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Plenarprotokoll 17/118

Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht

118. Sitzung

Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011

Inhalt:

Gratulation zum Geburtstag des Abgeordne- Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/


ten Hans-Michael Goldmann . . . . . . . . . . . . 13685 A DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13699 B
Ingrid Fischbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 13701 A
Tagesordnungspunkt 34: Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) . . . 13702 C
Antrag der Abgeordneten Wolfgang Börnsen Sibylle Laurischk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 13703 D
(Bönstrup), Bartholomäus Kalb, Viola von
Cramon-Taubadel, Dagmar Freitag, Otto Dorothee Bär (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 13704 D
Fricke, Alexander Ulrich sowie weiterer Ab- Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU) 13705 D
geordneter: 25 Jahre Internationales Parla-
ments-Stipendium (IPS) Caren Marks (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13706 B
(Drucksache 17/6350) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13685 B Michaela Noll (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 13707 D
Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU) . . 13686 A
Petra Ernstberger (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 13687 C Tagesordnungspunkt 36:
Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . . . 13688 B a) Antrag der Abgeordneten Angelika Graf
Alexander Ulrich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 13689 C (Rosenheim), Bärbel Bas, Dr. Karl
Lauterbach, weiterer Abgeordneter und
Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/ der Fraktion der SPD: Potenziale der
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13690 C Prävention erkennen und nutzen – Prä-
Bartholomäus Kalb (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 13691 C vention und Gesundheitsförderung
über die gesamte Lebensspanne stärken
Dagmar Freitag (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13692 B (Drucksache 17/5384) . . . . . . . . . . . . . . . 13709 A
b) Antrag der Abgeordneten Maria Klein-
Tagesordnungspunkt 35: Schmeink, Fritz Kuhn, Birgitt Bender,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
Erste Beratung des von der Bundesregierung BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gesetzli-
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur che Grundlage für Prävention und Ge-
Stärkung eines aktiven Schutzes von Kin- sundheitsförderung schaffen – Gesamt-
dern und Jugendlichen (Bundeskinder- konzept für nationale Strategie vorlegen
schutzgesetz – BKiSchG) (Drucksache 17/5529) . . . . . . . . . . . . . . . 13709 A
(Drucksache 17/6256) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13693 B
c) Antrag der Abgeordneten Dr. Martina
Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär Bunge, Agnes Alpers, Herbert Behrens,
BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13693 B
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
Dagmar Ziegler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13695 A DIE LINKE: Prävention weiter denken –
Gesundheitsförderung als gesamtgesell-
Miriam Gruß (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13696 A
schaftliche Aufgabe stärken
Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 13697 B (Drucksache 17/6304) . . . . . . . . . . . . . . . 13709 B
II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011

Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) . . . . . . . . 13709 C Zusatztagesordnungspunkt 16:


Johannes Singhammer (CDU/CSU) . . . . . . . . 13710 D Antrag der Abgeordneten Günter Gloser,
Dr. Rolf Mützenich, Rainer Arnold, weiterer
Dr. Martina Bunge (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 13713 A
Abgeordneter und der Fraktion der SPD:
Dr. Erwin Lotter (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 13714 C Den Nahost-Friedensbemühungen neuen
Schwung verleihen
Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 13716 C
(Drucksache 17/6298) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13738 C
Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 13738 C
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13717 D
Thomas Silberhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 13739 C
Rudolf Henke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 13719 B
Günter Gloser (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13740 D
Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13720 C Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 13742 B
Elke Ferner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13721 D Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13743 C
Stefanie Vogelsang (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 13723 B
Dr. Thomas Feist (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 13744 D
Mechthild Rawert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 13724 B
Dr. Martina Bunge (DIE LINKE) . . . . . . . 13724 C
Tagesordnungspunkt 39:
Bärbel Bas (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13725 C
a) Erste Beratung des von der Bundesregie-
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
Tagesordnungspunkt 37: zes zur Verbesserung der Feststellung
und Anerkennung im Ausland erworbe-
a) Erste Beratung des von der Bundesregie- ner Berufsqualifikationen
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- (Drucksache 17/6260) . . . . . . . . . . . . . . . 13745 D
zes zur Verbesserung der Eingliede-
rungschancen am Arbeitsmarkt b) Antrag der Abgeordneten Agnes Alpers,
(Drucksache 17/6277) . . . . . . . . . . . . . . . . 13726 C Sevim Dağdelen, Dr. Petra Sitte, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE
b) Antrag der Abgeordneten Brigitte LINKE: Anerkennung ausländischer
Pothmer, Markus Kurth, Katrin Göring- Bildungs- und Berufsabschlüsse wirk-
Eckardt, weiterer Abgeordneter und der sam regeln
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: (Drucksache 17/6271) . . . . . . . . . . . . . . . 13745 D
Arbeitsmarktpolitik – In Beschäftigung
und Perspektiven investieren statt Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär
Chancen kürzen BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13746 A
(Drucksache 17/6319) . . . . . . . . . . . . . . . . 13726 D Swen Schulz (Spandau) (SPD) . . . . . . . . . . . 13746 D
Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär Heiner Kamp (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13747 D
BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13726 D
Agnes Alpers (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 13748 D
Bettina Hagedorn (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 13727 D
Memet Kilic (BÜNDNIS 90/
Anette Kramme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13729 C DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13749 D
Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . . 13730 C Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU) . . . . 13750 C
Sabine Zimmermann (DIE LINKE) . . . . . . . . 13731 D Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) . . . . . . . . . . . 13752 B
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13733 B Zusatztagesordnungspunkt 17:
Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 13734 B
Antrag der Abgeordneten Manuel Sarrazin,
Katja Mast (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13735 C Priska Hinz (Herborn), Fritz Kuhn, weiterer Ab-
geordneter sowie der Fraktion BÜNDNIS 90/
Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13736 D
DIE GRÜNEN: zu den Legislativvorschlä-
Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 13737 C gen der Europäischen Kommission „Wirt-
schaftspolitische Steuerung in der EU“
(KOM (2010) 522, 523, 524, 525, 526, 527)
Tagesordnungspunkt 38: hier: Stellungnahme gegenüber der Bun-
Antrag der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, desregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3
Dr. Gregor Gysi, Jan van Aken, weiterer Ab- des Grundgesetzes
geordneter und der Fraktion DIE LINKE: Bundesregierung muss unverzüglich euro-
Den Staat Palästina anerkennen päisch gestalten
(Drucksache 17/6150) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13738 B (Drucksache 17/6316) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13753 C

in Verbindung mit in Verbindung mit


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 III

Zusatztagesordnungspunkt 18: hier: Stellungnahme gegenüber der Bun-


desregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3
Beschlussempfehlung und Bericht des Haus- des Grundgesetzes
haltsausschusses zu dem Antrag der Abgeord- (Drucksachen 17/5905, 17/6175) . . . . . . . . . . 13754 A
neten Roland Claus, Dr. Dietmar Bartsch,
Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/
der Fraktion DIE LINKE: zu dem Vorschlag DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13754 B
für eine Verordnung (EU) Nr. …/… des Ra-
tes zur Änderung der Verordnung (EG) Bettina Kudla (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 13755 B
Nr. 1467/97 über die Beschleunigung und Michael Roth (Heringen) (SPD) . . . . . . . . . . 13756 C
Klärung des Verfahrens bei einem übermä-
ßigen Defizit Thomas Silberhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . 13757 D
– Ratsdok.-Nr. 14496/10 –
zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Oliver Luksic (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13758 D
Rates über die Anforderungen an die haus-
Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/
haltspolitischen Rahmen der Mitgliedstaa-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13759 B
ten
– Ratsdok.-Nr. 14497/10 – Michael Schlecht (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 13760 B
zu dem Vorschlag für eine Verordnung des
Europäischen Parlaments und des Rates Karl Holmeier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 13761 B
über die wirksame Durchsetzung der haus-
haltspolitischen Überwachung im Euro-
Währungsgebiet Zusatztagesordnungspunkt 20:
– Ratsdok.-Nr. 14498/10 –
zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
Europäischen Parlaments und des Rates DIE LINKE: Einschränkung des Versamm-
zur Änderung der Verordnung (EG) lungsrechts durch Massenfunkzellenab-
Nr. 1466/97 über den Ausbau der haus- frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13762 D
haltspolitischen Überwachung und der
Michael Leutert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 13762 D
Überwachung und Koordinierung der
Wirtschaftspolitiken Clemens Binninger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 13763 D
– Ratsdok.-Nr. 14520/10 –
hier: Stellungnahme gegenüber der Bun- Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) . . . . . . . . . . . 13765 A
desregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 Gisela Piltz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13766 C
des Grundgesetzes
(Drucksachen 17/5904, 17/6168) . . . . . . . . . . 13753 D Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13768 A

in Verbindung mit Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) . . . . . . . . . 13768 D


Kirsten Lühmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 13770 B

Zusatztagesordnungspunkt 19: Manuel Höferlin (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 13771 B

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 13772 B
schusses für Wirtschaft und Technologie zu Helmut Brandt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 13773 D
dem Antrag der Abgeordneten Sahra
Wagenknecht, Michael Schlecht, Dr. Barbara Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD) . . . . . . . . . . . . 13775 B
Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Günter Baumann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 13776 C
DIE LINKE: zu dem Vorschlag einer Ver-
ordnung des Europäischen Parlaments und
des Rates über Durchsetzungsmaßnahmen Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13777 D
zur Korrektur übermäßiger makroökono-
mischer Ungleichgewichte im Euro-
Währungsgebiet (Ratsdok. 14512/10, Anlage 1
KOM(2010) 525) Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 13779 A
zu dem Vorschlag einer Verordnung des
Europäischen Parlaments und des Rates
über die Vermeidung und Korrektur ma- Anlage 2
kroökonomischer Ungleichgewichte (Rats-
dok. 14515/10, KOM(2010) 527) Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13779 C
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13685

(A) (C)

Redetext

118. Sitzung

Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. Norbert Lammert: ein solches Programm nur möglich, wenn es dafür nicht
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. nur Interesse gibt – das ist ganz ohne Zweifel und unver-
ändert der Fall –, sondern wenn es auch von vielen Hän-
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich den getragen wird. Deswegen möchte ich mich herzlich
begrüße Sie alle herzlich. Eigentlich wollte ich den Kol- bei all denen bedanken, die es initiiert und möglich ge-
legen Goldmann besonders herzlich begrüßen. Sobald macht haben und Jahr für Jahr betreuen.
er kommt, bitte ich, mir einen Hinweis zu geben. Er fei-
ert nämlich heute seinen 65. Geburtstag. Ich bedanke mich hier im Hause insbesondere und be-
sonders gerne beim Kollegen Wolfgang Börnsen,
(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Der wird schon
ohne uns feiern! – Weiterer Zuruf von der (Beifall)
CDU/CSU: Oh! Der feiert heute?)
der gemeinsam mit seinen Mitstreiterinnen und Mitstrei-
– Sie vermuten, er weiß das noch gar nicht? tern aus der Berichterstattergruppe für internationale (D)
(B)
(Heiterkeit) Austauschprogramme,
Dann sollte vielleicht einer unserer Parlamentsassisten- (Beifall der Abg. Iris Gleicke [SPD] sowie des
ten diesen Hinweis gezielt weiterleiten. Abg. Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/
CSU])
Ich rufe unseren Tagesordnungspunkt 34 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dagmar Freitag, Viola von Cramon-Taubadel, Otto
Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Bartholomäus Kalb, Fricke, Bartholomäus Kalb und Alexander Ulrich, seit
Viola von Cramon-Taubadel, Dagmar Freitag, vielen Jahren unermüdlich für dieses Programm im Ein-
Otto Fricke, Alexander Ulrich sowie weiterer Ab- satz ist. Ich will in diesen Dank ausdrücklich auch die
geordneter anderen Beteiligten einbeziehen, vor allen Dingen die
Berliner Universitäten, die politischen Stiftungen und
25 Jahre Internationales Parlaments-Stipen- nicht zuletzt auch die am Programm beteiligten Bot-
dium (IPS) schafter. Ich freue mich, dass einige Botschafter heute
Morgen ebenfalls als Gäste auf der Tribüne dieser De-
– Drucksache 17/6350 –
batte beiwohnen.
Beschlussfassung
Wir haben uns zwischen den Fraktionen darauf ver-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Internationale ständigt, dass wir über dieses Thema, das für die Tages-
Parlaments-Stipendium des Deutschen Bundestages fei- ordnung des Bundestages ganz ohne Zweifel eher un-
ert in diesem Jahr sein 25-jähriges Bestehen. In diesem gewöhnlich ist, damit aber die Ungewöhnlichkeit
Vierteljahrhundert hat der Deutsche Bundestag über verdeutlicht, die dieses Programm auszeichnet, am Be-
1 750 jungen Menschen aus 28 Ländern die Gelegenheit ginn unserer heutigen Tagesordnung eine halbe Stunde
gegeben, unser parlamentarisches System hautnah ken- debattieren. Gibt es dazu Widerspruch? – Das ist nicht
nenzulernen, insbesondere auch durch Mitwirkung in der Fall. Dann können wir so verfahren.
den Büros der Abgeordneten.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
Ich freue mich darüber, dass viele ehemalige Stipen- nächst dem Kollegen Wolfgang Börnsen.
diaten an den Feierlichkeiten zum Jubiläum teilnehmen
und die Debatte über unser weltweit immer noch einma- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der
liges Programm gemeinsam mit Stipendiaten des laufen- FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN
den Programms auf der Tribüne verfolgen. Natürlich ist und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
13686 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011

(A) Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): fungieren auch die Präsidenten des Bundestags als (C)
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Schirmherren, ist die Verwaltung – insbesondere das Re-
Ein Erfolgsprogramm feiert heute Geburtstag, eine Ini- ferat WI 4 – engagiert dabei und sind die drei Berliner
tiative, die vor 25 Jahren aus den Reihen unserer Kolle- Universitäten als Partner eingebunden. Das gilt auch für
gen ins Leben gerufen wurde und alle umfasste; ich alle politischen Stiftungen und die Akademie Sankel-
finde es großartig, dass das bis heute so geblieben ist. Es mark nahe der Fördestadt Flensburg. Mit ihr wird in je-
ist ein Programm aller Abgeordneten für junge Nach- dem Jahrgang das Thema „Minderheitenmodell in
wuchspolitiker in ganz Europa. Herzlichen Dank! Deutschland“ gewissenhaft und erfolgreich aufgearbei-
tet.
(Beifall im ganzen Hause)
Nicht alle Stipendiaten sind pflegeleicht – besonders
Damals waren wir mutig und selbstbewusst, unsere
diejenigen sind es nicht, die glauben, den Marschallstab
Art des Parlamentarismus zu einer Art Exportgut, zu un-
bereits im Tornister zu haben. Fast in jedem Jahrgang
serem Beitrag im Wettbewerb der Demokratiesysteme
sind Praktikanten dabei, die, wenn sie hart arbeiten – und
zu erklären. Es wurde ein Parlamentarismusausbildungs-
so Gott es will –, in ein oder zwei Jahrzehnten an der
programm geschaffen, das in dieser Form – der Präsi-
Spitze ihres Landes stehen werden. Was alle auszeich-
dent hat darauf aufmerksam gemacht – einzigartig in der
net: Deutsch als gemeinsame Sprache und ein außerge-
Welt ist.
wöhnliches Durchhaltevermögen. In den 25 Jahren IPS
Zu den ersten Stipendiaten aus Russland gehörte waren 1 750 motivierte, lernbereite, kluge, kritische wie
Naina, eine Lehrerin. Dreieinhalb Tage war sie per Pfer- fröhliche junge Erwachsene an dieser Parlamentsausbil-
defuhrwerk, Bus und Bahn nach Moskau unterwegs, um dung beteiligt. Nur dreimal hat es ein vorzeitiges Aus-
sich unbedingt dem Interview zu stellen. Die deutsche scheiden gegeben – und das aus familiären Gründen.
Sprache hatte sie durch die Deutsche Welle gelernt. Ihre Dieses spricht ebenso für die gelebte Mitverantwortung
Hauptsorge war, pünktlich einzutreffen. Denn das wusste unserer Stipendiaten wie für die Tragfähigkeit unseres
sie: Auf Pünktlichkeit legt man in Deutschland besonde- Konzeptes. Unsere Kollegen – das will ich deutlich sa-
ren Wert. gen – bemühen sich um jeden unserer Gäste, auch wenn
es sich um komplizierte Persönlichkeiten handelt.
(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Hoffentlich ist
das auch zukünftig so! – Heiterkeit) Piotr aus einem der baltischen Staaten gehörte dazu
– ein hochbegabter junger Mann, aber schlusig. An al-
Wegen Ihres Könnens, Ihrer Kenntnisse, Ihrer Lust, lem, was in Berlin geschah, hatte er Interesse – nur nicht
Neues zu lernen, und ihrem unbändigen Willen, dem an den Abläufen in seinem Abgeordnetenbüro. Dazu
Parlamentarismus in ihrem Land neuen Schwung zu ver- kam eine anhaltende Aufstehschwäche.
(B) leihen, wurde sie ausgewählt. Heute, 15 Jahre später, ist (D)
sie Vizegouverneurin in ihrer Heimatrepublik – einer (Heiterkeit)
Region von der doppelten Größe unseres Landes. Wenn
es um öffentliche Aufträge geht, wendet sie sich zuerst Er erschien nie vor 10 Uhr zur Arbeit. Nach vielen ver-
an ihre Freunde in Deutschland. geblichen Besserungsversuchen wurde er in mein Büro
versetzt: Endstation für solche Fälle.
Nainas Biografie ist beispielhaft für IPS-Stipendiaten.
Nach Rückkehr in ihre Heimat sind sie beste Botschafter (Heiterkeit)
unseres Landes in ihrem Land. Diese Demokratiewerk-
statt funktioniert, weil sich Jahr für Jahr gut 130 Kolle- Mein Arbeitstag beginnt in der Regel um 6.30 Uhr bei
gen des Deutschen Bundestags mit aufgeschlossenen einem türkischen Bäcker. Piotr musste sich diesem
Mitarbeitern freiwillig dieser zusätzlichen Aufgabe stel- Rhythmus anpassen. Die Alternative wäre das Ende des
len. Sie reden nicht, sie handeln Internationalität. Sie Praktikums und damit ein Reputationsverlust für sein
vermitteln nicht nur parlamentarisches Handwerkszeug, Land gewesen. Nein. Seinem Land wollte er auf keinen
sondern auch – das ist noch bedeutender – die Art und Fall schaden. Er hielt durch. Sein Land bot ihm eine in-
Weise unseres Handelns. Sie vermitteln, was demokrati- teressante Position im Parlament an. Nach einigen Tele-
sches Handeln eigentlich ausmacht. fonaten verlor sich dann der Kontakt zu Piotr. Erst acht
Jahre später, als ich wegen einer Kulturkonferenz sein
Diese Meisterinnen und Meister der Politik und des Land besuchte, traf ich ihn wieder. Er stand auf dem
Parlamentarismus verdienen, wie ich finde, Respekt, Flugplatz, um mich abzuholen. „Moin, Moin“, sagte ich.
Dank und Anerkennung. Dieses Programm wendet sich „Schön, dich wiederzusehen, Piotr. Aber wo ist dein
an die zukünftige politische Elite von 28 befreundeten Minister?“ Piotr sah mich ein wenig verwundert an und
Staaten. Es hat das Ziel, parlamentarische Kontakte zu antwortete: „Ich bin der Minister.“
vertiefen und demokratische Strukturen zu stabilisieren.
Gleichzeitig hinterfragen wir uns selbstkritisch, wo wir (Heiterkeit und Beifall im ganzen Hause)
unser System optimieren können. Auch unser Parlamen-
tarismus ist ausbaufähig. Auch in anderen Staaten haben ehemalige IPS-Stipen-
diaten Regierungsverantwortung übernommen und sind
Ganz bewusst überlässt der Bundestag die Außenpoli- Mitglieder in ihren Parlamenten. Über 100 sind in der
tik nicht allein der Regierung. Das IPS ist ein Teil dieser Parlamentsverwaltung, in der Wirtschaft, in Brüssel oder
Außenbeziehungen unseres Landes, unser Beitrag zur als Journalisten tätig. Besonders viele engagieren sich in
internationalen Zusammenarbeit. Aus diesem Grunde Nichtregierungsorganisationen. Sie stellen sich ihrer ge-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13687
Wolfgang Börnsen (Bönstrup)
(A) sellschaftlichen und politischen Mitverantwortung. Das (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Eduard (C)
ist ein Resultat, auf das unser Bundestag stolz sein kann. Oswald [CDU/CSU])
(Beifall im ganzen Hause)
Petra Ernstberger (SPD):
Unsere Verantwortung geht aber weiter. So richtig Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
wie wichtig es war, uns vor 20 Jahren mit diesem Parla- Kollegen! Ich möchte mich erst einmal bei den Ge-
mentsprogramm den fundamentalen Umwälzungen in schäftsführern bedanken, denen es gelungen ist, diesem
Osteuropa zu stellen und uns aktiv am Aufbau junger besonderen Programm dadurch Ausdruck zu verleihen,
Demokratien zu beteiligen, so notwendig und solidarisch dass wir hier heute diese Debatte führen können. Ich
wäre es, uns nun auch an den folgenreichen politischen glaube, viele der hier Anwesenden nehmen schon seit
Umbrüchen in den arabischen Ländern zu beteiligen. langer Zeit an dem Austausch mit jungen Menschen teil.
Öffnen wir das IPS auch für diese Länder! Stellen wir Vielleicht können wir sogar noch mehr dafür gewinnen.
uns an die Seite der neuen Demokratien!
Wir kennen das Programm als IPS. Das ist unsere Ab-
(Beifall im ganzen Hause) kürzung für Internationales Parlaments-Stipendium. Ich
freue mich auch, dass mehr als 200 Kolleginnen und
Präsident Dr. Norbert Lammert: Kollegen den Antrag, den Herr Börnsen initiiert hat, un-
Das wäre ein schöner Schlusssatz gewesen, Herr Kol- terschrieben haben. Denn das bringt die überfraktionelle
lege Börnsen. Verbundenheit mit diesem Programm zum Ausdruck.
Das zeigt, dass wir parteiübergreifend der Überzeugung
(Heiterkeit – Volker Kauder [CDU/CSU]: Es sind, dass der Bundestag kein in sich gekehrtes, nach in-
kommt auch noch ein schöner!) nen gerichtetes, sondern ein offenes und transparentes
Parlament ist. Das leben wir auch. Er ist deshalb transpa-
Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): rent und offen, weil wir Jahr für Jahr talentierte und poli-
Das habe ich mir gedacht, Herr Präsident. Sie blinken tisch interessierte junge Menschen aus mittlerweile
auch schon wieder so aufgeregt vor mir. –Herr Börnsen hat darauf hingewiesen – 28 Ländern in
den Bundestag einladen – wir können uns vorstellen,
(Heiterkeit) dass noch etliche dazukommen können –, um die parla-
mentarische Demokratie live und in Farbe mitzuerleben.
Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Auswahl der jungen Menschen ist nicht immer
Genau. Wir wollen den jungen Leuten die strengen einfach. Es werden hohe Hürden aufgestellt, die die jun-
(B) Regeln des deutschen Parlamentarismus schließlich au- gen Menschen überwinden müssen. Eine davon ist das (D)
thentisch vermitteln. fast perfekte Deutsch, das wir erwarten, damit sie in un-
serem Parlamentsbetrieb mitarbeiten können.
(Heiterkeit)
Wir öffnen das Parlament für Entscheidungsträger der
Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Zukunft und tragen damit einen ganz wesentlichen Teil
Herr Präsident, das haben wir mit diesem Dialog hin- dazu bei, dass Deutschland international vernetzt wird.
reichend getan. Das ist einmalig. Wenn wir ins Ausland fahren, hören
wir aus den Reaktionen aus anderen Parlamenten oft ein
(Heiterkeit und Beifall im ganzen Hause) Stück Neid heraus, wenn wir berichten, was wir in die-
sem Bereich hervorgebracht haben.
Ich würde aber gern mit Verständnis des Präsidenten des
Hauses meinen Schlusssatz noch loswerden. Das ist mir Aus den 25 Jahren IPS sind Diplomaten, Journalisten,
sehr ernst. Noch immer leben mehr als die Hälfte der EU- und Ministerialbeamte, Mitarbeiter von Denkfabri-
Menschen auf unserer Erde in autoritär geführten Staaten, ken, politischen Stiftungen und NGOs hervorgegangen.
mehr als die Hälfte. Demokratien sind in der Minderheit. Viele von ihnen sitzen an besonderen Schaltstellen inter-
Wer Bürger- und Menschenrechten Raum verschaffen nationaler, supranationaler und nationaler Organisatio-
will, muss den Parlamentarismus weltweit fördern und nen. Das ist unser Netzwerk.
bei jungen Leuten damit beginnen. Friede und Freiheit
Lassen Sie mich kurz ein Beispiel nennen. Ich enga-
auf unserer Erde sind erst dann gesichert, wenn überall
giere mich sehr im Bereich der deutsch-tschechischen
auf der Welt die Vision des großartigen amerikanischen
Zusammenarbeit. Als uns der ehemalige Minister
Präsidenten Abraham Lincoln gilt: Die Schaffung von
Alexandr Vondra hier besuchte, sagte er bei einem Ge-
Demokratien, Regierung des Volkes durch das Volk für
spräch mit einem Lächeln: Frau Ernstberger, ich kenne
das Volk.
Sie persönlich noch nicht, aber ich kenne Ihr Netzwerk.
Danke schön. Das ist ein Erfolg des IPS.
(Beifall im ganzen Hause) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der
FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält jetzt die Kollegin Petra Ernstberger Ich möchte an dieser Stelle den vielen Personen dan-
für die SPD-Fraktion. ken, die es ermöglichen, dass wir im Parlament ein sol-
13688 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011

Petra Ernstberger
(A) ches Programm durchführen können. Ich möchte mich Präsident Dr. Norbert Lammert: (C)
bei Herrn Börnsen, aber auch bei Dagmar Freitag und Frau Kollegin, soll ich das als Kritik an dem Original
Bartholomäus Kalb bedanken, die die Arbeit des IPS in- hinter mir ins Protokoll aufnehmen?
zwischen schon lange begleiten. Sie sind die Motoren
und das Herz dieses Praktikums. (Heiterkeit)

(Beifall im ganzen Hause) Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):


Ebenso möchte ich den Mitarbeiterinnen und Mitar- Herr Präsident, ich möchte ganz ausdrücklich sagen:
beitern der Bundestagsverwaltung herzlich danken, die Das wäre ein bisschen zu weit gegangen.
den Rahmen dafür schaffen, dass wir dieses Programm
überhaupt organisieren können. Nur mit ihnen kann eine Präsident Dr. Norbert Lammert:
Umsetzung gewährleistet werden. Wichtig sind auch die Für die Klarstellung bin ich besonders dankbar.
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Abgeordneten, die
sich um die Arbeit, die Zuweisung und das Klima in den Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):
Büros und Ähnliches kümmern müssen; denn es ist
Das freut mich, Herr Präsident. – Es gab auch einen
wichtig, dass die Stipendiaten ein bisschen Lebensgefühl
wunderbaren Chor der Fetten Hennen, die alle nicht fett
von dem vermittelt bekommen, was bei uns in den Ab-
waren, uns aber deutlich gemacht haben, wie die Kon-
geordnetenbüros passiert. Deswegen gilt ihnen ein ganz
kurrenz Bonn-Berlin und die Tatsache, dass Berlin
besonderer Dank.
Hauptstadt dieses Landes ist, vom Ausland gesehen wer-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten den.
der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und des Das war für mich ein besonders erhebendes Ereignis,
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) weil sehr deutlich wurde, dass diese jungen Menschen,
Viel verdanken wir auch den externen Beteiligten, die zu uns kommen, nicht nur etwas von uns nehmen
zum Beispiel den Botschaften, die im Vorfeld bereits die – Erfahrung in Demokratie, Erfahrung darin, wie ein de-
Auswahl treffen und damit viel organisatorische Arbeit mokratisches System funktioniert und wie die demokra-
haben. Ich danke aber auch den politischen Stiftungen, tischen Abläufe sind –, sondern uns auch etwas geben:
die für ein interessantes Rahmenprogramm sorgen. ihre Sicht auf unser Land. Alle Kollegen und alle Kolle-
ginnen, die einmal einen Stipendiaten bei sich im Büro
Zum Schluss möchte ich Ihnen, liebe Kolleginnen betreut haben, wissen, dass das immer ein Geben und ein
und Kollegen, herzlich danken, dass Sie Ihre Büros für Nehmen ist.
(B) das IPS öffnen und damit den jungen Menschen und Ich empfinde es als ausgesprochen angenehm, diese (D)
auch uns die Chance gegeben haben, das Programm
jungen Menschen bei mir im Büro zu haben. Bis jetzt
durchzuführen.
waren acht Stipendiatinnen und Stipendiaten bei mir.
Herzlichen Dank. Durch ihre jeweils andere Persönlichkeit war es in jedem
Fall ein Erlebnis, ein neues Land so nahe kennenzuler-
(Beifall im ganzen Hause) nen.
Wir haben insbesondere Stipendiatinnen und Stipen-
Präsident Dr. Norbert Lammert: diaten aus den Ländern des ehemaligen Ostblocks, so
Die Kollegin Frau Dr. Christel Happach-Kasan ist die auch vom Balkan. Mein erstes Erlebnis in diesem Zu-
nächste Rednerin für die FDP-Fraktion. sammenhang hatte ich 2003, als eine junge Frau aus Ser-
bien und ein junger Mann aus Kroatien mir erklärten, sie
könnten in ihrer Sprache nicht miteinander sprechen,
Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):
Kroatisch und Serbisch seien vollkommen unterschied-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich lich, da gebe es gar keine Gemeinsamkeit, was ich mir
freue mich besonders, heute zum Thema Internationales da wohl vorstelle, und das sei ja ganz falsch. Das war
Parlaments-Stipendium sprechen zu dürfen, weil das 2003. Schon 2004 war diese Ansicht Geschichte. Es hat
Thema uns alle bewegt und weil es eine Erfolgsge- gewirkt, dass diese jungen Menschen bei uns zusammen
schichte ist, die Europa prägt. waren und festgestellt haben, dass die Ideologie, die ih-
Am Anfang gab es nur einen Austausch mit den USA. nen teilweise zu Hause vermittelt wurde, mit der Realität
Gestern Abend trafen wir uns mit den 114 Stipendiaten gar nichts zu tun hat.
aus 27 Ländern, und wir hatten einen begeisternden Sti- Ich finde es gut, dass wir als Deutscher Bundestag
pendiatenabend. Ein solcher Stipendiatenabend ist im- dazu beitragen, diese Völker einander wieder näher zu
mer ein Spiegel, der uns vorgehalten wird und der uns bringen. Deshalb ist es auch richtig, dass wir im Bereich
zeigt, wie junge Menschen, die überwiegend aus Europa der Außenpolitik entschieden haben, Visumfreiheit für
kommen, unser Land sehen. Gestern Abend war ich diese Länder zu organisieren, damit sie sehr viel mehr
schon etwas überrascht, dass sie das Thema Bonn-Berlin Einblicke in das ganze Europa bekommen.
aufgegriffen haben. Wir hatten dort eine bezaubernde
fette Henne; das muss man einfach einmal sagen. Wichtig und eine besondere Voraussetzung für ein
solches Programm ist natürlich der Deutschunterricht in
(Heiterkeit und Beifall im ganzen Hause) diesen Ländern. Hier leistet das Goethe-Institut gute Ar-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13689
Dr. Christel Happach-Kasan
(A) beit. Wir sollten bei allen Haushaltsberatungen immer chen. Sie geben nicht nur etwas, sondern Sie bekommen (C)
daran denken, dass wir den Deutschunterricht in diesen auch unendlich viel zurück.
Ländern stärken und dazu kommen müssen, dass sich in
möglichst vielen europäischen Ländern Deutsch als Vielen Dank, Herr Präsident. Vielen Dank für die
zweite Fremdsprache etabliert. Das ist eine Vorausset- Aufmerksamkeit.
zung dafür, dass wir ein solches Programm durchführen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
können. bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert:
Als Vorsitzende der Deutsch-Baltischen Parlamen- Alexander Ulrich ist der nächste Redner für die Frak-
tariergruppe ist es mein Anliegen, dass die Alumni- tion Die Linke.
Netzwerke an den Botschaften gepflegt werden. Bei je- (Beifall bei der LINKEN)
der Delegationsreise, die wir nach Lettland, Estland und
Litauen gemacht haben, haben wir dafür gesorgt und da-
rauf gedrungen, dass die Botschaften diese jungen Men- Alexander Ulrich (DIE LINKE):
schen mit einladen, weil sich die Wirkung eines solchen Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Programmes dann potenziert und wir erfahren, was sie aktuelle Tagesordnungspunkt ist der 25. Geburtstag des
machen. IPS. Es ist toll, dass wir diesen Antrag fraktionsübergrei-
fend gemacht haben und dass wir diese drei Tage nutzen,
Eine Stipendiatin von mir ist inzwischen an der Bot- um gebührend zu feiern. Der Geist, der durch diese De-
schaft in Serbien beschäftigt. Natascha aus Serbien habe batte weht – das ist ganz wichtig – macht deutlich: Gäbe
ich wiedergefunden, als wir in Belgrad neue Stipendia- es das IPS nicht, man müsste es erfinden. Das zeigt die
ten für das Programm ausgesucht haben. Sie ist dort eine Erfolgsgeschichte dieses Programms.
Netzwerkerin, genauso wie sie das hier im Deutschen
Bundestag schon gewesen ist. Diese Dame hatte sich da- (Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie
mals nicht wirklich dafür interessiert, was in den Aus- bei Abgeordneten der CDU/CSU und des
schüssen hier vor sich ging, aber sie war perfekt im Bil- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
den von Netzwerken und im Knüpfen von Kontakten. Es
Als wir vor 25 Jahren begonnen haben, da stand hier
war ein Erlebnis, sie dabeizuhaben.
in Berlin noch die Mauer. Viele Länder, die heute bei
(B) Wolfgang Börnsen, ich glaube, dass es richtig ist, diesem Programm dabei sind, gab es noch gar nicht. Das (D)
wenn wir dieses Programm ein bisschen ausweiten. Ich zeigt, welche Geschichte sich in diesen 25 Jahren ab-
denke ebenfalls an die nordafrikanischen Staaten und an spielte und wie wir versuchen, einen kleinen Beitrag zu
eine Unterstützung des Aufbaus ihrer Demokratien. Ich leisten, dass in diesen Ländern demokratische Prozesse
denke aber zum Beispiel auch an ein Land wie die Mon- forciert werden, dass diese Prozesse gestärkt werden,
golei, wo ein großer Teil der Menschen deutsch spricht. dass junge Menschen in ihrem Heimatland versuchen,
Ich glaube, wir sollten es auch den jungen Menschen diesen Prozess mitzubegleiten.
dort ermöglichen, hierherzukommen.
Diese jungen Menschen werden später nicht immer
Herr Präsident, gemeinsam mit der Kollegin Ute Minister, Herr Börnsen. Oftmals sind es auch kleinere
Kumpf hatte ich Ihnen dazu einen Brief geschrieben. Karrieren. Ich habe in dieser Woche einmal Rückschau
Wenn wir darüber nachdenken, das Programm zu erwei- gehalten. Ein Beispiel ist die Europareferentin unserer
tern, dann sollten wir in unsere Überlegungen die Mon- Bundestagsfraktion. Sie ist eine ehemalige Stipendiatin
golei einbeziehen. – Klatsch doch einmal laut, Cornelia. aus Bulgarien. Gestern war ich sehr stolz, dass die jet-
Es ist doch gar nicht so schlimm, bei mir zu klatschen. zige Stipendiatin aus Lettland, die gestern aus Riga ge-
kommen ist, die Zusage bekommen hat, als Dolmetsche-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten rin nach Brüssel zu gehen. Das zeigt: Solche Karrieren
der CDU/CSU) fangen klein an. Für diese jungen Menschen ist es tat-
– Die FDP ist da immer sehr solidarisch. Ich bedanke sächlich sehr wichtig, eine Praktikumsbescheinigung zu
mich. erhalten, die sie vorzeigen können; denn eine solche Be-
scheinigung hilft ihnen bei ihren Karrieren.
(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Aus tiefs-
ter Überzeugung!) Dem Dank, der hier schon an viele Adressen gegan-
gen ist, möchte ich mich anschließen. Das sind die drei
Das Besondere an der Mongolei ist, dass die DDR Universitäten hier in Berlin. Das sind die vielen Mitar-
Kontakte in dieses Land unterstützt hat und dass es des- beiter der Verwaltung. Das sind die politischen Stiftun-
wegen dort eine Führungselite gibt, die deutsch spricht, gen, die das Ganze mit ihren Programmen in hervorra-
und dass dort Deutsch gelernt wird. Das ist eine sinn- gender Weise begleiten. Aber letztendlich sind es auch
volle Voraussetzung, um weitere Kontakte zu knüpfen. die Abgeordneten, die jedes Jahr immer wieder aufs
Ich könnte mir vorstellen, dass wir dieses Programm ein Neue gesucht werden müssen, die bereit sind, für fünf
bisschen ausweiten. Ich bitte alle Kolleginnen und Kol- Monate einen jungen Menschen aus diesen Ländern in
legen, die sich hier engagieren, dies weiterhin zu ma- ihrem Büro mit auszubilden.
13690 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011

Alexander Ulrich
(A) Ich kann nur an diejenigen Abgeordneten appellieren, Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/DIE (C)
die bisher noch nicht dabei waren und vielleicht erst GRÜNEN):
heute auf das Programm aufmerksam werden: Das ist Verehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kolle-
eine tolle Sache. Das ist keine zusätzliche Belastung. gen! Wer gestern Abend die Präsentation der diesjähri-
Vielmehr empfinde ich persönlich es so, dass diese jun- gen IPSler gesehen hat, weiß genau, worüber meine Vor-
gen Menschen in meinem Büro eine Bereicherung dar- redner geredet haben. Über 100 junge Menschen haben
stellen. mit viel Kreativität und Witz zum Ausdruck gebracht,
was sie in den fast fünf Monaten in Berlin im Alltag, im
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
politischen Umfeld und in unseren Büros mitgenommen
der CDU/CSU, der SPD und der FDP)
haben.
Weil wir uns freiwillig oder auch gezwungenermaßen
Es geht also um mehr als um irgendein Praktikum
mit diesen Ländern beschäftigen, betrachten wir vieles
oder um irgendeine Mitarbeit in unseren Büros. Es geht
in Diskussionen aus einem anderen Blickwinkel. Dabei
darum, einer neuen Generation von jungen, politisch
stellen wir auch unsere eigenen demokratischen Pro-
denkenden Menschen aus den Partnerländern die Mög-
zesse infrage; denn wenn wir gefragt werden, warum der
lichkeit zu eröffnen, nicht nur gemeinsame berufliche
Bundestag etwas so und nicht anders macht, dann müs-
Erfahrungen, sondern vor allem auch soziale und kultu-
sen wir vielleicht selbst antworten: So ganz klar ist das
relle Erfahrungen zu machen. Es geht um das Vermitteln
nicht, das könnte besser gemacht werden. Die Stipendia-
von interkultureller Kompetenz, wie wir es immer so
ten bringen auch Lernprozesse für unsere Demokratie
schön nennen. Das ist also auch an uns adressiert.
mit ein.
Wir haben immer wieder darüber gesprochen: Wie Genau diese Mischung aus Politik, Wissenschaft und
kann man das Programm erweitern und fortsetzen? Wir Kultur macht das Internationale Parlaments-Stipendium
können nicht auf dem aktuellen Stand stehen bleiben. einmalig.
Wir müssen immer versuchen, die Inhalte zu evaluieren. (Beifall des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/
Wir müssen die Seminare der politischen Stiftungen kri- DIE GRÜNEN])
tisch hinterfragen. Die Frage ist auch, wie sich die Zu-
sammenarbeit mit den Universitäten weiterentwickeln Der Deutsche Bundestag war meines Erachtens sehr gut
soll. Ein weiterer Aspekt wurde schon angesprochen: beraten, diesen Weg der Soft Power, wie wir es nennen,
Können wir das Programm auch auf andere Länder aus- 1986 erstmals zu beschreiten.
dehnen? Als Beispiele sind Nordafrika und die Mongolei (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Wir wollen de-
erwähnt worden. Ich sage: Es wäre sinnvoll, auch die nen ja die deutsche Sprache beibringen! – Hei-
(B) Türkei mit ins Boot zu nehmen. terkeit) (D)
Wenn man etwas hinzunimmt, aber das Programm – Das können Sie sicherlich machen, Herr Oswald.
nicht ausweiten kann, ist die entscheidende Frage, was
man an anderer Stelle wegnehmen kann. Das ist immer Das ursprünglich für den Austausch mit den USA
ein schwieriger Prozess. Unter den teilnehmenden Län- konzipierte Programm ist sukzessive auf weitere Länder
dern gibt es Staaten, in denen die Demokratie auf einem ausgedehnt worden. Mittlerweile zeigt sich, wie wichtig
ähnlich guten Stand wie in Deutschland ist, aber es fällt diese Erweiterung war. Vor allem die jungen Demokra-
uns aus anderen Gründen schwer, diese Länder aus dem tien in Mittel- und Osteuropa profitieren besonders von
Programm herauszunehmen. einem solchen Austausch und der Mitarbeit im Deut-
schen Bundestag.
Wenn wir mehr Länder mit aufnehmen wollen, müs-
sen wir deshalb darüber reden, ob wir das Programm ins- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
gesamt erweitern können. Sind finanzielle Mittel vor- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
handen? Stehen mehr Abgeordnete zur Verfügung? Ist SPD, der FDP und der LINKEN)
ein größeres Programm noch zu schultern? Es wäre fan- Das ist der erste Punkt, für den ich hier gerne werben
tastisch, wenn dies gelingen könnte. Denn es würden si- möchte – das klang auch schon teilweise an –: Es ma-
cherlich über die 28 teilnehmenden Länder hinaus noch chen sich immer mehr Länder in unserer näheren und
viele andere gerne teilnehmen. weiteren Nachbarschaft auf den Weg zu einem neuen
Der Dank gilt, wie gesagt, allen Beteiligten, die schon politischen System. Einige entwickeln sich derzeit zu ei-
genannt worden sind. Lassen Sie uns so weitermachen. ner parlamentarischen Demokratie. Insbesondere für
Es ist ein gutes Programm. Auf die nächsten 25 Jahre! diese sehr jungen, noch instabilen und anfälligen Demo-
kratien wären Programme wie dieses geeignet, institutio-
Vielen Dank. nelle Aufbauarbeit vor Ort in den Parlamenten mit zu
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem unterstützen.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- Ägypten, das an der Schwelle zu einer Demokratie
geordneten der CDU/CSU und der FDP) steht, ist dafür ein gutes Beispiel. In mehreren Gesprä-
chen mit jungen, gut ausgebildeten Ägyptern, aber auch
Präsident Dr. Norbert Lammert: mit Marokkanern und Tunesiern habe ich eines mitge-
Die Kollegin Viola von Cramon-Taubadel hat jetzt nommen: Geld allein wird diese Länder nicht weiterbrin-
das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. gen. Aber wenn wir sie bei der parlamentarischen Aus-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13691
Viola von Cramon-Taubadel
(A) bildung unterstützen, wäre das Gold wert. Es wäre für (Heiterkeit) (C)
uns auch eine Investition in eine hoffnungsvolle Zu-
Das ist nicht ganz dasselbe wie das, was in dem von Ih-
kunft.
nen vorgetragenen Zitat erscheinen konnte.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abge- (Heiterkeit und Beifall)
ordneten der CDU/CSU und der FDP) Nun hat der Kollege Bartholomäus Kalb das Wort.
Das sollten wir bei der Aufstellung unseres nächsten
Haushalts unbedingt berücksichtigen. – Jetzt klatscht Bartholomäus Kalb (CDU/CSU):
keiner. Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
gen! Üblicherweise führen wir hier kontroverse Debat-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, ten. Heute kommt große Übereinstimmung zum Aus-
bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abge- druck. Umso leichter fällt es einem, der seit vielen
ordneten der CDU/CSU und der FDP) Jahren dabei sein darf, seine Freude darüber zum Aus-
Der zweite, nicht zu unterschätzende Faktor ist der druck zu bringen, dass dieses Programm so gut gelungen
Netzwerkgedanke. Gestern haben die ehemaligen Sti- ist und dass wir so viele tolle junge Menschen hier in
pendiaten ein Alumni-Netzwerk gegründet. Der Herr 25 Jahren zu Gast haben durften. Ich selber gehöre dem
Bundestagspräsident hat das etwas spöttisch als deutsche Bundestag bereits seit 1987 an, fast so lange, wie das
Krankheit abgetan. Programm besteht. Ich empfinde es immer wieder als
große Bereicherung, mit diesen hervorragenden, tollen
(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Nein! Nicht als jungen Menschen zu tun zu haben und diese Zusammen-
Krankheit! – Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: arbeit – auch in den entsprechenden Gremien –, die sehr
Als deutsche Eigenart!) kollegial und freundschaftlich ist, pflegen zu dürfen und
Ich nenne es dagegen nachhaltige Außenpolitik. Solche das Programm weiterzuentwickeln.
Vereine und Netzwerke sichern die Nachhaltigkeit dieses Vorhin kam schon der Dank an die Kolleginnen und
Programms. Kollegen, die Universitäten, die Verwaltung des Deut-
Zum einen halte ich es für essenziell, dass sich die schen Bundestages und die Stiftungen und viele andere
jungen Führungskräfte dauerhaft über ein Netzwerk aus- zum Ausdruck, die wir nicht namentlich nennen können.
tauschen; zum anderen ist das Programm selbstverständ- Sie alle haben zum guten und erfolgreichen Gelingen
lich keine Einbahnstraße. Auch für uns Abgeordnete dieses Programms beigetragen und werden sicherlich
zahlt sich die Zusammenarbeit mit den Partnerländern auch in Zukunft vollen Einsatz bringen. Herzlichen
(B) aus. Dank auch im Namen der ganzen CSU-Landesgruppe! (D)
(Beifall des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/ Der Fall des Eisernen Vorhangs ist zwar schon mehr
DIE GRÜNEN]) als 20 Jahre her. Aber ich persönlich empfinde es noch
immer als Glück und Segen für unser Land, für Europa
Auch wir sind darauf angewiesen, den direkten Kontakt und für die Welt, dass die Teilung dieses Landes und die-
zu Entscheidungsträgern in anderen Parlamenten zu su- ses Kontinents mit Mauer, Stacheldraht und Schießbe-
chen. Genau da fungieren die IPSler bzw. die ehemali- fehl friedlich überwunden werden konnte.
gen IPSler als wichtige Brücke.
(Beifall im ganzen Hause)
Weil wir auch langfristig den Dialog mit den Partnern
benötigen oder sogar ausbauen wollen, möchten wir die- Deswegen war es nur folgerichtig, dass wir seinerzeit,
ses Programm zum beiderseitigen Vorteil noch lange kurz nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, dieses Pro-
weiter unterstützen. Aber heute feiern wir erst einmal gramm ausgeweitet haben, insbesondere auf die Länder
das 25-jährige Bestehen des IPS, zu dem auch ich allen Mittel- und Osteuropas, auf die Reformstaaten, auf die
Geburtshelfern – ich weiß nicht, ob einer von ihnen neuen Demokratien.
heute anwesend ist – und heutigen Aktiven ganz herzlich Ich erinnere mich noch gut – genauso wie andere Kol-
gratulieren möchte. leginnen und Kollegen – an Einzelfälle und einzelne
Danke schön. Teilnehmer, die seinerzeit unter ungeheuer schwierigen
Bedingungen Interesse bekundet haben, die Last auf sich
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, genommen haben und zu uns gekommen sind und die
bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abge- sich nach der Rückkehr sehr stark in die Entwicklung
ordneten der CDU/CSU und der FDP) des Parlamentarismus und der Demokratie in ihren Hei-
matländern eingebracht haben. Einige Karrieren haben
Präsident Dr. Norbert Lammert: wir ja verfolgen können. Es ist etwas ganz Besonderes,
Bevor sich hier eine verheerende Legendenbildung dass hier ein Netzwerk über Ländergrenzen hinweg ent-
festsetzt, will ich aus Gründen der historischen Wahrheit standen ist. Ich habe höchste Hochachtung vor diesen
darauf hinweisen, dass ich mir gestern Abend bei dem jungen Menschen, die einen solchen Weg gegangen sind,
Empfang die Bemerkung erlaubt habe, dass die Neigung, die sich so eingebracht haben und die jetzt im Rahmen
die Wichtigkeit einer Sache durch Gründung eines Ver- ihrer Möglichkeiten – es wurden bereits Beispiele ge-
eins zu dokumentieren, zu den herausragenden Merkma- nannt – die Freundschaft zu Deutschland, die Freund-
len deutscher Kultur gehört. schaft zu uns und die Freundschaft zum Parlament pfle-
13692 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011

Bartholomäus Kalb
(A) gen. Das ist ein unschätzbar hohes Gut, erst recht, wenn kunft. Sie, die jungen Menschen aus 28 Nationen, sind (C)
es schwierige Entwicklungen da oder dort gibt. die Zukunft ihrer Heimatländer. Sie bekommen hier die
Chance, Einsichten in den politischen Betrieb eines Lan-
(Beifall im ganzen Hause)
des zu gewinnen, das aus seiner bitteren jüngeren
Darauf wurde schon hingewiesen: Es ist geradezu Geschichte gelernt hat, wie verletzlich und daher wie
eine Plattform entstanden, von der aus die jeweiligen schützenswert demokratische Strukturen und Institutio-
Programmteilnehmer aus den verschiedensten Ländern nen sind. Wir, die Abgeordneten des Deutschen Bundes-
miteinander kommunizieren und zusammenarbeiten. Sie tages, lassen sie hautnah an dieser Arbeit teilnehmen: an
pflegen nicht nur persönliche Freundschaften, sondern den Abläufen unserer parlamentarischen Demokratie, an
sprechen sich auch in politischer Hinsicht ab. Viele die- Sitzungen, an Beratungen, aber auch an dem, was im
ser Menschen haben inzwischen erfreulicherweise sehr Wahlkreis passiert. Mancher Stipendiat staunt schon,
wichtige und einflussreiche Positionen in ihren Heimat- was alles aus unseren Wahlkreisen an uns herangetragen
ländern inne. wird.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, so bleibt Wir ermöglichen ihnen durch Besuche in unseren
mir eigentlich nur, zu wünschen, dass sich dieses Pro- Wahlkreisen auch Einsichten anderer Art. Ich hatte einen
gramm, so wie es gestern bei diesem herrlichen Stipen- Stipendiaten aus dem sonnigen, trockenen Texas. Er kam
diatenabend zum Ausdruck gekommen ist, in den nächs- in meinen Wahlkreis und sagte nur eines: Ist das schön
ten 25 Jahren weiterentwickelt, damit die Vision, die grün hier. – Ich habe das Lob entgegengenommen und
gestern vorgetragen worden ist, im Jahre 2036 Realität habe verschwiegen, dass das wohl vor allen Dingen an
werden kann. Ich wünsche allen Teilnehmerinnen und der Anzahl der Regentage im Sauerland liegt.
Teilnehmern der Vergangenheit und der Zukunft alles
Gute und viel Erfolg. Uns, dem Deutschen Bundestag, (Heiterkeit)
wünsche ich für die Zukunft viel Freude mit diesem Pro- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein ganz herzlicher
gramm. Dank an Sie alle. Ohne Sie, ohne Ihre Unterstützung
Herzlichen Dank. könnten wir, die Berichterstatter für dieses Programm,
diese Arbeit nicht in diesem Maße möglich machen.
(Beifall im ganzen Hause)
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
Sehr richtig!)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist Ohne Sie gäbe es dieses Programm nicht. Danke schön
die Kollegin Dagmar Freitag für die SPD-Fraktion. dafür!
(B) (D)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall im ganzen Hause)
Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind diejeni-
Dagmar Freitag (SPD): gen, die die jungen Stipendiaten einarbeiten. Wir, Abge-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ordnete und Mitarbeiter, bekommen aber auch sehr viel
Liebe Gäste auf der Tribüne! Normalerweise ist es eine zurück. Wir haben in der Regel hochmotivierte junge
Freude, als letzter Redner einer Debatte zu sprechen, vor Menschen in den Büros, denen wir die Chance geben,
allen Dingen dann, wenn es um kontroverse Themen nicht nur Einsichten zu gewinnen, sondern auch Vorur-
geht. Heute Morgen ist es etwas schwieriger: Sie haben teile abzubauen, Informationen über das eigene Land zu
festgestellt, wie einmütig wir dieses Programm unter- geben und ein internationales Netzwerk zu bilden, das
stützen. Deshalb möchte ich nur noch einige wenige An- seinesgleichen sucht. Daher denke ich: Dieses Pro-
merkungen, auch aus dem persönlichen Erfahrungs- gramm ist eine fantastische Investition in Toleranz, in
schatz, machen. Demokratieverständnis, in Völkerverständigung, und es
Wir sprechen in diesem Hohen Hause oft über Nach- ist somit jeden Euro wert, den wir dort investieren.
haltigkeit – ein Begriff, der viele Debatten prägt. Dieses (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)
Programm ist eine der nachhaltigsten Initiativen, die der
Deutsche Bundestag je geschaffen hat. Wir haben heute häufig über den wunderbaren Stipen-
diatenabend gesprochen. Es war beeindruckend, mit wie
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ viel Fantasie und Empathie die jungen Menschen aus so
CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/ vielen Nationen eine gemeinsame Idee formuliert haben
DIE GRÜNEN) – die Idee, zusammenzuarbeiten und zusammenzublei-
Das sollten wir uns vor Augen halten, wenn wir über die ben. Hierzu haben sie kürzlich sogar einen Förderverein
sehr schmucklose Abkürzung IPS sprechen. gegründet.
Das IPS ist alles andere als schmucklos oder langwei- Ich glaube, dieses wunderbare Programm ist auf ei-
lig, im Gegenteil: Es ist einzigartig, unverwechselbar nem guten Weg. 25 ist kein Alter. Deshalb sollten wir
und, wie ich finde, in einem ausgesprochen spannenden alle gemeinsam daran mitarbeiten, dass dieses Pro-
Alter – 25. Auf der Tribüne sitzen viele junge Leute, die gramm noch viele Jahre weiterbesteht.
genau in diesem Alter sind. Erste Erfahrungen sind in Ich danke Ihnen.
diesem Alter gemacht. Man hat daraus gelernt, und man
ist vor allen Dingen eines: noch neugierig auf die Zu- (Beifall im ganzen Hause)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13693

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: losung und Kindestötung schaffen wir damit eine stabile (C)
Ich schließe die Aussprache. gesetzliche Grundlage.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Ich sage ausdrücklich: Der bestmögliche Schutz unse-
Abgeordneten Wolfgang Börnsen, Bartholomäus Kalb, rer Kinder vor Vernachlässigung und Misshandlung ist
Dagmar Freitag und weiterer Abgeordneter auf der ein Anliegen, das uns fraktionsübergreifend eint. Dieses
Drucksache 17/6350 mit dem Titel „25 Jahre Internatio- Gesetz bringt Prävention und Intervention gleicherma-
nales Parlaments-Stipendium (IPS)“. Jetzt wird es knapp: ßen voran. Es bezieht alle ein, die für den Schutz unserer
Wer stimmt für den Antrag? Kinder Verantwortung tragen: alle staatlichen Ebenen,
Bund, Länder und Kommunen, sowie professionsüber-
(Heiterkeit – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: greifend alle Akteure im Kinderschutz. Es bezieht die
Hammelsprung!) Eltern und Familien sowie systemübergreifend verschie-
Wer stimmt dagegen? – Enthält sich jemand der Stimme? dene Sozialleistungssysteme ein.

