sachen Macht ist die CDU am Ende Fraktionen vor vollendete Tatsachen gestellt worden.
und in Sachen politischer Kompetenz genauso. In den Sie, Herr Schäuble, waren an diesem „Kungelrundenver-
Ländern und Kommunen ist sie fast überall auf das Maß fahren“ maßgeblich beteiligt und haben Ihre Abgeord-
zurückgestutzt, das sie jetzt auch im Bund erreicht hat. netenkollegen zu bloßen Erfüllungsgehilfen degradiert.
Sie haben noch so getan, als spielten Sie überall die erste Mit dieser einseitigen Instrumentalisierung der Fraktion
Geige, als Sie in den Ländern und Kommunalparlamen- haben Sie dem Parlamentarismus geschadet und Ihrer
ten längst im zweiten oder dritten Glied gelandet waren. Regierung letztlich keinen Gefallen getan.
Jetzt ist offensichtlich, wie wenig Ihr selbstgerechtes
Auftreten hier im Parlament mit den wahren Verhältnis- (Beifall bei der SPD)
sen im Lande zu tun hat. Ich bin stolz darauf: Die SPD
Denn nur wenn sich eine Fraktion nicht als bloßer
regiert in 13 von 16 Bundesländern mit. Wir stellen elf
Mehrheitsbeschaffer der Regierung versteht, kann sie
Ministerpräsidenten. Das ist ein klarer Beweis für die
ein verläßlicher Seismograph sein – ein Seismograph,
Stärke der sozialdemokratischen Idee in Deutschland.
der aufnimmt und wiedergibt, was möglich ist und was
(B) (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Kerstin noch getan werden muß. (D)
Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Diese SPD-Fraktion, für die ich spreche, wird die Re-
NEN])
gierung Gerhard Schröders tragen. Das ist überhaupt
Herr Kollege Schäuble hat ein Thema angesprochen, keine Frage. Im Zweifel – und darin unterscheiden wir
auf das ich gewartet habe. Was Sie gesagt haben, ist uns von den alten Koalitionsfraktionen – werden wir
auch nichts Neues gewesen. Deshalb konnte man sich diese Regierung allerdings auch treiben, wenn wir es für
darauf vorbereiten. Es geht um die Frage des Bundes- nötig halten. Wir werden das loyal, konstruktiv und
präsidenten. Herr Kollege Kohl, wir Sozialdemokraten selbstbewußt tun. Wir werden gemeinsam mit dieser
haben nicht vergessen, welch schäbiges Spiel Sie in der Regierung erfolgreich sein; wir werden Innovationen
Präsidentschaftsfrage mit Johannes Rau getrieben haben. durchsetzen, soziale Gerechtigkeit und eine nachhaltige
Entwicklung fördern.
(Beifall bei der SPD – Zuruf von der
CDU/CSU: Was?) Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Erst haben Sie ihm das Amt angeboten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN)
(Dr. Helmut Kohl [CDU/CSU]: Das ist un-
wahr, was Sie sagen!)
Vizepräsident Rudolf Seiters: Das Wort hat die
– Nein, das ist nicht unwahr. – Dann wollten Sie nichts
mehr davon wissen, zogen Steffen Heitmann aus dem Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen, Frau Kerstin
Hut und haben schließlich Roman Herzog zum Präsi- Müller.
denten gemacht. Wir haben noch den Satz im Ohr, den
Sie, Herr Kollege Kohl, in der letzten Legislaturperiode Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
über Rau gesagt haben: „Der wird das nie!“ – Er wird NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
es, Herr Ehrenvorsitzender der CDU, Kollege Schäuble, ich muß sagen, daß ich von Ihrer
(Beifall bei der SPD) Rede wirklich etwas enttäuscht war.

denn wir leben nicht in einer Halbmonarchie, wie Sie (Michael Glos [CDU/CSU]: Unglaublich!)
zwischenzeitlich vielleicht geglaubt haben. Wir leben in Mein Eindruck ist, daß Sie bis jetzt nicht viel aus der
einer Demokratie, in der nicht der Wille eines einzelnen Wahlniederlage gelernt haben. Um einen Punkt von Ih-
den Ton angibt. Meine Damen und Herren, Johannes nen aufzugreifen: Einen Vorwurf kann man der Regie-
86 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998

Kerstin Müller (Köln)

(A) rungserklärung des Herrn Bundeskanzlers sicherlich werden versuchen, in allen Bereichen, die wir angehen, (C)
nicht machen, nämlich den, sie habe nur aus Absichtser- einen neuen, einen reformorientierten Konsens zu fin-
klärungen bestanden. Der Herr Bundeskanzler hat unter den; denn die großen und schwierigen Aufgaben, vor
Berücksichtigung der vollen Breite der gesellschaft- denen wir stehen, kann man im Grunde genommen nur
lichen Aufgaben sehr deutlich gemacht, was sich diese miteinander und eben nicht gegeneinander bewältigen.
Regierung ganz konkret vorgenommen hat. Diese Regie- Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, eine gerechtere
rung handelt! Und Sie handelt schon gleich in den ersten Verteilung der Lasten, einen neuen Generationenvertrag,
Tagen. Mein Eindruck ist: Es fällt Ihnen wirklich die umfassende Orientierung auf ökologische Nachhal-
schwer, sich an die Tatsache dieser neuen Verhältnisse tigkeit und die weitere Demokratisierung der Gesell-
zu gewöhnen. Das ist das Problem. schaft, das alles werden wir nur schaffen, wenn wir
wirklich einen neuen, reformorientierten Konsens in die-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ser Gesellschaft anstreben. Genau das werden wir versu-
und bei der SPD) chen.
Die Wählerinnen und Wähler haben am (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
27. September entschieden, und zwar für eine Politik sowie bei Abgeordneten der SPD)
der Reformen und der grundlegenden Erneuerung. Die-
sen klaren Auftrag werden wir jetzt umsetzen. Diese Ein neues Bündnis für Arbeit und Ausbildung wird
Koalition, diese Bundesregierung werden Deutschland dabei für uns oberste Priorität haben. Wir wollen ge-
ökologisch und sozial erneuern. Es ist uns sehr bewußt, meinsam mit den Gewerkschaften und den Unternehmen
daß das kein einfacher Weg werden wird, auch kein be- alle Möglichkeiten zum Abbau der Arbeitslosigkeit nut-
quemer. Aber es ist der richtige Weg, und es gibt dazu zen. Wir müssen endlich Überstunden abbauen und in
keine Alternative. Herr Schäuble, viel zu lange hat doch neue Jobs verwandeln. Wir müssen durch vernünftige
Ihre Regierung, die alte Bundesregierung, die Probleme Regelungen bei der Arbeitszeit, Teilzeitarbeit erleichtern
ausgesessen; deshalb wollen wir jetzt die notwendigen und fördern. Und wir müssen endlich die Vereinbarkeit
und tiefgreifenden Reformen anpacken. von Erwerbsarbeit und Familienarbeit verbessern. Das
alles ist eben nicht nur eine gemeinsame gesellschaft-
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES liche Aufgabe, sondern es ist auch eine historische
90/DIE GRÜNEN und der SPD) Aufgabe von Politik, Unternehmen und Gewerkschaf-
Damit beginnen wir schon in dieser Woche. Herr ten.
Kollege Schäuble, es ist richtig, daß wir dabei zunächst Ich freue mich sehr über die Ankündigung des Herrn
einmal die schlimmsten Altlasten der alten Regierung Bundeskanzlers, daß das neue Bündnis für Arbeit bereits
aus dem Weg schaffen müssen, nämlich ungerechte und im Dezember mit seiner Arbeit beginnen wird. Wir als
(B) unsinnige soziale Einschnitte, die Sie den Menschen als Bündnisgrüne werden – das kann ich Ihnen versichern – (D)
Reformen verkaufen wollten, wie etwa die Kürzung der alles tun, was in unseren Kräften steht, damit dieses
Lohnfortzahlung, die Aufweichung des Kündigungs- Bündnis erfolgreich sein wird.
schutzes und das abstruse Krankenhausnotopfer.
(V o r s i t z : Vizepräsidentin Anke Fuchs)
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU und der
F.D.P., ich meine, mit einer Politik der organisierten Vordringlich ist in der Tat die Bekämpfung der Ju-
Ungerechtigtkeit reformiert man keine Gesellschaft; gendarbeitslosigkeit. Viele meiner Generation sind ar-
man spaltet sie damit nur. Genau das haben Sie in den beitslos oder haben keinen Ausbildungsplatz. Sie stehen
letzten Jahren gemacht. Sie haben diese Gesellschaft mit vor der Perspektivlosigkeit. 10,8 Prozent der Jugend-
Ihrer Politik mutwillig gespalten, gespalten in Arm und lichen unter 25 Jahren sind arbeitslos: Jeder neunte Ju-
Reich, in Eingeborene und Fremde, in Jung und Alt und gendliche hat keinen Job; im Osten ist es sogar jeder
in Gesunde und Kranke. sechste. Ende Oktober fehlten noch mindestens 36 000
Ausbildungsplätze. Das müssen und werden wir so
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES schnell wie möglich angehen; denn hier liegt ein sozialer
90/DIE GRÜNEN und der SPD) Sprengsatz in der Gesellschaft, wenn ein großer Teil der
Die Schlüsselentscheidung dieser Politik haben Sie Jugendlichen von der Teilhabe am Arbeitsleben ausge-
im Frühjahr 1996 getroffen. Da haben Sie nämlich mut- grenzt wird. Das müssen wir und werden wir als Regie-
willig das „Bündnis für Arbeit“ beendet, indem Sie die rung ändern.
Gewerkschaften vor die Tür gesetzt haben. Das war ein (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
schwerer Fehler mit schlimmen Folgen für die ganze ge- und bei der SPD)
sellschaftliche Entwicklung. Letztlich war Ihre Abwahl
am 27. September wohl die einzig logische und richtige Darum brauchen wir auch das Sofortprogramm, mit dem
Konsequenz aus dieser Fehlentscheidung. 100 000 Jugendliche umgehend und mit besonderem
Schwerpunkt in Ostdeutschland in Ausbildung und Be-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schäftigung gebracht werden.
und bei der SPD)
Herr Bundeskanzler, Sie haben gesagt, Sie hofften,
Wir wollen die ökologische und soziale Modernisie- daß die Bereitstellung von hinreichend vielen Ausbil-
rung der Gesellschaft angehen. Wir werden die Verän- dungsplätzen keinerlei Zwangsmaßnahmen erforderlich
derungen, die nicht zuletzt die Menschen in diesem mache. Das hoffen auch wir. Aber falls es nicht gelingt,
Land erwarten, anders als durch Spaltung angehen. Wir durch Vereinbarungen die erforderlichen Ausbildungs-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998 87
Kerstin Müller (Köln)

(A) plätze zu schaffen, dann – das sage ich hier ganz deut- antwortlichen, leeren Versprechungen ist, die Sie im (C)
lich – wird diese Koalition auch gesetzgeberisch handeln letzten Jahr gemacht haben.
müssen. Dann werden wir eine Ausbildungsplatzumlage
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
auf den Weg bringen.
sowie bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES Angesichts der Haushaltslage von Bund, Ländern und
90/DIE GRÜNEN und der SPD) Gemeinden und angesichts dessen, daß wir bei der Net-
Diese Koalition wird nicht tatenlos zusehen, wenn Ju- toentlastung im Bund gerade einmal einen verfassungs-
gendlichen der Weg zu einer qualifizierten Ausbildung konformen Spielraum von 1,3 Milliarden DM haben, 45
versperrt bleibt. bis 50 Milliarden DM an Nettoentlastung zu verspre-
chen, das war unsolide und völlig unverantwortlich. Wir
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dagegen werden eine solide Steuerreform machen.
und bei der SPD)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Meine Damen und Herren, allerhöchste Zeit ist es und bei der SPD)
auch für die Steuerreform. Sie wird ebenfalls ein Beitrag Hinzu kommt, daß die Steuerausfälle der Ära Waigel
zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sein. ohnehin schon gewaltig waren. Im Jahr 1995 hatte der
(Michael Glos [CDU/CSU]: Na, na, na!) ehemalige Finanzminister Waigel das Steueraufkommen
für 1998 auf 1 020 Milliarden DM geschätzt. Wohlge-
– Sie werden das sehen. – Vor allen Dingen wird sie merkt, das war nicht die raffgierige Phantasie rot-grüner
endlich zu einer gerechteren Lastenverteilung im Steuer- „Staatsfetischisten“, wie Sie zur Zeit so gerne sagen,
system führen. sondern die mittelfristige Finanzplanung des ehemaligen
Finanzministers Waigel höchstselbst. 1 020 Milliarden
(Michael Glos [CDU/CSU]: Das glauben Sie DM sollten es also 1998 werden.
doch selber nicht!)
Nach den letzten Zahlen werden es aber tatsächlich nur
Wir werden die Steuertarife in drei Schritten senken. 824 Milliarden DM sein. Das heißt, innerhalb von drei
Zugleich werden wir das Kindergeld deutlich anheben. Jahren gibt es einen Steuerausfall der fast ein Fünftel der
Wir werden mit jedem Schritt insbesondere die unteren von Herrn Waigel geschätzten Steuereinnahmen aus-
und mittleren Einkommen und die Familien mit Kindern macht. Das alles kommt daher, daß sich infolge der
entlasten. Der Herr Bundeskanzler hat schon darauf hin- Steuerpolitik der alten Bundesregierung quasi ganze so-
gewiesen: In der dritten Stufe unserer Steuerreform wird ziale Gruppen der Steuergerechtigkeit entziehen konn-
eine Familie mit durchschnittlichem Einkommen und ten. Der Einkommensmillionär, der keinen Pfennig
(B) zwei Kindern um 2 700 DM entlastet. Das bedeutet Steuern zahlt, war doch am Ende der Ära Kohl ein be- (D)
endlich mehr Steuergerechtigkeit; das ist ein wirklicher liebter Gast der Talkshows.
Erfolg. Wir werden dies sofort, und zwar bereits zum
1. Januar 1999, angehen. Solche Entlastungsorgien zugunsten von bestimmten
Teilen der Industrie und zugunsten der Reichsten der
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Reichen dieser Gesellschaft haben wir in den letzten 16
und bei der SPD) Jahren zur Genüge erlebt; sie haben zu der höchsten Ar-
beitslosigkeit geführt, die es in dieser Gesellschaft je
Nun ist unser Steuerreformkonzept in den letzten gab. Das muß und wird mit dieser Regierung ein Ende
Wochen heftig diskutiert worden. Den einen ging es haben.
nicht schnell genug, den anderen ging es nicht weit ge-
nug. Den meisten aber gefielen zwar einigermaßen die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
niedrigeren Steuertarife; aber bei der Gegenfinanzierung und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
wollten sie – das war dann besonders originell – alle PDS)
Schlupflöcher möglichst so lassen, wie sie sind. Wir können und wir wollen keine gigantischen Netto-
Eine solche Kritik trifft uns nicht sehr überraschend; entlastungen für die Besserverdienenden mehr durchfüh-
denn die alte Bundesregierung hatte ja mal ganz locker ren. Unsere Steuerreform wurde deshalb solide durchge-
eine Nettoentlastung von 50 Milliarden DM durch die rechnet und ist solide gegenfinanziert.
Steuerreform versprochen, davon – ich erinnere Sie dar- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Sie belastet
an, Herr Glos – ein Drittel durch eine Erhöhung der alle Gruppen dieser Gesellschaft!)
Mehrwertsteuer gegenfinanziert, während die anderen
zwei Drittel durch den Griff in die Kassen von Bund, Wir haben in den letzten Tagen noch manchen Fein-
Ländern und Gemeinden finanziert werden sollten. Das schliff vorgenommen. Wir werden das im Rahmen der
war leicht; Sie wußten nämlich ganz genau, daß die Anhörungen auch noch fortsetzen. Insbesondere auf In-
Länder angesichts ihrer Haushaltslage das nicht realisie- itiative meiner Fraktion haben wir auch Verbesserungen
ren könnten. Das waren alles ungedeckte Schecks, von für den Mittelstand vorgenommen.
denen Sie wußten, daß Sie sie niemals einreichen müß- Ich freue mich, heute sagen zu können: Die Steuerre-
ten. form ist nicht nur notwendig und nicht nur seit Jahren
Mein Eindruck ist, daß ein ganzer Teil der Öffent- überfällig, sondern sie wird kommen, nicht irgendwann,
lichkeit heute noch geradezu besoffen von diesen unver- sondern mit der ersten Stufe wie geplant am 1. Januar
1999.
88 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998

Kerstin Müller (Köln)

(A) Ich finde, das ist ein guter Einstieg für eine neue gleichzeitiger Senkung der Einkommensteuer. Zusätz- (C)
Bundesregierung. lich wurden erneuerbare Energien massiv gefördert und
die Lohnnebenkosten gesenkt. Das Ergebnis ist bemer-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kenswert: Von 1993 bis heute sank die Arbeitslosen-
und bei der SPD – Siegfried Hornung quote in Dänemark von 13 auf 6 Prozent; das heißt, sie
[CDU/CSU]: Nach vier Jahren! Das ist ja lä- wurde mehr als halbiert. Auch die Wachstumsrate lag in
cherlich!) den letzten Jahren regelmäßig über der in den meisten
– Wir fangen ja jetzt schon an. anderen EU-Staaten. Die Niederlande haben die glei-
chen erfolgreichen Erfahrungen gemacht.
Einen ähnlich guten Einstieg haben wir mit der ersten
Stufe der ökologischen Steuerreform gefunden. Sie wird Auf europäischer Ebene – das ist der Punkt – gab es
eine weitere Entlastung für die Arbeitnehmerinnen und bisher nur ein ernsthaftes Hindernis gegen eine europäi-
Arbeitnehmer bringen. Sie ist zugleich ein wichtiges In- sche Vereinbarung über eine ökologische Steuerreform:
strument zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Vor al- Das war die alte Bundesregierung, die aus ideologischer
lem ist sie der entscheidende Schlüssel zur ökologischen Verbohrtheit jeden Fortschritt in dieser Sache in Europa
Neuorientierung der Wirtschaft. Durch die ökologische blockiert hat.
Steuerreform werden deshalb die Lohnnebenkosten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
schon am 1. Januar 1999 um 0,8 Prozentpunkte sinken und bei der SPD)
und in der gesamten Wahlperiode um mehr als 2,3 Pro-
zentpunkte auf unter 40 Prozent. Das wird jetzt auch auf europäischer Ebene anders.
Die neue Regierung wird dort nicht mehr Blockierer,
(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Sie machen sondern Motor in Sachen Ökosteuer sein. Wir werden
eine Steuererhöhung!) die bevorstehende deutsche EU-Ratspräsidentschaft nut-
– Wenn man umfinanziert. Das hat Herr Schäuble schon zen, um dabei ein großes Stück voranzukommen. Das
richtig gesagt. heißt, wir wollen unser Ökosteuerkonzept in eine euro-
paweite Regelung einbetten. Das bedeutet aber nicht,
Eigentlich sollten Sie, Herr Schäuble, uns dafür lo- daß wir in Deutschland derweil die Hände in den Schoß
ben; denn Sie selbst sind ja in der Union schon lange für legen und abwarten. Das hat die alte Bundesregierung
eine ökologische Steuerreform eingetreten. Sie konnten schon viel zu lange gemacht.
sie aber nicht durchsetzen. Sie haben zum 1. April dieses
Jahres – die Mitglieder des Vermittlungsausschusses Deshalb beginnen wir jetzt, und zwar zum 1. Januar
sind ja alle hier anwesend – eine Umfinanzierung 1999, mit dem ersten Schritt – das ist absolut notwen-
durchgeführt: Allein zur Stabilisierung des Rentenbei- dig –, und dann werden wir die Gespräche mit den euro-
(B) trages haben Sie die Mehrwertsteuer um 1 Prozentpunkt päischen Partnern aufnehmen. Wir werden damit erfolg- (D)
erhöht. Wir wollen ökologisch umsteuern und werden reich sein; das kann ich Ihnen versichern.
deshalb durch eine ökologische Steuerreform das billi- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
ger machen, was in der Gesellschaft zu teuer ist, nämlich sowie bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von
die Arbeitskosten. Das wird dann wirklich zu politischen der CDU/CSU: Die glaubt, was sie sagt!)
Veränderungen führen.
– Ja, ich glaube das.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD – Friedrich Mit der ökologischen Steuerreform geben wir richtige
Merz [CDU/CSU]: Wollen Sie nicht auch die Anreize für eine neue Energiepolitik, für den sparsamen
Mehrwertsteuer erhöhen?) Umgang mit den Naturressourcen. Das heißt: Vorrang
der Einsparung vor der Erzeugung, verstärkte Nutzung
Wir haben zur Umsetzung dieser Politik in der Koali- regenerativer Energien und einen neuen, zukunftsfähi-
tion mit einer Mischung aus Mineralöl- und Stromsteuer gen Energiemix, und zwar ohne Atomenergie. Auch das
unter Einbeziehung der Wirtschaft, die von der Senkung ist ein riesiger Schritt in Richtung Zukunftsfähigkeit die-
der Lohnnebenkosten ja auch profitiert, ein gutes Modell ser neuen Bundesregierung. Wir werden den Ausstieg
gefunden. Dabei gehen wir behutsam mit energieinten- aus der Atomenergie in dieser Wahlperiode umfassend
siven Branchen um. Die ökologische Steuerreform ist und unumkehrbar gesetzlich regeln. Wir machen das so
auf ein stetiges Umsteuern angelegt. Das leiten wir mit schnell wie nur irgend möglich.
dem ersten Schritt ein. Die Kritiker der Ökosteuer wol-
len nicht wahrhaben, daß dieses Konzept kein rotgrünes (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES
Abenteuer ist, sondern inzwischen in vielen europäi- 90/DIE GRÜNEN und der SPD)
schen Ländern mit durchweg sehr positiven Auswirkun-
Wir werden einen neuen Energiekonsens mit der In-
gen Realität geworden ist.
dustrie, mit den Verbrauchern und auch mit den Um-
(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das ist nicht weltverbänden suchen, der den Ausstieg aus der Atom-
wahr!) energie, aber gleichzeitig auch den Einstieg in eine an-
dere, in eine neue Energiepolitik umfaßt. An der Ent-
Wir machen da keinen deutschen Alleingang. schlossenheit dieser Koalition, und zwar – wie der Bun-
Ich gebe Ihnen zwei Beispiele: In Dänemark beschloß deskanzler immer wieder zu Recht betont – beider Part-
die Regierung Rasmussen schon 1993 die Einführung ner, diese Gefahr für unsere Sicherheit und für alle zu-
von Ökosteuern auf Elektrizität, Verkehr und Abfall bei künftigen Generationen schnellstmöglich zu beenden,
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998 89
Kerstin Müller (Köln)

(A) sollte niemand Zweifel haben. Das haben wir uns vorge- Wir werden noch in einer anderen Hinsicht mehr (C)
nommen, und das werden wir auch umsetzen. Demokratie und mehr Weltoffenheit wagen. Wir werden
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN uns nämlich endlich der Tatsache stellen – der Sie sich
sowie bei Abgeordneten der SPD) in den letzten Jahren und Jahrzehnten verweigert ha-
ben –, daß ein unumkehrbarer Zuwanderungsprozeß
Die neue Bundesregierung orientiert sich ausdrück- stattgefunden hat, daß die Bundesrepublik Deutschland
lich nicht nur an der Energiepolitik, sondern umfassend heute ein Einwanderungsland ist. Wir werden daher den
am Leitbild der Nachhaltigkeit. Dieser Anspruch richtet Menschen, die heute noch sogenannte Ausländer sind
sich nicht nur an das Umweltministerium, sondern an – das sind immerhin 7 Millionen –, die seit langem hier
alle Ressorts. Wir werden eine umfassende nationale leben, die hier geboren sind und die dieses Land mit
Nachhaltigkeitsstrategie erarbeiten, damit das drittgrößte aufgebaut haben – wir haben sie damals als sogenannte
Industrieland der Welt endlich seiner globalen und öko- Gastarbeiter hierher geholt –, durch eine Reform des
logischen Verantwortung gerecht wird. Ich glaube, auch Staatsbürgerschaftsrechts endlich das geben, worauf
das ist längst überfällig. sie schon so lange gewartet und worauf sie ein Recht
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES haben: die vollen Bürgerrechte.
90/DIE GRÜNEN und der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Meine Damen und Herren, nicht nur die Bekämpfung sowie bei Abgeordneten der SPD)
der Arbeitslosigkeit, sondern auch eine gerechtere La-
Wir werden ihnen, die bisher Fremde im eigenen
stenverteilung und die ökologische Nachhaltigkeit sind
Land waren, mit dieser Reform signalisieren: Ihr gehört
die Ziele dieser neuen Regierung. Der Bundeskanzler
zu dieser Gesellschaft. Wir werden Schluß machen mit
hat es zutreffend gesagt: Die Demokratie in Deutschland
der Spaltung der Gesellschaft in Bürger erster, zweiter
ist kein zartes Pflänzchen mehr, sondern ein kräftiger
und dritter Klasse. Wer hier dauerhaft lebt und hier sei-
Baum. Diesem Baum wollen wir Raum verschaffen,
nen Lebensmittelpunkt hat, wird künftig einen klaren
damit er weiter wachsen und blühen kann. Darum ist ein
Rechtsanspruch auf die deutsche Staatsbürgerschaft be-
weiteres zentrales Vorhaben für uns die stärkere Demo-
kommen, und die Kinder, die hier geboren werden und
kratisierung dieser Gesellschaft. Wir wollen Bürger-
hier aufwachsen, sind künftig mit der Geburt deutsche
rechte ausbauen, indem wir die Beteiligungsrechte der
Staatsbürger, wenn ein Elternteil seit dem 14. Lebens-
Bürgerinnen und Bürger in bezug auf diese Demokratie
jahr hier lebt.
durch die Möglichkeit von Volksbegehren und Volks-
entscheid erweitern. Dies, meine Damen und Herren von CDU und F.D.P.,
Wir wollen Minderheiten besser schützen. Was für machen wir unter bewußter Hinnahme der doppelten
Staatsbürgerschaft. Zum einen gibt es rechtlich über-
(B) eine Zeitenwende bedeutet gerade die Koalitionsverein- haupt keine Alternative dazu. Vielleicht lassen Sie sich (D)
barung über die eingetragenen Lebenspartnerschaften
für schwule und lesbische Paare! das einmal von dem ehemaligen langjährigen Vorsitzen-
den des Rechtsausschusses, Herrn Eylmann, CDU-
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES Mitglied, erklären. Als er nämlich noch Mitglied dieses
90/DIE GRÜNEN und der SPD – Michael Hauses war, wurde er nicht müde, dies zu betonen. Zum
Glos [CDU/CSU]: Da sind Sie auch noch stolz anderen: Es gibt keine wirklichen Argumente gegen die
drauf!) Anerkennung der doppelten Staatsbürgerschaft. Das,
– Ja. was Sie anführen, ist aus meiner Sicht Ideologie.
Noch vor 30 Jahren war die einfache Homosexualität (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
unter Männern nach § 175 des Strafgesetzbuches mit sowie bei Abgeordneten der SPD)
Gefängnis bestraft. Homosexualität unter Frauen galt als
absolutes Tabu. Liebe Kolleginnen und Kollegen von Herr Schäuble, Sie haben heute morgen noch einmal
der CDU, selbst Bischof Lehmann plädierte dieser Tage behauptet, die doppelte Staatsbürgerschaft sei ein Privi-
für eine Öffnung und Gleichstellung. Nach dem, was ich leg der sogenannten Ausländer gegenüber den „wirkli-
heute morgen in Ihrem Beitrag gehört habe, habe ich chen“ Deutschen, weil diese ja schließlich nur eine ein-
den Eindruck, Sie fallen selbst hinter diese Position der zige Staatsbürgerschaft hätten und nicht zwei. Da wird
katholischen Kirche zurück. jetzt sogar mit Klagen vor dem Bundesverfassungsge-
richt oder dem Europäischen Gerichtshof gedroht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD – Detlev von Ich finde es sehr bedauerlich, daß Sie mit diesem
Larcher [SPD]: Das wäre nicht das erste Mal!) wichtigen Thema so unbesonnen umgehen. Die doppel-
te Staatsbürgerschaft ist kein Privileg, und sie hat
Wir werden das ändern. Jetzt werden wir die gleich- nichts, aber auch gar nichts mit Rosinenpickerei zu tun.
geschlechtlichen Partnerschaften durch das Gesetz Wer das behauptet, der erzählt einfach dummes Zeug,
schützen und gleichstellen. Ich sage ganz deutlich: Das und ich finde es gefährlich, das in der Öffentlichkeit zu
ist ein wirkliches Stück Moderne. Das ist ein Stück mehr erzählen.
an Zivilisation, und das ist ein Stück Weltoffenheit. Die-
se hat diese Gesellschaft wirklich bitter nötig gehabt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich will das hier mal erklären. Die Rechte und
sowie bei Abgeordneten der SPD und der Pflichten von Doppelstaatsbürgern richten sich ganz ein-
PDS) fach nach dem festen Wohnsitz. Die zweite Staatsange-
90 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998

Kerstin Müller (Köln)

(A) hörigkeit bedeutet im Kern einen einzigen Vorteil: Es auch diese Politik können wir gemeinsam durchset- (C)
gibt außer Deutschland ein weiteres Land, in dem man zen.
das Recht hat, sich niederzulassen. Dieses Recht, meine
Damen und Herren, das hat jeder Deutsche, und zwar (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
nicht nur in einem anderen Land, sondern in allen sowie bei Abgeordneten der SPD)
14 Ländern der Europäischen Union. Ich finde, wenn
Eine der größten Sorgen, die viele Menschen aus der
man das weiß – und ich gehe einmal davon aus, daß Sie
Kohl-Ära mitnehmen, ist die Sorge um die soziale Si-
das eigentlich wissen, meine Damen und Herren von der
cherheit im Alter. Das Vertrauen in das Rentenversi-
CDU –, dann sollte man nicht von Privilegien reden.
cherungssystem ist durch Ihre Politik der letzten Jahre
Damit macht man schlechte Stimmung gegen die aus-
fundamental erschüttert worden – nicht nur bei der jetzi-
ländischen Mitbürger und Mitbürgerinnen in diesem
gen Rentnergeneration, sondern vor allen Dingen auch
Land.
bei den jungen Menschen. Fragen Sie einmal bei Men-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schen meiner Generation oder bei denen, die noch jün-
und bei der SPD) ger sind, nach.

Daher werden wir als eines der zentralen Anliegen (Michael Glos [CDU/CSU]: Sie sind doch
diese Reform des Staatsbürgerschaftsrechts zügig und nicht mehr jung!)
entschlossen umsetzen.
Wir brauchen mehr Generationengerechtigkeit. Wir
Diese Reform wird das Gesicht dieser Republik ver- müssen endlich die unsteten Erwerbsverläufe absichern
ändern. Ja, das stimmt. und Vorkehrungen für den demographischen Wandel
treffen. Wenn auf immer weniger Beitragszahler immer
(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Sie wollen mehr Rentenempfänger kommen, dann muß das System
ein paar Wähler mehr, sonst gar nichts! – Ge- darauf vorbereitet sein. Wir werden diesen Wandel be-
genruf des Abg. Rezzo Schlauch [BÜNDNIS rücksichtigen, und zwar nachhaltig und zukunftsfähig.
90/DIE GRÜNEN]: Saudummes Geschwätz!) Wir werden innerhalb der nächsten zwei Jahre die über-
fällige große Rentenreform durchführen; das kann ich
Wir wollen das, denn wir stellen uns damit endlich
der durchaus nicht einfachen Aufgabe, diese Einwande- Ihnen versichern. Wir freuen uns, daß sich Herr Riester
rungsgesellschaft zu gestalten – mit all den Problemen, zum Ziel gesetzt hat, es schon in einem Jahr zu schaffen.
die es nun mal mit sich bringt, wenn verschiedene Kul- Ich kann nur sagen: Wir sind dabei.
turen das Miteinander organisieren müssen. Aber es gibt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
dazu keine Alternative, sage ich. Eine Gesellschaft, die sowie bei Abgeordneten der SPD)
(B) in der Mitte Europas liegt und die sich nicht erst seit (D)
heute vorgenommen hat, die Integration Europas voran- Diese Koalition ist durch beide Koalitionspartner ge-
zutreiben, kann und darf sich weder nach außen noch prägt. Es ist klar, daß sich auch die jeweiligen Kräfte-
nach innen abschotten, sondern muß sich offensiv der verhältnisse in ihr widerspiegeln. Aber diese Koalition
Herausforderung stellen, das Zusammenleben einer wird getragen von der Bereitschaft zum Kompromiß und
multikulturellen Gesellschaft zu gestalten, und zwar oh- dem Respekt vor den Positionen des Koalitionspartners.
ne Wenn und Aber, und das werden wir tun; das werden Herr Bundeskanzler, die Bündnisgrünen werden in den
die Folgen aus der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts kommenden vier Jahren ein selbstbewußter, aber auch
sein. ein verläßlicher Bündnispartner sein.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Jetzt gilt es, unser Land umfassend zu modernisieren
und bei der SPD) und es zukunftsfähig zu machen – in Solidarität mitein-
ander in dieser Gesellschaft und in Solidarität mit den
Dieser Herausforderung müssen wir uns auch in be-
anderen Völkern der Welt. Wir wollen diese Aufgaben
zug auf die Menschen stellen, die als Kriegsflüchtlinge
anpacken – entschlossen und lernfähig.
oder Asylsuchende zu uns kommen. Auch dazu haben
wir im Koalitionsvertrag einige Vereinbarungen getrof- Zum Schluß möchte ich noch einen sehr wichtigen
fen – etwa eine Altfallregelung oder die Anerkennung Punkt ansprechen. Wir werden diese Ziele nur erreichen,
geschlechtsspezifischer Verfolgung. Ich sage aber auch wenn wir die innovativen Kräfte dieser Gesellschaft
ganz offen für meine Fraktion, daß dies für uns die wirklich dafür gewinnen. Wir brauchen den demokrati-
schwierigste Stelle im Koalitionsvertrag ist. Es ist ja be- schen Dialog mit allen sozialen Gruppen und auch die
kannt, daß wir Bündnisgrüne die Vereinbarungen in die- offene Debatte. Ich glaube, daß zum Aufbruch nach dem
sem Punkt nicht für hinreichend halten. Wir meinen: Ende der Ära Kohl auch und vor allen Dingen eine neue
Dieses Land verdient eine tatkräftige Reformregierung, demokratische Offenheit gehört. Herr Schäuble, wir sa-
wie wir sie in guten und vertrauensvollen Koalitionsver- gen nicht mehr: „Die demonstrieren – wir regieren.“ Wir
handlungen gemeinsam gebildet haben. sagen den Menschen etwas anderes: „Mischt euch ein!
Wir brauchen eure Initiative; wir brauchen eure Kritik
(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Dann
und suchen die gesellschaftliche Debatte.“ Denn nur da-
sollten Sie zurücktreten!)
durch und durch die Auseinandersetzung miteinander
Ich meine aber, unser Land verdient auch eine Rück- wächst der reformorientierte Konsens, der dieses Land
kehr zu einer humanen Flüchtlingspolitik. Ich hoffe, zukunftsfähig machen kann. In diesem Sinne freuen wir
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998 91
Kerstin Müller (Köln)

(A) uns auf die ersten vier spannenden Jahre der rotgrünen Sie haben die deutsche Öffentlichkeit – diesen Vorwurf (C)
Koalition. kann ich Ihnen nicht ersparen – gewaltig getäuscht. Ich
muß der deutschen Öffentlichkeit aber auch sagen: Sie
Vielen Dank. hat sich leicht täuschen lassen. Sie hat die Modernisie-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rungsbereitschaft von Gerhard Schröder überschätzt und
und bei der SPD) die konservative sozialdemokratische Haltung von Oskar
Lafontaine unterschätzt.