(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Hammelsprung! – Deshalb war es uns so wichtig, den Entwurf des Ge-
Weitere Zurufe von der CDU/CSU: Hammel- setzes gemeinsam zu entwickeln – in einem intensiven
sprung!) Dialog mit den Fachleuten aus der Praxis, aus den Ver-
bänden und aus der Wissenschaft, aber auch mit Ländern
– Das Präsidium ist sich einig, dass an der Mehrheit kein und Kommunen. Nur ein Kinderschutzgesetz, das von
Zweifel bestehen kann. einer breiten Unterstützung und vom Bewusstsein einer
gemeinsamen Verantwortung getragen wird, wird dem
(Beifall im ganzen Hause) Kinderschutz in Deutschland langfristig nützen.
Der Antrag ist einstimmig angenommen. Die Mühe hat sich gelohnt. Ich freue mich deshalb
Damit hat der Deutsche Bundestag nicht nur mit gro- über die sehr positive Resonanz auf den Gesetzentwurf.
ßer Freude und ein bisschen Stolz den Erfolg von 25 Jah- Ich freue mich darüber, dass wir uns beim Bundeskin-
ren dieses Programms gewürdigt, sondern gleichzeitig derschutzgesetz in vielen wichtigen Aspekten über die
seine Entschlossenheit zum Ausdruck gebracht, es fort- Parteigrenzen hinweg einig sind. Auch der Bundesrat hat
zusetzen. in seiner Stellungnahme eine überaus positive Grundhal-
tung gegenüber dem Regierungsentwurf zum Ausdruck
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 35 auf: gebracht.
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- So gibt es einen breiten Konsens zum Kernstück un-
(B) gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stär- seres Gesetzes, nämlich dem Aufbau und Ausbau soge- (D)
kung eines aktiven Schutzes von Kindern und nannter Früher Hilfen und verlässlicher Netzwerke. Das
Jugendlichen (Bundeskinderschutzgesetz – betrifft den präventiven Kinderschutz. Frühe Hilfen und
BKiSchG) verlässliche Netzwerke, die wir entwickeln und weiter-
entwickeln wollen, beugen vor, damit Kinder gar nicht
– Drucksache 17/6256 –
erst in Notlagen oder Gefahren geraten. Der frühe Kin-
Überweisungsvorschlag: derschutz beginnt in der Familie. Wir brauchen ein star-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Innenausschuss
kes Netz, das Familien in belastenden Lebenslagen auf-
Sportausschuss fängt.
Rechtsausschuss
Ausschuss für Gesundheit (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Dafür schafft dieses Gesetz die Voraussetzungen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
Durch regionale Netzwerke machen wir alle wichti-
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. –
gen Akteure im Kinderschutz zu Kooperationspartnern:
Auch hierzu höre ich keinen Widerspruch, sodass wir so
Jugendämter, Schulen, Krankenhäuser, Ärztinnen und
verfahren können.
Ärzte, Schwangerschaftsberatungsstellen und Polizei. Es
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu- geht darum, dass zwischen diesen unterschiedlichen
nächst dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Hermann Gruppen und Akteuren vor Ort eng zusammengearbeitet
Kues. wird. Die Arbeit darf nicht nebeneinander, sondern sie
muss miteinander erfolgen, weil es um den Schutz der
Kinder geht. Auf diese Art und Weise werden Hilfsange-
Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär bei der
bote die Familien schneller erreichen. Die Wege sind
Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Ju-
kürzer geworden.
gend:
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! In diesem Schutznetz spielen Hebammen eine beson-
Eines steht fest: Mit dem neuen Bundeskinderschutzge- ders wichtige Rolle. Sie kennen die Familie oft schon in
setz werden wir eine neue Qualität im Kinderschutz in der Zeit der Schwangerschaft, auf jeden Fall aber direkt
unserem Land erreichen. Mit dem Bundeskinderschutz- nach der Geburt. Die Eltern vertrauen ihnen. Dieses enge
gesetz setzt die Bundesregierung eines der wichtigsten Vertrauensverhältnis hilft nicht nur in medizinischer
Vorhaben in dieser Legislaturperiode um. Sechs Jahre Hinsicht. Familienhebammen mit ihrer Zusatzqualifika-
nach dem ersten spektakulären Fall der Kindesverwahr- tion können dieses Vertrauensverhältnis auch für die Be-
13694 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011

Parl. Staatssekretär Dr. Hermann Kues


(A) ratung von Familien in schwierigen Lebenslagen nutzen. Selbst die beste Prävention macht die Intervention lei- (C)
Sie begleiten diese Familien bis zu einem Jahr nach der der nicht überflüssig. Deshalb sorgt das Bundeskinder-
Geburt des Kindes, unterstützen die Eltern-Kind-Bezie- schutzgesetz für mehr Handlungs- und Rechtssicherheit
hung und können Hilfen vermitteln. Dadurch überneh- in den Fällen, bei denen Intervention notwendig ist. Hier
men sie eine wichtige Lotsenfunktion im Netzwerk Frü- geht es um die Aufgaben von Fachkräften in den Jugend-
her Hilfen. ämtern, aber auch im Gesundheitswesen, in der Schule
oder bei der Polizei. Diese Aufgaben sind höchst an-
Deshalb wollen wir Länder und Kommunen dabei un- spruchsvoll. Alle Beteiligten arbeiten zum Teil unter
terstützen, Familienhebammen einzusetzen, und zwar sehr schwierigen Bedingungen und immer in dem Be-
vorbeugend im Sinne unseres gemeinsamen Ziels, Kin- wusstsein, dass Fehler katastrophale Folgen haben kön-
der besser vor Vernachlässigung und Gewalt zu schüt- nen. Deswegen müssen wir dafür sorgen, dass die Ver-
zen. Im Rahmen unserer „Bundesinitiative Familienheb- antwortung, die die Fachkräfte zu tragen haben, nicht zu
ammen“ stellen wir dafür insgesamt 120 Millionen Euro groß wird.
für einen Zeitraum von vier Jahren zur Verfügung.
Daher brauchen wir klare Vorgaben zu Handlungsbe-
Wir freuen uns, dass der Bundesrat grundsätzlich eine fugnissen und Handlungspflichten bei der Wahrnehmung
Ausweitung der Hebammenleistungen befürwortet. Ich dieses Schutzauftrags. Auch dafür sorgt das Bundeskin-
sage ausdrücklich: Wir haben eine gute Lösung im Ge- derschutzgesetz. Es optimiert zum Beispiel die Zusam-
setz. Wir sind dafür offen, noch bessere Lösungen zu menarbeit der Jugendämter. Wenn Familien umziehen,
entwickeln, wenn alle daran mitwirken, und zwar in jeg- ist zukünftig sichergestellt, dass das neue Jugendamt alle
licher Hinsicht. Im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens Informationen vom bisher zuständigen Jugendamt be-
gibt es hierfür Raum. Wir sind bereit, daran mitzuwir- kommt, die es braucht, um das Kind wirksam zu schüt-
ken. Über die Details können wir uns gern in den parla- zen. Auf diese Art und Weise wird auch das sogenannte
mentarischen Beratungen verständigen. Jugendamts-Hopping erschwert oder verhindert.

Ich sage aber auch ganz klar an die Adresse aller Be- Das Gesetz schafft mit einer bundeseinheitlichen Be-
teiligten – Bund, Länder, Gemeinden –: Kinderschutz fugnisnorm für Berufsgeheimnisträger Rechtsklarheit
gibt es nicht zum Nulltarif. Das muss jeder wissen. Wir für Ärztinnen und Ärzte über den Umfang ihrer Schwei-
müssen in den Bereich der Frühen Hilfen investieren; gepflicht im Zusammenhang mit Kinderschutzfällen:
denn die Stärkung von Familien durch Frühe Hilfen und Bei akuter Kindeswohlgefährdung können Ärzte künftig
verlässliche Netzwerke – gerade in den ersten Lebens- wichtige Informationen weitergeben, ohne Angst haben
jahren der Kinder – ist ganz entscheidend für einen er- zu müssen, sich strafbar zu machen.
(B) folgreichen Schutz. Ich sage ausdrücklich: Der Bund Darüber hinaus enthält das Gesetz eine verbindliche (D)
leistet seinen Beitrag. Wir hoffen, dass auch Länder und Regelung zum Hausbesuch. Ein Hausbesuch ist in be-
Kommunen hierzu ihren Beitrag leisten. stimmten Fällen notwendig, um die Gefährdungslage
richtig einschätzen zu können. Das Gesetz sieht aber
Meine Damen und Herren, neben den Frühen Hilfen keine Pflicht zum Hausbesuch vor, sondern einen Haus-
ist im präventiven Kinderschutz ein weiterer Aspekt von besuch dann, wenn er nach fachlicher Einschätzung er-
zentraler Bedeutung: Einschlägig Vorbestrafte müssen forderlich ist und sofern der Schutz des Kindes dadurch
von Tätigkeiten in der Kinder- und Jugendhilfe ausge- nicht gefährdet wird.
schlossen werden. Eltern müssen sich darauf verlassen
können, dass der Staat ihre Kinder bestmöglich schützt, Ein weiteres wichtiges Instrument zum Schutz von
wenn sie sie Personen anvertrauen, die im staatlichen Kindern und Jugendlichen ist nicht zuletzt die kontinu-
Auftrag oder im Rahmen eines staatlich finanzierten An- ierliche Entwicklung der Qualität und ihre Sicherung.
gebotes tätig sind. Auch darüber besteht ein breiter Kon- Deshalb verpflichtet das Gesetz zur Qualitätsentwick-
sens. lung in der Kinder- und Jugendhilfe und erhöht damit die
Verbindlichkeit fachlicher Standards vor allem im Kin-
Unser Gesetzentwurf sieht vor, dass hauptamtliche derschutz.
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der öffentlichen und
freien Jugendhilfe künftig ein erweitertes Führungszeug- Wir bedauern sehr – ich will das hier ganz offen sa-
nis vorlegen müssen. Auch Ehrenamtliche, die einen en- gen –, dass die Länder diesen für einen wirksamen Kin-
gen und intensiven Kontakt zu Kindern und Jugendli- derschutz sehr wichtigen Schritt bislang nicht mitgehen
chen haben, werden ein erweitertes Führungszeugnis konnten.
vorlegen müssen. Es wird aber keine allgemeine Vorla- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
gepflicht für Ehrenamtliche geben. Das wäre kompliziert
und höchst bürokratisch. Deswegen verpflichtet das Ge- Ich meine, dass sich die Länder vor dem Hintergrund der
setz die Entscheidungsträger vor Ort, sich darüber zu Ergebnisse des Runden Tisches „Sexueller Kindesmiss-
verständigen, für welche konkrete ehrenamtliche Tätig- brauch“ an dieser Stelle bewegen müssen.
keit die Vorlage eines erweiterten Führungszeugnisses (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
erforderlich ist. Damit stärken wir den Schutz der Kin- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
der, belasten aber das große Engagement der ehrenamtli- GRÜNEN)
chen Mitarbeiter nicht durch allzu viel Bürokratie.
Ich denke, dass jedes Kind von Anfang an ein Recht
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) darauf hat, gesund und behütet aufzuwachsen. Das Bun-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13695
Parl. Staatssekretär Dr. Hermann Kues
(A) deskinderschutzgesetz hilft dabei entscheidend. Wir ha- Wege stehen, weil die Finanzierung nur eine Anschubfi- (C)
ben lange diskutiert, wir haben mit vielen diskutiert, wir nanzierung darstellt. Sie sagen richtigerweise: Natürlich
haben das erarbeitet, auch im Rahmen eines Runden Ti- müssen dort alle Ebenen Verantwortung mittragen und
sches. Ich glaube, dass der Gesetzentwurf eine gute die Maßnahmen mitfinanzieren. – Es wäre nur wün-
Grundlage bildet, um sich, wenn guter Wille da ist – da- schenswert, wenn wir nicht immer nur irgendwelche An-
ran zweifele ich nicht –, parteiübergreifend und auch mit schubfinanzierungen für Modelle auf den Weg brächten,
den Ländern zu einigen. sondern von Anfang an klar wäre, wie die dauerhafte Fi-
nanzierung geregelt werden soll. Ich glaube, das sollte
Herzlichen Dank.
unser gemeinsamer Anspruch sein. 30 Millionen Euro
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie jährlich über vier Jahre, also 120 Millionen Euro insge-
bei Abgeordneten der SPD) samt, reichen nicht aus. Hinsichtlich der Finanzierung
muss eine Einigung mit den Ländern und Kommunen er-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: zielt werden. Man muss ganz klar sagen: Da es über die
Das Wort hat nun Dagmar Ziegler für die SPD-Frak- Finanzierung derzeit keine Einigung gibt, haben SPD-
tion. wie unionsgeführte Länder dieses Vorhaben im Bundes-
rat erst einmal abgelehnt und in einem ersten Schritt die
(Beifall bei der SPD) Verlängerung der normalen Hebammentätigkeit auf
sechs Monate gefordert. Das ist verständlich. Wir haben
Dagmar Ziegler (SPD): jetzt ausreichend Zeit, aber auch die Pflicht, eine Eini-
Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine lieben Kolle- gung darüber zu erzielen, wie die Finanzierung dauer-
ginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Staatssekretär, haft gesichert werden kann.
von diesem Haus, von uns gemeinsam, herzlichen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Glückwunsch an die Ministerin zur Geburt ihrer Toch- DIE GRÜNEN)
ter!
Die Länder und Kommunen werden mit der An-
(Beifall) schlussfinanzierung überfordert sein. Derartige Situatio-
– Zu der Geburt der Tochter Ihrer Ministerin, um das nen haben sie schon mehrfach durchlebt und durchlitten.
korrekt auszudrücken. Ich darf an die Mehrgenerationenhäuser erinnern. Frau
von der Leyen ist durch das Land gezogen und hat sich
(Heiterkeit – Markus Grübel [CDU/CSU]: Er für die Etablierung der Mehrgenerationenhäuser, die
guckt aber stolz wie der Opa! – Caren Marks sinnvoll sind, feiern lassen. Wir wissen aber alle, dass
[SPD]: So viel Zeit muss sein!) die dauerhafte Finanzierung aller Mehrgenerationenhäu-
(B) (D)
Die Rede des Staatssekretärs könnte vermuten lassen, ser nicht gesichert ist.
dass die konsensuale Atmosphäre, die wir heute bereits (Markus Grübel [CDU/CSU]: Das Problem ist
beim ersten Tagesordnungspunkt gespürt haben, sich doch gelöst!)
hier fortsetzen könnte. Ich darf Ihnen versichern: Das ist
im Grundsatz auch so. Wir haben wirklich gemeinsam Deshalb sage ich immer: Das Modellhafte muss aufhö-
das Ziel, dass Kinder und Jugendliche gut, gesund und ren. Bei einem Gesetzentwurf muss klar sein, wie die Fi-
sicher aufwachsen. Aber es liegt natürlich noch eine nanzierung dauerhaft gesichert werden kann.
ganze Menge Arbeit vor uns. Ich freue mich, dass der
(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie
Staatssekretär ausdrücklich gesagt hat, welchen qualita-
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
tiven Sprung dieser Entwurf gegenüber den letzten be-
GRÜNEN)
deutet, und er Bereitschaft signalisiert hat, im parlamen-
tarischen Verfahren einige Änderungen möglicherweise Richtigerweise sehen Sie bessere frühe Hilfen und
gemeinsam vorzunehmen. eine bessere Information von Eltern, zum Beispiel in
Form von Elterngesprächen, vor. All dies haben Sie auf-
Der Entwurf weist in die richtige Richtung. Er hat zu
genommen. Von wem das umgesetzt wird, ist klar: von
einem Teil den Schutz, aber zu einem anderen Teil auch
den Kommunen. Die Kommunen müssen zusätzliches
die Prävention zum Inhalt. Die Prävention war der
Personal zur Verfügung stellen, um diese Aufgabe erfül-
Punkt, an dem es damals in der Bundestagsfraktion der
len zu können; denn die Jugendämter sind schon mit ih-
SPD gescheitert ist: Der präventive Charakter war im
ren jetzigen Aufgaben voll ausgelastet und haben keine
Gesetzentwurf von Frau von der Leyen nicht ausrei-
freien Kapazitäten. Deshalb müssen wir uns gemeinsam
chend verankert. Insofern muss ich ausdrücklich sagen:
Gedanken darüber machen, wie das Vorhaben umgesetzt
Hier gab es einen Qualitätssprung. Wir sind sehr dankbar
werden kann und wo das Geld dafür herkommt.
dafür, dass Sie diese Anregungen aufgenommen haben.
Die Kommunen haben darüber hinaus die Pflicht, bis
(Beifall bei der SPD)
2013 den gesetzlichen Anspruch auf einen Kitaplatz zu
Es ist auch richtig, dass der verstärkte Einsatz von Fa- erfüllen. Es müssen Zigtausend zusätzliche Plätze ge-
milienhebammen von Ihnen im Entwurf verankert wor- schaffen werden. Der von uns geforderte Kindergipfel
den ist. Natürlich haben Familienhebammen den besten hat nicht stattgefunden. Wir sagen: Bitte setzt euch mit
Zugang zu Familien. Sie genießen Vertrauen und können Vertretern aller Ebenen zusammen, um die Finanzierung
deshalb auch die Brücke zur Kinder- und Jugendhilfe zu regeln. Es ist immer wieder das gleiche Thema: Die
aufbauen. Aber hier bleiben Sie tatsächlich auf halbem Finanzierung muss gesichert sein.
13696 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011

Dagmar Ziegler
(A) Wir halten den Weg über das Bundeskinderschutzge- (Caren Marks [SPD]: Nein! Das haben Sie (C)
setz für richtig. Wir appellieren eindringlich an Sie, die falsch gelesen!)
Finanzierungsfrage gemeinsam mit den Ländern, den
Kommunen und den Bundestagsfraktionen zu lösen. Ein Wenn ich jetzt andere Stimmen vernehmen kann, freue
letzter Appell: Solange es auf allen Ebenen, auf Bundes-, ich mich sehr;
Landes- und kommunaler Ebene, einen so enormen (Markus Grübel [CDU/CSU]: Lassen Sie ein-
Handlungsbedarf gibt und solange jeder sagt: „Wir brau- mal Frau Marks reden! Dann ist alles klar!)
chen Geld für sinnvollen Kinderschutz“, so lange sparen
Sie sich bitte Diskussionen über Steuerentlastungen. denn ich bin der Meinung, dass wir das Kinderschutzge-
setz fraktionsübergreifend angehen sollten. Ich werbe für
Vielen Dank.
eine breite Zustimmung. Frau Rupprecht hat im letzten
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Jahr gesagt:
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN) Einen besseren Kinderschutz gibt es nicht zum
Nulltarif.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das stimmt. Jetzt höre ich aber, dass wir von Bundes-
Das Wort hat nun Miriam Gruß für die FDP-Fraktion. ratsseite, von den Ländern, keine Zustimmung bekom-
men, weil es Geld kosten wird. Das ist widersprüchlich.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) (Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Ich
bin nicht für den Bundesrat verantwortlich!)
Miriam Gruß (FDP):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Passen Sie auf, dass Sie sich nicht in Widersprüche ver-
Damen und Herren! Ich bin der Meinung, dass dieses stricken. Wir jedenfalls sind der Meinung: Wir brauchen
Gesetz ein Meilenstein für den Kinderschutz in Deutsch- die Zustimmung von Bundestag und Bundesrat für einen
land ist. Wir sind uns, glaube ich, alle einig, dass kaum besseren Kinderschutz.
ein Thema ernster ist als das Thema „Kindesvernachläs- Mit dem hier vorgelegten Gesetzentwurf wird eine
sigung, Kindesmisshandlung und Kindstötung“. Sollverpflichtung für die Bereitstellung Früher Hilfen im
Von 1998 bis 2009 starben jährlich mehr als SGB VIII festgeschrieben. Alle Akteure im Kinder-
50 Kinder durch einen tätlichen Angriff. Die Zahl der schutz, zum Beispiel Jugendämter, Krankenhäuser,
Fälle der Misshandlung Schutzbefohlener hat sich in den Ärzte, Schwangerschaftsberatungsstellen und Polizei,
(B) letzten zehn Jahren auf 4,4 Fälle pro 10 000 Kinder er- werden sich vernetzen. Wir schaffen ein Kooperations- (D)
höht. Die Zahl der Sorgerechtsentzüge ist von 2005 bis netzwerk. Es gibt beispielsweise in Bayern eine Koordi-
2009 um 40 Prozent gestiegen. Wenn es so weit kommt, nierungsstelle „Frühe Hilfen“ mit Sitz in Erlangen. Auf-
ist es allerdings meist schon zu spät. Das zeigt: Das Si- grund des großen Erfolgs dieser Koordinierungsstelle
cherheitsnetz für Kinder war bisher zu grob gestrickt. Es wurde das Modellprojekt mittlerweile verstetigt.
ist daher aus Sicht der FDP-Fraktion sehr wichtig, dass Es wird eine Stärkung der Kooperation im Einzelfall
in diesem Gesetzentwurf die Prävention eine größere geben: eine bundeseinheitliche Regelung zur Weitergabe
Rolle spielt, und deshalb haben wir in der letzten Legis- von Informationen an das Jugendamt bei Verdacht auf
laturperiode, in der Opposition, den von Frau von der Kindeswohlgefährdung. Dadurch schaffen wir Rechts-
Leyen vorgestellten Gesetzentwurf abgelehnt. Beides sicherheit für Berufsgeheimnisträger wie Ärzte, Hebam-
gehört zusammen: Prävention und Intervention. Das war men, Sozialarbeiter und Lehrer. Außerdem soll es eine
uns von der FDP-Fraktion ganz besonders wichtig. Informationspflicht gegenüber werdenden Eltern über
(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Ingrid das örtliche Leistungsangebot geben. All das zeigt: Wir
Fischbach [CDU/CSU]) weben ein Sicherheitsnetz, durch das kein Kind mehr
fallen soll.
Der vorliegende Gesetzentwurf beinhaltet eine Präzi-
sierung und eine Beseitigung offensichtlicher Unrichtig- Ein zentraler Aspekt ist die Einführung von Familien-
keiten des letzten Entwurfs. Die Prävention, die Frühen hebammen; dies ist uns als FDP ganz besonders wichtig.
Hilfen und die Schaffung eines dichten Hilfsnetzwerks Sie haben eine Schlüsselfunktion als Lotsen für Fami-
sind essenziell. Ich kann nicht verstehen, warum die lien. Sie helfen, die Weichen für eine erfolgreiche und
SPD diesem Gesetzentwurf nicht zustimmt. liebevolle Eltern-Kind-Beziehung zu stellen und damit
den Grundstein für eine gute Bindung zu legen. Das Mo-
(Dagmar Ziegler [SPD]: Sie haben es doch ge-
dellprojekt des Bundes über vier Jahre halte ich für rich-
rade erst eingebracht!)
tig. Familienhebammen haben gegenüber normalen
Sie fordern selbst ein Kinderschutzgesetz. Hebammen eine sozialpädagogische Zusatzausbildung;
das ist uns wichtig. Es ist uns unverständlich, warum der
(Dagmar Ziegler [SPD]: Sie haben nicht zuge-
Bundesrat das Modellprojekt ablehnt; ich vermute, weil
hört!)
die Länder nach vier Jahren nicht die Kosten tragen wol-
– Ich habe Ihnen zugehört, aber der Presse konnte man len. Aber es ist ein Schritt in die richtige Richtung. Des-
entnehmen, dass sich zum Beispiel Frau Rupprecht und wegen setze ich mich nach wie vor für die Einführung
Frau Schwesig sehr zurückhaltend geäußert haben. von Familienhebammen ein.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13697
Miriam Gruß
(A) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie (C)
der CDU/CSU) der Abg. Ingrid Fischbach [CDU/CSU])
Frühe Hilfen setzen an einem sensiblen Punkt an. Da- An den Entwurf des Bundeskinderschutzgesetzes sind
her muss geschultes Personal zum Einsatz kommen. Im hohe Erwartungen geknüpft – nicht allein deshalb, weil
Gesetzentwurf ist vorgesehen, dass es für die Betriebs- der Vorgängerentwurf gescheitert ist, sondern auch auf-
erlaubnis eine Qualitätsentwicklung und -sicherung so- grund der Debatte, die seitdem stattgefunden hat. Nach
wie verbindliche Standards gibt. Mir ist unverständlich, dem öffentlichen Bekanntwerden der Vorfälle von se-
warum der Bundesrat auch diesen Punkt ablehnt; denn xualisierter Gewalt gegenüber Kindern in kirchlichen
dies ist ein Ergebnis des Runden Tisches „Sexueller Kin- Einrichtungen hat es eine große Debatte darüber in der
desmissbrauch“. Qualitätsstandards und Qualitätssiche- Öffentlichkeit gegeben. Ein Runder Tisch ist eingesetzt
rung sind essenziell. Das Rote Kreuz und andere Ver- worden, eine unabhängige Beauftragte ist ernannt wor-
bände begrüßen diesen Aspekt ausdrücklich. Auch im den, und die Ergebnisse des Runden Tisches wie auch
Koalitionsvertrag ist vereinbart, die Qualität der Kinder- der Abschlussbericht der unabhängigen Beauftragten ha-
und Jugendhilfe weiterzuentwickeln. ben das Ausmaß der Defizite bei Hilfs-, Beratungs- und
Präventionsangeboten erst deutlich gemacht. Genau des-
Der Gesetzentwurf stellt eine Qualitätssteigerung im
halb habe ich die Hoffnung, dass wir hier ein Gesetz auf
Vergleich zu dem vorherigen Entwurf dar; aber wir müs-
den Weg bringen, das den Kindern tatsächlich hilft und
sen darauf achten, dass das Gesetz nicht nur auf dem Pa-
in der Realität Bestand hat.
pier gut aussieht, sondern auch finanziert und von den
Kommunen umgesetzt werden kann. Die Finanzausstat- Die Erfahrung zeigt leider, dass dieses Haus dazu in
tung der Jugendämter ist essenziell und uns ein wichti- der Lage ist, Gesetze für Kinder zu beschließen, die in
ges Anliegen. Das beste Gesetz hilft nicht, wenn die Ju- der Realität keinen Bestand haben und den Kindern nicht
gendämter es nicht umsetzen können. Wir müssen noch helfen. Ich erinnere daran, dass die Bundesarbeitsminis-
entsprechende Gespräche führen, um es weiter voranzu- terin in dieser Woche einen Runden Tisch einberufen
treiben. Jeder effektive Euro in der Prävention spart uns hat, um sich mit dem vermurksten Bildungs- und Teil-
später eine Menge Geld. Deshalb müssen wir hier voran- habepaket zu befassen. Erst 30 Prozent der Berechtigten
kommen. haben Anträge gestellt. Das heißt im Umkehrschluss: An
Wir spannen hier ein Sicherheitsnetz für Kinder, das 70 Prozent der Kinder geht diese Leistung immer noch
meines Erachtens gut ist und qualitativ die Regelungen vorbei; ihr verfassungsgemäßer Anspruch auf Bildung
des ursprünglichen Gesetzentwurfs um einiges über- und gesellschaftliche Teilhabe wird also noch nicht um-
steigt. Ich freue mich, wenn ich hier heute in den Reden gesetzt. Deshalb habe ich die große Hoffnung, dass wir
(B) von der SPD, aber auch von den Grünen breite Zustim- hier ein Gesetz beschließen, bei dem ein solcher Fehler (D)
mung signalisiert bekomme. nicht auftritt.

(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Ich habe (Beifall bei der LINKEN und der SPD)
doch noch gar nicht geredet!)
Zunächst einmal möchte ich positiv anmerken, dass
Ich bin der Meinung: Kinderschutz geht uns alle an. Ein die Zusammenarbeit bzw. Abstimmung mit den Verbän-
Bundeskinderschutzgesetz erfordert die breite Unterstüt- den, Vereinen und Initiativen viel besser funktioniert hat
zung aller Parlamentarierinnen und Parlamentarier. als bei der Erarbeitung des vorangegangenen Entwurfs.
Das zeigen auch die positiven Kommentare in den Stel-
Vielen Dank. lungnahmen der Verbände. Ich hätte mir natürlich ge-
wünscht, dass ich als Parlamentarierin nicht Stellung-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) nahmen zu einem Gesetzentwurf bekomme, der mir
noch gar nicht offiziell vorlag, aber so ist es nun einmal.

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich habe mir den nun vorliegenden Gesetzentwurf, als
Das Wort hat nun Diana Golze für die Fraktion Die er offiziell zugestellt wurde, angeschaut. Ich finde es
Linke. richtig, dass zum Beispiel der verpflichtende Charakter
der Vorsorgeuntersuchungen oder auch der Hausbesu-
(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Ekin che, wie er im ersten Entwurf enthalten war, nun nicht
Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) mehr im Gesetz stehen soll. Es ist richtig, dass man hier
nachgebessert hat. Ich denke aber, dass wir – das ist bei
Diana Golze (DIE LINKE): der Rede von Frau Ziegler schon deutlich geworden –
auch an anderen Stellen noch nachbessern müssen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Ich möchte mich den Glückwünschen Ich beginne einmal mit dem Grundsätzlichen. In
an die Ministerin anschließen. Ich wünsche ihr, ihrer Fa- Art. 6 Grundgesetz heißt es:
milie und vor allem ihrem Kind, dass sie in allen Lebens-
lagen die Unterstützung finden, die sie brauchen – ge- Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürli-
nauso, wie ich es natürlich allen Angestellten, Hartz-IV- che Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen ob-
Empfängerinnen und allen Menschen in diesem Lande liegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die
wünsche. staatliche Gemeinschaft.
13698 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011

Diana Golze
(A) Diese Sätze haben nun auch Eingang in das Bundes- rum nur für 5 bis 10 Prozent der Eltern? Warum wird (C)
kinderschutzgesetz gefunden. Als Mutter von zwei Kin- hier wieder stigmatisiert?
dern sage ich: Natürlich haben die Eltern die Pflicht und
ist es ihre Aufgabe, ihre Kinder zu erziehen und für ihr (Caren Marks [SPD]: Genau!)
Wohl zu sorgen. Aber darin liegt auch ein Problem, das Es sollte nicht heißen: „Guck mal, zur Familie von ge-
sich in diesem Gesetz widerspiegelt: Wenn wir die Kin- genüber kommt immer noch eine Hebamme“, sondern es
der- und Jugendhilfe nicht endlich auch als verpflichtende sollte heißen: „Warum nimmt die Familie dieses Ange-
Aufgabe des Staates statt nur als freiwillige Selbstver- bot eigentlich noch nicht wahr? Es ist doch ein gutes An-
pflichtung oder gar als Bonusprogramm oder Katastro- gebot.“
phenhilfe, wenn die Eltern scheitern, begreifen, dann
haben wir immer noch nicht verstanden, dass das Kindes- (Beifall bei der LINKEN und der SPD)
wohl an erster Stelle stehen muss. Warum also wieder diese Einschränkung?
(Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie Das Hauptproblem, das ich mit diesem Modellpro-
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE gramm habe, ist, dass es nur ein Modellprogramm ist.
GRÜNEN) Ich habe schon heute vor Augen, wie wir in vier Jahren
wieder herumlavieren werden, genauso wie beim Ak-
Ich sage es hier zum wiederholte Male: Wer es mit tionsprogramm Mehrgenerationenhäuser, beim Schul-
dem Kinderschutz ernst meint, der muss Kinder ernst verweigererprogramm und bei den Programmen gegen
nehmen, und wer Kinder ernst nimmt, der muss ihnen Rechtsextremismus. Wir alle werden dann sagen: Es ist
Rechte geben. Deshalb gehören die Kinderrechte auf ganz prima, was da gemacht wurde; wir brauchen dieses
Schutz, Förderung und Beteiligung in das Grundgesetz. Programm unbedingt auch in Zukunft. – Wir wissen
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem schon heute, dass dieser Bedarf in vier Jahren noch vor-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) handen sein wird. Deshalb sage ich: Lassen Sie uns
schon heute im Gesetz eine Regelung treffen, die eine
Dass die Kinderrechte immer noch nicht Eingang in das dauerhafte Finanzierung und ein flächendeckendes An-
Grundgesetz gefunden haben, hat sich am Runden Tisch gebot für alle Familien sicherstellt.
als Problem herausgestellt. Im Gesetzentwurf findet sich
ein Rechtsanspruch auf Beratung für Kinder und Jugend- (Beifall bei der LINKEN und der SPD)
liche. Aber dieser Rechtsanspruch ist eingeschränkt; er Meine Damen und Herren, neben der Frage des unab-
gilt nur in Not- und Krisensituationen. Woher soll eine hängigen Rechtsanspruchs und dem Modellprogramm
Siebenjährige oder auch ein Zehnjähriger wissen, wann Familienhebammen möchte ich ein weiteres Thema an-
(B) sie oder er sich in einer Not- und Krisensituation befin- sprechen. Wir brauchen ein Kinderschutzgesetz, das (D)
det und ohne Wissen der Eltern eine Beratung aufsuchen wirklich allen Kindern hilft. Nach der UN-Kinderrechts-
darf? Erst dann, wenn das Kind zu Hause geschlagen konvention sind alle Menschen unter 18 Jahren Kinder.
wird, oder bereits dann, wenn es sich mit dem Zeugnis Ich habe aber den Eindruck, dass dieses Gesetz Eltern
nicht nach Hause traut? Wo wird dieser Begriff kindge- und Kindern, die dem Kleinkindalter entwachsen sind,
recht erklärt? Wo wird den Kindern gesagt, wie eine sol- nur relativ wenige Angebote macht. Eigentlich be-
che Beratung abläuft und wer sie durchführt? schränken sie sich auf die von Herrn Staatssekretär Kues
angesprochenen erweiterten Führungszeugnisse. Das ist
Vor wenigen Tagen war die Kinderkommission des ein Problem.
Deutschen Bundestages in Norwegen. Dort wurde ein
flächendeckendes Netz von Beratungs- und Fachzentren Was die erweiterten Führungszeugnisse angeht,
aufgebaut, das allen Familien – nicht nur den sogenann- möchte ich konkret auf die Praxis zu sprechen kommen.
ten Problemfamilien – zur Verfügung steht. Es wird von Die Basketballerinnen meines Lieblingsbasketballver-
über 90 Prozent der Familien in Anspruch genommen. eins, der Red Eagles Rathenow, treffen sich, wenn
Genau so ein Netz wünsche ich mir auch für Deutsch- Punktspielbetrieb ist, frühmorgens gegen 7 Uhr, um zu
land. ihren Turnieren zu fahren. Wenn dann ein Anruf kommt,
dass einer der Betreuer, die vom Verein gestellt werden,
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem ausfällt, dann ist das im Moment überhaupt kein Pro-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) blem, weil dann der Vater von Sarah oder die Mutter von
Dazu müssen wir den Weg hin zu einem – ich nenne es Ina sagt: Laden wir mein Auto voll. Ich bringe die Kin-
einmal so – kooperierenden Föderalismus gehen. Es darf der dorthin und betreue sie den Tag über. Ich habe heute
nicht so sein, dass jeder sagt: Dafür bin ich nicht zustän- Zeit. – Wir wissen nicht, wie das in Zukunft laufen soll.
dig. – Wir müssen einen Weg finden, wie ein solches Hier müssen wir den Vereinen Sicherheit geben.
Netz finanziert werden kann. Wir dürfen Länder und (Iris Gleicke [SPD]: Das ist wohl wahr!)
Kommunen damit nicht alleinlassen.
Ich finde richtig, was Sie, Herr Dr. Kues, gesagt ha-
Damit bin ich bei dem von Frau Ziegler schon ange- ben: Man darf nicht pauschal von allen Ehrenamtlichen
sprochenen Modellprogramm Familienhebammen. Ich ein erweitertes Führungszeugnis fordern. Aber wir müs-
habe kein Problem mit diesem Angebot; ich finde es gut. sen den Ländern einen Rahmen setzen. Wir dürfen nicht
Die Kinderkommission hat dazu Anhörungen durchge- zulassen, dass vor Ort ein Flickenteppich unterschiedli-
führt. Auch wir schlagen dieses Vorgehen vor. Aber wa- cher Vereinbarungen der örtlichen Träger entsteht, was
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13699
Diana Golze
(A) dazu führt, dass am Ende niemand weiß, was geschieht. In der Sache muss man aber doch zu ein paar Punkten (C)
Ich kann das Bedürfnis nach Sicherheit und Absicherung Anmerkungen machen, auch kritischer Art. Wie sich üb-
verstehen. Aber wir müssen dafür sorgen, dass die Rege- rigens die Grünen schlussendlich verhalten werden, wird
lungen, die getroffen werden, für die Vereine und die davon abhängen, was am Ende des Verfahrens vorgelegt
Träger vor Ort umsetzbar sind. wird.
(Beifall bei der LINKEN und der SPD) Erstens. Kinderschutz ist in der Tat nicht zum Nullta-
rif zu haben. Das ist eine wahre Aussage, Frau Gruß.
Zum Schluss. Jörg Maywald, einer der Sprecher der Man kann es drehen und wenden, wie man will: Kinder-
National Coalition, hat auf einer Veranstaltung einen schutz kostet Geld. Deshalb ist es eigentlich nicht nach-
sehr einprägsamen Satz gesagt: Das Gegenteil von Recht vollziehbar, warum in diesem Gesetzentwurf Kostenfol-
ist nicht Pflicht, sondern Unrecht. – Das Gegenteil der gen genannt, aber nicht nachvollziehbar erläutert sind.
Pflicht der Eltern zur Erziehung sind also nicht Kinder- Auch vom Bundesrat gibt es diese Kritik. Ich finde auch
rechte, sondern ist Unrecht an Kindern. Ich hoffe, dass richtig, darüber zu diskutieren, dass wir nicht nur etwas
wir es schaffen, in den bevorstehenden Beratungen im wollen, sondern wie die konkrete Umsetzung bewerk-
Ausschuss, in der Anhörung und in der Auseinanderset- stelligt werden soll. Daher müssen wir diese Bedenken
zung mit den Sachverständigen zu einer Lösung zu kom- berücksichtigen. Im gleichen Atemzug kritisiere ich aber
men, die den Kindern Rechte einräumt und die Kinder in auch die Kommunen und die Länder. Fehlende Berech-
der Praxis schützt. Ich freue mich auf diese Auseinan- nungen zu bemängeln, ist das eine. Ich wünschte mir auf
dersetzung und auf diese Diskussion und kann Ihnen un- der anderen Seite aber auch Zahlen von Länderseite, also
sere kritische Begleitung zusichern. dezidierte Kostenschätzungen in Bezug darauf, wie man
das Ganze umsetzen kann. Ein gegenseitiges Pingpong-
Vielen Dank. spiel, bei dem es um die Frage geht, wer es schlechter
(Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie macht, bringt uns an diesem Punkt nicht weiter.
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
GRÜNEN) sowie der Abg. Iris Gleicke [SPD])
Zweitens. Das Bundesgesundheitsministerium hat
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: sich leider bisher aus der gesamten Debatte komplett he-
Das Wort hat nun Ekin Deligöz für die Fraktion rausgehalten. Ich halte das für einen wirklich dramati-
Bündnis 90/Die Grünen. schen Fehler. Wir reden über Schnittstellenprobleme und
über ein Netzwerk im Sinne des Schutzes der Kinder.
(B) Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir reden darüber, dass die Mitarbeiter von Jugendäm- (D)
tern und Gesundheitseinrichtungen miteinander vernetzt
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
zusammenarbeiten sollen. Aber die Politik bzw. die Re-
Gestern hat UNICEF einen Bericht zur Lage der Kinder
gierung führt ihnen gerade vor, dass es auf unserer
in Deutschland herausgegeben. In ihm stehen ein paar
Ebene überhaupt nicht funktioniert.
Zahlen, die uns aufschrecken sollten: 33 700 Kinder
wurden im Jahre 2009 wegen schwieriger Familienver- (Dagmar Ziegler [SPD]: Ja! Das stimmt!)
hältnisse in Obhut genommen. Das waren gegenüber
dem Jahr 2004 30 Prozent mehr. 26 Prozent der Kinder, Das kann nicht sein. Es ist nicht glaubwürdig. Wir müs-
die beim Kindernottelefon anrufen, machen das, weil sie sen an diesem Punkt zusammenarbeiten. Da ist der Ge-
sich von häuslicher Gewalt bzw. schweren körperlichen sundheitsminister gefragt. Ich bedaure sehr, dass das Ge-
Misshandlungen bedroht oder betroffen fühlen. Schlim- sundheitsministerium in Bezug auf diesen Punkt so
mer noch: Im Jahre 2009 wurden in Deutschland ignorant ist. Das wird übrigens auch der größte Kritik-
152 Kinder getötet, davon waren 126 unter sechs Jahre punkt vonseiten der Experten sein.
alt. Das sind Zahlen, die uns jeden Tag von neuem dazu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
verpflichten, über Kinderschutz in Deutschland zu reden und bei der SPD)
sowie in den Strukturen immer noch besser zu werden.
In diesem Sinne wird es wirklich Zeit, dass wir endlich Ich komme jetzt zu dem Hauptpunkt, über den alle re-
hier im Bundestag auch über dieses Thema diskutieren. den, nämlich zu den Familienhebammen. Ja, wir brau-
chen die Familienhebammen. Sie leisten wirklich gute
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Arbeit. Wir brauchen auf diesem Gebiet übrigens auch
keine Projekte mehr. Es gibt dazu ausreichend Erkennt-
Ich bin, ehrlich gesagt, froh darüber, dass der Geset- nisse. Wir wissen, was die Familienhebammen leisten;
zesvorschlag der Großen Koalition von 2009 keinen Be- es wurde viel über sie gesagt. Auch wir Grünen haben
stand mehr hat, weil es massive berechtigte Kritik gab. bereits in der letzten Wahlperiode einen Antrag dazu ein-
Die Regierung hat jetzt eine Vorlage erstellt, die sie nach gebracht. Ich halte an diesem Thema fest. Im Hinblick
Konsultation der Fachverbände erarbeitet hat und in die darauf gibt es aber – wie sehr ich Sie auch schätze – ei-
auch die Initiativen des Runden Tisches Eingang gefun- nen Dissens zwischen uns, Frau Golze.
den haben. Darin sind gute Ansätze enthalten. Auch der
Bundesrat wurde bereits im Vorfeld im Sinne eines ge- Wir brauchen flächendeckende Angebote für Fami-
meinsamen Bündnisses einbezogen. Von daher kann man lien in besonderen Verhältnissen. Für diese Familien be-
das Verfahren nicht kritisieren. nötigen wir zielspezifische Angebote, mit denen genau
13700 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011

Ekin Deligöz
(A) auf sie eingegangen werden kann. Wir brauchen sie gen. Als einheitliche Bundesnorm gäbe es dann auch (C)
möglichst dringend und möglichst bald. Natürlich will ausreichend Klarheit für die Aus- und Fortbildung und
auch ich die Welt verbessern, aber ich will zunächst mit die Praxis. Für uns ist es aber ein Tabu bzw. ein No-go,
dem ersten Schritt anfangen. Dafür brauchen wir das dieses Vertrauen zu zerstören oder eventuell 16 verschie-
Modell Familienhebammen. Ich kritisiere aber, dass es dene Regelungen in der Nation zu schaffen.
tatsächlich nur ein Projekt ist, das zeitlich befristet ist.
(Michaela Noll [CDU/CSU]: Genau! Darauf
Das ist nicht nachhaltig und wird vom Bundesrat zu
läuft es hinaus!)
Recht kritisiert. Die Frage ist: Wie geht es weiter, wenn
es kein Geld mehr gibt, obwohl wir alle wissen, dass wir Dann weiß am Ende nämlich keiner mehr, wie es in den
die Familienhebammen brauchen? An diesem Punkt jeweiligen Bundesländern aussieht. Halten Sie deshalb
müssen Sie nacharbeiten. Ich würde es für einen Fehler an Ihrer Position fest.
halten, wenn es am Ende hieße: „Wir machen im Bereich
der Familienhebammen überhaupt nichts mehr“, so wie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
darüber zurzeit im Bundesrat debattiert wird. Damit sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg.
würde wirklich ein Kernbereich aus diesem Vorhaben Diana Golze [DIE LINKE])
herausbrechen. Dieser Punkt eignet sich nicht für den Kinderschutz geht uns alle an. Das hat auch sehr viel
Vermittlungsausschuss. Wir sollten da an einem Strang mit Kinderrechten zu tun; das ist richtig. Die Regelun-
ziehen und auch im Sinne der Familien in besonderen gen zum Kinderschutz sagen sehr viel darüber aus, in
Umständen gemeinsam daran arbeiten. welcher Gesellschaft wir leben und wie wir mit unseren
Kindern umgehen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie der Abg. Iris Gleicke [SPD]) Ich möchte zum Schluss noch etwas Persönliches sa-
gen. Für mich war das heute eine ganz besondere Rede,
Ein weiterer Punkt, den ich ansprechen will, betrifft da mein Sohn oben auf der Tribüne sitzt
das Qualitätsmanagement. Auch in Bezug auf das Quali-
tätsmanagement gibt es vonseiten der Länder Bedenken, (Michaela Noll [CDU/CSU]: Süß!)
die man ernst nehmen muss. Sicher muss man dabei
auch über Zeitschienen und Verfahren reden und wo- und mir zum ersten Mal in seinem Leben live im Bun-
möglich überlegen, welche Tatbestände dazu gehören destag zuhört. Eine Mutter ist natürlich aufgeregt, wenn
sollen. Das freiwillig, also ohne gesetzliche Verpflich- er da oben sitzt und sie ausgerechnet zum Thema Kin-
derschutz reden hört. Ich bin sehr stolz auf meinen Sohn;
tung, auszugestalten, halte ich aber für falsch. Dann wür-
das möchte ich hier sagen. Ich weiß, dass die Kinder von
den wir sagen: Wir halten Qualität zwar für wichtig, und
(B) auch der Runde Tisch hat in allen Sitzungen mehrfach Politikern – so geht es allen meinen Kollegen – sehr viel (D)
entbehren müssen. Wir sind viel unterwegs, und das tut
gesagt, wie wichtig Qualitätsmanagement ist; aber wir
uns immer leid. Ich werde das nicht wiedergutmachen
überlassen das denen, die ohnehin engagiert sind. Das
können; aber meine Zuversicht und meine Kraft schöpfe
wäre zu wenig. Wenn wir wirklich wollen, dass sich im
ich auch aus meinen beiden Kindern. Sinan, du sollst
Sinne der Kinder und des Kinderschutzes etwas verän-
wissen: Wenn du mich brauchst, werde ich immer für
dert, dann müssen wir mehr Verbindlichkeit herstellen.
dich da sein. Damit wirklich jedes Kind, das im Leben
Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat einen Vorschlag
alleine ist, jemanden hat, der für es da ist,
gemacht, an dem wir uns orientieren könnten. Wir soll-
ten Verbindlichkeiten schaffen; es sollte kein freiwilliges (Michaela Noll [CDU/CSU]: Genau! Das wäre
Add-on werden, nach dem Motto: Wer es will, macht es, schön!)
und wer es nicht will, macht es nicht. Wir stehen den
Kindern gegenüber in der Verantwortung. Wir sollten dafür arbeiten, kämpfen und zanken wir. Das ist das Ziel
nicht nur darüber reden, dass wir für sie Einrichtungen der Gesellschaft, in der ich will, dass du aufwächst,
schaffen, sondern wir sollten darüber reden, dass wir für Sinan.
sie gute Einrichtungen schaffen. Danke schön.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der CDU/CSU, der SPD, und der FDP so-
Ein für die Grünen sehr wichtiger Punkt betrifft die wie bei Abgeordneten der LINKEN –
Meldepflichten für Geheimnisträger. Der Bundesrat hat Michaela Noll [CDU/CSU]: Das war ein sehr
vorgeschlagen, diese Regelung den Ländern zu überlas- schöner Abschluss!)
sen. Sie von der Regierung haben dem eine Absage er-
teilt. Halten Sie bitte an dieser Absage fest! Hier geht es
um das Vertrauen der Patienten, also der Eltern und Kin- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
der, zum Arzt. Dieses Vertrauen dürfen wir nicht ver- Dann wollen wir einmal hoffen, dass unsere Debatte
spielen. Ansonsten werden sie sich womöglich nicht keine abschreckende, sondern eine einladende Wirkung
mehr an die vertrauensvollen Stellen wenden. Dann hat.
kommen wir womöglich an die Kinder, die Jugendlichen (Heiterkeit)
und die Eltern nicht mehr heran. Das wäre ein Fehler
und hätte verheerende Konsequenzen. Sie haben mit der Ich erteile das Wort der Kollegin Ingrid Fischbach für
Befugnisnorm ein vernünftiges Verfahren vorgeschla- die CDU/CSU-Fraktion.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13701

(A) Ingrid Fischbach (CDU/CSU): Wir wissen auch, dass Frauen teilweise schon in der (C)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schwangerschaft Probleme haben. Deshalb war es wichtig,
Herr Präsident, Sie haben das gesagt, als ich zum Mikro- im Rahmen dieses Gesetzentwurfs den Rechtsanspruch auf
fon gegangen bin. Ich hoffe, das hat nichts mit meiner eine anonyme Beratung während der Schwangerschaft
Person, sondern mit der vorhergehenden Rede zu tun. einzuführen. Wir wollen im Schwangerschaftskonfliktbe-
ratungsgesetz einen Rechtsanspruch festschreiben; denn
(Heiterkeit) wir wissen: Schwangerschaften verlaufen unterschied-
lich, und wenn Frauen merken, dass sie Schwierigkeiten
Ich glaube, da sind wir uns alle einig – diese Einigkeit haben, dann müssen sie auf Angebote zurückgreifen kön-
spiegelte sich auch in der bisherigen Diskussion wider –: nen, die ihnen helfen, nach der Geburt mit dem Kind leben
Wir wollen, dass unsere Kinder geschützt werden. Wir und ihm geben zu können, was es braucht, nämlich Liebe
wollen, dass sie liebevoll und behutsam aufwachsen, und Zuneigung.
dass sie das Leben genießen können und dass sie auf die
Dinge, die im Leben noch kommen und die schwer ge- Wir haben die Familienhebammen im Blick. Im Un-
nug sein werden, vorbereitet sind. In der Jugend sollen terschied zu den anderen Hebammen haben die Fami-
sie aber die Möglichkeit haben, geschützt aufzuwachsen. lienhebammen eine Zusatzqualifikation. Deshalb sind
Deswegen freue ich mich, dass heute ein Gesetzentwurf sie uns so wichtig. Man kann über alles reden, aber man
vorliegt, in dem die Fehler der Vergangenheit aufgear- kann die Länder nicht ganz außen vor lassen. Ich kann
beitet worden sind. mich sehr gut an die Diskussionen erinnern, die wir im
Rahmen der Föderalismusreform geführt haben. Es ging
Wir haben in der letzten Legislaturperiode den Ver- um die Zuständigkeiten im SGB VIII. Es gab große Be-
such unternommen, ein Kinderschutzgesetz auf den Weg lange der Länder, zuständig zu sein, also uns die Kompe-
zu bringen. Wir haben erkannt, dass die Vorgehensweise tenzen wegzunehmen. Aber so geht es nicht: Auf der ei-
nicht ganz korrekt war. Wir hatten nicht alle Beteiligten nen Seite wollen sie Kompetenzen haben. Wenn aber auf
so früh eingebunden, wie es nötig gewesen wäre. Das der anderen Seite diese Kompetenzen mit einer Finan-
haben wir jetzt geändert. Die Vertreter der Vereine, der zierung einhergehen, dann sagen sie: Jetzt ist der Bund
Verbände, auch der Länder und Kommunen und andere wieder dran.
Beteiligte saßen an einem Tisch und haben ihre Sicht-
weise eingebracht. Deswegen stößt der vorliegende Ge- (Beifall der Abg. Miriam Gruß [FDP])
setzentwurf auf eine breite Zustimmung. So kann man nicht miteinander umgehen.
(Beifall der Abg. Marlene Rupprecht [Tuchen- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
(B) bach] [SPD]) bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- (D)
NISSES 90/DIE GRÜNEN – Marlene
Das ist unser aller Verdienst. Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Entweder A
oder B!)
Liebe Frau Golze, es ist im parlamentarischen Verfah-
ren so, dass wir Abgeordnete erst ab der ersten Beratung Bezogen auf die Hebammen heißt das: Wir sind alle
am Verfahren beteiligt werden. Ich verspreche Ihnen: nicht dumm, wir kennen die Finanzierung. Das heißt, die
Wir werden die Zeit bis zur zweiten, dritten Beratung gesetzliche Krankenversicherung soll die Kosten über-
nutzen, um all das, was an Kritik vorhanden ist, aufzuar- nehmen, aber damit wäre der Bund wieder zuständig.
beiten und damit den Gesetzentwurf zu verbessern; denn Wir durchschauen das Spiel. Deswegen werden wir uns
ein Signal ist wichtig – da schließe ich mich der Kolle- gemeinsam zusammensetzen, um eine Lösung zu finden.
gin Deligöz an –: Wir alle wollen unsere Kinder schüt- Aber so einfach machen wir es den Ländern nicht; das
zen, und ich bin fest davon überzeugt, dass wir das mit sage ich an dieser Stelle ganz deutlich.
dem vorliegenden Gesetzentwurf schaffen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Es gibt zwei große Bereiche, die diesen Gesetzent- Im Bereich der Intervention brauchen wir Möglich-
wurf ausmachen: zum einen die Prävention, zum ande- keiten, dass diejenigen, die mit betroffenen Menschen
ren die Intervention. Dazu ist schon eine Menge gesagt arbeiten und ihnen helfen – Lehrer, Ärzte und Hebam-
worden. Zum Bereich der Prävention möchte ich kurz men –, ihre Informationen austauschen dürfen. Deswe-
darauf hinweisen, dass uns die Frühen Hilfen sehr wich- gen ist es uns wichtig, die Möglichkeit zu schaffen, dass
tig sind; denn wir wollen nicht warten, bis Kinder ver- Geheimnisträger bestimmte Informationen weitergeben
nachlässigt, misshandelt oder geschlagen werden, son- dürfen. Denn wir haben immer den Schutz des Kindes
dern wir wollen den Eltern, die Schwierigkeiten haben im Blick. Je früher wir ein Kind schützen können, desto
bzw. überfordert sind, früh genug Hilfen an die Hand ge- besser sind seine Chancen auf eine gute Entwicklung.
ben. Die Eltern müssen wissen, welche Hilfen sie be- Deswegen ist es gut, dass wir die Geheimnisträger an der
kommen können. Dazu gehört ein gutes Netzwerk all de- einen oder anderen Stelle von ihrer Schweigepflicht ent-
rer, die Angebote machen. Was nützen die besten binden.
Angebote, wenn die Betroffenen gar nicht wissen, dass
es sie gibt. Deswegen setzen wir auf ein gutes Netzwerk Frau Ziegler, Sie haben gesagt, dass die Finanzierung
und auf einheitliche Strukturen. Die Hilfsangebote müs- das große Problem sei. Ich habe das beim Thema Fami-
sen genutzt werden können, unabhängig davon, in wel- lienhebammen bereits angesprochen. Ich sage deutlich:
chem Bundesland man lebt. Der Bund müsste es nicht tun. Wir finanzieren die Fami-
13702 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011

Ingrid Fischbach
(A) lienhebammen für vier Jahre, wir sehen aber auch die (Beifall bei der SPD) (C)
Notwendigkeit, die weitere Finanzierung zu klären. Für
uns ist es deswegen wichtig, dass wir nach zwei Jahren Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD):
einen Zwischenbericht abgeben und dass wir überprü- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
fen, ob es funktioniert und wer sich an welchen Stellen Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! Alle Vorred-
einbringen muss. Hier hoffe ich wirklich auf die Unter- nerinnen haben durchgängig zum Ausdruck gebracht,
stützung aller Ebenen. Das ist nicht nur eine Bundesauf- dass das Aufwachsen von Kindern eine öffentliche Auf-
gabe, sondern das ist auch eine Länder- und kommunale gabe ist – öffentlich insofern, als wir die Rahmenbedin-
Aufgabe. Deswegen müssen wir nach dem ersten Zwi- gungen dafür schaffen müssen, dass die Eltern diese
schenbericht gemeinsam schauen, wie wir eine dauer- Aufgabe gut wahrnehmen können.
hafte Finanzierung hinbekommen. Hier gebe ich Frau
Golze recht: Das müssen wir für alle Kinder auch über Es ist ein Fortschritt im Vergleich zu früher, dass wir
2015 hinaus möglich machen. Daran werden wir ge- uns das aufwachsende Kind eben nicht mehr nur dann
meinsam arbeiten. genau anschauen, wenn es zu Tode gekommen oder sehr
stark gefährdet ist, sondern dass wir sagen: Wir müssen
(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. rechtzeitig schauen und allen Eltern und allen Kindern
Miriam Gruß [FDP]) rechtzeitig Hilfe zuteilwerden lassen. Es darf keine Dis-
Frau Ziegler hat nach den Mehrgenerationenhäusern kriminierung geben, indem man zum Beispiel sagt, das
gefragt. Auch hier haben wir ein Folgeprojekt auf den seien Hochrisikofamilien oder Familien, die diese Hilfe
Weg gebracht. Ich möchte an dieser Stelle nur einmal sa- besonders brauchen. Sie brauchen zwar besondere Hil-
gen: Als wir die Mehrgenerationenhäuser auf den Weg fen, aber sie brauchen keine Diskriminierung, indem
gebracht haben, war eigentlich allen, die dieses Projekt man sie stigmatisiert. Ich denke, das ist auf dem Weg.
angenommen haben, klar, dass das eine Anschubfinan- Wir sagen allen: Jeder kann in eine Situation kommen, in
zierung ist und dass sich die Häuser danach selber tragen der er Hilfe und Unterstützung braucht.
müssen. Stellen Sie sich vor, Ihr zweites Kind kommt behin-
(Dagmar Ziegler [SPD]: Die Länder waren au- dert zur Welt, während das erste Kind zwei Jahre alt ist.
ßen vor!) Sie brauchen dann Hilfe, um mit dieser Aufgabe, die auf
Sie zukommt, fertigzuwerden. Hier nützen Ihnen keine
– Ja, es ist immer so: Man schaut, wo es gerade passt, wo Drohungen und kein Angstmachen, sondern Sie brau-
man mitmacht und wo man sich rauszieht. chen in diesem Moment aufgeschlossene Menschen, die
Der Bund hat ganz klare Vorgaben gemacht. Es ist Ihnen zeigen, wie man mit dieser Herausforderung klar-
(B) nicht so, dass der Bund etwas auf den Weg gebracht hat kommt. (D)
und jetzt alle dastehen und die Details nicht kannten. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP
Auch ich habe bei jeder Einweihung eines Hauses ge- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
sagt: Das ist eine Anschubfinanzierung, und ihr müsst bei Abgeordneten der LINKEN)
sehen, dass ihr die Finanzierung in der entsprechenden
Zeit sichert. Das war noch nicht überall möglich. Wir Ich glaube, wenn das in alle Köpfe gekommen ist, dann
sorgen jetzt für eine Folgefinanzierung. Ich sage an die- haben wir in Deutschland wirklich einen großen Quan-
ser Stelle aber auch: Das kann keine Dauerfinanzierung tensprung weg vom Feuerwehr-Spielen hin zu einer
sein. Das müssen die Verantwortlichen vor Ort für sich Struktur gemacht.
regeln. Sie müssen entsprechende Finanzierungen vor- Durch die UN-Konvention wird das vorgeschrieben;
schlagen und auf den Weg bringen. die Kolleginnen haben es vorhin gesagt. Deshalb plä-
Meine Damen und Herren, zum Schluss möchte ich diere ich wirklich vehement dafür, dass uns der Schutz,
noch sagen: Wir können noch so gute Gesetze auf den die Förderung und die Beteiligung von Kindern sowie
Weg bringen, Kinderschutz funktioniert aber nur, wenn die Herstellung von kindgerechten Lebensverhältnissen
wir uns alle – Sie, ich, die Zuschauer oben, alle Men- so viel wert sind, dass diese Aufgaben in unserer Verfas-
schen, die mit Kindern zu tun haben oder sie sehen – sung verankert und nachlesbar sind.
verantwortlich fühlen. Ich glaube, deswegen ist es wich- Wie wichtig das ist, konnten wir an dem Runden
tig, dass wir alle den Kinderschutz ganz oben auf die
Tisch „Sexueller Kindesmissbrauch“, der noch läuft, und
Prioritätenliste setzen und sagen: Wir wollen gemeinsam an dem Runden Tisch „Heimerziehung“ sehen. Kinder,
etwas verändern. denen man anscheinend helfen wollte und die man oft,
An dieser Stelle kann man sagen: Wegschauen hilft aus welchen obskuren Gründen auch immer, aus ihren
nicht und ist keine Prävention für unsere Kinder. Lassen Familien herausgenommen hat, sind massiv miss-
Sie uns hinschauen! braucht, misshandelt, gedemütigt und als Mensch gebro-
chen worden. Was hatten diese Kinder nicht? Ihnen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei wurde keine Hilfe gewährt, es gab keine diesbezügliche
Abgeordneten der SPD und der LINKEN) öffentliche Verantwortung. Deshalb ist eine der zentralen
Forderungen der Runden Tische: Kinder und Familien
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: brauchen Anlaufstellen, an die sie sich wenden können,
Das Wort hat nun Marlene Rupprecht für die SPD- oder Ombudschaften, wie immer Sie das nennen mögen.
Fraktion. Wir brauchen qualifizierte Menschen als Ansprechpart-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13703
Marlene Rupprecht (Tuchenbach)
(A) ner. Das haben wir in den Gesetzestext – Stichwort Das geht über das hinaus, was wir bisher in den Föde- (C)
Fachkräfte – aufgenommen. Das war eines der Ergeb- ralismuskommissionen gemacht haben. Ich bitte Sie
nisse, das wir, Michaela Noll und ich, zum Schluss aus- ganz dringend: Es wird die Aufgabe sein – darauf müs-
gehandelt haben. Vieles von dem entdecke ich jetzt im sen wir achten –, dass Standards und die Qualität einge-
Text des Gesetzentwurfs wieder und bin darüber sehr halten werden. Ich weiß, dass das die Länder und die
froh. Kommunen nicht gerne sehen. Aber es ist notwendig,
dass hochqualifizierte Menschen in diesen Bereichen tä-
Die Fachkräfte bekommen wiederum erfahrene Fach- tig sind, dass klare Regeln gelten und dass wir wissen,
kräfte zur Unterstützung. Familien und Kinder, die in ob Jugendamt A oder Jugendamt B zuständig ist. Wich-
Not sind, brauchen Anlaufstellen. Diese Aufgabe müs- tig ist: Hochqualifizierte Menschen müssen für die Fa-
sen wir jetzt angehen. Das hat diese Woche auch die milien da sein, um in schwierigen Situationen zu helfen.
Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen deutlich ge- Von daher brauchen wir ganz klare Vorgaben.
macht. Wir müssen endlich das umsetzen, was schon im-
mer im Gesetz steht. In § 81 des Kinder- und Jugendhil- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
fegesetzes ist die Zusammenarbeit aller festgeschrieben, DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
die mit Kindern arbeiten. Wir nehmen diesen Punkt CDU/CSU, der FDP und der LINKEN)
ebenfalls in den Gesetzestext auf. Ich will etwas sagen, was heute noch nicht angespro-
Manchmal ärgere ich mich über die Beteiligten und chen worden ist. Es ist ganz wichtig, dass man beim
möchte sie am liebsten schütteln. Warum ist diese Zu- Schutz der Familien nicht übers Ziel hinausschießt.
sammenarbeit nicht möglich? Irgendjemand hat vorhin Schutz ist wichtig, aber eine totale Kontrolle geht nicht.
gesagt: Wir schaffen es manchmal noch nicht einmal Wir können nicht an jedem Kinderbett eine Kamera be-
hier im Hause, richtig zusammenzuarbeiten. Ich bin festigen oder einen Polizisten daneben stellen.
froh, dass heute auf der Regierungsbank die Staatssekre- (Beifall des Abg. Sönke Rix [SPD])
tärin aus dem Gesundheitsministerium neben dem
Staatssekretär aus dem Familienministerium sitzt. Ich Das Spannungsverhältnis zwischen Schutz und Kon-
glaube, Sie haben keine Kommunikationsprobleme. trolle müssen wir ganz stark im Blick haben, sonst kom-
Aber die Häuser haben manchmal Kommunikationspro- men wir dort an, wo wir bei den Heimkindern aufgehört
bleme. Wenn es die entsprechenden Vertreter der Minis- haben: zu glauben, wir wüssten, was gut ist. Das ist der
terien schafften, sich zusammenzusetzen, dann wäre das falsche Weg. Wichtig ist für uns, dass wir den Menschen
für die Familien und die Kinder optimal. das Gefühl geben, sie können den Fachkräften, mit de-
nen sie zu tun haben, vertrauen. Sie müssen wissen, dass
(B) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten die Menschen um sie herum keine Denunzianten, son- (D)
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE dern Nachbarn sind, mit denen man über Probleme reden
GRÜNEN) kann. Daran arbeiten wir. Ich finde es sehr gut, dass wir
das heute gemeinsam machen wollen. In diesem Sinne
Dieses Pingpongspiel wird immer auf dem Rücken hoffe ich auf gute und gemeinsame Beratungen in den
der Menschen ausgetragen und kostet eine Menge Geld. nächsten Monaten.
Damit bin ich beim Thema Geld; das ist schon mehrfach
angesprochen worden. Wir versuchen – das Beispiel der (Michaela Noll [CDU/CSU]: Das kriegen wir
Mehrgenerationenhäuser wurde schon genannt –, deut- hin, Marlene!)
lich zu machen: Es muss eine soziale Daseinsfürsorge
für die Menschen geben. Der Lebensmittelpunkt dieser – Das glaube ich auch, Michaela.
Menschen sind die Gemeinden und Städte, in denen sie Danke.
leben. Daher brauchen diese ausreichend Geld, um Ein-
richtungen der sozialen Daseinsfürsorge vorhalten zu (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
können. Es darf keinen Flickenteppich geben, sondern DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
die Mittel müssen für jede Kommune individuell unter- CDU/CSU, der FDP und der LINKEN)
schiedlich bereitgestellt werden, so wie sie gebraucht
werden. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Dafür müssen sich Bund, Länder und Gemeinden Das Wort hat nun Sibylle Laurischk für die FDP-
endlich zusammensetzen, sonst passiert das, was die Fraktion.
Länder gerade in einer Absprache hinter unserem Rü- (Beifall bei der FDP)
cken gemacht haben, nämlich die Leistungen in der Ju-
gendhilfe noch weiter herunterzufahren. Irgendwann
geht das nicht mehr. Man kann nicht einer Familie sa- Sibylle Laurischk (FDP):
gen: Im August gibt es leider kein Geld mehr. Es gibt Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer die
keine Hilfe mehr, auch wenn diese Hilfe dringend ge- Anhörung zum Thema Heimkinder Anfang dieser Wo-
braucht wird. – Wir müssen uns überlegen, wie wir die che verfolgt hat und als Gegensatz dazu gestern Abend
Gelder besser verteilen und dorthin bringen, wo sie ge- das Fest der IPS-Stipendiaten miterlebt hat, weiß, wie
braucht werden. unterschiedlich sich die Kindheit auf die Entwicklung
von jungen Menschen auswirken kann. Ich glaube, ge-
(Beifall der Abg. Andrea Wicklein [SPD]) rade in diesem Spannungsfeld wird uns deutlich, dass
13704 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011

Sibylle Laurischk
(A) der Kinderschutz ein Thema ist, das uns permanent be- die noch sehr jung sind oder sich nur ganz geringfügig (C)
schäftigen muss. ehrenamtlich betätigen, ist eine falsche Botschaft. Wir
sind noch im Beratungsprozess. Insofern werden die
Die Botschaft dieses Entwurfs, mit dem wir uns im Diskussionen über den Gesetzentwurf uns inhaltlich
Rahmen eines Gesetzgebungsverfahrens beschäftigen, noch eine Weile beschäftigen.
ist richtig, nämlich dass mehr Kooperation aller notwen-
dig ist, die sich mit dem Wohl von Kindern beschäftigen Für sehr wichtig halte ich den Anspruch auf eine
und sich beruflich um ihren Schutz kümmern. Dabei ist frühe Beratung, durch die Kinder und Jugendliche da-
es wichtig, ein Netzwerk von Leistungsträgern so zu ge- rauf hingewiesen werden, dass sie in entsprechenden
stalten, dass verbindliche Strukturen den Kinderschutz Einrichtungen – hier gibt es auch viele ehrenamtliche
gewährleisten. Mitarbeiter – Hilfe bekommen können. Die Finanzie-
rung dieses niedrigschwelligen Beratungsangebots ist
Die Zusammenarbeit von Ärzten, Psychologen und bisher noch nicht gesichert. Wir werden darüber noch
Hebammen auf der einen Seite und Jugendämtern und weitere Diskussionen führen, die hoffentlich zu einem
Familiengerichten auf der anderen Seite soll für den guten Ende führen.
Konfliktfall verbindlich geregelt werden. Ich denke, es
ist sehr wichtig, dass auch die Ärzteschaft Rechtsklarheit Gerade die Diskussion am Runden Tisch hat mir deut-
darüber bekommt, dass sie im Falle von Hinweisen auf lich gemacht, dass insbesondere missbrauchte Jungen zu
akute Gefährdung des Kindeswohls berechtigt ist, dem selten Beratungsangebote wahrnehmen. Dieses Feld ist
Jugendamt einen Hinweis zu geben. Die Ärzteschaft tut bislang, glaube ich, zu wenig beachtet worden. Es muss
sich wegen der ärztlichen Schweigepflicht damit schwer. ein konkretes, spezifisches Angebot an Jungen und Män-
Ich denke, dass wir diesen Konflikt mit einer gesetzli- ner geben, die sich mit dem Missbrauch in ihrer Kindheit
chen Maßgabe endlich lösen. auseinandersetzen wollen.
Ich habe in allen Redebeiträgen den Hinweis darauf Stichwort „Pflegeeltern“. Wir werden darüber nach-
vermisst, dass wir das Jugendamts-Hopping beenden denken müssen, inwiefern die Einbindung von Pflege-
wollen. eltern auf diesem Feld sinnvoll ist. Auch hier gibt es Be-
ratungsbedarf.
(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Das ist schon an-
gesprochen worden! – Markus Grübel [CDU/ Wir stehen am Anfang einer interessanten Gesetzge-
CSU]: Das wurde alles gesagt! – Dagmar bungsdebatte. Ich wünsche, dass wir in der fachlichen
Ziegler [SPD]: Der Staatssekretär!) und qualifizierten Auseinandersetzung, die von uns im
Ausschuss gepflegt wird, zu guten Ergebnissen kom-
– Dann ist es wohl doch angesprochen worden. – Mir ist men.
(B) es sehr wichtig, diesen Punkt zu betonen. Das ist nach (D)
meinem Dafürhalten eine sehr wichtige Maßnahme. Danke schön.
Denn bisher war häufig das Phänomen zu beobachten, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
dass sich Familien immer dann, wenn das Jugendamt bei Abgeordneten der SPD)
aufmerksam wurde oder von anderer Seite Hinweise auf
Verwahrlosung oder Vermüllungstendenzen in einer
Wohnung kamen, durch Umzug entziehen. Dann ist ein Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
neues Amt zuständig, und dort weiß niemand Bescheid. Das Wort hat nun Dorothee Bär für die CDU/CSU-
Fraktion.
Das soll jetzt geändert werden: Die Akte wandert mit.
Dann kann auch in den Ämtern niemand mehr sagen: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Das haben wir nicht gewusst. Die Eltern wiederum wis-
sen, dass sie nicht einfach ausweichen können. Dorothee Bär (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es gibt aber Beratungsangebote. Dafür wird noch
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich darf für die
mehr geworben werden müssen. Es ist keine Sanktion,
CDU/CSU-Bundestagsfraktion unserer Bundesfamilien-
sich einer Beratung zu stellen; es geht vielmehr um echte
ministerin zur Geburt ihrer Tochter gestern ganz herzli-
Hilfen, mit denen Kindern eine Perspektive geboten
che Glückwünsche aussprechen. Ich hoffe, dass wir sie
werden kann. Das kann funktionieren. Dafür gibt es be-
nach ihrem angemessenen Mutterschutz wieder gesund
reits positive Beispiele. Wir brauchen aber auch eine ge-
und munter in unseren Reihen begrüßen dürfen.
setzliche Regelung.
(Beifall)
Die Qualifizierung von hauptamtlichen Mitarbeitern
in den Institutionen ist ein weiteres wichtiges Thema. Ich freue mich über die heutigen Signale aus allen
Wir haben uns aber auch mit dem Thema Führungszeug- Fraktionen. Sie stimmen mich optimistisch, dass wir
nisse im ehrenamtlichen Bereich befasst. Dieses Thema eine Einigung hinbekommen. Es scheint ein gemeinsa-
wird auch am Runden Tisch „Sexueller Kindesmiss- mes Anliegen zu sein – das ist bei Frau Rupprecht sehr
brauch“ heftig diskutiert. Wir sind als FDP-Fraktion der schön zum Ausdruck gekommen –, im Bundestag eine
Meinung, dass die Verpflichtung zur Vorlage erweiterter fraktionsübergreifende Lösung hinzubekommen. Es gibt
Führungszeugnisse Sinn macht. Aber eine übertriebene, sicherlich noch gewisse Unterschiede; das ist völlig nor-
detailverliebte Pflicht zur Abgabe von Führungszeugnis- mal. Trotzdem wäre es gut, jetzt die Kritikpunkte aufzu-
sen, die sich bis hin zu solchen Mitarbeitern erstreckt, nehmen und dann gemeinsam darüber nachzudenken,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13705
Dorothee Bär
(A) wie wir diese konsensual beseitigen können, damit es in ten Kindes ein größerer Abstand besteht, erzählen, dass (C)
der zweiten und dritten Lesung einen breiten Konsens sie gedacht haben, sie müssten wieder bei null anfangen.
gibt. Natürlich wäre es wünschenswert – das weiß ich auch –,
ein entsprechendes Angebot immer allen Müttern zur
Wir alle sind sicherlich schockiert, wenn wir nicht nur Verfügung zu stellen. Wünschenswert wäre darüber hi-
in unseren Wahlkreisen, sondern bundesweit mit Schlag- naus, dafür zu sorgen, dass das Ganze nicht nur ein Pro-
zeilen konfrontiert werden, aus denen hervorgeht, dass jekt ist. Ich weiß, dass die von uns angestrebten Projekt-
Kindern Essen und Trinken vorenthalten wurde. Das förderungen ein deutsches Phänomen sind. Auch mir
sind noch harmlose Fälle. Oft sind die Schicksale hinter wäre eine größere Kontinuität an dieser Stelle lieb. Man
den Schlagzeilen noch wesentlich schlimmer. Natürlich muss wirklich schauen, was finanziell machbar ist. Ehr-
beherrschen solche Schicksale sehr stark die Titelzeilen lich gesagt, möchte ich jetzt aber keine Diskussion da-
der Medien, manchmal leider nur für Tage, manchmal rüber führen, ob in einzelnen Fachbereichen unnötig
aber auch über Wochen. Egal ob die Kinder Jessica, Ke- Geld ausgegeben wird. Ich glaube, wir sollten uns ge-
vin oder Lea-Sophie heißen, wir müssen uns intensiv da- genseitig keine Vorwürfe machen und nicht die Einzel-
mit befassen, welche Schicksale sich hinter diesen Na- pläne miteinander vergleichen.
men verbergen, und uns die Fragen stellen, warum es so
weit kommen konnte und wer eventuell an welcher Entscheidend ist, den Ländern einmal klarzumachen,
Stelle seine Arbeit nicht ordentlich geleistet hat bzw. ob worin ihre Verantwortung besteht. Das Ganze ist keine
– das wurde von Ingrid Fischbach schon angesprochen – reine Angelegenheit des Bundestages, sondern geht
nicht genau genug hingeschaut wurde. Das geht jeden wirklich alle parlamentarischen Ebenen etwas an. Vor
Einzelnen etwas an. Ort kann besser erkannt werden, wo Hilfe notwendig ist.
Natürlich sind auch wir in der Pflicht, dazu einen großen
Wenn man nachforscht und die Zusammenhänge Beitrag zu leisten. Heute wurde bereits mehrfach das
kennt, dann fällt einem auf, dass ein Wort über allem Beispiel Mehrgenerationenhäuser angesprochen. Dazu
steht: Überforderung. Aber in einem Land wie Deutsch- muss ich ganz ehrlich sagen: Die diesbezügliche Projekt-
land darf niemand, egal ob Vater, Mutter oder beide El- förderung ist für mich kein Bezugspunkt. Dieses Projekt
ternteile, überfordert sein, weil er mit Kindern nicht zu- wurde ins Leben gerufen, und wir erweitern es jetzt. Das
rechtkommt. Die Gesellschaft muss dann da sein. Man ist alles gut und schön. Die Notwendigkeit des flächen-
kann es gut oder schlecht finden, Fakt ist aber leider deckenden Einsatzes von Familienhebammen, deren
Gottes, dass die Mehrheit der Menschen in Deutschland Hilfe jede Familie in Anspruch nehmen kann, ist hinge-
nicht mehr in Großfamilien lebt. Es ist nicht der Normal- gen etwas anderes. Man sollte meines Erachtens nicht
fall, dass sieben, acht oder neun Kinder in einer Familie sagen: Schaut später einmal, wie es weitergeht. Vielmehr
mit den Großeltern unter einem Dach oder auch im sel- müssen wir uns, wenn es funktioniert und Erfolge da (D)
(B)
ben Ort zusammenleben. So fehlt oft ein Ansprechpart- sind, wirklich überlegen, wie wir die Überleitung in eine
ner. institutionelle Förderung zustande bringen.
Das ist einer der Gründe, warum wir uns jetzt intensiv
mit dem Bundeskinderschutzgesetz befassen müssen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Mit oberflächlichen Diskussionen dürfen wir uns nicht Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
zufriedengeben. Wir wollen Ansprechpartner schaffen. Kollegen Fischer?
Natürlich kann man sich nun darüber streiten, wer das
sein soll, wie diese heißen sollen und wer zuständig ist.
Dorothee Bär (CDU/CSU):
Aber dass wir Ansprechpartner und entsprechende Rah-
menbedingungen brauchen, ist völlig klar. Bitte.

Um welche konkreten Maßnahmen geht es? Wir ha- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Aus der
ben schon vor der letzten Bundestagswahl sehr intensiv eigenen Fraktion!)
darüber diskutiert. Uns allen war klar, dass wir den – Er gehört aber einer anderen Partei an. Daher ist es
Schwerpunkt noch sehr viel stärker auf die Bereiche Prä- okay.
vention und Intervention legen müssen. Über die Fami-
lienhebammen ist heute schon oft gesprochen worden. (Heiterkeit)
Auch ich möchte ein paar Takte zu den Familienhebam-
men sagen, weil das für mich eine Herzensangelegenheit Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU):
ist. Ich freue mich, dass du, Ekin Deligöz, heute deinen Frau Kollegin Bär, wir stellen fest, dass wir bei dieser
Sohn mitgebracht hast. Man sollte nicht immer seinen wichtigen Debatte parteiübergreifend dieselben Interes-
eigenen Erfahrungsschatz ausklammern. Es ist gut und sen vertreten. Ich habe nach dem Beitrag von Frau
schön, dass hier im Deutschen Bundestag Menschen mit Deligöz gerade, in dem sie auf ihren Sohn eingegangen
so unterschiedlichen Biografien vertreten sind. ist, an Sie die Frage, ob jetzt nicht der Zeitpunkt wäre,
dass wir gemeinsam nachhaltig den Begriff „Familien-
Selbst diejenigen, die schon einmal Erfahrungen mit
politik“ so weit verwenden, dass wir heute auch dem Va-
Hebammen gemacht haben – ich denke auch an diejeni-
ter von Lotte Marie gratulieren, nämlich dem Staatsse-
gen, die in einem gut funktionierenden Familienbund
kretär Ole Schröder, der an dieser Debatte leider nicht
untergebracht sind –, sind oft froh, wenn sie einmal mehr
teilnehmen kann?
die Möglichkeit haben, nachzufragen. Viele Mütter, bei
denen zwischen der Geburt ihres ersten und ihres zwei- (Heiterkeit und Beifall)
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(A) Dorothee Bär (CDU/CSU): Fraktion an. Der vorliegende Gesetzentwurf zum Kin- (C)
Ich glaube für das ganze Haus sprechen zu können: derschutz enthält im Großen und Ganzen wirklich gute
Selbstverständlich gratulieren wir auch dem Vater. Einen Ansätze. Vielen Dank dafür, dass viele Anregungen, die
Tag nach der Geburt stehen allerdings die Gesundheit in der Großen Koalition entstanden sind, aufgenommen
von Mutter und Kind im Mittelpunkt. Wir freuen uns na- wurden! Der Entwurf stellt eine wirkliche Verbesserung
türlich, wenn auch der Vater wohlauf ist, und senden ihm gegenüber dem Entwurf aus dem Jahr 2009 dar.
die Glückwünsche des ganzen Hauses.
Förderung und Prävention – das haben wir heute schon
(Heiterkeit und Beifall – Caren Marks [SPD]: ganz häufig gehört; man kann es aber gar nicht oft genug
Männer sind ja nicht so belastbar!) betonen und unterstreichen – sind wirklich die besten
– Ich muss ausnahmsweise einmal einen Zwischenruf Mittel für einen wirksamen Kinderschutz. Sie sind die
der Kollegin Marks positiv aufgreifen. Sie hat gesagt, besten Mittel, um Familien effektiv zu unterstützen und
dass – womöglich vermutet sie bei dem Kollegen Kindern ein wirklich gelingendes Aufwachsen zu ermög-
Fischer Nachwehen – Männer an dieser Stelle nicht so lichen, damit starke Persönlichkeiten heranwachsen kön-
belastbar sind. nen.

(Heiterkeit und Beifall) Der im Jahr 2009 von der damaligen Bundesfamilien-
ministerin Frau von der Leyen vorgelegte Entwurf hatte
Zurück zum Thema. Mir wäre es wichtig, den Heb- diesen Grundsatz leider wirklich in keiner Weise berück-
ammen von hier aus ein herzliches Dankeschön zukom- sichtigt – das war sehr schade –, und er hatte wirklich
men zu lassen, egal ob es „normale“ Hebammen oder sehr einseitig auf Kontrollen gesetzt, die zwar auch not-
Familienhebammen sind. Was die Hebammen in wendig sind, aber nicht in diesem Ausmaß und nicht so
Deutschland leisten, ist wirklich sensationell. Wir haben einseitig. Die Ministerin hatte sich damals mit ihrem Ge-
leider Gottes aufgrund anderer politischer Aspekte, auch setzentwurf – ich denke, das kann man so sagen – ein
was das Finanzielle betrifft, im Moment noch Diskussio- Stück weit verrannt. Es war richtig, dass wir als SPD in
nen zu führen, in denen wir für die Hebammen eintreten. der Großen Koalition dieses Gesetz erfolgreich verhin-
Nicht nur, Ansprechpartner zu sein, sondern auch, Ver- dert haben. Was heute vorliegt, zeigt: Es hat sich wirk-
trauen aufzubauen – der Wert des Vertrauens ist heute lich gelohnt. Das haben heute auch die Kolleginnen von
schon angesprochen worden –, ist ganz wichtig. Ich
der Union sehr deutlich zum Ausdruck gebracht.
denke dabei insbesondere an die Lotsenfunktion, die
Hebammen übernehmen. Das Ziel eines guten und nachhaltigen Kinderschut-
Wir haben ursprünglich vorgesehen, dass die Dauer zes muss es sein, das Vertrauen der Eltern, aber natürlich
(B) der Betreuung durch Familienhebammen ein Jahr dauert. auch der Kinder – sie müssen im Mittelpunkt stehen – zu (D)
Mir ist es wichtig, die Familienhebammen so stark wie gewinnen, sie an angebotene Hilfen heranzuführen und
möglich zu machen, damit sie ihre Funktion vor Ort sie wirkungsvoll zu unterstützen. Das Familienministe-
bestmöglich erfüllen können. Man sollte in Betracht zie- rium hat aus Fehlern der Vergangenheit gelernt, hat auch
hen, dass Hilfe für ein Jahr nicht ausreichend ist. Wir ha- mithilfe vieler Fachgespräche den jetzigen Gesetzent-
ben zum Beispiel eine zusätzliche Untersuchung des wurf so auf den Weg gebracht und vor allem unsere For-
Kindes eingeführt, damit die Betreuung der Familien derung und die vieler Fachleute aufgenommen, die Frü-
engmaschiger erfolgt. Wir wollen dafür sorgen, dass es hen Hilfen und die Netzwerke vor Ort zu stärken. Das ist
nach dem ersten Jahr möglich ist, bei Bedarf auf lokaler ein richtiger und guter Weg.
Ebene Ansprechpartner zu finden.
(Beifall bei der SPD)
In diesem Sinne freue ich mich sehr über die vielen
positiven Signale aller Fraktionen. Ich freue mich auf ei- Die Fachkräfte vor Ort, ob das die Mitarbeiterinnen
nen ganz intensiven Gedankenaustausch, der jetzt statt- und Mitarbeiter in den Jugendämtern sind, die freien Trä-
finden wird, bevor wir zur zweiten und dritten Lesung ger, die Ärztinnen und Ärzte, natürlich auch die Hebam-
kommen. Ich hoffe, dass wir dann, wenn wir bei der men und die Beratungsstellen, alle müssen wirklich eng
zweiten und dritten Lesung wieder hier stehen, unser zusammenarbeiten. Um Kinder und Jugendliche wirklich
Projekt gemeinsam verabschieden können. optimal zu fördern und zu schützen sowie Eltern bei ihrer
Erziehung zu stärken und zu unterstützen, brauchen wir
Vielen Dank. gute und verlässliche durchgehende Präventionsketten.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Im Mittelpunkt aller Bemühungen – auch das ist heute
schon ein paar Mal gesagt worden – müssen das Kind,
aber auch der Jugendliche stehen. Wir dürfen nicht auf-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: hören, auch an die größeren Kinder und an die Jugendli-
Das Wort hat nun Caren Marks für die SPD-Fraktion. chen zu denken. Ich glaube, das ist ein ganz wichtiger
(Beifall bei der SPD) Gesichtspunkt, der nicht unter den Tisch fallen darf.
(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie
Caren Marks (SPD): bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten GRÜNEN)
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich schließe mich meinen Vorrednerinnen von der SPD- Die Stadt Monheim
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Caren Marks
(A) (Michaela Noll [CDU/CSU]: Ja, meine Stadt, verlagern. Nein, es geht vielmehr darum, dass sich die (C)
genau! Die macht das richtig!) Fachkräfte der Jugendhilfe und des Gesundheitsbereichs
als Partner verstehen und sich auch vernetzen müssen.
hat eine solche Präventionskette aufgebaut,
Hier besteht noch Verbesserungsbedarf. Vorschläge
(Michaela Noll [CDU/CSU]: Supi!)
von Bundesgesundheitsminister Bahr hierzu sind bisher
die mit der Geburt eines Kindes beginnt. Hier arbeiten nicht gekommen. Das ist schade. Ich appelliere an die
die von mir schon genannten Familienhebammen, Kitas, FDP: Sorgen Sie bitte dafür, dass Ihr Minister hier aktiv
Schulen und Familienbildungsstätten vorbildlich eng zu- wird! Ich denke, es würde sich im Sinne der Kinder und
sammen. Die Erfolge beim Kinderschutz und bei der Ar- Jugendlichen in unserem Lande wirklich lohnen.
mutsbekämpfung können sich dort wirklich sehen las-
Die SPD fordert ein bundeseinheitliches Präventions-
sen. Das Modell „Monheim für Kinder“ hat zu Recht
gesetz, womit man im direkten Lebensumfeld von Fami-
zahlreiche Präventionspreise gewonnen.
lien ansetzen und alle Akteure an einen Tisch holen will.
Aber so gut wie Monheim – auch das wissen wir Gesundheitsförderung und Prävention müssen in der Fa-
alle – sind längst nicht alle Städte und Gemeinden aufge- milie, aber auch in den Kitas und in den Schulen anset-
stellt. Auch wir hier im Bund müssen alles dafür tun, zen und dort gelebt werden. Es ist schade, dass sich
dass solche guten Beispiele Schule machen können. Union und FDP bisher noch keinen Ruck geben konnten,
Bund und Länder dürfen Kommunen bei der Umsetzung ein bundeseinheitliches Präventionsgesetz gemeinsam
eines guten Kinderschutzes vor Ort nicht im Regen ste- mit allen auf den Weg zu bringen.
hen lassen. Genau hier sehe ich aber noch einen Webfeh-
ler im Gesetz. Die Beratungen über das Kinderschutzgesetz gehen
jetzt in die dafür zuständigen Fachausschüsse. Wir sollten
Ein Bürger hat uns diese Woche zum vorliegenden – so wie wir heute debattiert haben und gemäß dem Tenor
Entwurf des Bundeskinderschutzgesetzes Folgendes ge- dieser Debatte – gemeinsam die Chance nutzen, den Ge-
schrieben: setzentwurf an den angesprochenen Punkten zu verbes-
sern. Ich denke, es sind vielfältige, konstruktive Vor-
Der Entwurf regelt bis ins Detail, wie der Kinder-
schläge und Anregungen eingegangen. Ich freue mich auf
schutz verbessert werden soll, macht aber keinerlei
die Beratungen im Sinne der Kinder und Familien in un-
Aussagen darüber, wie viel Personal in den Jugend-
serem Land. Das ist der richtige Ansatzpunkt.
ämtern dazu mindestens erforderlich ist. Damit
steht die Qualität der angestrebten Verbesserungen Herzlichen Dank.
in Frage, denn ausreichendes und qualifiziertes Per-
sonal ist zu deren Umsetzung unabdingbare Voraus- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
(B) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- (D)
setzung.
geordneten der CDU/CSU und der FDP)
Ich denke, auch da sind wir uns grundsätzlich einig. Die-
sem Anschreiben ist nichts hinzuzufügen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
(Beifall bei der SPD) Als nächste Rednerin zu diesem Debattenpunkt er-
teile ich der Kollegin Michaela Noll für die CDU/CSU-
Ich möchte einen zweiten Webfehler im Gesetzent-
Fraktion das Wort.
wurf ansprechen. Das Bundesgesundheitsministerium
– das wurde vorhin schon angesprochen – duckt sich weg (Beifall bei der CDU/CSU)
und macht keine Vorschläge, wie die Kooperation des Ge-
sundheitswesens mit der Jugendhilfe verbessert werden Michaela Noll (CDU/CSU):
kann. Der 13. Kinder- und Jugendbericht, der sich sehr Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
ausführlich und – wie ich finde – fachlich sehr gut mit gen! Auch ich möchte natürlich der jungen Familie – un-
Kindergesundheit beschäftigt hat, hat das zu Recht ange- serer Familienministerin und ihrem Mann Ole
mahnt. Schröder – ganz viel Glück wünschen. Ich glaube, es gibt
In der Praxis zeigt sich immer wieder, dass beispiels- wirklich nichts Schöneres, als eine Familie zu gründen.
weise Ärztinnen und Ärzte wenig Kenntnisse von der Ju- Wir müssen festhalten – darüber bin ich nach wie vor
gendhilfe haben und auch nicht die Anlaufstellen für Fa- sehr glücklich –, dass die überwiegende Mehrzahl der
milien kennen, so wie es notwendig wäre. Oft sind sie Kinder in Deutschland ein liebevolles, von Vertrauen ge-
auch nicht ausreichend geschult, um eine Kindesver- prägtes Elternhaus hat, in dem sie entsprechend erzogen
nachlässigung oder einen Kindesmissbrauch wirklich zu und begleitet werden und damit eine Zukunft haben.
erkennen. Der gute Wille ist bei den Ärztinnen und Ärz-
ten grundsätzlich natürlich vorhanden. Das reicht aber (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
nicht aus, um in allen Fällen einen effektiven Kinder- neten der FDP und der SPD)
schutz zu garantieren.
Trotzdem finde ich es wichtig, dass wir den Fokus auf
Darum sage ich: Alle Fachkräfte – dabei lege ich die die Kinder richten, die auf der Schattenseite groß wer-
Betonung auf „alle“ –, die mit Kindern und Jugendlichen den. Vielleicht wundern Sie sich, wenn ich jetzt etwas
zusammenarbeiten, müssen dieselbe Sprache sprechen. sage, was etwas ungewöhnlich klingt. Ich glaube, dass
Das heißt nicht, originäre Aufgaben der Kinder- und Ju- auch die Eltern, die am Anfang Probleme mit der Kin-
gendhilfe auf die gesetzliche Krankenversicherung zu dererziehung haben, weil sie überfordert sind, ihre Kin-
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Michaela Noll
(A) der lieben. Oftmals haben sie in ihrem eigenen Eltern- Viertel, in dem Mo.Ki tätig ist. Mo.Ki, Monheim für (C)
haus nicht das notwendige Rüstzeug mitbekommen. Das Kinder, hat 2004 einen Präventionspreis für die beson-
heißt, sie haben nicht kennengelernt, was es heißt, ge- dere Leistung erhalten, ein Netz zu spannen, damit den
liebt zu werden und Liebe weitergeben zu können. Diese Kindern nichts passiert.
Eltern müssen wir unterstützen. Wir sollten ihnen das
entsprechende Rüstzeug geben. Monheim ist eine Stadt, der es wirtschaftlich wirklich
nicht sehr gut geht. Man konnte aber feststellen, dass
Gerade an diesem Punkt sind die Familienhebammen man durch eine langfristige Vernetzung der Beteiligten
diejenigen, die Vertrauen schaffen, die in die Familien auch mit geringen Mitteln Kinder schützen kann; es liegt
gehen, die den Alltag mit einem Kind verständlich ver- nicht nur an den Mitteln. Es gibt eine Internetseite zu
mitteln. Sie erklären den Eltern, dass man, wenn ein Mo.Ki; Da kann man jederzeit nachschauen. Mo.Ki
Kind permanent schreit, dieses Kind nicht schütteln darf, wurde damals bei uns in der Kinderkommission vorge-
sondern dass es andere Mittel und Wege gibt, es zu beru- stellt. Da haben alle Experten gesagt: Das ist der richtige
higen. Weg. Ich lade jeden ein: Kommen Sie in meinen Wahl-
kreis; wir stellen die Kontakte her. Ich glaube, hier wird
(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem der richtige Weg gegangen; wir sollten ihn auch nutzen.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei
Wir leben in einer kinderentwöhnten Welt; das hat
Abgeordneten der SPD und der LINKEN)
vorhin auch meine Kollegin Dorothee Bär erwähnt. Es
ist einfach so: Früher gab es oft die kurzen Wege: die Darüber hinaus wollte ich eigentlich noch ein paar
Nachbarin, die im Haus lebende Mutter oder die vielen Punkte ansprechen, aber vieles haben meine Kollegen
Geschwister. Man konnte kurz anrufen und sich Hilfe lobenswerterweise schon erwähnt. Es gibt einen Punkt,
holen. Das gibt es heute oftmals nicht mehr. Dafür haben den ich kurz ansprechen möchte: die Führungszeugnisse.
wir aber die Jugendämter. Ich hatte die Gelegenheit, den Oberarzt der Charité zu
Eines finde ich immer wieder schade. In meinem hören, der das Pädophilenprogramm begleitet. Er hat ge-
Wahlkreis ist Folgendes vorgefallen: Es gab einen klei- sagt: Pädophile suchen aufgrund ihrer sexuellen Präfe-
nen Jungen namens Daniel, der leider auch zu Tode ge- renz den Kontakt zu Kindern. Deswegen sollten wir sa-
kommen ist. Man hat die Mutter gefragt: Warum haben gen: Wir brauchen ein erweitertes Führungszeugnis; es
Sie sich denn nicht ans Jugendamt gewendet? Die Mut- ist notwendig, diese Personen sichtbar zu machen und
ter sagte: Ich hatte Angst, dass man mir meine Kinder den Schutz der Kinder zu verbessern.
wegnimmt. Da sage ich: Wir müssen etwas tun, damit Jetzt stellt sich die Frage, ob ein erweitertes Füh-
(B) sich das Image des Jugendamts ändert, sodass es als rungszeugnis auch bei Ehrenamtlichen nötig ist. An die- (D)
Hilfeinstanz wahrgenommen wird, die unterstützt, nicht sem Punkt muss man schon differenzieren: Wie lange
als eine Institution, die als Erstes die Kinder aus der Fa- dauert der Kontakt? In welchem Kontakt bzw. in wel-
milie nimmt. cher Beziehung zu den Kindern steht zum Beispiel der
An dieser Stelle bin ich unserer Familienministerin Fußballtrainer in einem Verein? Es ist ein Unterschied,
dankbar dafür, dass sie einen bundesweiten Aktionstag ob man bei einer zehntägigen Ferienfreizeit mitfährt
der Jugendämter durchgeführt hat. Viele Jugendämter oder spontan vier Kinder im Wagen zum Fußballplatz
haben sich beteiligt, haben Transparenz geschaffen und bringt. Da können wir nicht überall sagen: Wir wollen
gezeigt: Wir sind nicht diejenigen, die Kinder aus den auf jeden Fall ein erweitertes Führungszeugnis.
Familien nehmen. Wir wollen die Elternhäuser, die Kin- Ich möchte mich jetzt schon einmal bei allen Kolle-
der in den Familien stabilisieren. Ich denke, das war ein gen bedanken. Ich glaube, dieses Mal schaffen wir es
guter Schritt; darüber habe ich mich sehr gefreut. wirklich, ein Kinderschutzgesetz auf den Weg zu brin-
(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) gen. Das ist wichtig; denn es gibt auch heute noch sehr
viele Kinder – das weiß jeder, der Kontakt mit dem Ju-
Ich fand heute auch sehr schön, dass der Sohn von gendamt hat –, die auf der Schattenseite stehen. Machen
Ekin – sie hört zwar gerade nicht zu, aber das ist nicht wir uns an die Arbeit! Schaffen wir etwas gemeinsam!
schlimm –, der oben auf der Bühne war, im Endeffekt Dann wäre ich ausgesprochen glücklich und für diese
feststellen konnte, dass es auch in diesem Parlament Legislaturperiode dankbar.
möglich ist, moderate Töne anzuschlagen, parteiüber-
greifend etwas auf den Weg zu bringen, was wirklich al- Vielen Dank.
len Kindern in Deutschland helfen kann. Das war für (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
mich nach zehn Jahren parlamentarischer Arbeit eine der Abg. Marlene Rupprecht [Tuchenbach]
Sternstunde im Parlament; denn eine solche Gelegenheit [SPD])
haben wir leider viel zu selten.
Frau Marks, ein kleines Kompliment. Normalerweise Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
bin ich gewöhnt, von Ihnen sehr kritische Töne zu hören. Ich schließe die Aussprache.
Ich freue mich, dass Sie heute Mo.Ki erwähnt haben. Ich
bin die Wahlkreisabgeordnete aus der Stadt Monheim Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
und weiß, dass gerade Monheim eine Stadt mit relativ wurfs auf Drucksache 17/6256 an die in der Tagesord-
vielen Problemen ist. Wir haben ein Viertel, das Berliner nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13709
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(A) dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist offensichtlich Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): (C)
nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 36 a bis c auf: freue mich sehr, dass wir heute auf der Grundlage der
Oppositionsanträge zu einer Tageszeit über das Thema
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Prävention und Gesundheitsförderung sprechen, die ver-
Angelika Graf (Rosenheim), Bärbel Bas, Dr. Karl spricht, dass die Debatte öffentlich wahrgenommen
Lauterbach, weiterer Abgeordneter und der Frak- wird. Wir wollen einerseits klarmachen, welche Chan-
tion der SPD cen vernünftige und vernetzte Präventionskonzepte für
die nachhaltige Gesundheitsentwicklung in Deutschland
Potenziale der Prävention erkennen und nut-
bieten, und andererseits, welcher enorm positive wirt-
zen – Prävention und Gesundheitsförderung
schaftliche Effekt der Prävention zukommt.
über die gesamte Lebensspanne stärken
– Drucksache 17/5384 – Viele Länder haben die Notwendigkeit, dies gesetz-
lich zu regeln, erkannt. Deutschland gehört zu den weni-
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)
gen Industrienationen, die das bisher nicht gesetzlich ge-
Sportausschuss regelt haben. Dabei hat Ulla Schmidt eine Reihe von
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Anläufen unternommen. Sie können sich sicher noch
Verbraucherschutz alle daran erinnern. Leider ist sie immer an der Blockade
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend derjenigen gescheitert, die in diesem Plenum rechts sit-
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung zen.
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Maria (Beifall bei der SPD und der LINKEN)
Klein-Schmeink, Fritz Kuhn, Birgitt Bender, wei- Wir könnten hier – das muss man deutlich sagen – schon
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- wesentlich weiter sein. Leider habe ich nicht den Ein-
NIS 90/DIE GRÜNEN druck, dass die jetzige Bundesregierung dieses Thema
Gesetzliche Grundlage für Prävention und Ge- wirklich ernst nimmt.
sundheitsförderung schaffen – Gesamtkonzept
(Heinz Lanfermann [FDP]: Das täuscht!)
für nationale Strategie vorlegen
– Drucksache 17/5529 – In der Antwort auf unsere Kleine Anfrage vom
März 2010 stand neben der Absage an eine Neuauflage
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)
eines Präventionsgesetzes wörtlich das gleiche Wolkige
(B) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und wie im Koalitionsvertrag. Da redet man von Analyse, (D)
Verbraucherschutz Aufklärung, Eigenverantwortlichkeit und bewährten
Ausschuss für Arbeit und Soziales Programmen und Strukturen. Das ist alles richtig, aber es
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend reicht nicht aus.
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Martina
(Beifall bei der SPD)
Bunge, Agnes Alpers, Herbert Behrens, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Die demografische Entwicklung in Deutschland, die
Prävention weiter denken – Gesundheitsförde- Sie noch als Grund für die Forderung nach einer Kopf-
rung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe stär- pauschale angegeben haben, ist für Sie offensichtlich
ken nicht Begründung genug, um beim Thema Prävention
endlich Ihre ideologischen Blockaden zu lösen. Alle An-
– Drucksache 17/6304 – träge, auch der der Grünen und der der Linken, machen
Überweisungsvorschlag: deutlich, dass auf diesem Gebiet ein erheblicher Hand-
Ausschuss für Gesundheit (f) lungsdruck besteht, und zwar einerseits hinsichtlich der
Innenausschuss Verbesserung der Strukturen und andererseits hinsicht-
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
lich eines neuen Ansatzes, der die Lebenssituation der
Ausschuss für Arbeit und Soziales Einzelnen in den Fokus rückt, der sich am Einzelnen
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend orientiert und ihn dort abholt, wo er steht.
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung Wir von der SPD haben einen sehr konkreten Antrag
vorgelegt. Er speist sich aus den Erfahrungen von Exper-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für tinnen und Experten, die wir befragt haben. Sie haben
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich uns sehr detailliert über die augenblickliche Situation im
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos- Bereich Prävention in Deutschland informiert. Seit Jah-
sen. ren stellen wir fest, dass die Präventionslandschaft aus-
Ich eröffne die Aussprache. Ich bitte die Kolleginnen gesprochen fragmentiert ist und sowohl Ziele als auch
und Kollegen, die an dieser Debatte nicht teilnehmen Zielgruppen sehr uneinheitlich sind. Präventionsmaß-
wollen, den Saal zu verlassen, damit wir wieder Ruhe nahmen sind oft nicht aufeinander abgestimmt und des-
haben und Angelika Graf für die SPD-Fraktion das Wort wegen öfter ineffektiv.
ergreifen kann. – Ich erteile das Wort.
Wir wollen etwas gegen den Aktionismus tun, der in
(Beifall bei der SPD) diesem Bereich zweifellos vorhanden ist. Mit schnellle-
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Angelika Graf (Rosenheim)


(A) bigen Projekten und Modellprojekten erreicht man keine fizierte Beratungsangebote für die Akteure anbieten, (C)
Nachhaltigkeit vor Ort, schon gar nicht in der Fläche. Standards für Qualitätssicherung und Evaluierung ent-
wickeln und die Einhaltung von Präventionszielen über-
(Beifall bei der SPD sowie der Abg.
wachen. Dabei wollen wir um Gottes Willen keine Paral-
Dr. Martina Bunge [DIE LINKE])
lelstrukturen. In dieses nationale Institut sollen die
Wir wollen dem sogenannten Setting-Ansatz, wonach bisher schon aktiven Organisationen wie zum Beispiel
die Menschen in ihrem Umfeld abgeholt werden, mehr das Robert-Koch-Institut oder die Bundeszentrale für ge-
Raum geben. Dieser Ansatz kommt bisher völlig zu sundheitliche Aufklärung selbstverständlich integriert
kurz. Die Kassen setzen aus Werbe- und Imagegründen werden. Es geht also um eine bessere Koordination von
vor allem auf individuelle Präventionsmaßnahmen. Präventionsmaßnahmen in Deutschland. Wir wollen die-
80 Prozent der Mittel werden in individuelle Maßnah- ses ineffektive Nebeneinander stoppen.
men gesteckt, obwohl wir wissen, dass wir damit vor al-
lem diejenigen erreichen, die eh schon auf dem Präven- Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Stärkung von
tionstrip sind, die das verstanden haben. Diejenigen, die Wissenschaft und Forschung. Forschung im Bereich der
am stärksten von Präventionsmaßnahmen profitieren Primärprävention brauchen wir dringend. In alternden
könnten und sie am dringendsten brauchten, erreichen Gesellschaften wie der unsrigen muss Prävention ganz
wir mit diesem Ansatz definitiv nicht. Das kann man oben auf der Agenda der jeweiligen Bundesgesundheits-
zum Beispiel im Kontext der zu häufigen Ablehnung minister stehen. Ich bin sehr enttäuscht – das muss ich
von Mutter-/Vater-Kind-Kuren sehen, aber auch in ande- wirklich sagen –, dass die Gesundheitsminister der jetzi-
ren Bereichen. In der Lebenswelt in den Kindergärten, gen Regierungskoalition das offensichtlich nicht so se-
Schulen und Stadtvierteln – insbesondere für alte Men- hen und die Zeichen der Zeit anscheinend nicht erkannt
schen sind die Stadtviertel wichtig – passiert viel zu we- haben.
nig. Nur 8 Prozent der GKV-Mittel gehen in diesen Be- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
reich der Prävention. der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
Auch ältere und alte Menschen müssen besser als bis- GRÜNEN – Rudolf Henke [CDU/CSU]: Das
her in ihrer Lebenssituation erreicht werden. ist eine Unterstellung!)
(Beifall bei der SPD und der LINKEN) Der Antrag der SPD gibt Ihnen ein sehr konkretes Kon-
zept an die Hand. Stellen Sie sich dem nicht in den Weg.
Das gilt insbesondere, wenn wir den typischen Alterser- Wir werden bei den Beratungen sehen, inwieweit Sie
krankungen entgegentreten wollen. Bewegungsmangel sich in diese Richtung entwickeln.
zum Beispiel hat katastrophale Folgen für das Knochen-
(B) gerüst und das Herz-Kreislauf-System. Ernährungsmän- Vielen herzlichen Dank. (D)
gel und Fehlernährung sind ebenfalls Ursachen für kos-
tenintensive chronische Erkrankungen, die vermieden (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
werden könnten oder deren Eintreten hinausgezögert der LINKEN)
werden könnte.
Damit möchte ich sagen: Auch bei alten Menschen Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
lohnt sich eine breit angelegte Präventionsmaßnahme, Der nächste Redner ist Johannes Singhammer für die
CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
die das Leben vielleicht noch einmal lebenswerter neten der FDP)
macht. Hier müssen Koordination, Lenkung und Evalua-
tion künftig eine wesentlich größere Rolle spielen. Der Johannes Singhammer (CDU/CSU):
schwache Setting-Bereich der heutigen Präventions- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
strukturen macht besonders deutlich, wie wichtig eine ren! Frau Graf, ein paar neue Gedanken statt alter Vor-
nationale Präventionsstrategie ist und wie richtig die schläge wären ganz gut gewesen. Gesünder essen und
Forderung unseres Antrages nach einer Stiftung ist. Wir mehr Bewegung machen jeden Einzelnen in Deutsch-
wollen mit dieser Stiftung alle Akteure einbeziehen, so- land gesünder und helfen, die Ausgaben der Kranken-
wohl den Bund, die Länder und Kommunen als auch alle versicherung zu senken. Das wissen wir. Wir verstehen
Sozialversicherungen inklusive der privaten Kranken- Prävention deshalb als Gesundheitsförderung und nicht
versicherungen; sie sollen nicht außen vor bleiben. Wir als Krankheitsbehandlung.
sind der Ansicht, dass dies eine gesamtgesellschaftliche
Aufgabe ist. (Elke Ferner [SPD]: Deshalb tun Sie nichts?)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Das ist das Beste für jeden Einzelnen – das wissen wir –,
der LINKEN) aber auch für unser Land. Bei der Prävention fangen wir
nicht am Punkt Null an. Die Lebenserwartung von Män-
Infolgedessen müssen sich alle Akteure an einen Tisch
nern und Frauen ist Gott sei Dank in den vergangenen
setzen.
Jahrzehnten kontinuierlich gestiegen. Die Deutschen
Ein nationales Institut für Prävention, das der Stiftung werden immer älter, nur die Bundesgesundheitsminister
untergeordnet sein soll, soll Richtlinien erarbeiten, quali- werden immer jünger.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13711
Johannes Singhammer
(A) (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der und warnen vor übertriebener Gesetzesgläubigkeit. Sie (C)
CDU/CSU und der FDP) können doch nicht glauben, dass Sie in einem solchen
höchstpersönlichen Bereich wie der Gesundheitsvor-
Sorge macht uns, sorge allein mit einem Gesetz alles zum Besseren wen-
(Elke Ferner [SPD]: Das macht uns Sorge? – den können.
Heiterkeit bei Abgeordneten im ganzen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Hause) Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
dass ein zunehmend großer Anteil der Bevölkerung an NEN]: Wie wollen Sie diese Kinder denn zu
sogenannten Volkskrankheiten wie Herz-Kreislauf-Er- Eigenverantwortung bringen?)
krankungen, Krebs, Diabetes mellitus, Allergien oder Dazu braucht es Information, Anreize, Motivation, Be-
Erkrankungen des Stütz- und Bewegungsapparates lei- lohnung und Überzeugung.
det. Ein erheblicher Teil dieser Erkrankungen wäre ver-
meidbar. (Lachen bei der SPD – Angelika Graf [Rosen-
heim] [SPD]: Der weiß nicht, wovon er
(Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: Genau!) spricht!)
Die Gründe für diese Erkrankungen sind teilweise nega- Das ist das Richtige.
tive Einflüsse aus der Umgebung, auch am Arbeitsplatz,
aber auch persönliches Fehlverhalten. Wie das gut und erfolgreich funktioniert, wissen wir
doch auch. Ich nehme als Beispiel einmal den Bereich
Darauf hat der Gesetzgeber schon seit längerer Zeit der Zahngesundheit. In diesem Bereich hat nachweisbar
nicht nur reagiert, sondern er hat auch sichergestellt, eine besonders effektive Prävention stattgefunden, die in
dass wirksame Präventions- und Vorsorgeleistungen den vergangenen Jahrzehnten zu besserer Zahngesund-
durch die gesetzliche Krankenversicherung zur Ver- heit geführt hat. Noch in den 70er-Jahren war Zahnersatz
fügung gestellt werden: Vorsorge- und Früherkennungs- eher die Regel. Heute, vier Jahrzehnte später, ist diese
maßnahmen bei Schwangeren und Kindern sowie Regel für junge Erwachsene eher zur Ausnahme gewor-
bezüglich Krebserkrankungen, Gesundheits-Check-up, den.
Prophylaxe und Schutzimpfungen. Das alles ist nicht
neu. Diese sinnvollen Präventionsmaßnahmen funktio- (Petra Crone [SPD]: Weil es eine ordentliche
nieren und werden von niemandem infrage gestellt. Prophylaxe gibt!)
Das Problem ist allerdings, dass ein gewisser Teil der Auch bei der älteren Generation ist der Zahnverlust nicht
Bevölkerung davon weniger Gebrauch macht als ein an- mehr vorprogrammiert. Gerade diese Erfolge in der
(B) derer. Zahnprophylaxe zeigen doch, dass allein ein Gesetz (D)
nicht entscheidend wirkt.
(Elke Ferner [SPD]: Und warum?)
(Elke Ferner [SPD]: Das ist doch gesetzlich
Dieser Teil der Bevölkerung ist uns besonders wichtig. geregelt!)
Dazu gehören beispielsweise die Kinder; denn sie haben
den größten Teil ihres Lebens noch vor sich. Vielmehr ist das Zusammenwirken der Leistungserbrin-
ger, Ärzte und Patienten und eines geschickten Anreiz-
(Elke Ferner [SPD]: Deshalb tun Sie nichts?) und Überzeugungssystems entscheidend.
Wenn 25 Prozent der Drei- bis Zehnjährigen nicht sport- (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
lich aktiv sind, dann gibt das Anlass zur Sorge. Wir wol- NEN]: Eben! Also braucht man auch einen
len uns um diejenigen kümmern, die sich in Bezug auf rechtlichen Rahmen!)
ihren Körper nicht so gut auskennen.
Deshalb wollen wir die Gesundheitsförderung stärken.
(Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: Was tun
Sie denn dafür?) (Elke Ferner [SPD]: Ich würde den Reden-
schreiber entlassen!)
Bei denjenigen, die jeden Tag ins Fitnessstudio gehen
oder jeden zweiten Tag einen Sportverein besuchen und Es gibt eine Vielzahl von erfolgreichen Projekten, um
sich gesund ernähren, ist alles wunderbar. Wir wollen das Thema Vorbeugung im Bewusstsein der jungen
uns um diejenigen kümmern, Menschen, vor allem der Jugendlichen, zu verankern.
Ich nenne die Präventionskampagnen der Krankenkas-
(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE sen und die Erziehung zur Gesundheit in den Kindergär-
GRÜNEN]: Aber wann?) ten und Schulen, die bei den Ländern und Kommunen
die die notwendigen Informationen nicht haben, die ih- liegt. Ich nenne die erfolgreichen Maßnahmen in vielen
ren inneren Schweinehund noch nicht einmal erkannt, Betrieben, um die Arbeitsgesundheit und die Arbeits-
geschweige denn besiegt haben. sicherheit voranzubringen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Elke Ferner [SPD]: In den Betrieben sind die
Drei- bis Zehnjährigen ja stark vertreten!)
Deshalb setzen wir auf Eigenverantwortung
Ich nenne die vielen Einzelprogramme und Maßnahmen
(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ von kirchlichen und sozialen Institutionen, und ich
DIE GRÜNEN) nenne – stellvertretend für eine Vielzahl von erfolgrei-
13712 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011