Vizepräsidentin Anke Fuchs: Das Wort hat der Frau Kollegin Müller, die Grünen haben angekündigt,
Vorsitzende der F.D.P.-Fraktion, Herr Dr. Wolfgang sie wollten auf Augenhöhe verhandeln. Sie müssen auf
Gerhardt. Hühneraugenhöhe verhandelt haben. Das stellt man fest,
wenn man das Ergebnis der Koalitionsvereinbarungen
betrachtet.
Dr. Wolfgang Gerhardt (F.D.P.) (von Abgeordneten (Heiterkeit und Beifall bei der F.D.P. und der
der F.D.P. und der CDU/CSU mit Beifall begrüßt): Frau CDU/CSU)
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Bundes-
kanzler, zunächst gratulieren wir Ihnen zu Ihrer Wahl. Das ist nicht nur eine Aussage von mir und von den
Wir wünschen Ihnen im Interesse unseres Landes Erfolg Kolleginnen und Kollegen der F.D.P. Roland Berger hat
in Ihrer Arbeit. Sie werden uns in Debatten engagiert sich vor der Wahl oft lobend über Gerhard Schröder ge-
sehen. Wir werden Ihre Politik kritisch begleiten, ihr, wo äußert. Er wünschte ihn sich allerdings in der Konstella-
immer das möglich ist, zustimmen, sie aber auch ableh- tion einer großen Koalition. Jetzt trage ich Ihnen einmal
nen, wann immer das notwendig ist. Das gehört zum vor, was dieser Mann heute sagt.
guten parlamentarischen Stil. Es ist völlig vernünftig (Zuruf des Bundesministers Joseph Fischer)
und klar, daß es an einem fairen Umgang miteinander
nicht mangeln wird. – Herr Fischer, jetzt wird es zum Nachteil, daß Sie Au-
ßenminister geworden sind. Denn auf der Regierungs-
Man erfährt ja an einem solchen Tag sehr viel, wenn bank müssen Sie den Mund halten. Von den Abgeord-
man genau zuhört. Die Koalitionsvereinbarung wurde, netensitzen dürfen Sie Zurufe machen. Das hätten Sie
kaum daß die Tinte trocken war, mit Nachbesserungen sich vorher überlegen sollen.
versehen.
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne-
(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Bis heute!) ten der CDU/CSU)

(B) Sie ist in einzelnen Debattenbeiträgen noch einmal Sie sind jetzt Minister. Da müssen Sie Ihr Verhalten än- (D)
sachlich erläutert worden. Der Gesetzentwurf, der uns dern. Die Jacke haben Sie ja schon gewechselt.
über die Ökosteuer im geheimen und im besonderen in-
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. – Dr.
formieren soll, wurde zunächst noch zurückgehalten und
Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Zeitung darf
jetzt wieder zurückgenommen.
er lesen!)
Herr Bundeskanzler, die Öffentlichkeit in der Bun- Roland Berger sagt:
desrepublik Deutschland hat nun wirklich nicht den Ein-
druck, daß hier ein Reformbündnis angetreten ist. Mit Ausnahme von Tony Blair sind alle sozialde-
mokratischen oder sozialistischen Regierungen in
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- Europa erst zwei oder drei Jahre ihren Illusionen
ten der CDU/CSU) nachgejagt, bis sie von der Realität eingeholt wor-
den sind.
Selbst im Zeitungswald, der Sie geradezu gefördert hat,
macht sich eine gewaltige Enttäuschung breit. Da Dann führt er aus, was für diese Politik gilt:
braucht man nur die Überschriften zu lesen. Eine heißt:
„Oskar greift zur Axt“. Das war eine Überschrift der Ihre Länder und die Menschen mußten für diesen
Zeitschrift „Die Woche“. Sie schildert die besonderen Lernprozeß allerdings teuer bezahlen, weil ver-
Stilmittel Ihres Finanzministers, wenn es darum geht, an spielte Jahre im globalen Wettbewerb für lange Zeit
die Lösung von Problemen heranzugehen. Die gleiche verloren sind.
Wochenzeitung schreibt zur Steuerreform: „völlig ver- Das ist der Fehler der eingeleiteten Politik.
heddert“.
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Die gesamte deutsche Öffentlichkeit weiß, was hier
Er fügt hinzu – falls er die Regierungserklärung ge-
vor sich gegangen ist: Sie haben eine Wahl gewonnen.
hört hat, wird er seine Meinung nicht ändern –:
Mit dieser Wahl waren bei der Neuen Mitte, die Sie an-
gesprochen und im wahrsten Sinne des Wortes hofiert Auch diese deutsche Regierung ist zur Macht ge-
haben, Hoffnungen verbunden. Sie wollten nicht alles kommen und hat nichts dazugelernt. Sie ist völlig
anders machen; sie wollten ein Stück Kontinuität und unvorbereitet auf Innovation.
einiges besser machen. Jetzt macht Oskar Lafontaine
alles anders, aber überhaupt nichts besser. So war Ihre Regierungserklärung: völlig unvorberei-
tet auf Innovation. Das erzählen nicht nur meine Freun-
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) de und ich. Das spüren auch viele in Ihren Reihen. Soll
92 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998

Dr. Wolfgang Gerhardt

(A) ich sie namentlich vorlesen? Bodo Hombach, Ihr Mi- – Ja, aber wer hat denn für ihn als Chefunterhändler ver- (C)
nister, erklärt im Hinblick auf die Koalitionsvereinba- handelt? Für Sie ist doch ein Flunderergebnis herausge-
rung: Das ist doch zunächst einmal bedrucktes Papier kommen: die „gewaltige“ Absenkung des Eingangssteu-
– Das ist völlig richtig; das habe auch ich so gesehen. – ersatzes von 25 Prozent auf 19,9 Prozent in drei Trippel-
Nach genauerem Durchlesen stellt er fest: Viele Themen schritten bis zum Jahre 2002. Das hilft uns doch nicht
seien vertagt oder in Arbeitsgruppen verwiesen worden. weiter! Bis zum Jahre 2002 ziehen Sie denselben Bürge-
Da sei noch genügend Platz für Schröders Handschrift, rinnen und Bürgern, denen Sie diese 5 Prozent Steuer-
für den „Meister der Moderation“, wie seine Berater senkung in die linke Tasche geben, die Ökosteuer aus
jetzt der deutschen Medienlandschaft mitteilen. Ich halte der rechten Tasche. Das ist ein Betrug an der Öffent-
ihn nicht für den Meister der Moderation. Herr Bundes- lichkeit. Und so darf das auch genannt werden.
kanzler, wo waren Sie eigentlich bei den Koalitionsver-
handlungen? Wo ist Ihre Handschrift? Wo kommt es zu (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Innovationen? Sie als Grüne haben das auch erkannt. Ihr Chefunter-
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- händler – bei den Koalitionsverhandlungen war ja fast
ten der CDU/CSU) jeder Chefunterhändler, außer dem Bundeskanzler –, der
Chefunterhändler der Grünen, hat erklärt, man sehe jetzt
Die Politik, die Sie einleiten, kostet Deutschland viel doch noch Spielraum für einen Spitzensteuersatz bei
Geld. Sie wirft uns im Wettbewerb dramatisch zurück. 45 Prozent oder darunter.
Sie gestaltet nicht die sozialen Sicherungssysteme neu
und innovativ. Im übrigen ist die Steuerreform, wie auch Meine Damen und Herren, ich formuliere es einmal
immer Sie sie verpacken, ein reines Abkassieren der so: Die Grünen sollen ruhig sagen, daß sie jetzt endlich
Bürgerinnen und Bürger. einmal regieren wollen. Das ist völlig in Ordnung. Das
will jeder; darum gibt es einen Wettbewerb. Die Grünen
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) sollen aber nicht den Versuch machen, zu erklären, daß
Und auch dazu lese ich Ihnen jetzt einmal etwas vor. sie programmatisch irgend einen Anteil an der Politik
hätten, die die Koalition jetzt vertritt. Dabei geht es
Man muß sich auf der Zunge zergehen lassen, was die nämlich nicht um eine Ökosteuer und auch nicht um
FAZ heute über die gegenwärtigen Wasserstandsmel- eine Modernisierung, sondern da handelt es sich um
dungen bezüglich der Ökosteuer berichtet. Die Grünen schlichtes Abkassieren. Es gibt keine neue Abfallwirt-
äußerten sich so zu der Ökosteuer: schaft. Die Grünen haben auch keine neue Verkehrs-
Die schnelle Einigung politik eingeleitet. Der Transrapid läuft jetzt durch die
nordrhein-westfälische Landespolitik als eine Art fahr-
– das muß die gestrige gewesen sein; ich weiß noch bares Garzweiler III.
(B) nicht, wie sie aussieht, das werden wir nächste Woche (D)
erfahren – (Beifall bei der F.D.P.)
(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Aber nur Am Ende wird der Verkehrsminister erklären, er wolle
vielleicht!) doch die alte Strecke nehmen. – Das alles werden wir
führten die Grünen darauf zurück, daß mit der Strom- hier erleben.
steuer . . . eine neue Geldquelle erschlossen wird, an Ich lese den Grünen einmal ihre „Verhandlungserfol-
der das Finanzministerium Interesse zeige. Darüber ge“ vor: Garzweiler II wird genehmigt. Ich sage vor-
seien Bedenken in den Hintergrund getreten. aus: Auch der Frankfurter Flughafen wird ausgebaut.
– Soll ich das noch einmal vorlesen? Dazu gibt es einen interessanten Vorschlag des Grünen
Tom Koenigs. Die Grünen haben immer gesagt, der
(Beifall bei der F.D.P.) Flughafen dürfe nicht über den Zaun hinaus ausgebaut
Man hat sich in der Koalition geeinigt, weil durch die werden. Jetzt hat Tom Koenigs erklärt, man könne den
Stromsteuer eine neue Geldquelle erschlossen worden Zaun doch ein Stückchen verschieben. – Das ist eine
ist. Herr Lafontaine, die Aufgabe des Finanzministers ist sehr findige Regierungsbeteiligung in Hessen!
nicht, neue Geldquellen zu erschließen, sondern zu spa-
ren, den Staat schlank zu machen und den Bürgern das (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Geld zurückzugeben, anstatt es ihnen aus der Tasche zu Die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ sollen mit
ziehen. den Grünen weiterlaufen. Mir gefällt das; das ist ja auch
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) völlig richtig. Dann aber sollen die Grünen nicht den
Versuch machen, hier ihre Programmtreue vorzutragen.
Das alles wird noch gesteigert: Die Grünen hoffen
jetzt auf Nachbesserungen im Steuerkonzept. Ich erinne- Frau Kollegin Müller, Sie waren platt wie eine Flun-
re mich an Äußerungen – man tauscht sich ja doch gele- der. Sie stellen den Außenminister und haben sich des-
gentlich aus – auch aus den Reihen der Kolleginnen und sen Politik und Jogging angeglichen: Fünf Kilometer am
Kollegen der Grünen zum Spitzensteuersatz. Der Kol- Rhein entlang, Spitzkehre, fünf Kilometer zurück – das
lege Oswald Metzger war meinen Gedankengängen ist Bewegung, aber kein Fortschritt für Deutschland!
nicht fremd. Das ist das Verhandlungsergebnis.
(Zuruf des Abg. Albert Schmidt [Hitzhofen] (Heiterkeit und Beifall bei der F.D.P. und der
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998 93
Dr. Wolfgang Gerhardt

(A) Nein, meine Damen und Herren, Deutschland hat mit gen die Institute Ihnen, daß die von Ihnen beabsichtigte (C)
dieser Art von Politik, bei der jetzt in Nachbesserungs- Steuerreform kaum zu höherem Wachstum und schon
runden nachgesessen wird, einen Zeitverlust zu be- gar nicht zu mehr Beschäftigung führt.
fürchten. Ich lese in der Zeitung, bei SPD und Grünen
Diese Stimmen werden ergänzt von Herrn Schmoldt,
sollten sich jetzt Reformallianzen bilden. – Meine Herr-
dem Vorsitzenden der IG Bergbau, Chemie, Energie, der
schaften! Eine Reformallianz muß man haben, wenn
dasselbe erklärt. Die wirtschaftswissenschaftlichen In-
man regieren will. Wenn man sie erst hinterher bildet, ist
stitute fordern Sie geradezu auf, couragierter heranzuge-
es zu spät.
hen. Die öffentlichen Haushalte, so sagen die Institute –
Ich will deshalb noch einmal auf Roland Berger zu- wenn Sie es Herrn Schäuble und mir nicht glauben, dann
rückkommen. zitieren wir die Institute; sie sagen es Ihnen und der
deutschen Öffentlichkeit –, leiden nicht unter einer sol-
(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- chen Not, wie die Chefunterhändler der Koalition be-
NEN]: Lieber Gott, macht ihn doch zum Eh- kannt geben. Es ist erkennbar, daß Sie zu mehr Steuer-
renmitglied! Er wird sich bedanken!) senkungen in der Lage wären, wenn Sie das nur woll-
Ihm wurde die Frage gestellt: Wie kann Schröder – so ten. Sie wollen es aber nicht, weil Sie nicht Steuersen-
fragte dieses bekannte Magazin – sich noch befreien und kung im Sinn haben, sondern Umverteilung. Bei diesem
die versprochene Modernisierung von Staat und Wirt- System zahlen dann die Jüngeren für die Rentner, die
schaft angehen? Der interviewte Roland Berger Kleinen für die Großen, der Mittelstand für die Groß-
industrie und die nächste Generation für den Verbrauch,
(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜND- den Sie jetzt bewirken. Das ist das Falsche an Ihrer
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Der kann sich nicht Politik.
wehren!)
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
antwortete darauf aus meiner Sicht verblüffend deutlich.
Er sagte: Will er das überhaupt? Er ist Kanzler und hat Wir werden den Gesetzentwurf zur Ökosteuer in der
sein Lebensziel erreicht, fügte er hinzu. nächsten Woche vorgelegt bekommen. Die Institute sa-
gen Ihnen aber schon jetzt, daß eine deutliche Entlastung
(Lachen und Beifall bei der F.D.P. – Beifall der Umwelt bei gleichzeitigem Abbau der Arbeitslosig-
bei Abgeordneten der CDU/CSU) keit von einer ökologischen Steuerreform nicht geleistet
Herr Bundeskanzler, Sie müssen in diesem Haus werden kann. Ob die Erhöhung eine Mark oder zwei
mehr vortragen als heute bei Ihrer Regierungserklärung, Pfennig ausmachen soll, ist völlig egal. Das, was Sie
vorhaben, kann nicht geleistet werden.
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne-
(B) ten der CDU/CSU – Rezzo Schlauch Der Staatssekretär Tacke aus dem Wirtschaftsmi- (D)
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie aber nisterium wird mit den Worten zitiert – der Mann drückt
auch!) sich vorsichtig aus; völlig zu Recht –, die doppelte Di-
vidende sei geringer, als man dachte. – Recht hat der
um dem in der Öffentlichkeit entstandenen Eindruck Mann; das hätte man auch vorher wissen können. Ich
entgegenzuwirken, daß zwar Sie es waren, der zum will erläutern, was das bedeutet. Die doppelte Dividende
Kanzler gewählt worden ist, die Führung der Regie- ist nicht nur geringer, sehr verehrter Herr Tacke; bei
rungsgeschäfte aber beim Finanzminister liegt. einer doppelten Dividende dieser Art ist klar, daß in dem
Maße, wie das eine Ziel erreicht wird, das andere ver-
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Kalter Kaf-
fehlt werden muß. Wird die Umwelt geschont, dann be-
fee!)
kommt Herr Lafontaine keine Einnahmen, mit denen er
– Das ist gar kein kalter Kaffee; es ist in der deutschen die Lohnnebenkosten senken kann.
Öffentlichkeit umgehend deutlich geworden, wer hier
Diese Erfahrung kann Ihnen auch jemand mitteilen,
das Sagen hat. Ich finde, wir Parlamentarier haben ein
der nicht Volkswirtschaft studiert hat. Das sagt uns
Recht, zu erfahren, wer wirklich das Sagen hat.
schon der gesunde Menschenverstand. Trotzdem machen
Wenn Sie modernisieren wollen, finden Sie uns an Sie es. Wenn Sie es machen, müssen Sie hier gewaltige
Ihrer Seite. Wenn Sie den sich abzeichnenden strategi- Argumente anführen, warum. Sie müssen die deutsche
schen Kurs fortsetzen, fahren Sie Deutschland in die Öffentlichkeit darüber aufklären, warum Sie das tun.
Sackgasse – finanziell, dadurch, daß Sie Zeit verspielen, Ich sage Ihnen: Sie hängen dem uralten, anscheinend
und mit einer falschen politischen Konzeption. Der tre- nicht ausrottbaren sozialdemokratischen Glauben an,
ten wir entgegen. daß der Staat die bessere Institution zur Herstellung so-
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) zialer Gerechtigkeit ist, so daß er den Bürgern etwas
mehr abnehmen soll, um es dann auf anderen Wegen
Herr Bundeskanzler, es sind ja nicht wir allein, die zuteilen zu können. Wir Freien Demokraten repräsentie-
Ihnen entgegentreten. Es gibt eine Heerschar solcher ren den entgegengesetzten Denkansatz: Wir glauben,
Personen, auch aus Ihren eigenen Reihen. Ich greife daß eine Gesellschaft vitaler ist, wenn man den Bürgern
einmal diejenigen heraus, deren Seriosität überhaupt mehr Geld beläßt und es ihnen nicht aus der Tasche
nicht bestritten werden kann. Sie kennen genausogut wie zieht. Deshalb sind wir gegen Ihre Politik.
ich – deshalb zieht die Erblastlegende überhaupt nicht –
die Stellungnahme der führenden wirtschaftswissen- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne-
schaftlichen Institute. Sie ist ganz eindeutig. Darin sa- ten der CDU/CSU)
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Dr. Wolfgang Gerhardt

(A) Mit der Ökosteuer wird kein Impuls für die Schaffung auch darum, ob Ihre Regierung wirklich willens und in (C)
von Arbeitsplätzen ausgelöst. der Lage ist, auf der Höhe der Zeit die Themen so zu be-
arbeiten, wie es bei nahezu jeder modernen Wettbe-
Im übrigen bin ich gespannt, ob der Gesetzentwurf werbsgesellschaft auf dieser Welt der Fall ist. Alle ande-
Ungereimtheiten beseitigt. Kohle soll bei der Verstro- ren modernen Wettbewerbsgesellschaften, mit denen wir
mung stärker steuerlich belastet werden. Wer Brikett stärkste Konkurrenz aushalten müssen, haben eine sol-
oder Eierkohle in den Ofen schiebt, gilt als Umweltsün- che Politik spätestens zwei Jahre nach dem Einstieg kor-
der. Erdgas und Öl, deren Einsatz umweltfreundlicher ist rigieren müssen. Wir werden mit Interesse beobachten,
als etwa die Brikettverfeuerung, wollen Sie genauso wie es im weiteren Verlauf um die Modernisierungsbe-
hoch besteuern. Das müssen Sie einmal vernünftigen reitschaft Ihrer Regierungskommissionen und Arbeits-
Menschen erklären. Das ist nicht erklärbar. Das ist nur gruppen bestellt ist.
dann zu erklären, wenn Sie sagen: Das ist für uns eine
Glaubensfrage. Aber es geht um mehr: Sie mögen bei den sozialen
Sicherungssystemen durch nicht geeignete Reforman-
Da uns die Kollegin Müller auf Dänemark verwiesen strengungen Fehler machen. Sie können falsche wirt-
hat, möchte ich Sie auffordern: Erzählen Sie einmal dem schaftspolitische Akzente setzen. – Das können wir im-
staunenden Haus, wie die Umweltentlastung in Däne- mer mit dem Florett ausfechten. Aber der schwere Säbel
mark zurückgegangen ist, nachdem dort Ökosteuern der Opposition wird erst bei dem verantwortungslosen
eingeführt worden sind! Die Selbstverpflichtung der Gequatsche von Oskar Lafontaine über das Thema
deutschen Wirtschaft hat zehnmal soviel an Umwelt- Geldwertstabilität, Bundesbank und Europäische
entlastung gebracht wie die Ökosteuererhöhung in Dä- Zentralbank gezogen. Meine Damen und Herren, das
nemark. ist kein beliebiger Spielplatz. Die Einrichtung einer un-
(Beifall bei der F.D.P.) abhängigen Notenbank mit dem Auftrag, die Geld-
wertstabilität zu wahren, gehört – dies ist über alle Par-
Deshalb wollen wir bei dem eingeschlagenen Weg teigrenzen hinweg anerkannt – zu den institutionell er-
bleiben. folgreichsten Nachkriegsergebnissen deutscher Politik.
Wer hier in Interviews leichtfertig redet, wer in der eu-
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – ropäischen Öffentlichkeit den Eindruck erweckt –
Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- „Hauptsache, wir haben einmal darüber gesprochen“ –,
NEN]: Wer will da bleiben?) man könne mittels dauerhafter öffentlicher Auseinander-
Im übrigen: Herr Bundeskanzler, Sie haben in der setzungen die Entscheidungen der Bundesbank konter-
Regierungserklärung gesagt, am Ende der Legislaturpe- karieren und die Europäische Zentralbank schon einmal
vorsorglich darauf vorbereiten, welcher Wind im näch-
(B) riode, also 2002, wollen Sie die Menschen um sten Jahr weht, der macht all das an Ergebnissen zu- (D)
15 Milliarden DM entlastet haben.
nichte, was die Bundesregierung von CDU/CSU und
(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Vier Wo- F.D.P. im europäischen Kontext in Stabilitätsverhand-
chen vor der Wahl!) lungen erreicht hat. Ein grober Fehler!
Darf ich Sie daran erinnern, wie Sie die Entlastung in (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Höhe von 7 Milliarden DM, die wir in der letzten
Legislaturperiode im Zuge der Soli-Senkung vorge- Sie mögen das ganze Kapitel noch so sehr abfeiern:
nommen haben, kommentiert haben? – Das sei nur so- Ich habe gelesen, neulich haben Sie erklärt – vor einem
viel „wie für eine Pizza“. Und jetzt verkaufen Sie die besonders kundigen Gewerkschaftspublikum, das an
15 Milliarden DM als eine große Steuerreform! Geldwertstabilität natürlich, wie immer, interessiert ist –,
man könne das einmal diskutieren. Herr Bundeskanzler,
(Dr. Gregor Gysi [PDS]: Das ist dann eine „Hauptsache, wir haben einmal darüber gesprochen“
Pizza für zwei Personen! Immerhin!) reicht als Auskunft nicht. Im Verhältnis zu den erreich-
ten Zielen gehört für deutsche Politik zum Start am
Ich halte das für unvertretbar: sich in der letzten Legis-
1. Januar des nächsten Jahres mit EZB und Euro, daß
laturperiode über die Rückgabe von 7 Milliarden DM so
sich dieses Land stabilitätskonform verhält und in der
zu erregen und jetzt 15 Milliarden DM als Konzept für
alten Kultur der Geldpolitik der Bundesrepublik
vier Jahre deutscher innovativer Politik vorzutragen –
Deutschland, die Tradition hat, ja Staatsräson ist, ver-
und das vor dem Hintergrund der Tatsache, daß die
bleibt.
letzte Steuerschätzung für das Jahr 2002 etwa
150 Milliarden DM mehr Steuereinnahmen voraussieht. Es gibt, wie ich sehe, nur ganz wenige, die sich in der
Angesichts dessen muß ich Ihnen vorwerfen: Ihr Finanz- jetzigen Situation an diesem verantwortungslosen Ge-
minister hat durch sein strammes Verteilungsdenken das schwätz beteiligen. Und es genügt nicht der Hinweis,
Geld, das die Bürger in Deutschland bis zum Jahre 2002 auch der Herr Bundesbankpräsident habe nun zugestan-
noch erarbeiten müssen, schon längst verpulvert! Gegen den, man könne ja einmal darüber sprechen. – Nein,
diese Politik werden wir angehen. darum geht es dem Herrn Lafontaine nicht. Der will
durch dauerndes Gerede die alte Stabililtätspolitik so
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
unterminieren,
Es geht auch nicht nur um die Frage: Ist das die fal-
(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: So ist
sche Grundrichtung? Reichen die Reformanstrengungen
es!)
– die ich gar nicht erkennen kann – aus? Nein, es geht
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Dr. Wolfgang Gerhardt

(A) daß ihm die Rechenschaftspflichtigkeit der EZB ir- optimistisch, zuversichtlich dazu bekennen will, Sie ge- (C)
gendwann wie eine reife Frucht in den Schoß fällt! Das wählt zu haben.
nutzt vielleicht Herrn Lafontaine; das schädigt aber die
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Bezieher kleiner Einkommen, die Rentner, die auf die
Geldwertstabilität angewiesen sind, weil sie keine Sowohl bei dem Steuerthema wie bei vielem anderen:
Sachwertbesitzer sind. Für die werfen wir uns in dieser Sie haben Ihren Start innerhalb weniger Tage granaten-
Diskussion in die Bresche. haft vergurkt. Sie haben alles in den Orkus geredet, was
an guten Hoffnungen da war. Sie haben die Neue Mitte
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) zertrampelt. Sie haben in Ihrem Programm geschrieben:
Wo immer Sie einen Zipfel erwischen können, da Sie setzen auf die Leistungsbereiten. – Ich wußte, das
packen Sie auch zu. Deshalb muß man den Anfängen war ein Tippfehler: Sie setzen sich auf die Leistungsbe-
wehren. reiten! Das wollen wir nicht zulassen.

Ihren Beutezug ins Wirtschaftsministerium mögen (Heiterkeit und Beifall bei der F.D.P. und der
Sie noch soviel mit dem Hinweis auf das britische Trea- CDU/CSU)
sury garnieren. Dieses hat eine andere Tradition. Selbst Meine Damen und Herren, in der letzten Legislatur-
wenn ich dieses Argument und den Hinweis auf Herrn periode war für die Grünen vieles an liberaler Außen-
Strauss-Kahn akzeptiere: In Deutschland widerspricht politik falsch. Ich habe mir die Reden von Herrn Fischer
dieser Beutezug von Oskar Lafontaine den berühmten immer angehört. Heute reist Herr Fischer – ich begrüße
„checks and balances“, die in unserer deutschen wirt- das – in alle Länder der Welt und verkündet – bisher je-
schaftlichen Tradition immer beachtet wurden. Das ist denfalls erkennbar – die Kontinuität deutscher Au-
doch keine Verschlankungsmaßnahme. ßenpolitik. Der Außenminister ist nicht hier; man mag
es ihm übermitteln: Herr Fischer ist auf Grund seiner
Darf ich Ihnen einmal vorlesen, Herr Schröder, was derzeitigen Amtsführung der beste Beleg dafür, daß li-
Sie als Ministerpräsident am 24. November 1994 zur berale Außenpolitik in gemeinsamer Verantwortung von
Regierungserklärung des Bundeskanzlers Kohl gesagt Außenminister Klaus Kinkel und Bundeskanzler Helmut
haben? – Ich zitiere: Kohl so schlecht nicht gewesen sein kann, wenn er sich
Es fällt auf, daß in dieser Regierung das Wirt- jetzt voll in deren Kontinuität bewegt.
schaftsministerium offenbar als eine Art Steinbruch (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne-
für andere Häuser benutzt wird. ten der CDU/CSU)
(Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!) Ich finde das in Ordnung. Wir werden aber genaue-
(B) stens beobachten müssen, ob das in seiner Fraktion auch (D)
Es kann einem schon leid tun, wie mit dem amtie-
so bleibt; denn der Koalitionsvertrag, meine verehrten
renden Wirtschaftsminister umgegangen wird.
grünen Kolleginnen und Kollegen, ist das glatte Gegen-
– Haben Sie Herrn Müller oder Herrn Stollmann ge- teil von dem, was Sie beschlossen haben. Ich glaube
meint? nicht, daß mich meine Partei weiter an der Spitze getra-
gen hätte, wenn ich unter Vernachlässigung und Miß-
Meine Damen und Herren, dieser Beutezug ins Wirt- achtung der eigenen Beschlußlage so schnell versucht
schaftsministerium ist nicht nur das Herausklamüsern hätte, ins Außenministerium zu kommen, wie Joschka
von einigen Aufgaben oder ein Stück Zentralisierung Fischer das gemacht hat.
wegen der besseren europäischen Verhandlungslinie.
Nein, das ist eine Tendenz, die sich in Ihrer Regierung (Beifall bei der F.D.P. – Dr. Gregor Gysi
andeutet. Sie gehen mit Unabhängigkeit und Souveräni- [PDS]: Doch!)
tät von Ressortministern nicht gut um. Aber bei Ihnen ist das an der Tagesordnung. Ich halte
das im Interesse Deutschlands nicht für schlecht. Aber
(Dr. Gregor Gysi [PDS]: Das war auch nicht
erzählen Sie als Grüne bitte niemandem mehr, daß Ihr
die Stärke von Kanzler Kohl!)
Programm fünf Minuten nach seinem Druck in der Bun-
Ich füge noch ein Beispiel hinzu, weil es notwendig desrepublik Deutschland noch irgend etwas gilt. Die
ist. Sie haben jemanden als Verteidigungsminister auf Zeiten des Respekts sind vorbei.
Ihre Regierungsbank geholt, der gar nicht dahin wollte (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der
und der in seiner früheren Funktion einem anderen im CDU/CSU)
Wege war. Das ist der innere Zustand der Mechanismen,
mit denen hier Politik gemacht wird. Das spreche ich Der Außenminister hat unsere Unterstützung, wo er
hier an. in Kontinuität arbeitet. Wir werden aber genau beob-
achten, ob das auch für seine Fraktion gilt.
Sie sind als Kanzlerkandidat angetreten und haben in
der deutschen Öffentlichkeit von einem Modernisie- Herr Kollege Schäuble, über eines sind wir uns, glau-
rungseffekt gesprochen. Sie haben Ihren Wahlkampf be ich, klar: Wenn diese rotgrüne Regierung vor schwie-
durch Events bestimmt. Sie haben Menschen für sich rigen Entscheidungen steht, muß sie zunächst einmal ih-
gewonnen, die daran geglaubt haben, daß Sie als refor- re eigenen Mehrheiten bringen. Wir sind nicht Ersatzre-
merischer Kanzler antreten. – Die alle haben Sie ent- serve III, 2. Klasse, Abteil 2 a, um Mehrheiten zu be-
täuscht. Ich treffe heute kaum noch jemanden, der sich schaffen, die sie selbst in der Koalition nicht haben. Wer
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Dr. Wolfgang Gerhardt