Johannes Singhammer
(A) chen Programmen der Bundesregierung – den Nationa- Dabei wollen wir folgende Ziele verwirklichen: Wir (C)
len Aktionsplan „In Form – Deutschlands Initiative für wollen Prävention als gesamtgesellschaftliche Aufgabe
gesunde Ernährung und mehr Bewegung“ mit über ausgestalten, die Koordination der Maßnahmen zu Ge-
100 Einzelmaßnahmen. Das zeigt, dass die Bundesregie- sundheitsförderung und Prävention sicherstellen, das
rung gut zusammenwirkt. Ich nenne hier stellvertretend Gremium einer nationalen Präventionskonferenz einrich-
das Bundesverbraucherschutzministerium und freue ten und die Motivation der Bevölkerung zu gesundheits-
mich, dass der Staatssekretär Gerd Müller hier anwesend bewusstem Verhalten durch gezielte und verständliche
ist. Informationen stärken. Wir wollen unsere Anstrengun-
gen auf die Verhinderung vermeidbarer, besonders belas-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
tender und besonders teurer Krankheiten konzentrieren
Elke Ferner [SPD]: Tosender Applaus!)
und insbesondere bei jungen Menschen ansetzen. Die
Ich könnte noch vieles hinzufügen: den Nationalen Verfügungs- und Entscheidungshoheit der sozialen Prä-
Krebsplan, den Aktionsplan zur Umsetzung der HIV/ ventionsträger über die von ihnen eingebrachten Mittel
Aids-Bekämpfungsstrategie. Jetzt ist es notwendig und wollen wir beibehalten.
sinnvoll, alle Gutwilligen und diese vielen Kampagnen
Es nützt überhaupt nichts, in einem Gesetzgebungs-
und Strategien zusammenzubringen, die gemeinsame
verfahren einen Kompetenzstreit, wer was darf und wer
Schlagkraft zu erhöhen und mit neuem Schwung in eine
welche Mittel einzubringen hat, vom Zaun zu brechen.
neue Dimension der Prävention zu starten.
Das nützt dem einzelnen Versicherten gar nichts.
Dabei brauchen wir eines nicht: mehr Bürokratie,
(Elke Ferner [SPD]: In der jetzigen Situation
neue Institutionen, die einen Finanzbedarf haben und bei
nützt den bildungsfernen Schichten überhaupt
denen man sich erst einmal über die Abläufe, Geschäfts-
nichts!)
ordnung und Ähnliches streitet. Stattdessen brauchen
wir eine nationale Präventionskonferenz, Deshalb werden wir uns an einem solchen Verfahren
(Mechthild Rawert [SPD]: Da wird geredet, nicht beteiligen.
geredet, geredet! – Angelika Graf [Rosen- Jetzt komme ich SPD und den Grünen. Ihre Feststel-
heim] [SPD]: Ohne Ergebnis, aber eine Konfe- lungen zielen auf eine zentralistische Institution ab,
renz!)
(Elke Ferner [SPD]: Oh, Herr Singhammer!)
in der Bundes-, Landes- und kommunale Ebene sowie
die Sozialversicherungsträger, die Krankenkassen und die zwangsweise von allen Beteiligten finanziert wird
all diejenigen zusammengeführt werden, die in der Ge- und in einem langen, quälenden Prozess vermutlich vor
(B) sundheitspolitik tätig sind. allem zu neuer Bürokratie und zu Abgrenzungs- bzw. (D)
Kompetenzstreitigkeiten führen wird.
(Elke Ferner [SPD]: Warum haben Sie das
noch nicht gemacht in den letzten zwei Jah- Wir wollen nicht – das sage ich mit aller Deutlich-
ren?) keit –, dass Präventionsmaßnahmen ausschließlich über
Beitragsmittel finanziert werden.
Wir brauchen – das sage ich nicht, um abzulenken,
sondern weil es um die gemeinsame Verantwortung aller (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE
geht – insbesondere die Mitwirkung der Medien. Sie ha- GRÜNEN]: Aha!)
ben eine ganz entscheidende Aufgabe. Deshalb werden Ein Präventionsgesetz darf nicht dazu dienen, dass sich
wir sie bevorzugt einbinden. der Staat auf Kosten der Sozialversicherungsträger und
Ich erinnere an die erfolgreiche Kampagne zur Ver- damit letztlich auf Kosten der Betriebe und der Arbeit-
ringerung der Zahl der Verkehrstoten. Bereits vor eini- nehmer bedient.
gen Jahrzehnten gab es eine Fernsehsendung zur Ver- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
kehrssicherheit mit dem Titel Der 7. Sinn. Weil unsere der FDP)
Autoingenieure besonders tüchtig waren und immer bes-
sere Autos bauten, vor allem aber weil mit dieser Kam- Das wollen wir nicht.
pagne erreicht wurde, dass ein Umdenken eingesetzt hat,
(Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: Wir auch
ist die Zahl der Verkehrstoten um über zwei Drittel zu-
nicht! – Elke Ferner [SPD]: Wovon redet Herr
rückgegangen.
Singhammer? Lesen bildet!)
(Elke Ferner [SPD]: Das stimmt doch nicht!
Prävention betrifft das höchstpersönliche Verhalten
Herr Singhammer, wenn Sie von etwas keine
des Einzelnen. Entscheidend ist nicht, dass man ein um-
Ahnung haben, sollten Sie nicht darüber re-
fangreiches und ausformuliertes Gesetzespaket schnürt.
den!)
Entscheidend ist vielmehr die Motivation der Bevölke-
Eine solche konzertierte Aktion mit den Medien streben rung. Dabei sind wir ein gutes Stück vorangekommen.
wir an. Wir brauchen sie, um Gesundheitsgefährdungen Ich danke allen, die sich daran beteiligt haben. Die Kam-
nachhaltig zu bekämpfen. pagne zur Motivation und Information der Bevölkerung
zur Förderung der Gesundheit wollen wir voranbringen.
(Mechthild Rawert [SPD]: Dann müssen jetzt
Dabei werden wir die größten Erfolge erzielen.
mehr Mittel in das Programm „Soziale Stadt“
gesteckt werden!) Ich danke Ihnen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13713
Johannes Singhammer
(A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der LINKEN – Rudolf Henke (C)
[CDU/CSU]: Aber es würde schon sehr hel-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: fen!)
Das Wort hat nun Martina Bunge für die Fraktion Die Das Gesundheitsverhalten erklärt die unterschiedliche
Linke. Lebenserwartung bei Armen und Reichen nur zu einem
geringen Teil. Es sind die Verhältnisse.
(Beifall bei der LINKEN)
Von Schwarz-Gelb haben wir keine ernstzunehmen-
Dr. Martina Bunge (DIE LINKE): den Initiativen zur Gesundheitsförderung und Prävention
zu erwarten. Es wird wieder einmal eine Kampagne zu
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ernährung und Bewegung geben. Herr Singhammer, das
Nach Ihrer Rede, Herr Singhammer, muss ich sagen: Ge-
waren hier Ihre ersten Worte. Ich zitiere einen Experten
sundheitsförderung und Prävention werden in Deutsch-
aus dem Sachverständigenrat zur Begutachtung des Ge-
land leider stiefmütterlich behandelt;
sundheitswesens, Rolf Rosenbrock, der bereits 2003
(Beifall der Abg. Dr. Marlies Volkmer [SPD]) schrieb: Kampagnen entsprechen nicht mehr dem Stand
der gesundheitswissenschaftlichen Erkenntnisse. – Aber
auch Ihre Beispiele können darüber nicht hinwegtäu- diese Erkenntnis scheint bei der Bundesregierung noch
schen. Diese Themen werden unseres Erachtens völlig nicht angekommen zu sein.
zu Unrecht stiefmütterlich behandelt.
(Beifall bei der LINKEN)
Wir sehen: In Deutschland hat sich die Lebenserwar-
tung seit 1871, seitdem sie dokumentiert wird, verdop- Umso erfreulicher ist, dass die Opposition tätig wird.
pelt. Das ist ein großer Erfolg. Dieser Erfolg ist sicher (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
zum Teil auf den medizinischen Fortschritt zurückzufüh- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN –
ren. Klar ist aber auch: Den allergrößten Anteil an der Zurufe von der FDP: Oh!)
Zunahme der Lebenserwartung hat die Medizin nicht.
Ich denke, Herr Singhammer, wir brauchen ein Gesetz –
(Dr. Erwin Lotter [FDP]: Was?) aber nicht für mehr Bürokratie. Entscheidend ist, was da-
Bessere Hygiene, bessere Arbeitsbedingungen, bessere rinsteht. Ich sehe in den Anträgen der Opposition, die
und ausreichende Nahrungsmittel waren die entschei- sich nicht entgegenstehen, sondern eher ergänzen, auch
denden Größen für diesen Erfolg. Impulse. Diese Anträge sollten Sie bitte einmal lesen.
Dann wüssten Sie vielleicht, worüber wir hier sprechen.
(Beifall bei der LINKEN)
(B) (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- (D)
Die Lebensbedingungen der Menschen gesundheits- NIS 90/DIE GRÜNEN)
förderlich zu gestalten, das ist der Schlüssel. Es gibt Die Linke will Prävention weiterdenken. Dabei sind
folglich keinen Grund, die kurative bzw. behandelnde drei Aspekte besonders wichtig.
Medizin so sehr in den Mittelpunkt des Gesundheitssys-
tems zu stellen, wie es gegenwärtig der Fall ist. Wir Erstens. Gesundheit oder das Wohlbefinden der Men-
brauchen endlich einen Paradigmenwechsel hin zu ei- schen ist ein so hohes Gut, dass es ruhig etwas kosten
nem gesundheitsförderlichen, präventiven Gesundheits- darf.
system und zu einer gesundheitsförderlichen Gesamt- (Beifall bei der LINKEN)
politik.
Es ist richtig, dass gute Gesundheitsförderung und nicht-
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- medizinische Primärprävention langfristig Kosten im
neten der SPD) Gesundheitssystem einsparen können. Wir haben diesen
Wer nun meint, die Lebensbedingungen, von denen ich Aspekt aber nicht in unserem Antrag erwähnt, weil wir
anfangs gesprochen habe, seien heutzutage in Deutsch- auch dann Gesundheitsförderung und nichtmedizinische
land genügend gesundheitsförderlich gestaltet, der irrt ge- Primärprävention favorisieren und massiv fördern wol-
waltig. Wer in Deutschland arm ist, stirbt zehn Jahre frü- len, wenn sie nichts einsparen würden. Der Mensch mit
her. Dieser Unterschied in der Lebenserwartung ist weder seinem Glück und Wohlbefinden muss im Zentrum un-
durch den unterschiedlichen Zugang zum Gesundheits- serer Überlegungen stehen.
system noch durch ein unterschiedliches Gesundheitsver- Die wichtigsten Dinge im Leben – dazu gehören die
halten ausreichend zu erklären, Herr Singhammer. Gesundheit und das Wohlbefinden – dürfen nicht unter
Ich sage das ganz deutlich in Richtung FDP: Den Kostenvorbehalt stehen.
Menschen individuell die Schuld am Kranksein zu ge- (Beifall bei der LINKEN)
ben, weil man meint, die Dicken müssten nur ein biss-
chen weniger essen und die Raucher müssten aufhören, Gesundheitsförderung und nichtmedizinische Primärprä-
zu qualmen, vention müssen ausreichend und sicher ausfinanziert
werden, beispielsweise zum Start mit 1 Milliarde Euro
(Lars Lindemann [FDP]: Das wäre nicht an Bundeszuschuss jährlich, wie wir fordern.
schlecht!)
Unser zweiter Punkt des Weiterdenkens. Gesundheit
löst die Probleme nicht, die wir haben. und das Wohlbefinden, aber auch das Leben an sich – also
13714 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011

Dr. Martina Bunge


(A) die Lebenserwartung – sind so hohe Güter, dass wir es Wir brauchen eine flächendeckende und dauerhafte (C)
nicht zulassen dürfen, dass sie in einem solch hohen Infrastruktur der Gesundheitsförderung, die sich zwar an
Maße davon abhängen, in welche Familie man zufällig bundeseinheitlichen Zielen orientiert, die aber entspre-
hineingeboren wird. Es widerspricht der Würde des Men- chend den unterschiedlichen Bedingungen in den Regio-
schen, wenn wir zulassen, dass die Lebenserwartung ei- nen von den Akteuren vor Ort gestaltet und weiterentwi-
nes Kindes aus einer sozial benachteiligten Familie zehn ckelt wird. Um die äußeren Rahmenbedingungen dafür
Jahre geringer ist und die Gesundheit im Durchschnitt zu schaffen, brauchen wir ein Präventionsgesetz.
deutlich schlechter ist als die eines Kindes aus einer be-
güterten Familie. Es ist wichtig, dass diese Aspekte bei der Ausarbei-
tung eines solchen Gesetzes berücksichtigt werden. Des-
Gesundheitsförderung und nichtmedizinische Primär- halb sollten wir im Ausschuss noch einmal intensiv da-
prävention sind geeignete Maßnahmen, die Auswirkun- rüber reden. Vielleicht fruchtet das dann.
gen der sozialen Ungerechtigkeiten in unserem Land zu
vermindern. Wenn wir diesen Ansatz nicht nutzen, ha- Danke schön.
ben Gesundheitsförderung und Prävention ihren Sinn
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
verfehlt.
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
(Beifall bei der LINKEN) GRÜNEN)
Es ist natürlich klar: Gesundheitsförderung und Prä-
vention allein können das Problem der sozialen Unge- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
rechtigkeiten nicht lösen. Die Lebensbedingungen für Das Wort hat nun Erwin Lotter für die FDP-Fraktion.
alle im Land gesundheitsförderlicher zu gestalten, ist
eine Querschnittsaufgabe aller Politikfelder. Deshalb (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
müssen wir eine gerechtere Politik betreiben. Aber ich der CDU/CSU)
denke, dafür brauchen wir eine andere Regierung. Mit
dieser wird das nicht zu machen sein. Dr. Erwin Lotter (FDP):
(Beifall bei der LINKEN und der SPD) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Viele Wege führen nach
Ich komme zum dritten wesentlichen Ansatz: Wir Rom. Über das Ziel sind wir uns alle einig. Prävention
stellen die Ressourcen und die Fähigkeiten der Men- ist unverzichtbar. Viele Krankheiten lassen sich durch
schen in den Mittelpunkt unseres Antrags. Gesundheits- Prävention vermeiden. Milliarden Euro ließen sich da-
förderung bedeutet für uns ganz zentral, die Fähigkeiten durch jedes Jahr sparen. Die Belastung der Sozialsys-
(B) der Menschen zu stärken, damit sie ihr Leben selbstbe- teme wird langfristig verringert. (D)
stimmt gestalten und ihre Anforderungen kreativ und zu-
friedenstellend lösen können. Nicht einig sind wir uns über den Weg. SPD und
Grüne fordern in ihrem Antrag ein Präventionsgesetz.
Wir haben Vertrauen in die Menschen. Alle Men- Wir Liberale können die Notwendigkeit eines solchen
schen können ihr Leben so gestalten, dass sie sich damit Gesetzes allerdings nicht erkennen. Denn es existieren
wohlfühlen. Das ist aber nur möglich, wenn die äußeren bereits zahlreiche erfolgreiche Präventionsprogramme.
Umstände es zulassen und die Menschen über ausrei- Sicherlich können sie noch effektiver werden und ge-
chende Fähigkeiten und Ressourcen verfügen. An dieser nauer auf Zielgruppen eingehen. Sie können noch inten-
Stelle muss Gesundheitsförderung ansetzen. Dann ent- siver dazu beitragen, das Bewusstsein für ein gesundes
stehen wirkliche Freiheit und Selbstbestimmung. Leben zu fördern. Hierfür benötigen wir aber nicht
(Beifall bei der LINKEN) schon wieder ein Gesetz. Wir benötigen vielmehr eine
intelligente Strategie.
Diese Selbstbestimmung entsteht aber nicht, indem man
soziale Ungerechtigkeiten weiter verstärkt, einen großen (Elke Ferner [SPD]: Eine intelligente Strategie
Teil der Gesellschaft abhängt bzw. abschreibt und diese ist bei dieser Bundesregierung aber ausge-
Menschen dann auffordert, sich gesundheitsbewusst zu schlossen!)
verhalten und vernünftig zu ernähren. Das ist grotesk;
Bekanntlich zieht jedes überflüssige Gesetz überflüs-
das ist keine logische Argumentation.
sige Bürokratie nach sich. Genau das wollen wir nicht.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der FDP)
Natürlich gilt unser Dank den Enthusiasten, die sich
vor Ort der Gesundheitsförderung und der nichtmedizi- Stattdessen müssen wir das Potenzial der bewährten In-
nischen Primärprävention widmen und sich mit tollen strumente noch besser nutzen als bisher. Das Bundes-
Ideen und den richtigen Ansätzen bemühen. Die Ge- ministerium für Gesundheit entwickelt die Gestaltung
sundheitsförderung krankt aber im wahrsten Sinne des präventiver Maßnahmen kontinuierlich weiter. Dazu ver-
Wortes daran, dass sie nichts als Aktionismus ist. Das pflichtet uns der Koalitionsvertrag. Dieser Verpflichtung
war leider auch unter den vorhergehenden Regierungen kommen wir selbstverständlich nach.
der Fall. Sie ist in diesem Zustand stecken geblieben. (Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: Im Koali-
Gutes versandet: Projekte werden nicht evaluiert, För- tionsvertrag steht nichts!)
dermittel nur zeitlich begrenzt vergeben, mal hier und
mal dort wird etwas initiiert. – Hören Sie einmal zu! Ich lobe Sie jetzt.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13715
Dr. Erwin Lotter
(A) Generell hat der Antrag der SPD viele Problemfelder gewichtig, 25 Prozent der 3- bis 10-jährigen Kinder sind (C)
durchaus zutreffend umschrieben. Aber leider ziehen Sie sportlich inaktiv. Die Gefahr für diese Kinder, frühzeitig
daraus die falschen Konsequenzen. Wem wäre denn mit an Diabetes und Skeletterkrankungen zu leiden, ist hoch.
der von Ihnen geforderten Stiftung „Prävention und Ge- Die Strategie für Kindergesundheit muss effektiver wer-
sundheitsförderung“ gedient? den als bisher. Vor allem muss früher angesetzt werden.
Wenn die ersten Symptome vorliegen, ist es fast schon
(Heinz Lanfermann [FDP]: Dem Stiftungsrat!)
zu spät.
Es wäre noch eine weitere bürokratische Ebene mehr,
(Elke Ferner [SPD]: Wer soll das machen?)
die sich um einen Bereich kümmert, in dem Bund und
Länder bereits viel unternehmen. Was soll Ihre Forde- Zur Vorbeugung kommt eine Reihe von Maßnahmen
rung, die Krankenkassen auf einen Mindestausgaben- infrage.
richtwert in Höhe von 10 Euro pro Versichertem festzu-
nageln? Ein ganzes Heer von Sachbearbeitern müsste die (Elke Ferner [SPD]: Nämlich?)
Umsetzung dieses Richtwerts und gegebenenfalls die Durch Früherkennungsuntersuchungen für Kinder und
Durchsetzung von Sanktionen überwachen. Jugendliche bis 18 Jahre könnten Risiken zeitig erkannt
(Elke Ferner [SPD]: Es gibt einen Gesund- und ein Gegensteuern möglich gemacht werden.
heitsfonds, Herr Kollege! Das kann man ganz (Elke Ferner [SPD]: Mehr Geld für die Ärzte!
einfach machen!) Wieder das Übliche! – Angelika Graf [Rosen-
Die diffus gehaltene Forderung, individuelle Programme heim] [SPD]: Warum machen wir es dann
zurückzufahren und mehr Leistungen in den Bereich von nicht?)
Settings zu investieren, ist nicht zielführend; Mehr als bisher müssen Lehrer, Ärzte und Eltern auf An-
(Elke Ferner [SPD]: Sie haben eine sehr einge- zeichen psychischer Erkrankungen achten. Die sprung-
schränkte Fantasie, Herr Lotter!) haft angestiegene Rate an ADHS-Erkrankungen ist ein
Warnsignal.
denn die ganz persönliche, individuelle Situation ist im
Zweifel für den Erfolg von Prävention viel entscheiden- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der als Setting-Strukturen. der CDU/CSU)

(Beifall bei der FDP – Dr. Martina Bunge Wir müssen die Lebensumstände der Familien mehr
[DIE LINKE]: Haben Sie schon einmal wis- in den Blick nehmen als bisher. Gegebenenfalls muss
senschaftliche Studien gelesen?) eine Erziehungsberatung angeboten werden. Viele fal-
(B) sche Weichenstellungen sowohl bei der physischen als (D)
Ich möchte jetzt nicht die unzähligen Programme auf- auch bei der psychischen Gesundheit entstehen durch
zählen, die in den letzten Jahren – übrigens von allen mangelhafte Hilfen für überforderte Familien. Dieses
großen Parteien – initiiert worden sind. Die entschei- Problem ist besonders in den sozial schwächeren Teilen
dende Frage ist, ob diese Programme ihr Ziel auch errei- der Bevölkerung verbreitet.
chen.
(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE
Die Bundesregierung will, dass Prävention alle Versi- GRÜNEN]: Was schließen wir daraus?)
cherten und alle Altersgruppen erreicht.
Gleiches gilt für Kinder und Jugendliche mit Migrations-
(Elke Ferner [SPD]: Das passiert eben nicht!) hintergrund.
Dazu benötigen wir die Setzung von Schwerpunkten. (Zuruf von der LINKEN: Sie werden
Diese müssen dort liegen, wo die nachhaltigste Wirkung benachteiligt!)
zu erwarten ist.
Wer hier wirksam helfen will, der setzt am besten bei
(Elke Ferner [SPD]: Wer setzt denn die der Familie an. Bevor das Kind in den Brunnen gefallen
Schwerpunkte?) ist, sollte man die Idee eines Elternführerscheins disku-
tieren. Eltern sollten durch die Teilnahme an Kursen fit
– Warten Sie ab! – Auf einige dieser Schwerpunkte
gemacht werden.
möchte ich jetzt im Einzelnen eingehen.
(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE
(Elke Ferner [SPD]: Wer soll die denn setzen?)
GRÜNEN]: Herr Lotter, das wollen wir im
Die Weichen für eine gesunde Lebensführung werden Kinderschutzgesetz!)
im Kindes- und Jugendalter gestellt. Zu keiner Zeit ist
Ein Elternführerschein ist ein Beitrag zur Prävention, zur
Prävention so wichtig.
Förderung der ersten Schritte im Leben eines Kindes zu
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten seinem Wohl und dem seiner Eltern sowie zur Entlas-
der CDU/CSU – Elke Ferner [SPD]: Genau! tung öffentlicher Einrichtungen, etwa der schon heute
Eigenverantwortung! Das haben wir eben überlasteten Schulen, die später reparieren sollen, was
schon von Herrn Singhammer gehört!) überforderte Eltern zuvor versäumt haben.
Die aktuellen Befunde sind alarmierend: 15 Prozent der Ein weiteres wichtiges Instrument ist die Ernährungs-
Kinder und Jugendlichen von 3 bis 17 Jahren sind über- beratung. Wenn Kinder erst einmal an Adipositas leiden
13716 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011

Dr. Erwin Lotter


(A) und von ihren Mitschülern verspottet werden, ist der Zug (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Die redet doch (C)
schon fast abgefahren. Diese Beratung soll niemandem bei jedem Thema mit!)
aufgezwungen werden, wir können sie aber durch An-
reize attraktiv machen. Dr. Erwin Lotter (FDP):
Ja.
(Elke Ferner [SPD]: Welche?)
Warum sollte es nicht zum Beispiel Sachleistungen als Kathrin Vogler (DIE LINKE):
Bonus dafür geben, dass sich Familien beraten lassen Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie mir die Zwi-
und ihre Kinder dadurch nachweislich gesünder ernäh- schenfrage gestatten.
ren? Das kann ein Fahrradhelm sein oder eine Jahresmit-
gliedschaft in einem interessanten Sportverein. Dr. Erwin Lotter (FDP):
Immer gerne.
(Mechthild Rawert [SPD]: Wir haben ein
Bildungspaket!)
Kathrin Vogler (DIE LINKE):
Solche Leistungen, die die Krankenkassen übernehmen Sie haben gerade sinngemäß gesagt, dass es bei den
müssten, werden sich langfristig mehr auszahlen, als in Kinder- und Jugendärzten noch ein unterentwickeltes
einer überflüssigen Stiftung Angestellte zu beschäftigen. Bewusstsein für Prävention und Gesundheitsförderung
gibt.
(Beifall bei der FDP – Elke Ferner [SPD]: Wer
informiert denn die Eltern über diese Leistun- Ich war in der letzten Woche auf einer Veranstaltung
gen?) in Essen. In der Essener Nordstadt, in den nördlichen
Stadtbezirken, gibt es 10 000 Kinder und Jugendliche,
– Hören Sie bis zum Ende zu, dann werden Sie das alles also 10 000 junge Patientinnen und Patienten, und nur
erfahren, was Ihnen noch unklar ist. noch zwei niedergelassene Kinder- und Jugendärzte,
weil sich die Ärzte lieber in den südlichen Stadtbezirken
(Elke Ferner [SPD]: Ich fürchte, dabei wird niederlassen, wo die Klientel attraktiver ist.
nichts herauskommen!)
(Patrick Döring [FDP]: Ist das eine Lebens-
Wichtig ist auch, dass in Gemeinschaftseinrichtungen beichte?)
wie Kindergärten, Schulen und Vereinen das Bewusst- Im Essener Norden leben viele Migrantinnen und Mi-
sein für Gesundheit gefördert werden muss. Natürlich granten und viele finanziell benachteiligte Familien.
(B) müssen diese Einrichtungen selber gesunde Ernährung (D)
bereitstellen. Für diese Institutionen sind in den letzten Wie sollen diese zwei Kinder- und Jugendärzte, die
Jahren viele Aktionsprogramme entworfen worden. zusammen 10 000 junge Patientinnen und Patienten in
Diese werden wir weiterführen und ergänzen. der Kartei haben, über die Vorsorgeuntersuchungen hi-
naus, die sie durchführen, auch noch zusätzliche Präven-
(Elke Ferner [SPD]: Wer bezahlt?) tionsangebote machen?
Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass bei Haus- und (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Deshalb ma-
Kinderärzten zuweilen die kurative Seite dominiert und chen wir ein Versorgungsgesetz!)
die präventive Seite ins Hintertreffen gerät. Hier sind die Das sehe ich schon einmal gar nicht. Ich finde das gera-
Ärzte gefordert, um Prävention auf breiter Front durch- dezu illusionär.
zusetzen. Deshalb müssen wir das Engagement der
Haus- und Kinderärzte fördern. (Gisela Piltz [FDP]: Das ändern wir jetzt durch
das Versorgungsgesetz!)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wir haben gerade von allen anderen Rednerinnen und
Ein weiterer Schwerpunkt der Präventionsstrategie ist Rednern auch gehört,
die Gesundheitsförderung im Betrieb. Die meisten Un- (Rudolf Henke [CDU/CSU]: Frage!)
ternehmen wollen gesunde, tatkräftige Mitarbeiter. Sie
sind auch willens, sich für Prävention starkzumachen. dass anerkannt worden ist, dass die Präventionsmaßnah-
Leider ist festzustellen, dass sich die Krankenkassen men vor allem diejenigen erreichen, die sie eigentlich
sehr unterschiedlich um Prävention bemühen. Gerade weniger brauchen. Im Essener Norden besteht aber ein
kleine und mittlere Unternehmen haben es schwer, wenn echter Bedarf. Wie stellen Sie sich vor, dass wir dort ak-
sie sich einer Vielzahl von Krankenkassen gegenüber- tiv werden können, um die Lebensbedingungen der
sehen. Die Gestaltung von Gruppentarifverträgen für die Menschen dort, vor allem der Kinder und Jugendlichen,
zu verbessern? Wir sollten den Kinder- und Jugendärz-
Beschäftigten eines Betriebes könnte dazu beitragen, die
ten nicht vorwerfen, dass sie ihren Job nicht ordentlich
Gesundheitsförderung zu intensivieren.
machen.

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Dr. Erwin Lotter (FDP):


Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Vielen Dank. Ich dachte schon, es käme gar keine
Kollegin Vogler von der Linksfraktion? Frage mehr und Ihr Beitrag wäre nur ein Koreferat.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13717
Dr. Erwin Lotter
(A) Die Vorvorgängerin im Amt des Gesundheitsminis- die Menschen nicht nur erreichen, sondern auch motivie- (C)
ters hat sich immer an dieses Rednerpult gestellt und er- ren.
klärt, dass soundsoviele Milliarden Euro für die Versor-
Außerdem benötigen wir bundesweit einheitliche
gung zur Verfügung gestellt werden und alles bestens ist.
Qualitätsstandards für alle Arten von Präventionsleistun-
Es war unser Gesundheitsminister, Minister Rösler
gen. Dies würde auch den Kassen bei der Abstimmung
(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ihrer Maßnahmen helfen. Die Standards sind zuverlässig
NEN]: Welcher denn jetzt?) einzuhalten. Daher brauchen wir so bald wie möglich ein
einheitliches Verfahren zur Überprüfung der Wirkungen
– Rösler, das sagte ich gerade –, der dieses Problem, dass präventiver Leistungen.
wir auf einen Ärztemangel zusteuern und in bestimmten
Regionen schon einen Ärztemangel haben, zum ersten Für all dies benötigen wir weder ein Gesetz noch eine
Mal beschrieben hat. Das wurde hier zum ersten Mal ar- neue Behörde, sondern guten Willen und Einfallsreich-
tikuliert. Es wurden jetzt auch Strategien entworfen. tum. Wichtig sind Anreizsysteme,
(Elke Ferner [SPD]: Für die Ärzte! Klientel-
(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE politik wie gehabt!)
GRÜNEN]: Es kann doch wohl nicht wahr
sein, dass wir statt über Prävention schon wie- ein besserer Informationsfluss und eine bessere Koordi-
der über Versorgung reden!) nation der Krankenkassen.
Wenn Sie sich unseren Entwurf des Versorgungsge- (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Informie-
setzes anschauen, dann sehen Sie, dass wir gerade dieses ren Sie sich mal in der Literatur!)
Problem angehen, indem wir die Versorgung anders und Wie ich eingangs sagte: Viele Wege führen nach
zielgenauer definieren und Ärzte über Anreize dazu Rom. Die Liberalen möchten, dass wir den besten ein-
bringen wollen, sich auch in solchen Gegenden nieder- schlagen.
zulassen. Unabhängig davon muss man die Ärzte natür-
lich informieren. Es muss sich für die Ärzte auch irgend- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
wie rechnen, dass sie sich um Prävention bemühen. der CDU/CSU)

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
der CDU/CSU) Das Wort hat nun Maria Klein-Schmeink für die Frak-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, immer mehr Men- tion Bündnis 90/Die Grünen.
(B) schen werden immer älter. Wir wollen ihre Lebensquali- (D)
tät fördern. Durch körperliche und geistige Fitness wird Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
die Lebensfreude erhalten und werden die Krankenversi- NEN):
cherungen entlastet. Bewegung, gesunde Ernährung und Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-
soziale Teilhabe schützen vor Demenz. Die präventiven nen und Kollegen hier im Hause! Ich habe heute Morgen
Potenziale in diesem Feld werden bei weitem nicht aus- die Beratungen zu dem vorherigen Tagesordnungspunkt,
reichend genutzt. Ältere Menschen werden allerdings dem Bundeskinderschutzgesetz, gehört. Da habe ich
seltener über das Internet oder über Institutionen ange- erstmalig eine sehr konstruktive Debatte erlebt, bei der
sprochen. Hier können Initiativen über Wohnheime, ich das Gefühl hatte: Alle hier im Saal wollen tatsächlich
Kommunen oder auch kirchliche Gemeinden ansetzen. zu neuen Lösungen kommen.
Meine Damen und Herren, wir haben zahlreiche In- (Beifall der Abg. Stefanie Vogelsang [CDU/
strumente zur Prävention, die wir nur besser nutzen müs- CSU])
sen. Sehr wichtig ist die Bundeszentrale für gesundheit- Das würde ich mir für die Prävention in gleicher Weise
liche Aufklärung, die mehr Projekte für ältere und für wünschen.
sozial benachteiligte Menschen starten könnte. Sehr
wichtig sind auch die Krankenkassen. Sie sind nach (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
§ 20 SGB V dazu berufen, sich um Maßnahmen der pri- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
mären Prävention zu kümmern. Eine bessere Koordina- LINKEN und der Abg. Stefanie Vogelsang
tion zwischen den Kassen über Ziele und Maßnahmen [CDU/CSU])
der Prävention scheint mir dringend erforderlich zu sein. Entsprechende Äußerungen habe ich heute bislang von-
Die Kassen müssen schon aus Eigeninteresse stärker ini- seiten der Regierungskoalition leider noch nicht gehört.
tiativ werden; denn jede vermiedene Krankheit spart Das finde ich schade.
Geld und stärkt die Position der Kasse im Wettbewerb.
Man sieht anhand der drei Anträge, die wir hier in den
Zu einer erfolgreichen Strategie gehören für mich Bundestag eingebracht haben, dass sehr konstruktive
noch zwei weitere Aspekte. Wir benötigen eine bessere Vorschläge auf den Tisch gelegt worden sind. Sie sind in
Bündelung von Informationen für Patienten. Je besser Teilen unterschiedlich – man muss auch nicht alle An-
Menschen informiert sind, desto eher übernehmen sie sichten teilen –, aber die Richtung ist im Grunde klar:
Verantwortung für die eigene Gesundheit. Informationen Wir müssen mehr für die Prävention tun. Wir müssen
sollten über Ärzte, Schulen, Krankenkassen, Betriebe mehr für die Gesundheitsförderung tun. Das dürfen wir
und soziale Hilfsdienste so kanalisiert werden, dass sie nicht einfach nur dem Wettbewerb der Krankenkassen
13718 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011

Maria Klein-Schmeink
(A) überlassen oder aber daraus nur eine Sonntagsrede ma- Tisch bringen kann. Der Wille dazu ist in den Ländern (C)
chen. So ist es aber bislang. So dürfen wir nicht weiter- und Kommunen vorhanden. Das ist kein Problem. Ihnen
machen. brennen nämlich die Probleme auf den Nägeln; sie kön-
nen sich ihnen nicht entziehen. An dieser Stelle sind wir
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, gefragt, die Rahmenbedingungen zu schaffen, damit eine
bei der SPD und der LINKEN) verbindliche Finanzierungsgrundlage, Aufgabenzutei-
Wir haben heute relativ wenig Fakten und Zahlen be- lung und Aufgabenstellung zustande kommen. Das ist
müht. Ich habe mir einmal angesehen, wie viel wir für unsere Aufgabe in diesem Saal und nirgendwo anders.
die Gesundheit ausgeben, und zwar über alle Sozialleis-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
tungsträger gesehen. Das sind ungefähr 270 Milliarden
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
Euro. Wir geben gerade einmal 2,3 Prozent dieser
Summe für Prävention und Gesundheitsförderung aus. LINKEN)

(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Das ist Das ist das eine. Das andere ist: Auch bei den ver-
ungeheuerlich!) schiedenen Bemühungen der Krankenkassen müssen wir
feststellen, dass die bruchstückhafte Finanzierung, die
Genau das zeigt, wo derzeit die Schieflage ist. In dieser wir derzeit haben, sogar noch rückläufig ist. In der Zeit
Art und Weise können wir nicht weitermachen. der Großen Koalition sind Sie nicht vorangekommen,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN obwohl Sie versprochen hatten, endlich etwas zu tun.
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- Wo aber sind wir gelandet? Im Stillstand.
KEN) Aber unter Schwarz-Gelb sind wir derzeit nicht ein-
Herr Singhammer und Herr Lotter, zu diesem Thema mal im Stillstand; wir machen sogar Rückschritte.
hätte ich mir ein paar konkretere Hinweise gewünscht. (Dr. Erwin Lotter [FDP]: Na, na, na!)
Sie haben gesagt: Im Grunde genommen ist alles, so wie
es ist, gut. Wir müssen noch ein bisschen mehr Kampa- Das ist die Realität, die Sie zur Kenntnis nehmen müs-
gnen machen und mehr guten Willen zeigen. Wir müssen sen. Die Ausgaben für Prävention sind derzeit niedriger
mehr Fantasie aufbringen und sehen, dass wir das eine als noch im Vorjahr. Sie werden in Zeiten von Zusatzbei-
oder andere besser bündeln. Dann haben wir genug ge- trägen im nächsten Jahr weiter rückläufig sein. Das wis-
tan. – Dazu kann ich nur sagen: Das reicht nicht. sen wir schon heute. Das muss doch Grund sein, uns
langsam darüber Gedanken zu machen, wo wir eigent-
Viele von Ihnen dürften auch in den Kommunen aktiv
lich hinwollen.
sein und vielleicht auch Kommunalpolitik gemacht ha-
ben. In den Kommunen sehen Sie, dass die Realität eine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (D)
(B)
vollständig andere ist. Die Menschen, die über die ge- sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
ringsten Chancen auf Gesundheit und über wenig Bil- KEN)
dung verfügen, werden von den Präventionsmaßnahmen
bislang nicht erreicht. Da, wo in sozialen Brennpunkten Dieser Aufgabe müssen Sie alle sich stellen. Sie können
für diese Gruppen Projekte entwickelt und mühselig nicht einfach unterstellen, dass wir irgendeine bürokrati-
finanziert werden, stellt sich nach zwei Jahren die Frage: sche Idee im Kopf haben. Darum geht es nicht. Es geht
Wie wird dieses Projekt weiterfinanziert? Das ist heute, vielmehr darum, eine vernünftige Grundlage zu schaf-
zwölf Jahre nachdem wir Gesundheitsförderung und fen.
Prävention ins Gesetz geschrieben haben, immer noch Wenn Sie einen besseren Vorschlag haben, können
die Realität. Das müssen wir ändern. Da sind wir alle ge- Sie ihn gerne vorlegen. Dazu werden wir, hoffe ich, in
fragt.
der nächsten Zeit Gelegenheit haben.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der So viel als Eingangsbemerkung. Gemessen daran,
LINKEN) was wir beim Thema Kinderschutz erlebt haben, wären
auch beim Thema Prävention konstruktivere Schritte nö-
Wenn jetzt festgestellt wird, dass ein Richtungs- und tig.
Prioritätenwechsel notwendig ist, dann muss er auch tat-
sächlich angegangen werden. Wir werden nicht darum (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
herumkommen, entsprechende gesetzliche Regelungen und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
zu schaffen. Hier ist immer wieder davon die Rede, ein LINKEN – Stefanie Vogelsang [CDU/CSU]:
Präventionsgesetz werde als Wert an sich bemüht und Dann hätte Ihre Kollegin aber anders einstei-
nur zu mehr Bürokratie führen. Das Gegenteil ist der gen sollen!)
Fall: Wir haben jetzt sehr viel Stückwerk, Leerlauf und – Es geht nicht darum, wer wie anfängt. Jeder hat es in
Bürokratie für Kleinstprojekte. Das ist die Realität, und der Hand – Sie reden ja gerne von Eigenverantwortung –,
das müssen wir angehen. den Stil zu ändern.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich möchte aber auf den jetzigen Stand zu sprechen
und bei der SPD)
kommen. Derzeit haben wir ein Wirrwarr von Zustän-
Sie könnten dabei auf alle Vorschläge zurückgreifen, digkeiten. An dieser Stelle können wir ansetzen. Dafür
die wir vorgelegt haben. Wir haben Vorschläge dazu ge- brauchen wir das Präventionsgesetz. Wir haben keine
macht, wie man Bund, Länder und Kommunen an einen stabile Finanzierungsgrundlage. Auch dafür brauchen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13719
Maria Klein-Schmeink
(A) wir eine gesetzliche Regelung, wie auch immer Sie das Anträgen der Opposition – eben wurde gesagt, dass sich (C)
dann nennen. Das können Sie ja anders machen. diese ergänzten und im Prinzip eine Einheit bildeten –
etwas gelöst haben und das Ganze etwas differenzierter
Darüber hinaus brauchen wir aber auch vernünftige
betrachten. Ich halte das für richtig. Ich komme gleich
Strategien. Denn derzeit haben wir in der Tat verschie-
auf den von Ihnen angesprochenen Ansatz zurück. Ich
dene Strategien, vor allem Marketingstrategien der
will aber zuerst sagen: Die Akzente der Oppositionsan-
Krankenkassen; sie werden aber nicht zusammen be-
träge, die Sie uns bisher präsentiert haben, sind nichts
trachtet. Das muss sich ändern. Wir müssen die Grundla-
anderes als ein Werben für die nichtmedizinische Pri-
gen dafür schaffen und bestehende Initiativen wie „In
märprävention, die Sie gewissermaßen gegen ärztliche
Form“ auf eine breite Plattform stellen. Wir brauchen
Präventionsbemühungen und Präventionsbemühungen
eine Übereinkunft darüber, dass das unser gemeinsames
der Pflegekräfte stellen. Sie stellen hier eine Polarität
Programm auf allen Ebenen ist.
her.
(Beifall der Abg. Stefanie Vogelsang [CDU/
(Elke Ferner [SPD]: Das stimmt doch gar
CSU])
nicht!)
Das müssen wir als nationale Strategie ergänzend zu
dem gestalten, wofür wir die gesetzlichen Grundlagen Sie machen eine Front zwischen Prävention einerseits
schaffen. und Behandlung andererseits auf.

Diese Visionen brauchen wir. Diese Aufgaben müs- (Elke Ferner [SPD]: Sie machen eine Front
sen wir angehen. Das können wir nicht einfach aussit- auf!)
zen, indem nur ein bisschen analysiert wird, was derzeit – Lesen Sie doch Ihren Antrag! – Sie versuchen, das ge-
vorhanden ist, und allenfalls der Beitragsanteil pro Ver- geneinander auszuspielen. Sie stellen Aspekte der Insti-
sicherten weiter angehoben wird. Das kann nicht die Lö- tutionalisierung in den Vordergrund. Sie machen eine
sung sein. Wir brauchen vielmehr eine Gesamtstrategie. Front zwischen sozialen Schichten auf.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Sie machen
bei der SPD und der LINKEN) die mit Ihrer Politik auf!)
Wenn Sie, wie es vorhin der Fall war, versuchen, sich – Verehrter Kollege Weinberg, Sie von der Linken dis-
mit dem Hinweis auf die persönliche Eigenverantwor- kreditieren ganz bewusst individuelle Anstrengungen,
tung herauszureden, dann ist das keine geeignete Strate-
gie. Sie alle wissen: Prävention und Gesundheitsförde- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
rung sind Instrumente gegen die soziale Schieflage. Das weil Sie die Eigenverantwortung in Misskredit bringen (D)
(B)
ist auf allen Ebenen bekannt. Diesem Thema müssen wir wollen. Reden Sie nicht! Lesen Sie Ihren eigenen An-
uns stellen. Das können wir nicht, indem wir nur an die trag!
Eigenverantwortung appellieren. Das ist ein Rückschritt
und führt in die Sackgasse. So werden wir nicht weiter- Ich darf aus dem Antrag der Linken zitieren:
kommen. Die bisher hauptsächlich angewendete Prävention
Befassen Sie sich mit unseren Vorschlägen, die wir … mündet zumeist im Versuch von Verhaltensände-
vorgelegt haben, statt sich an einer aus meiner Sicht zen- rungen durch Informationskampagnen. Sie blendet
tralistischen Stiftungslösung abzuarbeiten, und ziehen die gesellschaftliche Realität und Verantwortung
Sie auch die anderen Ansätze heran, die Ihnen aufge- sowie die individuelle Situation der Menschen aus.
zeigt wurden. Nun kommt der entscheidende Satz:
(Dr. Erwin Lotter [FDP]: Da bleibt auch vieles
Diese Form der Prävention ist daher nicht nur zu-
im Vagen!) meist unwirksam
Gehen Sie mit uns in die Debatte und schauen Sie, dass
– Sie erklären damit also die Kampagnen für Zahnge-
Sie noch in diesem Jahr etwas auf den Weg bringen.
sundheit, die Aidskampagne, die Maßnahmen zur Herz-
Danke schön. Kreislauf-Prävention und alle anderen Anstrengungen
der Institutionen, die etwas für die Verbreitung von prä-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
ventiven Ansätzen in der bürgerlichen Zivilgesellschaft
sowie bei Abgeordneten der SPD)
tun, für unwirksam –,
Vizepräsidentin Petra Pau: sondern vergrößert oft die soziale Schere in der Ge-
Das Wort hat der Kollege Henke für die Unionsfrak- sundheit.
tion. Das ist in logischer Hinsicht Unsinn. Entweder ist
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) diese Form der Prävention unwirksam – dann kann sie
nicht die soziale Schere vergrößern –, oder sie wirkt sich
auf die soziale Schere aus. Dann kann sie aber nicht un-
Rudolf Henke (CDU/CSU):
wirksam sein. Einen solchen unlogischen Unsinn ist man
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und von der Linken ja gewohnt.
Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich bin Ihnen
dankbar, Frau Klein-Schmeink, dass Sie sich von den (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
13720 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011

Rudolf Henke
(A) Ich komme auf die Potenziale der Prävention zurück. aufgefordert, dabei mitzumachen und sich daran zu be- (C)
Frau Klein-Schmeink, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie teiligen.
daran erinnert haben, welche Rolle in der aktuellen De-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
batte auch das Bundeskinderschutzgesetz spielt. Auch in
der gestrigen Debatte über die Energiepolitik und insbe-
sondere über das Ende der Kernenergie in Deutschland Vizepräsidentin Petra Pau:
sind wir letzten Endes gesundheitspräventiven Erwägun- Ist der Satz jetzt beendet?
gen gefolgt.
Rudolf Henke (CDU/CSU):
(Elke Ferner [SPD]: Ach?)
Ja.
– Doch! – Der Gedankengang ist folgender: Bei der Ha-
varie eines Kernkraftwerks drohen derart große Gefah- Vizepräsidentin Petra Pau:
ren für Leib und Leben vieler Menschen, Frau Klein-Schmeink, dann stellen Sie bitte Ihre Zwi-
(Elke Ferner [SPD]: Das hat Sie im letzten schenfrage.
Jahr nicht gestört, die Laufzeiten zu verlän-
gern!) Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
und die medizinischen Möglichkeiten der Heilung von
Herr Henke, Sie haben gerade sehr anschaulich die
Strahlenopfern sind so gering, dass wir dieses Risiko
Folgen von gesundheitsschädlichem Verhalten aufge-
nicht länger in Kauf nehmen wollen. Eine Havarie
zeigt. Wir wissen doch durch viele Projekte, dass man
– diese Möglichkeit wurde bis dato zumindest von uns
gerade Personen, die dieses Gesundheitswissen in der
als gering empfunden – kann also doch plötzlich eintre-
Regel nicht haben, die in der Familie ungünstige Verhal-
ten. Das ist die Botschaft der Bilder von Erdbeben, Tsu-
tensweisen erlernt haben, durch settingbezogene, lebens-
nami und der Kernschmelze in Japan. Wir gestalten nun
weltbezogene Ansätze gut erreichen kann, also eben
unsere Energieversorgung in weiten Teilen neu, um das
nicht durch individuelle Maßnahmen.
Risiko der bei einer Havarie drohenden Gesundheits-
schäden auszuschalten. Das ist der Kern dessen, was wir (Beifall der Abg. Elke Ferner [SPD])
gestern entschieden haben. Es geht um eine gesundheits-
verträgliche Energieproduktion. Haben Sie sich unsere Anträge angeschaut?
(Elke Ferner [SPD]: Nein!)
Als Arzt wünsche ich mir, dass wir die Sensibilität,
die Aufmerksamkeit, die Fantasie und die Handlungsbe- Finden Sie nicht selber, dass man daran arbeiten sollte,
(B) reitschaft, die wir mit den gestrigen energiepolitischen diese Ansätze in der Fläche, vor Ort, vor allen Dingen in (D)
Entscheidungen unter Beweis gestellt haben, um die Ge- den Kommunen stabil und verlässlich zu verwirklichen?
sundheit von Menschen, Tieren und Natur zu schützen, Genau darüber haben wir eben beim Kinderschutzgesetz
auch gegen Gefahren einsetzen, die uns alle ebenso un- in gleicher Weise diskutiert.
mittelbar betreffen. In unserem Land sterben im Jahr
mehr als 100 000 Mitbürger vor der Zeit an den Folgen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
des Rauchens. 40 000 Mitbürger sterben vor der Zeit an
den Folgen maßlosen Konsums von Alkohol. Rudolf Henke (CDU/CSU):
Ich habe mir Ihre Anträge Wort für Wort vorgenom-
Ohne die epidemieartige Ausbreitung – – men. Mein Eindruck, Frau Kollegin Klein-Schmeink, ist,
dass das Bundesministerium für Gesundheit mit großer
Vizepräsidentin Petra Pau: Energie und in enger Abstimmung mit den anderen Res-
Kollege Henke, gestatten Sie eine Zwischenfrage der sorts der Bundesregierung an einer nationalen Präven-
Kollegin Klein-Schmeink? tionsstrategie arbeitet und dass sämtliche Gedanken, die
in diesen Anträgen formuliert sind – jenseits der Frage
Rudolf Henke (CDU/CSU): der Form der Institutionalisierung, ob es eine Stiftung
werden soll oder welche Gremien auch immer man
Ich möchte den Gedanken gern noch zu Ende führen,
schaffen will –, in diese Strategie einfließen. Ich bin
und dann gestatte ich das gerne.
dankbar dafür, dass wir mit der Entwicklung dieser Stra-
Ohne die epidemieartige Ausbreitung der Adipositas, tegie eine weitere Chance haben, über die Notwendig-
also des krankhaften Übergewichts, wären mindestens keiten zu diskutieren.
zwei von drei Zuckerkranken gesund. Wir haben in den
Wenn man auf die letzten 30 Jahre zurückblickt, er-
letzten 30 Jahren, je nach Zählung, das metabolische
kennt man, dass wir, je nach Zählung, 15 bis 30 – man-
Syndrom, also die Konsequenz aus Bewegungsarmut
che sprechen sogar von 50 – Gesundheitsreformen erlebt
und Überernährung, in einer Weise entwickelt, dass wir
haben. Dabei ist es fast immer um die Frage gegangen,
von der Verursachung etlicher Zivilisationskrankheiten
wie viel Geld wohin fließt. Das hat etwas mit einer Miss-
sprechen müssen. Es ist eine blanke Illusion, zu glauben,
interpretation der eigentlich zugrunde liegenden Ursa-
dass man das mit der Schaffung bloßer Institutionen be-
chen für die Kostenentwicklung im Gesundheitsbereich
seitigen kann. Dazu braucht man vielmehr einen gesell-
zu tun.
schaftlichen Bewusstseinswandel, der beim Einzelnen,
bei seiner persönlichen Verantwortung, ansetzt. Jeder ist (Lars Lindemann [FDP]: Sehr richtig!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13721
Rudolf Henke
(A) Wir interpretieren diese Kosten oft ausschließlich als [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist mit (C)
Folge des demografischen Wandels und des zunehmen- den Arbeitslosen?)
den Alters, als Folge des medizinisch-technischen Fort-
Ich stelle auch fest, dass es Betriebe, Unternehmen,
schritts, als Folge der Arzneimittelentwicklung oder als
Konzerne und auch Mittelständler gibt, die genau diesen
Folge der Einkommen der Gesundheitsberufe.
Punkt erkannt haben und deswegen in ihrer konkreten
Ich frage: Ist die Kostenentwicklung in Wahrheit Gesundheitsförderung über die gesetzlichen Pflichten hi-
nicht eine Folge unseres sitzenden Lebensstils, unserer nausgehen. Sie haben das als einen Faktor für ihren be-
Überforderung mit geistig-emotionaler Dauerreizung, trieblichen Erfolg erkannt.
für die wir als ehemalige Savannenläufer nicht konstru-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
iert sind?
Der größte Bonus, den Gesundheitsförderung liefert,
(Beifall des Abg. Lars Lindemann [FDP])
besteht nicht darin, dass die Kasse jemandem, der an ei-
Für übertriebenen Sport sind wir übrigens ebenso wenig nem Kurs teilnimmt, 10 Euro Praxisgebühr erlässt. Der
konstruiert wie für ständiges Sitzen. Das Leitbild kann größte Bonus besteht darin, dass wir uns durch mehr Ge-
also auch nicht der Marathonlauf für jeden Untrainierten sundheit die Chance auf Teilhabe am Leben besser erhal-
sein; denn auch das stellt eine Art Überreizung und ten können. Das ist der Grund dafür, dass der Einzelne
Überforderung dar. Die Art, wie wir essen, wie wir trin- jenseits aller institutionellen Anreize für sich einen Rie-
ken, wie wir uns bewegen oder vielmehr nicht bewegen, sengewinn macht – in der Lebenserwartung und in der
hat vielleicht mehr Einfluss auf unsere Gesundheitsauf- Lebensgestaltung.
wendungen als alle Forderungen der Gesundheitsberufe
(Elke Ferner [SPD]: Jetzt doch wieder Eigen-
zusammen.
verantwortung!)
Natürlich gibt es auch riesige Einflüsse des sozialen
Wenn wir das zum Anlass nehmen, die Debatte über
Eingebettetseins,
die nationale Präventionsstrategie, die die Koalition an-
(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gekündigt hat,
NEN]: Das ist das Problem, an dem wir arbei-
(Elke Ferner [SPD]: Wann kommt die denn?)
ten müssen!)
mit genügend Ernst und mit genügend Sachverstand zu
der Selbstwertvorstellung und der Gedanken zur Sinn- führen,
haftigkeit des Lebens auf die Gesundheit.
(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE
Eine kleine Nebenbemerkung. Welche Entwicklung GRÜNEN]: Sie werden um gesetzliche Rege-
(B) wir im Hinblick auf dieses Eingebettetseins erleben, wie (D)
lungen nicht herumkommen!)
nämlich Krankenkassen mit den Mutter-/Vater-Kind-Ku-
ren umgehen, wie sie die in den letzten zwei Jahren zu- statt alte Ideen, die schon in 13 Jahren rot-grün geführten
sammengestrichen haben, ist unglaublich. BMGs nicht umgesetzt worden sind, in einem zweiten
Aufguss zu präsentieren,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Elke
Ferner [SPD]: Was tut das Ministerium dage- (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE
gen?) GRÜNEN]: Gucken Sie noch einmal in unse-
ren Antrag hinein!)
Man muss sich auch manchmal fragen, ob das, was im
Zusammenhang mit der City BKK passiert ist – ich wenn wir das schaffen,
meine den Umgang mit den Versicherten, die man nicht (Elke Ferner [SPD]: Sie schaffen gar nichts!)
haben will –, in anderen Entscheidungsfeldern der Kas-
sen ähnlich wirksam ist. Ich stelle das nur als Frage in wenn wir dabei die Polarisierung überwinden, dann wür-
den Raum. den wir der Gesundheitsprävention, unserer Volkswirt-
schaft und den Menschen in Deutschland einen großen
Ich sage voraus: Der vermeintliche Kostenfaktor Ge- Dienst erweisen.
sundheit wird künftig der entscheidende Produktionsfak-
tor für die Wirtschaft in der Informationsgesellschaft Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
sein, weil eine umfassende, also auch sozial und seelisch
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
spürbare Gesundheit eine Hilfe für jedermann im pro-
duktiven Umgang mit Wissen ist. Deswegen glaube ich,
dass wir Gesundheit nicht nur als individuelle Verant- Vizepräsidentin Petra Pau:
wortung verstehen dürfen. Das Wort hat die Kollegin Ferner für die SPD-Frak-
tion.
(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Genau!) (Beifall bei der SPD)
Deswegen finde ich es auch richtig, wenn wir darüber
Elke Ferner (SPD):
reden, wie wir die Möglichkeiten betrieblicher Gesund-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
heitsförderung ausbauen können.
Nachdem man die Wortbeiträge vonseiten der Koalition
(Elke Ferner [SPD]: Es sind doch nicht alle in gehört hat, weiß man nicht so wirklich, ob Sie sich über-
einem Betrieb! – Maria Klein-Schmeink haupt einig sind, ob Sie sich auch nur in der Unionsfrak-
13722 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011

Elke Ferner
(A) tion einig sind. Herr Henke sagte eben: Wir machen eine Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen, die diesen Be- (C)
nationale Präventionsstrategie. Herr Singhammer will reich hätten übernehmen können, vom Bund finanziert
eine nationale Präventionskonferenz. werden?
(Rudolf Henke [CDU/CSU]: Das eine ist das (Lars Lindemann [FDP]: Frau Ferner, wir ha-
Mittel für das andere!) ben das Gefühl, dass auch Sie überfordert
sind!)
Herr Lotter und auch Herr Singhammer setzen auf mehr
Eigenverantwortung. Das ist Chaos pur. Sie haben keine Wer hat das denn verhindert? Das waren Sie, nicht wir.
gemeinsame Linie,
(Beifall bei der SPD)
(Dr. Erwin Lotter [FDP]: Das haben Sie auch
Ich sage Ihnen: Solange Sie sich weigern, bei den Le-
nicht!)
benswelten der Menschen anzusetzen, so lange wird es
außer der, dass Sie ideologisch verbrämt gegen ein Prä- keine vernünftige Präventionsstrategie geben. Sämtliche
ventionsgesetz sind. Darin sind Sie sich einig. Maßnahmen bringen nichts, wenn ich nicht da hingehe,
wo die Kinder sind, oder wenn ich darauf warte, dass die
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Eltern zum Arzt gehen, wobei die Ärzte ein zusätzliches
der LINKEN – Rudolf Henke [CDU/CSU]: Honorar für eine Präventionsberatung bekommen. Sie
Und Sie sind auf ein Gesetz festgenagelt!) haben eben wieder deutlich gemacht, dass Sie reine
Damit entscheiden Sie sich dagegen, die demografi- Klientelpolitik für Ärztinnen und Ärzte betreiben. Sie
schen Herausforderungen, die in unserem Gesundheitswe- tun aber nichts für diejenigen, die eine vernünftige Ge-
sen unbestreitbar vorhanden sind, schon heute anzugehen. sundheitsprävention brauchen.
Sie entscheiden sich dagegen, die Volksgesundheit zu (Beifall bei der SPD – Zurufe von der CDU/
verbessern. Sie entscheiden sich gegen eine bessere Le- CSU und der FDP)
bensqualität für den oder die Einzelne. Sie entscheiden
sich auch dagegen, Krankheiten und Pflegebedürftigkeit Das sieht man auch bei einem Blick auf den Bundes-
zu vermeiden oder zumindest zu verzögern. Das ist die haushalt. Mit Ihren Stimmen sind die Präventionsmittel
Blockade, die Sie bis jetzt gemacht haben. im letzten Bundeshaushalt gekürzt worden. Ich bin ge-
spannt, wie das Ganze für den Bundeshaushalt 2012 aus-
Sie haben bisher noch nichts vorgelegt. Sie regieren sehen wird.
schon fast zwei Jahre. Vor allen Dingen entscheiden Sie
sich auch dagegen, Kostensteigerungen, die wegen des Ich kann mich doch nicht hier herstellen und bejam-
demografischen Wandels zu erwarten sind, zu bremsen. mern, dass es Menschen gibt, die sich nicht so verhalten,
(B) Das ist Ihre Entscheidung. wie sie sich eigentlich verhalten müssten, (D)
Ich sage Ihnen: Ohne eine nachhaltige und flächende- (Lars Lindemann [FDP]: Jammern tun nur
ckende Gesundheitsprävention können die Gesund- Sie!)
heitschancen der bildungsferneren Schichten nicht ver-
wenn ich gleichzeitig die Mittel für Information usw. zu-
bessert werden.
rückschneide. Das, was Sie machen, ist, gelinde gesagt,
(Dr. Erwin Lotter [FDP]: Dazu brauchen wir verrückt. Ich sage Ihnen auch: Es gibt Menschen, bei de-
kein Gesetz!) nen Information alleine nicht ausreicht. Sie brauchen
auch eine Begleitung.
Es ist für meine Begriffe zynisch, dort von Eigenverant-
wortung zu reden, wo weder die Mutter noch der Vater (Dr. Erwin Lotter [FDP]: Zwangsweise?)
wissen, wie man ein gesundes Essen zubereitet, die Kin-
– Nein, nicht zwangsweise.
der keinen Sport treiben, wenig Bewegung haben und
zudem noch ungesund ernährt werden. (Dr. Erwin Lotter [FDP]: Sondern?)
(Dr. Erwin Lotter [FDP]: Elternführerschein!) Es reicht aber doch nicht aus, eine Informationskampa-
Auf Eigenverantwortung zu setzen, funktioniert doch gne zu starten, von der die meisten überhaupt nichts mit-
überhaupt nicht. bekommen, und dann zu sagen: Wer informiert ist und
nichts tut – selber schuld. So kann Politik doch nicht mit
(Beifall bei der SPD – Rudolf Henke [CDU/ diesem Problem umgehen.
CSU]: Trotzdem haben die Eltern eine eigene
Verantwortung!) Wir müssen in die Kitas und in die Schulen. Zur Not
müssen wir auch mit dem Jugendamt – das wurde heute
– Natürlich haben die Eltern eine Verantwortung. Wenn bereits in der Debatte zum Kinderschutzgesetz gesagt –,
die Eltern diese Verantwortung aber nicht wahrnehmen, mit Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern, über die Ju-
sagen wir dann einfach: „Dann haben die Kinder eben gendhilfe in die Familien, damit Kinder entsprechend
Pech gehabt; darum kümmern wir uns nicht“? gefördert werden können. Damit fängt es an.
(Dr. Erwin Lotter [FDP]: Die müssen fit (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Aber
gemacht werden!) Kinder lesen keine Paragrafen!)
Wer hat denn bei unseren Diskussionen über die Rege- Aber auch bei den Erwachsenen kann man etwas tun.
lungen im Rahmen der SGB-II-Reform verhindert, dass Man kann natürlich feststellen: Die betriebliche Präven-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13723
Elke Ferner
(A) tion ist in Teilen sehr gut. Dabei handelt es sich aber im dass wir im Bereich der Gesundheitsförderung zwingend (C)
Wesentlichen um die großen Betriebe. Viele Menschen etwas Innovatives schaffen müssen, um die medizinische
arbeiten jedoch in kleinen Betrieben, in denen die be- Qualität der Versorgung in unserem Gesundheitssystem
triebliche Gesundheitsprävention nicht oder nur sehr un- auf Dauer aufrechterhalten zu können, und zwar für uns
zureichend erfolgt. Es soll sogar Menschen geben, die selber und unsere Kinder.
gar nicht in einem Betrieb arbeiten. Was ist mit Selbst-
ständigen? Was ist mit Rentnerinnen und Rentnern? Was Frau Klein-Schmeink, ich habe mich zu Beginn Ihrer
ist mit Arbeitslosen? Diese Gruppen erreiche ich nicht Rede an die Debatte zum Kinderschutzgesetz erinnert,
über die betriebliche Prävention. Insofern ist das, was die ich mir komplett angehört habe. Während der De-
Sie hier gesagt haben, viel zu kurz gesprungen. batte zum Kinderschutzgesetz ist mir aufgefallen, dass
weder die Vertreterinnen und Vertreter der Opposition
(Beifall bei der SPD) noch die der Regierungskoalition hier am Rednerpult der
jeweils anderen Seite das Verlangen, etwas an der Situa-
Ich sage Ihnen auch: Die Einführung der Kopfpau-
tion zu verbessern, abgesprochen haben. Eine solche
schale ab dem 1. Januar dieses Jahres wird im Ergebnis
Verhaltensweise täte uns auch beim Thema Prävention
dazu beitragen, dass die Krankenkassen ihre Ausgaben
sehr gut.
für Prävention zurückfahren werden.
(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Was mei- (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
nen Sie? Ich kenne keine Kopfpauschale!) NEN]: Dann müsste sich aber mal was bewe-
gen!)
Insbesondere für die Kassen, deren Finanzrahmen sehr
eng ist, wird es schwieriger, Prävention zu finanzieren – Keiner hier im Haus hat sich in den vergangenen zehn
es sei denn, man erhebt eine Kopfpauschale. Das wollen Jahren beim Thema Prävention mit Ruhm bekleckert.
Sie ja unbedingt. Das ist kontraproduktiv in Bezug auf (Beifall des Abg. Lars Lindemann [FDP])
das, was Krankenkassen selber für Prävention tun.
Ich erinnere daran, in welchem Zustand Sie das Bundes-
Ich fände es nicht schlecht, wenn sich all diejenigen, gesundheitsministerium übergeben haben.
die mit Prävention zu tun haben, besser koordinieren
würden. Es gibt beispielsweise Probleme bei den Rehas, (Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: Jetzt
wo die Betroffenen von einem Kostenträger zum ande- reicht’s aber! – Elke Ferner [SPD]: Jetzt reicht
ren geschoben werden. Wenn vor Ort ein Präventions- es aber wirklich! Sie haben keine Ahnung,
projekt auf den Weg gebracht wird, sollen sich die Initia- aber davon eine ganze Menge!)
toren dann bei 150 oder 120 Krankenkassen oder den Ich erinnere daran, was die neue Führung des Bundesge- (D)
(B) vielen privaten Krankenkassen um die Finanzierung be-
sundheitsministeriums schon in den ersten anderthalb
mühen? Das ist völlig daneben und überhaupt nicht hilf- Jahren leisten musste:
reich.
(Elke Ferner [SPD]: Sie musste die Kopf-
Herr Lotter hat vorhin gesagt: Viele Wege führen
pauschale einführen!)
nach Rom. Das ist wohl richtig. Nur scheinen Sie den
Weg nach Rom so zu nehmen, dass Sie zuerst zum Nord- Wir haben heiße Diskussionen zur Sicherung der Finan-
pol, von da zum Südpol und dann nach Rom fahren. zierung der gesetzlichen Krankenversicherung geführt.
(Dr. Erwin Lotter [FDP]: Sie gehen direkt zum (Elke Ferner [SPD]: Ulla Schmidt hat das
Mittelpunkt!) Ministerium mit 1 Milliarde Euro Überschuss
Für eine bessere Präventionspolitik taugt das über- übergeben, aber Sie haben es im letzten Jahr in
haupt nicht. Insofern kann ich Sie nur ermuntern: die Grütze gezogen!)
Schauen Sie sich unsere Anträge und die der anderen – Ja, ja. – Wir haben ein sehr kompliziertes und erfolg-
Oppositionsparteien an. Kommen Sie endlich zur Ver- reich wirkendes Gesetz zur Neuordnung des Arzneimit-
nunft. Machen Sie bei dem Thema Prävention etwas telmarktes durchgesetzt.
mehr, als Sie bisher getan haben.
Jetzt steht im Mittelpunkt der Überlegungen im
Schönen Dank. Ministerium, wie man Versorgungsstrukturen in unserer
(Beifall bei der SPD) Republik, die in der Fläche erhebliche Defizite aufwei-
sen, reformieren kann; Frau Kollegin Vogler, selbstver-
ständlich haben wir erkannt, dass wir uns auch damit be-
Vizepräsidentin Petra Pau: schäftigen müssen, wie wir die Probleme, die in diesem
Das Wort hat die Kollegin Vogelsang für die Unions- Zusammenhang aufgrund bestimmter sozialräumlicher
fraktion. Strukturen bestehen, verbessern können. Das wird un-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sere Diskussionen im Herbst beherrschen. Wir werden
uns dann selbstverständlich mit einer neuen Präventions-
strategie für die gesundheitliche Versorgung der Men-
Stefanie Vogelsang (CDU/CSU):
schen beschäftigen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich glaube, wir können formulieren, dass uns alle, die (Mechthild Rawert [SPD]: Und wann ist mit
wir hier im Hause vertreten sind, die Erkenntnis eint, Ergebnissen zu rechnen?)
13724 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011

Stefanie Vogelsang
(A) Das ist Bestandteil des Koalitionsvertrages; Sie haben Vizepräsidentin Petra Pau: (C)
schon bei verschiedenen Punkten hier im Hause davon Gestatten Sie jetzt die Frage der Kollegin Bunge?
gehört.
Wenn ich mir anschaue, was in der Verantwortung der Stefanie Vogelsang (CDU/CSU):
Linken geschehen ist, dann kommt mir als Abgeordnete Ja.
aus Berlin in den Sinn, dass hier eine linke Gesundheits-
senatorin zehn Jahre lang den eigentlich nachhaltig wir- Vizepräsidentin Petra Pau:
kenden Gesundheitsschutz im kommunalen Bereich, in Bitte.
den Kinder- und Jugendgesundheitsdiensten und den
Gesundheitsämtern, komplett kaputtgespart hat, ohne
Rücksicht auf Verluste. Dr. Martina Bunge (DIE LINKE):
Kollegin Vogelsang, nicht nur die Gesundheitsämter
(Beifall des Abg. Wolfgang Zöller [CDU/ in Berlin, sondern die Gesundheitsämter in der ganzen
CSU] – Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Bundesrepublik stehen vor einer schwierigen Situation.
Unglaublich! – Rudolf Henke [CDU/CSU]: Das hat aber andere Ursachen. Wir reden heute über Ge-
Wie wahr!) sundheitsförderung und Prävention, und in diesem Zu-
sammenhang würde mich Folgendes interessieren: Ken-
Vizepräsidentin Petra Pau: nen Sie das Projekt „Kiezdetektive“, das sowohl in
Kollegin Vogelsang, gestatten Sie eine Frage der Kol- Kreuzberg als auch in Lichtenberg seit Jahren läuft?
legin Rawert? Man hat damit sehr gute Erfahrungen gemacht. Kinder
zwischen 6 und 14 Jahren erkunden ihr Umfeld, die Le-
Stefanie Vogelsang (CDU/CSU): bens- und Wohnbedingungen. Sie zeigen Probleme auf
Entschuldigung. – Es gibt bei der Gesundheitspolitik und erarbeiten gemeinsam mit Politikerinnen und Politi-
hier im Land Berlin ein einziges Hin und Her – das ist kern, mit den Trägern und anderen Zuständigen Pro-
Aktionismus –: hier mal ein Programm und da mal ein jekte. Diese Projekte evaluieren sie im Anschluss und
Programm. – Jetzt lasse ich gerne eine Zwischenfrage veröffentlichen die Ergebnisse. Wir brauchen auf Bun-
zu. desebene ein Präventionsgesetz, um die Kommunen und
Länder bei dieser Aufgabe zu unterstützen und zu entlas-
ten.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Wir haben zwei Meldungen. Erst fragt die Kollegin
Rawert, dann die Kollegin Bunge. – Bitte sehr. Stefanie Vogelsang (CDU/CSU):
(B) Frau Kollegin, selbstverständlich kenne ich das Pro- (D)
jekt. Ich teile Ihre Einschätzung, dass das ein erfolgrei-
Mechthild Rawert (SPD):
ches Projekt ist. Unter den Projekten, die wir in der Bun-
Frau Vogelsang, Sie waren Stadträtin in Neukölln und desrepublik Deutschland haben, gibt es eine Vielzahl
haben gerade Aussagen dazu gemacht, dass der öffentli- von guten Projekten. Eine Vielzahl von Leuten arbeitet
che Gesundheitsdienst kaputtgespart worden ist. Welche in diesen Projekten gut und engagiert.
Anstrengungen sind in Neukölln – einem Bezirk, der
sich, was die soziale Ungleichheit angeht, unter anderem (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Ihnen ging
dadurch auszeichnet, dass es schlechtere gesundheitliche es nur darum, Berlin schlechtzumachen!)
Startbedingungen und schlechtere Ausgleichsmöglich-
keiten für Kinder, Männer und Frauen gibt – unternom- – Mir ging es nicht darum, Berlin schlechtzumachen. –
men worden, als Sie dort Stadträtin für Gesundheit wa- Ich wollte darauf hinweisen, dass ich der felsenfesten
ren? Sie haben dort vor wenigen Jahren höchstpersönlich Überzeugung bin, dass eine bessere Gesundheitsvor-
Verantwortung getragen. sorge für die Bevölkerung nicht durch ein Projekt hier
und ein Projekt da gewährleistet werden kann, sondern
es einer nachhaltigen Strategie bedarf.
Stefanie Vogelsang (CDU/CSU):
Habe ich das Wort zur Beantwortung? (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Ganz genau!)
Vizepräsidentin Petra Pau: Wir haben eine Zuständigkeit beim Bund,
Ja, natürlich.
(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Wodurch
kommt die zum Ausdruck?)
Stefanie Vogelsang (CDU/CSU):
Vielen Dank. – Frau Rawert, ich habe eigentlich keine wir haben eine Zuständigkeit bei den Ländern, wir haben
Lust, mich bei jeder Diskussion auf solch einem Niveau eine Zuständigkeit bei den Gemeinden, und wir haben
mit Ihnen auseinanderzusetzen. Sie wissen ganz genau, eine Zuständigkeit der Krankenkassen. Wir haben auch
wer hier in Berlin die Personalpolitik vorgibt: der Regie- eine Zuständigkeit für das Programm „Soziale Stadt“,
rende Bürgermeister Wowereit, der die Verantwortung das Sie, Frau Kollegin Rawert, angesprochen haben,
dafür trägt, dass keine Prävention im Bereich der Fami- wenn ich Ihre Zwischenfrage richtig verstanden habe.
lien stattfindet, die das bitter, bitter nötig hätten.
(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Gibt der
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bund einen Cent dazu? Nichts!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13725
Stefanie Vogelsang
(A) Am Ende haben wir eigentlich niemanden, der dafür ver- Mechthild Rawert [SPD]: Nein, es war einer (C)
antwortlich ist, wenn etwas nicht funktioniert. der Sachverständigen, der das gesagt hat!)
(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: – Dann hat es ein anderer formuliert.
Also Bündelung! Wo ist der ordnungsrechtli-
Ich finde, dass wir unserer Gesundheitsförderung auf
che Rahmen, an dem Sie arbeiten?) den unterschiedlichen Ebenen einen klaren Rahmen ge-
Mir persönlich ist sehr wichtig, dass wir bei dem ben müssen, sodass alle Menschen in dieser Republik es
Thema Prävention und Präventionsstrategie mit dem in fünf oder zehn Jahren toll finden, gesund zu leben,
ewigen Hickhack und dem Kampf aufhören. Das sollten und dass das nicht nur bei den Akademikern der Fall ist.
meine Anmerkungen am Anfang meiner Rede verdeutli- Vielen Dank.
chen. Niemand sollte auf den anderen zeigen. Uns alle
eint der Wille, eine Lösung zu finden und eine bessere (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
gesundheitliche Fürsorge hinzubekommen. neten der FDP)

Wir alle wissen, dass an den vielen guten Projekten Vizepräsidentin Petra Pau:
nur die Leute teilnehmen, die dort eigentlich gar nicht Das Wort hat die Kollegin Bas für die SPD-Fraktion.
hingehören, weil sie das, was dort unterrichtet wird,
schon wissen. Wir wissen, dass wir im Bereich der Mi- (Beifall bei der SPD)
granten ein riesiges Problem haben. Da geht es nicht nur
darum, einen Flyer zu übersetzen oder Kiezmütter in die Bärbel Bas (SPD):
Häuser zu schicken, sondern wir brauchen neue, innova- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am
tive Ansätze. 14. Juni 2011 hat Bundesgesundheitsminister Daniel
Ich bin der felsenfesten Überzeugung – das habe ich Bahr das Projekt „Starke Eltern – Starke Kinder“ vorge-
stellt. Dabei geht es um die Verbesserung der psychi-
schon vor einem Jahr gesagt –, dass wir uns in diesem
schen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen; so
Haus dazu durchringen müssen, nationale Gesundheits-
weit, so gut. Auch ich fand das sehr gut. Das Projekt des
ziele festzulegen. Bundesgesundheitsministeriums, so heißt es, sei Teil ei-
(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE ner ebenfalls vorgestellten Strategie der Bundesregie-
GRÜNEN]: Wie lange wollen Sie damit noch rung zur Förderung der Kindergesundheit. Da habe ich
warten?) gedacht: Vielleicht handelt es sich dabei um die viel zi-
tierte neue Präventionsstrategie der Bundesregierung.
Sechs, sieben oder acht Gesundheitsziele gibt es schon Als ich mir das Papier dann angesehen habe, stellte ich
(B) lange; ich weiß. Fragen Sie aber einmal in den Kommu- allerdings fest, dass es gar nicht aus der Feder von Herrn (D)
nen, ob jemand diese Gesundheitsziele kennt. Bahr oder Herrn Rösler stammt. Dieses Strategiepapier
ist im Jahr 2008 von der damaligen SPD-Gesundheitsmi-
(Elke Ferner [SPD]: Noch ein neuer Vor- nisterin Ulla Schmidt entwickelt und vorgestellt worden.
schlag!) So viel zum Thema neue Strategie.
Das ist nicht angekommen. Auch das hat nicht richtig (Beifall bei der SPD – Elke Ferner [SPD]: So
funktioniert. Im Bereich der Präventionsarbeit gibt es viel zum Thema, was Frau Schmidt hinterlas-
ganz viele gute Absichten und viel Aktionismus. sen hat! – Christian Lange [Backnang] [SPD]:
Wir müssen das Thema gemeinsam anpacken. Wir Ausgezeichnete Ministerin! Das waren noch
müssen in den Bereichen Krankenkassen, Verantwort- Zeiten! Da ging noch was!)
lichkeiten und Gesundheitsvorsorge in Betrieben Struk- Herr Bahr hat es immerhin geschafft, das Bild seiner
turen verändern. Vorvorgängerin und das Vorwort auszutauschen und es
als sein Papier zu verkaufen.
(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Wie?) (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das ken-
nen wir doch! Plagiat!)
Es kommt aber nicht darauf an, ob man das einen Monat
früher oder später macht. Wir dürfen nicht in Aktionis- – Genau. – Wir freuen uns, dass die Regierungsarbeit
mus verfallen und auch keine Parteipolitik betreiben. von Ulla Schmidt in dieser Form anerkannt wird.
Am Ende kommt es darauf an, was dabei herauskommt. (Heinz Lanfermann [FDP]: Interessant, dass
Ich gehe felsenfest davon aus, dass wir das Thema in der der Name wieder einmal von Ihnen erwähnt
nächsten Zeit gemeinsam beraten und eine gute Lösung wird!)
hinbekommen werden. Ich unterbreite Ihnen jedenfalls
ein entsprechendes Angebot. Aber man muss deutlich sagen: Wer keine eigenen Ideen
hat, der plagiiert.
In der gestrigen Anhörung zur Organspende hat einer
von den Grünen gesagt – Frau Bender, ich weiß nicht (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
mehr, wer das war –, es müsse zum Lifestyle gehören, Ich habe übrigens noch eine weitere Plagiatsidee für
Organspender zu sein. Erinnern Sie sich? Sie.
(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Stefanie Vogelsang [CDU/CSU]: Ist das nicht
Das haben gerade wir nicht formuliert! – etwas billig, Frau Bas?)
13726 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011

Bärbel Bas
(A) In derselben Schublade, in der Sie das Strategiepapier werden. Dazu brauchen wir verbindliche Strukturen. Das (C)
gefunden haben, finden Sie wahrscheinlich auch noch heißt, wir brauchen ein Präventionsgesetz.
den Entwurf des Präventionsgesetzes. Holen Sie diesen
Vielen Dank.
einfach einmal hervor, kleben Sie das Bild des Ministers
darauf und schreiben Sie meinetwegen auch seinen Na- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
men darauf, dann werden wir bei der Beschlussfassung der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
auf jeden Fall an Ihrer Seite sein. GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Ich möchte noch zwei Aspekte unseres Antrags an- Ich schließe die Aussprache.
sprechen, die uns besonders wichtig sind: die Kinderge-
sundheit und die betriebliche Gesundheitsförderung. Na- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
türlich haben wir uns die Frage gestellt: Wo können wir den Drucksachen 17/5384, 17/5529 und 17/6304 an die
bei Kindern und Jugendlichen mit der Prävention anset- in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
zen? Wir haben in der Tat das Problem, dass eine hohe schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Anzahl von Präventionsprogrammen zum Teil schlicht Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
ineffektiv ist. Die Projektitis führt zu Ermüdungserschei- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 37 a und b auf:
nungen bei den Zielgruppen. Die Konkurrenz zwischen
den verschiedenen Projekten ist meist nicht förderlich a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
für das gesundheitsbewusste Verhalten. gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbes-
serung der Eingliederungschancen am Ar-
Gleichzeitig stellen wir fest, dass viele Programme beitsmarkt
vorwiegend auf die Mittelschicht ausgerichtet sind und
die Umsetzung in anderen Lebenswelten fehlt. Kinder – Drucksache 17/6277 –
und Jugendliche aus sozial schwächeren Schichten profi- Überweisungsvorschlag:
tieren kaum von solchen Programmen. Dabei sind diese Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Kinder und Jugendlichen eine besondere Zielgruppe; Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
dies sollte sie für uns alle sein. Die ungerechte Vertei- Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
lung der Gesundheitschancen zulasten dieser Kinder aus
sozial schwachen Familien, aus bildungsfernen Eltern- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
häusern oder auch aus Migrantenfamilien sollte endlich Pothmer, Markus Kurth, Katrin Göring-Eckardt,
ein Ende haben. Deshalb sollten wir die durchaus knap- weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
(B) pen Mittel für klare Ziele und mit eindeutigen Vorgaben NIS 90/DIE GRÜNEN (D)
und Strategien effizient einsetzen. Arbeitsmarktpolitik – In Beschäftigung und
(Beifall bei der SPD) Perspektiven investieren statt Chancen kürzen

Wir müssen die Menschen bei der Prävention und Ge- – Drucksache 17/6319 –
sundheitsförderung dort abholen, wo sie leben und arbei- Überweisungsvorschlag:
ten. Das gilt auch für die betriebliche Gesundheitsförde- Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
rung. Das heißt nichts anderes, als dass die Programme Haushaltsausschuss
direkt am Arbeitsplatz ansetzen müssen. Das ist das Ziel
der betrieblichen Gesundheitsförderung. Auch hier gibt Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
es viele Vorschläge und Modelle. Aber die faktische De- Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
ckelung der Ausgaben durch den Ausgabenrichtwert höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
verhindert, dass wir hier die Potenziale gemeinsam he- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla-
ben. mentarische Staatssekretär Brauksiepe für die Bundesre-
Wie kann es sein, dass die Bundesregierung nach wie gierung.
vor tatenlos zuschaut, dass die Mittel der Kassen für Prä- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
vention und Gesundheitsförderung sinken? Die Vor- der FDP)
schläge des Kollegen Singhammer – Stichwort: der
siebte Sinn – muss ich noch einmal erwähnen. Wenn wir
das machen würden, würde uns das wirklich zurückwer- Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär bei der
fen. Das ist ein Rückfall hinter 20 Jahre Public Health Bundesministerin für Arbeit und Soziales:
und Präventionspolitik. Da machen Sie besser nichts und Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
schreiben weiter bei der SPD ab. An Erfolgsmeldungen vom Arbeitsmarkt haben wir uns
gewöhnt. Sie bringen keine allzu großen Schlagzeilen
(Beifall bei der SPD) mehr. Erst gestern konnte die Bundesagentur für Arbeit
wieder aktuelle Erfolge verkünden.
Wir können Ihnen nur noch einmal mit auf den Weg
geben: Prävention muss als gesamtgesellschaftliche, res- Aber auch wenn es nicht die Schlagzeilen beherrscht,
sortübergreifende Aufgabe des Bundes, der Länder und darf man doch erwähnen: Wir können sowohl bei der so-
der Kommunen als vierte eigenständige Säule des Ge- zialversicherungspflichtigen Beschäftigung als auch bei
sundheitswesens endlich etabliert und auch legitimiert der Erwerbstätigkeit insgesamt Rekordstände verzeich-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13727
Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe
(A) nen. Die Arbeitslosigkeit – immer noch zu hoch gemes- (Katja Mast [SPD]: Ja! Wir haben Rechts- (C)
sen an unseren eigenen Ansprüchen – ist so niedrig wie ansprüche eingeführt! Beispiel Hauptschule
seit Jahrzehnten nicht mehr. Das sind Erfolgsmeldungen, und Ausbildungsbonus!)
an die wir uns in den letzten Jahren zum Glück gewöh-
Was den Gründungszuschuss betrifft – wir stehen zu ihm –,
nen konnten.
werden in Zukunft mehr Ermessensleistungen vor Ort
(Beifall des Abg. Jens Ackermann [FDP]) möglich sein. Wenn wir mehr Ermessensleistungen ein-
führen, heißt das auch, dass wir den Akteuren vor Ort
Diese Erfolgsmeldungen sind das Ergebnis der Arbeit mehr Vertrauen entgegenbringen. Das ist genau das, wo-
vieler. Das Ergebnis hat auch, aber nicht nur mit Politik rum es uns geht: Wir wollen den Menschen vor Ort, die
zu tun. Es hat etwas mit gelebter Sozialpartnerschaft in in den letzten Jahren erfolgreich Arbeitslose in Arbeit
diesem Land zu tun. Es hat etwas mit den Tarifvertrags- gebracht haben, vertrauen.
parteien zu tun, die beispielsweise Angebote der Politik (Katja Mast [SPD]: Wenn Sie ihnen das Geld
zur Kurzarbeit angenommen haben. Es hat auch etwas nehmen, ist das kein Vertrauen! Handlungs-
damit zu tun, dass wir in den Arbeitsagenturen und Job- spielraum ohne Geld gibt es nicht!)
centern engagierte und fleißige Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter haben, die sich darum bemüht haben, Men- Dieses Thema war auch in der Großen Koalition gele-
schen wieder in Arbeit zu bringen. Es hat etwas mit un- gentlich ein Diskussionspunkt. Viele Entscheidungen,
serem arbeitsmarktpolitischen Instrumentarium zu tun, bei denen es um die Schaffung von mehr Flexibilität vor
das wir in den letzten Jahren kontinuierlich verbessert Ort ging, mussten wir unserem damaligen Koalitions-
haben. Nichts ist so gut, dass es nicht noch besser wer- partner mühsam abringen; auch das gehört zu der Erfah-
den könnte. Aber wir haben das arbeitsmarktpolitische rung, die wir in der Großen Koalition gemacht haben.
Instrumentarium in den letzten Jahren durchaus verbes- An dieser Stelle danke ich herzlich der FDP, unserem
sert, und darauf können wir auch ein bisschen stolz zu- jetzigen Koalitionspartner, mit der es sehr viel leichter
rückblicken. war, darauf hinzuwirken, den Akteuren von Ort Ver-
trauen zu schenken
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
bei Abgeordneten der SPD) (Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Na
klar! So muss es sein!)
– Ich danke ausdrücklich für den Beifall der sozialdemo- und zu sagen: Lasst uns die Dinge dezentral organisie-
kratischen Kolleginnen; denn wir stehen mit dem, was ren! Lasst uns die Menschen, die qualifiziert sind, vor
wir hier tun, durchaus in der Tradition der Arbeit, die wir Ort zu entscheiden, auch die Entscheidung treffen, was
(B) in der Großen Koalition begonnen haben. – Das Instru- für den einzelnen Arbeitslosen richtig ist! Das ist der Ge- (D)
mentarium wird seit langem kontinuierlich evaluiert, danke, der uns bei diesem Gesetzentwurf leitet.
und genau darum geht es: dass wir nicht nur um Berichte
über die Wirkung der Instrumente bitten und sie dann (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
abheften, sondern dass wir daraus Konsequenzen ziehen.
Das tun wir seit einigen Jahren. Vizepräsidentin Petra Pau:
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischen-
Wir haben in der Großen Koalition die Zahl der ar- frage?
beitsmarktpolitischen Instrumente deutlich reduziert,
weil wir gemeinsam der Überzeugung waren, dass zu (Katja Mast [SPD]: Wer will denn?)
viele Instrumente und ein zu großes Dickicht an Rege-
lungen letztlich den Arbeitslosen nicht helfen. In der Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär bei der
christlich-liberalen Koalition haben wir uns vorgenom- Bundesministerin für Arbeit und Soziales:
men, auf diesem Weg weiter voranzugehen. Wir wollen Wer möchte denn eine Zwischenfrage stellen?
die Zahl der arbeitsmarktpolitischen Instrumente noch
einmal um etwa ein Viertel reduzieren. Das bedeutet
Vizepräsidentin Petra Pau:
aber keine Reduzierung der Hilfe;
Eine Kollegin aus der SPD-Fraktion.
(Bettina Hagedorn [SPD]: Genau das!)
Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär bei der
im Gegenteil: Wir reduzieren die Zahl der Instrumente, Bundesministerin für Arbeit und Soziales:
um die Hilfe effektiver organisieren zu können. Das ist Bitte schön.
das, was uns bei diesem Gesetzentwurf leitet.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Bettina Hagedorn (SPD):
Bettina Hagedorn [SPD]: Kahlschlag!) Herr Staatssekretär, Sie haben sich gerade auf die ge-
meinsamen Erfolge der Großen Koalition bezogen; diese
Es geht auch um die Frage von Pflicht- und Ermes- Erfolge unterstreichen wir ausdrücklich. Sie lenken aber
sensleistung. An dieser Stelle hatten wir in der Großen davon ab, dass Sie hier nicht in dieser Tradition lediglich
Koalition unterschiedliche Auffassungen. Wir sind da- eine Instrumentenreform mit dem Ziel der Verbesserung
mals, wie ich denke, zu insgesamt guten Kompromissen der Chancen bei der Vermittlung in Arbeit durchführen.
gekommen. Vielmehr verbinden Sie die Reform ausdrücklich – unter
13728 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011

Bettina Hagedorn
(A) dieser Überschrift steht dieses Vorhaben zwar nicht bei Vizepräsidentin Petra Pau: (C)
Ihnen, aber bei den Abgeordneten der Koalition im Inzwischen war die Uhr wieder angehalten. Jetzt läuft
Haushaltsausschuss – mit einem finanziellen Kahl- Ihre Redezeit weiter.
schlag. Ich frage Sie: Wie groß sind eigentlich das Er-
messen und die Autonomie vor Ort, wenn dort – statt
Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär bei der
dass ein Rechtsanspruch besteht – zwar ein Ermessen
Bundesministerin für Arbeit und Soziales:
ausgeübt werden soll, die Kasse aber de facto leer ist?
Um dies zu verdeutlichen, will ich darauf hinweisen, Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sage an dieser
dass durch die Maßnahmen Ihres Sparpaketes bei Stelle ganz ausdrücklich: Für uns gibt es einen Arbeits-
SGB II und SGB III bis 2014 in der Summe 16 Milliar- markt. Es gibt nicht SGB-II-Arbeitslose und SGB-III-
den Euro eingespart bzw., besser gesagt, gekürzt werden. Arbeitslose. Es gibt unterschiedliche Rechtskreise. Die
Arbeitslosen haben unterschiedliche Probleme. Deswe-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Stefan gen müssen wir mit unserem Instrumentarium auf unter-
Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Was für ein schiedliche Bedarfslagen reagieren. Wir gehen davon
Applaus!) aus, dass es einen Arbeitsmarkt gibt. Im Rahmen der In-
strumente, die sie einsetzen kann, bekennt sich die Bun-
Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär bei der desregierung – ich denke, auch die christlich-liberale
Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Koalition insgesamt – ausdrücklich zur öffentlich geför-
Frau Kollegin, wir verquicken hier nichts miteinan- derten Beschäftigung. Für die Menschen, für die öffent-
der, sondern wir legen heute als Bundesregierung den lich geförderte Beschäftigung notwendig ist, wird sie
Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Eingliede- weiter organisiert und weiter finanziert. Für die Men-
rungschancen am Arbeitsmarkt vor. Hier geht es um schen, die öffentlich geförderte Beschäftigung brauchen,
konzeptionelle, instrumentelle Fragen. Es geht darum, sind wir da. Das ist heute so, und das wird in Zukunft so
wie der Instrumentenkasten zusammengesetzt sein muss, bleiben.
damit die Arbeitslosigkeit bekämpft werden kann.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Katja Mast [SPD]: Sie beschließen zuerst die
Sparmaßnahmen, und dann machen Sie ein Ich sage aber ganz klar: Wann, wenn nicht jetzt – in
Gesetz!) einer Phase des Aufschwungs, in der in manchen Regio-
nen und in einzelnen Branchen und Berufen schon ein
Wir können sehr gerne und sehr engagiert im Detail da- Fachkräftemangel zu verzeichnen ist –, sollten verstärkte
rüber diskutieren, ob es, wovon wir ausgehen, einen Ar- Anstrengungen unternommen werden,
beitsmarkt mit einem auszudifferenzierenden Instrumen-
(B) tarium gibt oder ob es zwei Arbeitsmärkte gibt. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D)
NEN]: Ach! Womit denn?)
(Abg. Bettina Hagedorn [SPD] nimmt wieder
Platz) möglichst viele Menschen in den ersten Arbeitsmarkt zu
– Ich bin eigentlich noch bei der Beantwortung Ihrer integrieren?
Frage. Haben Sie sich darauf verständigt – ich frage, weil (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-
die Uhr weiterläuft und die Kollegin sich gesetzt hat –, Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Katja
dass meine Beantwortung erledigt ist? Wenn ja, bitte ich Mast [SPD]: Wie bitte? Eine Unverschämtheit,
um Mitteilung. dass ausgerechnet Sie das sagen!)
(Zuruf von der SPD: Herr Brauksiepe, keine Der zweite Arbeitsmarkt, der öffentlich geförderte Be-
Polemik!) schäftigungssektor, darf niemals das Ziel unserer Ar-
beitsmarktpolitik sein. Er kann für viele eine Durch-
Vizepräsidentin Petra Pau: gangsstation sein. Aber das Ziel muss sein, möglichst
Ich habe die Uhr bis zu dem Zeitpunkt angehalten, als viele Menschen in den ersten Arbeitsmarkt zu integrie-
sich die Kollegin Hagedorn gesetzt und mir dadurch si- ren. Gerade in Zeiten des Aufschwungs müssen wir un-
gnalisiert hat, dass ihr die Beantwortung offensichtlich sere Schwerpunkte bei der Integration der Menschen in
ausreicht. den Arbeitsmarkt setzen.
(Bettina Hagedorn [SPD]: Genau! Er hat ja nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
geantwortet! – Heiterkeit bei der SPD) Katja Mast [SPD]: Sie nehmen den Leuten
doch die Chancen und Perspektiven! – Bettina
Vizepräsidentin Petra Pau: Hagedorn [SPD]: Das Ziel ist ja richtig! Sie
Das kann ich von hier aus nicht entscheiden. Sie beide machen es aber falsch!)
müssen sich einigen, ob die Frage beantwortet ist oder
nicht. Der erste Arbeitsmarkt bildet den Schwerpunkt unserer
Politik. Die öffentlich geförderte Beschäftigung wird da
organisiert und finanziert, wo sie gebraucht wird.
Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Auch das gehört zur Wahrheit: Der arbeitslose
Ich schlage vor, dass wir so verfahren: Sie fragen, was Mensch steht im Mittelpunkt unserer Anstrengungen. Er
Sie fragen möchten, und ich antworte so, wie ich antwor- muss im Mittelpunkt stehen – nicht Strukturen und Or-
ten möchte. Das ist das übliche Verfahren. ganisationen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13729
Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe
(A) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Vizepräsidentin Petra Pau: (C)
der FDP – Katja Mast [SPD]: Enthusiastischer Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Kramme
Applaus bei der Koalition!) das Wort.
Weiterhin gehört auch das zur Wahrheit: Es kann (Beifall bei der SPD)
durchaus sein, dass wir bei weniger als 3 Millionen Ar-
beitslosen manche Strukturen und manche Institutionen Anette Kramme (SPD):
nicht mehr haben werden, die wir bei über 5 Millionen
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Arbeitslosen hatten. Vielleicht braucht man in diesem
Kollegen! Herr Brauksiepe hat großartig ausgeführt,
Land für weniger als 3 Millionen Arbeitslose nicht so
dass die Entscheidungsspielräume vor Ort ausgedehnt
viele Sozialkaufhäuser wie für über 5 Millionen Arbeits-
werden sollen.
lose. Ich bitte, einfach einmal – mit großem Respekt vor
all den Wohlfahrtsverbänden und den Trägern, die diese (Zuruf von der CDU/CSU: Er ist auch
segensreiche Arbeit leisten – unvoreingenommen da- großartig!)
rüber nachzudenken.
Er hat gemutmaßt, dass wir dem mit großem Misstrauen
(Katja Mast [SPD]: Die Langzeitarbeitslosig- gegenüberstehen. Ich kann Ihnen sagen: Das ist nicht der
keit sinkt doch kaum!) Fall, im Gegenteil. Es hört sich im Grunde genommen
Ich habe viele dieser Einrichtungen besucht und weiß, gut an, wenn man über Entscheidungsspielräume vor Ort
wie segensreich da gearbeitet wird. Es muss uns aber spricht. Vor Ort kennt man die Menschen.
klar sein, dass wir für weniger als 3 Millionen Arbeits- Man könnte sich an dieser Stelle fragen, ob erst das Ei
lose nicht die gleichen Strukturen brauchen wie für über da war und dann die Henne oder ob erst die Henne da
5 Millionen Arbeitslose. Natürlich brauchen wir auch war und dann das Ei. Für uns ist ganz klar: Es gab zuerst
nicht dieselbe Summe Geldes. das Sparpaket und dann die Reform. Zunächst gab es
Ich will auf eines hinweisen: Jedem musste klar sein, den Beschluss darüber, der Bundesagentur für Arbeit
dass wir die Summen, die wir im Hauptkrisenjahr 2009 Geld im Gegenwert von einem halben Mehrwertsteuer-
und auch im Jahr 2010 zusätzlich zur Bekämpfung der punkt zu streichen. Wenn man sich das anschaut, sieht
Arbeitslosigkeit aufgebracht haben, auf Dauer nicht auf- man, dass es sich um ungeheure Beträge handelt.
bringen können und dass dieses Niveau nicht aufrechtzu- (Beifall bei der SPD)
erhalten sein würde. Das war auch uns in der Großen
Koalition klar, als wir die entsprechenden Maßnahmen Allein aus dem Sparpaket resultieren Einsparungen von
ergriffen haben. 19 Milliarden Euro bis zum Jahr 2015. Die Streichung in
(B) Höhe eines halben Mehrwertsteuerpunktes bedeutet (D)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – noch einmal 4 Milliarden Euro jährlich weniger. Wenn
Katja Mast [SPD]: Darum geht es doch nicht! man sich das anschaut, dann stellt man fest, dass der Er-
Wir wollen das Niveau von 2008!) messensspielraum auf null schrumpft. Man kann von ei-
Das musste jedem klar sein. Daher sind alle Vergleiche nem postsowjetischen „Njet“ sprechen. Das ist die eine
mit den Ausgaben der Jahre 2009 und 2010 nicht fair; Geschichte.
denn das waren die Hauptkrisenjahre, in denen wir be- Das Ausnutzen von Ermessensspielräumen setzt aber
sondere Anstrengungen unternehmen mussten. auch voraus, dass es Menschen vor Ort gibt, die sich da-
Deswegen sage ich zu der Zwischenfrage, die gerade rum kümmern können. Man hätte also logischerweise im
gestellt wurde: Wir werden im Jahr 2013 8 Milliarden Zuge dieser Reform bei den Betreuungsschlüsseln anset-
Euro für Eingliederungsmaßnahmen im SGB-II-Bereich zen müssen.
bzw. für Langzeitarbeitslose bereitstellen. 8 Milliarden (Beifall bei der SPD)
Euro – das ist nicht gar nichts, sondern eine große
Summe. Das ist ziemlich genau die Summe, die 2006 für Man hätte die Betreuungsschlüssel in der Arbeitsverwal-
sehr viel mehr Arbeitslose zur Verfügung stand. tung – das Verhältnis beträgt 1 : 150 – heruntersetzen
müssen. Das wäre deshalb eine kluge Entscheidung ge-
(Katja Mast [SPD]: 2008 ist der Maßstab!) wesen, weil die Evaluierung ergeben hat: Je mehr Men-
Für weniger Arbeitslose wird also das gleiche Geld zur schen in den Agenturen als Fallmanager arbeiten, desto
Verfügung stehen. Das heißt, dass wir pro Kopf mehr schneller schafft man es, Menschen wieder in Arbeit zu
Leistungen zur Verfügung stellen. bringen.
Der entscheidende Punkt ist, Menschen in Arbeit zu (Beifall bei der SPD)
bringen. So kann man auch Arbeitslosenunterstützung
Herr Brauksiepe, Sie haben uns immer wieder vorge-
sparen. Wir kürzen nicht, wir streichen nicht zusammen,
halten und auch jetzt noch einmal dargelegt, dass Sie auf
sondern wir wollen Menschen in Arbeit bringen. Das ist
der Basis wissenschaftlicher Evaluierung arbeiten. Wis-
nicht Theorie, sondern gelebte Praxis der letzten Jahre.
senschaftliche Evaluierungen sind gut. Im Übrigen sind
Wir haben das in den letzten Jahren erfolgreich ge-
wir diejenigen, die dieses System aufgebaut haben. Al-
schafft. Diesen Weg werden wir entschlossen weiterge-
lerdings wird mittlerweile manchmal überevaluiert. Den
hen.
Instrumenten wird somit überhaupt keine Chance gege-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ben, sich zu entwickeln. Sie haben diese Evaluierungen
13730 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011

Anette Kramme
(A) aber nicht beachtet, sondern haben das genaue Gegenteil (Beifall bei der SPD – Zuruf von der CDU/ (C)
von dem gemacht, was die Evaluierungen nahegelegt ha- CSU: Grashüpfer springen sehr weit!)
ben: Sie haben den Gründungszuschuss eingeschränkt.
Der Gründungszuschuss ist ein hocheffektives Instru- Vizepräsidentin Petra Pau:
ment. Es ist daher nicht ansatzweise nachvollziehbar, Das Wort hat der Kollege Vogel für die FDP-Fraktion.
weshalb es an dieser Stelle nun mehr Restriktionen ge-
ben soll. (Beifall bei der FDP)
(Beifall bei der SPD)
Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP):
Andererseits soll der Vermittlungsgutschein, der den Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
privaten Arbeitsvermittlern zugutekommt, erhalten blei- Ich glaube, dass heute ein guter Tag ist, weil wir einen
ben. Viel Logik steckt nicht hinter diesem System. guten Gesetzentwurf beraten.
Herr Brauksiepe, Sie sagen, diese Arbeitsmarktinstru- (Katja Mast [SPD]: Deshalb ist Frau von der
mentenreform sei zukunftsorientiert. Ich denke, es gibt Leyen auch da!)
in der Arbeitsmarktpolitik vor allen Dingen zwei Pro-
bleme, die wir perspektivisch lösen müssen. Das eine Es handelt sich deshalb um einen guten Gesetzentwurf,
Problem, das uns als Sozialdemokratinnen und Sozialde- Frau Kollegin Mast, weil es sich dabei um die erste grö-
mokraten große Sorgen bereitet, ist die Langzeitarbeits- ßere Reform im Bereich Arbeit und Soziales dieser
losigkeit. Uns liegt eine Analyse des IAB vor, die die Koalition handelt, zu der wir nicht aufgrund der verfas-
Situation der Arbeitslosen nach fünf Jahren Arbeitslosig- sungswidrigen Regelungen aus rot-grüner Zeit gezwun-
keit evaluiert. Darin wird mitgeteilt, dass 45 Prozent al- gen sind.
ler erwerbsfähigen Menschen, die Leistungen aus dem (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Wo ist
SGB II beziehen, Dauerbezieher sind und nicht aus der eigentlich die Ministerin?)
Arbeitslosigkeit herauskommen. Wir wissen, dass diese
Menschen in vielen Fällen schlecht qualifiziert sind. Unsere bisherigen großen Reformen – Jobcenterreform,
Hartz-IV-Regelsatzreform – haben wir gut gemacht. Wir
Was aber machen Sie? Das einzige Instrumentarium, mussten sie aber durchführen, weil Sie uns verfassungs-
nämlich das der öffentlichen Beschäftigung, streichen widrige Gesetze hinterlassen haben. Diesen Gesetzent-
Sie noch einmal zusammen. Das betrifft zum Beispiel wurf können wir nun positiv angehen. Wir wollen die
die Arbeitsgelegenheiten in der Entgeltvariante. Den Be- Arbeitsvermittlung in unserem Land verbessern. Wir
schäftigungszuschuss haben Sie objektiv betrachtet wollen den Menschen vor Ort die Chance auf Entwick-
(B) schon letztes Jahr erledigt. Rechtlich haben Sie jetzt lung und Perspektiven geben. Dafür braucht man einen (D)
nachgelegt. Wir brauchten an sich viel mehr Ehrlichkeit besseren Werkzeugkasten der arbeitsmarktpolitischen
in diesem Bereich. Wenn wir ehrlich miteinander umgin- Instrumente.
gen, dann wüssten wir, dass es in dieser Republik Men-
schen gibt, die nur sehr schwer in den Arbeitsmarkt zu (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
integrieren sind. Deshalb brauchen wir diese Arbeitsge- Warum ist das so? Wir wollen eine umfangreiche Au-
legenheit, diesen Beschäftigungszuschuss als ersten tonomie der Jobcenter vor Ort und ihnen mehr Freiheit
Schritt in den Arbeitsmarkt. geben. Wir wollen gut und immer besser ausgebildete
Vermittler in den Jobcentern und in den Arbeitsagentu-
(Beifall bei der SPD)
ren. Wenn diese gut funktionieren sollen, dann braucht
Eine unmittelbare Integration bekommen wir nämlich man neben dem guten Handwerker vor Ort aber auch ei-
fast nicht hin. nen aufgeräumten Werkzeugkasten. Das erreichen wir
alleine dadurch, dass wir Übersichtlichkeit schaffen und
Wir brauchen weiterhin Integrationsfirmen. Was aber die Zahl der Instrumente um ein Viertel reduzieren.
machen Sie? Sie setzen die Hürden hoch und legen zu
hohe Kriterien an. Eigentlich müssten wir aber den ent- (Katja Mast [SPD]: Sie räumen so auf, dass
gegengesetzten Weg gehen. Wir müssten es so machen, niemand etwas findet!)
dass die Arbeitsgelegenheiten in einem ersten Schritt ar- Es machte keinen Sinn, sechs unterschiedliche Einglie-
beitsmarktfern sind; damit kann man leben. Je mehr die derungszuschüsse für dasselbe Ziel zu haben. Das haben
Menschen in den Arbeitsmarkt integriert werden und je Sie uns hinterlassen. Deshalb ist es gut, dass wir jetzt
besser sie werden, desto arbeitsmarktnäher müsste das aufräumen.
Ganze sein. Missbrauch kann man dadurch verhindern,
dass man vor Ort Beiräte integriert und mit den Indus- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
trie- und Handelskammern, den Handwerkskammern,
Frau Kollegin Kramme hat eben behauptet, wir wür-
den Sozialverbänden und den Gewerkschaften zusam-
den nichts gegen den Fachkräftemangel tun. Es ist gut,
menarbeitet. Das ist die Lösung. Das ist der Weg. Ihre
dass wir hier sehr wohl etwas verändern und dabei auch
Arbeitsmarktinstrumentarienreform ist Mist und nichts
mehr Flexibilität schaffen.
anderes. Den Fachkräftemangel gehen Sie gar nicht erst
an. Mit dieser Reform werden Sie nicht weit springen. (Katja Mast [SPD]: Ohne Geld!)
Sie werden allenfalls den Grashüpfer machen.
Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Die Weiterbildung von be-
Vielen Dank. schäftigten Arbeitnehmern kommt erstmalig unbefristet
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13731
Johannes Vogel (Lüdenscheid)
(A) ins Gesetz, weil das in Zeiten des Fachkräftemangels Dass es an dem Gesetzentwurf nichts zu kritisieren (C)
eine dauerhafte Aufgabe sein muss. Wir geben den Ver- gibt, zeigt sich daran, dass Sie die meiste Zeit eigentlich
mittlern mehr Flexibilität. Sie können beispielsweise nur darüber reden, es sei der Entwurf eines Kürzungsge-
eine Kofinanzierung mit den Unternehmungen vor Ort setzes. Herr Staatssekretär Brauksiepe hat eben darauf
vereinbaren und sind daher nicht mehr an so starre Rege- hingewiesen: Man muss das trennen; es geht um die Op-
lungen gebunden wie bisher. Das meinen wir mit mehr timierung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente.
Freiheit vor Ort und mehr Flexibilität. Dazu leistet der
(Katja Mast [SPD]: Sie machen das
vorliegende Gesetzentwurf einen sehr guten Beitrag.
zusammen!)
Ich möchte auf ein zweites Thema eingehen.
Gleichzeitig wird auch im Bereich Arbeit und Soziales
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Es ist ganz Geld eingespart. Das ist richtig. Ich will es mit dem ver-
schön anstrengend, das alles schönzuquat- gleichen, was Sie damals hinterlassen haben. Schauen
schen!) wir uns das zum Abschluss an.
– Nein, das muss ich nicht schönquatschen. Es ist ein gu- Im Bereich SGB II Langzeitarbeitslosigkeit haben Sie
ter Entwurf. Er schafft eine Verbesserung bei der Ar- 2006 Mittel hinterlassen, die sich auf 1 500 Euro pro Ar-
beitsvermittlung vor Ort. – Ich möchte auf einen Punkt beitslosen umrechnen lassen.
eingehen, der mir als Vertreter der FDP besonders wich-
tig ist. Ich bin froh, dass wir ihn in den konstruktiven (Katja Mast [SPD]: Ich beziehe mich gerne auf
Gesprächen mit unserem Koalitionspartner jetzt schon das Vorkrisenjahr 2008! 2008 ist der Maß-
erreichen konnten. stab!)