(A) dieses Land regieren will, muß auch unangenehme Fra- Integration zu machen. Es darf aber keine Beliebigkeit (C)
gen entscheiden. geben. Man muß von ihnen auch den Willen zur Inte-
gration erwarten dürfen. Wir werden bereit sein, ein
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) modernes Staatsangehörigkeitsrecht zu beschließen. Ich
Wir werden diese Bereiche ganz genau beobachten. sage Ihnen aber auch: nicht jedes. Wenn Sie Wert auf
parteiübergreifende Abstimmung legen, dann sollten Sie
Frau Präsidentin, ich habe hier keinen Zeithinweis in der Koalition beraten, ob Sie die jetzige Breite der
mehr. doppelten Staatsbürgerschaft nicht zurückführen. Denn
die doppelte Staatsbürgerschaft als Regel ist nicht unsere
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Wir haben eine of- Vorstellung. Ich glaube, daß dieser Ansatz keine Ak-
fene Runde, Herr Kollege. Sie haben nach unserer zeptanz in der deutschen Öffentlichkeit finden wird.
Rechnung noch fünf Minuten. (Michael Glos [CDU/CSU]: Richtig!)
(Dr. Michael Bürsch [SPD]: Muß er aber Auch der alte Ansatz, das nicht zu reformieren, war
nicht!) falsch. Man muß sich hier um gesellschaftliche Akzep-
Sie müssen sie nicht ausnutzen. tanz bemühen.
(Beifall bei der F.D.P.)
Dr. Wolfgang Gerhardt (F.D.P.): Mir hat es gerade Deshalb sage ich Ihnen, Herr Bundeskanzler: Wir
so gut gefallen. Deshalb nutze ich sie auch noch voll wollen, daß beim Staatsangehörigkeitsrecht Mitte und
aus. Maß ausschlaggebend sind, die gesellschaftliche Ak-
zeptanz mitbewertet wird. Wenn Sie der Auffassung
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)
sind, es wäre für das Parlament und für Deutschland gut,
Ich will jetzt noch auf einige Punkte der Regierungs- daß ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht eine breitere
erklärung eingehen und die Sachverhalte bewerten. Die parlamentarische Zustimmung findet, dann biete ich sie
Opposition muß hart in der Sache darstellen, wo es nötig Ihnen ausdrücklich mit dem Hinweis an, daß dann aber
ist. Wo es parteiübergreifende Entscheidungen gibt, auch Ihre Seite, die Mehrheitsseite dieses Hauses, eine
sollte man das sagen. Korrektur anbringen muß. Gehen Sie bei dem Modell
„doppelte Staatsbürgerschaft nahezu als Regel“ ein
Im Bereich der Innenpolitik ist für uns durchgängig Stück zurück, verständigen Sie sich mit uns auf das An-
ein pragmatischer Lösungsansatz zu erkennen. Das hat gebot an die Kinder, die hier geboren werden, und wir
uns wiederum gefreut. Die Grünen haben mit diesem werden nicht zögern, einem solchen Gesetzentwurf zu-
(B) Ansatz ihre Schwierigkeiten. Wir werden sehen, wie zustimmen! (D)
sich das in der praktischen Politik niederschlägt. Es zeigt
jedenfalls, daß die entscheidenden Gesetze – beim Asyl- (Beifall bei der F.D.P.)
recht, bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität Ich sage dies deshalb, weil Oppositionsarbeit sowohl
– für die wir so beschimpft worden sind, nicht verändert Kritik als auch variantenreiches Arbeiten beinhalten
werden. Die sind unter Dach und Fach. Wahrscheinlich muß.
freuen Sie sich sogar darüber, daß wir die noch unter
Dach und Fach gebracht haben, weil Sie Schwierigkei- Herr Bundeskanzler, Sie werden – das ist meine tiefe
ten hätten, sie unter Dach und Fach zu bringen. Sie re- Überzeugung – die von Ihnen eingeleitete Politik, die in
spektieren damit aber, daß unsere Entscheidungen rich- dieser ersten Phase maßgeblich von Finanzminister La-
tig waren. Ich bedanke mich ausdrücklich für diese fontaine bestimmt worden ist, in den finanziellen, steu-
nachträgliche Anerkennung. erpolitischen und wirtschaftlichen Grunddaten im Laufe
dieser Legislaturperiode korrigieren müssen. Das ist nur
Auch wir wissen, daß es in der Drogenpolitik keinen eine Frage der Zeit. Sie werden dem Themendruck und
Königsweg gibt. Wir sind bereit, neu nachzudenken. Adam Riese nicht entkommen. Wir wollen jetzt einmal
Aber auch bei neuen Wegen gelten Wertentscheidungen. sehen, wie lange das dauert. Wir werden Sie dabei kri-
Eine Freigabe von Drogen kommt für uns nicht in Frage. tisch begleiten. Sie werden Ihre Politik verändern müs-
Aber der Weg, einem Arzt zu ermöglichen, an sen. Dann werden wir uns in einer solchen Debatte wie-
Schwerstabhängige Drogen auf dem Weg zur Therapie der treffen. Das wird dann eine wichtige Debatte für
abzugeben, um sie nicht in die Kriminalität rutschen zu Deutschland sein. Nur, bedauerlicherweise wird das
lassen und um den Menschen, die schwer krank sind, Land bis dahin Zeit verloren haben. Es wäre besser, Sie
wirklich zu helfen, ist mit uns ausdrücklich zu gehen. kehrten jetzt um.
(Beifall bei der F.D.P.) (Anhaltender Beifall bei der F.D.P. – Beifall
bei der CDU/CSU)
Lassen Sie sich auf einen solchen Weg ein! Suchen Sie
dafür parlamentarische Mehrheiten, dann gehen wir die-
sen Weg mit! Vizepräsidentin Anke Fuchs: Das Wort hat der
Vorsitzende der PDS-Fraktion, Dr. Gregor Gysi.
Ich schließe einen zweiten Punkt an. Das Staatsan-
gehörigkeitsrecht ist für die F.D.P. nicht nur ein Stück
Papier. Es geht um die Notwendigkeit, den bei uns Dr. Gregor Gysi (PDS): Frau Präsidentin! Meine
schon lange lebenden Ausländern ein faires Angebot der Damen und Herren! Herr Schäuble, Sie haben den
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998 97
Dr. Gregor Gysi

(A) Kanzler dafür kritisiert, daß er sich zu sehr auf dem sein sollen. Wenn sie gleichberechtigt sein sollen, dann (C)
Wahlergebnis vom 27. September 1998 ausgeruht habe. müssen sie, wenn Sie irgendwo die Regierung bilden,
Ich finde, in den ersten Monaten ist das noch legitim; die Chance haben, in eine solche Regierung einzutreten.
aber ich denke auch, es wird die Zeit kommen, da man Das heißt, PDS und CDU wollen in geeigneten Fällen,
sich an eigenen Taten messen lassen muß. daß ehemalige SED-Mitglieder in die Regierung eintre-
ten: wir nur über die Mitgliedschaft in der PDS, Sie über
Herr Bundeskanzler, Sie werden es hier allerdings mit die Mitgliedschaft in der CDU, also über sehr viel mehr
sehr unterschiedlichen Formen von Opposition zu tun Opportunismus als wir. Das ist der eigentliche Unter-
haben: einmal mit der CDU/CSU-Opposition, dann mit schied, und zu dem stehen wir auch.
der F.D.P.-Opposition und auch mit der PDS-
Opposition. Diese haben natürlich unterschiedliche Her- (Beifall bei der PDS)
angehensweisen. Die CDU/CSU-Opposition will Sie in
Wenn nun allerdings Herr Struck hier erklärt, das
der Regierung wieder austauschen, das heißt, ihre Politik
Wahlergebnis der PDS sei nur dadurch zu erklären, daß
wird sich daran ausrichten, die SPD durch die
die Bundesregierung in den neuen Bundesländern so
CDU/CSU zu ersetzen. Also wird sie die Leistungen der
sehr versagt habe, so möchte ich doch ergänzen, Herr
früheren Regierung sehr würdigen und Ihre entspre-
Kollege Struck: Die SPD hat in den neuen Bundeslän-
chend herabwürdigen und versuchen, auf diesem Wege
dern auch ihren Anteil daran. Das muß man schon der
zum Ziel zu kommen.
Vollständigkeit halber hinzufügen.
Dennoch sage ich Ihnen, Herr Schäuble: Ich finde
(Beifall bei der PDS)
das, was Sie hier gemacht haben, sehr problematisch.
Dies gilt auch für Herrn Gerhardt von der F.D.P. Wenn Sie, Herr Schäuble, haben, wie ich finde, zu Recht
man die Ergebnisse der eigenen Politik nur würdigt, hat von der Regierung und auch von der stärksten Fraktion
man überhaupt keine Chance, zu erklären, weshalb man des Hauses gefordert, mehr Respekt vor anderen Mei-
eigentlich am 27. September 1998 abgewählt worden ist. nungen aufzubringen. Ich darf Sie daran erinnern, wie in
den letzten Jahren Ihr Respekt vor anderen Meinungen
(Beifall bei der PDS)
aussah, insbesondere auch vor anderen Meinungen aus
Ein ganz kleiner Hang zur Selbstkritik wäre also auch den PDS-Reihen. Wenn das zugleich eine Art Selbstkri-
bei diesen beiden Fraktionen angebracht gewesen. tik gewesen sein soll, dann ist das zu akzeptieren.
Es kommt noch etwas hinzu. Wenn Sie nämlich er- (Beifall bei Abgeordneten der PDS)
klären, daß Sie in der Sache nichts falsch gemacht hät-
Bei der F.D.P.-Opposition habe ich sehr genau beob-
ten, daß Sie ein gut bestelltes Haus hinterlassen hätten,
achtet, wie Sie die Rede des Bundeskanzlers verfolgt
dann nähren Sie geradezu das Gerücht, das jetzt auch
(B) haben und an welchen Stellen Sie geklatscht haben. (D)
häufig durch die Zeitungen geht, daß es nämlich alleine
Wenn ich das richtig beobachtet habe, befindet sich die
an der falschen Person des Kanzlerkandidaten gelegen
F.D.P. auf dem Wege sozusagen von der ehemaligen
habe. Und dann sind Sie es, die Ihren Altbundeskanzler
Regierungspartei hin zu einer Oppositionspartei, die sich
Dr. Helmut Kohl die ganze Zeit demontieren, und nicht
später anbieten will, die Grünen irgendwann in dieser
andere. Ich glaube, daß es nicht alleine an ihm gelegen
Regierung zu ersetzen.
hat. Deshalb wäre mehr Selbstkritik in Ihren Fraktionen
angesagt. (Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Darüber
müssen wir beide uns keine Sorgen machen!)
(Beifall bei der PDS)
Das wird noch eine spannende Entwicklung in den
Herr Schäuble hat insbesondere die Koalition von
nächsten vier Jahren sein. Länger als vier Jahre halten
SPD und PDS in Mecklenburg-Vorpommern kritisiert.
Sie das auf den Oppositionsbänken nicht aus. Das ist
Dazu hat sich auch der Kollege Struck geäußert. Lassen
einfach zu ungewohnt.
Sie mich dazu folgendes sagen. Auch heute haben Sie
zwei Dinge nicht benannt: Sie haben nicht hinzugefügt, Im übrigen halten Sie, Herr Gerhardt, Ihre Partei für
daß die CDU am 27. September 1998 bei den Land- viel zu intolerant. Auch wenn Sie alle Programmpunkte
tagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern eine ganz in einer Regierungsverhandlung aufgegeben hätten,
schwere Schlappe erlitten hat. Sie haben auch nicht er- hätten die Sie nicht abgewählt. Das schlucken die, glau-
klärt, weshalb das so war und daß die SPD mithin vor ben Sie es mir. Ich sage das nur, weil Sie das bezweifelt
der Frage stand, ob sie mit dem eindeutigen Verlierer haben. Doch, das halten die durch. Das hat zumindest
der Wahl und damit gegen den Willen der Menschen in die Vergangenheit bewiesen.
Mecklenburg-Vorpommern eine Koalition mit Ihrer
Partei oder ob sie mit einem anderen Gewinner der (Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Ich danke
Wahl, nämlich mit der PDS, eine Koalition eingeht. Ihnen für den Hinweis!)

Im übrigen sage ich Ihnen, Herr Schäuble, ganz deut- Im Namen der PDS-Fraktion und der PDS-
lich: Ich finde, daß Sie in dieser Frage äußerst unauf- Opposition möchte ich Ihnen, Herr Bundeskanzler, fol-
richtig argumentieren. PDS und CDU haben nämlich in gendes sagen: Wir werden Ihre Regierung immer dann
dieser Hinsicht eine Gemeinsamkeit. Sie haben erklärt, unterstützen, wenn sie Verhältnisse demokratischer ge-
Sie wollten gerne ehemalige Mitglieder der SED in Ih- staltet, immer dann, wenn sie Bürgerrechte erweitert,
ren Reihen aufnehmen. Ich gehe davon aus, daß es, immer dann, wenn es mehr soziale Gerechtigkeit geben
wenn Sie das wollen, gleichberechtigte CDU-Mitglieder soll, immer dann, wenn Friedenspolitik gemacht wird
98 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998

Dr. Gregor Gysi

(A) und wenn Außenpolitik als – das sage ich jetzt einmal hausnotopfer aussetzen wollen, obwohl ich mich auch (C)
so – nichtmilitärische Politik verstanden wird, das heißt, hier mehr freuen würde, wenn Sie gesagt hätten: Es
die Außenpolitik nicht als Fortsetzung der Militärpolitik kommt gar nicht mehr in Frage; es wird es nicht mehr
mit anderen Mitteln verstanden wird, und immer dann, geben. Auch hier ist das Wort „aussetzen“ nach unserer
wenn es um reale Abrüstung in diesem Land und in an- Vorstellung etwas unglücklich gewählt. Es ist natürlich
deren Ländern geht. besser, als es beizubehalten. Das ist völlig klar. Deshalb
werden wir auch bei der Aussetzung zustimmen. Das ist
Wir werden aber – auch das will ich klar sagen – doch logisch.
immer dann deutlich Opposition machen, wenn Sie dem
neoliberalen Zeitgeist nachgeben, wenn Sie letztlich (Beifall bei der PDS)
fortsetzen, was die alte Bundesregierung nach unserer
Ich sage aber auch: Sie haben vieles, was in der Ko-
Auffassung an verfehlter Außen- und Innenpolitik be-
alitionsvereinbarung steht, hier nicht erwähnt – das
trieben hat.
macht doch zumindest nachdenklich –, zum Beispiel die
Insofern werden wir tatsächlich eine konstruktive Frage des Kündigungsschutzes, also die Rücknahme
Opposition sein. der Verschlechterungen beim Kündigungsschutz in be-
stimmten Bereichen. Morgen sollte ein Gesetzentwurf
Ich habe dennoch mit Interesse festgestellt, daß Sie dazu vorliegen. Der ist noch nicht da. Darf ich fragen,
immerzu von der Neuen Mitte gesprochen haben. Das ob auch er nur ausgesetzt ist und ob er noch nächste
war eine Art Überschrift für Ihre Rede. Darf ich Sie dar- Woche kommt? Da Sie es nicht erwähnt haben, werden
an erinnern, daß im Berliner Parteiprogramm der SPD wir sehr genau kontrollieren, ob er kommt.
als Ziel noch immer der demokratische Sozialismus
formuliert ist? Ich stelle mit Interesse die Ersetzung die- (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Nehmt
ses Begriffs durch den der Neuen Mitte fest. Ich emp- ihn doch gleich in den Koalitionsausschuß
finde das in gewisser Hinsicht als einen Rückschritt. Das auf!)
darf ich doch wenigstens noch sagen. Aber es macht
Das gilt ebenso für das Schlechtwettergeld. Das gilt
nichts, weil wir dadurch alleine die Rolle übernehmen,
in besonderem Maße auch für die von der alten Regie-
für den demokratischen Sozialismus streiten zu dürfen.
rung zu verantwortende Erhöhung des Renteneintritts-
Wir werden das auch tun und uns dieser Aufgabe stel-
alters für Frauen und Schwerbehinderte. Abgesehen von
len.
den Vorstellungen, eventuell schon für 60jährige die
(Beifall bei der PDS) Rente zu ermöglichen, wäre das aber der erste erforder-
liche Schritt gewesen, um wieder rückgängig zu ma-
Aber ich bedaure, daß in Ihrer Regierungserklärung chen, daß Frauen und Schwerbehinderte erst später in
zur Erweiterung der Demokratie kein einziger Vorschlag Rente gehen können.
(B) (D)
unterbreitet wird. Sie wissen, daß SPD, Bündnis 90/Die
Grünen und PDS hier zum Beispiel im Rahmen der Ver- (Beifall bei der PDS)
abschiedung des Maastricht-Vertrages ganz ernsthaft
Sie haben die 620-DM-Jobs angesprochen. – Sie ha-
kritisiert haben, daß es keine Volksabstimmung zu die-
ben übrigens die 520-DM-Jobs nicht erwähnt; ich muß
ser Frage gab. Warum traut sich Ihre Regierung nicht, in
das einmal sagen; das sind im Osten nur 520 Mark. Ich
der Regierungserklärung zu sagen, daß sie endlich den
will Ihnen dazu nur eines sagen, Herr Bundeskanzler:
Weg für die Zulässigkeit von Volksentscheiden und von
Ich wäre Ihnen so dankbar, wenn Sie diesen Hunderter
Volksabstimmungen in der Bundesrepublik Deutschland
an Demütigung endlich beseitigten.
freimachen will? Das wäre ein wichtiger Schritt für
mehr Demokratie gewesen. (Beifall bei der PDS)
(Beifall bei der PDS) Wissen Sie: Bei fast nichts an Verdienst zu einer Ver-
käuferin im Osten zu sagen, sie sei 100 DM weniger
Natürlich haben wir zur Kenntnis genommen, daß in
wert als eine Verkäuferin im Westen, ist einfach nicht
Ihrem Koalitionsvertrag eine ganze Reihe von Vor-
mehr hinnehmbar. Das ist nicht einmal mehr eine mate-
schlägen enthalten sind – auf einige davon sind Sie auch
rielle Frage, das ist eine kulturelle Frage geworden.
in Ihrer Regierungserklärung eingegangen –, die zu
Deshalb hoffe ich, daß das so schnell wie möglich korri-
mehr sozialer Gerechtigkeit führen sollen. Wir begrüßen
giert wird.
die Aussetzung der Senkung des Rentenniveaus, wobei
ich hinzufüge, daß wir uns mehr gefreut hätten, wenn (Beifall bei der PDS)
Sie statt „Aussetzung“ „endgültige Aufhebung“ gesagt
hätten. Dann würde über den Rentnerinnen und Rent- Sie haben gesagt, Sie wollen solche Beschäftigungs-
nern nicht das Damoklesschwert hängen; vielmehr wäre verhältnisse versicherungspflichtig machen. Das findet
klar: Eine Absenkung des Rentenniveaus wird es nicht unsere Zustimmung. Über die Grenze von 300 DM will
geben. Aber immerhin: Wir werden auch eine Ausset- ich jetzt nicht streiten, obwohl man auch dazu einiges
zung unterstützen. sagen kann, weil diese Grenze nämlich dazu verleiten
könnte, diese Jobs noch kleiner zu machen; dann würden
Natürlich unterstützen wir, daß Sie die Zuzahlung für es noch mehr. Das wäre natürlich der falsche Ansatz.
Medikamente für Kranke reduzieren und zurückfahren
wollen. Wir hätten uns gewünscht, daß wir uns von die- Sie wollen die Steuerpauschale aufheben. Einverstan-
sem Instrument ganz und gar verabschiedet hätten. Na- den, damit könnten wir uns anfreunden – unter der Be-
türlich unterstützen wir auch, daß Sie das Kranken- dingung, daß dann der Arbeitgeber diesen kleinen So-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998 99
Dr. Gregor Gysi

(A) zialversicherungsbeitrag alleine bezahlt und daß die Ar- Herr Lafontaine geht noch einen Schritt weiter und (C)
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht auch bei einer sagt, man könnte eigentlich auch die Arbeitslosenversi-
so geringen Entlohnung noch zur Kasse gebeten werden. cherung abschaffen, weil ja nicht alle arbeitslos werden.
Er will an dieser Stelle das Solidaritätsprinzip aufheben.
(Beifall bei der PDS) Er sagt, diejenigen, die Geld haben, könnten ihre Ar-
beitslosigkeit selber finanzieren, und erst, wenn sie rich-
Kritisieren muß ich allerdings eines ganz deutlich:
tig arm seien und die Bedürftigkeit einsetzte, greife der
Ich habe in dieser Regierungserklärung gar nichts mehr
Staat unterstützend zu. Ich sage Ihnen ganz offen: Wenn
vom Schlechtwettergeld gehört. Ich hoffe, daß wir das
Herr Schäuble oder der Altkanzler Kohl vor einem Jahr
Schlechtwettergeld wieder einführen. Und ich hoffe, Sie
den Vorschlag gemacht hätte, die Arbeitslosenversiche-
gehen noch einen Schritt weiter; denn was auf den Bau-
rung abzuschaffen und nur noch ganz Bedürftigen im
stellen in Deutschland passiert, ist die Organisierung
Falle von Arbeitslosigkeit zu helfen, dann wäre wirklich
von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Wir müssen
die ganze Sozialdemokratie in Deutschland aufgestan-
endlich nicht nur einen Mindestlohn gewährleisten, son-
den und hätte ihn der restlosen Demontage des Sozial-
dern gleichen Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort –
staates bezichtigt.
ganz egal, aus welchem Land die Firma kommt, und
ganz egal, aus welchem Land die Beschäftigten kom- (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten
men. der CDU/CSU)
(Beifall bei der PDS) Aber Ihr Herr Lafontaine darf das! Das finde ich wirk-
lich nicht in Ordnung; das würde hinter die Zeiten Bis-
Das müssen wir einfach durchsetzen. Alles andere hätte marcks zurückfallen. Und das wird dieser Bundestag
erhebliche negative Folgen. – so hoffe ich – nicht genehmigen. Ich hoffe auf genü-
gend Widerstand aus Ihrer eigenen Fraktion und auch
In der Regierungserklärung und in der Koalitionsver- aus der grünen Fraktion.
einbarung haben Sie eine Gruppe vergessen. Sie können
Sie aber nicht ernsthaft vergessen haben; das heißt, Sie Den längsten Teil Ihrer Rede haben Sie der Arbeits-
haben für sie nichts geregelt. Ich meine die Arbeitslosen marktpolitik gewidmet. Das ist auch richtig. Sie haben
und die Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeemp- immer gesagt, Sie wollen sich daran messen lassen, wie
fänger. Ich sage ganz deutlich: Die sind in den letzten es Ihnen gelingt, Arbeitslosigkeit abzubauen. Sie haben
Jahren durch die Gesetzgebung drangsaliert worden. Ich ein Bündnis für Arbeit vorgeschlagen. Das ist in Ord-
hatte gehofft, daß Sie das zurücknehmen. Davon steht nung – wenn es denn zustande kommt. Die Ergebnisse
aber kein Wort in der Regierungserklärung. Es ist nicht werden das Entscheidende sein. Ich finde aber, Sie ha-
an eine Besserstellung dieser Menschen gedacht, und ben die Elemente, die dieses Bündnis ausmachen sollen,
(B) das muß diese Regierung unbedingt korrigieren, wenn in ungenügender Weise genannt, aber das macht nichts. (D)
sie denn sozialdemokratisch und grün sein will. Ich muß jedoch auf eines hinweisen, Herr Bundeskanz-
ler: Ihre Referenz ist diesbezüglich nicht absolut die
(Beifall bei der PDS) günstigste. Denn in Niedersachsen haben Sie kein
Bündnis für Arbeit zustande gebracht. Das muß man an
Ich füge hinzu, daß mich sehr gewundert hat, was Ihr
dieser Stelle ehrlicherweise einmal hervorheben. Ich
Bundesfinanzminister in der letzten Zeit zur Pflegever-
hoffe, dieses Mal gelingt es Ihnen.
sicherung und Arbeitslosenversicherung gesagt hat. Das
steht zwar nicht in der Koalitionsvereinbarung, und Sie Sie haben sehr viel von Bildung gesprochen. Ich muß
haben es auch nicht in der Regierungserklärung erwähnt. aber sagen, daß in Niedersachen am meisten Lehrerstel-
Aber er ist – da werden Sie mir zustimmen – kein ganz len abgebaut worden sind, daß am meisten Stundenzah-
unwichtiger Mann in Ihrer Regierung. Man kann die len abgebaut worden sind und daß Sie mit die höchsten
Pflegeversicherung abschaffen und das steuerfinanziert Klassenfrequenzen in der Bundesrepublik Deutschland
machen. Das haben wir damals übrigens auch vorge- haben. Auch das ist keine Referenz für eine künftige
schlagen. Dann muß man sich aber an dem Bedarf aus- gute Bildungspolitik. Sie haben jetzt an Hochschulen in
richten. Wenn man sich an der Bedürftigkeit ausrichtet, Niedersachsen 100 DM Semestergebühren eingeführt,
ist das ein ziemlicher sozialer Skandal. was hinsichtlich des Zugangs zu Bildung nicht gerade
für Chancengleichheit spricht. Auch das will ich deut-
(Beifall bei der PDS) lich kritisieren.
Stellen Sie sich doch einmal vor: Ein Arbeitnehmer er- Sie haben gesagt, daß Sie Ausbildungsplätze für jun-
leidet einen schweren Unfall und ist danach wirklich ge Leute schaffen wollen. Sie haben das sehr engagiert
pflegebedürftig. Jetzt hat er noch ein paar Ersparnisse, vorgetragen. Ich glaube Ihnen, daß das ein wirklich tie-
ein Auto und ein paar andere Gegenstände. Bei einer fer Wunsch von Ihnen ist. Darin unterstützen wir Sie
Bedürftigkeitsprüfung heißt das, daß er das erst alles selbstverständlich.
verkaufen muß, bis er bettelarm ist, und erst dann hilft
ihm der Staat, denn er hätte ja keinen Versicherungs- Aber Sie haben zugleich die Umlagefinanzierung
schutz mehr. Dazu kann ich nur sagen: Das ist wirklich abgelehnt und als Zwang denunziert. Die Umlagefinan-
extrem unsozial und ginge zumindest mit der PDS auf zierung ist kein Zwang; sie stellt vielmehr Gerechtigkeit
gar keinen Fall. her. Die Situation heute ist doch so, daß die großen
Konzerne immer weniger ausbilden und der private
(Beifall bei der PDS) Bäckermeister schon drei, vier oder fünf Lehrlinge hat
100 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998

Dr. Gregor Gysi

(A) und dabei so gut wie überhaupt nicht unterstützt wird. Erster Fehler: Wenn Sie aber so vorgehen, daß Sie die (C)
Die Idee der Umlagefinanzierung besagt doch nur, daß Einnahmen durch Ökosteuern mit einer Senkung der
ein Unternehmen, das ausbilden könnte, aber nicht aus- Lohnnebenkosten koppeln, dann begeben Sie sich in
bildet, nachher aber die am besten ausgebildeten Leute eine Falle. Sie wollen mit den Einnahmen aus der öko-
einstellt, an den Kosten der Ausbildung, die andere vor- logischen Steuerreform den Beitrag zur gesetzlichen
nehmen, beteiligt werden soll. Das ist eine Frage der Ge- Rentenversicherung um, wenn ich das richtig verstehe,
rechtigkeit und nicht des Zwangs. Das ist das Entschei- 0,8 Prozent senken. Was machen Sie denn nun, wenn Ih-
dende an der Idee der Umlagefinanzierung. re ökologische Steuerreform wirkt, das heißt, wenn die
Menschen plötzlich wesentlich weniger Auto fahren und
(Beifall bei der PDS) wesentlich weniger Energie verbrauchen? Wenn das ge-
Mit Appellen hat es auch der Altbundeskanzler ver- schieht, dann fehlen Ihnen die Einnahmen, um im Jahr
sucht. Es war nicht so, daß sich Herr Dr. Kohl über je- danach die Senkung von 0,8 Prozent halten zu können.
den Jugendlichen gefreut hat, der keine Lehrstelle be- Das heißt, entweder müssen Sie dann Ihre Steuern erhö-
kam. Auch er hätte sich mehr gefreut, wenn alle eine hen oder Sie müssen mit den Lohnnebenkosten wieder
bekommen hätten. Aber genau deswegen, weil er in Ka- heraufgehen. Das bedeutet, Sie begeben sich in eine
pitalverwertungsinteressen nicht eingreifen wollte, ewige Spirale. Deshalb ist der Zusammenhang zwischen
wollte er keine Umlagefinanzierung. Ich finde, eine Re- ökologischer Steuerreform und Lohnnebenkosten zwei-
gierung aus SPD und Grünen müßte den Mut haben, fellos ein falscher. Man hätte die Einnahmen für den
diese Umlagefinanzierung nun endlich in die Realität ökologischen Umbau verwenden müssen, um dort
umzusetzen. schrittweise voranzukommen.
(Beifall bei der PDS – Zuruf von der F.D.P.: (Beifall bei der PDS)
Sozialismus!) Zweiter Fehler: Wenn es um die soziale Abfederung
– Das hat doch mit Sozialismus nichts zu tun. Wenn für geht, dann bietet sich nunmehr folgendes Bild: Die
Sie Sozialismus darin besteht, daß alle Jugendlichen Großindustrie wird von dieser Steuer vollständig befreit,
ausgebildet werden, dann bin ich einverstanden. In die- das Handwerk muß einen Teil dieser Steuer bezahlen.
sem Sinne wollen wir Sozialismus. Aber die Sozialhilfeempfängerinnen und die Sozialhil-
feempfänger – die fahren zwar kein Auto, aber auch die
(Beifall bei der PDS) müssen heizen, auch die brauchen eine warme Stube;
Auch hier setzen Sie nur auf Rahmenbedingungen. diese Steuer trifft auch sie, denn auch sie brauchen
Wenn wir denn die Arbeitslosigkeit wirklich abbauen Strom –, die Arbeitslosen und auch die Arbeitnehmerin-
wollen, dann brauchen wir einen öffentlich geförderten nen und Arbeitnehmer, bekommen keine Entlastung.
(B) Beschäftigungssektor, weil über 4 Millionen Arbeitslose Das ist aus unserer Sicht unsozial. (D)
weder in der Privatwirtschaft noch im öffentlichen (Beifall bei der PDS)
Dienst unterkommen werden. Um hier wirklich voran-
zukommen und millionenfach Arbeitslosigkeit in unse- Das Handwerk in den neuen Bundesländern verträgt
rer Gesellschaft abbauen zu können, brauchen wir etwas, nicht einmal eine Teilsteuer. Die Handwerker werden
was die US-Amerikaner Non-profit-Sektor nennen. daran zugrunde gehen. Sie hätten die kleinen und mittel-
ständischen Unternehmen ausnehmen müssen und nicht
Lassen Sie mich auch noch etwas zur ökologischen die Großindustrie. Das wäre der richtige Ansatz gewe-
Steuerreform sagen, mit der sich Herr Gerhardt aus sen, um eine solche Steuer umzusetzen.
seiner Sicht sehr kritisch auseinandergesetzt hat. Ich
möchte mich mit diesem Thema aus meiner Sicht kri- (Beifall bei der PDS)
tisch auseinandersetzen. Sie haben gesagt: Diese Steuer- Lassen Sie mich folgendes noch sagen: Steuern, mit-
reform hat ein Ziel, nämlich die Lohnnebenkosten zu tels derer wir das Verhalten der Leute ändern wollen, al-
senken. Das sei das Entscheidende. Es gehe nicht um so erzieherische, pädagogische Steuern, haben ihre Pro-
Einnahmen; vielmehr gehe es darum, Lohnnebenkosten bleme. Wir haben eine Alkoholsteuer und eine Tabak-
zu senken. Herr Bundeskanzler, ich dachte natürlich steuer, und jetzt bekommen wir eine Energiesteuer. Ihre
immer: Eine ökologische Steuerreform hat zunächst Ziele sind, daß die Leute weniger saufen, weniger rau-
einmal ein ökologisches Ziel. Deshalb nennt sie sich ja chen und weniger Energie verbrauchen. Das Problem
so. dabei ist aber, daß der Staat pleite ist, wenn alle so ver-
Nun muß ich Sie auf ein Problem hinweisen. Ich hätte fahren. Das heißt, damit die Einnahmen stimmen, muß
mir das so vorgestellt: Wenn man eine ökologische die Regierung heimlich immer hoffen, daß mehr gesof-
Steuerreform durchführt, dann nimmt man die Einnah- fen, mehr geraucht und mehr Energie verbraucht wird.
men, um den ökologischen Umbau dadurch zu finanzie- Auf dieses Problem möchte ich einfach einmal hinwei-
ren. Auf diesem Weg kommt man dann weiter. Wenn sen. Deshalb wäre es günstiger, man würde hier andere
dann wirklich der Energieverbrauch zurückgeht, so daß Wege gehen.
die Einnahmen aus dieser Steuer geringer werden, dann Wir sagen ja zu einer ökologischen Steuerreform,
ist man aber beim ökologischen Umbau, zum Beispiel wenn die Einnahmen für den ökologischen Umbau, aber
beim Angebot im öffentlichen Nah- und Fernverkehr nicht für Lohnnebenkosten verwendet werden und wenn
– preisgünstig, sicher, bequem etc. –, schon deutlich sie sozial abgefedert ist. Beides stimmt gegenwärtig
weiter und kann deshalb verkraften, daß die Einnahmen nicht, und deshalb können wir dem nicht zustimmen.
zurückgehen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998 101
Dr. Gregor Gysi