(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wir sind heute bei 2 000 Euro. Wir müssen uns von Ih-
NEN]: Konstruktive Gespräche mit den Lob- nen wirklich nicht unterstellen lassen, hier würde in ir-
byisten!) gendeiner Form gekürzt. Wir kürzen unterproportional
im Vergleich dazu, was im Haushalt da ist, und auch un-
Wir wollen die private Arbeitsvermittlung als Pflicht- terproportional im Vergleich dazu, wie sich die Arbeits-
angebot erhalten, weil wir so im Bereich der Arbeitsver- losigkeit entwickelt. Die Wahrheit ist: Pro Arbeitslosem,
mittlung den Dreiklang erhalten wollen: Jeder muss sich der in Beschäftigung kommen soll, stellen wir noch
selbst darum bemühen, in Arbeit zu kommen, die Bun- mehr Geld zur Verfügung, als es der Fall war, als Sie von
desagentur ist weiterhin zuständig, aber es gibt auch pri- Rot-Grün Verantwortung getragen haben.
vate Konkurrenz auf dem Markt. Diesen Dreiklang wol-
len wir erhalten – das ist eine gute Nachricht –, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(B)
(Katja Mast [SPD]: Auf welches Evaluations- Frau Kollegin Kramme, dasselbe gilt auch für die Rela- (D)
ergebnis beziehen Sie sich?) tion von Vermittlern und Arbeitslosen.

weil wir so einen kreativen Input in der Arbeitsvermitt- Vizepräsidentin Petra Pau:
lung haben werden. Ich bin froh, dass diese Regelung im
Kollege Vogel, das mit dem Abschluss war ein wich-
Gesetzentwurf enthalten ist.
tiger Hinweis.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP):
Frau Kollegin Kramme, Sie haben eben die öffentlich Mein letzter Punkt. In den Jobcentern stehen mehr
geförderte Beschäftigung angesprochen. Ja, die brau- Mitarbeiter zur Verfügung. Als Sie 2005 aufgehört ha-
chen wir, und zwar für eine bestimmte Zielgruppe, die ben, hatte die BA 90 000 Mitarbeiter, und das bei 5 Mil-
nicht von heute auf morgen auf den ersten Arbeitsmarkt lionen Arbeitslosen. Jetzt gibt es 115 000 Mitarbeiter,
kommen kann. Wir sind froh, dass im Bereich des In- und das bei unter 3 Millionen Arbeitslosen. Bei aller
strumentes Jobperspektive keine Zusätzlichkeit in den Liebe: Ein Kürzungsgesetz ist das nicht. Bitte setzen Sie
Gesetzentwurf aufgenommen wurde. Das halte ich für sich mit uns in der Sache auseinander, und führen Sie
richtig, weil es darum geht, auf dem Arbeitsmarkt dabei bitte keine Scheingefechte.
zu sein und nicht irgendeine Beschäftigungstherapie zu Vielen Dank.
machen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Katja Mast [SPD]: Sie kastrieren das
Instrument!)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Es geht darum, auf dem Arbeitsmarkt mit einer gleichbe- Das Wort hat die Kollegin Zimmermann für die Frak-
rechtigten Tätigkeit dabei zu sein, um in einem zweiten tion Die Linke.
Schritt irgendwann der Unabhängigkeit auf dem ersten
Arbeitsmarkt näherzukommen. Es ist gut, dass das in (Beifall bei der LINKEN)
diesem Gesetzentwurf enthalten ist. Insofern sind Ihre
Klagen, wir würden dort, wo die öffentlich geförderte Sabine Zimmermann (DIE LINKE):
Beschäftigung sinnvoll ist, die Beschäftigung kaputt ma- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
chen, unberechtigt. Wir wollen sie lediglich stärker ein- Herren! Herr Vogel, ich muss Ihnen sagen: Sie können
grenzen. die besten Instrumente auf dem Papier haben, aber wenn
13732 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011

Sabine Zimmermann
(A) kein Geld da ist, ist kein Geld da. Dann können Sie traten 25 000 Erwerbslose eine neue Maßnahme der be- (C)
nichts finanzieren. Das ist doch wohl logisch. Sie legen ruflichen Weiterbildung an. Im letzten Jahr waren es
ein Kürzungsprogramm auf und betreiben damit in der dreimal so viele. Diese Entwicklung hat nichts, aber
Arbeitsmarktpolitik Kahlschlag. auch gar nichts mit den sinkenden Arbeitslosenzahlen zu
tun.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Die Zahl der Erwerbslosen im Hartz-IV-Bezug ist ge-
GRÜNEN – Johannes Vogel [Lüdenscheid] genüber dem Vorjahr gerade einmal um 4 Prozent gesun-
[FDP]: Sie haben nicht zugehört, Frau Kolle- ken. Die Zahl der neu begonnenen Weiterbildungsmaß-
gin!) nahmen ist dagegen um 38 Prozent gesunken. Wo, bitte
schön, ist hier die Logik Ihres Verfahrens?
– Doch, ich habe Ihnen gut zugehört. Ich höre Ihnen im-
mer gut zu. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
(Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Das GRÜNEN – Johannes Vogel [Lüdenscheid]
freut mich! Aber dann haben Sie es noch nicht [FDP]: Die gemeinsame Koalition klatscht!
verstanden!) Rot-Rot-Grün klatscht!)
Heute beraten wir einen Gesetzentwurf der Bundes- Es gibt einen riesigen Bedarf bei der Weiterbildung,
regierung mit dem wunderschönen Titel „Entwurf eines aber die Regierung spart hier und will dies auch in den
Gesetzes zur Verbesserung der Eingliederungschancen nächsten Jahren tun. In der letzten Woche veranstaltete
am Arbeitsmarkt“. Da fällt mir eigentlich nur noch das die Bundesregierung mit einem ganz großen Brimbo-
Wahrheitsministerium aus dem Buch 1984 von George rium einen Fachkräftegipfel. Heute beraten wir einen
Orwell ein. Gesetzentwurf, in dem drastische Einschnitte bei der Ar-
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- beitsförderung vorgesehen sind. Das passt doch nicht zu-
neten der SPD – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: sammen.
Das gab es in der DDR nicht!)
Gestern meldete die Süddeutsche Zeitung, der Gesetz-
Auch in diesem wurden falsche Behauptungen in die entwurf der Bundesregierung sehe vor, die Mittel für die
Welt gesetzt, um über die wahren Absichten hinwegzu- staatlich geförderte Beschäftigung, die Sie vorhin so ge-
täuschen. Herr Vogel und Herr Brauksiepe, Sie können lobt haben, um 1 Milliarde Euro auf nur 185 Millionen
die schönsten Bilder malen: Das kommt bei der Bevöl- Euro zu kürzen.
kerung nicht an.
(B) (Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Wo (D)
Frau von der Leyen zieht durch das Land und behaup- steht das bitte?)
tet, die Regierung verbessere mit diesem Gesetzentwurf
Dabei soll diese Beschäftigungsförderung helfen, sinn-
die Chancen der Erwerbslosen. Tatsächlich organisieren
volle Projekte zu finanzieren und langzeiterwerbslose
Sie einen arbeitsmarktpolitischen Kahlschlag, den es in
Menschen
der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland so noch
nie gegeben hat. (Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Die
Jobcenter vor Ort entscheiden, wofür sie das
(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Geht es nicht
Geld ausgeben!)
etwas kleiner?)
Hier sagen wir als Linke: Das machen wir nicht mit. – hören Sie mir zu, vielleicht können Sie ein bisschen
lernen, Herr Vogel – wieder an den ersten Arbeitsmarkt
(Beifall bei der LINKEN) heranzuführen. Das ist auch dringend notwendig; denn
bisher ging der Aufschwung an den Langzeiterwerbslo-
Nun können Sie ja wieder sagen: Die Linke hat wie- sen doch vorbei. Machen Sie sich doch nichts vor!
der einmal etwas zu kritisieren. – Das, was wir sagen, sa-
gen aber auch die Sozialverbände, die Erwerbslosenini- (Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Sie
tiativen und auch die Gewerkschaften. Die Wahrheit ist: wissen aber schon, dass das Jobcenter vor Ort
Diese Regierung hat bereits vor einem Jahr beschlossen, entscheidet, wofür es das Geld ausgibt?)
bis 2014 über 20 Milliarden Euro bei der Arbeitsmarkt-
politik einzusparen. Der heute zu beratende Gesetzent- Die Beschäftigungsförderung für diese Gruppe soll
wurf ist nichts anderes als die Auftragsarbeit zur Umset- nun um 80 Prozent gekürzt werden. Herr Vogel, mit gu-
zung dieser Kürzung, und zwar auf Kosten der ter Arbeitsmarktpolitik im Interesse von erwerbslosen
Erwerbslosen. Menschen – das muss ich Ihnen so deutlich sagen – hat
das überhaupt nichts zu tun. Vielmehr drängt sich bei
Frau von der Leyen sagt auch, der Staat solle sein mir der Eindruck auf, die Bundesregierung sei daran in-
Geld nutzen, um Menschen wieder in reguläre Jobs zu teressiert, eine größere Sockelarbeitslosigkeit beizube-
bringen. Dabei hätten Sie uns auf Ihrer Seite. Erklären halten, und zwar als abschreckendes Beispiel für diejeni-
Sie mir dann aber bitte, warum Sie bei den Qualifizie- gen, die in Lohn und Brot stehen, um sie daran zu
rungs- und Weiterbildungsmaßnahmen sparen wollen. erinnern, dass ihnen Hartz IV droht, sollten sie zu selbst-
Die Krönung ist eigentlich, dass Sie schon jetzt sparen. bewusst höhere Löhne oder bessere Arbeitsbedingungen
Ich will Ihnen das auch erklären: Im Juni dieses Jahres fordern.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13733
Sabine Zimmermann
(A) (Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Frau Das ist nicht toll. Bei der Jobcenterreform musste ihr erst (C)
Zimmermann, im Ernst: Das ist eine Frech- einmal Roland Koch auf die Sprünge helfen.
heit!)
(Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Das
Deshalb sage ich: Dieser arbeitsmarktpolitische Kahl- sind gute Hinterlassenschaften! – Christian
schlag der Bundesregierung richtet sich auch gegen die Lange [Backnang] [SPD]: Sie traut sich nicht
Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das ist mehr in den Bundestag!)
eine unmögliche Politik, für die Sie die Verantwortung
tragen. Das machen wir nicht mit. Ihr Prestigeprojekt, das Bildungspaket, ist ein bürokrati-
sches Monster und deswegen ein Flop.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
Ich könnte noch viele Kritikpunkte aufzählen, aber DIE GRÜNEN)
die Redezeit geht zu Ende. Auf einen möchte ich aber
noch kurz eingehen. Es geht um den sogenannten Ver- Beim Thema Fachkräftemangel ist diese Bundes-
mittlungsgutschein für die privaten Arbeitsvermittler. regierung blank, weil sie total zerstritten ist. Die mit gro-
Die Arbeitsmarktforschung hat festgestellt: Über den ßem Tusch angekündigte Instrumentenreform bedeutet
Vermittlungsgutschein wird kaum besser vermittelt, und nichts anderes, als die Langzeitarbeitslosen abzuhängen.
die Betroffenen landen häufiger in prekärer, nicht exis- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
tenzsichernder Arbeit. und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
Ich fasse zusammen: Diese Regierung spart erstens LINKEN)
auf dem Rücken der Langzeiterwerbslosen, zweitens Diese Ministerin musste niemand entzaubern. Sie hat
will sie mehr Billigjobs fördern und drittens die Langzeit- sich selbst entzaubert.
erwerbslosen abschreiben. Das macht die Linke nicht
mit. (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Sie ist immer
noch zauberhaft!)
Danke schön für die Aufmerksamkeit.
Ich sage Ihnen: Der Lack ist ab.
(Beifall bei der LINKEN)
Mal ehrlich: Bei dieser Instrumentenreform geht es
Vizepräsidentin Petra Pau: doch nicht wirklich um die Instrumente, mit denen die
Arbeitslosen wieder in Beschäftigung gebracht werden
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
können. Es geht vor allen Dingen – das ist hier schon ge-
Kollegin Pothmer das Wort.
sagt worden – ums Geld. Herr Vogel, wenn Pflichtleis-
(B) (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: tungen zu Ermessensleistungen umgewandelt werden (D)
Brigitte, sei friedlich!) und gleichzeitig das Geld gekürzt wird,
(Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Es ist
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): mehr Geld da als zu Ihrer Zeit!)
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Ich weiß
nicht, ob Sie sich noch so richtig daran erinnern können, dann reduziert sich das Ermessen darauf, die Anträge
aber lange galt Frau von der Leyen als Glücksfall für die nur noch abzulehnen.
Politik. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Pascal Kober [FDP]: Das ist auch heute noch und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
so!) LINKEN)
Sie galt zumindest für mich – das gebe ich zu – als Wenn beim Gründungszuschuss, dem erfolgreichsten In-
Glücksfall für die Union. Aber inzwischen sind die strument der aktiven Arbeitsmarktpolitik, 5 Milliarden
Texte, die man über Frau von der Leyen liest, ganz ande- Euro eingespart werden, dann hat das mit vernünftiger
rer Natur. Ich will Ihnen nur einmal zitieren, was im ak- Arbeitsmarktpolitik nichts zu tun.
tuellen Spiegel steht. Kommen wir einmal zum Thema Weiterbildung. Es
(Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Dann ist hier schon hervorgehoben worden, wie wichtig das
muss es wohl stimmen!) ist. Schon in diesem Jahr ist der Anteil der Weiterbil-
dung um ein Drittel zurückgegangen. Das wird mit den
Dort heißt es: Kürzungen der Folgejahre noch viel schlimmer werden.
Das Scheitern in der Arbeitslosenpolitik hat … All das geschieht vor dem Hintergrund des Fachkräfte-
Ursula von der Leyen von der CDU zu verantwor- mangels.
ten.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
und bei der SPD – Karl Schiewerling [CDU/
In der aktiven Arbeitsmarktpolitik sollen 8 Milliarden
CSU]: Seit wann hat der Spiegel recht?)
Euro eingespart werden. Das steht eben nicht im Verhält-
– Auch ich habe mich gefragt: Hat der Spiegel recht? nis zum Rückgang der Arbeitslosigkeit. Vor allen Din-
Wenn ich mir aber anschaue, was Frau von der Leyen ar- gen steht es nicht im Verhältnis zum Rückgang der
beitsmarktpolitisch erreicht hat, dann muss ich sagen: Langzeitarbeitslosigkeit. Das wird für diese Gruppe fa-
13734 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011

Brigitte Pothmer
(A) tale Folgen haben. Herr Vogel, die Integration dieser (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C)
Gruppe wird nicht etwa billiger. Sie wird teurer werden, NEN]: Darum geht es gar nicht! – Brigitte
weil sie aufwendiger ist. Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Habe ich ein Wort zu den Trägern gesagt?)
Sie konzentrieren sich in Ihrer Arbeitsmarktpolitik
ausschließlich auf diejenigen, die schnell in den ersten sondern die Menschen in Arbeit zu bringen. Nehmen Sie
Arbeitsmarkt zu integrieren sind. Diejenigen, bei denen das so hin!
nicht mit einem schnellen Erfolg zu rechnen ist, werden
von Ihnen „aussortiert und abgeschrieben“. Das ist jetzt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
nicht meine Formulierung, sondern die des Stellvertre- Katja Mast [SPD]: Das ist eine Unverschämt-
tenden Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz. heit!)
Vielleicht kommt ja diese Botschaft bei Ihnen an. Wir sind schon 2008 eine Reform der arbeitsmarkt-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN politischen Instrumente angegangen. Ich habe mich noch
und bei der SPD) einmal etwas genauer mit den damaligen Debatten und
auch mit Ihrer Rede, Frau Pothmer, befasst, in der Sie
Mit dieser Politik treiben Sie die Spaltung des Ar- schon damals beinahe das Ende der Zivilisation be-
beitsmarktes weiter voran. Herr Vogel, Herr Brauksiepe, schworen haben. Demgegenüber hat der damalige Ar-
dies sollte eigentlich die Stunde der Arbeitsmarktpolitik beitsminister Scholz gesagt, wir müssten die Reform der
sein. Jetzt könnte Arbeitsmarktpolitik zeigen, was in ihr arbeitsmarktpolitischen Instrumente an der Möglichkeit
steckt, was sie kann, denn jetzt sind die Jobs da, in die der Vollbeschäftigung messen lassen. Damit hat er recht.
hineinqualifiziert und vermittelt werden kann. Ich for-
dere Sie auf: Nutzen Sie den Schwung dieser Konjunk- (Katja Mast [SPD]: Aber das tun Sie doch gar
tur, um auch die Langzeitarbeitslosen in Arbeit zu brin- nicht! Das ist doch Ihr Problem!)
gen! Wir müssen auch anerkennen, dass die heutige Ar-
Sie laufen auf das zu, was Sie selber einmal als Hor- beitsmarktsituation mit dem boomenden Arbeitsmarkt,
rorszenario bezeichnet haben, nämlich eine hohe Ar- in der wir jetzt die Neubestimmung der arbeitsmarktpoli-
beitslosigkeit bei gleichzeitigem Fachkräftemangel. tischen Instrumente vornehmen, sich von der Situation
Aber Sie versauen damit nicht nur die Chancen der Ar- 2008 unterscheidet und dass die gute Lage am Arbeits-
beitslosen. Nein, das, was Sie machen, ist auch für die markt vielleicht auch ein bisschen damit zu tun hat, dass
Volkswirtschaft schlecht. Der Fachkräftemangel droht man 2008 die Instrumente gut geschärft hat.
wirklich zu dem größten Risiko des wirtschaftlichen (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(B) Aufschwungs zu werden. NEN]: Die Lage ist schwieriger geworden für (D)
Für die Bundesregierung sind Integration und Teil- diejenigen, die langzeitarbeitslos sind! Frau
habe offensichtlich kein politisches Ziel mehr. Für uns Pothmer hat es erklärt!)
wird es aber das politische Ziel bleiben. Frau von der Aber wie der Staatssekretär schon gesagt hat: Man kann
Leyen spekuliert offensichtlich auf die Weiterentwick- noch einiges verbessern. Das wollen wir tun.
lung der Konjunktur. Sie sonnt sich in den sinkenden Ar-
beitslosenzahlen, und sie rechnet damit, dass niemand (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
mehr diejenigen, die hinten runterfallen, im Blick hat. neten der FDP)
Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen, und das Zielrichtung der Reform der arbeitsmarktpolitischen
werden Ihnen auch andere nicht durchgehen lassen. Instrumente ist die Integration in den Arbeitsmarkt. Das
Ich danke Ihnen. suggeriert schon der Titel „Leistungssteigerung der ar-
beitsmarktpolitischen Instrumente“. Man kann sich sehr
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wohl darüber streiten, ob für das SGB II ein eigenes In-
und bei der SPD) strumentarium notwendig ist. Aber ich denke, mit Blick
auf den boomenden Arbeitsmarkt ist es die richtige Ent-
Vizepräsidentin Petra Pau: scheidung, auf den Arbeitsmarkt hin zu integrieren.
Das Wort hat der Kollege Dr. Matthias Zimmer für Wir dürfen dabei all diejenigen nicht vergessen, die
die Unionsfraktion. erkennbar keine Chance haben, auf den Arbeitsmarkt zu
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) kommen. Deswegen bin ich Staatssekretär Brauksiepe
sehr dankbar, dass er sehr deutlich hervorgehoben hat,
dass wir die öffentlich geförderte Beschäftigung weiter-
Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU):
führen wollen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Frau Pothmer, was Sie hier (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
immer wieder an ansatzlosem Entrüstungspotenzial ent- Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
fesseln, ist ganz großes Kino. Aber es geht zum Teil an NEN]: Sie tun nichts dafür!)
der Wirklichkeit vorbei.
Wenn die Integration in den ersten Arbeitsmarkt die
Die Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente Zielrichtung dieses Reformvorhabens ist, dann war es
ist nicht dafür gedacht, den Selbsterhaltungsstress der auch richtig, dass im Gegensatz zum Referentenentwurf
Träger zu mildern, der § 16 e SGB II, in dem der Beschäftigungszuschuss
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13735
Dr. Matthias Zimmer
(A) geregelt ist, in der Kabinettsvorlage geändert wurde. Die Vizepräsidentin Petra Pau: (C)
Kriterien der Zusätzlichkeit, der Wettbewerbsneutralität Die Kollegin Mast hat nun für die SPD-Fraktion das
und des öffentlichen Interesses sind weggefallen. Man Wort.
kann bei einem Beschäftigungszuschuss von bis zu
75 Prozent von einem Arbeitgeber nicht verlangen, dass (Beifall bei der SPD)
er die übrigen 25 Prozent arbeitsmarktfern aufbringt. Ich
glaube, das ist nicht möglich, und es entspricht auch Katja Mast (SPD):
nicht der Philosophie dieses Gesetzes. Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Verehrter Kollege Zimmer, Sie glauben doch nicht
Ich wünschte mir dann allerdings auch eine andere ernsthaft, durch das Gesetz zur Verbesserung der Ein-
Regelung bei den AGH. Das haben Sie schon angespro- gliederungschancen am Arbeitsmarkt die Chancen von
chen, Frau Kramme. Hier sind Zusätzlichkeit, öffentli- Langzeitarbeitslosen, die ganz am Rand stehen, zu ver-
ches Interesse und Wettbewerbsneutralität benannt. Die bessern. Das kann nicht Ihr Ernst sein.
Wettbewerbsneutralität war bisher nur in den Ausfüh-
rungsbestimmungen enthalten. Wenn die Brücke in den (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Ich habe keine
Arbeitsmarkt tragen soll, dann müssen die Arbeitsgele- Rede für den Kölner Karneval gehalten!)
genheiten arbeitsmarktnah ausgestaltet werden. Ich Ich werde Ihnen das gleich belegen.
würde mir wünschen, dass man dort ebenfalls im Sinne
der Philosophie des Gesetzes zu mehr Entscheidungs- Dieser Gesetzentwurf ist alles andere als der Entwurf
freiheit vor Ort kommt. eines Chancengesetzes. Er ist letztendlich nichts anderes
als ein Sumpf, in dem die Chancen der Menschen, die
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Arbeit suchen, versinken. Damit werden keine neuen
neten der FDP) Chancen eröffnet.
Vieles wird beibehalten, beispielsweise der Rechtsan- (Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: War
spruch auf die Vorbereitung auf den Hauptschulab- das jetzt der Beleg?)
schluss. Das war einer der zentralen Punkte der Reform
von 2008. Mich ärgert, offen gestanden, ein bisschen, – Herr Vogel, vielleicht hören Sie mir bis zum Ende zu.
dass wir die Länder zu wenig in die Pflicht nehmen. All Dann können Sie mir diese Frage noch einmal stellen.
diejenigen, die keinen Hauptschulabschluss haben, wer- (Otto Fricke [FDP]: War das nun der Beleg?)
den der Bundesagentur für Arbeit gewissermaßen vor
die Füße gekehrt. Ich wünsche mir, dass wir einmal sehr – Der kommt. Ich möchte meine Redezeit nicht dazu
nutzen, diesen Dialog fortzusetzen, vielmehr will ich auf
(B) ernsthaft über die Einführung eines Aussteuerungsbei- die Inhalte eingehen. (D)
trags der Länder für jeden, der den Hauptschulabschluss
nicht geschafft hat, an die Bundesagentur für Arbeit dis- Der Gesetzentwurf ist ein Sumpf. Die Kolleginnen
kutieren. Mit einem solchen Beitrag würden wir die Län- und Kollegen, die vor mir gesprochen haben, haben
der nachhaltig in die Verantwortung für die Bildungser- deutlich gemacht, dass man, wenn man Menschen, die
folge junger Menschen nehmen. Arbeit suchen, Chancen eröffnen will, Geld und gutes
Personal braucht. Sie, meine Damen und Herren von der
Vieles gerade im Bereich der Jugendarbeitslosigkeit
Koalition, haben aber beschlossen, bis 2015 19 Milliar-
kann durch zielgenaue Beratung gelöst werden. Dazu
den Euro – 11,5 Milliarden Euro bei Menschen im Be-
bedarf es gut ausgebildeter Berater und Mitarbeiter. Des-
zug des Arbeitslosengeldes I und 7,5 Milliarden Euro bei
wegen ist auch die Qualifizierung der Mitarbeiter in den
Menschen im Bezug des Arbeitslosengeldes II – einzu-
Agenturen wichtig.
sparen. Ich frage mich, woher die Chancen kommen sol-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) len, wenn kein Geld mehr da ist.

Nachdem die Strukturreform des SGB II auf den Weg (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
gebracht wurde – das wurde schon mehrfach angespro- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
chen –, besteht nach meiner Meinung eine gute Perspek- Der Staatssekretär hat von Vertrauen und Handlungs-
tive, dass Beratung und Vermittlung professioneller er- spielräumen vor Ort gesprochen. Sie schaffen aber nur in
folgen. einem einzigen Punkt Vertrauen: Die Vermittlerinnen
und Vermittler müssen Nein zur Förderung von Weiter-
Der Gesetzentwurf ist eine gute Grundlage, um die ar- bildungen und Berufsausbildungen sagen. Sie müssen
beitsmarktpolitischen Instrumente zielgenauer, effekti- Nein zu öffentlich geförderter Beschäftigung sagen.
ver, transparenter und stärker dezentral organisiert zu Ohne Moos nix los! Das ist Ihr Sumpf.
gestalten. Das wichtigste Ziel ist, Menschen in Beschäf-
tigung zu bringen, nicht, eine Bestandsgarantie für Maß- (Beifall bei der SPD und der LINKEN)
nahmenträger abzugeben. An dem Ziel, Menschen in
In welcher gesellschaftlichen Situation diskutieren
Beschäftigung zu bringen, wird man uns messen. Ich bin
wir über diesen Gesetzentwurf? Wir stehen vor riesigen
zuversichtlich, dass wir diesem Maß gewachsen sind.
Aufgaben. Erstens geht es um Deckung des Fachkräfte-
Danke schön. bedarfs. Die Kollegin Pothmer hat natürlich recht, wenn
sie darauf hinweist, dass das die Kernaufgabe bei der Si-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) cherung unserer wirtschaftlichen Zukunft ist.
13736 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011

Katja Mast
(A) Zweitens wollen wir, dass heute langzeitarbeitslose die Chancen der Langzeitarbeitslosen, sondern auch die (C)
Menschen zu Fachkräften qualifiziert werden, damit sie Chancen derjenigen, die im Arbeitslosengeld-I-Bezug
den Sprung in den ersten Arbeitsmarkt und vor allen eine Qualifikation nachholen wollen. Wenn die Bundes-
Dingen in gute Arbeit dauerhaft schaffen. agentur für Arbeit kein Geld mehr für Qualifikation hat,
dann wird sie die Qualifikation dieser Menschen auch
(Beifall bei der SPD) nicht finanzieren; so einfach ist die Realität vor Ort. Re-
Drittens. Wir wollen – ich komme gleich wieder zu den Sie mit Arbeitssuchenden, dann erfahren Sie das.
meinem Kollegen Zimmer, der sich jetzt unterhält –, Außerdem nehmen Sie denjenigen Langzeitarbeitslo-
dass Menschen, die trotz unserer Vermittlungsanstren- sen, die wir vielleicht zu guten Fachkräften qualifizieren
gungen keine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt ha- können, Chancen.
ben, durch öffentlich geförderte Beschäftigung am Ar- Wenn Sie nicht wollen, dass der Titel Ihres Gesetzent-
beitsmarkt teilhaben können. Die Förderungsdauer sollte wurfs irgendwann lautet „Entwurf eines Sumpfes zur
nicht maximal zwei Jahre dauern. Durch Ihren heute ein- Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeits-
gebrachten Gesetzentwurf werden die Jobperspektiven markt“, dann verändern Sie diesen Gesetzentwurf. Sor-
der Langzeitarbeitslosen beschnitten; denn wegen der gen Sie für mehr Qualifizierung. Bereiten Sie sich in der
Neuregelung des Beschäftigungszuschusses nehmen Sie Arbeitsmarktpolitik auf den Fachkräftebedarf der Zu-
ihnen die Möglichkeit, einen dauerhaften Arbeitsvertrag kunft vor. Kämpfen Sie im Haushalt für aktive Arbeits-
zu haben. marktpolitik. Nur so gewährleisten wir „Fördern und
(Beifall bei der SPD) Fordern“ der Menschen, die Arbeit in diesem Land su-
chen.
Ihre Absicht, die Förderungsdauer auf zwei Jahre zu be-
grenzen, ist nichts Würdevolles. (Beifall bei der SPD)

An diesem Punkt waren die Kollegen von der Union, Vizepräsidentin Petra Pau:
als sie noch mit uns in der Großen Koalition waren,
schon einmal weiter. Ich sage ausdrücklich: Ich bedau- Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Kober das
ere, dass Sie sich da, von wem auch immer, über den Wort.
Tisch haben ziehen lassen, dass Sie das wertvolle Instru- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
ment zum Umgang mit langzeitarbeitslosen Menschen der CDU/CSU)
aufgeben. Diese Menschen stehen ganz am Rande in un-
serer Gesellschaft. Viele hatten seit sechs Jahren und
Pascal Kober (FDP):
mehr keine Arbeit mehr. Bei ihnen gibt es vielfache Ver-
(B) mittlungshemmnisse. Sie haben gesundheitliche Pro- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (D)
bleme, darunter vielleicht psychische. Diesen Menschen Wenn einem nichts einfällt, dann könnte man auch ein-
sagen Sie: Wir geben euch keinen ordentlichen Arbeits- mal schweigen. Wenn einem dennoch Redezeit im Deut-
vertrag. – Das ist der eigentliche Skandal bei der öffent- schen Bundestag gewährt wird und man vor der Aufgabe
lich geförderten Beschäftigung. steht, einen Gesetzentwurf der Regierung zu bewerten,
dann könnte man auch einmal loben, wenn etwas gelun-
Sie wissen, dass es einen Flächenbrand vonseiten der gen ist.
Träger gibt. Ich halte hier kein Plädoyer für die Träger;
mir geht es um die langzeitarbeitslosen Menschen. Ich (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
mache jedes Jahr ein Praktikum mit Langzeitarbeitslo- der CDU/CSU)
sen. Wissen Sie, was sie immer zu mir sagen? – Wir wol- Das ist hier der Fall.
len Arbeit. Wir wollen einen Arbeitsvertrag. Wir wollen
morgens aufstehen und eine Aufgabe in dieser Gesell- Worum es Ihnen eigentlich geht, merkt man daran,
schaft haben, und wir wollen dafür fair entlohnt werden. dass Sie sich genötigt fühlen, Ihre Redezeit mit Behaup-
tungen zu füllen, die, wenn man sie auf ihren Wahrheits-
Wenn die Förderung innerhalb von fünf Jahren länger gehalt prüft, in sich zusammenfallen und sich sogar
als zwei Jahre dauern muss, dann verstehe ich nicht, wa- gegen Sie selbst richten. Ihre Theorie, dass der Einglie-
rum Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, derungstitel desto wirksamer ist, je höher er in der
sich auf solch einen Deal einlassen; denn das entwürdigt Summe ist,
die Arbeit dieser Menschen. Sie wollen einen Arbeits-
vertrag wie alle anderen auch. (Katja Mast [SPD]: Habe ich nicht gesagt!)

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten könnte richtig sein. Wir glauben aber nicht daran; denn
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ein Eingliederungstitel „arbeitsmarktpolitische Maßnah-
men“ allein reicht nicht. Was es braucht, sind Arbeits-
Ich bleibe dabei – Herr Vogel, hoffentlich haben Sie plätze, und die entstehen durch eine gute Wirtschafts-,
den Beleg zur Kenntnis genommen –, Finanz- und Steuerpolitik,
(Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Leider (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das ist ja mal
nein!) eine Neuigkeit!)
dass es sich um einen Sumpf handelt, durch den Chan- wie wir sie als christlich-liberale Koalition so erfolgreich
cen genommen werden. Genommen werden nicht nur betreiben, wie es Ihnen noch nie gelungen ist.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13737
Pascal Kober
(A) (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der Vielen Dank. (C)
CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Frau Hagedorn, Sie haben in diese Debatte mit Ihrer
Zwischenfrage den Begriff „Kahlschlag“ eingeführt. Vizepräsidentin Petra Pau:
Diesen Begriff hat die Kollegin von der Partei Die Linke Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Lange das
dann aufgegriffen. Wenn es Kahlschlag sein soll, dass Wort.
wir die Eingliederungstitel zurückführen, weil weniger
Menschen von Arbeitslosigkeit betroffen sind, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Katja Mast [SPD]: Nach SGB II ist das
Kahlschlag!) Ulrich Lange (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
dann muss man zumindest einmal sagen dürfen, was Sie gen! Wir sprechen heute in erster Lesung über einen Ent-
in Ihrer Regierungszeit für diese Personengruppe bereit- wurf, der, glaube ich, schon sehr gelungen ist, der den
gestellt haben, Frau Hagedorn. Menschen in den Mittelpunkt stellt, nämlich den Men-
Im Jahr 2005, am Ende Ihrer Regierungszeit – da wa- schen, der Arbeit sucht, der arbeiten möchte, wie die
ren Sie schon Mitglied des Deutschen Bundestages –, Kollegin Mast es vorhin so schön beschrieben hat, und
wies der Eingliederungstitel in Summe einen Wert von der auch die Chance haben soll, zu arbeiten. Wir spre-
6,55 Milliarden Euro auf – bei 4,8 Millionen Arbeitslo- chen nicht, liebe Kollegin Mast – da möchte ich aus-
sen. Wenn man das zu den Daten ins Verhältnis setzt, de- drücklich widersprechen –, über Kürzungen von Sozial-
nen wir jetzt glücklicherweise entgegensehen, nämlich leistungen. Sie haben vorhin gerechnet und sind auf
einer durchschnittlichen Zahl von Arbeitslosen von 19 Milliarden Euro gekommen. Ich habe versucht, nach-
2,7 Millionen im Jahr 2011 und einem Eingliederungsti- zuvollziehen, wie man aus einem Topf von 10,5 Milliar-
tel von 5,3 Milliarden Euro im Jahr 2012, dann ist ein- den Euro 19 Milliarden Euro herausnehmen kann. Das
deutig klar und für jeden ersichtlich, dass wir für diesen ist mir als Jurist, der allerdings bekanntlich nicht gut
Bereich mehr Geld pro Person aufwenden, als Sie je auf- rechnen kann – ich bin auch kein Haushälter –, nicht ge-
zuwenden bereit waren. lungen.
(Bettina Hagedorn [SPD]: Das ist eine Milch- (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
mädchenrechnung!) NEN]: Bis 2015! Das muss man mehrere Jahre
hintereinander setzen!)
Deshalb verfängt Ihr Argument vom Kahlschlag nicht.
Es reicht also nicht, pauschal Kritik zu üben oder zu
(B) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) sagen: Es fehlt an Geld. – Vielmehr sollten wir uns nach (D)
Weil wir über diesen Gesetzentwurf nicht nur im Ple- einem Blick zurück überlegen, wie wir in dieser guten
num des Bundestags diskutieren werden, sondern auch Konjunktur mit der Situation umgehen. Da kann ich Ih-
im Fachausschuss und, wie ich höre, zu Recht auch in nen den kleinen Hinweis nicht ersparen, dass wir nach
anderen Ausschüssen, im Haushaltsausschuss beispiels- dem Negativrekord 2005 mit 13 Prozent Arbeitslosigkeit
weise, – das waren 5 Millionen Arbeitslose – heute, nach der
Krise, glücklich bei einer Zahl von unter 3 Millionen Ar-
(Otto Fricke [FDP]: Das ist immer gut!) beitslosen stehen.
möchte ich Sie von vornherein darum bitten, dass Sie (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
sich an der Sachdiskussion beteiligen und nicht verfan- der FDP)
gen bleiben in der falschen Behauptung, wir würden den
Eingliederungstitel über die Maßen zurückfahren und Auch die Kritik, dass es um Einsparungen geht, ist
damit den Menschen schaden. offensichtlich unrichtig. Es gab 2007 600 000 Hilfe-
bedürftige mehr. Wenn man das auf die Zahl der jetzt
(Bettina Hagedorn [SPD]: Zahlen lügen Bedürftigen umrechnet, stellt man fest: Wir haben heute
nicht!) für weniger Langzeitarbeitslose mehr Geld zur Verfü-
Es geht darum, jetzt insbesondere das Problem der gung als damals. Wenn man mit Zahlen arbeitet, sollte
Langzeitarbeitslosigkeit anzugehen. Dazu müssen wir man, so meine Bitte, schon korrekt mit den Zahlen um-
den Instrumentenkasten – so bezeichnen wir das – ziel- gehen.
gerichteter machen. Dazu müssen wir erreichen, dass (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
mehr Entscheidungsfreiheit vor Ort bei den Jobvermitt-
lern besteht, dass individueller auf die Bedürfnisse der Wir garantieren mit diesem Gesetzentwurf soziale Si-
Menschen eingegangen werden kann. Das alles ist schon cherheit. Gewisse Punkte greifen wir deswegen auch
jetzt Gegenstand dieses Entwurfs. An diesem Entwurf ganz bewusst nicht an. Indem wir besondere Schwer-
arbeiten wir weiter; denn er ist gut. punkte setzen, geben wir aber die Chance für mehr Bera-
tung vor Ort, für mehr Dezentralität, für mehr Effizienz,
Liebe Frau Pothmer, Ursula von der Leyen als Minis- für eine höhere Förderung junger Menschen, Allein-
terin mit Unterstützung der FDP- und der Unionskolle- erziehender und Älterer.
gen ist in der Tat eine gute Ministerin für die Arbeitslo-
sen; denn wir bekämpfen Arbeitslosigkeit so erfolgreich, Liebe Frau Pothmer, Sie haben vorhin die Fachkräfte
wie es Ihnen zu Ihrer Regierungszeit nie gelungen ist. angesprochen. Wir haben hier schon einmal eine Debatte
13738 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011

Ulrich Lange
(A) geführt über Fachkräfte und ältere Menschen, die wir ZP 16 Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter (C)
wieder in den Arbeitsmarkt bringen wollen. Gloser, Dr. Rolf Mützenich, Rainer Arnold, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
(Zuruf der Abg. Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]) Den Nahost-Friedensbemühungen neuen
Schwung verleihen
– Sie haben vorhin die Fachkräfte angesprochen. Ich
glaube, dass wir gerade in diesem Punkt sehr genau wis- – Drucksache 17/6298 –
sen, dass eine große Aufgabe und Herausforderung vor Überweisungsvorschlag:
uns liegt. Wir nehmen sie an, weil wir genau dieses Auswärtiger Ausschuss (f)
Potenzial zur Fachkräftesicherung heben wollen. Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wann, wenn nicht keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
jetzt?
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die an der
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Debatte nicht mehr teilhaben können, uns die Eröffnung
NEN]: Genau!) der Aussprache und die notwendige Aufmerksamkeit zu
Zum einen zum Zeitpunkt einer Haushaltskonsolidie- ermöglichen.
rung, zum anderen und vor allem zum Zeitpunkt einer Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
überaus erfreulichen Konjunktur und deutlich sinkender Dr. Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke.
Arbeitslosigkeit wollen wir eine solche Reform durch-
(Beifall bei der LINKEN – Karl-Georg
führen. In einigen Regionen haben wir heute schon Voll-
Wellmann [CDU/CSU]: Wo ist denn Herr
beschäftigung. Bei der Arbeitslosenzahl liegen wir unter
Ernst? Der drückt sich, ja?)
der 3-Millionen-Grenze. Es gibt 250 000 Arbeitslose
weniger als vor der Krise.
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Ich glaube, wir sind auf dem richtigen Weg. Ich Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
glaube auch, dass wir in der jetzigen Situation die richti- UNO beschloss 1948 die Gründung des Staates Israel für
gen Maßnahmen ergreifen, dass wir in Zeiten guter Kon- die Jüdinnen und Juden nach dem durch Deutsche auf
junktur Steuergelder gezielt einsetzen und uns genau Weisung von Hitler und seiner Regierung begangenen
überlegen, wo wir wie an die Menschen herankommen. einzigartigen Verbrechen – dem Versuch, die Jüdinnen
Denn Langzeitarbeitslosigkeit ist kein fester Block. Es und Juden in Europa auszurotten.
(B) gibt Bewegung; das haben die letzten Monate gezeigt. (D)
6 Millionen Jüdinnen und Juden wurden ermordet.
Nehmen wir den Schwung, nehmen wir die Bewe- Nur durch in von unserem Land begangenen Verbrechen
gung mit durch die Konjunktur und durch ein gutes Ge- kam es überhaupt zu einem solchen UN-Beschluss. Des-
setz! Ziehen wir bei diesem Thema an einem Strang! halb müssen wir Deutsche dafür eintreten, dass die Jü-
Dann werden wir nach den Beratungen zu einem guten dinnen und Juden das Recht auf einen Staat haben, in
Erfolg kommen. dem sie die Mehrheit stellen, aber ebenso selbstverständ-
lich Nichtjüdinnen und Nichtjuden gleichberechtigt zu
Herzlichen Dank.
behandeln haben.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Ich schließe die Aussprache. Die UNO hat 1948 aber auch beschlossen, den Staat
Palästina zu gründen. Die arabischen Länder lehnten
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen dies damals ab und begannen stattdessen einen Krieg ge-
auf den Drucksachen 17/6277 und 17/6319 an die in der gen Israel. Die Waffenlieferungen an Israel kamen übri-
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. gens nicht aus den USA, nicht aus Großbritannien oder
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann Frankreich, sondern mithilfe der Sowjetunion aus der
sind die Überweisungen so beschlossen. Tschechoslowakei. Letztlich gewann Israel und erwei-
terte sein Territorium.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 38 sowie den Zu-
satzpunkt 16 auf: Wie immer man zu dem Territoriumsgewinn steht: Es
entstanden die Grenzen, die bis 1967 einigermaßen hiel-
38 Beratung des Antrags der Abgeordneten ten. Es ist bekannt, welche Kriege anschließend stattfan-
Wolfgang Gehrcke, Dr. Gregor Gysi, Jan van den. Die Palästinenserinnen und Palästinenser wollten
Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion und wollen inzwischen endlich einen eigenen Staat.
DIE LINKE
In Übereinstimmung mit sämtlichen UNO-Beschlüs-
Den Staat Palästina anerkennen sen soll der Staat Palästina in den Grenzen von 1967
– Drucksache 17/6150 – proklamiert und anerkannt werden. Ein Austausch von
Überweisungsvorschlag:
Territorien kann nur zwischen Israel und Palästina ver-
Auswärtiger Ausschuss (f) einbart werden. Die Palästinenserinnen und Palästinen-
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ser, die im Unterschied zu den Deutschen die Verbrechen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13739
Dr. Gregor Gysi
(A) an den Jüdinnen und Juden nicht begangen haben, haben Vizepräsidentin Petra Pau: (C)
einen Anspruch auf einen eigenen lebensfähigen Staat, Der Kollege Silberhorn hat das Wort für die Unions-
in dem sie souveräne Rechte ausüben. fraktion.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
neten der SPD)
Die Friedlichkeit zwischen beiden Staaten muss interna- Thomas Silberhorn (CDU/CSU):
tional garantiert und gewährleistet werden. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Die israelische Regierung sperrt sich zurzeit dagegen. Herren! In der arabischen Welt vollzieht sich ein Um-
Viele Staaten unterstützen aber die Palästinenserinnen bruch fundamentalen Ausmaßes. Gleichzeitig stellen wir
und Palästinenser. Der französische Präsident Sarkozy fest, dass sich im Nahostkonflikt – das ist ja in unmittel-
ist bereit, diesen Staat zu unterstützen und anzuerken- barer Nachbarschaft dazu – seit eineinhalb Jahren nichts
nen. Die Bundeskanzlerin und der Bundesaußenminister bewegt. Wir beobachten einerseits eine politische Dyna-
warnen vor einseitigen Schritten. Ich frage Sie: Was soll mik in der arabischen Welt, die lange Zeit immun gegen
daran einseitig sein? Einseitig wäre es, wenn beide Staa- jeden Wandel erschien; andererseits stellt sich die Lage
ten noch nicht gegründet wären und plötzlich eine Seite im Nahostkonflikt ernüchternd dar. Das ist umso bedau-
damit begönne. Aber den Staat Israel gibt es seit 1948. erlicher, als die fundamentalen Veränderungen in der
Es ist mehr als höchste Zeit, dass auch der Staat Paläs- arabischen Welt Fortschritte im Friedensprozess noch
tina entsteht. Wenn Sie erklären, dass Sie warten wollen, dringlicher machen.
bis die israelische Regierung dies genehmigt, können Sie
auch sagen, dass es den Staat Palästina niemals geben Frieden wird es aber nur mit einer Verhandlungslö-
wird, wenn die israelische Regierung es eben nie geneh- sung geben. Zu Recht appelliert der Europäische Rat in
migen sollte. seinen Schlussfolgerungen vom letzten Freitag an alle
Parteien, unverzüglich Verhandlungen aufzunehmen.
Die Lage im Nahen Osten und in Nordafrika ist völlig Dabei ist entscheidend, dass die beteiligten Parteien in
verändert. Wir wissen noch nicht, welche Strukturen in direkte Verhandlungen miteinander treten müssen; nur
Ägypten, Tunesien, Libyen, Syrien, Jemen und Bahrain dann wird es Fortschritte im Friedensprozess geben.
entstehen. Gerade in einer solchen Situation wäre das Deshalb sind wir skeptisch; die einseitige Ausrufung ei-
friedliche Nebeneinander der Staaten Israel und Paläs- nes palästinensischen Staates dient diesem Ziel nicht.
tina für den Friedens- und Demokratieprozess im Nahen
Osten und in Nordafrika ungeheuer wichtig. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

(B) (Beifall bei der LINKEN) Ein solcher Schritt hätte wohl vor allem symbolische Be- (D)
deutung; aber ob er uns dem Ziel einer Zwei-Staaten-Lö-
Unsere Regierung trägt seit heute als Vorsitzende des
sung wirklich näher bringen würde, darf man mit Fug
Sicherheitsrates der UNO eine hohe Verantwortung. Wir
und Recht bezweifeln. Auch die SPD-Fraktion spricht in
müssen das Zwei-Staaten-Modell aktiv unterstützen, im
Interesse der Palästinenserinnen und Palästinenser, im ihrem Antrag von einer symbolischen Anerkennung. Ich
Interesse der Israelis, im Interesse aller Menschen im glaube, man darf nicht verkennen, dass die Gefahr be-
Nahen Osten und der Weltgemeinschaft. steht, dass ein solches palästinensisches Vorgehen nicht
nur folgenlos bliebe, was Fortschritte im Friedenspro-
Es ist zu befürchten, dass ein Antrag auf Ausrufung zess anbelangt, sondern möglicherweise sogar zu einer
und Anerkennung des Staates Palästina und seine Mit- Verhärtung der jeweiligen Positionen führen könnte. Die
gliedschaft in der UNO im Sicherheitsrat am Veto der Perspektiven für eine Fortführung des Friedensprozesses
USA scheitern werden. Ich hoffe, die Bundesregierung würden dadurch nicht besser. Es müsste in jedem Fall
stimmt für die Gründung des Staates. Der Beschluss des weiterverhandelt werden, weil durch die einseitige Aus-
Sicherheitsrates kann aber durch eine Zweidrittelmehr- rufung eines palästinensischen Staates keine einzige of-
heit der Mitglieder der UNO aufgehoben werden: Min- fene Frage geklärt würde.
destens 128 der 192 Mitgliedstaaten müssten dafür stim-
men; das ist durchaus möglich. Auch hier sollte (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Aber
Deutschland für die Gründung des Staates stimmen. Es besser als Intifada!)
änderte sich noch nichts in der Region, aber der Druck
nähme zu, diesen Willen der Weltgemeinschaft zu reali- Wir müssen auch die Folgen für Israel bedenken. Al-
sieren. Die Bundesregierung darf dabei nicht zurückhal- les andere als ein klares Nein zu einer einseitigen Staats-
tend sein; sie muss aktiv werden. Halten Sie Ihre wichti- ausrufung wäre ein eklatanter Bruch in der deutschen
gen Beziehungen zu Israel aufrecht, aber erkennen Sie Außenpolitik.
den Staat Palästina unbedingt an! (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sagen Sie
(Beifall bei der LINKEN) doch mal, was daran einseitig sein soll!)
Wir sollten auch Palästina helfen, soweit wir können. An einer so grundlegenden Frage zeigt sich, ob wir es
Auch das entspräche unserer besonderen historischen ernst meinen damit, dass die Sicherheit Israels Teil der
Verantwortung. deutschen Staatsräson ist.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD) neten der FDP)
13740 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011

Thomas Silberhorn
(A) Deswegen ist die Idee einer einseitigen Ausrufung ei- tik der arabischen Regierungen stärker als bisher auf die (C)
nes palästinensischen Staates kein Signal zum Aufbruch, Mehrheitsmeinung in der Bevölkerung Rücksicht neh-
sondern eine diplomatische Sackgasse. Ich will aller- men wird. Die Dynamik des Wandels in der arabischen
dings auch sagen, dass ich durchaus nachvollziehen Welt wird deshalb die Verhandlungsposition Israels ten-
kann, welche Frustration sich auf palästinensischer Seite denziell eher schwächen als stärken.
aufgebaut hat. Bei den Friedensverhandlungen tritt man
Die palästinensische Autonomiebehörde auf der an-
auf der Stelle. Sie kreisen seit Jahrzehnten um dieselben
deren Seite hätte durch ein Friedensabkommen die
Themen, ohne dass eine echte Perspektive für eine um-
Chance, ihre eigene Legitimation zu stärken und bei der
fassende Lösung absehbar wäre.
Überwindung der Spaltung der palästinensischen Gesell-
Hinzu kommt, dass die Palästinenser in den letzten schaft einen wichtigen Schritt voranzukommen. Deswe-
Jahren substanzielle Fortschritte beim Aufbau eines gen muss es das Ziel sein, noch vor der Generalver-
Staatswesens erzielt haben. Das haben die Experten der sammlung der Vereinten Nationen im September dieses
Vereinten Nationen, der Weltbank und des Internationa- Jahres die Verhandlungen zwischen beiden Partnern wie-
len Währungsfonds wiederholt bestätigt. Auf der letzten derzubeleben und eine Perspektive für echte Fortschritte
Konferenz der wichtigsten Geber für die palästinensi- zu schaffen.
schen Gebiete im April dieses Jahres kamen sie überein-
Die Grundelemente einer solchen Friedenslösung
stimmend zu dem Schluss, dass die palästinensische Au-
sind seit langem bekannt: die Grenzen von 1967 als Aus-
tonomiebehörde die grundlegenden Voraussetzungen für
gangspunkt für den Austausch von Land, eine Lösung
eigene Staatlichkeit geschaffen hat. Das ist ein großes
der Jerusalem-Frage, tragfähige Sicherheitsgarantien für
Verdienst von Premierminister Fayyad. Die Bundesre-
Israel einschließlich einer möglichen Sicherheitspräsenz
gierung hat im Rahmen ihrer Möglichkeiten den Aufbau
und eine Einigung hinsichtlich des Rückkehrrechts für
staatlicher Strukturen unterstützt, unter anderem durch
Flüchtlinge. Diese Parameter sind und bleiben Kernele-
die Einsetzung eines deutsch-palästinensischen Len-
mente einer dauerhaften Beilegung des Konflikts.
kungsausschusses im letzten Jahr.
Vor wenigen Tagen – lassen Sie mich das abschlie-
Dennoch ist der einzig gangbare Weg zu einer tragfä- ßend erwähnen – hat sich die Geiselnahme von Gilad
higen Friedenslösung die Wiederaufnahme direkter Ver- Schalit zum fünften Mal gejährt. Zur heutigen Debatte
handlungen. Dazu bedarf es natürlich des politischen gehört daher auch der erneute Appell an seine Entführer,
Willens beider Seiten. Es bedarf auch der Aussicht auf Gilad Schalit freizulassen und seinem Leid und dem sei-
erreichbare Fortschritte in absehbarer Zeit. Deswegen ner Familie endlich ein Ende zu bereiten. Das wäre ein
müssen wir beiden Seiten erhebliche Anstrengungen ab- echtes Zeichen von Menschlichkeit.
verlangen.
(B) (D)
Vielen Dank.
Der palästinensischen Seite müssen wir deutlich ma-
chen, dass das Einheitsabkommen, das Anfang Mai in (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
Kairo mit der Hamas unterzeichnet worden ist, unter bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und
dem Vorbehalt stehen muss, dass die Hamas das Exis- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
tenzrecht Israels anerkennt, von Gewalt Abstand nimmt
und bisherige Abkommen anerkennt; denn es ist für Is- Vizepräsidentin Petra Pau:
rael zu Recht schlicht inakzeptabel, mit einem Akteur zu Das Wort hat der Kollege Günter Gloser für die SPD-
verhandeln, der als Zielsetzung seiner Charta formuliert, Fraktion.
die Existenz Israels zerstören zu wollen.
Die israelische Regierung muss endlich darlegen, wie Günter Gloser (SPD):
sie sich eine umfassende und gerechte Friedenslösung Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
vorstellt. Außer dem grundsätzlichen Bekenntnis zu ei- Liebe Kollegen! Seit dem Beginn dieses Jahres weht der
ner Zwei-Staaten-Lösung haben wir dazu bisher wenig Wind des Wandels durch die Nahostregion und durch
Substanzielles gehört. Das gilt im Übrigen auch für die Nordafrika. Mit Überraschung und Staunen haben wir
viel beachtete Rede des israelischen Premierministers das massenhafte Aufbegehren der Menschen gegen
vor dem US-Kongress vor wenigen Wochen. Was wir er- Machthaber und Herrschaftssysteme in der Region gese-
warten müssen, ist, dass Israel eine positive Vision für hen, die jahrelang als nicht erschütterbar galten. Dieser
eine Friedenslösung einbringt. Das würde es auch den Prozess ist mit Leid und Tod verbunden, da die Aus-
gemäßigten Kräften auf palästinensischer Seite ermögli- einandersetzungen insbesondere in Libyen und Syrien,
chen, auf realistische Ziele hinzuarbeiten und das gegen- aber auch im Jemen mit Gewalt geführt werden. Der
über der Bevölkerung auch zu vertreten. Prozess ist, wie wir täglich in den Nachrichten sehen,
noch nicht an sein Ende gekommen. Der Wind des Wan-
Es gilt, gegenüber beiden Parteien immer wieder
dels in Tunesien, Ägypten und vielen anderen Staaten
deutlich zu machen, dass eine Friedenslösung in ihrem
hat das Fenster für neue Entwicklungschancen aufgesto-
eigenen Interesse ist. Israel würde dadurch aus dem Fo-
ßen.
kus der Kritik in der arabischen Welt genommen. Das ist
durchaus von Bedeutung; denn die Palästina-Frage ist Auch vor Palästina hat diese Entwicklung nicht halt-
noch immer ein Thema mit großem Mobilisierungs- gemacht. Die Palästinenser sind vielerorts auf die Straße
potenzial in diesen Staaten. Angesichts des gegenwärti- gegangen, um endlich das Ende ihrer zerstrittenen Dop-
gen Umbruchs deutet manches darauf hin, dass die Poli- pelführung und eine Regierung für sich zu fordern, und
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13741
Günter Gloser
(A) zwar weitgehend gewaltfrei. Dieser Hinweis ist mir sehr das noch einmal formulieren. Frank-Walter Steinmeier (C)
wichtig. Es war zuerst die Bevölkerung Palästinas, wel- hat schon am 26. Mai an dieser Stelle gefragt: Wo ist ei-
che den Wandel und Entwicklungschancen wollte, nicht gentlich der wahrnehmbare deutsche Beitrag in der Nah-
das politische Establishment. Die Menschen in Palästina ostpolitik?
wollen nicht länger Opfer machtstrategischer Züge von
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
Einzelinteressen innerhalb der gespaltenen Regierung
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
bleiben. Religion spielte in dieser sozialen Bewegung
übrigens kaum eine Rolle. Die Forderung nach einer Ohne jede Not hat sich die Bundeskanzlerin im April
Einheitsregierung für Palästina ist legitim und demokra- und noch einmal im Mai dieses Jahres gegen eine Aner-
tisch. kennung der Unabhängigkeit des Staates Palästina
ausgesprochen. Damit hat sie, wie ich meine, eine ge-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten meinsame europäische Initiative in dieser Frage von
der LINKEN) vornherein und ohne Konsultation mit den Partnern ver-
Nun ist zu hoffen, dass der Prozess der Regierungsbil- hindert. Friedensgespräche werden auf diese Weise nicht
dung wirklich vorankommt und den Nahostfriedensver- wahrscheinlicher, sondern unwahrscheinlicher.
handlungen neuer Schwung verliehen werden kann, so (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
wie es in dem Titel unseres Antrags heißt. Ohne neuen der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
Schwung in den Friedensverhandlungen wird auch eine GRÜNEN)
aktivere Beteiligung der Menschen in Israel und Paläs-
tina nicht möglich sein. Aber nur damit wäre eine ausge- Durch die unbedingte vorauseilende Zustimmung zur
handelte Friedenslösung langfristig tragfähig. Position von Ministerpräsident Netanjahu hat sie auch
jene in der israelischen Regierung gestärkt, die offenbar
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) meinen, der Status quo sei besser als jede Verhandlungs-
Wo ist die israelische Friedensinitiative in diesen Ver- lösung. Solch einer Analyse sollten wir aber offen entge-
handlungen? Ich und viele andere Kollegen haben aus gentreten. Deutschland entmutigt sonst auch alle jene
unseren jüngsten Gesprächen mit Partnern aus Israel den Menschen in der Region weiter, die an eine Friedenslö-
Eindruck gewonnen, dass die neue Situation in der Re- sung glauben. Das dient letztlich auch nicht der Sicher-
gion bei der Regierung Netanjahu Verunsicherung her- heit Israels, der wir uns ja alle verpflichtet fühlen.
vorgerufen hat, über die sie bis heute nicht hinausge- Der Träger des Friedenspreises des Deutschen Buch-
kommen ist. Dabei könnte zumindest durch einen Stopp handels David Grossman hat dazu 2010 in Frankfurt ge-
des Siedlungsneubaus ein erstes positives Signal gege- sagt – ich zitiere –:
(B) ben werden. (D)
Wer aber die Möglichkeit des Friedens aufgegeben
(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie hat, ist schon geschlagen. Er hat das Schicksal des
bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- anhaltenden Krieges im Grunde über sich selbst
NISSES 90/DIE GRÜNEN) verhängt.
Auf palästinensischer Seite sehen wir im sogenannten Diese Worte wiegen umso schwerer, wenn man weiß,
Fayyad-Plan einen konstruktiven Ansatz, die Vorausset- dass David Grossmans eigener Sohn 2006 im Libanon-
zungen für eine Staatsgründung und einen dauerhaften Krieg von einer Hisbollah-Rakete getötet worden ist.
Frieden zu schaffen. Diese Einschätzung wird übrigens
von der Europäischen Union und vom Nahostquartett Deutschland sollte daher alles dafür tun, für diejeni-
geteilt. Was aber, wenn es bis zum Herbst zu keinen Ver- gen in der Nahostregion, die – so wie David Grossman –
handlungen kommt? Kann man den Palästinensern dann den Glauben an eine Friedenslösung noch in sich tragen,
den Wunsch nach der Ausrufung eines eigenen Staats eine neue Perspektive zu schaffen. Das geht meines Er-
dauerhaft verwehren? achtens nur im europäischen Kontext.