(A) Sie haben nur sehr allgemein über Ostdeutschland ge- Wir begrüßen natürlich die Vorschläge zur Reform (C)
sprochen. Sie haben Ostdeutschland zur Chefsache er- des Staatsbürgerschaftsrechts. Sie gehen uns nicht
klärt. Das ist übrigens nicht neu; das hat Helmut Kohl weit genug; aber wir werden sie unterstützen. Alle An-
auch immer schon gemacht. Sie sehen ja, was dabei her- griffe, die diesbezüglich von der bisherigen Regierungs-
ausgekommen ist. Daher hätte ich mir etwas Konkretes koalition gekommen sind, sind untauglich; denn sie hat
gewünscht. Aber ich habe nichts von einer Investiti- zu verantworten, daß wir heute in ungeahntem Maße
onspauschale für Kommunen gehört, die ganz entschei- Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in unserer Gesell-
dend wäre, um regionale Wirtschaftskreisläufe auch schaft haben. Deshalb ist es das legitime Recht der neu-
ökologisch in Gang zu setzen. en Regierung, nach anderen Ansätzen zu suchen, um das
endlich substantiell zu überwinden und bei der Integrati-
(Beifall bei der PDS)
on der ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger
Ich habe nichts davon gehört, Herr Bundeskanzler, weiterzukommen.
daß Sie wenigstens für vier Jahre das Ziel formuliert
hätten, gleicher Lohn und gleiches Gehalt für gleiche (Beifall bei der PDS)
Arbeit in Ost und West. Darauf warten aber die Men- Aber mir fehlt ein Satz zu den Flüchtlingen. Soll sich
schen in den neuen Bundesländern; denn hier nichts ändern? Wollen Sie wirklich zum Bei-
(Beifall bei der PDS) spiel das demütigende Verfahren auf den Flughäfen bei-
behalten? Wir haben das hier doch zigmal kritisiert.
denn wir haben dort ja auch Preise von 100 Prozent. Hätte so etwas nicht in diese Regierungserklärung hin-
Angesichts dessen kann man nicht auf Dauer mit 70 bis eingehört? Das hätte ich eigentlich erwartet. Es kostete
80 Prozent der Einnahmen leben. Das gilt für Soziallei- nicht einmal Geld, dieses, wie ich meine, unwürdige und
stungen ebenso wie für Löhne und Gehälter. rechtsstaatswidrige Verfahren abzuschaffen.
Sie haben auch nicht gesagt, ob Sie das „Rentenstraf- (Beifall bei der PDS)
recht“ nun endgültig beseitigen wollen, die Lücken in
der Rentenüberleitung nun endlich schließen wollen und Zum Asylbewerberleistungsgesetz will ich erst gar
auch das Versorgungsunrecht bei der Rente überwinden nichts sagen; denn auch da muß man logischerweise
wollen. Ich habe leider auch keinen Satz dazu gehört, ob sehr vieles ändern.
wir nun endlich damit Schluß machen, daß die Leute um Vier Gruppen sind vernachlässigt worden: die Er-
ihr Eigentum an Grundstücken, Datschen etc. Angst ha- werbslosen, die Flüchtlinge, die kleinen und mittelstän-
ben müssen und immer noch zu Tausenden klagen müs- dischen Unternehmerinnen und Unternehmer und die
sen, damit ihre Berufsabschlüsse anerkannt werden. Das Ostdeutschen. Um diese vier Gruppen – aber nicht nur
wären Gesten gewesen, auf die in den neuen Bundeslän- um diese – werden wir uns als Opposition kümmern.
(B) dern dringend gewartet wird. (D)
Sie haben gesagt, Sie wollen eine Republik der Neu-
(Beifall bei der PDS) en Mitte. Herr Bundeskanzler, eine Gesellschaft, in der
Die Außenpolitik – dazu kann ich mich auf Grund der es eine Mitte gibt, noch dazu eine neue, von der ich
fortgeschrittenen Zeit nur noch ganz kurz äußern – soll nicht genau weiß, wie sie sich von der alten unterschei-
ja, wie ich gelesen habe, von Ihrem Außenminister in det – aber nehmen wir das einmal an; ich unterstelle es
Kontinuität fortgesetzt werden. Hier frage ich mich als wahr –, hat gleichwohl ein Oben und ein Unten. Es
natürlich schon, warum sich der Spitzenpolitiker der gibt in keiner Gesellschaft nur eine Mitte. Es gibt immer
Grünen gerade das Amt aussucht, bei dem er sagen muß, auch ein Oben und ein Unten. Wer nicht den Mut hat,
er wolle alles so wie die vorherige Regierung machen. oben etwas zu verändern, hat auch nicht die Kraft, unten
Wie kann man denn so irgendeinen Wechsel dokumen- etwas zu verändern.
tieren – wenn ich das einmal fragen darf? Ein Wechsel Das wird bei Ihren Vorschlägen zur Einkommensteu-
wird nicht sichtbar. Ich habe das ja in der letzten Son-
er ganz deutlich: Natürlich muß das Existenzminimum
dersitzung des 13. Bundestages mitbekommen: Auch die
erhöht werden, natürlich soll der Eingangssteuersatz
SPD, auch die Grünen haben einem völkerrechtswidri- gesenkt werden, aber wenn Sie den Spitzensteuersatz
gen Militärakt zugestimmt, und das ist nach dem Völ-
senken, dann belohnen Sie die Besserverdienenden
kerrecht selbst eine Aggression. Ich hoffe, daß diese
zwei- und dreimal; denn auch wir als Besserverdienende
Politik sich nicht fortsetzen wird, sondern daß wir die profitieren von der Erhöhung des Existenzminimums
Außenpolitik wieder entmilitarisieren.
und von der Senkung des Eingangssteuersatzes genauso
Bei der Verteidigungspolitik hat Ihr neuer Verteidi- wie die Leute, die schlechter verdienen, aber uns noch
gungsminister vor Übernahme des Amtes die Bedingung einmal mit der Senkung des Spitzensteuersatzes zu be-
gestellt, daß der Wehretat nicht gekürzt wird. Geht günstigen, dafür gibt es eigentlich keinen Grund.
meine Phantasie völlig mit mir durch, wenn ich mir vor-
Der Hauptmangel ist, daß Sie nicht den Mut haben,
stelle, ein sozialdemokratischer Verteidigungsminister
wirklich an die Reichen in dieser Gesellschaft heranzu-
sagte vor Amtsantritt, er mache das nur unter der Bedin-
gehen.
gung, daß er wirklich abrüsten dürfe, nicht aber unter
der Bedingung, daß am Wehretat nichts gekürzt werde? (Beifall bei der PDS)
Das wäre zumindest meine naive Vorstellung von der
Amtsübernahme in einem solchen Falle gewesen. Deshalb ist es so schwer, mehr soziale Gerechtigkeit für
schlecht Verdienende und für Arme in dieser Gesell-
(Beifall bei der PDS) schaft zu gestalten. Wo ist der Antrag zur Wiederein-
102 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998

Dr. Gregor Gysi

(A) führung der Vermögensteuer? Diese Frage haben Sie Ich kann heute sagen, Herr Bundeskanzler: Noch nie (C)
an eine Kommission delegiert, als ob wir nicht genau hat sich eine Bundesregierung in ein so gut gemachtes
wüßten, worum es ginge. Wir haben deshalb einen dies- Bett legen können
bezüglichen Antrag schon in dieser Woche eingebracht,
ebenso auch den Antrag zur Einführung einer Luxus- (Lachen bei der SPD)
steuer, weil wir das für dringend erforderlich halten. wie die rotgrüne Bundesregierung unter Lafontaine und
Soziale Gerechtigkeit erfordert nämlich Gerechtigkeit Trittin und mit Ihnen als Darsteller.
bei den Einnahmen ebenso wie bei den Ausgaben. Des-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.
halb sage ich Ihnen: Mitte ist ja ganz schön und gut, Walter Hirche [F.D.P.])
aber – wie gesagt – es gibt auch ein Oben und ein Unten.
Wir haben zwei Oppositionsfraktionen, die sich für das Der Tatsache, daß weder Lafontaine noch Trittin hier
Oben zuständig fühlen, und eine, die sich für das Unten sind, entnehme ich, daß offensichtlich weitere wichtige
zuständig fühlt. Insofern könnte man sich ganz gut er- Koalitionsgespräche geführt werden.
gänzen. Machen Sie deshalb nicht nur Politik für die
Mitte, denken Sie auch an die anderen in der Gesell- CSU, CDU und F.D.P. haben nach Helmut Schmidt
schaft, die Ihrer Hilfe vielleicht viel dringender bedür- in schwieriger Zeit Wirtschaft und Finanzen wieder auf
fen. In uns werden Sie einen streitbaren Partner finden, Kurs gebracht. Wir haben die Herausforderungen der
der, wenn es angebracht ist, zur Unterstützung, aber deutschen Einheit gemeistert, wir haben die europäische
auch zu deutlicher Opposition und Kritik bereit ist. Einigung kraftvoll vorangebracht, und wir haben
Deutschland für das nächste Jahrhundert fit gemacht.
Wir sind zwar die kleinste Oppositionsfraktion, und
ich gebe zu, daß ich nach mehreren Kriterien auch der Heute, Ende 1998, übergeben wir unser Land wohl-
kleinste Oppositionsführer bin, aber halten Sie uns nicht bestellt:
für die schwächste Opposition. Sie werden uns diesbe-
züglich noch erleben. (Beifall bei der CDU/CSU)

Danke schön. Die deutsche Wirtschaft ist im ersten Halbjahr dieses


Jahres um 3 Prozent gewachsen. Dies ist das stärkste
(Beifall bei der PDS) Wirtschaftswachstum seit dem Vereinigungsboom.

Vizepräsidentin Anke Fuchs: Liebe Kolleginnen


und Kollegen, wir hatten bisher in bezug auf die Rede- Vizepräsidentin Anke Fuchs: Herr Kollege, ge-
zeit eine offene Debatte. Wir kehren jetzt zurück zu statten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Wieczorek?
(B) einer Debatte mit Zeitvorgaben; auch die Redneruhr (D)
wird wieder laufen. Ich bitte die Redner, sich ein wenig
an diese Vorgaben zu halten. Michael Glos (CDU/CSU): Ja.

Das Wort hat Herr Michael Glos.


Vizepräsidentin Anke Fuchs: Bitte sehr, Herr
Wieczorek.
Michael Glos (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Rainer Barzel hat
1969 in der Aussprache zur Regierungserklärung von Helmut Wieczorek (Duisburg) (SPD): Herr Kollege
SPD-Bundeskanzler Willy Brandt gesagt: Herr Bundes- Glos, würden Sie dem Haus mitteilen, wie hoch die Ar-
kanzler, beitslosigkeit war, die Sie 1983 geerbt haben, und wie
hoch diejenige ist, die Sie heute hinterlassen?
Sie treten Ihr Amt an bei Vollbeschäftigung, stabi-
lem Geld und wohlgeordneten Finanzen.
1982, nach 13 Jahren SPD-Kanzlerschaft, lag die Michael Glos (CDU/CSU): Lieber Herr Kollege
deutsche Wirtschaft am Boden, die öffentlichen Finan- Wieczorek, ich weiß natürlich, daß wir damals eine
zen waren ruiniert, hohe Arbeitslosigkeit, hohe Inflation, niedrigere Arbeitslosigkeit hatten. Es gab damals aber
auch keine deutsche Wiedervereinigung. Vor allen Din-
(Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Wie gen – ich komme noch zu den Zahlen, ich bin dankbar
hoch war denn die Arbeitslosigkeit da?) für die Frage – hatten wir einen rasanten Anstieg der
hohe Zinsen und ein defizitärer Außenhandel waren eine Arbeitslosigkeit. Herr Wieczorek, Sie waren in der Zeit
schwere Hypothek für die neue unionsgeführte Bundes- von Helmut Schmidt dabei und wissen, daß die Ar-
regierung. beitslosigkeit ständig angestiegen ist. Wir haben jetzt
Gott sei Dank den umgekehrten Trend:
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
(Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Unter
Deswegen mußte Alfred Dregger bei der Aussprache 2 Millionen!)
zur Regierungserklärung 1982 zu Recht feststellen:
Die Arbeitslosigkeit ist gesunken, und wir sind auf dem
Noch nie hat eine Bundesregierung ihre Aufgabe richtigen Weg. Dieser Weg wird anerkannt. Die jüngsten
unter so schwierigen Bedingungen übernommen Zahlen beweisen das: Es gibt 400 000 Arbeitslose weni-
wie die Regierung Kohl . . . ger als im letzten Jahr. Im letzten Regierungsjahr von
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998 103
Michael Glos

(A) Helmut Schmidt ist die Zahl der Arbeitslosen um Deutschland zu einem verläßlichen Partner in einer dau- (C)
600 000 angestiegen. Das sind die richtigen Zahlen. erhaften Friedensordnung in Europa gemacht, und das
alles gegen den erbitterten Widerstand von Herrn La-
(Beifall bei der CDU/CSU – Helmut Wieczo- fontaine, Herrn Fischer und Herrn Trittin.
rek [Duisburg] [SPD]: Das ist Rabulistik in
Vollendung!) Ich habe unlängst, Herr Fischer, in einer oft verkauf-
ten und damit oft gekauften deutschen Tageszeitung ge-
lesen, daß Sie in Washington eine Art Wettlauf mit den
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Herr Kollege, ge- Journalisten gemacht haben und daß Sie denen dank Ih-
statten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Repnik? rer Fitneß meilenweit davongelaufen sind. Es kann
durchaus sein, daß Sie den Journalisten heute davonlau-
Michael Glos (CDU/CSU): Aber bitte. fen, aber Ihrer Vergangenheit auf diesem Gebiet können
Sie nicht davonlaufen.

Vizepräsidentin Anke Fuchs: Bitte sehr, Herr (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei Ab-
Repnik. geordneten der SPD und des BÜNDNISSES
90/DIE GRÜNEN)

Hans-Peter Repnik (CDU/CSU): Herr Kollege Es ist doch legitim, daran zu erinnern, warum wir
Glos, können Sie mir bestätigen, daß in der Regierungs- heute diese Friedensordnung in Europa und warum wir
zeit der sozialliberalen Koalition die Arbeitslosigkeit die deutsche Wiedervereinigung haben. Wir haben sie,
von ungefähr 160 000 auf 1,6 Millionen angestiegen ist, weil wir allezeit fest zu unseren westlichen Bündnis-
sich also verzehnfacht hat, und daß in der Regierungs- partnern gestanden sind, weil wir zur NATO gestanden
zeit des Bundeskanzlers Helmut Kohl 3 Millionen neue sind, weil wir die Bündnisverpflichtungen erfüllt haben
Arbeitsplätze geschaffen wurden? und weil wir letztendlich dieser Verläßlichkeit die Zu-
stimmung unserer Freunde und Partner zur Wiederver-
(Lachen bei der SPD) einigung verdanken.
Der Frieden ist sicherer geworden. Das Streitkräfte-
Michael Glos (CDU/CSU): Lieber Kollege Repnik, und Waffenpotential in Europa ist gottlob drastisch re-
ich bin sehr dankbar, daß Sie diese Tatsache in Erinne- duziert. Heute stehen keine sowjetischen Soldaten mehr
rung gerufen haben. Wir haben auch auf anderen Ge- auf deutschem Boden.
bieten einen gewaltigen Unterschied zwischen dem En-
de der Regierungszeiten von Helmut Schmidt und Hel- Auch deswegen waren 16 Jahre Kanzlerschaft Hel-
(B) mut Kohl festzustellen: Wir haben heute Preisstabilität. mut Kohl ein Geschenk für Deutschland. (D)
In den Zeiten der Regierungen Brandt und Schmidt hat- (Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
ten wir Inflationsraten zwischen 5 und 7 Prozent. NEN]: Ich dachte schon, ein Geschenk Got-
Ich bedanke mich bei Theo Waigel, tes!)

(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich bedanke mich bei ihm für die CSU ehrlichen Her-
NEN]: Aber der ist vorbei!) zens. Das ist nicht der scheinheilige Dank, den wir hier
aus taktischen Gründen oft hören mußten.
der mit seiner Finanzpolitik die gewaltigen Herausforde-
rungen der deutschen Wiedervereinigung erfolgreich (Beifall bei der CDU/CSU)
bewältigt hat. Ich habe das alles nur deswegen noch einmal in Erin-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- nerung gerufen, weil sich die neue Regierung in späte-
ordneten der F.D.P.) stens vier Jahren an der Bilanz messen lassen muß, die
sie als Anfangsbilanz vorgefunden hat. Deswegen lassen
Zuletzt sind die Bundesausgaben drei Jahre in Folge ge- Sie doch das törichte Gerede – Wolfgang Schäuble hat
sunken. es schon einmal gesagt – von vermeintlichen Milliar-
(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- denlöchern! Damit gestehen Sie nur ein, daß Rotgrün
NEN]: Das können Sie auf Ihrem Parteitag sa- jetzt nicht bezahlen kann, was man den Bürgerinnen und
gen!) Bürgern im Wahlkampf versprochen hat.
Heute sind die Zinsen – Herr Kollege Schlauch, trotz Die Wirtschaftsforschungsinstitute rechnen in ihrem
Ihres Geschreis können Sie das nicht leugnen – in Herbstgutachten mit Mehreinnahmen gegenüber der
Deutschland auf einem historisch niedrigen Niveau. Für Steuerschätzung vom Frühjahr, mit einer günstigeren
eine zehnjährige Hypothek sind nur zirka 5 Prozent zu Entwicklung am Arbeitsmarkt und vor allen Dingen mit
zahlen. Unter den SPD-geführten Bundesregierungen deutlichen Fortschritten bei der Reduzierung der öffent-
hatten wir Rekordzinsen. Baugeld hat 1982 11 Prozent lichen Defizitquote. Die in der letzten Woche veröffent-
gekostet. Herr Kollege Wieczorek, auch daran sollten lichten Arbeitslosenzahlen – wir hatten dank Herrn
Sie erinnern. Wieczorek vorhin schon einmal eine Diskussion darüber
– bestätigen dies in eindrucksvoller Weise.
Unsere sozialen Sicherungssysteme sind heute zu-
kunftsfähig und um die soziale Pflegeversicherung er- Es ist die einmalige historische Leistung von Theo
gänzt. Die Politik von CDU/CSU und F.D.P. hat Waigel, daß das finanzpolitische Schiff in den 90er Jah-
104 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998

Michael Glos

(A) ren unseres Jahrhunderts trotz weltweiter Umbrüche gegeben hat, weil es keine Bevormundung gegeben hat – (C)
stets Kurs gehalten hat. Theo Waigel hat dafür gesorgt, auf einem historischen Tief. Zu Recht hat deshalb der
daß Deutschland und Europa von den Turbulenzen an Zentralbankrat in der letzten Woche Herrn Lafontaine
den internationalen Finanzmärkten und den wirtschaftli- ohne Zinssenkung wieder nach Hause geschickt.
chen Krisen in Rußland und in Asien weitgehend ver-
Die letzten Wochen haben überdeutlich gemacht, wer
schont geblieben sind. Heute zahlt sich aus, daß wir mit
in der neuen Bundesregierung der Koch und wer der
unseren Reformen die Rahmenbedingungen für Arbeit
Kellner ist. Kellner ist Herr Schröder, Koch ist Herr La-
in Deutschland verbessert haben, daß wir unnachgiebig
fontaine, und Küchenchefin ist offensichtlich Christel
für eine stabile europäische Währung gekämpft haben,
Müller.
daß die Europäische Zentralbank unabhängig und vor-
rangig auf das Ziel der Preisniveaustabilität verpflichtet (Heiterkeit bei der CDU/CSU – Dr. Sigrid
ist. Skarpelis-Sperk [SPD]: Wenn sie gut kocht,
haben Sie doch sicher nichts dagegen?)
Herr Bundeskanzler, heute müssen Sie zugeben, wie
sehr Sie als Kanzlerkandidat mit Ihrem opportunisti- – Das mag vielleicht sein, wenn es sich um Mittagessen,
schem Geunke vom Euro als sogenannter kränkelnder Dessert, Frühstück und was weiß ich alles handelt. Aber
Frühgeburt danebengelegen haben. wenn es um die Währungspolitik unseres Landes geht,
muß man schon vorsichtiger sein. Frau Kollegin, ich be-
(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Alles ver-
danke mich hiermit für den Zwischenruf.
gessen, alles nicht mehr wahr!)
(Beifall bei der CDU/CSU)
Ich hoffe für unser Land, Herr Bundeskanzler, daß Sie
künftig weniger Populismus und dafür mehr Sachver- Wirtschaftsforschungsinstitute, Wirtschaftsverbände,
stand an den Tag legen werden, wenn es um diese wich- der Mittelstand und sogar Vertreter aus dem Gewerk-
tigen Fragen geht. schaftslager werten die Koalitionsvereinbarungen von
SPD und Grünen, soweit sie bekannt sind, als eine Kata-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. –
strophe für den deutschen Arbeitsmarkt. Auch Herr Jost
Ludwig Stiegler [SPD]: Das mußt gerade Du
Stollmann, den ich heute vermisse, hat sich in gleicher
sagen!)
Weise geäußert. Als ich das letzte Mal im Bundestag re-
Ich bin auch der Meinung, Herr Bundeskanzler, daß den konnte – das war vor 4 Wochen im Wasserwerk –,
Ihre Regierung insbesondere auf dem währungspoliti- saß er zumindest noch auf der Zuschauertribüne. Heute
schen Gebiet noch sehr großen Lernbedarf hat, wie das ist er nicht einmal mehr als Zuschauer gekommen. Auch
jüngste Trommelfeuer des Lafontaineschen Küchenka- er spürt natürlich, daß die Neue Mitte ganz schön betro-
binetts gegen die Unabhängigkeit der Deutschen Bun- gen worden ist und daß er dabei unfreiwillig geholfen
(B) (D)
desbank zeigt. Oskar Lafontaine übt öffentlich Druck hat.
auf die Deutsche Bundesbank aus, die Zinsen zu senken.
Ich zitiere das „Handelsblatt“ vom 13. Oktober:
Staatssekretär Noé will die Zentralbank einer Kontrolle
durch die Politik unterwerfen, wie er sich ausgedrückt Was Rot-Grün verabredet hat . . . das atmet den alten
hat. Geist der Steuerklempner: kleinere Veränderungen
bei den Steuersätzen, einige Korrekturen bei den
(Dr. Gregor Gysi [PDS]: Wie war das eigent-
Steuervergünstigungen; Entlastungen mal hier,
lich mit der Goldreserve und Herrn Waigel?)
Belastungen mal dort. Allein schon die Streckung
Die rotgrüne Bundesregierung hat damit den verhee- des Vorhabens über vier Jahre nimmt der Reform
renden Eindruck erweckt, sie wolle die Deutsche Bun- jede Dynamik.
desbank bzw. die Europäische Zentralbank zum Spiel-
Aber was am schlimmsten ist, Herr Bundeskanzler:
ball politischer Interessen machen. Damit hat sie nach
Noch im Wahlkampf haben Sie die Neue Mitte heftig
nur wenigen Tagen im Amt leichtfertig währungspoliti-
umworben. Diese Neue Mitte, die wir auch für Investi-
sches Porzellan zerschlagen und Vertrauen verspielt. Ich
tionen in unserem Land brauchen, wird jetzt abkassiert
zitiere den Fraktionsvorsitzenden der zweitgrößten nie-
und fühlt sich getäuscht.
derländischen Regierungspartei, Herrn Dijkstal. Er sieht
in Lafontaines Kurs eine Gefahr für die Stabilität des Die Gegenfinanzierung dieser Flickschusterei kon-
Euro. zentriert sich überwiegend auf den Unternehmensbe-
reich. Hieran werden möglicherweise auch die Nachbes-
(Ludwig Stiegler [SPD]: Wim Kok sieht das
serungen, die wir noch nicht kennen, nichts ändern. Ich
anders!)
befürchte: Investitionen unterbleiben, Standorte der
Ich möchte noch einmal sagen: Die Verhältnisse Unternehmen werden ins Ausland verlagert. Ich nenne
scheinen sich umgedreht zu haben. Früher hat man in ein paar Beispiele: Opel hat bereits angedroht, auf ge-
Europa die stringente Stabilitätspolitik der Deutschen als plante Investitionen in Deutschland zu verzichten. Die
großes Vorbild gesehen. Heute muß man Europa und New Yorker Investment-Bank Goldman Sachs warnt
den Euro offensichtlich vor den Deutschen schützen. So eindringlich vor Anlagen in Deutschland. Die „Wirt-
schnell kann sich manches verändern. schaftswoche“ berichtet von konkreten Fluchtgedanken
der mittelständischen Wirtschaft.
Die Zinsen in Deutschland sind auch ohne den öf-
fentlichen Druck der Bundesregierung – oder gerade Nun ein Wort zur geplanten Ökosteuer. Bereits heute
weil es keinen öffentlichen Druck der Bundesregierung liegen die Energiekosten der deutschen Wirtschaft um
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998 105
Michael Glos

(A) 30 Prozent höher als in den USA. Trotzdem wollen Sie Gesichert sind dagegen Arbeitsplätze für Ideologen. (C)
Bürger und Unternehmen unter dem Deckmantel der Wenn das die versprochene soziale Gerechtigkeit in
Ökologie mit einer dreistufigen Steuererhöhung bei Deutschland ist, dann ist es hierum schlecht bestellt.
Benzin, Heizöl, Erdgas und Strom belasten. Ich zitiere
(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Un-
den Chef der IG Chemie, der unverdächtig ist, ein Mit-
glaublich! – Ludwig Stiegler [SPD]: Frau Prä-
glied der CSU zu sein. Herr Schmoldt sagt über die neue
sidentin, geben Sie ihm ein Taschentuch! Er
Bundesregierung, „sie würde durch zusätzliche Steuern
weint gleich!)
und Steuererhöhungen die Qualität des Standortes
Deutschland nicht verbessern, sondern Arbeitsplätze ge- – Herr Kollege Stiegler, Sie brauchen keine Angst zu
fährden . . . und Kaufkraft mindern.“ haben, daß ich zu weinen anfange, obwohl mir an die-
sem Tag natürlich nicht sehr wohl zumute ist. Ich will
Deutlich negative Folgen für Arbeitsplätze hat auch
das gerne zugestehen.
der von Rotgrün forcierte Ausstieg aus der Kernener-
gie. Vorhin hat Herr Struck gesagt, wir hätten unsere Nie-
derlage nicht verkraftet. Angesichts der Reden aber, die
(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: So ist es!) ich heute gehört habe – das betrifft auch die Rede von
Weil er die Fakten kennt, bitte ich den neuen Wirt- Herrn Struck –, kann ich nur sagen: Die SPD hat ihren
schaftsminister Müller, der gegenwärtig im Plenum Sieg nicht verkraftet.
durch seinen Staatssekretär vertreten wird, die Tatsache (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
zu bedenken, daß wir heute in Europa 216 Kernkraft- ordneten der F.D.P.)
werke haben. Ausgerechnet die 19 sichersten sollen ab-
geschaltet werden. Der Strom, der in Deutschland ver- Was sagen Sie eigentlich zum Beispiel den Polizeibe-
braucht wird, käme nach wie vor aus Kernkraftwerken – amten oder den Studenten,
nur nicht mehr aus sicheren Kernkraftwerken. Er käme (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sie kümmern
aus der Tschechischen Republik, der Ukraine, der Slo- sich um Studenten?)
wakei oder Rußland. All diese Länder stehen für Strom-
lieferungen nach Deutschland bereit. die von Ihrer Ökosteuererhöhung betroffen sind, von ge-
ringeren Sozialabgaben aber überhaupt nichts haben?
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Was sagen Sie den Rentnern, denen Sie mehr Rente ver-
ordneten der F.D.P.) sprochen haben, die Sie jetzt aber mit höheren Strom-
Was besonders schlimm ist: Deutschland würde auch und Heizungskosten zur Kasse bitten? Was sagen Sie
seinen weltweiten Spitzenplatz in der Sicherheitstech- vor allen Dingen den vielen Pendlern im ländlichen
nologie aufgeben. Damit würden allein in der Kernkraft- Raum, die tagtäglich auf das Auto angewiesen sind?
(B) (D)
industrie 40 000 Arbeitsplätze in Deutschland verloren- (Zurufe von der CDU/CSU: Sehr richtig! – So
gehen. Sehr qualifizierte und gutbezahlte Arbeitnehmer ist es!)
würden davon betroffen sein.
Was sagen Sie den Müttern auf dem Land, die in die
Es ist illusorisch zu glauben, daß sich ein Drittel der Stadt zum Einkaufen, zum Kindergarten oder zum Arzt
Stromerzeugung in Deutschland allein durch Energie- fahren?
sparen oder durch regenerative Energien ersetzen ließe.
Wenn wir als Ersatz zusätzliche Kohlekraftwerke bauen, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
auch moderne Kohlekraftwerke mit hohem Wirkungs- ordneten der F.D.P. – Ludwig Stiegler [SPD]:
grad, dann bedeutet dies trotzdem eine erhebliche Erhö- Wer hat denn die Mineralölsteuer erhöht?)
hung der CO2-Belastung. Das halte ich umweltpolitisch – Da Sie einen Oberpfälzer Wahlkreis vertreten, sollten
für fatal. Sie ganz besonders gut zuhören. Sie sind ja angeblich
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) der Interessenvertreter Bayerns mit einem Wächteramt
innerhalb der Koalition. Ich kann dazu nur sagen: Gute
Herr Bundeskanzler, wo bleibt hier eigentlich Ihr Nacht, Bayern! Bayern hat in der Bundesregierung von
Vorbehalt für Arbeitsplätze? Ich habe in Ihrer Regie- CDU/CSU und F.D.P. vier Minister und fünf Parlamen-
rungserklärung nachgelesen – Sie haben das auch schon tarische Staatssekretäre gestellt. Wir haben wichtigste
einmal anderweitig gesagt; ich zitiere Sie –: Ich weiß, Funktionen wahrgenommen. Sie setzen sich hier als so-
daß es schwer ist, eine Technologie durchzusetzen, die genannter Landesgruppenvertreter der SPD aus Bayern
wenig Akzeptanz findet bzw. deren Akzeptanz so ge- hin und krakeelen dazwischen, um von Ihrer Niederlage,
fährdet ist wie die der Kernkraftindustrie. Aber man die Sie im Rahmen der Regierungsbildung in bezug auf
muß sich natürlich fragen: Warum ist diese Akzeptanz Bayern erlitten haben, abzulenken.
so gefährdet, und wer hat letztlich dazu beigetragen, die
Menschen auf diesem Gebiet zu verunsichern? Hier muß (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei
man ein Stück weit Ursache und Wirkung mitbedenken. der SPD)

Ich habe den Eindruck: Wer marktwirtschaftlich Herr Bundeskanzler, was sagen Sie den kinderreichen
denkt, dem bietet die Regierung Schröder wenig Platz. Familien? Diese haben Sie – wie bei Hänsel und Gretel
Das zeigen die massenhaften Frühpensionierungen, die – massiv mit dem Zuckerbrot Kindergeld gelockt, und
jetzt in den Ministerien anstehen. jetzt – gefangen – kommt die Ökopeitsche. Der Famili-
enbund hat vorgerechnet: Bereits bei einem Dreiperso-
(Lachen bei der SPD) nenhaushalt mit einem Nettoeinkommen von 70 000
106 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998

Michael Glos

(A) DM im Jahr sind die Belastungen höher als die Entla- Wir wollen größere, nicht kleinere Gestaltungsspiel- (C)
stungen. räume für die Bundesländer. Die Früchte größerer An-
strengungen einer Landesregierung müssen den Men-
Was sagen Sie der bäuerlichen Landwirtschaft? Das
schen in dem jeweiligen Bundesland zugute kommen.
ist ein Kapitel, das ganz besonders auch den süddeut-
Dadurch wird der Druck auf Nachahmung erzeugt.
schen Raum und Bayern angeht. Haben die Familien auf
den Höfen bei Rotgrün noch eine Zukunft? (Beifall bei der CDU/CSU)
(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Haben sie Welche gewaltige Erblast der Herr Ministerpräsident
doch bei der CSU auch nicht!) Lafontaine dem Herrn Finanzminister Lafontaine hin-
Sie haben einen raschen Abschluß der Agenda 2000 an- terläßt, weiß er selbst am besten.
gekündigt. Damit wird der Eindruck erweckt, die rot- (Heiterkeit bei der CDU/CSU)
grün geführte Bundesregierung unterstütze die Vor-
schläge der EU-Kommission. Ich würde das für fatal Leider muß er als Finanzminister nicht persönlich die
halten. Ich kann dem neuen Landwirtschaftsminister Zeche zahlen. Das werden die deutschen Steuerzahler
Funk unsere Unterstützung versprechen, falls er gegen tun müssen.
diese ungerechten Vorschläge ankämpft.
Wir fordern, daß es in diesem Bereich schneller geht.
(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Funke!) Sie wollen eine Enquete-Kommission zur Neuordnung
– Vielen Dank. Ich werde mich daran gewöhnen müs- des Finanzausgleiches einsetzen. Daß dies im Ergebnis,
sen. Wenn er hiergewesen wäre, wäre es mir vielleicht wie angekündigt, auf das Jahr 2005 verschoben wird,
eingefallen. zeigt deutlich: Sie rechnen damit, daß dann die Union
schon lange wieder regiert und dieses Problem löst.
Herr Bundeskanzler, was haben Sie mit den Sparern,
den Häuslebauern und den Inhabern von Lebensversi- (Lachen bei der SPD)
cherungen vor? Die Politik Ihres Finanzministers und Statt die Länderverantwortung zu stärken, will die
seiner Frau läuft offen auf mehr Inflation hinaus. Ein Regierung Schröder offensichtlich entgegengesetzte
Prozent mehr Inflation – dabei wird es nicht bleiben – Wege gehen. Ein konkretes Beispiel: Wo bisher vor-
bedeutet einen Vermögensverlust der Sparer und derje- bildliche Krankenhäuser stehen, sollen die Beitragszah-
nigen, die Lebensversicherungen haben, in Höhe von 50 ler vernachlässigte Krankenhäuser in den SPD-Ländern
Milliarden DM im Jahr. mitfinanzieren. Das fördert nicht Effizienz und Spar-
Diese Politik gegen die Sparer ist unsozial. Sie geht samkeit, sondern bestraft Länder mit eigenen Anstren-
zu Lasten der Schwächeren, und sie benachteiligt die gungen.
(B) kleinen Leute. (D)
Wir brauchen nicht mehr Gleichmacherei. Wir brau-
(Beifall bei der CDU/CSU) chen mehr Wettbewerb. Ich sage es noch einmal: Wett-
Wir wollen keine südamerikanischen Verhältnisse in bewerb schafft Höchstleistungen. Das gilt auch für den
Deutschland und Europa. Die Inflationswellen dort ha- Wettbewerb zwischen Bundesländern.
ben immer nur den Besitzern von großen Sachwerten (Rudolf Bindig [SPD]: Und auch zwischen
und Grundstücksbesitzern geholfen und Arbeitnehmer Parteien!)
und Mittelstand verelenden lassen.
Lassen Sie mich noch ein anderes Kapitel anspre-
Auch bezüglich des Themas Föderalismus ist in der chen. Vorhin hat sich die Kollegin Müller damit gebrü-
rotgrünen Koalitionsvereinbarung von Gerechtigkeit stet, daß die Grünen in den Koalitionsverhandlungen
keine Spur. Das Koordinatensystem zwischen Bund und eine Privilegierung des Zusammenlebens vertreten ha-
Ländern soll mehr in Richtung Zentralismus und weni- ben, die der Privilegierung der Familie gleichkommt.
ger in Richtung Föderalismus, in Richtung mehr Staat Wer das will, stellt die Wertentscheidung des Grundge-
und weniger Wettbewerb ausgerichtet werden. setzes für den Vorrang der Familie offen in Frage.
(Zuruf des Abg. Wilhelm Schmidt [Salzgitter]
(Beifall bei der CDU/CSU – Claudia Roth
[SPD])
[Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
– Stellen Sie Ihre Frage bitte laut! Dann kann ich sie be- Was hat das mit Demokratie zu tun, Herr
antworten. Glos? Gleiche Rechte für alle!)
(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Herr Die vorgesehene drastische Einschränkung des Ehe-
Glos, Sie kämpfen das letzte Gefecht! Das gattensplittings ist nicht nur eine Frage des Geldes. Hier
merkt man!) geht es letztendlich an die Wurzeln von Ehe und Fami-
– Wir kämpfen nicht das letzte Gefecht. Wir stehen am lie. Die Einführung eines Rechtsinstituts der eingetrage-
Anfang eines Kampfes, an dessen Ende die Leute erken- nen Partnerschaft mit Rechten und Pflichten läuft auf
nen werden, daß Ihr Weg falsch ist. eine offene Entwertung der Familie hinaus. Die rotgrüne
Gesellschaftspolitik ist deswegen eine Politik gegen die
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Familie, gegen Kinder. Deswegen wird die CSU eine
Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist solche Politik kategorisch ablehnen.
so altbacken, was Sie von sich geben! Das ist
ja unglaublich!) (Beifall bei der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998 107
Michael Glos

(A) Die deutsche Staatsbürgerschaft, Herr Fischer, ist Meine sehr verehrten Damen und Herren, die „Süd- (C)
bislang ein Zeichen der Identifikation mit unserem Staat deutsche Zeitung“ belegt das rotgrüne Regierungspro-
und damit auch mit unserer Werteordnung. Davon will gramm mit dem Ausdruck „Ausflug nach Utopia“. Diese
man sich offensichtlich verabschieden. Staatsangehö- Regierung will gesellschaftliche Veränderungen in
rigkeit soll künftig nur noch eine Frage von Wartezeit Deutschland – von der Drogenpolitik bis zur Familien-
oder Geburtsort sein. Das führt nicht zu einer besseren politik, von der Sicherheitspolitik bis zur Steuerpolitik,
Integration. Ich befürchte, daß wird eher zu einer Spal- von der Ausländerpolitik bis zu einer Schwächung des
tung unserer Gesellschaft führen. Föderalismus. Das, was Sie angekündigt haben, ist keine
neue Politik. Das ist höchstens der Marsch in eine ande-
Wir sind der Meinung: Staatsangehörigkeit darf man re Republik. Diesem Marsch werden CDU und CSU ih-
nicht verschenken. Staatsangehörigkeit muß man sich ren entschiedenen Widerstand entgegensetzen.
auch ein Stück weit innerlich erwerben. Es ist nicht da-
mit getan, jedem Ausländer einen deutschen Paß in die Vielen Dank.
Tasche zu schieben. Wer Deutscher werden will, muß
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
sich zuvor integrieren.
ordneten der F.D.P.)
(Beifall bei der CDU/CSU)
Das bedeutet die Beherrschung der deutschen Sprache Vizepräsidentin Anke Fuchs: Das Wort hat der
sowie den Willen, sich in die Gemeinschaft unseres Bundesaußenminister Joseph Fischer.
deutschen Volkes einzufügen und auch ein Stück weit
unsere Lebensformen zu übernehmen. Die Staatsbürger-
schaft kann immer erst am Ende eines erfolgreichen In- Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen:
tegrationsprozesses stehen und nicht an dessen Anfang. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gestatten
Sie mir, mit einer allgemeinpolitischen Bemerkung zu
(Beifall bei der CDU/CSU) beginnen. Mich erinnert vieles, was ich von Ihrer Seite
gehört habe, namentlich dieser hervorragende Beitrag
Wir wollen, daß Deutschland ein ausländerfreundli- vom Kollegen Glos,
ches Land bleibt. Das erreicht man nicht durch die gene-
relle Gewährung eines Privilegs wie der doppelten (Michael Glos [CDU/CSU]: Danke schön!)
Staatsbürgerschaft. Damit droht man das tolerante Zu-
aber auch das, was ich heute vom Kollegen Schäuble
sammenleben in Gefahr zu bringen. Es entsteht eine ge-
gehört habe, sehr stark an das Jahr 1983. Da kann ich
fährliche Sogwirkung auch für verstärkte Zuwanderun-
Ihnen nur sagen: Das wird lange dauern, wenn Sie Op-
gen aus anderen Kulturkreisen, und damit sind neue
positionspolitik so weitermachen, wenn Sie meinen, der
(B) Probleme nicht nur für den Arbeitsmarkt verbunden. Wahlkampf sei noch nicht zu Ende. (D)
Geteilte Loyalitäten – das ist ja die Crux bei der dop-
(Zuruf von der CDU/CSU: Das lassen Sie mal
pelten Staatsbürgerschaft – führen nicht zu besserer
unsere Sorge sein!)
Integration. Deshalb warnen wir vor diesem Weg, und
deswegen werden wir alles tun, um diesen falschen Weg Wenn Sie das meinen, erwidere ich: Das können Sie ru-
zu verhindern – genau wie wir dagegen ankämpfen, daß hig machen. Uns soll es recht sein. Ich kann Ihnen nur
man in Deutschland lebenden nichtdeutschen Staats- sagen: Das wird lange dauern.
angehörigen uneingeschränkt das kommunale Wahlrecht
verleihen will. Staatsangehörigkeit und Wahlrecht müs- Der Wahlkampf ist zu Ende, und Sie müssen sich
sen nach unserer Auffassung eine Einheit bleiben – ge- Klarheit darüber verschaffen, warum Sie nach nur
nauso wie Rechte und Pflichten auch künftig zusam- 14 Tagen, nachdem Bundeskanzler Gerhard Schröder
mengehören. gewählt wurde und in denen diese Regierung im Amt
ist, meinen, diese Welt müßte schon verändert sein, was
(Beifall bei der CDU/CSU) Sie aber gleichzeitig beklagen. Sie sollten vor allen Din-
gen eines nicht tun: die Augen vor den Ursachen des
Über die Erfolge bei der Verbrechensbekämpfung großen Vertrauensverlustes, den Sie erlitten haben und
ist heute schon gesprochen worden. Wir sind der Mei- der die Ursache Ihrer Niederlage ist, verschließen.
nung, daß wir hier bei den bewährten Wegen bleiben
sollten. Es darf nicht zu einer sogenannten bürokratie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
armen Bestrafung von Alltagskriminalität kommen, wie und bei der SPD)
das Ganze verharmlosend genannt wird. Wer Laden-
Ich kann nur sagen: Machen Sie weiter so!
diebstahl mit Falschparken gleichsetzt, der macht Kri-
minalität kalkulierbar, und dagegen kämpfen wir an. Ich möchte zur deutschen Außenpolitik, zur Außen-
politik der Bundesregierung sprechen. Dabei ist es ganz
(Beifall bei der CDU/CSU) besonders wichtig, festzustellen, daß angesichts der Da-
Wir kämpfen auch gegen die in der Koalitionsverein- ten, mit denen wir es gegenwärtig zu tun haben – gestern
barung enthaltene Absicht, die Abgabe von Heroin an haben wir den Jahrestag der Reichspogromnacht began-
Süchtige in Zukunft zu ermöglichen. Man will damit gen; es ist zugleich auch der Jahrestag des Falls der
Rechtssicherheit für Drogenhilfestellen erreichen. Eine Mauer; das Ende des ersten Weltkriegs jährt sich jetzt
solche Politik verharmlost mehr und löst keine Proble- zum 80. Mal; mit diesem Datum verbinden sich das
me. Furchtbare, das Schreckliche, auch das Schöne, das
108 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998

Bundesminister Joseph Fischer

(A) Großartige in unserer Geschichte –, weiterhin gilt: Auch und Ihnen, als ehemaliger Bundesaußenminister, Herr (C)
wenn es jetzt durch den Ablauf Zeit und den Regie- Kinkel, für das Geleistete im Interesse unseres Landes
rungswechsel einen Wechsel hin zu einer jüngeren Ge- danke. Mit einem vergifteten Lob hat das überhaupt
neration gegeben hat, die nicht mehr unmittelbar mit der nichts zu tun.
Nazi-Barbarei und dem zweiten Weltkrieg zu tun hatte, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
wird unser Land, Deutschland, auch in Zukunft immer und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
mit anderen Augen gesehen als andere Länder. Das liegt CDU/CSU und der F.D.P.)
an unserer Geschichte.
Vertrauenskapital zu erwerben ist die Voraussetzung
Es liegt an der Lage, an der Geschichte, an dem Po- dafür, daß wir die notwendigen Spielräume für die Neu-
tential unseres Landes, weshalb es so wichtig ist, daß gestaltung bekommen. Für uns ist Selbstbeschränkung
man zu Beginn – und dann auch in der praktischen Poli- geboten; Europa, das transatlantische Bündnis, die feste
tik – einer neuen Regierung die Kontinuität der Integration in den Westen und das auf Grund unserer
Grundlagen und die Berechenbarkeit deutscher Außen- Geschichte besondere Verhältnis zu Israel sind die Fel-
politik betont. der, in denen wir Kontinuität beweisen wollen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
und bei der SPD) Die praktischen Probleme, vor denen wir heute ste-
Ich möchte dies ganz besonders tun, weil uns die Macht hen, ergeben sich aus dem europäischen Einigungspro-
der kollektiven Erinnerung in Europa in dem Moment, zeß. In der Vergangenheit, als die Rollen noch anders
in dem wir das Flackern eines Zweifels aufkommen lie- verteilt waren, gab es in der Frage der Europapolitik ein
ßen, sofort einholen würde. Wir konnten im Zusammen- hohes Maß an Übereinstimmung. Ich würde mich freu-
hang mit dem Raubgold gemeinsam erleben, wie diese en, wenn es dieses hohe Maß an Übereinstimmung auch
Erinnerungen auch in Ländern zurückgekommen sind, in in Zukunft, in neuer Konstellation, geben könnte.
denen man geglaubt hatte, daß dies nicht möglich sei. Wir waren uns einig, daß Vertiefung und Erweite-
Kontinuität in den Grundlagen schließt ja nicht aus, rung gleichermaßen wichtig sind. Vertiefung bedeutete
daß die konkreten Akzentuierungen anders als bisher die Entscheidung für die Wirtschafts- und Währungs-
sind. Die Berechenbarkeit der Grundlagen deutscher union, für den Euro, der zum 1. Januar des nächsten Jah-
Außenpolitik aber ist ein sehr, sehr hohes Gut, das wir res praktisch wird. Der nächste Schritt, den wir gehen
von der Bonner Republik in die Berliner Republik nicht müssen, wird die Erweiterung sein. So sehr ich für Rea-
nur mitnehmen sollten, sondern mitnehmen müssen. Es lismus plädiere, weil wir jetzt in eine Phase eintreten, in
ist insofern sehr wichtig, nochmals daran zu erinnern, der Visionen konkretisiert werden müssen, will ich klar-
(B) daß wir an einer Politik der Selbstbeschränkung festhal- stellen: Realismus bedeutet für mich nicht eine Abkehr (D)
ten müssen. von der Vision, sondern eine bauliche Umsetzung dieser
Vision.
Europa ist für uns die entscheidende Frage. Auf die- Wir haben gestern auf dem Außenministertreffen in
sem Feld geht es nicht darum, was wir anders machen; Brüssel mit der konkreten Erweiterung begonnen. Es
hier wird es darum gehen, weitere Bauabschnitte dieses geht jetzt nicht mehr um abstrakte Zahlen, es geht jetzt
Hauses Europa zu vollenden. Ich behaupte, das ist die nicht mehr um eine Vision; es geht jetzt um hartes Brot,
wichtigste Herausforderung, der wir uns im Widerstreit das geschnitten und gekaut werden muß. Es geht um die
der Parteien gemeinsam zu stellen haben. Dabei hat es, wirtschaftliche Integration und die Frage der Übernahme
Kollege Glos, überhaupt nichts mit einem „vergifteten geltenden Rechtes. Es geht um die Frage der Anpassung
Lob“ zu tun, wenn wir, bei allen parteipolitischen Unter- von Strukturen. All diese Dinge müssen jetzt realistisch
schieden, bei aller Kritik, die es geben mußte, sagen – gesehen werden.
damit vergeben wir uns überhaupt nichts –: Dort, wo
Helmut Kohl in der Europapolitik aufgehört hat, beim (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
europäischen Integrationsprozeß, wird die neue Bundes- und bei der SPD)
regierung weitermachen müssen. Sie wird die Aufgaben Meine Damen und Herren, genauso bestimmt sage
lösen müssen, die offengeblieben sind. ich aber – da sind wir uns völlig einig –: Die Vision, die
(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Das sind dahintersteckt, gilt, nämlich daß die Grenze – der Bun-
große Schuhe!) deskanzler hat es heute morgen in seiner Regierungser-
klärung betont –, daß der Eiserne Vorhang, daß die Ost-
– Es sind große Schuhe; deswegen passen sie Ihnen ga- grenze Deutschlands nicht die Grenze der EU bleiben
rantiert nicht, Herr Haussmann. darf.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES
und bei der SPD) 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Dort, wo die alte Regierung in wesentlichen Punkten Das vereinigte Europa ist ein gesamteuropäisches und
des Integrationswerkes nicht zu Ende gekommen ist, nicht nur ein westeuropäisches Projekt. Deswegen blei-
ben wir diesem Einigungswerk verpflichtet.
werden wir, weil es in zentralem Interesse unseres Lan-
des liegt, bei allen Unterschieden in den Akzenten, bei (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
aller Kritik fortfahren müssen. Ich vergebe mir über- sowie bei Abgeordneten der SPD und der
haupt nichts, wenn ich Ihnen, Herr Altbundeskanzler, PDS)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998 109
Bundesminister Joseph Fischer

(A) Die deutsch-französische Freundschaft hat in letzter wenn auch bei der Umsetzung der Agenda 2000 – ich (C)
Zeit, ich will nicht sagen, Schaden genommen; aber an- habe sehr sorgfältig zugehört, was Herr Glos hier im
gesichts bestimmter Töne und auch angesichts einer be- Gegensatz zu Ihnen angeblich im Interesse der bayeri-
stimmten Politik im Zusammenhang mit dem Euro – schen Bauern verkündet hat – diese oppositionelle Lei-
Stabilitätspakt I, Stabilitätspakt II, „Der Euro spricht denschaft in der gemeinsamen inhaltlichen Kontinuität
deutsch“ – wurden selbst die Dinge, die hier gemeinsam bei Ihnen erkennbar würde.
getragen wurden, mit einer gewissen nationalen Arro-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
ganz rübergebracht, und zwar so, daß sie in Paris nur
und bei der SPD)
negativ aufgenommen werden konnten.
Das werden Sie schon in den nächsten Monaten zeigen
(V o r s i t z : Vizepräsident Dr. Hermann Otto
müssen.
Solms)
Für uns wird es ganz entscheidend sein, daß die Frage
Das deutsch-französische Verhältnis ist aus meiner
der Finanzstruktur des kommenden größeren Europas
Sicht für die Fortentwicklung Europas ohne Alternative.
jetzt gelöst wird. Es wird unendlich schwierig. Die er-
Das Verhältnis von Deutschland und Frankreich hat ge-
sten Gespräche in Brüssel haben gezeigt, daß alle Län-
rade in seiner Widersprüchlichkeit Großes für Europa
der ihre jeweiligen nationalen Interessen vertreten.
gebracht. Wenn wir an der Vollendung des europäi-
schen Integrationsprozesses festhalten wollen, müssen (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist nichts Neu-
wir auf die Erneuerung des deutsch-französischen Ver- es!)
hältnisses setzen. Ich sage nochmals: Es ist ohne Alter-
native. – Das Neue ist, daß Sie in der Opposition sind. Das ist
für mich sehr wichtig.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES
90/DIE GRÜNEN und der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
Aber genauso freue ich mich natürlich, wenn ich PDS)
heute mitbekomme, daß die Regierung Blair in Groß-
britannien entscheidende Schritte hin zur europäischen Der entscheidende Punkt ist, daß wir unter deutscher
Integration macht. Ich kann dies nur nachdrücklich be- Präsidentschaft den Agenda-2000-Prozeß werden ab-
grüßen, warne aber davor, in Kategorien des 19. Jahr- schließen müssen. Das werden wir nur hinbekommen,
hunderts zurückzufallen: mit Achsen, mit Dreiecken und wenn wir auf der Grundlage dessen, was vorliegt, einen
ähnlichem mehr. entsprechenden Einigungsprozeß schaffen, der bedeuten
wird, daß alle Länder bereit sind, sich zu bewegen, und
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) nicht nur ihre nationalen Egoismen vertreten.
(B) (D)
Die deutsch-französische Freundschaft, dieser zentrale (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Motor des europäischen Integrationsprozesses, schließt
niemanden aus und richtet sich gegen niemanden. Wenn Ohne einen erfolgreichen Abschluß des Agendaprozes-
Großbritannien eine verstärkte europäische Rolle sucht, ses werden wir, so fürchte ich, bei der Erweiterung sehr
dann sollten wir es erfreut aufnehmen und daraus nicht große Probleme bekommen.
eine Abgrenzung gegen irgend jemanden machen. Es geht nicht um abstrakte Beitrittsdaten. Es geht
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) auch nicht darum, daß Herr Haussmann, der hier ver-
zweifelt versucht, einen oppositionellen Unterschied
Je mehr sich am europäischen Einigungswerk aktiv be- hinzubekommen, in „dpa“ meldet: Bundeskanzler Ger-
teiligen, je stärker dieser Motor der europäischen Eini- hard Schröder und Außenminister Joschka Fischer fehl-
gung wird, desto besser. In diesem Sinne freue ich mich, ten in der Europapolitik Visionen. Zögerer und Zauderer
freuen wir uns sehr, daß es zu verbesserten deutsch- gebe es in den EU-Partnerstaaten schon genug. – Wie
britischen Beziehungen, zu einer verstärkten Beteiligung arrogant, Herr Haussmann, bei den anderen von Zöge-
Großbritanniens am europäischen Einigungsprozeß rern und Zauderern zu sprechen!
kommt.
Weiter sagt er, es wäre ein Fehler, daß wir – im Ge-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gensatz zu dem Jahre 2000, das Bundeskanzler Helmut
und bei der SPD – Zurufe des Abg. Dr. Wolf- Kohl genannt hatte – kein konkretes Datum bei der EU-
gang Schäuble [CDU/CSU]) Osterweiterung nennen würden. Nun, Herr Haussmann,
das ist ein schöner Eiertanz;
– Wissen Sie, Herr Kollege Schäuble, ich verstehe ja die
Not eines Oppositionspolitikers, dem Bundeskanzler (Zuruf von der CDU/CSU: Den Sie vollfüh-
vorzuwerfen, jedesmal, wenn es um den Inhalt gehe, ren!)
würde er kneifen, während Sie selbst hier im Grunde
genommen in Ihren Zetteln nur versucht haben, kleine denn er sagte hier folgendes: Die Äußerung des früheren
oppositionelle Münze daraus zu schlagen, und dann zu Kanzlers Helmut Kohl, der Beitritt Polens sei im Jahre
fragen, wo der Unterschied sei, als wir zu Beginn dieser 2000 möglich, sei vielleicht überstürzt gewesen. Jetzt
Debatte versucht haben, die Kontinuitäten festzulegen, kommt Herr Haussmann mit der Zahl 2002. Das ist ge-
weil das im Ausland sehr aufmerksam verfolgt wird. nauso unseriös wie die Zahl 2000.
– In der Europapolitik müssen und wollen wir das voll- Jetzt beginnt der Verhandlungsprozeß. Wir wollen,
enden, was begonnen wurde. Ich würde mich freuen, daß er so schnell wie möglich erfolgreich ist. Aber ich
110 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998

Bundesminister Joseph Fischer

(A) halte es für eine fahrlässige Politik, Zahlen, die nicht zu aktuelle Situation im Kosovo eingehen. Herr Kollege (C)
halten sind und vor allen Dingen nicht begründet sind, Gysi, ich bin nun weiß Gott nicht derjenige gewesen, der
jetzt in den Raum zu stellen. Lassen Sie uns bei den eine Bindung an das UN-Sicherheitsratsmandat aufge-
Verhandlungen erfolgreich zu einem Abschluß kommen. ben will.
Dabei geht es nicht um das Jahr 2000 oder 2002. Wenn
wir das Jahr 2002 erreichen, dann bin ich mehr als froh. (Dr. Gregor Gysi [PDS]: Das haben Sie aber!)

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Aber wir können anderrseits die Fakten nicht ignorieren.
und bei der SPD – Siegfried Hornung Ich weiß von Ihnen, daß Sie nicht nur Jurist sind, son-
[CDU/CSU]: Kein konkreter Satz!) dern die Dinge durchaus auch politisch sehen können.
Ich spreche von der Vereinbarung von Holbrooke und
Ein weiterer Punkt, den ich in diesem Zusammenhang Milosevic. Man kann das eine nicht gut finden und das
ansprechen möchte, ist das Verhältnis zur Türkei. Ich andere kritisieren. Das wird in der Politik so nicht funk-
sehe einen großen Fehler darin, den Türken die Tür vor tionieren.
der Nase so zugeschlagen zu haben, wie es die Vorgän-
ger-Bundesregierung getan hat. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
(Zuruf von der CDU/CSU: Ahnungslos!)
Die zivile Implementierung wird der entscheidende
Ich habe es nie verstanden, warum Bundeskanzler Kohl Punkt. Die nichtmilitärische Luftraumüberwachung ist
das getan hat. Ich konnte diesen Fehler nur von der dafür die Voraussetzung. Wir – der Kollege Scharping
innenpolitischen Situation des Vorwahlkampfes her be- und ich ganz persönlich, die Bundesregierung und auch
greifen. Es war ein großer Fehler. der Kollege Schily – schicken jeweils 80 zivile Monito-
Die Europäische Union ist unserer Meinung nach ren dort hinunter. Das sind Menschen, die das auf der
keine Religionsgemeinschaft. Sie gründet sich auf Werte OSZE-Grundlage überwachen. Kollege Schily schickt
und Interessen. 40 mit polizeilichen Aufgaben Betraute. Dies sind Mit-
arbeiterinnen und Mitarbeiter, die unbewaffnet in einer
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Krisenregion eingesetzt werden. Für den Fall, daß es für
und bei der SPD) zivile, unbewaffnete Mitarbeiter zu einer lebensbedroh-
Die Türkei muß, wenn sie zu Europa gehören will, die lichen Situation kommt, muß man dann aber auch die
Möglichkeit haben, zu Europa zu gehören, und muß den Möglichkeit schaffen, und wir müssen ihnen die
Weg des Beitritts haben. Aber genauso klar muß natür- Letztversicherung geben, alles Menschenmögliche zu
lich sein: Wir sind eine Werte- und Interessengemein- tun, um sie herauszuholen und sie nicht zu Geiseln ma-
chen zu lassen. Hierbei geht es nicht um die militärische
(B) schaft. Das heißt, es bedarf dann auch für alle Beitritts- Durchsetzung, nicht um die militärische Begleitung des (D)
kandidaten der Umsetzung dieser Werte, bevor beige-
treten werden kann. Implementierungsprozesses. Dies wäre ein völliger Irr-
tum. Vielmehr geht es um lebensbedrohliche Situationen
Daher wird es im wesentlichen von der Türkei, von für die zivilen, unbewaffneten Mitarbeiter und um die
der inneren Entwicklung, von der Lösung der inneren Sorge für diese Menschen.
Menschenrechts-, Demokratie- und Minderheitenfragen,
der ökonomischen, aber auch der äußeren Grenzfragen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
abhängen, daß es zu diesem Beitritt kommt. Aber wir und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
werden diese Tür nicht verschließen. Im Gegenteil: Wir F.D.P.)
halten diese Tür offen. Hier gibt es einen klaren Unter- Ich finde, das ist eine Selbstverständlichkeit, sozusagen
schied. eine polizeiliche Letztversicherung. Wenn man sich
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einmal die Aufgabenstruktur anschaut, so hat das nur
und bei der SPD) sehr bedingt etwas mit Militär zu tun.
Wir stehen vor einer schwierigen Situation. Wir wer- Ich kann sagen: Ich bin heilfroh, daß der Holbrooke-
den bei Gelegenheit in eine detaillierte Debatte über die Milosevic-Vertrag – die Berichte zeigen es – funktio-
Agenda 2000 einsteigen, auch im Ausschuß. Ich möchte niert hat. Herr Gysi, ich bitte auch Sie, die richtigen Ar-
das in der Kürze der Zeit nicht vertiefen. gumente, die ich ja gar nicht so abwegig finde, was die
Rechtsstandpunkte betrifft, in die Realität einzupassen
(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das können und einmal darüber nachzudenken. Eine Alternative zum
Sie doch gar nicht! Davon wissen Sie doch Holbrooke-Milosevic-Vertrag gab es nicht, außer Krieg
nichts! – Gegenruf des Abg. Rezzo Schlauch und Leid und Tod. Er hat Gott sei Dank funktioniert. Ich
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ein sau- weiß nicht, wie wir diskutieren würden, wenn er nicht
dummes Geschwätz!) funktioniert hätte, und es wäre dort zum Einsatz ge-
– Das ist Opposition vom Feinsten, aber bitte, ihr habt kommen. Aber entscheidend ist doch, daß wir uns jetzt
viele, viele Jahre Zeit, das zu lernen. in einer klassischen Peace-keeping-Situation befinden,
mit der OSZE, die dort erstmals in einer historisch
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN neuen Dimension zum Einsatz kommt. Das finde ich gut
und bei der SPD) und richtig. Voraussetzung dafür war allerdings dieser
Lassen Sie mich in aller gebotenen Kürze – das wer- Vertrag, und Voraussetzung ist der begrenzte Einsatz
den wir ebenfalls noch zu diskutieren haben – auf die militärischer Mittel, unter anderem nichtbewaffneter
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998 111
Bundesminister Joseph Fischer

(A) militärischer Luftraumüberwachung. Aber das alles wird nieren sind. Das hat auch Bosnien gezeigt. Die Einrich- (C)
nur funktionieren können, wenn die zivile Implementie- tung des Kriegsverbrechertribunals in Den Haag sehe
rung eines Autonomie-Statuts gelingt, wenn es freie ich als einen historischen Schritt nach vorne an, dem wir
Wahlen gibt, wenn es gelingt, eine entsprechend demo- uns als Parlament und Regierung verpflichtet zeigen
kratisch legitimierte Autorität auf kosovo-albanischer sollten.
Seite zu schaffen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Das sind meines Erachtens die Dinge, über die Sie und bei der SPD)
noch einmal ernsthaft nachdenken sollten. So wichtig
Gestatten Sie mir ein offenes Wort. Daß Diktatoren
Rechtsstandpunkte sind – Kriegsverhütung und Kriegs-
nicht über dem Recht stehen, sondern daß sie sich, selbst
verhinderung in Europa können nicht alleine unter dem
wenn viele Jahre vergangen sind, in einem Rechtsstaat
Gesichtspunkt von Rechtsstandpunkten gesehen werden.
vor dem Recht verantworten müssen, finde ich gut und
Darüber, finde ich, sollten wir noch einmal ernsthaft
wichtig.
nachdenken.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
und bei der SPD)
F.D.P. und der PDS)
Meine Damen und Herren, das Verhältnis zu Ruß-
Zu der Tatsache, daß eine unabhängige Justiz in Spanien
land bleibt von ganz entscheidender Bedeutung. Aller-
einen internationalen Haftbefehl ausgestellt hat und daß
dings werden wir es auf eine breitere Grundlage stellen
eine unabhängige Justiz in unserem Partnerland Groß-
müssen. Das ist völlig klar. Die Frage, die man sich auch
britannien den Arrest für Pinochet verfügt hat, möchte
stellen muß – ich meine das gar nicht kritisch gegenüber
ich Ihnen sagen: Das erfüllt mich mit Genugtuung, und
der alten Regierung –, die Frage, die sich der Westen
das ist mehr als ein Symbol. Es zeigt nämlich, wohin die
insgesamt stellen muß, lautet, ob man nicht einen Fehler
Entwicklung in dieser Welt im 21. Jahrhundert zu gehen
dergestalt gemacht hat, daß man meinte, man könne dort
hat.
Marktwirtschaft einführen, wo die kulturellen Voraus-
setzungen dafür nur rudimentär oder gar nicht vorhan- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
den sind. Die Frage lautet also, ob man nicht zu schnell und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
zu viel wollte. – Ich meine gar nicht die Vorgänger- PDS und des Abg. Dr. Helmut Haussmann
Bundesregierung. Ich beziehe das sozusagen eher auf [F.D.P.])
einen bedeutenden Bündnispartner. Dort meinte man
auch, marktwirtschaftliche Theorien sehr schnell im- Deswegen wollen wir hier einen neuen Schwerpunkt
plementieren zu können, obwohl es kaum einen kultu- setzen. Wir wissen uns den Menschenrechten verpflich-
(B) rellen Background gegeben hat, obwohl die gesell- tet. Die Asienkrise hat es gezeigt: Nur dort, wo demo- (D)
schaftliche Grundlage nicht vorhanden war. kratische Verfassung Realität ist, wo es Gewaltenteilung
gibt, wo es Regierungswechsel gibt, wo es eine unab-
Ich sehe zur Stabilisierung der Verhältnisse in Ruß- hängige, kritische Opposition gibt, wo es eine unabhän-
land, auch zur ökonomischen Stabilisierung gemeinsam gige, kritische Presse gibt, wo Menschenrechts- und wo
mit unseren Partnern, keine Alternative; denn wir kön- Umweltgruppen arbeiten können, ohne von Gefängnis
nen uns eine Versorgungskrise in Rußland nicht erlau- und Geheimpolizei bedroht zu werden, gibt es auch si-
ben, und wir können uns auch eine entscheidende politi- chere Investitionen. So sehr ich von der Notwendigkeit
sche Destabilisierung Rußlands nicht erlauben. Deshalb privater Investitionen überzeugt bin, um diese Schwel-
wissen wir uns einem internationalen Stabilisierungs- lenländer und die dritte Welt zu entwickeln, so sehr
prozeß verpflichtet, der auf Wirtschaftsreform und vor müssen wir dann aber auch in Zukunft auf den Gleich-
allen Dingen auf Demokratie setzt. Auch das ist ein klang von nachhaltiger Entwicklung, von Demokratie,
wichtiger Punkt, dem wir uns in der Zukunft verpflichtet von Menschenrechten, von Umwelterhaltung und von
wissen, meine Damen und Herren. Investitionssicherheit setzen. Hier werden wir einen
neuen Schwerpunkt auch während unserer G-8-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Präsidentschaft setzen.
und bei der SPD)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Fortsetzung der transatlantischen Partnerschaft
sowie bei Abgeordneten der SPD)
werden wir bei Gelegenheit diskutieren können. Meine
Zeit ist sehr begrenzt. Lassen Sie mich deswegen noch
zwei andere wichtige Punkte ansprechen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr
(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Schade, es Minister, bitte beachten Sie die Zeit.
ist ein wichtiger Punkt!)
– Es ist ein wichtiger Punkt, Herr Haussmann. Wir reden Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen:
bei Gelegenheit darüber. Ich komme zum Schluß. – Ein letzter Punkt, der die
Krise in Mittelamerika betrifft: Wir alle sind entschlos-
Der entscheidende Punkt sind die Menschenrechte. sen, den von der Naturkatastrophe betroffenen Ländern
Da, finde ich, müssen wir einen neuen Schwerpunkt set- zu helfen, nicht nur bei der unmittelbaren Krisenbewäl-
zen. Die Asien-Krise hat gezeigt, daß Menschenrechte tigung, sondern auch beim Wiederaufbau und darüber
unter den Bedingungen der Globalisierung neu zu dekli- hinaus. Diese Länder sind durch die totale Vernichtung
112 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998