Eine Anerkennung kann nach Auffassung der SPD- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Fraktion jedenfalls nur dann erfolgen, wenn drei Forde- DIE GRÜNEN)
rungen erfüllt sind, die vor allem die Sicherheit Israels Die Bundeskanzlerin hat für die Mitgliedstaaten der
betreffen und bereits vom Nahostquartett formuliert wor- Europäischen Union, die Hohe Vertreterin der Europäi-
den sind – Kollege Silberhorn, ich möchte darauf hinwei- schen Union für Außen- und Sicherheitspolitik und die
sen, dass es hier um eine Zusicherung der neu gewählten Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU ins-
Regierung und nicht der Fatah oder Hamas geht –: gesamt ein Präjudiz geschaffen, das eine gemeinsame
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Haltung Europas in der Frage der Anerkennung Palästi-
nas nicht mehr zulässt. Damit verbaut sie Europa insge-
die Anerkennung des Existenzrechts Israels, eine Garan- samt die Möglichkeit zur Einflussnahme auf neue Ver-
tie für Gewaltverzicht und die Zustimmung zu allen bis- handlungen. Jedem wirklich überzeugten Europäer muss
herigen Abkommen. Kollege Gysi, ich denke, da unter- dies als deutsche Sonderwegpolitik erscheinen – was lei-
scheiden wir uns erheblich von Ihrem Antrag. der auch für andere Felder gilt, wie wir in den letzten
Wochen und Monaten gesehen haben.
Nun komme ich zur Hauptkritik, die sich an die Bun-
desregierung und insbesondere an die Bundeskanzlerin Daher fordert die Bundestagsfraktion der SPD die
richtet. Auch wenn sie heute nicht anwesend ist, darf ich Bundesregierung und insbesondere die Kanzlerin mit
13742 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011

Günter Gloser
(A) dem vorliegenden Antrag auf, den Fehler, den sie durch lich und vielleicht sinnvoll Ihr Antrag zu einem anderen (C)
ihren Alleingang verursacht hat, zu korrigieren. Ich wie- Zeitpunkt gewesen wäre, jetzt ist er nicht sinnvoll. Nach
derhole noch einmal: Das Ziel deutscher und europäi- meinem Dafürhalten schadet er den Palästinensern mehr,
scher Außenpolitik muss natürlich eine Verhandlungslö- als er ihnen hilft. Ein solcher Antrag könnte, wenn er
sung für den Nahostkonflikt sein, und Europa muss diese denn angenommen würde – er wird zum Glück nicht an-
befördern. Wenn es aber nicht zu neuen Verhandlungen genommen –, Erwartungen in Palästina wecken, die sich
kommt, dann müssen wir im europäischen Kontext bera- angesichts der gegenwärtigen Situation in der Region
ten, welche Bedingungen wir an die Anerkennung einer aufschaukeln und dann eventuell keine Kanalisation
palästinensischen Regierung und eines palästinensischen mehr finden könnten.
Staates knüpfen. Nur so können wir den Einfluss gewin-
nen, den wir brauchen. Dabei wären wir als Europäer Wir erleben außerdem, Herr Gysi, dass selbst füh-
auch nicht allein. Mit Präsident Obama haben wir – nach rende Palästinenser, angefangen bei Herrn Fayyad, öf-
Jahren verfehlter Nahostpolitik durch die Bush-Admi- fentlich davor warnen, diesen Schritt zu tun. Wir haben
nistration – einen starken Partner im Einsatz für den in dieser Woche Gespräche mit führenden Vertretern der
Frieden im Nahen Osten an unserer Seite. arabischen Welt geführt – ich nenne sie bewusst nicht
beim Namen –, die uns gesagt haben: Wir warnen davor,
Zum Schluss zitiere ich noch einmal aus der beein- auch als Araber, diesen Schritt jetzt zu tun. Davor war-
druckenden Rede von David Grossman im letzten Jahr in nen sie auch die Palästinenser.
Frankfurt. Er sagt:
Das Ganze steht im Kontext mit der Frage: In welcher
Ich möchte sie daran erinnern, dass weder Israel Situation befinden wir uns im Augenblick? Lassen Sie
noch Palästina eine Heimat, eine sichere Zukunft uns das einmal durchdeklinieren.
und eine stabile Existenz haben werden, wenn ihr
Gegenüber nicht genau dasselbe haben kann. In Wie ist die Situation in Israel? In Israel ist gegenwär-
diesem Sinne sind die beiden Völker aneinander ge- tig eine große Verunsicherung festzustellen. Wir sind in
bunden. … und nur, wenn sie das begreifen, werden diesem Haus seit Jahren zu der gemeinsamen Feststel-
sie wirklich in der Lage sein, den Prozess wiederzu- lung gelangt, dass die Zeit gegen Israel arbeitet. Mittler-
beleben. weile merken die Israelis, auch führende Israelis, dass
dies stimmt. Die innerisraelische Diskussion hat eine
Dem ist nichts hinzuzufügen. neue Qualität. Bisher hat man auf eine flexiblere Hal-
Vielen Dank. tung gedrängt. Dabei handelte es sich allerdings zumeist
um Leute, die im innerisraelischen Kontext eher als
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ „Softies“ angesehen worden sind. Jetzt haben wir eine
(B) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der völlig neue Situation. So gab es die IPI, die Israeli Peace (D)
LINKEN) Initiative. Gestandene Generäle und gestandene Funktio-
näre des Mossad machen plötzlich Vorschläge, die sie
Vizepräsidentin Petra Pau: vor einem Jahr nie gemacht hätten. Auf diese Situation
Das Wort hat der Kollege Dr. Rainer Stinner für die müssen wir uns einstellen. Wir haben es in der inner-
FDP-Fraktion. israelischen Diskussion mit einem völlig neuen Kontext
zu tun. Wir können nur hoffen, dass sich die Initiatoren
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) der Israeli Peace Initiative durchsetzen. Dafür müssen
wir uns einsetzen.
Dr. Rainer Stinner (FDP):
Ich weiß nicht, ob Sie, Herr Gysi, in den letzten Tagen
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! mit Herrn Gehrcke gesprochen haben. Herr Gehrcke und
Herr Kollege Gysi, ohne jeden Zweifel steht Ihr heute ich hatten die Gelegenheit, in unterschiedlichen Kontex-
vorliegender Antrag im Kontext einer anderen Diskus- ten an drei oder vier verschiedenen Veranstaltungen zu
sion, die Ihre Partei beschäftigt hat. Deshalb verstehe diesem Thema teilzunehmen. In diesem Rahmen wurde
ich, dass der erste Teil Ihrer Rede durchaus an Ihre Partei mir klar, dass das, was ich jetzt sage, wirklich meinem
gerichtet war. Ich sage Ihnen persönlich, Herr Gysi: Sie Inneren entspricht: Das Timing Ihres Antrags ist leider
sind für mich in diesem Falle sehr glaubwürdig, und al- völlig falsch.
les andere müssen Sie mit Ihrer Partei abmachen. Ich
habe Verständnis dafür, dass Sie das heute hier so einge- Natürlich ist die Sicherheit in Israel nach wie vor das
führt haben. Thema Nummer eins. In jeder Rede, die ich zu diesem
Thema halte, betone ich: Ich habe, auch zum heutigen
Wenn man aber ein Freund Palästinas ist und für Pa-
Zeitpunkt, volles Verständnis dafür, dass im Zentrum je-
lästina etwas tun will, muss man sich fragen, ob Sie mit
der israelischen Politik die Sicherheit des Staates steht.
Ihrem heutigen Antrag Palästina etwas Gutes tun oder ob
Wenn ich mir vor Augen führe, dass dort immer neuere
Sie Palästina nicht eventuell sogar schaden.
Raketen, immer weiter reichende Raketen und immer
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Was?) mehr Raketen zum Einsatz kommen, dann habe ich Ver-
ständnis dafür, dass Israel alles tut, um diese Gefahr ab-
Denn eine Sache ist, etwas zu fordern; die andere Sache zuwehren.
ist das Timing: Wann ist der richtige Zeitpunkt? Wenn
ich mir vor Augen halte, worüber wir in den letzten Wo- Wie sieht es in Palästina aus? In Palästina gibt es
chen diskutiert haben, kann ich nur sagen: So verständ- Schwierigkeiten bei der Regierungsbildung. Selbst wenn
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13743
Dr. Rainer Stinner
(A) es dort zur Bildung einer Regierung kommt, wissen wir, Danke schön. (C)
dass diese Regierung nicht für beide Teile, über die wir
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
sprechen, für das Westjordanland und Gaza, gleicherma-
ßen sprechen kann. Die Staatlichkeit bzw. mögliche
Staatlichkeit ist eingeschränkt, weil die Durchsetzungs- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
fähigkeit dieser Übergangsregierung, um es vorsichtig Das Wort hat nun Kerstin Müller für die Fraktion
zu formulieren, fragwürdig ist. Bündnis 90/Die Grünen.

Allerdings ist in Palästina erfreulicherweise – das Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
wurde international begutachtet und wird befürwortet – NEN):
eine wesentliche Verbesserung beim Aufbau staatlicher Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
Strukturen zu verzeichnen; das finde ich sehr gut. Diese ist schon gesagt worden: Die Palästinenser werden – je-
Fortschritte werden allseits anerkannt. Das ist im Hin- denfalls wenn sich die Lage bis dahin nicht noch drama-
blick auf die Etablierung von Staatlichkeit ein ganz we- tisch verändert – in der Generalversammlung der Verein-
sentlicher Schritt. Was die Situation in der arabischen ten Nationen die Anerkennung eines palästinensischen
Welt betrifft, herrschen in Palästina allerdings Erwartun- Staates beantragen. Genauer gesagt werden sie den Be-
gen, die wir bitte schön nicht strapazieren sollten, weil obachterstatus als Non-Member-State beantragen, falls
sie, wie wir alle wissen, eventuell nicht erfüllt werden sie nicht sogar vorher auf Mitgliedschaft im Sicherheits-
können. rat setzen, dem die Amerikaner mit einem Veto entgeg-
Wie ist die Situation in Amerika? Nach meinem Da- nen würden. Die PLO hat das letzten Sonntag erklärt.
fürhalten hat sich die Situation in Amerika seit Februar Nach Gesprächen, die ich in New York, aber auch hier
dieses Jahres geändert. Die Vereinigten Staaten von geführt habe – andere werden auch Gespräche geführt
Amerika haben im Februar dieses Jahres eine Resolution haben –, kann ich nur sagen: Mein Eindruck ist, dass die
der Vereinten Nationen durch ihr Veto verhindert. Palästinenser sehr entschlossen sind. Herr Silberhorn, es
Deutschland hat zum Glück so wie alle anderen europäi- mag zwar sein, dass man nicht weiß, wie sich das entwi-
schen Staaten abgestimmt; das fand ich sehr gut. ckelt, und dass das risikobehaftet ist. Man muss aber an-
erkennen: So viel Bewegung in der internationalen Poli-
(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tik in Bezug auf diese Frage hat es lange nicht gegeben.
NEN]: Wie auch sonst immer!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Deutschland hat es also „gewagt“, sich bei diesem sen- sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
siblen Thema anders zu entscheiden als Amerika. Ich KEN)
(B) sage Ihnen aber: Nach meinem Dafürhalten hat sich die (D)
Hintergrund ist ohne Frage der völlige Stillstand im
Situation in Washington geändert, und zwar durch den Nahost-Friedensprozess. Die palästinensische Seite ist
Besuch von Netanjahu, durch die Rede Obamas und zu Recht besorgt, dass die Siedler, je mehr Zeit vergeht,
durch die verbale Ohrfeige, die Netanjahu dem amerika- immer mehr Fakten schaffen. Seit dem Oslo-Abkommen
nischen Präsidenten verpasst hat. Nach meinen Informa- von 1993 haben sich die Siedlungen in der Westbank
tionen aus Washington positioniert sich die amerikani- verdreifacht: von 100 000 auf 300 000; in Ostjerusalem
sche Regierung bei diesem Thema mittlerweile anders sind es zusätzlich 200 000 und wir alle wissen – Sie ha-
als noch im Februar. ben die Führung von Ir Amin wahrscheinlich auch mit-
gemacht –, dass die Besiedlung in Ostjerusalem mit be-
Ich komme zum Schluss. Man muss jetzt das Richtige sonders radikalen Siedlern erfolgt. Obwohl viele Israelis
tun. Diesen übereilten Schritt darf man nicht machen. wissen – das ist ein Zitat –, dass „der Siedlungsbau die
Der Kontext muss verstanden werden. Wir als Europäer,
Fundamente des Staates Israel buchstäblich untergräbt“,
als Deutsche sollten Israel drängen – und durch die inner- wurde leider unter allen israelischen Regierungen glei-
israelische Entwicklung haben wir die Chance dazu –, in chermaßen weitergebaut. Ich sage sehr deutlich: Dieser
einen Verhandlungsprozess einzutreten. Wir alle wissen
Siedlungsbau ist nicht nur nach internationalem Recht il-
– ich brauche es nicht zu wiederholen –, dass die Deter- legal, er ist auch nicht im Sicherheitsinteresse des Staa-
minanten bzw. Elemente einer möglichen Lösung seit
tes Israel.
langem beschrieben sind. Jede mögliche Lösung, wenn
sie überhaupt möglich ist, wird sich plus/minus 5 Pro- Ich kann an dieser Stelle die Sorgen der Palästinenser
zent an den einzelnen Elementen – ob es sich um die ein Stück weit verstehen.
Grenzen, um Flüchtlingsfragen oder um den Streitpunkt
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Jerusalem handelt – entlanghangeln. Jetzt kommt es da-
bei der SPD und der LINKEN)
rauf an, auf Israel einzuwirken, in diesen Prozess einzu-
treten und ihn fortzuführen. Das muss bis zum Herbst Das ist nicht hinnehmbar. Immer weniger Menschen in
die Aufgabe sein. Die Dringlichkeit ist in Israel erkannt; den palästinensischen Gebieten glauben deshalb noch an
das ist unsere Chance. Deshalb drängen wir darauf, dass die Zwei-Staaten-Lösung. Das ist ein großes Problem.
die Bundesregierung im europäischen Kontext – mög- Eine ganz andere Frage ist, ob dieser Schritt tatsächlich
lichst mit den Amerikanern gemeinsam – die israelische zielführend ist, um zu einer Zwei-Staaten-Lösung zu
Regierung drängt, drängt und noch einmal drängt, diesen kommen. Der UN-Beauftrage Robert Serry, aber auch
Prozess anzunehmen, ihn zu beginnen und die Chancen der IWF haben der PA Staatsreife attestiert. Ich nenne in
zu nutzen, die in ihm liegen. diesem Zusammenhang das von der Europäischen Union
13744 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011

Kerstin Müller (Köln)


(A) unterstützte Staatsbildungsprogramm von Fayyad. Den- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C)
noch ist das Ganze – das will ich hier auch sagen – nicht Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.
ohne Risiko. Herr Stinner, Sie haben Ministerpräsident
Fayyad erwähnt. Er hat gestern in einem Interview mit Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
der Washington Post sehr deutlich gesagt, das – Zitat – NEN):
„wäre nur ein symbolischer Sieg und würde an der Ich komme gleich zum Schluss. – Wir sollten versu-
Realität der israelischen Besatzung nichts ändern“. Er chen, auf dieser Basis zu einer Sicherheitsratsresolution
hat das warnend gesagt. In der Tat stellt sich die Frage: zu kommen. Dann, Herr Gysi, hätte man etwas Substan-
Was passiert denn, wenn sich dadurch „on the ground“ zielles; das habe ich jedenfalls von palästinensischer
für die Menschen nichts ändert? Seite gehört. Dann wären die Palästinenser auch bereit,
auf diesen konfrontativen Schritt, dem Antrag auf Aner-
Wenn man diese Frage der palästinensischen Führung kennung, zu verzichten.
stellt, hat sie keine Antwort darauf. Ihre Mitglieder sa-
gen, dass sie sich eine Win-win-Situation für beide Sei-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
ten versprechen. Ich sage Ihnen an dieser Stelle ganz
ehrlich: Das könnte natürlich auch gehörig schiefgehen. Frau Kollegin!
Für mich ist daher klar: Wir müssen jetzt alles tun, damit
es schnell zu Verhandlungen kommt. Das dürfen nicht ir- Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
gendwelche Verhandlungen sein, sondern müssen sub- NEN):
stanzielle Verhandlungen sein. Denn klar ist, dass die Pa- Deshalb sage ich: Jetzt ist die Gunst der Stunde für
lästinenser Verhandeln-um-des-Verhandelns-willen nicht Verhandlungen. Daran muss diese Bundesregierung ar-
machen werden. Das muss man auch verstehen. Ver- beiten.
handlungen, um Zeit zu schinden, werden sie nicht ak- Danke schön.
zeptieren. Sie sagen aber immer wieder, das sei ihre erste
Option, und das bleibe als erste Option auf dem Tisch. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Deshalb muss man an die israelische Regierung appellie- sowie bei Abgeordneten der SPD)
ren. Wenn sie den Gang zur UNO verhindern will, dann
muss sie jetzt ein konkretes und substanzielles Angebot Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
auf den Tisch legen. Das ist meine Position. Das Wort hat nun Thomas Feist für die Fraktion der
CDU/CSU.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der SPD und der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(B) (D)
Zurzeit hat man den Eindruck – so geht es auch einigen Dr. Thomas Feist (CDU/CSU):
meiner Kollegen in Israel –, dass diese israelische Regie- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
rung dazu nicht bereit ist. Man muss sich nur die Rede Meine sehr verehrten Damen und Herren! Deutschland
Netanjahus vor dem amerikanischen Kongress an- bekennt sich ohne Wenn und Aber zur Zwei-Staaten-
schauen. Er hat fast alle Türen zugeschlagen – das ist un- Lösung. Deutschland wird alles unternehmen und hat
fassbar – und keine neuen Türen geöffnet. bereits sehr viel unternommen, damit die Verhandlungen
nicht an diesem Punkt stehen bleiben und zum Erfolg
Herr Kollege Stinner, Sie haben eben davon gespro- führen werden. Die Frage, ob es zu diesem Zeitpunkt
chen, dass das eine Vorfestlegung vonseiten der Linken sinnvoll ist, sich auf eine einseitige Proklamation des
ist. Vor diesem Hintergrund war es dann aber auch vor- Staates Palästina festzulegen, würde ich allerdings mit
eilig und unnötig, dass sich die Bundeskanzlerin vor- Nein beantworten, und zwar aus mehreren Gründen.
schnell festgelegt hat, dass Deutschland auf jeden Fall
mit Nein stimmen wird. Zum Ersten ist es so, dass ein Staat ausgerufen wer-
den soll, der – zumindest in meiner Wahrnehmung –
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ überhaupt keine funktionsfähige Regierung hat. Wenn es
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Vereinbarungen zwischen der Fatah und der Hamas zur
SPD) Zusammenarbeit gibt, dann muss die Hamas vor den ent-
scheidenden Verhandlungen natürlich ihrem Ziel, Israel
Wenn wir den Druck auf beide Seiten aufrechterhalten zu vernichten, abschwören. Das muss man als Vorausset-
wollen, dann darf sich weder Deutschland noch Frank- zung für weitere Schritte einfordern.
reich festlegen. Was für eine Kakofonie in Europa! Wir
wissen, dass diese beiden Länder der Motor Europas (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
sind. Deshalb müssen Deutschland und Frankreich sa- Sie haben gesagt – das steht auch in den Anträgen –,
gen: Wir werden jetzt gemeinsam für eine Verhand- dies habe vor allem symbolischen Charakter. Nun stellt
lungslösung sorgen. Wie wir am Ende abstimmen, sehen sich die Frage: Welchen Wert hat eine solche Symbol-
wir dann. – Es gibt dieses wunderbare Beispiel der politik? Herr Gysi, Sie haben gesagt, eine einseitige Pro-
Stimmerklärung zu der gemeinsamen Siedlerresolution klamation des Staates Israel und eine einseitige Prokla-
von Deutschland, Großbritannien und Frankreich. Das mation des Staates Palästina seien im Prinzip das
sind die Parameter, die immer mehr zu den Terms of Gleiche. Wir wissen doch aber alle, dass es im Oslo-
Reference werden. Das war eine gute Erklärung. Abkommen II einen Passus gibt, der besagt, dass der
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13745
Dr. Thomas Feist
(A) Status der Westbank und des Gazastreifens nicht einsei- len im Westjordanland durch Israel eingestellt worden (C)
tig verändert werden kann. Genau das aber wird versucht sind. Es gibt durchaus ernsthafte Bemühungen, dieses
durch diese Proklamation zu erreichen: die einseitige Vorgehen fortzuführen und zu einer Einigung zu kom-
Veränderung dieses Status. Deswegen können wir dem men.
nicht zustimmen.
Wir sollten die Zeit nutzen und uns auf diplomati-
Ich habe meinem Kollegen Weinberg aus Hamburg, schen Kanälen dafür einsetzen, dass die Verhandlungen
der hier vorne interessiert zuhört, gesagt: Es gibt auch et- neuen Schwung bekommen. Wir müssen die einseitige
was Interessantes am Antrag der Linken. Ich muss hin- Proklamation des Staates Palästina verhindern. Das wäre
zufügen: Es war schon interessant, Herr Gysi, dass Sie ein Fehler. Deswegen werden wir unsere diplomatischen
zu Ihrem Antrag eigentlich nichts gesagt haben. In die- Bemühungen weiter ausbauen.
sem Antrag findet sich eine Schwarz-Weiß-Malerei, die
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Gibt es
mir noch aus dem Land bekannt ist, in dem ich aufge-
denn welche?)
wachsen bin. In diesem Land wurde durch spitzfindige
wissenschaftliche Theorie erklärt, dass eine Partei, die Aber zum jetzigen Zeitpunkt zu fordern, dass wir diese
an der Führung ist, immer recht hat. Es war völlig ein- Anträge unterstützen, ist völlig verkehrt.
fach, Gut und Schlecht, Freund und Feind sowie
Schwarz und Weiß voneinander zu trennen. Natürlich Vielen Dank.
waren wir immer für das revolutionäre palästinensische (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Volk und gegen den imperialistischen Aggressor Israel.
Etwas von diesem Duktus findet sich auch in Ihrem An-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
trag wieder. Wenn Sie ihn noch einmal genau lesen, wer-
Ich schließe die Aussprache.
den Sie das sehen.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So ein Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
Quatsch! Wer lesen kann, ist klar im Vorteil! – auf den Drucksachen 17/6150 und 17/6298 an die in der
Weitere Zurufe von der LINKEN) Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
– Ich weiß, dass Sie nicht gerne daran erinnert werden, sind die Überweisungen so beschlossen.
dass Sie, die Sie links außen von mir sitzen, eine andere
Vergangenheit haben und einer Partei mit dem Namen Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 39 a und 39 b
SED angehört haben. auf:

Ich muss Ihnen zu den vorliegenden Anträgen zweier- a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
(B)
lei sagen: Entweder sind sie überflüssig, oder sie sind gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbes- (D)
kontraproduktiv. serung der Feststellung und Anerkennung im
Ausland erworbener Berufsqualifikationen
(Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Sagen Sie mal was zur Bundes- – Drucksache 17/6260 –
kanzlerin! Die ist nämlich entscheidender in Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
dieser Frage! Nicht die Linke!) Technikfolgenabschätzung (f)
– Wenn unsere Bundeskanzlerin erklärt, Frau Müller, Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
dass sie diesem einseitigen Schritt nicht zustimmen wird Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
(Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
GRÜNEN]: Das war ein Fehler!) Alpers, Sevim Dağdelen, Dr. Petra Sitte, weiterer
– nein, das war kein Fehler –, dann ist völlig klar, dass Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
die einseitige Proklamation ein symbolischer Akt sein Anerkennung ausländischer Bildungs- und
wird, den es übrigens schon einmal gab. 1988 gab es Berufsabschlüsse wirksam regeln
eine einseitige Ausrufung des Staates Palästina in Algier.
Wenn wir die palästinensische Vertretung in Deutsch- – Drucksache 17/6271 –
land aufwerten sollen – das wurde in den Anträgen for- Überweisungsvorschlag:
muliert –, dann schauen Sie doch einfach auf die Inter- Ausschuss für Bildung, Forschung und
netseite www.palaestina.de. Es ist interessant, dass dort Technikfolgenabschätzung (f)
Innenausschuss
nur von der Fatah gesprochen wird. Über die Hamas, die Rechtsausschuss
an der Regierung beteiligt werden muss, ist kein Wort zu Ausschuss für Arbeit und Soziales
lesen. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Eines ist völlig klar: Wir brauchen zunächst eine An- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
erkennung der Grenzen, eine Einigung über den Grenz- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
verlauf. Dazu können wir inhaltlich wenig beitragen. dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Das ist eine Sache, die beide Verhandlungspartner mitei-
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamen-
nander austragen müssen. Es ist ja nicht so, als habe sich
tarischen Staatssekretär Helge Braun das Wort.
in dieser Richtung nichts getan. Es muss erwähnt wer-
den, dass beispielsweise 85 Prozent der Straßenkontrol- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
13746 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011

(A) Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär bei der Bun- eine fundierte Ausbildung ersetzt, aber wir wollen auch (C)
desministerin für Bildung und Forschung: nicht, dass jemand, der bereits über eine zehnjährige Be-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die rufserfahrung verfügt, zum Beispiel wegen weniger
Bundesregierung legt dem Bundestag den Entwurf eines praktischen Anteilen in der Ausbildung keine Anerken-
Gesetzes zur Verbesserung der Feststellung und Aner- nung bekommt. Das wäre nicht zu rechtfertigen.
kennung im Ausland erworbener Berufsqualifikationen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
vor. Mit diesem Gesetz verfolgen wir zwei wichtige des Abg. Willi Brase [SPD])
Ziele.
Oberste Priorität – das sage ich hier sehr deutlich –
Erstens. Der eigene Berufsabschluss ist ein wichtiger hat für die Bundesregierung die Qualitätssicherung unse-
Teil der persönlichen Identität. Deshalb und aus Respekt rer deutschen Abschlüsse. Mit dem Gesetz wollen wir
vor der Lebensleistung der hier lebenden Menschen ist erreichen, dass die ausländischen Abschlüsse, für die es
es wichtig, ihre tatsächlich vorhandenen Kompetenzen ein Gleichwertigkeitszertifikat gibt, tatsächlich das deut-
ausdrücklich anzuerkennen und ihren Abschlüssen nicht sche Qualifikationsniveau erreichen. Wir gehen deshalb
ohne schwerwiegende Sachgründe die Gleichwertigkeit einen nicht ganz einfachen Weg; denn die Stellen, die in
abzusprechen. Deshalb ist ein Rechtsanspruch auf ein Zukunft die Gleichwertigkeit der ausländischen Ab-
transparentes und in seinem Ergebnis nachvollziehbares schlüsse anerkennen, sind die gleichen Stellen, die heute
und zuverlässiges Anerkennungsverfahren ein wichtiges in Deutschland dafür verantwortlich sind, deutsche Ab-
integrationspolitisches Vorhaben. schlüsse zu vergeben und die Qualität deutscher Ab-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schlüsse zu sichern. Das erfordert zum einen hohe
Ansprüche an die Abstimmung zwischen den verschie-
Zweitens. Ein Land, das zunehmenden Fachkräfte- denen Partnern, insbesondere den Kammern. Zum ande-
mangel beklagt, darf auch aus wirtschaftspolitischer ren müssen wir als Bund die Aufgabe übernehmen, mit
Sicht nicht darauf verzichten, die 285 000 Menschen in einer zentralen Rufnummer und einer Informationsplatt-
ihren Berufen, in denen sie einen ausländischen Ab- form dafür zu sorgen, dass jeder potenzielle Antragstel-
schluss erworben haben, einzusetzen. Einem asiatischen ler leicht Zugang zu diesem System und letztlich zu der
oder amerikanischen Techniker in Deutschland als ver- entsprechenden Anerkennungsstelle findet.
meintlich ungelerntem Arbeiter wenig anspruchsvolle
Gelegenheitsjobs anzubieten, ist gesellschaftlich, inte- Der Gesetzentwurf umfasst rund 350 Ausbildungsbe-
grationspolitisch und wirtschaftspolitisch nicht verant- rufe und rund 60 bundesgesetzlich geregelte Berufe, ins-
wortbar. besondere Heil- und Rechtsberufe. Damit ist ein ganz
überwiegender Teil der Personen, die sich in Deutsch-
(B) Der weitaus größte Teil der potenziellen Antragsteller land befinden, erfasst. Die Abstimmung mit den 16 Bun- (D)
verfügt über einen beruflichen Abschluss. Nach der Aus- desländern war von großem Einvernehmen und hoher
wertung eines Mikrozensus gehen wir davon aus, dass es Fachlichkeit geprägt. Dies ist aus meiner Sicht ein Vor-
in Deutschland bereits 285 000 potenzielle Antragsteller bild für Bund-Länder-Zusammenarbeit. Die Länder ha-
gibt. Davon haben rund 16 000 einen Hochschulab- ben bereits ihre Bereitschaft erklärt, in Zukunft ver-
schluss, alle anderen verfügen über einen beruflichen gleichbare Regelungen für die Berufe zu schaffen, die in
Abschluss. In der Wirtschaft werden Bewerber mit tech- ihren Zuständigkeitsbereich fallen.
nischen Berufsabschlüssen, über die viele der potenziel-
len Petenten verfügen, stark nachgefragt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Was bietet jetzt dieses Gesetz? Es gibt erstmals einen Mit diesem Gesetz schlagen wir ein neues Kapitel bei
Anspruch auf ein Anerkennungsverfahren. Dieser der Anerkennung von ausländischen Abschlüssen auf.
Rechtsanspruch besteht für jeden, der über einen auslän- Das ist ein wichtiges Signal für die Menschen, die hier
dischen Abschluss verfügt und eine ernsthafte Er- leben, aber auch ein wichtiges Signal für diejenigen, die
werbsabsicht in Deutschland hat. Weitere Voraussetzun- eine Arbeit in Deutschland aufnehmen wollen. Es führt
gen oder Einschränkungen des antragsberechtigten auch zu Verlässlichkeit bei der Fachkräftesicherung für
Personenkreises gibt es nicht. Das ist ein deutliches Zei- unsere Wirtschaft in Deutschland. In diesem Sinne bitte
chen der Willkommenskultur, auch für die Antragsteller ich das Hohe Haus um breite Zustimmung.
aus dem Ausland. Nach Eingang aller Unterlagen gibt es (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
eine dreimonatige Frist, damit das Verfahren auch
hinsichtlich seiner Dauer praktikabel und für den An-
tragsteller verlässlich ist. Ist eine Anerkennung nicht Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
möglich, erhält der Antragsteller Informationen über we- Das Wort hat nun Swen Schulz für die SPD-Fraktion.
sentliche Unterschiede zwischen seiner Qualifikation (Beifall bei der SPD)
und dem Erfordernis für eine deutsche Anerkennung, so-
dass er eine klare Perspektive dafür aufgezeigt be-
Swen Schulz (Spandau) (SPD):
kommt, wie er durch Anpassungsqualifizierungen zu ei-
ner Anerkennung kommen kann. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Endlich liegt
Das Gesetz sieht ebenfalls vor, dass die Berufserfah- der lang ersehnte Gesetzentwurf vor. Wir haben wirklich
rung bei der Feststellung der Qualifikation berücksich- lange darauf warten müssen. Bereits in der Großen Ko-
tigt wird. Wir wollen zwar nicht, dass Berufserfahrung alition hat die SPD mit dem damaligen Arbeitsminister
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13747
Swen Schulz (Spandau)
(A) Olaf Scholz einen Vorstoß unternommen. Dieser ist von (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C)
der Union abgelehnt worden. DIE GRÜNEN)
(Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: Ich will nicht missverstanden werden: Dieser Gesetz-
Vollkommen falsch!) entwurf ist nicht falsch.
Am 1. Dezember 2009 hat die SPD-Bundestagsfrak- (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Das ist doch
tion hier einen Antrag eingebracht. Kurz danach legte schon mal etwas!)
dann auch die Bundesregierung ein Papier vor: Eck-
Er enthält in der Tat auch einige Verbesserungen. Aber
punkte zur Verbesserung der Feststellung und Anerken-
das ist nicht genug. Es ist vollkommen klar, dass dieses
nung von im Ausland erworbenen beruflichen Qualifika-
Gesetz so nicht zu einem Erfolg führen kann. Es wird so
tionen und Berufsabschlüssen. Wir mussten aber bis
keinen entscheidenden Beitrag zur Integration und zur
heute auf die erste Lesung eines Gesetzentwurfs warten.
Bekämpfung des Fachkräftemangels leisten. Deswegen
Jetzt stellt sich die Frage: Hat sich das lange Warten ge-
muss der Gesetzentwurf nachgebessert werden.
lohnt? Die Antwort lautet: Leider bleibt der Gesetzent-
wurf hinter den im Eckpunktepapier der Bundesregie- Die SPD-Fraktion – ich habe es schon gesagt – hat
rung selbst formulierten Ansprüchen zurück. Dass es bereits im Dezember 2009 Vorschläge gemacht. Auch
erheblichen Änderungsbedarf gibt, zeigt schon die Tat- der Bundesrat hat Vorschläge vorgelegt. Wir treten jetzt
sache, dass der Bundesrat, und zwar quer durch alle Län- in die Beratungen ein und setzen darauf, dass die Regie-
der, unabhängig davon, wie die Landesregierungen rungskoalition diese Beratungen ernst nimmt. Wir
parteipolitisch zusammengesetzt sind, viele Änderungs- werden im Ausschuss eine Sachverständigenanhörung
vorschläge – 100 an der Zahl – zu dem Gesetzentwurf durchführen. Ich glaube, dass eine ganze Menge an Ver-
eingebracht hat. Leider sind sie von der Bundesregie- besserungsvorschlägen gemacht werden wird. Wir set-
rung in der Entgegnung, jedenfalls zum größten Teil, zen darauf, dass dann das eine oder andere von Ihnen be-
einfach vom Tisch gewischt worden. Dabei sind die rücksichtigt wird, damit die Anerkennung in Zukunft
wichtigsten Forderungen des Bundesrates direkt dem funktioniert.
Eckpunktepapier der Bundesregierung entnommen. Ich
Herzlichen Dank.
will das an einigen Stellen aufzeigen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Im Eckpunktepapier ist von einer Erstanlaufstelle die
DIE GRÜNEN sowie der Abg. Agnes Alpers
Rede, die geschaffen werden soll. Im Gesetzentwurf fin-
[DIE LINKE])
det sich dazu nichts mehr. Herr Staatssekretär, Sie haben
hier von einer Telefonhotline und von Internetangeboten
(B) gesprochen. Das reicht nicht. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (D)
Das Wort hat nun Heiner Kamp für die FDP-Fraktion.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
LINKEN)
Heiner Kamp (FDP):
Im Eckpunktepapier sind Angebote zur Ergänzungs-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
und Anpassungsqualifizierung genannt. Im Gesetzent-
Meine Damen und Herren! Wer was gelten will, muss
wurf ist davon praktisch nicht mehr die Rede. Es stellen
andere gelten lassen. – Diesen Grundsatz haben FDP
sich folgende Fragen: Wer bietet sie an? Wer finanziert
und Union beherzigt. Wir haben uns zum Ziel gesetzt,
sie? Wie wird es den Leuten ermöglicht, sie tatsächlich
die Anerkennung von im Ausland erworbenen Berufs-
in Anspruch zu nehmen? Auch das ist eine Leerstelle im
qualifikationen erheblich zu erleichtern.
Gesetzentwurf.
Natürlich haben auch schon Vorgängerregierungen
Weiterhin sind in Ihrem Eckpunktepapier Unterstüt-
bemerkt, dass etwas schiefläuft, wenn im Ausland aus-
zungsangebote zur Verbesserung der Qualität und bun-
gebildete Ärzte nur fachfremd eine Betätigung finden.
desweiten Vergleichbarkeit der Bewertungen aufgeführt.
Natürlich hat man die fehlende Flexibilität unseres Ar-
Völlig richtig, das ist natürlich ein wichtiger Punkt. Es
beitsmarktes beklagt und über die Barrieren innerhalb
darf kein Lotteriespiel sein, ob ein Abschluss anerkannt
unseres Ausbildungssystems lamentiert. Der entschei-
wird oder nicht. Es darf nicht vom Wohnsitz abhängen,
dende Unterschied insbesondere zu den von SPD und
weil regional unterschiedliche Stellen zuständig sind, ob
Grünen getragenen Vorgängerregierungen ist, dass wir
ein Abschluss anerkannt wird. Auch das ist im Gesetz-
es nicht bei Wehklagen belassen haben. Mit dem Aner-
entwurf nicht genügend geregelt.
kennungsgesetz haben wir tatsächlich etwas zuwege ge-
Im Eckpunktepapier wird auch von Mehrkosten ge- bracht, das sich sehen lassen kann.
sprochen, die die erfolgreiche Durchsetzung dieses Ge-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
setzes mit sich bringe, wenn man die Anerkennung rich-
tig umsetzen möchte. Im Gesetzentwurf ist die ganze Das hat seinen Grund. Die FDP ist der festen Über-
Zeit von Kostenneutralität die Rede. Es ist doch sogar zeugung, dass Arbeit und Beschäftigung der beste Impf-
so, dass Sie an anderer Stelle massive Einsparungen und stoff gegen Isolation und Parallelgesellschaften sind.
Kürzungsmaßnahmen im Bereich der aktiven Arbeits- Wir müssen Menschen, die zu uns gekommen sind, et-
marktpolitik vorsehen. Das reicht nicht aus, um dieses was gelten lassen, um mit Goethes Worten zu sprechen.
Anerkennungsgesetz tatsächlich zum Erfolg zu führen. Denn dann kommen sie tatsächlich in Deutschland an.
13748 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011

Heiner Kamp
(A) Dann finden sie bei uns eine neue Heimat. Arbeit als und Ganzen Schluss. Fortan werden in den meisten Be- (C)
Identifikations- und Integrationsfaktor Nummer eins rufen Qualität und Inhalte eines Abschlusses entschei-
kann diesbezüglich Wunder wirken. dend sein. Staatsangehörigkeit und Herkunft sollen und
werden bei der Frage der Anerkennung einer Qualifika-
Doch das Anerkennungsgesetz beschränkt sich kei- tion kaum mehr eine Rolle spielen. Das ist richtig so,
neswegs darauf, die Folgeschäden einer jahrzehntelang liebe Kolleginnen und Kollegen.
fehlgeleiteten Integrationspolitik zu beheben. Es kon-
zentriert sich beileibe nicht nur auf die bereits bei uns le- Ein wichtiger Beitrag dieses neuen Gesetzes besteht
benden Mitbürger. Nein, das Anerkennungsgesetz öffnet in der Lichtung des unüberschaubaren Dschungels an
auch ausländischen High Potentials, Leistungsträgern Anerkennungsregeln. Hier fräsen wir den Wust der un-
und Qualifizierten, die ihre Chance in Deutschland nut- einheitlichen Anerkennungspraxis zu einem guten Teil
zen wollen, die Tür zu unserem Land. Mit diesem Gesetz weg. Damit beseitigen wir auch derzeit noch bestehende
wird Deutschland weltoffener, internationaler und dyna- Marktbenachteiligungen. Das sorgt für eine wesentliche
mischer. Verbesserung der bisherigen Bewertungspraxis.
Das Anerkennungsgesetz ermöglicht es Ärzten, Kran- Bei den Strukturen, die das Anerkennungsverfahren
kenschwestern, Altenpflegern, aber auch Wirtschaftsprü- durchführen sollen, schaffen wir keinen bürokratischen
fern, noch im Ausland die vorhandenen Abschlüsse an Wasserkopf. Das ist uns wichtig. Denn wir wollen pra-
den deutschen Referenzausbildungen und -berufen mes- xistaugliche und bürgernahe Lösungen. Deshalb nutzen
sen zu lassen, und erleichtert ihnen damit den Schritt in wir die bestehenden Strukturen zur Bewertung im Aus-
Richtung des deutschen Arbeitsmarktes. Dass wir diese land erworbener Abschlüsse. Die Institutionen, die be-
Frischzellenkur an Fachkräften dringend benötigen, ist reits heute die Anerkennungsverfahren von Spätaussied-
mittlerweile auch in die letzten Winkel der Republik ge- lern und Unionsbürgern begleiten, werden auch die
drungen. Anerkennungsverfahren nach dem neuen Gesetz durch-
führen. Ich bin mir sicher, dass Industrie- und Handels-
Der demografische Wandel zwingt uns dazu, unsere kammern wie auch die Handwerkskammern einen aus-
Pforten zu öffnen. Gerade diese Woche haben wir die gezeichneten Job machen werden.
Meldung erhalten, dass im Bereich von Industrie und
Handel 40 000 Lehrstellen unbesetzt sind. Das sind Außerdem gewährleisten wir ein rasches Verfahren.
25 Prozent mehr als im letzten Jahr. Selbst in beliebten Drei Monate ab Vorliegen aller erforderlichen Unterla-
Ausbildungsberufen wie Mechatroniker oder Bankkauf- gen muss eine Entscheidung erfolgen. Das ist flott und
mann fehlen schon jetzt Bewerber. Es muss uns doch zeigt, dass wir es ernst meinen.
wachrütteln, wenn uns trotz Wehrpflichtaussetzung und Den Antragstellern werden wir mit Beratungsangebo-
(B) doppelter Abiturjahrgänge die Bewerber ausgehen. ten zur Seite stehen. Dafür wird es unter anderem – das (D)
Wir legen ganz klar den Schwerpunkt auf die Aus- wurde schon angesprochen – eine Internetseite, eine Te-
schöpfung des inländischen Potenzials. Hier müssen wir lefonhotline und regionale Anlaufstellen geben. Auch
alle Reserven aktivieren. Mit dem gelungenen Fachkräf- den Menschen, die aus dem Ausland mit ihrer Qualifika-
tekonzept der Bundesregierung und vernetzten Maßnah- tion nach Deutschland kommen möchten, müssen und
men wie der erfolgreichen Einstiegsqualifizierung und werden wir Informationsangebote unterbreiten. „Will-
den Bildungsketten beschreiten wir den richtigen Weg. kommen in Deutschland!“, das rufen wir Menschen mit
Abschlüssen aus dem Ausland zu, ob sie bereits hier le-
Aber ohne qualifizierte Zuwanderung werden wir uns ben oder noch zu uns kommen möchten.
nicht retten können. Andere Länder haben bereits die
Nase vorn. Wir können es uns nicht leisten, gut ausgebil- Mit dem Anerkennungsgesetz leisten wir einen ech-
dete Menschen an uns vorbeiziehen zu lassen. Wir müs- ten Beitrag zur Integration. Der Gesetzentwurf ist eine
sen auf Deutschland als attraktives Ziel aufmerksam sehr gute Grundlage für unsere parlamentarischen Bera-
machen. Wir müssen den roten Teppich ausrollen. Wir tungen. Auf die konstruktive Arbeit an dem Gesetz im
müssen schließlich dankbar sein, wenn die Menschen Ausschuss freue ich mich. Nächste Woche werden wir
bei uns arbeiten möchten und dafür in ihrer Heimat eini- dazu bereits in einer öffentlichen Anhörung Gelegenheit
ges aufgeben. haben.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung trägt dem Ich danke Ihnen.
Arbeitsauftrag der Koalitionsfraktionen Rechnung. Wir (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
schaffen erstmals einen Rechtsanspruch auf ein Aner-
kennungsverfahren. Was zunächst seltsam klingt, ist ein
echter Paradigmenwechsel: Nach einheitlichen Kriterien Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
und in einem einheitlich geregelten Verfahren wird für Das Wort hat nun Agnes Alpers von der Fraktion Die
die vom Gesetz erfassten Berufe geprüft, ob die im Aus- Linke.
land erworbene Qualifikation mit unserer heimischen (Beifall bei der LINKEN)
gleichwertig ist.
Ein weiterer wichtiger Wegepunkt ist die Aufhebung Agnes Alpers (DIE LINKE):
der Kopplung von Berufsausübung und Zugang zum An- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
erkennungsverfahren an die Staatsangehörigkeit, die es Meine Damen und Herren! Wenn eine Lehrerin aus der
bislang bei einigen Berufen gab. Damit ist im Großen Türkei, ein Ingenieur aus dem Irak oder eine Erzieherin
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13749
Agnes Alpers
(A) aus China gehofft haben, mit dem neuen Anerkennungs- all den unterschiedlichen Ländern bieten können. Wir (C)
gesetz endlich ihre Berufsabschlüsse hier in Deutschland wollen deshalb eine zentrale und unabhängige Stelle für
anerkennen zu lassen, dann haben sie alle Pech gehabt. die Anerkennung einrichten.
(Daniela Kolbe [Leipzig] [SPD]: Das kann der (Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: Sie
Bund nun wirklich nicht!) wollen Bürokratie aufbauen!)
Das Gesetz bezieht nur Berufe ein, die bundeseinheitlich Eine gibt es schon lange: die Zentralstelle für ausländi-
geregelt sind. sches Bildungswesen.
(Ewa Klamt [CDU/CSU]: Wir sind der (Beifall bei der LINKEN)
Bundestag!)
Das würde sich auch für die Betroffenen rechnen. Die Zen-
Abschlüsse, für die die Bundesländer zuständig sind, tralstelle erhebt Gebühren zwischen 100 und 200 Euro.
und Schulabschlüsse werden nicht berücksichtigt. Auch Die Kammern planen mit kostendeckenden Gebühren
wer älter als 55 Jahre ist und wer den Berufsabschluss zwischen 1 000 und 5 000 Euro für jeden Antrag. Für
vor mehr als zehn Jahren gemacht hat, hat keine Chance uns ist wichtig: Das Recht auf Anerkennung muss mög-
auf Anerkennung. Sagen Sie mir: Wie soll sich ein An- lichst viele erreichen. Deshalb muss es gebührenfrei
tragsteller bei diesem Wirrwarr aus Länder- und Bundes- sein.
recht sowie vielen anderen Bedingungen noch zurecht-
(Beifall bei der LINKEN)
finden?
Halten wir noch einmal fest: Bei vielen Berufsab-
(Beifall bei der LINKEN)
schlüssen entscheiden allein die Arbeitgeber bzw. die
Der Dschungel aus Zuständigkeiten ist insgesamt noch Kammern über die Anerkennung. Das erklärte Ziel des
größer geworden, obwohl die Bundesregierung immer Gesetzes ist ausschließlich die bessere Nutzung der Ar-
vermittelt hat, ein transparentes und schlankes Anerken- beitskraft für den deutschen Arbeitsmarkt. Kein Wort
nungsverfahren für alle etablieren zu wollen. Das ist ge- über die Bedeutung der Anerkennung für die betroffenen
scheitert. Menschen! Das ist wieder einmal typisch für unsere
Bundesregierung.
Ich hatte von diesem Gesetz erwartet, dass Begleitung
und Unterstützung für die Betroffenen, also die Beratung (Beifall bei der LINKEN)
bei dem Anerkennungsverfahren, auf jeden Fall gesi-
Aus meiner Sicht hat die Bundesregierung die Auf-
chert sind. Doch weit gefehlt! Das Gesetz sieht keine
gabe, ein Anerkennungsgesetz zu verabschieden, das die
kontinuierliche Beratung vor. Dies hat auch der Bundes-
Menschen mit ihren Abschlüssen, ihren Leistungen und
(B) rat im Mai umfänglich kritisiert. Wer gedacht hat, dass in (D)
ihren Kompetenzen anerkennt, ihre rechtliche und so-
diesem Gesetz das Recht auf Nachqualifizierung, dass
ziale Gleichstellung gewährleistet, sie endlich willkom-
man also noch einzelne Teile einer Ausbildung für eine
men heißt und ihnen Perspektiven aufzeigt. Das haben
Anerkennung nachholen kann, festgeschrieben wird und
Sie bisher noch nicht geschafft.
die Vorschriften dazu sucht, der muss sich das Gesetz
ganz genau anschauen. Nachqualifizierungen für Berufe, Vielen Dank.
über die eine staatliche Stelle entscheidet, sind noch auf-
(Beifall bei der LINKEN)
geführt. Aber bei den Ausbildungsberufen, über die die
Kammern entscheiden, taucht die Nachqualifizierung
noch nicht einmal im Gesetz auf. Ich finde es einfach er- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
staunlich, welchen Beitrag die Bundesregierung hier Das Wort hat nun Memet Kilic für die Fraktion
leistet, um Fachkräfte zu sichern. Bündnis 90/Die Grünen.
(Beifall bei der LINKEN)
Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Eines steht fest: Ohne Beratung und Nachqualifizierung Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
wird dieses Gesetz für die Betroffenen wirkungslos blei- Damen und Herren! Herr Staatssekretär Braun hat den
ben. Gesetzentwurf mit einem einzigen Satz eigentlich schon
beschrieben: Wir gehen nicht den einfachen Weg. – Al-
(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Woher wissen
lerdings! Anstatt allen gut qualifizierten Personen einen
Sie das?)
Zugang zu einem einheitlichen Anerkennungsverfahren
Im Wesentlichen sollen die Kammern darüber ent- zu eröffnen, ist dieser Gesetzentwurf ein Flickenteppich
scheiden, ob die Berufsabschlüsse anerkannt werden. mit vielen unterschiedlichen, undurchschaubaren und
Die Bundesregierung meint, dass die Kammern an den restriktiven Regelungen geworden.
Inhalten näher dran sind und diese Lösung kostengünsti-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
ger sei.
sowie bei Abgeordneten der SPD)
(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Frau Alpers
Mit diesem Gesetzentwurf bleibt die Bundesregie-
ist kammerfeindlich!)
rung bei weitem hinter ihrer Ankündigung, die Integra-
Ich gebe zu bedenken, dass die Kammern, die sehr nah tion durch eine transparente und einfache Anerkennungs-
an der Ausbildung dran sind und weit ins Detail gehen, praxis zu fördern, zurück. Das verwundert nicht bei
möglicherweise keine Lösung für all die Abschlüsse aus dieser Regierung, die sich auch ansonsten weigert, die
13750 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011

Memet Kilic
(A) Situation für ausländische Fachkräfte in Deutschland zu Viertens. Es ist ein Armutszeugnis für Frau Schavan, (C)
verbessern. Dass sich die Bundesregierung nur zu dass sie nicht einmal versucht hat, die Anerkennung von
wachsweichen Regelungen durchringen konnte, lässt nichtreglementierten Hochschulabschlüssen verbindlich
sich schon nach der Lektüre von § 1 des Berufsqualifika- zu regeln.
tionsfeststellungsgesetzes erahnen. Während im Refe-
Wir erwarten, dass die Bundesregierung im weiteren
rentenentwurf der Zweck des Gesetzes noch lautete, den
Gesetzgebungsverfahren nachbessert. Wir fordern, dass
Betroffenen eine „adäquate“ Beschäftigung zu ermögli-
nicht einzelne Gruppen bevorzugt werden, sondern dass
chen, ist im Gesetzentwurf nur noch die Rede von einer
alle die gleichen Chancen erhalten. Das fördert die Inte-
„qualifikationsnahen“ Beschäftigung. Frau Schavan will
gration und wirkt einer Zweiklassenpolitik entgegen.
angeblich verhindern, dass der vielzitierte Arzt Taxi
fährt. Wenn der Arzt in der Praxis aber nur die Möglich- Vielen Dank.
keit erhält, für ein niedriges Gehalt als Krankenpfleger
zu arbeiten, wird er womöglich das Taxifahren bevorzu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
gen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Hauptproblem dieses Regelwerks ist aber nicht Das Wort hat nun Albert Rupprecht für die CDU/
das Berufsqualifikationsfeststellungsgesetz. Dieses ent- CSU-Fraktion.
hält tatsächlich einige positive Ansätze; sie wurden
heute schon beschrieben. Die mangelnde Transparenz (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
und Einheitlichkeit der Verfahren folgen im Wesentli-
chen daraus, dass die allgemeinen Regelungen des Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU):
Berufsqualifikationsfeststellungsgesetzes nur gelten, so- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
fern die berufsrechtlichen Regelungen nichts anderes be- Kollege Schulz, zur Historie des Ganzen; ich glaube, da
stimmen – aber sie bestimmen anderes. braucht es ein paar Richtigstellungen.
In vielen Gesetzen wie der Bundesrechtsanwaltsord- Erstens. Es war nicht der Minister Scholz, der die Ini-
nung, der Bundesärzteordnung oder dem Krankenpfle- tiative ergriffen hat. Es war die Ministerin Böhmer, die
gegesetz wird das Berufsqualifikationsfeststellungsge- ursprünglich die Initiative ergriffen und das zum Thema
setz sogar pauschal für unanwendbar erklärt. Dadurch gemacht hat. In einem zweiten Schritt hat das dann die
werden entscheidende Fortschritte verhindert. Zum ei- Frau Schavan aufgegriffen.
nen wird bei manchen Berufen, wie dem Arztberuf, bei
(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Dann ist es an
Drittstaatsabschlüssen kein Anpassungslehrgang oder
uns gescheitert, oder wie?)
(B) eine Defizitprüfung verlangt, sondern immer eine Voll- (D)
prüfung. Es ist überhaupt kein Grund ersichtlich, warum Zweitens gehört zur Richtigstellung dazu, dass die
nicht auch hier eine gezielte Beseitigung der Defizite das häufig gepriesene Regierung der Großen Koalition
Ziel sein soll.
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Danach
Zum anderen wird die Anerkennung vergleichbarer sehnen sich die Menschen zurück! Da haben
Berufe unterschiedlich geregelt. Die Bundesregierung ist Sie recht!)
offenbar nur bereit, in denjenigen Bereichen großzügige im Vergleich zur Regierung der jetzigen christlich-libe-
Anerkennungsregelungen einzuführen, in denen ein er- ralen Koalition schlichtweg administrativ nicht in der
höhter Bedarf an Fachkräften besteht. Ziel ist also die Lage war, ein solches Gesetz rechtzeitig vorzulegen.
Wahrung rein wirtschaftlicher Interessen und nicht die Diese Regierung hat es im Kreuz, und deswegen liegt
Integration und Gewährleistung der Entfaltungsmöglich- das Gesetz jetzt auch vor.
keiten der gut ausgebildeten Bürgerinnen und Bürger.
Das ist Egoismus und Missachtung zugleich. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Genau, Sie ha-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ben es im Kreuz! – René Röspel [SPD]: Des-
wegen gehen Sie so gebeugt!)
Vier wesentliche Bereiche hat die Bundesregierung
ganz außer Acht gelassen: Noch einmal: Sie hatten elf Jahre Zeit. Die Grünen
hatten auch einige Jahre Zeit. Im Übrigen: Um die Be-
Erstens. Es ist völlig ungenügend, dass die Betroffe- deutung der Grünen bei diesem Thema einmal präsent zu
nen keinen Anspruch auf Beratungen und Begleitung machen: Zur Halbzeit der Debatte hier ist von den or-
während des Anerkennungsverfahrens erhalten. dentlichen Mitgliedern der Grünen im Ausschuss für
Zweitens. Die Angebote für passgenaue Anpassungs- Bildung und Forschung einzig Kai Gehring anwesend;
qualifizierungen und berufsbezogenes Deutsch müssen alle anderen ordentlichen Mitglieder der Grünen in die-
dringend ausgebaut werden. Wer dafür sorgt und wie das sem Ausschuss sind gar nicht da.
geschehen soll, ist bisher völlig offen. Noch einmal: Sie hatten elf Jahre Zeit. Fakt ist, dass
viele darüber reden, aber wir es machen.
Drittens. Der Gesetzentwurf gibt keine Antwort auf
die Frage, wer künftig für Qualitätssicherung, Einheit- Herr Kollege Schulz, Sie hatten in einer Ihrer Reden
lichkeit und Fairness bei den Anerkennungsverfahren beispielsweise die Forderung erhoben, nach sechs Mo-
sorgen soll. naten müsse das Verfahren abgeschlossen sein. Wir
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13751
Albert Rupprecht (Weiden)
(A) übertreffen Sie. Nach unseren Vorstellungen soll es nach der Rechtsanwälte – das nur zur Erinnerung – soll das (C)
drei Monaten abgeschlossen sein. Staatsangehörigkeitserfordernis gestrichen werden. Das
Beamtengesetz soll für Drittstaatler geöffnet werden.
(Daniela Kolbe [Leipzig] [SPD]: Das ist auch
Die Approbation soll von der Staatsangehörigkeit ent-
gut!)
koppelt werden. Das alles sind tiefe Eingriffe in histo-
Wenn Sie Ihre früheren Forderungen mit dem verglei- risch gewachsene Strukturen und Traditionen.
chen, was wir jetzt beschließen wollen, wäre es durchaus
(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
fair, anzuerkennen, dass wir in einigen Punkten Ihre Vor-
Gar nicht! Nur die Staatsangehörigkeit spielt
schläge übererfüllen.
keine Rolle mehr!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Dass es viele Diskussionen braucht, dass es auch eine
Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Das habe ich
intensive Abstimmung mit den Betroffenen braucht,
doch gesagt: Es gibt einige Verbesserungen!
Aber Sie sind ja ganz schön angegriffen, ganz (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Auch Diskus-
schön dünnhäutig!) sionen im Bundestag!)
Das Anerkennungsgesetz ist ein Riesenschritt in Rich- ist richtig und notwendig. Diese Arbeit hat das Ministe-
tung von mehr Integration, in Richtung von mehr qualifi- rium, wie ich finde, in exzellenter und hervorragender
zierten Fachkräften in Deutschland und – das ist auch Weise gemacht.
wichtig – in Richtung von weniger Lasten für unsere so-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
zialen Sicherungssysteme. 16 Millionen Menschen mit
Migrationshintergrund leben in Deutschland. Viele dieser Die Abstimmung mit den Ländern war sehr sach-
Bürgerinnen und Bürger sind gut ausgebildet, qualifiziert orientiert und in den allermeisten Bereichen einver-
und gut integriert, sogar hervorragend integriert. Nichts- nehmlich. Es gibt nur wenige Punkte, bei denen noch
destotrotz sind es noch ein paar zu viel, deren Potenziale grundsätzliche Fragen offen sind. Darüber hinaus gibt es
brachliegen. zu Detailregelungen, was das Operative und den Vollzug
betrifft, noch Gesprächsbedarf. Aber von den Grundsät-
Das Anerkennungsgesetz ist nicht nur ein strukturell
zen her ist das Allermeiste inzwischen einvernehmlich.
bedeutendes Gesetz. Ich bin der Meinung, dass es durch-
aus das Label verdient, dass es in der Integrationspolitik (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: 100 Anträge!)
ein historischer Schritt ist.
Deswegen ein Dankeschön und Gratulation an Staats-
(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: 100 Ände- sekretär Braun, der mit seinen Mitarbeitern im Hause
rungsanträge vom Bundesrat!) wirklich eine intensive und exzellente Arbeit geleistet
(B) (D)
hat.
Was wir vorschlagen, führt nicht dazu, dass das hohe Ni-
veau der Abschlüsse in Deutschland – das war uns als (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Unionsfraktion ein großes Anliegen – gesenkt wird. Wir
Ein Dankeschön auch an die Kammern, die bei der
machen keine, wie Frau Sager es immer wieder einge-
Umsetzung eine Schlüsselrolle spielen. Auf die Kam-
fordert hat, individuelle Kompetenzfeststellung, bei der
mern kommt in den nächsten Monaten eine bedeutende
man seitenweise hochkomplexes Material von Fachleu-
Aufgabe zu. Wir werden nichtsdestotrotz das komplexe
ten bekommt, das kein Unternehmer beurteilen kann,
Werk im parlamentarischen Verfahren genau überprüfen.
was letztendlich im Ergebnis dazu führt, dass unser ho-
Es gibt durchaus ernstzunehmende Anliegen der Berufs-
hes Qualitätsniveau in Deutschland gesenkt wird. Wir
verbände. Dabei muss klar sein, dass es nicht um Grup-
vergleichen die vorhandenen Qualifikationen mit den
pen, Partialinteressen und Willkür geht, sondern dass
hohen deutschen Qualifikationen.
faire, sachliche und nachvollziehbare Prinzipien im Vor-
(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Was sagen Sie zu dergrund stehen.
den 100 Anträgen des Bundesrates?)
Strittig ist beispielsweise die Frage der Defizitprü-
Das ist der Bewertungsmaßstab. Das ist er, und das fung. Ist sie ausreichend, oder ist die Kenntnisprüfung
bleibt er, weil wir wollen, dass das hohe deutsche Ni- notwendig? Wir sind der Meinung, dass die Kenntnis-
veau gehalten wird. prüfung faktisch eigentlich bedeutet, dass die Prüfung in
Deutschland noch einmal vollzogen werden müsste, wo-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
durch im Grunde die Türen geschlossen werden. Darum
Swen Schulz [Spandau] [SPD]: 100 Anträge
sollte die Defizitprüfung die Regel sein. Die Kenntnis-
vom Bundesrat!)
prüfung darf nur die absolute Ausnahme bilden. Wir
Das Anerkennungsgesetz ist darüber hinaus auch werden uns insbesondere den Bereich der Heilberufe im
handwerklich sehr gut gemacht. Hinblick darauf noch einmal genau anschauen.
(Daniela Kolbe [Leipzig] [SPD]: Na ja!) (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Das ist
doch schon mal was! Weiter so!)
Es ist keine banale Geschichte, sondern es ist ein hoch-
komplexes Gesetz und betrifft 60 Berufsgesetze und Als letzten Aspekt nenne ich den Rechtsanspruch auf
Verordnungen – viele Ministerien sind involviert –, eine Nachqualifizierung. Natürlich wird es Nachqualifizie-
Vielzahl von Berufsgruppen mit eigener Historie und ei- rungen geben. Der Bedarf wird vorhanden sein, wenn
genen Traditionen, 350 Ausbildungsberufe. Im Bereich der Abschluss nicht anerkannt ist. Bildungsträger wer-
13752 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011

Albert Rupprecht (Weiden)


(A) den entsprechende Angebote machen. Das ist zu erwar- Wir brauchen endlich ein gutes Anerkennungsgesetz (C)
ten, aber das wird sich automatisch regeln. für Menschen, die im Ausland Qualifikationen erlangt
haben: für die irakische Krankenschwester, die mögli-
(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Und wer cherweise in Deutschland gerade putzt, für den Kfz-Me-
finanziert das?) chatroniker, der möglicherweise Taxi fährt oder auf So-
Die Frage ist, wer das Ganze bezahlt. zialleistungen angewiesen ist.