Bundesminister Joseph Fischer

(A) der Ernten, von denen sie ökonomisch abhängen, fak- das entschlossene Handeln der internationalen Staaten- (C)
tisch auf die ökonomische Nullinie zurückgeworfen gemeinschaft dazu geführt hat, daß zunächst einmal ein
worden. Das heißt: Faktisch gehören sie mit zu den ärm- Zustand – mit einigen Ausnahmen und Unsicherheiten,
sten Ländern der Erde. Daß wir uns hier nicht nur beim die nach wie vor da sind – erreicht wurde, in dem die di-
Wiederaufbau großzügig erweisen, sondern auch bei der rekte Bedrohung durch Mord, Vertreibung und Tod für
Schuldenstreichung, hat die Bundesregierung klarge- viele tausend Menschen verhindert worden ist. Wer das
macht. geringschätzt, hat keine Ahnung von dem, was wir in-
ternational an Verantwortung zu tragen haben.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD und der (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. An-
PDS) gelika Köster-Loßack [BÜNDNIS 90/DIE
Ich möchte diesbezüglich aber noch auf einen ande- GRÜNEN])
ren Zusammenhang zu sprechen kommen. Auf der Grundlage des Abkommens geschehen meh-
rere Dinge. Das eine ist Gegenstand des Antrages der
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Fi- Bundesregierung, nämlich die Luftüberwachung ent-
scher, Sie sind fünf Minuten über die Zeit. sprechend dem Abkommen und der Resolution 1203 der
Vereinten Nationen sicherzustellen. Das dient nicht nur
dazu, das Abkommen zu sichern und seine Überwa-
Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen: chung zu gewährleisten, sondern dient auch dem Schutz
Wenn wir – ich komme zum letzten Satz – den Klima- derjenigen, die im Auftrag der OSZE und im Interesse
schutz und die nachhaltige Entwicklung nicht ernster der Stärkung der OSZE eine zivile, nichtmilitärische
nehmen als bisher – der Kollege Trittin ist bei der inter- Überwachung dieses Abkommens am Boden gewährlei-
nationalen Klimakonferenz in Buenos Aires, falls Sie sten sollen.
ihn vermissen sollten,
Vermutlich kommt in der nächsten Woche – das
(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Wir hängt aber von den weiteren Diskussionen innerhalb der
vermissen ihn nicht!) NATO ab – noch eine weitere Entscheidung auf die
nicht bei irgendwelchen Konspirationen, Herr Glos –, Bundesregierung und den Deutschen Bundestag zu,
nämlich eine entsprechende Vorsorge für den nicht ge-
(Michael Glos [CDU/CSU]: Das ist sehr beru- wünschten, aber auch nicht ausschließbaren Notfall zu
higend!) treffen. Wer das alles im Zusammenhang mit militäri-
dann werden wir allerdings mit einer größeren Häufig- scher Intervention betrachtet, der argumentiert in meinen
(B) keit solcher katastrophalen Entwicklungen zu tun haben. Augen unverantwortlich und närrisch. (D)
Deswegen sehen wir hier, in der Umweltaußenpolitik,
(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Richtig!)
gemeinsam mit den anderen Ressorts – mit Frau
Wieczorek-Zeul und mit Herrn Trittin – in der Bundes- Wir wollen eine Stärkung der OSZE erreichen. Das be-
regierung einen zusätzlichen Schwerpunkt, den wir auch deutet aber, 2 000 Menschen in ein immer noch mit
in der klassischen Außenpolitik umsetzen müssen. Das Scharmützeln, mit Schwierigkeiten und mit Schußwech-
ist Außenpolitik, die sich an den Zielen und Herausfor- seln belastetes Gebiet zu schicken, also in eine Situation,
derungen des 21. Jahrhunderts in einer globalisierten, in die nicht gesichert ist. Es wäre ganz und gar unverant-
der einen Welt orientiert. Daran wollen wir mit Ihrer wortlich für die Glaubwürdigkeit der OSZE und – was
Hilfe arbeiten. viel schlimmer ist – ganz und gar unverantwortlich für
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Sicherheit dieser 2 000 Menschen, wenn wir sie in
und bei der SPD – Michael Glos [CDU/CSU]: eine Lage bringen würden wie UNPROFOR 1995 in
Die klatschen mehr als beim Struck!) Bosnien-Herzegowina. Das darf man nicht tun.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wort hat der Bundesminister Rudolf Scharping.
Deshalb dienen alle diese Entscheidungen dazu, eine
friedliche Entwicklung in diesem Teil des Balkans zu
Rudolf Scharping, Bundesminister der Verteidi- ermöglichen. Der Antrag der Bundesregierung ist Aus-
gung: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der druck von Verläßlichkeit, von Berechenbarkeit und von
Antrag der Bundesregierung dient der Verwirklichung Kontinuität in den Grundlagen deutscher Außenpoli-
und der Überwachung eines Abkommens, von dem der tik. Er ist Ausdruck dafür, daß wir uns im Rahmen der
Kollege Fischer schon gesprochen hat. Aber ich will zu- internationalen Staatengemeinschaft in Europa und im
nächst sagen, daß die Entscheidung des Deutschen Bun- Bündnis der NATO bewegen, unsere Verantwortung
destages in einer schwierigen Übergangssituation dazu wahrnehmen und unseren Teil zur friedlichen Entwick-
beigetragen hat – ich bitte das nicht geringzuschätzen –, lung beitragen.
daß 50 000 Menschen aus den Wäldern in ihre Dörfer
zurückkehren konnten, daß 50 000 Menschen der un- Dieses Bündnis hat uns in Deutschland – zunächst im
mittelbaren Bedrohung durch Hunger, Seuchen, Krank- Westen und dann bei der deutschen Einheit – ungeheuer
heiten und Schlimmeres entkommen konnten, und daß viel geholfen. Es hat uns Freiheit, es hat uns Frieden,
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998 113
Bundesminister Rudolf Scharping

(A) und es hat uns am Ende die Einbindung in die Gemein- An diesem SFOR-Einsatz, der zugleich auch gewisse (C)
schaft der westlichen Demokratien ermöglicht. Belastungen hier in Deutschland bedeutet, haben jetzt
schon über 20 000 Soldaten der Bundeswehr teilge-
(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Und da wa- nommen. Ich bitte Sie, nicht zu vergessen, daß diese
ren Sie dagegen!) Soldaten im Interesse unseres Landes, im Interesse ge-
meinsamer Sicherheit, im Interesse der Stabilität unseres
Das macht das Verdienst dieser Integration überdeutlich.
Kontinents, nicht zuletzt vielleicht auch im Interesse der
Angesichts veränderter und neuer Herausforderungen Verhinderung immer stärkerer Flüchtlingsbewegungen
für unsere Sicherheit und für die unseres Kontinents, für ein hohes Risiko eingehen und daß sie deshalb auch mit
die Sicherheit Deutschlands und für die Sicherheit Euro- Blick auf ihre Familien die Unterstützung des Deutschen
pas müssen wir uns allerdings auch auf neue Entwick- Bundestages und übrigens der ganzen Bevölkerung ver-
lungen einstellen. Die Entscheidungen, die wir im Zu- dient haben.
sammenhang mit Bosnien-Herzegowina getroffen haben (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
und jetzt – hoffentlich einmütig – im Zusammenhang des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
mit dem Kosovo treffen werden, sind ein Hinweis dar- F.D.P.)
auf, welche veränderten Herausforderungen auf uns zu-
kommen. Die Sicherheit unseres Landes und die Sicher- Freilich, diese Unterstützung muß auch noch auf an-
heit unseres Kontinents sind nicht voneinander zu tren- dere Weise gewährleistet werden, nämlich indem wir in
nen – im Gegenteil: Sie bedingen sich gegenseitig. Mit Deutschland als Bundesregierung und als Parlament
wachsender Verflechtung, mit wachsender Integration auch dazu beitragen, daß ein klares politisches Ziel ver-
wächst auch unsere Verantwortung. Deshalb ist folgt und erreicht werden kann. Wir haben dafür nur
Deutschland engagiert und wird es bleiben. wenig Zeit. Es gibt leider auch Anzeichen dafür, daß in
dieser Periode der Gewaltfreiheit Vorbereitungen für
Ich will Ihnen das mit einigen wenigen Hinweisen neue Ausbrüche von Gewalt getroffen werden könnten.
noch erläutern. In Bosnien-Herzegowina sind zur Zeit Der Winter wird das wahrscheinlich eine Zeitlang ver-
Angehörige der Bundeswehr regelmäßig in der Stärke hindern.
von etwa 2 000 Mann und vorübergehend sogar – im
Zuge des Übergangs in eine neue Aufteilung und Statio- Ich will damit deutlich machen, daß wir für die politi-
nierung der entsprechenden Gruppenteile – in der Stärke schen Bemühungen um die Lösung dieses Konfliktes
von etwa 2 600 Mann im Einsatz. Mit den 200 nicht- mit dem Ziel einer Autonomie des Kosovo im jugosla-
militärischen, zivilen Beobachtern, die wir als Teil die- wischen Staatsverband nur ein sehr enges Zeitfenster
ser 2 000 Mann starken Beobachtermission stellen, haben werden und daß es ganz und gar nicht vertretbar
ist, wenn man sowohl zivile Beobachter im Auftrage der
(B) wächst unsere Verantwortung und unser Anteil im Han- OSZE wie auch ihren militärischen Schutz in eine Ge- (D)
deln der internationalen Staatengemeinschaft. Wenn der
Deutsche Bundestag – wie ich hoffe – am Freitag die fahr bringen würde, die man durch entsprechend klaren
Entscheidung getroffen haben wird, daß wir uns auch an Druck sowohl auf Milosevic als auch auf die kosovo-
der Luftüberwachung eines verbindlichen Abkommens albanische Seite, insbesondere auf die UCK, vermeiden
und der darauf fußenden, darauf Bezug nehmenden Re- kann.
solution des Weltsicherheitsrates beteiligen, wird unsere Die Abwesenheit von Krieg und Gewalt bedeutet
Beteiligung noch einmal um 350 Personen zunehmen. noch lange nicht Frieden. Wir sehen das in Bosnien und
Herzegowina. Ich fürchte, wir werden es eine längere
Ich will Ihnen heute schon sagen, daß zur Vorsorge
Zeit auch im Kosovo sehen. Also will ich darauf auf-
vor einem nicht gewünschten, aber nicht ausschließba-
merksam machen, daß die Beteiligung Deutschlands an
ren Notfall wahrscheinlich noch einmal eine deutsche
ziviler Überwachung und ihrem Schutz, an all den Maß-
Beteiligung – etwa in Kompaniestärke – erforderlich
nahmen, die ich genannt habe, auf Dauer genauso wie
wird. Das ist alles andere als eine militärische Interven-
die Sicherheit, die von der internationalen Staatenge-
tion. Was die Soldaten – unsere wie die der anderen
meinschaft ausgeht, nur dann sinnvoll geleistet werden
Länder – dort tun, ist: Sie sichern Gewaltfreiheit, sie
kann, wenn die internationale Staatengemeinschaft den
unterstützen den zivilen Aufbau – zum Beispiel dadurch,
Konfliktparteien die Notwendigkeit klarmacht und am
daß sie mit einer Beratertätigkeit helfen, das Ergebnis
Ende dabei hilft, zivile Entwicklungen auf eine stabile
der Wahlen zu implementieren und die Konstituierung
Grundlage zu stellen.
von Parlamenten und lokalen Autoritäten voranzubrin-
gen –, sie helfen bei der Rückkehr von Flüchtlingen, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
zum Beispiel in einer sehr ausgeprägten zivil-militä- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
rischen Kooperation, indem sie Häuser wiederherrich-
ten, Infrastruktur wiederherrichten und den Flüchtlingen Das entspricht der Politik der Bundesregierung, die
die Rückkehr überhaupt erst ermöglichen, und sie er- das Ziel umfassender Sicherheit verfolgt. Ich will das an
gänzen nicht zuletzt die Arbeit der zivilen Hilfsorgani- drei Elementen verdeutlichen.
sationen, von denen ich hier nur stellvertretend für alle Erstens kommt es darauf an, Ursachen für Krisen in
anderen die Organisation „Schüler helfen leben“ nenne. Zukunft früher zu erkennen und entschlossener zu han-
deln als in der Vergangenheit.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Abg. Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
114 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998

Bundesminister Rudolf Scharping

(A) Gerade das Thema, mit dem sich der Antrag der Bun- Als drittes Element nenne ich, daß diese Politik nur (C)
desregierung beschäftigt, ist ein sehr nachdrücklicher erfolgreich sein kann, wenn deutsche Außen- und Si-
Hinweis darauf, wohin es führen kann, wenn man über cherheitspolitik konsequent demokratische und zivile
Jahre hinweg deutliche Hinweise auf eine sich immer Entwicklungsprozesse fördert und gleichzeitig zur
stärker verschärfende krisenhafte Entwicklung ignoriert. Achtung der Menschenrechte beiträgt.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Hel- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
mut Haussmann [F.D.P.]: So einfach ist das 90/DIE GRÜNEN)
nicht! – Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Jetzt
Meine Damen und Herren, wie schwierig dies ist,
wird es unverschämt! Gucken Sie mal in Ihre
sieht man wieder am Beispiel des Kosovo. So hatten wir
eigenen Reihen!)
zum Beispiel große Schwierigkeiten, im Rahmen des
Es hat diese Hinweise gegeben. Allerdings ist es auch Auftrags an die OSZE sicherzustellen – bisher konnte es
eindeutig so, daß die Europäische Union, die Westeuro- wegen einer Weigerung Rußlands nicht sichergestellt
päische Union und andere Organisationen der interna- werden – , daß der Zugang von Journalisten in das Ge-
tionalen Staatengemeinschaft Krisenursachen häufig biet des Kosovo ermöglicht und wieder unabhängige Be-
zwar früh erkennen können – es mag auch vorkommen, richterstattung erlaubt wird. Wenn wir aber demokrati-
daß sie sie nicht erkennen –, daß uns aber oft genug die sche, auf Menschenrechte orientierte Entwicklung för-
entsprechenden Mittel und Institutionen fehlen, die Kon- dern und zivile Entwicklungen voranbringen wollen,
sequenzen aus der frühzeitigen Erkenntnis von Krisen- dann wird das ohne entsprechende Institutionen ein-
ursachen zu ziehen. Also wird es nicht nur darauf an- schließlich einer unabhängigen und freien Presse, ein-
kommen, den Mangel in der frühzeitigen Erkennung von schließlich freier und unabhängiger Gewerkschaften, so-
Krisenursachen und ihrer gemeinsamen Bewertung zu zialer Organisationen, lokaler Selbstverwaltung und
beklagen, sondern auch darauf, die notwendigen Institu- dergleichen nicht gehen.
tionen zu schaffen, die wir im Rahmen der europäischen
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
Integration dringend brauchen.
90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Die eigentliche Bedeutung des Beitrages der Bun-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
deswehr auf dem Balkan liegt darin, daß diese beiden
Es kommt darauf an, aus dieser Vorstellung umfas- Seiten der gleichen Medaille zur Zeit in einer guten
sender Sicherheit, die auch Krisenursachen wie Hunger, Weise gewährleistet sind, wobei ich beklage, daß die
Unterentwicklung, Terror und Haß zwischen Bevölke- zweite Seite oft genug in der Öffentlichkeit nicht so
rungsgruppen mit einschließen muß, die notwendigen wahrgenommen wird, wie ich es mir wünsche: neben
(B) Schlußfolgerungen zu ziehen. Es liegt auf der Hand, daß der Sicherung einer gewaltfreien Entwicklung durch (D)
diese Schlußfolgerungen nicht allein in den Kategorien entsprechende militärische Präsenz die sehr vielen zivi-
eines militärischen Bündnisses geleistet werden können. len Elemente in diesem Engagement, die ich Ihnen zu
Ich erinnere mich sehr gut, daß Willy Brandt davon nennen versucht habe.
sprach, er habe zweimal erlebt, wie aus Krieg Hunger
Meine Damen und Herren, all diese Fragen haben
geworden sei, und er hoffe, nie erleben zu müssen, daß
Bedeutung für die Entwicklung auch der internationalen
aus Hunger Krieg werde. Das aber ist eine Gefahr, mit
Organisationen. Die NATO wird sich erweitern, und das
der wir uns heute auch auseinandersetzen müssen.
ist gut so. Sie wird nach dieser Erweiterung eine Zeit der
Das zweite Element beinhaltet, daß wir, die interna- Konsolidierung brauchen und zugleich für weitere neue
tionale Staatengemeinschaft, im Bereich der Krisen- Mitglieder die Tür offenhalten. Die NATO wird sich
prävention wesentlich besser werden müssen, als wir es eine neue Strategie geben. Es wird für die Europäer dar-
derzeit sind. auf ankommen, ihre eigenen Schwächen zu überwinden
und nicht immer ein gewisses Gefälle im Bündnis zu
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS beklagen, sondern selbst etwas dagegen zu tun, daß es
90/DIE GRÜNEN) dieses Gefälle hier und da gibt. Das Stichwort dafür
Ich mache darauf aufmerksam, daß hier für die deutsche heißt: europäische Identität für Verteidigung und Si-
Außen- und Sicherheitspolitik ein wesentliches Thema cherheit.
liegt. In der Sondersitzung des Bundestages der (Beifall bei der SPD)
13. Wahlperiode hat eine Rolle gespielt, daß wir ange-
sichts veränderter Krisenursachen, Bedrohungsursachen Dazu gehört übrigens auch die Integration der WEU-
und Risiken für die internationale Sicherheit und Stabi- Aufgaben in die Europäische Union, wie es ja im Ver-
lität in die Lage kommen müssen, die Instrumente neu trag von Amsterdam vorgesehen ist.
zu justieren; denn die Instrumente stammen aus der Zeit
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
nach dem Zweiten Weltkrieg, aus der Zeit des kalten
Krieges und der Blockkonfrontation und sind oft genug Ich sage Ihnen das, um etwas anderes noch verständ-
nicht tauglich genug, mit dem fertig zu werden, was sich licher zu machen: Es ist unser gutes Recht – andernfalls
heute an veränderter weltpolitischer Lage und auch an würden uns alle anderen mit guten Gründen, wie ich
veränderten Ursachen für internationale Krisen auf unse- denke, skeptisch betrachten –, unsere Interessen klar zu
rem Kontinent und weit darüber hinaus – in anderen Re- definieren und zu vertreten. Uns in Deutschland muß
gionen der Welt ist es noch viel schlimmer – darstellt. allerdings klar sein, daß Deutschland seine außen- und
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998 115
Bundesminister Rudolf Scharping

(A) sicherheitspolitischen Interessen nur noch in Europa Was haben wir heute erlebt? Einen Bundeskanzler, (C)
und in internationalen Organisationen wirksam verfol- für den Außen- und Europapolitik eben keine Herzens-
gen kann. angelegenheit ist. Ich will nur einmal zwei Belege nen-
nen, wie Herr Schröder denkt: Vor seiner Wahl war er
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gegen den Euro und vertrat in bezug auf die Osterweite-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
rung die Auffassung, daß sie nicht mehr im nächsten
Deutschland kann mit Blick auf seine Streitkräfte in Zu- Jahrzehnt stattfinden werde. Das sind Tatsachen.
kunft nur das sinnvoll vorbereiten und entscheiden, was (Jörg van Essen [F.D.P.]: Genau das ist es!)
mit den europäischen Interessen im Einklang steht und
mit den Interessen des Bündnisses kompatibel ist. Wir haben einen Außenminister, der sich nicht nur äu-
ßerlich, sondern auch innerlich schnell umgestellt hat,
(Dr. Theodor Waigel [CDU/CSU]: Der ist ja hochflexibel ohne politische Tradition in der grünen
noch langweiliger als der Fischer!)
Partei, ohne Basis in Krisenzeiten. Wir haben einen Fi-
Auch in Zukunft ist die wesentliche Aufgabe der nanzminister, der eigentlich der heimliche Vizekanzler
Bundeswehr die Landesverteidigung. So wie wir Lan- und Außenminister ist und beginnt, den Euro schwach
desverteidigung derzeit wahrnehmen, ist sie der beste zu machen. Und wir haben einen Verteidigungsminister
Ausdruck dafür, daß wir uns der gemeinsamen Verant- wider Willen, weil er das gar nicht werden wollte; aber
wortung und Verpflichtung stellen. Über die Landes- die Rede von Herrn Struck weckte nicht nur bei uns,
verteidigung hinaus sind wir im Bündnis für die Sicher- sondern auch in der Opposition die Sehnsucht nach ei-
heit seiner Mitglieder mitverantwortlich. Man kann es nem Fraktionsvorsitzenden Scharping.
an den Entscheidungen der letzten Jahre ablesen, daß (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Deutschland stärkere Beiträge zur internationalen Frie-
denssicherung leistet. Vor diesem Hintergrund und mit Herr Außenminister Fischer, Sie sollten sich – Sie
Blick auf diese neuen Aufgaben muß die interne Be- werden noch darauf zurückkommen müssen – am An-
standsaufnahme der Bundeswehr so vorangetrieben fang einer solchen Debatte nicht nur förmlich bei Herrn
werden, daß sie im März des nächsten Jahres abge- Kohl oder bei Herrn Kinkel bedanken, sondern Sie soll-
schlossen sein wird. Dann wird unter Beteiligung des ten sich auch darüber im klaren sein, daß Sie nur deshalb
außen-, sicherheits- und friedenspolitischen Sachver- einen guten Start hatten, über den ich mich im Interesse
stands, den wir dafür dringend brauchen, Deutschlands freue, weil Sie auf eine exzellente Außen-,
Europa- und Sicherheitspolitik aufbauen konnten,
(Dr. Theodor Waigel [CDU/CSU]: Jawohl!
Sehr gut!) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne-
ten der CDU/CSU)
(B) und auf der Grundlage von Erfahrungen vieler Men- (D)
schen in Deutschland darüber zu reden sein, welche Fä- zu der Ihre eigenen Leute bisher überhaupt nichts bei-
higkeiten unser Land in die internationalen Organisatio- getragen haben.
nen einbringen und wie es mit Hilfe dieser Fähigkeiten
Sie haben es wohl vergessen: Sie waren gegen die
zu internationaler Sicherheit und zu friedlicher, ziviler
und, wo immer es geht, demokratischer Entwicklung Nachrüstung, gegen den Euro und gegen den Vertrag
von Maastricht. Es gab Stimmenthaltungen zum Vertrag
beitragen kann.
von Amsterdam und vor kurzem noch gegen friedenser-
Meine Damen und Herren, ich sprach davon, daß wir, haltende Einsätze. Das ist die Ausgangsbasis, und inso-
insbesondere aber die Soldaten und ihre Familien, dar- fern, Herrr Fischer, sollten Sie sich über eines im klaren
auf angewiesen sind, im Deutschen Bundestag und im sein: Ein guter Start bedeutet noch nicht belastbare Au-
deutschen Volke eine breite Unterstützung zu erhalten. ßenpolitik. Deshalb sollten Sie sich mit der Opposition
Verstehen Sie das bitte als eine Einladung an alle Seiten sehr gut stellen, Sie werden uns noch brauchen. Das sa-
des Hauses – bei allem Streit auf anderen Feldern –, den ge ich Ihnen voraus.
Konsens in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik zu
bewahren und diesen auf der Basis dessen, was wir er- (Beifall bei der F.D.P.)
reicht haben, weiterzuentwickeln. Aus unserer Sicht gibt es drei große konzeptionelle
Fragen, an denen wir Sie und Herrn Schröder messen
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN) wollen. Die erste betrifft die globale Verantwortung.
Sie sind dem Thema, das Herr Kinkel für uns exzellent
vorbereitet hat – Beteiligung an friedensschaffenden
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Maßnahmen und Sitz im UN-Sicherheitsrat –, ausgewi-
Wort hat der Kollege Dr. Helmut Haussmann. chen. Sie haben hier nichts dazu gesagt. Vor Journali-
sten haben Sie gesagt, das sei jetzt nicht so wichtig, der-
zeit kein Thema, um dem Konflikt mit Ihrer Fraktion
Dr. Helmut Haussmann (F.D.P.): Herr Präsident! auszuweichen. Wenn jetzt nach einer so guten Vorarbeit
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Zwischenbilanz vom deutschen Außenminister das Signal gegeben wird,
der bisherigen Diskussion ist klar: Deutschland hat die das ist nicht vorrangig, nicht wichtig, verliert damit ein
Abwahl eines international anerkannten Staatsmannes wichtiges Symbol der gestiegenen globalen Mitverant-
und eines hervorragenden Bundeskanzlers, eines exzel- wortung bei der Lösung von Krisen an Bedeutung.
lenten Außenministers und eines anerkannten Finanz-
ministers nicht verdient. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)
116 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998

Dr. Helmut Haussmann

(A) Die zweite Frage – wir werden noch darüber diskutie- tei, die Bevölkerung in große Projekte mitzunehmen. (C)
ren – betrifft das Verhältnis zu den Vereinigten Staa- Meine Damen und Herren, wer hat denn die Debatte
ten von Amerika. Es ist interessant, daß Sie dieses über die Währungsunion geführt? Wo war denn Rot-
Thema in Ihrer Rede am kürzesten abgehandelt haben. grün?
Das ist zuwenig. Das, was Herr Schröder heute morgen
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
vorgetragen hat, ist natürlich ein latenter Protektionis-
mus. Ich kann nur sagen: Die wichtigste Frage im Ver- Jetzt lehnt man sich zurück und profitiert von unserer
hältnis zu den Vereinigten Staaten wird sein: Wie wird Arbeit. Aber in der Europapolitik bedarf es der Visionen
Deutschland als führendes Land in Europa so wettbe- und eines langen Atems sowie der Unterstützung durch
werbsfähig, daß es den Wettbewerb mit den Vereinigten die eigene Partei, die eigene Fraktion. Meine Damen
Staaten von Amerika durchhält? und Herren, die haben Sie nicht. Insofern ist es zwar
schön, wenn Sie gute Reden halten, wenn Sie gut ange-
Herr Außenminister Fischer, alle Konflikte in der
zogen sind, wenn Sie im Ausland gut ankommen. Nur,
Vergangenheit waren nicht so sehr außenpolitische Kon-
die Bewährungsprobe – mehr Emotion, mehr Vision,
flikte, sondern es waren Konflikte, die in der Handels-
mehr Überzeugung in der Bevölkerung – müssen Sie
politik begannen. Ich will Ihnen zwei Beispiele nennen.
erst noch bestehen.
Erstens. Sie haben in die Koalitionsvereinbarung locker
hineingeschrieben, die WTO müsse dringend mit Um- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU –
welt- und Sozialstandards angereichert werden. Sie ste- Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/
hen damit einsam in der Landschaft. DIE GRÜNEN]: Etwas mehr Emotion bitte,
Herr Fischer!)
(Zurufe bei der SPD: Nein!)
Das gehört nicht in die WTO. Das gehört in die ILO,
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das
meine Damen und Herren. Sie werden isoliert sein.
Wort hat der Kollege Volker Rühe.
(Widerspruch bei der SPD)
– Ich sage Ihnen die Diskussion mit den Vereinigten Volker Rühe (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe
Staaten von Amerika voraus. Sie werden sich isolieren. Kolleginnen und Kollegen! Beide Minister dieser Bun-
desregierung, der Außenminister und der Verteidi-
Zweitens. Mit diesem Reformrückschritt – keine gungsminister – auch ich muß mich erst daran gewöh-
echte Steuerreform, keine Arbeitsmarktreform, Schwä- nen –,
chung des Euro – werden Sie Deutschland und damit
Gesamteuropa im Wettbewerb schwächen. (Heiterkeit)
(B) (D)
(Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt haben von Kontinuität und Berechenbarkeit gespro-
[F.D.P.]) chen. Das ist gut so, und das ist ja auch ein Kompliment
für die Politik, die vorher gemacht worden ist. Aber,
Sie werden erleben, daß am Ende Ihrer Politik – im Herr Fischer und Herr Scharping, die Politik, in deren
Verein mit Herrn Jospin – ein latenter Protektionismus, Kontinuität Sie sich stellen, mußte irgendwann im
ein Festungsdenken in Europa herrschen wird. Das wird Kampf durchgesetzt werden – hier und auch internatio-
zu einem der ganz großen Konflikte, wenn Sie nicht nal. Das ist doch der entscheidende Punkt. Deswegen:
zumindest die Politik von Herrn Blair verfolgen, wozu Die eigentliche Bewährung wird erst dann kommen,
Sie nicht bereit sind. Herr Blair hat vor kurzem auf einer wenn neue Fragestellungen auf Sie zukommen, ob auch
Konferenz der Sozialisten gesagt: Meine sehr verehrten Sie dann etwas im Kampf durchsetzen können, was den
Parteigenossen, Amerikanismus und Globalisierung dür- deutschen Interessen dient und was eine vernünftige in-
fen keine Fremdworte bei uns werden. ternationale Politik ist. Das ist die eigentliche Bewäh-
Wie wird darüber bei uns diskutiert? Wie wird über rungsprobe.
die Unabhängigkeit der Zentralbank diskutiert? Wie Nehmen Sie das Beispiel – Herr Fischer, Sie haben
wird über die Zielzonen debattiert? Reden Sie einmal gesagt, das sei ganz wichtig –, daß Europa jetzt zusam-
mit einem Amerikaner über Wechselkurszielzonen. Sie menwächst. Aber die Öffnung Westeuropas von der Si-
laufen völlig ins Leere und begeben sich in die Gefahr, cherheit her auch für die Polen, die Tschechen, die Un-
daß Sie das entscheidend wichtige Verhältnis zu den garn, die Öffnung der NATO, das ist im Kampf durch-
Vereinigten Staaten von Amerika von der falschen Seite gesetzt worden, hier in Deutschland gegen Sie und auch
her – durch Protektionismus, falsche Währungszusam- international. Wo sind die Politiker in der neuen Regie-
menarbeit und ein fehlendes klares Bekenntnis zur Un- rung, die in der Lage sind, wichtige Weichenstellungen
abhängigkeit von Notenbanken – schwächen. auch in der Zukunft durchzusetzen und sich nicht nur in
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) eine Kontinuität hineinzustellen?

Die dritte Frage betrifft die Europapolitik, Herr Fi- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
scher. Sie ist nicht nur Baustein einer Vision, sondern in Oder nehmen Sie das Beispiel Jugoslawien: Herr
der Europapolitik braucht man Visionen, man muß Scharping, ich will nicht die Kontroverse mit Ihnen.
Emotionen haben. Ich sehe weder bei Herrn Schröder Aber es ist schon ein starkes Stück, wenn Sie sagen,
noch bei Ihnen jemanden, der in der Lage wäre, hier man müsse die Krisen früher erkennen. Wer hat denn
nicht nur gute Reden zu halten, sondern die eigene Par- darauf gedrängt, dort hinzugehen und zu intervenieren,
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998 117
Volker Rühe

(A) Massaker und Krieg zu stoppen? Ich glaube, dieses Ich habe in der Koalitionsvereinbarung viel über die (C)
Drängen ist nicht von der früheren Opposition gekom- Zivilisierung der internationalen Beziehungen und ihre
men, sondern von der Regierung. Das haben wir durch- Verrechtlichung gelesen. Das sind alles schöne Worte.
gesetzt. Sonst wären wir auch noch nicht so weit, wie Es ist richtig: Das Militärische ist die Ultima ratio. Aber:
wir heute sind. Wenn politisches Verhandeln scheitert – es kann schei-
tern – und wenn nicht die Bereitschaft besteht, notfalls
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) auch mit militärischen Mitteln denen in den Arm zu fal-
len, die nicht friedenswillig sind, dann würden Sie sich
Herr Fischer, Sie werden eine Bewährungsprobe be-
auf einen falschen Kurs begeben und sich von der Soli-
kommen. Das ist der Irak. Da können Sie nicht sagen,
darität der westlichen Gemeinschaft verabschieden.
das sei allein Sache der Amerikaner. Es geht auch uns
an, ob es dort zur Produktion von Massenvernichtungs- Herr Minister Fischer, Sie haben die Menschenrechte
waffen kommt. Dann ist auch die Frage an die deutsche in den Mittelpunkt gestellt. Das ist richtig. Wir haben
Solidarität gestellt. Man kann nicht in Feiertagslaune – übrigens schon in der Zeit des kalten Krieges immer ge-
wie der Kanzler Schröder – hier über deutsch- sagt: Der Friede ist nichts Absolutes, sondern es gibt ihn
amerikanische Freundschaft sprechen, aber in einer kon- nur in Verbindung mit Freiheit, Gerechtigkeit und Be-
kreten Situation sich verweigern und abtauchen. Damit achtung der Menschenrechte. Sie haben gesagt: Es ist
werden Sie nicht durchkommen. gut, daß die Kriegsverbrecher in Bosnien nach Den
Haag kommen. Einer der übelsten Kriegsverbrecher ist
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) nur durch das „Kommando Spezialkräfte“ der deutschen
Aber ich habe bei aller Kontinuität den Eindruck, daß Bundeswehr nach Den Haag gekommen. Dagegen haben
man schon versucht, ein bißchen umzuinterpretieren. die Grünen massiv protestiert. Meine konkrete Frage ist:
Herr Fischer, wenn Sie sagen, im Kosovo gehe es nur Sind Sie damit einverstanden, wenn auch in Zukunft
um den Einsatz von Zivilisten, die OSZE spiele dort die Spezialkräfte der Bundeswehr dafür sorgen, daß Kriegs-
Hauptrolle, so – das muß ich Ihnen sagen – unterschla- verbrecher vor internationale Gerichte gebracht werden?
gen Sie, daß die politischen Verhandlungen der Ameri- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
kaner nur deswegen Erfolg hatten, daß es den Einsatz
der Zivilisten dort nur deswegen gibt, weil wir bereit Sie haben ferner gesagt, es erfülle Sie mit Genug-
waren, notfalls auch militärisch zu handeln – nur deswe- tuung, wenn ein Diktator wie Pinochet zur Rechenschaft
gen! Das darf nicht unterschlagen werden. gezogen wird.
(Bundesminister Joschka Fischer: Vielleicht!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
– „Vielleicht“, aber ich hoffe es trotzdem. – Ihre Hal-
(B) Herr Minister Scharping, an einem Punkt sollten Sie (D)
tung kann ich nachvollziehen. Ich – und vor mir Heiner
noch einmal nachdenken. Sie haben gesagt, wenn deut- Geißler und Norbert Blüm – war in Chile in den Ge-
sche Soldaten nach Mazedonien geschickt würden – ich fängnissen, als unsere Freunde, die christlichen Demo-
meine jetzt nicht die Luftüberwachungsoperation; dafür kraten, dort verfolgt, eingesperrt und gefoltert wurden.
haben Sie unsere Zustimmung, das ist klar; wir bleiben Deswegen kann ich Ihre Haltung nachvollziehen. Aber
in der Kontinuität unserer Politik, Sie brauchen Ihre ei- haben Sie bitte keine selektive Haltung. Es gibt immer
genen Mehrheiten –, um notfalls im Kosovo einzugrei- noch politische Gefangene in Kuba und in anderen Ge-
fen, um diese Beobachter zu retten, dann sei das kein genden der Welt. Was machen Sie mit Fidel Castro?
militärischer Einsatz. Ich muß Ihnen sagen: Es ist hoch- Lassen Sie uns also sehr sorgfältig darüber diskutieren,
gefährlich, wenn man versucht, die kleinste gemeinsame was es bedeutet, Menschenrechte durchzusetzen und zu
Sprachregelung innerhalb der Koalition zu finden, um verdeutlichen: Wer immer dagegen verstößt, muß damit
im Deutschen Bundestag eine Mehrheit für einen Ein- rechnen, daß er auf internationalem Wege zur Verant-
satz zu erzielen, der natürlich ein militärischer Einsatz wortung gezogen wird. Es geht aber nicht an, daß es ei-
ist. Was bedeutet dieser Einsatz? Sie schicken deutsche nen selektiven Einsatz für die Beachtung der Menschen-
Soldaten nach Mazedonien. Im Ernstfall müssen sie ge- rechte gibt.
gen den Willen der Regierung der Bundesrepublik Jugo-
slawien im Kosovo militärisch eingreifen, um Zivilisten (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. –
aus dieser Region zu holen. Auch den Soldaten schulden Abg. Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE
wir es, daß die Gefahren einer solchen Mission nicht GRÜNEN]: Das müssen Sie gerade sagen!)
heruntergespielt werden, nur damit man in der Koalition Herr Minister Scharping, Sie haben als Verteidi-
verbal eine Einigung erzielt. gungsminister das Richtige in bezug auf Ihre Amtszeit
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – gesagt. Sie haben sich für die Wehrpflicht eingesetzt. In
Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- diesem Punkt haben Sie die volle Unterstützung unserer
NEN]: Wer hat denn das gesagt?) Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Wenn es sich nicht um eine militärische Aktion handeln
würde – das gilt für die Luftüberwachung und natürlich Sie haben noch einen weiteren sehr richtigen Satz ge-
auch für die Mission einer Extraction Force –, müßte sagt: Diejenigen, die Sicherheit produzieren, nämlich
sich der Deutsche Bundestag nicht mit dieser Angele- unsere Soldaten, haben selbst die Sicherheit ihres Ar-
genheit beschäftigen. beitsplatzes verdient. Deswegen haben Sie sich klar ge-
118 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998

Volker Rühe

(A) gen alle Vorstellungen der Grünen gewandt, im Rahmen gewußt haben: Die Anstrengungen lohnen sich; es gibt (C)
der Koalition in die Strukturen der Bundeswehr einzu- ein konkretes Zieldatum.
greifen.
Deswegen würde ich der Bundesregierung raten, zu
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) versuchen, gemeinsam mit Polen und den anderen Staa-
ten ein Zieldatum zu entwickeln und zu sagen: Wir je-
Sie müssen wissen, daß Sie in diesen entscheidenden denfalls werden, was die Reformen innerhalb der Euro-
Punkten unsere Unterstützung haben, daß wir Sie aber päischen Union angeht, alles tun, daß ihr 2002 Mitglie-
auch an diesen Punkten messen werden. Es ist deswegen der werden könnt. Wenn ihr dann noch auf eurer Seite
ganz wichtig, daß die Wehrstrukturkommission – Sie die notwendigen Reformen durchsetzt, dann ist der Bei-
haben ja auch eine Rentenkommission; überall, wo Sie tritt zu einem solchen Datum machbar.
mit den Grünen uneins sind, werden Kommissionen ein-
gesetzt – nicht sozusagen jahrelang ein Fragezeichen für Es muß möglich sein, hier eine gemeinsame Strategie
die Bundeswehr bedeutet. Unsere Soldaten haben es zu entwickeln, damit Deutschland auch weiterhin Motor
nicht verdient, daß sie bezüglich ihrer Zukunft im unge- im Hinblick auf das Zusammenwachsen in Europa ist.
wissen gehalten werden, Die letzte Bemerkung möchte ich auf die baltischen
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Staaten beziehen. Ich glaube, jeder spürt, daß sie mehr
als manch andere zur Familie der europäischen Staaten
zumal wir gleichzeitig von ihnen schwierige Einsätze gehören – sie haben in diesem Jahrhundert ein besonders
verlangen müssen. Sie sollen wissen, daß eine Chance schlimmes Schicksal gehabt –, daß aber der Weg in die
für einen Konsens in diesem Hause besteht. Was Wehr- Sicherheitsgemeinschaft der NATO sicherlich noch ein
pflicht und Umfang der Bundeswehr angeht, habe ich es langer Weg ist. Um so offener sollten wir dafür sein –
einmal so gesagt: Sicherheit für die Produzenten der Si- das war auch bei Klaus Kinkel, dem früheren
cherheit, Sicherheit für unsere Soldaten. Wenn Sie sie zu Außenminister, der Fall –, sie so schnell wie möglich in
internationalen Einsätzen schicken, dann können Sie die Europäische Union aufzunehmen.
nicht zu Hause die Kasernen anstecken, so wie die Grü-
nen das immer wieder versucht haben. (Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Als Gruppe
und nicht getrennt!)
(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
– Natürlich, alle drei als Gruppe. Denn sie alle haben
NEN]: Na, na! – Ingrid Matthäus-Maier
nicht das Gewicht, daß sie auf Grund irgendwelcher sta-
[SPD]: Nicht anstecken!)
tistischer Abweichungen und auf Grund der Probleme,
– Entschuldigung, „Kasernen anstecken“ heißt natürlich, die es in diesen Staaten noch gibt, die Europäische Uni-
on ruinieren könnten.
(B) die Stationierungsorte der Bundeswehr in Frage zu stel- (D)
len. Das ist doch genau das, was Sie, Frau Kollegin Nachdem sich Estland qualifiziert hat und Lettland
Beer, tun. Sie wollen doch den Umfang der Bundeswehr anerkanntermaßen Fortschritte gemacht hat – Außen-
halbieren. Das ist in einer solchen Situation unverant- minister Kinkel hat immer deutlich gemacht, daß die
wortlich. Möglichkeit bestehen muß, auch zwischenzeitlich auf-
(Beifall bei der CDU/CSU – Angelika Beer genommen zu werden –, liegt es in der Verantwortung
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer ist denn der Bundesregierung, Lettland und Litauen in den euro-
hier der Brandstifter?) päischen Integrationsprozeß mit aufzunehmen.

Gestatten Sie mir noch eine kurze Bemerkung zur Eu- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
ropapolitik. Es gab ja nach den Besuchen des Kanzlers ordneten der F.D.P.)
und des Außenministers in Polen die Diskussion, ob wir Herr Kollege Fischer, wenn Sie das in Angriff nehmen
für die EU-Osterweiterung eine zeitliche Perspektive würden, dann würden Sie wirklich einen weiteren Schritt
brauchen. Ich glaube, daß man noch einmal einen Mo- für den Aufbau eines gemeinsamen Europas leisten und
ment darüber nachdenken sollte, was die richtige Politik im übrigen selbst eine Politik durchsetzen, angesichts der
ist. Herr Schröder, der Bundeskanzler, hat gesagt, er ha- Sie mit einem Konsens in Deutschland rechnen können.
be nicht soviel Phantasie, ein Datum zu nennen. Zeigen Sie also einmal, daß Sie nicht nur wie ein Außen-
Ich muß Ihnen sagen: Wenn Sie ein Datum setzen – minister gekleidet sind, sondern daß Sie sich auch in einer
2002 wäre realistisch –, ist es viel einfacher, die schwie- wichtigen Frage durchsetzen können.
rigen Entscheidungen im jeweiligen Lande durchzuset- Vielen Dank.
zen. Ich weiß, daß die EU-Erweiterung nicht vergleich-
bar ist mit der NATO-Erweiterung. Die EU-Erweiterung (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
ist viel schwieriger umzusetzen. Mitglied der NATO
können Sie auch mit alten Flugzeugen und alten Panzern Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das
werden. Mitglied der Europäischen Union aber können Wort hat der Bundesminister Rudolf Scharping.
Sie mit einer veralteten Landwirtschaft und einer veral-
teten Wirtschaft nicht werden. In dem Moment, in dem
ein Zieldatum im Hinblick auf den Beitritt zur NATO Rudolf Scharping, Bundesminister der Verteidi-
genannt wurde, hat es unglaubliche Anstrengungen der gung: Herr Kollege Rühe, ich möchte nicht, daß sich et-
Ungarn, der Polen und der Tschechen gegeben, weil sie was Mißverständliches oder Falsches festsetzt: Ich habe
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998 119
Bundesminister Rudolf Scharping

(A) mich mit dem Abgeordneten Gysi und seiner Behaup- wird vom Deutschen Entwicklungsdienst und den (C)
tung auseinandergesetzt, die Stationierung einer Schutz- Partnern deutscher Nichtregierungsorganisationen unter-
truppe in Mazedonien sei eine militärische Intervention. stützt. Nur so ist sichergestellt – und es ist sicherge-
Es ist völlig unbestritten: Wenn eine solche Schutztrup- stellt –, daß die Mittel wirklich den betroffenen Men-
pe stationiert wird, ist das ein militärischer Einsatz, und schen zukommen.
zwar einer mit Risiko.
Ich möchte an dieser Stelle all denjenigen danken, die
diese schwere Hilfe vor Ort leisten.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das
Wort hat jetzt die Bundesministerin Heidemarie (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
Wieczorek-Zeul. 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU und der PDS)

Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für Ich möchte vor allen Dingen den Menschen in Deutsch-
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: Mei- land danken, die bereit waren, so schnell und in großem
ne Damen und Herren! Wir alle sind in den letzten Ta- Umfang zu spenden und damit Finanzmittel zur Verfü-
gen mit den Bildern der Verwüstung konfrontiert wor- gung zu stellen.
den, die der Hurrikan Mitch in Zentralamerika ange- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
richtet hat. Und auch wenn die Schreckenszahlen noch 90/DIE GRÜNEN)
immer nicht zweifelsfrei sind: Es muß mit weit mehr als
10 000 Toten gerechnet werden. Es ist ein Rückfall der Es ist auch jetzt noch notwendig zu spenden.
Entwicklung um mindestens zwei Generationen festzu- Ich möchte auch ein herzliches Dankeschön an die
stellen. Vor allem aber: Ein Großteil der Bevölkerung ist Adresse all der Partnerstädte in Deutschland richten, die
obdachlos, in Honduras etwa die Hälfte der Bevölke- zum Beispiel in Nicaragua Partnerstädte haben, meine
rung. Heimatstadt Wiesbaden eingeschlossen, die eine Fi-
Nicaragua und Honduras sind zusammen mit Tahiti nanzhilfe von 100 000 DM unkonventionell und schnell
ärmste Länder der Region. Gleichzeitig sind sie die zur Verfügung gestellt hat.
Länder, die im Verhältnis zu ihrer wirtschaftlichen Lei-
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
stungsfähigkeit die größte Last an Auslandsschulden
GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeord-
tragen. El Salvador und Guatemala haben zwar weniger
neten der F.D.P.)
Opfer unter den Menschen zu beklagen. Aber auch hier
ist ein Großteil der Ernte zerstört, ist die Aufbauarbeit Das ist aktive Solidarität und Hilfe und zeigt, daß Men-
von mindestens einem Jahrzehnt, sind die landwirt- schen bereit sind, sich zu engagieren.
(B) schaftliche Produktion und die landwirtschaftlichen (D)
Potentiale in wenigen Tagen vernichtet worden. Ich möchte gleichzeitig darauf hinweisen, daß wir ein
Programm erarbeiten, in dem wir als nächste Stufe, also
Ich habe am letzten Freitag in Gesprächen mit den nach der unmittelbaren Nothilfe, die Finanzierung von
Botschaftern der sechs mittelamerikanischen Länder, die Reparatur- und Wiederaufbaumaßnahmen vor allen
von dem Hurrikan betroffen sind, gesprochen und – ich Dingen der zerstörten Infrastruktur, der Brücken und der
denke auch in Ihrem Namen – unser aller Anteilnahme Wege, vorsehen. Das alles muß ja gemacht werden. Wir
und Solidarität ausgedrückt. haben dafür einen Teil der Finanzmittel umgewidmet, so
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS daß wir auch weiterhin finanzielle und technische Hilfe
90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten zur Verfügung stellen können. Und vor zwei Tagen hat
der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS) der Bundesfinanzminister eine Tranche von
10 Millionen DM für die finanzielle Zusammenarbeit
Meine Damen und Herren, diese Situation ist auch freigegeben, die zusätzlich für solche Wiederaufbau-
deshalb besonders tragisch, weil diese Region, wie Sie maßnahmen eingesetzt werden kann.
alle wissen, über Jahre, um nicht zu sagen: über Jahr-
zehnte hinweg in schreckliche Konflikte und Bürger- Wir prüfen zudem, ob Mittel im Umfang von
kriege verstrickt war, jetzt auf dem Wege der Kon- 18 Millionen DM, die bisher für andere Bereiche und
fliktbeilegung und des friedlichen Zusammenlebens ist Regionen vorgesehen waren und nicht abgeflossen sind,
und in dieser Situation so schrecklich getroffen worden entsprechend umgewidmet werden können, und erwar-
ist. ten auch hier die Zustimmung des Bundesfinanzmini-
sters.
Wir als Bundesregierung, als Bundesministerium für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung haben Vor allem aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind
im Umfang von insgesamt 5,7 Millionen DM unmittel- die finanziellen Konsequenzen überhaupt nicht zu er-
bar Soforthilfe geleistet und Nothilfe bereitgestellt. Die- messen. Ich bin froh, daß der Bundeskanzler heute mor-
se Mittel sind also schon vor Ort zum Einsatz gekom- gen hier das Notwendige dazu gesagt hat. Wir müssen
men: Medikamente, Nahrungsmittel, Materialien und uns mit unseren Partnerländern dafür stark machen, daß
vor allem Geräte für die Trinkwasseraufbereitung sowie es einen Schuldenerlaß für die betroffenen Länder
Baumaterialien für dringende Baumaßnahmen, um gibt.
überhaupt wieder Obdach zu schaffen.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
Die Durchführung erfolgt in erster Linie über die lau- GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeord-
fenden Projekte der technischen Zusammenarbeit und neten der F.D.P.)
120 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998

Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul

(A) Sonst kommen sie nie mehr auf die Füße; sonst kommen Kommissar – Frau Matthäus-Maier, Oskar Lafontaine (C)
sie nie mehr voran; sonst ist der Wiederaufbau nicht zu und ich waren gemeinsam dort – sich beklagt hat – es
finanzieren. Ich freue mich, daß der Vorschlag, der vor war ein Kommissar einer konservativen Partei –, daß die
allen Dingen aus kirchlichen Gruppen gekommen ist, Bundesregierung die einzige Regierung gewesen sei, die
aufgegriffen worden ist. Das ist das Allerwichtigste, was verhindert habe, daß in das Mandat soziale und ökologi-
wir tun können. sche Kriterien aufgenommen wurden.
Als Zeichen der Unterstützung und Solidarität werden (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
Staatsminister Ludger Volmer und ich morgen einen 90/DIE GRÜNEN)
Hilfslieferungsflug, der Medikamente und die entspre-
chenden Geräte zur Wasseraufbereitung transportiert, Wir werden das tun. Das ist ein Stück friedlicher Ge-
nach Honduras und Nicaragua begleiten. Ich denke, wir staltung internationaler Beziehungen.
tun dies mit Unterstützung des gesamten Bundestages, Es geht darum, Entwicklungspolitik am Leitbild glo-
weil wir damit unsere Solidarität gegenüber der so baler nachhaltiger Entwicklung zu orientieren. Heute
schwer betroffenen Region zum Ausdruck bringen wol- ist Willy Brandt mehrfach erwähnt worden. Sein Kredo,
len. „das Überleben sichern“, beruht doch auf der Erkennt-
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE nis, daß es gemeinsame Interessen von Industrie- und
GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeord- Entwicklungsländern gibt. Daraus müssen wir aber auch
neten der CDU/CSU und der F.D.P.) Konsequenzen ziehen; wir müssen gemeinsam Klima-
schutzprogramme in Gang setzen und dürfen den ent-
Ich möchte an dieser Stelle auch sagen: Wir standen wicklungspolitischen Haushalt nicht als Steinbruch be-
schon früher an der Seite Mittelamerikas. Ich weiß, wo- nutzen.
von ich rede; ich selbst war mit christdemokratischen
Kollegen aus dem Europäischen Parlament vor Jahren (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
bei Vermittlungsgesprächen in El Salvador. Das heißt, GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der F.D.P.
wir waren verantwortlich dafür, daß dort Frieden mög- und der Abg. Dr. Christa Luft [PDS])
lich wurde. Wir tragen auch jetzt Verantwortung dafür, Entwicklungspolitische Finanzmittel, richtig eingesetzt,
daß der Wiederaufbau vorankommt. Das ist unsere Ver- sind eben friedenssichernd und stellen eine Prävention
pflichtung. Ich freue mich, daß wir im ganzen Hause mit dar. In diesem Sinne, denke ich, müssen wir handeln.
breiter Mehrheit zu dieser Aufgabe stehen. Denn Krisenprävention muß großgeschrieben werden.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90 Prozent der 186 Kriege, die zwischen 1945 und 1996
90/DIE GRÜNEN) stattfanden, sind in der sogenannten dritten Welt ausge-
(B) tragen worden. Kriege und Bürgerkriege machen jahr- (D)
Lassen Sie mich noch einige Bemerkungen zu den zehntelange Entwicklungsbemühungen zunichte. Des-
Leitlinien unserer Entwicklungspolitik machen. Ich halb ist es doch wahrhaft menschlicher und zivilisierter
finde es interessant, daß das an vielen Punkten in unter- und auch ökonomisch sinnvoll und vernünftig, wenn
schiedlichen Facetten immer wieder deutlich wird: Aus Entwicklungszusammenarbeit zusammen mit Außenpo-
unserer Sicht ist der Leitgedanke der Entwicklungspoli- litik und Sicherheitspolitik dazu beiträgt, daß Kriege und
tik Friedenssicherung. Zusammenarbeit – das war mei- Krisen gar nicht erst entstehen.
ne Überzeugung, als ich für die europapolitische Arbeit
zuständig war – sichert Frieden, und Zusammenarbeit (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
sichert natürlich auch in den internationalen Beziehun- 90/DIE GRÜNEN)
gen Frieden. Regionale Integration bewirkt Frieden. Das Diese Idee einer vorbeugenden Strukturpolitik verbindet
gilt für die Region Mittelamerika und andere Regionen. uns alle, die wir in der Bundesregierung sind, und sie ist
Es kommt darauf an, die internationalen Beziehungen zu auch das Neue im Bereich der Außen-, Entwicklungs-
gestalten. und Sicherheitspolitik.
Herr Haussmann, Sie haben mit Ihren Bemerkungen Ich habe mir einmal angesehen, wer alles im Bundes-
unrecht. Wenn wir dazu beitragen, daß in die Welthan- sicherheitsrat sitzt: sogar – ich will jetzt keinem Kolle-
delsabkommen entsprechende soziale und ökologische gen zu nahe treten – das Justizministerium. Ich bin stolz
Kriterien einbezogen werden, dann leisten wir einen darauf, daß das Ministerium für wirtschaftliche Zusam-
Beitrag zur besseren internationalen Gestaltung der Be- menarbeit und Entwicklung jetzt endlich einen Sitz in
ziehungen. diesem Gremium hat.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ilja Sei-
90/DIE GRÜNEN)
fert [PDS])
Auch das macht das neue Denken in der Sicherheitspo-
Ich will darauf hinweisen, wer isoliert war, als es um das
litik deutlich und praktisch.
Mandat zum letzten Welthandelsabkommen ging:
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Die Deut- Willy Brandt hat gesagt: „Entwicklungspolitik ist die
schen! Rexrodt!) Friedenspolitik des 21. Jahrhunderts.“ Ich bin stolz dar-
auf und ich glaube, es ist unsere große gemeinsame
Das war die Bundesrepublik Deutschland. Ich kann Aufgabe, diese Entwicklungspolitik voranzubringen.
mich nämlich erinnern, daß der zuständige EU- Wir müssen die globalen Rahmenbedingungen aktiv ge-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998 121
Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul

(A) stalten, dürfen sie nicht nur ertragen. Wir müssen dazu schen Institutionen gemeinsam ihren Platz finden und (C)
beitragen, mit all unseren Möglichkeiten, wirtschaftliche zusammen mit dem zuständigen Ministerium ein Zen-
und soziale Ungleichheiten abzubauen, die natürlichen trum für Nord-Süd-Zusammenarbeit bilden werden. Das
Lebensgrundlagen zu erhalten. Da geht es auch um die ist eine tolle Rolle, die die Stadt Bonn und die ganze
Finanzmittel, zum Beispiel darum, ob man ein Klima- Region erhalten.
schutzprogramm in Gang setzt. – Ja, das ist notwendig
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
und richtig eingesetzt. Da geht es um Förderung von
90/DIE GRÜNEN)
Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte. –
Ja, das ist notwendig und richtig eingesetzt. Mein Appell geht vor allem an die Nicht-
Regierungsorganisationen. Mit ihnen gemeinsam
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen aber
wollen wir unsere Arbeit leisten. Denn die Aufgaben,
auch, daß die Strukturanpassungspolitik des Internatio-
die vor uns liegen, müssen rechtzeitig angegangen wer-
nalen Währungsfonds und der Weltbank nach Kriterien
den. Wir dürfen nicht erst warten, bis die Situation an-
der Entwicklungsverträglichkeit und der ökologischen
geblich nur noch militärisches Eingreifen zuläßt. Wir
Nachhaltigkeit gestaltet wird.
müssen frühzeitig tätig werden.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und dem
Dafür sind wir gemeinsam angetreten.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich bedanke mich bei Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich lerne – man und frau lernt ja jeden Tag dazu –, daß
sich die bisherige Bundesregierung darauf beschränkte, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
sich zurückzuziehen und anderen Einfluß zu überlassen. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
PDS)
(Dr. R. Werner Schuster [SPD]: Richtig!)
Nein, wir müssen die Möglichkeiten, die wir haben –
auch unsere finanziellen –, einsetzen, um mit anderen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Der
Partnern die Rolle von IWF und Weltbank aktiver zu ge- nächste Redner ist Wolfgang Gehrcke von der PDS.
stalten.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS Wolfgang Gehrcke (PDS): Herr Präsident! Meine
90/DIE GRÜNEN) Damen und Herren! Deutsche Außenpolitik sollte Frie-
denspolitik sein; sie sollte zivile, nichtmilitärische Kon-
Wir wollen auch die Gewährung von Exportbürg- fliktlösungen befördern und darauf verzichten, militäri-
schaften stärker von sozialen, ökologischen und ent- sche und ökonomische Stärke zur eigenen internationa-
(B) wicklungsverträglichen Gesichtspunkten abhängig ma- len Dominanz einzusetzen. Ich glaube, darin könnte sich (D)
chen. Es ist heute hier nicht der Ort, die einzelnen eine Mehrheit des Hauses einig sein. Aber deutsche Au-
Punkte und Regionen durchzudiskutieren. Und ich ap- ßenpolitik sollte auch dazu beitragen, soziale Ungerech-
pelliere an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn tigkeiten weltweit zu mindern, nachhaltige Entwicklung
das alles Sinn machen soll – und damit wende ich mich zu fördern, Grenzen durchlässiger zu machen, anstatt
auch an Sie aus den Reihen der CDU/CSU und der weiter an einer Festung Europa zu bauen und die Men-
F.D.P. –, was wir von „vorbeugender Politik“ reden, schenrechte wirklich unteilbar zu machen.
dann müssen wir dazu beitragen, daß dieses Feld der
Entwicklungspolitik, der wirtschaftlichen Zusammenar- (Beifall bei der PDS)
beit in das Zentrum unserer Politik und nicht an deren Eine solche Außenpolitik läßt sich aber nicht nur mit
Rand kommt. „Kontinuität der letzten 16 Jahre“ beschreiben, sondern
(Beifall der Abg. Dr. Uschi Eid [BÜNDNIS bedarf auch des Zusatzes „Veränderung“.
90/DIE GRÜNEN]) Der Bundesaußenminister hat – wenn ich es richtig
Dann ist Entwicklungspolitik nicht nur Aufgabe des verfolgt habe – seine Politik mit den Worten „Kontinui-
Staates, dann geht sie einher mit dem Engagement der tät als Voraussetzung für Spielräume“ beschrieben. Von
Gesellschaft und der Wirtschaft insgesamt. Kontinuität ist heute sehr viel die Rede gewesen – nach
meinem Geschmack viel zuviel Kontinuität. Deswegen
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS möchte ich etwas über Spielräume nachdenken und über
90/DIE GRÜNEN) Spielräume diskutieren.
Deshalb sollten wir, so finde ich, überlegen, wie wir Im übrigen, glaube ich, darf man sich kein falsches
öffentlich-private Partnerschaften entwickeln. Denn es Bild von Rotgrün machen. Wenn Rotgrün so wäre, wie
ist nicht immer nur Aufgabe des Staates, Entwicklungs- Herr Glos es hier dargestellt hat, wäre mir diese Koali-
zusammenarbeit zu leisten. Um das Bewußtsein für in- tion sehr viel sympathischer. Aber dem ist leider nicht
ternationalen Zusammenhang und Verflechtung zu stär- so.
ken, ist es ganz wichtig, daß wir die Öffentlichkeits- und
Bildungsarbeit zu diesen Fragen in unserem Land ver- (Beifall bei der PDS)
ankern und dazu die entsprechenden Finanzmittel bereit- Wenn wir über Spielräume, über Gestaltungsräume
stellen. nachdenken, können wir als Beispiel Chile nehmen. Im
Ich freue mich zum Beispiel, Kollegin Ingrid Mat- Unterschied zu seinen Vorgängern sagte der Bundesau-
thäus-Maier, daß hier in Bonn die entwicklungspoliti- ßenminister, daß er den chilenischen Diktator Pinochet
122 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998

Wolfgang Gehrcke

(A) gern vor Gericht sähe. Für diese Haltung bedanke ich bunden. Die neue Bundesregierung wird sich aktiv (C)
mich bei Ihnen ausdrücklich, Herr Bundesaußenmini- dafür einsetzen, das Gewaltmonopol der Vereinten
ster. Nationen zu bewahren und die Rolle des General-
sekretärs der Vereinten Nationen zu stärken.
(Beifall bei Abgeordneten der PDS)
Der Beschluß des 13. Deutschen Bundestages zum
Sie könnte einen Bruch mit der konjunkturellen Men- NATO-Kosovo-Einsatz, Ihre Zustimmung zur Selbst-
schenrechtspolitik der alten Regierung einleiten. Ich mandatierung der NATO, verstößt aus unserer Sicht
möchte gern davon ausgehen, daß die neue Regierung eindeutig gegen das Völkerrecht, verletzt eindeutig das
auch bereit ist, die Menschenrechte – zum Beispiel das Verfassungsrecht unseres Landes und hat das Gewalt-
Recht des kurdischen Volkes auf Selbstbestimmung ge- monopol der UNO ausgehebelt. Es ist zumindest um-
gen den NATO-Verbündeten Türkei – zu verteidigen stritten, ob die UN-Resolution zur Stationierung von
und einzuklagen. Aufklärungskontingenten das völkerrechtlich abdeckt.
(Beifall bei der PDS) Auf alle Fälle sind es Einsätze im Rahmen der NATO.
In der nächsten Woche werden Sie von uns verlangen,
Die Regierungskoalition hat verbal Abrüstung ange- Kampfeinheiten in Mazedonien zu stationieren.
kündigt. Doch wer Abrüstung will, kann den Wehretat
nicht zum Naturreservat erklären. Sagen Sie doch ein-
fach und deutlich, daß die Rüstungsindustrie unsicheren Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr
Zeiten entgegengeht. Setzen Sie Signale: Stoppen Sie Kollege, kommen Sie bitte zum Schluß.
die Tiefflüge der Bundeswehr, zum Beispiel die
Übungsflüge für Bombenabwürfe in der Wittstocker
Freien Heide. Die Menschen wehren sich gegen den Wolfgang Gehrcke (PDS): Danke sehr.
Mißbrauch ihrer Landschaft, wie sie sich schon zu Die Entsendung nichtmilitärischer OSZE-Kontin-
DDR-Zeiten dagegen gewehrt haben. gente haben wir begrüßt. Dieser Einsatz wird aber ent-
Lassen Sie Ihrer Ankündigung, Bemühungen zur wertet, wenn die NATO als militärisch dominante Kraft
Schaffung atomwaffenfreier Zonen zu unterstützen, die Fäden zieht.
konkrete Schritte folgen in Richtung einer atomwaffen- (Bundesminister Joseph Fischer: Das glauben
freien Zone in Mitteleuropa. Sie doch selbst nicht!)
Ich finde auch, daß der Verzicht auf ABC-Waffen ins Diesem falschen Weg verweigern wir unsere Zu-
Grundgesetz gehört. stimmung. Ihn werden wir nicht mitgehen, auch wenn
(Beifall bei der PDS) die Einladung vom Kollegen Scharping, mitzumachen,
(B) einfach und freundlich gewesen ist. (D)
Neue Gestaltungsräume in der Außenpolitik würden
auch die Kontrolle internationaler Währungs- und Herzlichen Dank.
Finanzspekulationen eröffnen. Nachdenken sollten wir (Beifall bei der PDS – Bundesminister Joseph
zum Beispiel auch über die Tobin-Steuer als marktge- Fischer: Wir machen eine Meck-Pomm-
rechtes Instrument zur Umsteuerung: weg von kurzfri- Brigade!)
stigen Spekulationen hin zu investiven Kapitalanlagen,
zur Produktion, zur Nachhaltigkeit und zur Entschul-
dung der armen Länder. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das
Wort hat jetzt die Kollegin Angelika Beer vom Bündnis
Ich fand es enttäuschend, daß der Bundeskanzler in 90/Die Grünen.
seiner Regierungserklärung davon gesprochen hat, den
Abwärtstrend der Entwicklungshilfe zu stoppen. Das ist
zuwenig. Diesen Abwärtstrend muß man nicht nur stop- Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr
pen, sondern man muß ihn umdrehen, damit man end- Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Vertei-
lich Ergebnisse erhält, die insgesamt akzeptabel sind. digungsminister Scharping hat vorhin in einer sehr um-
fassenden Rede vergessen, den letzten Satz zu sagen.
(Beifall bei der PDS) Man könnte ihn bezeichnend zusammenfassen: Deut-
In der Kosovo-Frage – unabhängig davon, daß wir sche Politik ist Friedenspolitik.
prinzipiell gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr sind Genau dieser Satz steht auch in den Koalitionsverein-
und bleiben – erwarten wir im Moment nicht mehr und barungen von Bündnis 90/Die Grünen und der SPD. Mit
nicht weniger von der Regierungskoalition, als daß sie Verlaub, Herr Rühe: Daß Sie das nicht nachvollziehen
ihre eigene Koalitionsvereinbarung so ernst nimmt, wie können, Sie, der mit Rambo-Methoden die Bundeswehr
wir sie ernst nehmen wollen. über Jahre für sich selbst instrumentalisiert hat, oder die-
Ich darf aus der Koalitionsvereinbarung zitieren, sem Ansatz intellektuell vielleicht nicht folgen können,
wenn das auch zu Lasten meiner Redezeit geht: erstaunt mich nicht.
Die Beteiligung deutscher Streitkräfte an Maßnah- Die neue Bundesregierung wird in der Außen- und
men zur Wahrung des Weltfriedens und der inter- Sicherheitspolitik neue Wege beschreiten. Wir haben
nationalen Sicherheit ist an die Beachtung des Völ- festgelegt, daß dies im Rahmen der internationalen Ver-
kerrechts und des deutschen Verfassungsrechts ge- träge und der transatlantischen und europäischen Inte-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998 123
Angelika Beer

(A) gration geschehen wird, daß wir Kontinuität auch in der Die „Kieler Nachrichten“ schreiben: (C)
Außenpolitik als die Grundlage für Wandel betrachten.
. . . Angelika Beer sprach von einer „aggressiven
Kontinuität – ich weiß, dieses Wort ist heute oft gefal-
militärischen Demonstration“, für die „öffentlicher
len, aber ich werde es noch einmal erwähnen.
Raum beschlagnahmt wird.“ Gemeinsam mit dem
Was heißt Kontinuität für diese neue Regierung? Bündnis der Gelöbnisgegner sprach sie sich für
Kontinuität heißt für uns: Wir werden keine nationalen Störungen der Feier aus . . .
Alleingänge vornehmen, sondern weiter auf Integration Werden Sie das auch zukünftig machen?
und Kooperation setzen. Kontinuität heißt auch: Wir
sind für feste Verankerung des internationalen Gewalt- (Zurufe von der CDU/CSU: Ungeheuer! Un-
monopols bei den Vereinten Nationen. Wir werden uns glaublich!)
unter Anerkennung der gültigen NATO-Verträge sehr
strittig in die Diskussion um die Veränderung der
Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Jetzt
NATO-Strategie einmischen und einer generellen Klau-
haben Sie mich echt erwischt.
sel zur Selbstmandatierung der NATO nicht das Wort
reden wie Sie, Herr Rühe, sondern versuchen, diese (Bundesminister Joseph Fischer: Angelika,
Umorientierung der NATO anders zu bewegen. Angelika!)
Wir werden in der Kontinuität eine konsequente Si- Ich will Ihnen einmal etwas sagen. Das gehört zu dem
cherheits- und Friedenspolitik für Europa unter der Ma- Bereich, zu dem ich sage: Kontinuität werden wir in die-
xime „OSZE first“ praktizieren, nicht mehr nur als Lip- ser Form nicht weiterführen.
penbekenntnis, sondern in der Praxis. Die Instrumentalisierung der Bundeswehr, auf dem
Ich will aber auch sagen, was Kontinuität der Außen- Rücken der Rekruten Wahlkampf zu machen, mit
und Sicherheitspolitik für uns nicht bedeutet. Sie be- Zwang und politischem Druck in diversen Städten in
deutet nicht die Fortsetzung des Denk- und Diskussions- den Wahlmonaten öffentliche Gelöbnisse abzuhalten –
verbotes, das der ehemalige Bundesminister der Vertei- ich rede auch zu Ihnen, Herr Kollege Rühe –, diese Zeit
digung erlassen hat. Sie bedeutet nicht, jahrelange Men- der Kontinuität ist beendet. Wir werden keinen Wahl-
schenrechtsverletzung von diktatorischen Regimen mit kampf mit der Bundeswehr machen, sondern wir werden
zugekniffenen Augen geschehen zu lassen, sondern be- die Bundeswehr in einen Dialog einbeziehen.
deutet, eine präventive Krisenbewältigungspolitik zu Wir werden kritische Stimmen aus der Bundeswehr
entwickeln und dort zu implementieren, wo die Würde unterstützen, daß man sich mißbraucht fühle, nicht nur
der Menschen verletzt wird. durch jene Art der öffentlichen Gelöbnisse, wie zum
(B) Beispiel in Kiel oder in Berlin, sondern auch durch die (D)
Kontinuität heißt auch nicht, weiterhin Rüstungsex-
Plakatierung von Soldaten im Wahlkampf, mit der alle
porte in Länder zuzulassen, die krisengeplagt sind, die
anderen demokratischen Parteien aus der Friedenspolitik
Menschenrechte mit Füßen treten. Wir werden zukünftig
vielmehr auf der Grundlage des Menschenrechtsstan- ausgegrenzt werden. Dieser Art werden wir auch zu-
künftig Proteste entgegenstellen, wie immer friedlich
dards unsere Rüstungsexporte bewerten bzw. einschrän-
und phantasievoll. Ich kann Sie beruhigen: Unter diesem
ken und einstellen.
Verteidigungsminister wird das Szenario Ihres Kollegen
Rühe mit Sicherheit nicht Wirklichkeit werden. Hierzu
wird es nur kommen, wenn es sicherheitspolitisch und
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau als Signal in der Außenpolitik einen Sinn macht, aber
Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen nicht, um die eigene politische Karriere zu formulieren.
Koppelin? Das hat der Kollege Scharping nicht nötig.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja, und bei der SPD)
bitte. Ich möchte noch einmal auf die Frage der Rüstungs-
exporte zurückkommen. Herr Gehrcke, Sie haben die
Türkei genannt und gefragt: Wann wird die Koalition
Jürgen Koppelin (F.D.P.): Frau Kollegin Beer, da gegen die Türkei die Menschenrechte der Kurden durch-
Sie von Kontinuität sprechen, darf ich fragen – vielleicht setzen? Ich glaube, es ist falsch, zu sagen: „gegen die
kommt es noch in Ihrer Rede –, ob Sie in Ihrer eigenen Türkei“. Wir müssen mit der türkischen Bevölkerung
Politik ebenfalls Kontinuität haben werden, zum Bei- die Anerkennung der Menschenrechte der kurdischen
spiel in Ihrer Kritik an den öffentlichen Gelöbnisfeiern Bevölkerung durchsetzen. Dazu gehört es natürlich, dem
wie in Kiel. Ich darf mit meiner Frage das verbinden, türkischen Militär nicht weiter militärische Güter und
was in den „Kieler Nachrichten“ stand. Ich wäre Ihnen Waffen zur Verfügung zu stellen, dazu gehört auch eine
für eine Auskunft dankbar, ob es erstens stimmt, was die kritische Positionierung nicht nur zur Einhaltung der
„Kieler Nachrichten“ zur öffentlichen Gelöbnisfeier in Menschenrechte und zur engeren Kooperation mit der
Kiel und Ihren Aussagen dazu geschrieben haben, und Europäischen Union, sondern dazu gehört es auch, die
ob Sie zweitens als Mitglieder einer der die Regie- zivile Kontrolle über das türkische Militär durchzuset-
rungskoalition tragenden Fraktionen dabei bleiben wer- zen. Denn nur dann werden die Rechte des kurdischen
den. Volkes Anerkennung finden.
124 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998

Angelika Beer

(A) Ich möchte noch zwei Bereiche ansprechen, die wir Wir werden dem Abkommen, das heißt der OSZE- (C)
für unabdingbar halten und die ein Zeichen setzen für Delegation und der Luftüberwachung, zustimmen, mehr
die zukünftige Sicherheits- und Außenpolitik. noch: Wir werden uns dafür einsetzen, daß Mittel freige-
stellt werden, damit wir im Rahmen des Open-Skies-
Erstens möchte ich sagen: Wir stehen vor einer glo- Vertrages wieder eine Tupolew oder ein anderes Flug-
balen Herausforderung hinsichtlich der Abrüstung. Wie zeug einsetzen können, um im präventiven Bereich eine
kann zum Beispiel das KSE-Regime weiterentwickelt aktive OSZE-Politik zu betreiben. Sie, Herr Rühe, haben
werden? Welche Anstöße braucht der stagnierende ato- das Geld dafür verweigert.
mare Abrüstungsprozeß gerade angesichts der Ver-
handlungen vor den Vereinten Nationen? Wie kann er- Wir werden auch einem Mandat für einen militäri-
reicht werden, daß wir endlich international zu einem schen Einsatz zustimmen, den wir hoffentlich verhin-
Verbot aller Landminen kommen? Wie können wir die- dern können; denn wenn wir mutige Zivilisten haben,
sen Prozeß weiterentwickeln und international tragfähig die sagen, daß sie ohne Waffen in diese Region hinein-
machen? Wie reagieren wir auf die Herausforderungen gehen, wo auch heute noch jeden Tag Auseinanderset-
der neuen technologischen Entwicklungen in bezug auf zungen stattfinden, dann haben Sie das Recht und wir
die Dual-use-Problematik und die Früherkennung von die Pflicht, dafür zu sorgen, daß diese Menschen, wenn
möglichen Rüstungswettläufen? Wie also können wir Milosevic oder andere wieder ihr Wort brechen, gerettet
präventive Rüstungskontrolle zum Bestandteil aktiver werden. Das ist die Verantwortung, vor der wir stehen.
Politik machen? Deswegen werden wir dem Einsatz auch zustimmen.
Dies sind die zentralen Bereiche und Herausforde- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
rungen. Wir werden die Praxis und unsere Verantwor-
tung daran messen. Wir werden – das haben wir uns Zum Ende noch eine Bemerkung, Herr Kollege Rühe.
gemeinsam vorgenommen – dieser Herausforderung mit Ich will nicht zuviel Zeit auf Ihre Beiträge, die heute re-
offenem Gesicht entgegengehen. lativ substanzlos waren, verwenden. Sie werden es nicht
schaffen, die neue Koalition in der Frage der Kommissi-
Der zweite Bereich sind die zivile Konfliktbearbei- on, die die Zukunft der Bundeswehr, die politischen
tung – Kollege Scharping hat dies bereits genannt – und Aufgaben, die Struktur und die Ausrüstung für das
die Frage des Aufbaues der Krisenprävention. Es ist 21. Jahrhundert bestimmen wird, zu spalten. Wir werden
das erste Mal, daß sich Deutschland an Peace-keeping ein Ergebnis haben, auch wenn das Ergebnis heute offen
und an Peace-building beteiligen wird. Wir werden ist. Das Ergebnis wird das sein, was Sie immer verhin-
„Schüler helfen leben“, zivile Friedensdienste fördern, dert haben: Es wird darin bestehen, daß der Bundeswehr
um eben, bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist, zu eine Struktur und ein Auftrag gegeben werden, die nicht
zeigen, daß wir aufmerksam sind, daß wir reagieren, daß nur vom Verteidigungsminister, sondern auch von der
(B) wir agieren, daß wir international intervenieren, unter- (D)
Bundeswehr selber, von dem Parlament, also von der
halb der militärischen Schwelle. Das ist doch das Defizit Politik, und von der Gesellschaft getragen werden; denn
der Politik gewesen, die Sie, Herr Rühe, in den letzten nur so können wir auf die Herausforderungen des
Jahren mitzuverantworten hatten. 21. Jahrhunderts eine verläßliche Antwort geben. Darum
Zum Schluß möchte ich auf den Kosovo eingehen. werden wir uns gemeinsam bemühen. Da können Sie
Der Kosovo hat uns hier schon mehrmals beschäftigt, querschlagen, wie Sie wollen. Diese Zeiten sind vorbei.
allerdings viel zu spät. Die Opposition – SPD wie Grü- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
ne – hat vor zehn Jahren die ersten Anträge eingebracht, sowie bei Abgeordneten der PDS)
um auf die massivsten Menschenrechtsverletzungen im
Kosovo hinzuweisen.
Während der Dayton-Verhandlungen hat die damalige Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das
Opposition darauf hingewiesen, daß im Kosovo ein ge- Wort hat der Kollege Gernot Erler von der SPD.
fährlicher Konfliktherd entsteht. Es gab nichts als Arro-
ganz und einen Aktenzerreißer auf der Hardthöhe, der
gesagt hat: Interessiert uns nicht. Gernot Erler (SPD): Herr Präsident! Meine sehr ver-
ehrten Damen und Herren! In der Debatte war mehrfach
Der letzte Beschluß zum Kosovo war ein Bruch in von dem Grundkonsens in der Außen- und Sicher-
der Kontinuität der bisherigen Außenpolitik, weil er heitspolitik die Rede. Ich möchte eines hier klarstellen:
nicht auf eindeutiger Grundlage der Vereinten Nationen Man kann sich mit der Interpretation von verschiedenen
gefaßt worden ist. Aber ich sage auch – das sage ich Teilen des Hauses nicht einverstanden erklären, daß
auch als Vertreterin der Grünen-Fraktion –: Wir werden ein solcher Grundkonsens etwa signalisiere, daß es einer
wohlwissend um die Defizite der Vergangenheit heute neuen Regierung an Innovation und an Ideen mangele
die Verantwortung übernehmen. Es werden weder die oder daß sie pauschal alles, was bisher gewesen ist, gut-
dort lebenden Menschen noch jene, die im Rahmen der heiße.
OSZE dort eingesetzt werden, für eine unverantwortli-
che Politik zu büßen haben, die die bisherige Regierung Aus meiner Sicht ist ein möglichst breiter Grundkon-
zu verantworten hat. ses in der Außen- und Sicherheitspolitik ein Signum ei-
nes zivilisierten, demokratischen Staatswesens.
(Walter Hirche [F.D.P.]: Absolut alberner
Quatsch!) (Beifall bei der SPD)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998 125
Gernot Erler

(A) Es lohnt sich, auf jeden Fall große Anstrengungen zu kraft definiert. Noch immer liegen alle Beitrittsaspiran- (C)
unternehmen, um daran festzuhalten. Ich will eines ten aus Mittel- und Osteuropa weit hinter den schwäch-
gleich anfügen: Das Bemühen um diesen Grundkonsens sten Mitgliedern der Europäischen Union. Estland zum
ist wesentlich auch Aufgabe der Opposition. Darum ha- Beispiel, ein vielgelobtes Reformland, erreicht nicht
ben wir uns in den letzten Jahren in der Opposition be- mehr als 22 Prozent des Durchschnittsniveaus der EU,
müht. Es gibt jetzt auch eine Bringschuld von Ihnen, Slowenien nicht mehr als 59 Prozent. Das heißt, daß ein
sich um diesen Grundkonsens zu bemühen. Aufholen dieser Einkommensrückstände notwendig und
wichtig ist, weil in der EU bis heute das Prinzip der
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Struktur- und Kohäsionsfonds gilt, das greifen muß,
Kontinuität besteht nicht nur in der Arbeit um Ver- wenn die Abstände bei Regionen weniger als 75 Pro-
trauen im Ausland; vielmehr gibt es auch Spielräume zent, bei Ländern sogar weniger als 90 Prozent betragen.
– auch das steht in der Koalitionsvereinbarung – in der In den letzten beiden Jahren wurden für diese Fonds
Kontinuität für neue Initiativen und für neue Impulse. durchschnittlich 35 Milliarden Ecu aufgewandt. Man hat
Ich möchte hier drei Felder nennen, die mir sehr ausgerechnet, daß, wenn heute die erste, die fortge-
wichtig erscheinen: Das erste ist das, was ich den ge- schrittene Gruppe, mit der im Moment verhandelt wird,
samteuropäischen Integrationsprozeß nennen möchte, der EU beitreten würde, Ausgleichszahlungen von 20
bestehend aus dem Erweiterungsprozeß der Europäi- bis 45 Milliarden Ecu notwendig wären. Das ist eine
schen Union und dem der westlichen Allianz, der Verdoppelung dieses Etats – völlig unrealistisch und
NATO. Was noch nicht alle genügend gespürt haben, so politisch auch gar nicht durchsetzbar.
glaube ich, ist, daß 1998 in dem gesamteuropäischen Das heißt, wir haben eine neue Phase. Denn jetzt geht
Integrationsprozeß eine neue Phase begonnen hat. Defi- es darum, zu fragen: Wie greifen die konkreten Anpas-
nitiv geht eine Phase zu Ende, in der es möglich und sungshilfen, zum Beispiel die aus dem Heranfüh-
auch üblich war, in die Hauptstädte der Transformati- rungstopf von 22 Milliarden Ecu? Was tun wir denn
onsstaaten zu fahren und dort wohlwollende Bekennt- konkret, um in der sogenannten Beitrittspartnerschaft
nisse abzugeben. Dadurch konnte man sehr preiswert auch in der zweiten Fünfergruppe die Anpassung mit der
Zustimmung und populäre Erfolge erringen, aber ohne sogenannten Aufholfazilität zu unterstützen, die schon
eine dahinterstehende Substanz. Diese Phase geht defi- viel bescheidener ist, nämlich 100 Millionen Ecu für
nitiv zu Ende, denn seit mehreren Monaten läuft die zwei Jahre? Man hört leider, daß sich diese Programme
Vorverhandlungsphase. Jetzt – buchstäblich heute – be- trotz dieser Bemühungen verzögern. Da habe ich eine
ginnt offiziell die Verhandlungsphase gleich zu solch andere Auffassung als Sie, Herr Rühe. Ich glaube nicht,
wichtigen Themen wie Telekommunikation, Bildung, daß man Herrn Fischer raten sollte, mit neuen, erfunde-
Wissenschaft, Forschung, Industriepolitik und anderem, nen Beitrittszahlen zu operieren. Diese Zeit geht zu En- (D)
(B) insgesamt zu sieben verschiedenen Kapiteln.
de. Statt gebetsmühlenhaft abstrakte Unterstützung zu
Ende letzter Woche sind uns die ersten der soge- versichern und dafür kostenlos Beifall einzuheimsen,
nannten Fortschrittsberichte der Europäischen müssen wir jetzt zeigen, daß wir bereit sind, die Ärmel
Kommission vorgelegt worden. Das heißt, jetzt wird die in der Europäischen Union aufzukrempeln, um die Län-
Frage der Anpassungsleistung der Transformationsstaa- der auf diesem schwierigen Weg zu Gleichrangigkeit
ten objektiviert. Das ist eine neue Phase, denn jetzt wird und vor allen Dingen Wettbewerbsfähigkeit konkret zu
das konkret gemessen, was man Strukturreife nennt. Das unterstützen. Das – nicht die abstrakte Nennung von
ist eine immense Arbeit dieser Transformationsstaaten, Beitrittsdaten – ist die Herausforderung des Tages.
die, was ihre marktwirtschaftliche Reife angeht, ord- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
nungspolitische Kriterien vorweisen müssen, die zeigen
müssen, ob sie es schon geschafft haben, die 200 000 Dazu gehört übrigens auch, daß endlich – dazu muß
Seiten Text der Rechtsangleichung mit mehr als 14 000 die Bundesrepublik einen konkreten Beitrag leisten – die
Rechtsakten übernommen und an ihre Gesellschaft an- Hausaufgaben der Europäischen Union gemacht werden.
gepaßt zu haben, und die zeigen müssen, ob sie gesamt- Es ist noch gar nicht erreicht, daß wir selber, die 15, tat-
wirtschaftliche und monetäre Stabilität haben – sogar in sächlich integrationsfähig sind. Hier muß noch vieles in
Richtung der Maastricht-Kriterien. den Entscheidungsgremien geändert werden. Zum Bei-
spiel muß der ganze Bereich des Agrarmarkts geändert
Diese Fortschrittsberichte zeigen erhebliche Fort- und reformiert werden; sonst besteht dort keinerlei Inte-
schritte der betroffenen Länder, aber eben auch erhebli- grationsfähigkeit. Das Ziel muß dabei sein, daß neue
che Entwicklungsrückstände, die sehr ernst zu nehmen Grenzziehungen durch Europa verhindert werden. Der
sind. Dazu nur eine Zahl: Die fünf in der ersten Reihe Abstand im Geleitzug bei der europäischen Integration
stehenden mittel- und osteuropäischen Staaten, mit de- darf nicht zu groß werden. Die Warnsignale aus Südost-
nen jetzt konkret verhandelt wird, bringen bisher mit europa teilen uns mit, wie wichtig das ist.
180 Milliarden Ecu 2,8 Prozent des Bruttoinlandspro-
dukts der Europäischen Union auf. Sie stellen aber Ein zweiter Punkt, wo neue Impulse notwendig sind:
gleichzeitig 62,6 Millionen Menschen und damit Ich glaube, wir müssen unsere Politik gegenüber der
16,8 Prozent der Bevölkerung der Europäischen Union. Russischen Föderation kritisch überprüfen. Die Bezie-
In diesen Zahlen liegt eine enorme Spannung, denn hungen müssen eine breitere Grundlage bekommen. Das
darin spiegelt sich der riesige Abstand des Lebens- sagen uns auch viele Fachleute. Ich will hier nicht die
niveaus, das sich aus Pro-Kopf-Einkommen und Kauf- alte Frage aufwerfen, wie wichtig ganz persönliche Be-
126 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998

Gernot Erler

(A) ziehungen zwischen zwei ganz wichtigen Personen wa- Verteidigungsminister, sehr ausführlich beschrieben hat, (C)
ren und sind. Sie hatten sehr positive Seiten. Aber jetzt ist genauso wichtig. Es geht zum Beispiel um die Fähig-
ist es an der Zeit, die Beziehungen zu diesem wichtigen keit, die Einhaltung dieser Verträge zu beobachten und
Nachbarn auf eine andere, auf eine breitere Grundlage zu kontrollieren. Da stellen wir eben fest, daß die OSZE
zu stellen. offensichtlich nicht die Möglichkeit hat, in kürzester
Frist eine bescheidenere Aufgabe wahrzunehmen, näm-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) lich 2 000 Beobachter in Gang zu setzen. Hier wird also
deutlich, daß wir die Fähigkeit der Organisation für Si-
Wir müssen die Stimmen derjenigen, die aus der
cherheit und Zusammenarbeit in Europa, solche Aufga-
Staatsduma und aus dem Föderationsrat kommen, auf-
ben tatsächlich wahrzunehmen, bis hin zu den Instru-
greifen, die sagen, daß sie gerne engere Beziehungen
menten ausbauen müssen. Nur die Kombination dieser
mit dem Deutschen Bundestag, vor allen Dingen auf der
beiden Elemente führt schließlich zum Erfolg.
fachlichen Ebene, haben wollen. Wir müssen auch zur
Kenntnis nehmen, daß es heute ganz andere wirtschaftli- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
che und gesellschaftliche Kräfte mit großem Einfluß in
einem sich ändernden politischen System in Rußland Hinsichtlich der Entwicklungszusammenarbeit, liebe
gibt, die uns herausfordern. Wir müssen aber auch die Kolleginnen und Kollegen, kann ich mich kurz fassen,
Politik der internationalen Finanzorganisationen, von weil Frau Bundesministerin Wieczorek-Zeul schon eini-
IWF und Weltbank, auf ihren Sinn und ihre Wirksam- ges dazu gesagt hat. Bei der Entwicklungszusammenar-
keit überprüfen. Da erscheinen gerade in diesem Jahr beit handelt es sich, sehen wir einmal von der Soforthil-
große Fragezeichen. fe ab, die in diesen Tagen wieder erforderlich wird,
letztlich auch um die wirksamste globale präventive
Es gibt – auch das ist etwas, was wir als Regierung in Friedenspolitik.
der neuen Legislaturperiode übernommen haben – eine
Baustelle, was die Erfüllung der sehr wichtigen NATO- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
Rußland-Grundakte angeht. Es gibt einen positiven BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Aspekt: Die Zusammenarbeit in dem Ständigen Ge-
meinsamen Rat funktioniert gut. Aber in der Akte stand Die Koalitionsvereinbarung bekennt sich – das betone
auch etwas über KSE und über eine neue Rolle der OS- ich noch einmal ausdrücklich auch in Richtung von
ZE. Gerade das ist noch nicht erfüllt. Es handelt sich Herrn Gehrcke, der hier Zweifel geäußert hat – zu dem
um ein dickes Paket von innovativen Aufgaben in Ziel, den Aufwand für die Entwicklungszusammenarbeit
der Außen- und Sicherheitspolitik für die nächsten auf 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts anzuheben,
Jahre. und verspricht, die Verpflichtungsermächtigung konti-
(B) nuierlich zu erhöhen. Wir werden als Bundestag darauf (D)
Ich komme zu einem dritten Punkt, den man unter achten, daß das auch so durchgesetzt wird.
dem Stichwort „präventive Friedenspolitik“ zusam-
menfassen kann. Ich sage noch einmal: Das, was in Entscheidend ist, daß die Entwicklungszusammenar-
Südosteuropa, was in Albanien, was jetzt im Kosovo beit nicht eine Art Wettbewerbsinstrument für bessere
passiert, zeigt eben leider, daß die Instrumente, die wir Außenwirtschaftsdaten der Bundesrepublik ist, sondern
hier geschaffen haben, noch nicht ausreichen. Abrüstung wirklich in den Kontext der Bildung einer gerechten
ist auch heute noch kein Thema von gestern. Die Atom- Weltwirtschaftsordnung gesetzt wird. Die Lehre der
waffentests in Indien und Pakistan waren für uns eine Globalisierung heute heißt, daß es keine Inseln von Pro-
Warnung, daß Nichtverbreitungsziele und die Eigenver- sperität und Sicherheit mehr geben kann, sondern daß
pflichtung zu Abrüstung der offiziellen Atommächte wir bei globalisierten Märkten davon abhängig sind, ob
siamesische Zwillinge sind und daß man dies gar nicht Gerechtigkeit überall herrscht oder nicht. Anderenfalls
unabhängig voneinander behandeln kann. fällt die Ungerechtigkeit auf uns zurück: Wenn ganze
Weltregionen marginalisiert werden, dann ist auch bei
Es ist auch klar – das ist wichtig –, daß die Rüstungs- uns Marginalisierung nicht mehr aufzuhalten. Es stellt
kontrolle und die Rüstungsexportpolitik einer strengen eine sehr große Herausforderung dar, diesen Zusam-
Kontrolle dieses Parlaments bedürfen. Ich kann die Aus- menhang zu begreifen und in konkrete Politik umzuset-
sage in der Koalitionsvereinbarung nur begrüßen, daß zen.
ein Instrument, mit dem wir bei der Abrüstung gute Er-
fahrung gemacht haben, nämlich der Jahresabrüstungs- Das sind nur drei Beispiele von gestalteter Kontinui-
bericht, jetzt auch durch einen jährlichen Rüstungsex- tät in der Außenpolitik.
portbericht ergänzt werden soll.
Auf dieser Seite des Hauses sitzen viele erfahrene
Ich persönlich bin ein bißchen besorgt. Es ist gut, daß Leute. Vorhin saß hier noch Herr Kinkel. Jetzt sitzt hier
die NATO jetzt in der Kosovo-Krise innerhalb von we- noch Herr Rühe. Ich sehe auch noch andere kompetente
nigen Wochen die Fähigkeit demonstriert hat, eine Leute, zum Beispiel den Kollegen Dr. Pflüger, mit dem
glaubwürdige Bedrohung gegenüber Herrn Milosevic wir und ich persönlich sehr gut in Abrüstungsfragen zu-
aufzubauen, bis hin zur Einsatzfähigkeit von 450 sammengearbeitet haben. Ich greife die Bemerkungen
Kampfflugzeugen. Das hat nur wenige Wochen gedau- über den Sinn eines Grundkonsenses in der Außen- und
ert. Es ist gut, daß es diese Möglichkeit gibt. Aber der Sicherheitspolitik auf: Wir bieten Ihnen an, diese
zweite Teil, den auch Sie, Herr Rühe, und andere hier schwierigen Aufgaben gemeinsam anzunehmen, und
angeführt haben und den auch Rudolf Scharping, der wollen dabei auch sehr gerne von Ihren Erfahrungen und
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998 127
Gernot Erler

(A) Kenntnissen profitieren und in diesem Sinne zusammen- Wir haben damit diesen Bereich im Deutschen Bun- (C)
arbeiten. destag als einen eigenständigen Politikbereich etabliert;
dennoch müssen hier Querschnittsaufgaben wahrge-
Vielen Dank. nommen werden. Das ist wichtig. Das genaue Aufga-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ benfeld für diesen Ausschuß wird sich aus der prakti-
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der schen Arbeit ergeben. Ich kann mir gut vorstellen, daß er
CDU/CSU und der F.D.P.) sich mit Fragen der Weiterentwicklung der internatio-
nalen und nationalen Instrumente des Menschenrechts-
schutzes und der deutschen Menschenrechtspolitik im
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als multilateralen und bilateralen Rahmen, mit den men-
letzter Redner hat der Kollege Rudolf Bindig von der schenrechtsrelevanten Aspekten der Außen- und Sicher-
SPD das Wort. heitspolitik, der Wirtschafts- und Außenwirtschaftspoli-
tik sowie der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, aber
auch mit den menschenrechtsrelevanten Aspekten der
Rudolf Bindig (SPD): Herr Präsident! Verehrte Asyl- und Flüchtlingspolitik und schließlich mit Fragen
Kolleginnen und Kollegen! In der Koalitionsvereinba- der humanitären Hilfe beschäftigt.
rung heißt es zum Thema Menschenrechtspolitik:
Eine zweite Maßnahme wurde beschlossen: Die Bun-
Achtung und Verwirklichung der in der Allgemei- desregierung soll die Einrichtung eines politisch unab-
nen Erklärung der Menschenrechte proklamierten hängigen und organisatorisch eigenständigen Men-
und in den Menschenrechtsverträgen festgeschrie- schenrechtsinstituts in Deutschland unterstützen. Die
benen Menschenrechte sind Leitlinien für die ge- alte Mehrheit konnte sich dazu noch nicht durchringen.
samte internationale Politik der Bundesregierung. Sie wollte einen Koordinierungsrat gründen. Wir haben
dagegen gesagt, daß schon im Vorfeld, um eine bessere
Ich freue mich, daß aus den Reden mehrerer Regie-
Zuarbeit zu erhalten, ein Instrument geschaffen werden
rungsmitglieder heute bereits hervorgegangen ist, daß
muß, welches mit den Nichtregierungsorganisationen
sie ihre Politik wirklich unter diese Leitlinie stellen
zusammenarbeiten und Politikberatung vornehmen
wollen. Das gilt für den Außenminister, für den Vertei-
kann. Dieses wird jetzt geschaffen werden.
digungsminister und auch für die Entwicklungsministe-
rin. (Beifall bei der SPD)
Menschenrechtsarbeit erfordert sicherlich zunächst Eine operativ angelegte Menschenrechtspolitik ist un-
einmal Betroffenheit. Man muß sich darüber empören serer Auffassung nach Ausdruck der Bereitschaft zur
können, daß es Verfolgung und Unterdrückung gibt, globalen zivilen Verantwortung. Wir müssen die Men-
(B) aber auch darüber, daß es Armut und Not auf der Welt schenrechtsfrage mit der Globalisierungsdebatte verbin- (D)
gibt. Der Satz, der heute hier schon mehrfach zitiert den. Menschenrechte sind das globale Ethos, nach dem
worden ist, gilt in besonderem Maße für die Menschen- immer gefragt wird. Was in der Allgemeinen Erklärung
rechte: Was du nicht willst, daß man dir tu‘, das füg‘ der Menschenrechte und in den internationalen Men-
auch keinem andern zu. Bei den Menschenrechten schenrechtspakten festgelegt ist, kann der Maßstab für
müßte es vielleicht besser heißen: Laß‘ nicht zu, daß an- eine wertorientierte Zielsetzung der gesamten interna-
dere gequält und unterdrückt werden, daß andere in Not tionalen Friedenspolitik werden.
und Elend leben müssen, denn so willst auch du nicht
behandelt werden. Wichtig ist neben der Entwicklung der politischen In-
strumente aber auch die Förderung der Verrechtlichung
Aber Menschenrechtsarbeit darf nicht bei der Betrof- der Menschenrechte. Im System des Europarates ist hier
fenheit und der Kritik stehenbleiben. Menschenrechtsar- ein wichtiger Fortschritt erreicht worden. Ab November
beit muß sich insbesondere darauf ausrichten, zu überle- arbeitet der Europäische Gerichtshof für Menschen-
gen, wo wir denn, wenn die Situation so schlecht ist, wie rechte als ständiger Gerichtshof mit hauptamtlichen
sie ist, Ansatzpunkte finden können, um etwas zu verän- Richtern. Die bisherige Mischung eines politisch admi-
dern und zu verbessern. Da müssen immer wieder neue nistrativen Verfahrens mit einem rechtlichen Verfahren
Initiativen ergriffen werden. weicht einem hauptsächlich rechtlichen Verfahren. Dies
ist ein Durchbruch im Völkerrecht.
Zwei wichtige Neuerungen hat es im Zusammenhang
mit der Bildung dieser Koalition gegeben, für die wir (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
lange Jahre gearbeitet haben. Es wurde beschlossen, im 90/DIE GRÜNEN)
Deutschen Bundestag einen ordentlichen Ausschuß für
Menschenrechte und humanitäre Hilfe einzusetzen. Es ist wirklich ein historisches Ereignis gewesen, daß
Damit wird deutlich, daß wir dem Menschenrechtsbe- sich 40 Länder direkt und unmittelbar der Rechtspre-
reich wachsende Bedeutung zumessen. Bis 1987 sind chung eines übernationalen Gerichtes unterwerfen.
diese Fragen zusammen mit der Außenpolitik, mit der Bis es beim Internationalen Strafgerichtshof soweit
Innen- und bei Rechtspolitik diskutiert worden. Von ist, wird es noch einige Zeit dauern. Hier geht es jetzt
1987 bis 1998 hat es einen Unterausschuß für Men- darum, die Ratifizierung voranzubringen. Wir werden
schenrechte und humanitäre Hilfe des Auswärtigen Aus- uns darum intensiv bemühen müssen. Wir wollen auch
schusses gegeben. Jetzt richten wir diesen ordentlichen UN-Institutionen weiter stärken: den UN-Hochkommis-
Ausschuß ein. sar für Menschenrechte und das Menschenrechtszentrum
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Rudolf Bindig

(A) in Genf. Hier geht es vor allen Dingen darum, Feld- Auch nach innen gerichtet wollen wir uns um die (C)
operationen wie die Einrichtung von Menschenrechts- Menschenrechte kümmern. Da gibt es noch einige
büros zu unterstützen. Im Rahmen des Europarates geht Grenzbereiche im Asyl- und Flüchtlingsbereich. Ich
es darum, das Mandat des Kommissars für Menschen- möchte das Flughafenverfahren nennen. Ebenso sollten
rechte zu definieren und festzuschreiben und diese wir uns die Bereiche noch einmal genau ansehen, in de-
Institution dann auch mit den ausreichenden Mitteln zu nen Menschen, insbesondere Ausländer, in Gewahrsam
versehen. Es hat keinen Zweck, Einrichtungen im in- sind.
ternationalen Bereich zu schaffen, die dann dahinküm-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
mern müssen, weil sie nicht in der Lage sind, ent- 90/DIE GRÜNEN)
sprechend zu arbeiten. Natürlich ist es wichtig, zuerst
das Instrument zu schaffen; wenn es dann aber da ist, Wir sollten auch überlegen und prüfen, ob es nicht
bedarf es der Unterstützung. Wir hoffen, daß es gelingt, Möglichkeiten gibt, im Zivildienst für Menschenrechte
auch von Deutschland aus diese Unterstützung voran- tätig zu werden. Eine weitere Aufgabe ist die Förderung
zubringen. der Menschenrechtserziehung in Deutschland.

Wir hoffen, in den UN aus Anlaß des 50. Jahrestages Es gibt also eine Menge zu tun. Einiges haben wir be-
der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte eine reits eingeleitet, anderes haben wir uns vorgenommen.
Resolution zum Schutz der Menschenrechtsverteidi- Es ist ein anstrengendes und anspruchsvolles Programm.
ger und der Menschenrechtsaktivisten zuwege zu Wir werden uns gemeinsam bemühen, es umzusetzen.
bringen. Es ist leicht, sich in einer Demokratie, in der (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
man sicher lebt, für die Menschenrechte einzusetzen, GRÜNEN und der PDS)
aber ich respektiere immer ganz besonders diejenigen,
die unter Einsatz ihres eigenen Lebens bereit sind, für
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Liebe
Menschenrechte und Demokratie zu kämpfen. Sie zu
unterstützen und einen Schutzschirm aufzubauen ist ein Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich die Aus-
wichtiges Ziel. sprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Antrag der
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Bundesregierung zur deutschen Beteiligung an der
GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.) NATO-Luftüberwachungsoperation über dem Kosovo
auf Drucksache 14/16 an die in der Tagesordnung aufge-
Im operativen Bereich können wir sicherlich noch ei-
niges tun, um dafür zu sorgen, daß wir dann, wenn die führten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit ein-
internationalen Organisationen – sei es die OSZE, der verstanden? – Das scheint der Fall zu sein. Dann ist die
Überweisung beschlossen.
(B) Europarat oder die UN – Experten brauchen, die in die (D)
Länder gehen, um Wahlbeobachtungen zu machen oder Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tages-
Verifizierungsaufgaben wahrzunehmen, auch Fachleute ordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen
zur Verfügung stellen können. In Kanada gibt es eine Bundestages auf morgen, Mittwoch, den 11. November
bemerkenswerte Einrichtung, die Personal zur Verfü- 1998, 9 Uhr ein.
gung stellt: Canadem. Das ist ein Kunstwort aus „Cana-
Die Sitzung ist geschlossen.
da“ und „democracy“. Vielleicht können wir etwas
Ähnliches bei uns schaffen. (Schluß der Sitzung: 16.58 Uhr)
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(A) (C)
Anlage zum Stenographischen Bericht

Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis
Abgeordnete(r)
einschließlich

Carstensen (Nordstrand), CDU/CSU 10.11.98


Peter Harry
Dr. Götzer, Wolfgang CDU/CSU 10.11.98
Hartnagel, Anke SPD 10.11.98
Dr. Kahl, Harald CDU/CSU 10.11.98
Dr. Meyer (Ulm), Jürgen SPD 10.11.98
Polenz, Ruprecht CDU/CSU 10.11.98
Reichard (Dresden), CDU/CSU 10.11.98
Christa
Schulte (Hameln), Brigitte SPD 10.11.98
Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ 10.11.98
DIE GRÜNEN
Vaatz, Arnold CDU/CSU 10.11.98
Verheugen, Günter SPD 10.11.98

(B) (D)
130 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 10. November 1998

(A) (C)

(B) (D)

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