(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Genau! – Aber: Der Fortschritt ist eine Schnecke. Ich kann
Daniela Kolbe [Leipzig] [SPD]: Die Frage mich noch sehr gut erinnern, dass uns die zuständige
stellen wir uns auch!) Ministerin, Frau Schavan, im Spätherbst 2009 verspro-
chen hat: Noch vor dem Sommer legen wir ein Gesetz
Hier gilt dasselbe, was für andere Bürger in Deutschland vor. Damals habe ich gelernt, immer nachzufragen: Wel-
auch gilt: Wer bedürftig ist, kann auf die laufenden Pro- chen Sommer meinen Sie bitte? Jetzt immerhin, vor dem
gramme – beispielsweise der Arbeitsmarktpolitik – zu- Sommer 2011, reden wir das erste Mal über ein
greifen. Berufsqualifikationsanerkennungsgesetz. Ich kann nur
(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Die Sie ge- sagen: Endlich.
rade kürzen!) Denn die Betroffenen – zwischen 300 000 und
500 000 im Land befindliche Menschen – und auch die
Wer nicht bedürftig ist, muss die Kosten aus eigener Ta-
Unternehmen warten schon sehnlichst darauf. Sie haben
sche zahlen. Eines geht aber nicht: dass wir für ausländi-
hohe Erwartungen geweckt, auch dadurch, dass Sie das
sche Bürger einen Rechtsanspruch kreieren, der für deut-
Ganze immer als Ihren Willen bekundet haben. Aller-
sche Bürger nicht gilt. Wer eine solche Forderung für
dings ist Ihr Gesetzentwurf ebenfalls eher in der Größe
Ausländer erhebt, diskriminiert letztendlich Inländer.
einer Schnecke ausgefallen. Das muss ich leider sagen.
Das ist mit uns nicht zu machen.
(Heiner Kamp [FDP]: Das tut jetzt aber weh!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Er bleibt eindeutig hinter Ihrem eigenen Punktepapier
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: zurück. Der Wirrwarr an Anlaufstellen bleibt erhalten.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen. Ich frage mich manchmal schon selbst, wer denn bei
welchem Berufsfeld der richtige Ansprechpartner ist.
Die Beratung der Personen, die ein Anerkennungsver-
Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU): fahren beantragen wollen, ist absolut ungenügend gere-
(B) Den Rest heben wir uns auf für die zweite und die gelt. (D)
dritte Lesung.
(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Wir leben in
Danke schön. einem föderalen System, da kann man nicht al-
les von oben bestimmen!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Es ist vollkommen unklar, wie Sie die Gleichwertig-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: keit von Verfahren erreichen wollen. Ein Beispiel ist das
Das Wort hat nun Daniela Kolbe für die SPD-Frak- Anerkennungsverfahren für einen Kfz-Mechatroniker in
tion. Berlin oder in Bayern. Es ist nicht erkennbar, wie Sie die
Gleichwertigkeit erreichen und das Verfahren nicht zu
(Beifall bei der SPD) einer Lotterie werden lassen wollen,
(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Das werden
Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD): die Kammern schon machen!)
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Damen und Herren! Herr Rupprecht, da wobei die Chance auf Anerkennung davon abhängt, wo
Sie sich ein bisschen über die viele Kritik beschwert ha- man wohnt. Vollkommen unklar ist auch, wer das Wis-
ben, will ich zunächst einmal mit dem Positiven begin- sen sammelt. Wissensmanagement ist überhaupt kein
nen: Die Regierung hat bei diesem Thema Kurs gehal- Thema in diesem Gesetzentwurf. Das klingt ganz ein-
ten. Ich nehme Ihnen durchaus ab, dass Sie sich ein fach: Die eine Kammer sammelt Informationen über die
Berufsqualifikationsanerkennungsgesetz – sogar ein gu- einen Berufe und die andere über die anderen. Wenn
tes – zum Ziel gesetzt haben. Dass Sie Kurs gehalten ha- man aber genauer hinschaut, stellt man fest, dass es sehr
ben, ist, wie ich finde, bei dieser Regierung bemerkens- viele Länder auf dieser Welt gibt, in denen Kfz-Mecha-
wert, angesichts von Volten bei der EU-Politik und troniker ausgebildet werden. Die zuständige Kammer
Pirouetten in der Energiepolitik. muss wissen, was die berufliche Ausbildung in jedem
einzelnen Land beinhaltet, und zwar nicht nur heute,
(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Das ist wahr!) sondern auch vor 5, 10 oder 15 Jahren.
Darum lohnt es sich, das einmal positiv hervorzuheben, (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Das kann man
zumal wir den Kurs auch unterstützen. schon vor Ort in den Auslandsvertretungen
prüfen!)
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Memet
Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Manche Länder gab es vor 15 Jahren noch gar nicht.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13753
Daniela Kolbe (Leipzig)
(A) (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Ein Kfz-Me- tun ist. Wir müssen die Schnecke anstupsen und sie ein (C)
chatroniker aus dem Vatikan! Wie wird der an- bisschen größer machen. Ich freue mich auf die Anhö-
erkannt? Das ist wirklich eine spannende rung, die leider nur zwei Stunden dauern wird. Ich finde,
Frage!) das ist dramatisch wenig, aber wir werden versuchen, Ih-
nen auf die Sprünge zu helfen und aus diesem Gesetzent-
Das ist wirklich eine knifflige Aufgabe. Zum Thema wurf ein bisschen mehr herauszuholen.
Wissensmanagement steht nichts im Gesetz. Von Ihnen
höre ich nur, dass das Wirtschaftsministerium Daten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
sammeln soll. Ich finde, das ist ungenügend. DIE GRÜNEN)
Größtes Problem ist aber die Prämisse, die hinter dem
Gesetzentwurf steht: Es darf nichts kosten. Ich glaube, Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
das wird an vielen Stellen ein Problem werden. Ich Ich schließe die Aussprache.
greife ein Problem heraus: Viele Antragsteller werden Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
eine Gleichwertigkeitsbescheinigung nicht bekommen. auf den Drucksachen 17/6260 und 17/6271 an die in der
(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Woher wissen Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sie das?) Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offensichtlich
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
– Das habe ich in Gesprächen mit Fachleuten erfahren.
Ich rufe nun die Zusatzpunkte 17 bis 19 auf:
(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Dann nennen
Sie ein paar Fachleute!) ZP 17 Beratung des Antrags der Abgeordneten Manuel
Sarrazin, Priska Hinz (Herborn), Fritz Kuhn, wei-
Ich bin jetzt einmal sehr optimistisch und sage: Jeder terer Abgeordneter sowie der Fraktion BÜND-
Dritte bekommt eine Gleichwertigkeitsbescheinigung. NIS 90/DIE GRÜNEN
Wenn Sie sagen wollen, dass das mehr sind, dann mel-
den Sie sich bitte zu einer Zwischenfrage. Ich finde, ich zu den Legislativvorschlägen der Europäi-
bin optimistisch, wenn ich von jedem Dritten ausgehe. schen Kommission „Wirtschaftspolitische Steue-
rung in der EU“ (KOM [2010] 522, 523, 524,
(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Das ist doch 525, 526, 527)
Kaffeesatzleserei!)
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
Das bedeutet, dass zwei Drittel der Antragsteller ohne regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3
Gleichwertigkeitsanerkennung dastehen. Was ist mit de- des Grundgesetzes
(B) nen? Sie sollen eine Anpassungsqualifizierung machen. (D)
Wo finden die denn statt? Bundesregierung muss unverzüglich euro-
päisch gestalten
(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Es gibt doch ge-
nug Bildungsträger, die so etwas anbieten!) – Drucksache 17/6316 –
In Ihrem Fachkräftekonzept schreiben Sie: Verbesserte ZP 18 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Angebote für Anpassungs- und Ergänzungsqualifikatio- richts des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)
nen zur vollen Arbeitsmarktintegration bei nur teilweise zu dem Antrag der Abgeordneten Roland Claus,
nachgewiesenen Qualifikationen bilden eine Herausfor- Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer
derung, der sich alle stellen müssen. – Das Gesetz stellt Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
sich dieser Herausforderung aber überhaupt nicht. Wer
zu dem Vorschlag für eine Verordnung (EU)
bezahlt das denn?
Nr. …/… des Rates zur Änderung der Verord-
(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Das hat der nung (EG) Nr. 1467/97 über die Beschleuni-
Kollege Rupprecht doch gerade gesagt! Ein- gung und Klärung des Verfahrens bei einem
fach einmal zuhören!) übermäßigen Defizit
– Ratsdok.-Nr. 14496/10 –
Wo kommen die Maßnahmen her? Wie ermöglicht man
es dem Taxifahrer, der entsprechend seiner Qualifikation zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Rates
arbeiten will, seinen Lebensunterhalt in der Zeit der über die Anforderungen an die haushaltspoli-
Qualifikationsmaßnahme zu bestreiten? Wer bietet ihm tischen Rahmen der Mitgliedstaaten
eine realistische Möglichkeit, die Qualifizierungsmaß- – Ratsdok.-Nr. 14497/10 –
nahme anzutreten? Ich sehe die große Gefahr, dass Sie
zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Eu-
die Erwartungen, die Sie geweckt haben, enttäuschen
ropäischen Parlaments und des Rates über die
werden.
wirksame Durchsetzung der haushaltspoliti-
(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Sie kriegen schen Überwachung im Euro-Währungsgebiet
eine Riesenzustimmung aus Ihrer eigenen – Ratsdok.-Nr. 14498/10 –
Fraktion! Große Rede!)
zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Eu-
Die Schnecke ist auf dem richtigen Weg. Sie ist auch ropäischen Parlaments und des Rates zur Än-
in die richtige Richtung unterwegs. Wir freuen uns, dass derung der Verordnung (EG) Nr. 1466/97 über
sie auf dem Weg ist. Ich glaube aber, dass noch viel zu den Ausbau der haushaltspolitischen Überwa-
13754 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) chung und der Überwachung und Koordinie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (C)
rung der Wirtschaftspolitiken Oliver Luksic [FDP]: Schlechtes Plagiat!)
– Ratsdok.-Nr. 14520/10 –
Worum geht es? Ein Jahr lang habe ich von Ihnen ge-
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes- hört – das haben Sie auch mehrfach beschlossen –, dass
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 Sie bei Verstößen gegen den Stabilitäts- und Wachstums-
des Grundgesetzes pakt automatische Sanktionen wollen. Sie wollen die
quasi-automatische Mehrheit. All diese Punkte höre ich
– Drucksachen 17/5904, 17/6168 – von Ihnen seit einem Jahr. Sie haben Ihre Regierung
Berichterstattung: dazu aufgefordert. Doch was ist vor zwei Wochen pas-
Abgeordnete Norbert Barthle siert? Die Bundeskanzlerin kam von einem Treffen mit
Carsten Schneider (Erfurt) Herrn Sarkozy wieder, auf dem sie genau diesen Punkt
Otto Fricke eingestampft hat, und zwar nicht, weil alle in Europa da-
Roland Claus gegen wären. Das Europäische Parlament hat darauf ge-
Priska Hinz (Herborn) drungen, diese Stärkung des Stabilitätspaktes zu bekom-
men, die von Deutschland jetzt in den Orkus geschüttet
ZP 19 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- wird. Verkehrte Welt!
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
ordneten Sahra Wagenknecht, Michael Schlecht, sowie bei Abgeordneten der SPD)
Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Mit welcher Begründung machen Sie das? Sie erklä-
Fraktion DIE LINKE ren uns: Wir müssen verhindern, dass in der künftigen
zu dem Vorschlag einer Verordnung des Euro- Wirtschaftsregierung bei den Indikatoren im sogenann-
päischen Parlaments und des Rates über ten Scoreboard ein symmetrischer Ansatz herrscht,
Durchsetzungsmaßnahmen zur Korrektur (Oliver Luksic [FDP]: Asymmetrischer An-
übermäßiger makroökonomischer Ungleich- satz! Genau das Gegenteil!)
gewichte im Euro-Währungsgebiet (Ratsdok.
14512/10, KOM[2010] 525) ansonsten würde Europa Deutschland die Exportkraft
rauben und – böse, böse – dafür sorgen, dass unser Auf-
zu dem Vorschlag einer Verordnung des Euro- schwung nicht mehr stattfindet. Sie haben mit diesem
päischen Parlaments und des Rates über die Thema einen Popanz aufgeblasen.
Vermeidung und Korrektur makroökonomi-
scher Ungleichgewichte (Ratsdok. 14515/10, (Oliver Luksic [FDP]: Sie blasen doch auf!)
(B) (D)
KOM[2010] 527) Glauben Sie wirklich, dass die Europäische Kommission
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes- kein Interesse daran hat, dass sich Deutschland wirt-
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 schaftlich verbessert? Oder haben Sie Angst, dass die
des Grundgesetzes Europäische Kommission aufschreibt, wo auch Deutsch-
land noch besser werden kann, und versucht, dies einzu-
– Drucksachen 17/5905, 17/6175 – fordern, damit wir in ganz Europa endlich zu ausgegli-
Berichterstattung: chenen Leistungsbilanzen kommen? Diesen Popanz
Abgeordneter Garrelt Duin haben Sie aufgeblasen. Jetzt verticken Sie das deutsche
Interesse an einem stärkeren Stabilitäts- und Wachstums-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die pakt, um einen Popanz zu retten. Das ist wirklich ein
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Dazu höre schwaches Stück dieser Dagegen-Regierung.
ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen sowie bei Abgeordneten der SPD)
Manuel Sarrazin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen das Wort. Dieses Thema ist aber auch eine Gelegenheit, über Ih-
ren Stil zu reden. Das Europäische Parlament hat sich
auf eine Position verständigt. Das Europäische Parla-
Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
ment hat Vorschläge vorgelegt, um die umgekehrte
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen Mehrheit und die Symmetrie zu erreichen. Der Rat hat
und Kollegen! Wir Grüne beantragen heute, dass die sich auf etwas verständigt. Verschiedene Positionen im
Bundesregierung den Weg freimacht. Das ist ein biss- Rat sind ausgehandelt worden. Alle in Europa, das Euro-
chen ungewöhnlich. Normalerweise wirft man uns vor, päische Parlament mit dem ganzen Haus und der Rat un-
die Dagegen-Partei zu sein. In dieser historischen Situa- ter ungarischer Ratspräsidentschaft mit allen anderen
tion, in der die Europäische Union eine kleine Revolu- Staaten, haben sich auf einen Deal geeinigt, der jedem
tion machen will – so beschrieben es manche Publizisten etwas gibt, aber auch jeden etwas kostet.
letztes Jahr –, indem sie einen Schritt in Richtung einer
stärkeren wirtschaftspolitischen Koordinierung geht, Dann kommt die Bundesregierung mit der Haltung:
wodurch wir Europa gemeinsam voranbringen können, Ganz oder gar nicht, wir kriegen alles, sonst machen wir
sind die Rollen plötzlich vertauscht. Auf dieser Seite des nichts. Dies machen Sie, obwohl Sie genau wissen, wie
Hauses sitzen die Dagegen-Koalition und die Dagegen- wichtig in der jetzigen Situation eine Stärkung der wirt-
Regierung. schaftspolitischen Überwachung und des Stabilitäts- und
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13755
Manuel Sarrazin
(A) Wachstumspakts ist. Mit dieser Art, hinter der sich wie- Nun zu dem Sixpack, das Deutschland unmittelbar (C)
der Ihre Unionsmethode versteckt, verhindern Sie Lö- am stärksten betrifft. Ich finde es schon grob fahrlässig,
sungen in der Europäischen Union. So funktioniert mit welcher Lässigkeit Sie darüber sprechen.
Europa nicht.
Die wirtschaftlichen Probleme in den Staaten der süd-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN europäischen Euro-Länder, aber auch in manchen Nicht-
sowie bei Abgeordneten der SPD) Euro-Ländern der EU haben vor allem eine Ursache: die
In unserem Antrag geht es nicht darum, dass Sie ge- mangelnde Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Wirt-
gen die Prüfung in Bezug auf Euro-Bonds und gegen die schaft. Diese fehlende Wettbewerbsfähigkeit bedeutet,
Einführung eines delegierten Rechtsaktes waren; es geht dass der Staat zu wenig Steuereinnahmen bei gleichzei-
nicht um alles, bei dem Sie dagegen waren. Es geht um tig zu hohen Ausgaben für soziale Sicherung und Ar-
die zwei entscheidenden Punkte, die jetzt noch auf dem beitslosigkeit hat. Dies führt zu hoher Staatsverschul-
Tisch liegen. Gerade meine Kollegen von der FDP wer- dung.
den zumindest einem dieser Punkte zustimmen müssen; Die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit kann man
denn im Moment droht es gerade Ihrer Fraktion im Euro- an vielen Kriterien festmachen, zum Beispiel am Anteil
päischen Parlament, von dieser Regierung an der Nase der Industriearbeitsplätze, am Anteil der Privatwirtschaft
herumgeführt zu werden. am Bruttonationaleinkommen, an der Qualität der Infra-
Seit einem Jahr rennen Sie mit Forderungen herum. struktur, am Bildungswesen, aber auch an der Leistungs-
Sie beschließen diese mehrfach hier im Haus. Jetzt bilanz, also Exporte minus Importe. Die südeuropäischen
plötzlich werden von der Regierung rechtliche Bedenken Länder sind von einem hohen Leistungsbilanzdefizit ge-
vorgetragen. Geben Sie es einfach zu: Die Dagegen-Re- kennzeichnet. Deutschland wiederum hat aufgrund sei-
gierung hat es verditscht und möchte das hier nicht zuge- nes starken Exportes einen hohen Leistungsbilanzüber-
ben. So funktioniert das nicht. schuss. Will man die Krise in den südeuropäischen
Staaten überwinden, so muss die Wettbewerbsfähigkeit
Danke sehr. dieser Staaten gestärkt werden. Die Bundesregierung
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vertritt hierzu die klare Auffassung, dass der asymmetri-
sowie bei Abgeordneten der SPD) sche Ansatz gewählt werden muss. Dieser Ansatz wurde
auch auf dem Europäischen Rat vom März dieses Jahres
bestätigt.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Bettina Kudla für die CDU/CSU- Was bedeutet nun der asymmetrische Ansatz? Eine
Fraktion. wirksame Koordinierung der Wirtschaftspolitik muss
(B) sich an den Besten orientieren und nicht an den Schlech- (D)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
testen. Die Gesamtheit wird nicht besser, wenn die wirt-
schaftlich stärkeren Länder schwächer werden.
Bettina Kudla (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
und Herren! Als ich den Antrag der Grünen „Bundes- NEN]: Was hat das eigentlich mit dem Thema
regierung muss unverzüglich europäisch gestalten“ las, zu tun?)
habe ich mich sehr gewundert. Der Antrag ist in einer Ich bitte Sie, das einfach einmal zur Kenntnis zu neh-
Sprache geschrieben, die nicht unbedingt an ein Doku- men.
ment des Deutschen Parlamentes erinnert.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
der FDP)
NEN]: Im Gegensatz zu Ihren Reden!)
Dann verbessert sich nämlich für die schwächeren Län-
Es scheint so, als wollten Sie um Ihren Antrag unbedingt
der nichts, rein gar nichts. Das wäre ungefähr so, als
einen Popanz aufbauen; aber darauf möchte ich jetzt
wenn Sie den beiden deutschen Fußballnationalmann-
nicht näher eingehen.
schaften vorschlagen würden, sie sollten Birgit Prinz
Zum Inhalt: In Ihrem Antrag behaupten Sie, die Bun- und Philipp Lahm aus der Mannschaft herausnehmen,
desregierung würde die haushalts- und wirtschaftspoliti- dann gehe es den Mannschaften anderer Länder besser.
sche Steuerung in der EU blockieren. Sie kritisieren Das kann es nicht sein.
– das haben Sie jetzt noch einmal deutlich dargelegt –
die von der Bundesregierung vertretene Auffassung zur (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
wirtschaftspolitischen Überwachung. Es ist schon aben- NEN]: Die Prinz war nicht immer in der Start-
teuerlich, wenn Sie der Bundesregierung Verzögerung elf!)
bei der Durchsetzung von Maßnahmen des Stabilitäts- Der sogenannte symmetrische Ansatz, der im Antrag
und Wachstumspaktes vorwerfen. Das Legislativpaket der Grünen vorgeschlagen wird, wird daher von der
der Kommission zur Stärkung des Wachstumspaktes, Bundesregierung zu Recht abgelehnt.
welches Sie in Ihrem Antrag ansprechen, also das soge-
nannte Sixpack, wurde auf dem Europäischen Rat im (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
März 2011 bestätigt mit der Zielrichtung, auf dieser Ba- Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
sis die Gespräche mit dem EU-Parlament zu beginnen. NEN]: Wegen Birgit Prinz oder wegen Philipp
Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Lahm?)
13756 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011

Bettina Kudla
(A) Dieser Ansatz würde eine Schwächung der EU insge- Bundesregierung in Brüssel durchgesetzt hat, torpedie- (C)
samt bedeuten, wenn ein Teil der Staaten sich auf einem ren. Hören Sie auf, Forderungen zu stellen, die nicht im
niedrigeren wirtschaftlichen Niveau befindet. Interesse unserer Bürger sind! Nur eine florierende Wirt-
schaft in Deutschland und Europa ist Garantie für Wohl-
Ich wiederhole: keine Nivellierung der Wettbewerbs- stand. Nur eine starke deutsche Wirtschaft bedeutet
fähigkeit von Staaten, sondern Orientierung an der Wett- Chancen für die Menschen und soziale Sicherheit.
bewerbsfähigkeit der Besten. Sie können doch nicht
ernsthaft wollen, dass die Wirtschaft in Deutschland Vielen Dank.
schwächer wird. Wollen Sie das den Menschen sagen? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Und wollen Sie vielleicht noch hinzufügen: „Verliert
möglichst in Deutschland eure Arbeitsplätze“?
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Übrigens: Vor einigen Wochen haben sich im Han- Das Wort hat nun Michael Roth für die SPD-Fraktion.
delsblatt zwölf namhafte Professoren zur aktuellen
Europapolitik unter dem Titel „Zwölf gegen Merkel“ (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
geäußert. Dem Titel können Sie entnehmen, dass die
Wissenschaftler der Bundesregierung nicht unbedingt Michael Roth (Heringen) (SPD):
freundlich gesonnen waren. Einer der Professoren aber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
stellte Folgendes fest: scheint seitens der Bundesregierung und der sie tragen-
den Fraktionen kein gesteigertes Interesse daran zu ge-
Da es keine schlechten Standorte gibt, sondern nur ben, öffentlich über Europa zu debattieren.
falsche Wirtschaftsstrukturen, sind solche Faktoren
zu analysieren, die Fehlanpassungen begünstigen. (Oliver Luksic [FDP]: Ach! Das haben wir
Viele doch gerade erklärt!)
– insbesondere die Grünen; das gehört allerdings nicht Das haben wir in der jüngsten Vergangenheit allzu oft er-
zum Zitat – lebt.
(Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE (Oliver Luksic [FDP]: Quatsch!)
GRÜNEN]: Hört! Hört!) Insofern bin ich den Kolleginnen und Kollegen von den
fixieren sich auf außenwirtschaftliche Ungleichge- Grünen für ihren Antrag ausgesprochen dankbar.
wichte. Aber: Außenhandelsüberschüsse sind auch (Oliver Luksic [FDP]: Als Juniorpartner muss
Ausdruck von Arbeitsteilung und Entwicklungssta- man sich schon mal auf den anderen verlassen
(B) tus. Gleiches gilt für Sparquoten … können!) (D)
Deutschland ist nun einmal ein hochtechnisiertes Ex- In Sonntagsreden spielt die Wirtschaftskoordination
portland. Die Regierungsfraktionen setzen sich dafür eine ganz zentrale Rolle. Es dürfte keinen Politiker und
ein, dass dies auch so bleibt. Deutschland kann struktu- keine Politikerin geben, der bzw. die nicht immer wieder
rell in einer globalisierten Welt durchaus weiterhin einen sagt: Jetzt müsste koordiniert werden; das ist überfällig.
Leistungsbilanzüberschuss haben. Wie es konkret in der Praxis ausschaut, darüber wird
(Michael Schlecht [DIE LINKE]: Nein!) aber zu Recht gestritten. Dass Sie das nicht gerne hören,
weiß ich. Dennoch sollte man Ihnen den einen oder an-
– Doch. deren Hinweis ins Stammbuch schreiben.
(Heiterkeit – Zuruf von der CDU/CSU: Ein- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
fach mal draufhauen, so ist es richtig!) DIE GRÜNEN)
Und nun zu den Anträgen der Linken. Diese Anträge Die Krise ist sicherlich maßgeblich verursacht durch
wenden sich gegen den Stabilitäts- und Wachstumspakt eine unzureichende, nicht vorhandene Regulierung bzw.
an sich. Das ist nicht nachvollziehbar. Wenn es Probleme Kontrolle unserer Finanzmärkte. Die Ursachen finden
gibt, muss man sich mit den Ursachen auseinanderset- sich aber auch in fehlender Koordination der Wirt-
zen. Unsolide Haushaltspolitik und fehlende Wettbe- schafts-, der Haushalts-, der Finanz- und der Sozialpoli-
werbsfähigkeit sind die Ursachen der Verschuldung von tik. Das greift tief in nationale Souveränitäten ein. Des-
Staaten. Folglich müssen diese Ursachen beseitigt wer- wegen ist es gut, dass wir diese Diskussion heute hier im
den. Das wird aber nur gelingen durch solide Haushalts- Bundestag führen, auch wenn ich sie mir zu einer etwas
politik, gepaart mit Maßnahmen zur Verbesserung der attraktiveren Zeit gewünscht hätte.
Wettbewerbsfähigkeit. Schließlich heißt es ja „Stabili-
täts- und Wachstumspakt“, beides ist genannt. Dazu ge- Der Ansatz der Kommission, das sogenannte Sixpack
hören auch ein wettbewerbsfähiges Lohnniveau und gute bzw. die Rehn-Vorschläge, ist im Grundsatz richtig.
Rahmenbedingungen, damit die Löhne entsprechend Aber eine alleinige Verschärfung des Stabilitäts- und
steigen können. Wachstumspaktes führt doch in die Irre. Ich bitte Sie,
Frau Kudla, und Ihre Kolleginnen und Kollegen um ein
Die Einführung der Schuldenbremse hat sich in Stück mehr Realitätssinn. Die gegenwärtige Krise, die
Deutschland bewährt. Sie sollte auch in den Verfassun- Staatsschuldenkrise in der Europäischen Union, hat
gen anderer Länder verankert werden. Ich finde es kon- nicht in allen Mitgliedstaaten mit einer Infragestellung
traproduktiv, dass Sie hier zentrale Forderungen, die die des Stabilitäts- und Wachstumspaketes zu tun. Das trifft
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13757
Michael Roth (Heringen)
(A) auf Griechenland sicher zu. Schauen Sie sich aber ein- Das bedeutet für uns gesetzlich vorgeschriebene Min- (C)
mal die Situation in Irland an; dort hat man eine FDP- destlöhne in allen Branchen. Weiter heißt das für uns, die
Politik in Reinkultur betrieben. Schauen Sie sich einmal Binnennachfrage anzukurbeln.
die Situation in Portugal oder Spanien an; dort hat man
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
auf dem Weg der Haushaltskonsolidierung gute Fort-
DIE GRÜNEN)
schritte erzielt. Diese Länder hatten eine niedrigere Ver-
schuldungsrate als beispielsweise die Bundesrepublik Mit überholter Ideologie hat das überhaupt nichts zu tun,
Deutschland. zumal wir das zu Recht immer wieder innenpolitisch
einfordern. Es hat aber eben auch Auswirkungen auf die
Wenn Sie sich die Situation in der Bundesrepublik
gesamte Europäische Union. So viel Solidarität sollte
Deutschland vor Augen führen und sich fragen, warum man zumindest von Ihnen erwarten können – gerade
die Verschuldung in Deutschland gerade in der jüngsten auch angesichts der Tatsache, dass Sie ebenso wie wir
Vergangenheit massiv zugenommen hat – das werfe ich
dafür eintreten, unsere Arbeitsmärkte zu öffnen und Ar-
Ihnen gar nicht vor, auch wenn Sie zumindest in der beitnehmerfreizügigkeit walten zu lassen. Das muss so-
Großen Koalition daran beteiligt waren –, stellen Sie zial flankiert werden. Mindestlöhne sind da ein wichti-
fest: Wir haben die Krise durch massive öffentliche In-
ger Aspekt.
vestitionen zu schultern versucht. Im Gegensatz zu ande-
ren Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind wir (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
halbwegs erfolgreich aus der Krise gekommen. DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD) Ebenso begrüßen wir, dass die liberale Europaabge-
ordnete Sylvie Goulard ebenso wie wir konditionierte
Jetzt immer zu behaupten, Schulden seien per se von Euro-Bonds einfordert. In der Europäischen Union brau-
Übel, ist doch völliger Blödsinn. chen wir konditionierte Gemeinschaftsanleihen. Auch
Der Ansatz, den meine Fraktion und unsere Kollegin- das ist eine Forderung, die von der Bundesregierung
nen und Kollegen im Europäischen Parlament fahren, ist brüsk abgelehnt worden ist.
genau der richtige. Wir müssen endlich differenzieren: (Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Noch!)
Investitionen in überflüssige und überbordende Bürokra-
tie sind der falsche Weg. Aber nachhaltige Investitionen In all dem zeigt sich wieder einmal, dass die Europa-
in erneuerbare Energien, in Forschung und in Innovatio- politik der Bundeskanzlerin bzw. dieser Regierung kläg-
nen sind in Griechenland genauso nötig wie in Spanien, lich gescheitert ist. Es ist heute noch nicht abzusehen,
in Portugal, in Irland und in Deutschland. Das war einer wie groß die Kollateralschäden in der Europäischen
(B) der wesentlichen Ansätze, die vom Europäischen Parla- Union sind, die diese Regierung und Sie zu verantworten (D)
ment verfolgt worden sind und die von Ihnen – ich kann haben. Die Methoden der Bundeskanzlerin – das wird
niemanden direkt ansprechen, weil seitens der Bundesre- auch angesichts der Verhandlungen im Rahmen des Six-
gierung heute niemand da ist – packs eindrücklich deutlich – sind ganz einfach geprägt:
(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Unglaublich!) Frau Merkel spaltet die Europäische Union, indem sie
die südeuropäischen Länder beschimpft und die Kli-
bzw. von der Bundesregierung beharrlich blockiert wor- schees und Vorurteile des Boulevards bedient. Sie sorgt
den sind. Wir brauchen Wachstum und Beschäftigung. nicht mehr für Partnerschaft, Kooperation und gegensei-
Dass Sie seitens der CDU/CSU und der FDP sich dieser tiges Vertrauen, sondern haut erst einmal so richtig auf
Erkenntnis wieder verweigern, irritiert mich schon. die anderen drauf. Wir brüskieren die Luxemburger bzw.
Denn ich habe in Ihren jüngsten Anträgen zumindest ab die Partnerstaaten. Dann beschweren wir uns darüber,
und zu mal gelesen, dass auch Sie dafür und der Mei- dass wir in der Europäischen Union nicht gemeinsam
nung sind, dass reines Sparen um des Sparens willen die vorankommen.
Länder nicht aus der Krise führt, sondern dass wir auch
Wachstum, Beschäftigungsimpulse sowie nachhaltige
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Investitionen brauchen. Hier haben Sie offenkundig
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
nichts dazugelernt.
Kollegen Silberhorn?
(Beifall bei der SPD)
Wir stellen uns ganz selbstbewusst dem symmetri- Michael Roth (Heringen) (SPD):
schen Abbau der wirtschaftlichen Ungleichgewichte. Ich Bitte schön.
weiß natürlich, dass Ihnen das nicht passt. Ideologisch
ist das für Sie Gift. Denn es geht doch nicht allen Ernstes Thomas Silberhorn (CDU/CSU):
darum, dass wir, die wir einen symmetrischen Abbau der Herr Kollege Roth, Sie treten zum wiederholten Male
Ungleichgewichte einfordern, die deutschen Exporte für Euro-Bonds ein. Verstehe ich Sie richtig, dass Sie un-
vermindern wollen. Wir müssen uns aber selber fragen: ter Euro-Bonds Anleihen verstehen, die sich von den
Inwieweit haben wir einen Beitrag dazu geleistet, dass bisherigen Finanzhilfen, die die Mitgliedstaaten der
die Bilanzen in vielen Mitgliedstaaten so aussehen, wie Euro-Zone gewähren, dadurch unterscheiden, dass die
sie aussehen? Es besteht also nicht nur ein Auftrag zum Geberländer nicht anteilig haften, sondern dass eine ge-
Handeln in den Ländern, die ein Defizit haben, sondern samtschuldnerische Haftung besteht, dass also jeder ein-
auch bei denjenigen, die einen Überschuss aufweisen. zelne Mitgliedstaat eine Garantie für die gesamte Kredit-
13758 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011

Thomas Silberhorn
(A) summe übernimmt? Wenn dies der Fall ist: Glauben Sie, Unionsmethode. Diese führt dazu, dass die Staats- und (C)
dass Sie die Öffentlichkeit davon überzeugen können? Regierungschefs immer mehr Verantwortung bekommen
Denn mit Euro-Bonds würde ein Modell eingeführt, bei und dass Gemeinschaftsinstitutionen geschwächt wer-
dem sich Solidarität als Einbahnstraße darstellt. Weshalb den. Auch an dieser Stelle sehe ich keinen substanziellen
wehren Sie sich dagegen, dass jeder, der zu einem Kredit Erfolg, der mit dem Namen dieser Regierung verbunden
beiträgt, anteilig haftet, sodass sich nicht der eine auf ist.
den anderen verlässt, sondern jeder, der gibt, weiß, wo-
rauf er sich einlässt? Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Michael Roth (Heringen) (SPD):
Lieber Herr Kollege Silberhorn, wenn die bisherige Michael Roth (Heringen) (SPD):
Krisenbewältigungspolitik in der Europäischen Union Zum Schluss möchte ich auf die Merkel’sche Me-
große Erfolge gezeitigt hätte, könnte ich Ihre Bedenken- thode der Beliebigkeit nochmals zu sprechen kommen.
trägerei noch verstehen. Wie sieht es aber aus? Die Sie lehnen erst einmal alles brüsk ab. Sie legen sich mit
Wahrheit ist: Ihre Regierung hat bislang alle Vorschläge, jedem Partner an. Dann wird es über den Hinterhof aber
die auf den Tisch gelegt wurden, brüsk abgelehnt. Sie doch so gemacht, wie Sie es immer abgelehnt haben. Ich
hat sich anfänglich gegen jegliche solidarische Hilfe für bin mir sicher: In Ihrem tiefen Inneren sind Sie der Über-
andere Länder ausgesprochen. Die Hilfe kam. Sie hat zeugung, dass das der falsche Weg ist. Heute wäre Ihre
sich gegen einen Rettungsschirm ausgesprochen. Der Chance gewesen, deutlich zu machen, dass Sie bereit
Rettungsschirm kam. Sie hat sich für eine Befristung des sind, gemeinsam mit uns einen anderen und besseren
Rettungsschirms ausgesprochen. Die Entfristung wird Weg für die Europäerinnen und Europäer zu suchen und
mit dem ESM sehr wahrscheinlich kommen, es sei denn, zu finden. Leider haben Sie diese Chance nicht ergriffen.
Sie erklären uns, dass Sie dem nicht zustimmen wollen.
Nichts hat gefruchtet. Nun haben wir es abermals mit ei- Vielen Dank und ein schönes Wochenende.
nem Rettungspaket für Griechenland zu tun, obwohl Ihre (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Regierung erklärt hat, dass es das letzte gewesen sei und DIE GRÜNEN)
dass man eine klare Strategie verfolgen würde, um aus
der Krise herauszukommen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Es ist niemandem zu verdenken, angesichts des Das Wort hat nun Oliver Luksic für die FDP-Fraktion.
Scheiterns der bisherigen Krisenstrategien über neue
Wege nachzudenken. In meiner Fraktion und unter den (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(B) Befürworterinnen und Befürwortern von Gemeinschafts- (D)
anleihen ist niemand dabei, der nicht auch der Meinung Oliver Luksic (FDP):
ist, dass Staaten wie Deutschland einen Beitrag zu leis- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
ten haben. Selbstverständlich muss Deutschland einen befinden uns inmitten einer schweren Schuldenkrise.
Beitrag leisten. Wir helfen den Staaten, die in eine Krise Wir mussten für drei Euro-Länder Rettungspakete
geraten sind, unter bestimmten Bedingungen nachhaltig, schnüren. Wir mussten Hilfe zur Selbsthilfe leisten, weil
weil wir deren Refinanzierungschancen massiv erhöhen. europäische Regeln nicht durchgesetzt werden konnten
Selbstverständlich zahlen auch wir einen Preis. Den oder sich Länder nicht an Regeln gehalten haben. Wir
Preis zahlen wir jedoch so oder so. Wir zahlen ihn auch haben also nicht zu wenig Europa, sondern brauchen ein
jetzt schon für die Problembewältigung in Griechenland. stärkeres Europa. Wir brauchen einen stärkeren Stabili-
Sie können den Bürgerinnen und Bürgern nicht ständig tätspakt. Wir müssen die Gemeinschaftsinstitutionen
einreden, dass das, was sich derzeit in der Europäischen stärken. Denn nur ein starkes Europa kann künftig Kri-
Union abspielt, ohne solidarische Beiträge auch aus sen verhindern.
Deutschland zu richten ist. Vor allem müssen die Mitgliedstaaten der Verantwor-
(Oliver Luksic [FDP]: Das ist ein Freifahrt- tung nachkommen, ihre Wettbewerbsfähigkeit zu erhö-
schein! Das ist ein Fass ohne Boden!) hen. Das ist Aufgabe der Mitgliedstaaten. Im Falle Grie-
chenlands heißt das, dass die Versprechungen nach den
Diese Ehrlichkeit erwarte ich von Ihnen. Sie können erfolgreichen Abstimmungen im Parlament auch umge-
nicht einfach auf kleinkarierte Weise sagen: Gemein- setzt werden müssen. Das gilt insbesondere im Hinblick
schaftsanleihen sind eine Solidarität der Einbahnstraße. auf die Privatisierung. Ich möchte hier auch ausdrück-
Nein, sie sind eine Solidarität der Zweibahnstraßen. Da- lich den griechischen Premierminister Papandreou lo-
für steht meine Fraktion. Ich hoffe, dass wir Sie irgend- ben, der mit der parlamentarischen Zustimmung zu
wann noch davon überzeugen können. weiteren Reformen den ungeordneten Staatsbankrott
Griechenlands verhindert hat. Damit wurden Deutsch-
(Beifall bei der SPD)
land und auch Europa vor einer schweren Krise bewahrt.
Lassen Sie mich zum Schluss noch zwei weitere Das verdient unseren Respekt und unsere Anerkennung.
Punkte erwähnen: Wir sind davon überzeugt, dass der
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Weg der Renationalisierung, der von Frau Bundeskanz-
lerin Merkel maßgeblich zu verantworten ist, in die Irre Wir ziehen zwei Schlussfolgerungen aus der Staats-
führt. Es gibt nun eine neue Methode, und zwar die schuldenkrise. Wir brauchen ein stärkeres Europa. Ret-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13759
Oliver Luksic
(A) tungspakete darf es nur in äußersten Notfällen, also als gen sagen Sie doch einfach: Teilen Sie die Position oder (C)
Ultima Ratio, geben. Sie dürfen nicht zum Dauerzustand nicht?
werden, sie erkaufen nämlich nur Zeit, um die Ursachen
der Probleme anzugehen. Dafür ist in der Tat entschei- Oliver Luksic (FDP):
dend, dass die Haushalts- und Wirtschaftspolitik in Lieber Kollege Sarrazin, wir teilen diese Position.
Europa schon früher überwacht und, wenn nötig, korri- Wir setzen auf das Europäische Parlament, dass diese
giert wird. wichtige Forderung nicht nur im reaktiven, sondern auch
Um dies zu erreichen, hat die Kommission sechs Ge- so weit wie möglich im präventiven Arm durchgesetzt
setzgebungsvorschläge zur Stärkung des Stabilitätspak- wird.
tes und zur makroökonomischen Überwachung vorge- Es freut mich, dass Sie sich in dieser Sache so enga-
legt. Die FDP-Bundestagsfraktion ist überzeugt, dass die gieren.
Rehn-Vorschläge in die richtige Richtung gehen. Jetzt
geht es darum, auf europäischer Ebene einen Kompro- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
miss zu finden, damit es nicht mehr zu Rettungspaketen Herzlichen Dank, Herr Kollege!)
kommen muss; denn klar ist: Je länger die Politik in die
Ich hätte mir Ihr Engagement auch bei der Enthaltung
falsche Richtung läuft, je länger Reformen verschlafen
zum Euro-Rettungsschirm gewünscht. In dieser wichti-
und je länger zu hohe Schulden gemacht werden, desto
gen Stunde haben Sie sich leider enthalten.
teurer wird es am Ende.
(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Um eine wirksame Prävention zu erreichen, müssen NEN]: Sie teilen die Position, die die Bundes-
die Gemeinschaftsinstitutionen gestärkt werden. Die regierung gerade weghaut! Das ist erstaun-
Sanktionierung von Fehlverhalten muss weitestgehend lich!)
entpolitisiert werden, also aus der Hand der Mitglied-
staaten genommen werden; denn sonst bleiben die Täter Das war daneben.
ihre eigenen Wächter. Der Kompromiss von Deauville
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
darf nicht das letzte Wort bleiben. Wir brauchen weitge-
CDU/CSU)
hend automatisierte und weiter als bisher gehende in
Brüssel verhandelte Sanktionen Ihr Problem mit Leistungsbilanzüberschüssen ist,
dass Sie eine staatsfixierte Weltsicht zugrunde legen. Es
(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Das hat die
ist nicht die Bundesregierung oder der Staat, der festlegt,
Bundesregierung abgelehnt!)
welches Modell wir haben, sondern es sind Unterneh-
(B) gegen die Staaten, die gegen den Stabilitätspakt versto- men, Arbeitnehmer und Konsumenten in Deutschland, (D)
ßen. Wir brauchen einen neuen Stabilitätspakt. Ich setze die über unsere Wirtschaftsstruktur entscheiden. In die-
darauf, dass das Europäische Parlament einiges in diese ser Hinsicht haben Sie leider ein grundsätzliches Pro-
Richtung durchsetzen wird. blem in Ihrem Verständnis. 2010 gingen gerade einmal
0,6 Prozent unseres Exports nach Griechenland. Das
Noch wichtiger als die institutionellen Verfahren in Problem in Griechenland wäre nicht gelöst, wenn statt
Brüssel sind strukturelle Reformen in den Mitgliedstaa- deutschen italienische, russische oder chinesische Pro-
ten. Die geforderte vernünftige makroökonomische Ko- dukte importiert würden.
ordinierung besteht gerade darin, die Wettbewerbsfähig-
keit aller Mitgliedstaaten zu stärken. Ich kann nur Der symmetrische Ansatz, den Sie fordern, hilft bei
wiederholen, was Frau Kudla gesagt hat: Deutschlands der Bewältigung der Problemursachen nicht. Er lindert
Leistungsbilanzüberschüsse sind nicht schuld an den De- nicht einmal die Symptome.
fiziten anderer Mitgliedstaaten. (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Der ist übrigens von Kommissar Rehn!
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Der ist kein Grüner!)
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Unser asymmetrischer Ansatz bedeutet, dass wir uns an
Kollegin Sarrazin? den Besten in der Welt und nicht an den Schwächsten in
Europa orientieren. Kurzum: Ihre Forderung nach einem
Oliver Luksic (FDP): symmetrischen Ansatz in der wirtschaftspolitischen Ko-
Bitte schön. ordinierung bedeutet, Leistungsbilanzüberschüsse abzu-
bauen – da sind Sie sich, von den Grünen bis zur Links-
partei, einig –, aber ich kann Ihnen sagen: Ein Programm
Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
zum Abbau deutscher Exporte und damit zum Abbau
Lieber Herr Kollege Luksic, ist die FDP-Bundestags- deutscher Arbeitsplätze wird unsere Koalition nicht mit-
fraktion dafür, dass sich die Liberalen im Europaparla- machen.
ment mit ihrer Forderung nach einer umgekehrten Mehr-
heit zur Einleitung des Verfahrens im präventiven Arm (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
des Stabilitätspakts durchsetzen? Wenn Sie einen Kom- Im Antrag der Grünen heißt es:
promiss eingehen wollen, dann kann ich Ihnen sagen: Es
gibt in Europa keinen mehr, der gegen diese Position ist, Europa ist kein Durchboxen von Mindermeinun-
außer der von Ihnen getragene Bundesregierung. Deswe- gen.
13760 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011

Oliver Luksic
(A) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, die Bun- (Oliver Luksic [FDP]: Das sagt gerade die (C)
desregierung hat die Beteiligung privater Gläubiger im Linke! Also wirklich! Immer gegen Europa!
ESM-Vertrag verankert. Auch gegen Lissabon!)
(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- – Ich erkläre Ihnen das. Bleiben Sie doch ganz ruhig. Sie
NEN]: Aber das mit der umgekehrten Mehr- können etwas lernen, wenn Sie hier zuhören.
heit, Herr Kollege Luksic, das verhindern nur
Sie!) (Oliver Luksic [FDP]: Das glaube ich nicht!)
Die CACs kommen. Auch beim Thema der Beteiligung Ihre Position, die Sie hier jetzt mehrfach vorgetragen
privater Gläubiger an einem weiteren Griechenlandpaket haben, ist, dass die Außenhandelsungleichgewichte, die
gibt es Bewegung. Nach Ihrem Antrag hätten wir das zu- Leistungsbilanzüberschüsse, überhaupt kein Problem
gunsten der Mehrheitsmeinung aufgeben müssen. Es ist sind und dass dies eine vermeintliche Stärke Deutsch-
gut, dass die Bundesregierung die Minderheitenmeinung lands ist. Das ist ein großer Irrtum. In diesem Punkt be-
in Europa durchgesetzt hat. Das ist gut für Deutschland steht eine große Differenz.
und für den Euro-Raum.
Wenn man alle Außenhandelsüberschüsse Deutsch-
Wenn Sie am Verhandlungstisch säßen, würden Sie lands der letzten zehn Jahren aufaddiert – es hat ja im-
den Krisenländern die notwendigen Reformen ersparen. mer Überschüsse gegeben –, dann erhält man eine
(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Summe in der Größenordnung von 1,2 Billionen Euro.
Sie schwächen den Stabilitätspakt!) Diese 1,2 Billionen Euro Außenhandelsüberschuss sind
und waren nur möglich, weil es auf der anderen Seite
Eine Einsetzung von Euro-Bonds bedeutet, Geld zu ver- Länder gibt, die Außenhandelsdefizite in entsprechender
leihen, ohne die notwendigen Anpassungsprogramme zu Größenordnung haben, das heißt im Klartext, sich ver-
berücksichtigen. Das hilft weder beim Schuldenabbau schulden mussten. Da Deutschland gut 60 Prozent seines
noch beim Thema Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit. Außenhandels mit seinen europäischen Partnerländern
Wir setzen auf Fordern und Fördern, auf Hilfe zur betreibt, ist klar, dass sich die Außenhandelsüberschüsse
Selbsthilfe. Deutschlands vor allen Dingen in einer zunehmenden
Es geht eben nicht, wie Sie es suggerieren, um deut- Verschuldung dieser Länder widerspiegeln. Der Über-
sche Interessen, sondern es geht um die richtigen ord- schuss in Deutschland findet sich also spiegelbildlich in
nungspolitischen Regeln für Europa und für einen stabi- dieser Verschuldung wieder. Insofern muss die Verschul-
len Euro. Deswegen wollen wir die EU und den dung in diesen Ländern – sei es in Griechenland, Portu-
Stabilitätspakt jetzt stärken. Wir wollen mehr und nicht gal oder wo auch immer – immer in einem inneren
(B)
weniger Kontrolle durch die Europäische Kommission Zusammenhang mit der deutschen Wirtschaftspolitik ge- (D)
und das Europäische Parlament. Die Mitgliedstaaten sehen werden. Es kommt also gerade hier von Deutsch-
müssen notwendige Reformen umsetzen, statt auf Brüs- land aus zu einer Verschärfung dieses Problems.
sel zu verweisen. Die spannende Frage ist natürlich, warum es diesen
Ihr Ansatz wäre nicht im deutschen Interesse und Außenhandelsüberschuss überhaupt gibt. Der zentrale
schlecht für Europa. Es ist gut, dass die Bundesregierung Indikator für die internationale Wettbewerbsfähigkeit
ihre Position offensiv einbringt und durchsetzt, wie beim – Frau Kudla, ein paar Indikatoren haben Sie ja aufge-
Thema Gläubigerbeteiligung. Die Gestaltungskraft der führt –, nämlich die Lohnstückkosten, hat mir bei der
Grünen haben wir bei Ihrer Enthaltung zum Rettungs- Betrachtung hier bisher gefehlt. Die Produktivitätsent-
schirm leider vor Augen geführt bekommen. wicklung und die Lohnentwicklung werden quasi in die-
sem Indikator zusammengefasst.
Vielen Dank.
(Thomas Silberhorn [CDU/CSU]: Die wollen
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Sie erhöhen?)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Den Außenhandelsüberschuss gibt es, weil die Lohn-
Das Wort hat nun Michael Schlecht für die Fraktion stückkosten in Deutschland in den letzten zehn Jahren
Die Linke. gerade einmal um 6 Prozent gestiegen sind, während sie
in allen anderen europäischen Ländern um 20 bis 30 Pro-
(Beifall bei der LINKEN) zent gestiegen sind.

Michael Schlecht (DIE LINKE): Hier in Deutschland haben die Unternehmer also
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es steht durch diese sehr schwache Steigerung der Lohnstück-
schlecht um Europa, kosten einen ganz dramatischen Wettbewerbsvorteil ge-
habt.
(Oliver Luksic [FDP]: Was der Herr Schlecht
so sagt!) (Oliver Luksic [FDP]: Sie sind doch immer
noch höher als in Portugal!)
solange die beiden Fraktionen des Deutschen Bundesta-
ges, die die Regierung bilden, die Mehrheit haben; denn Die Ursache dafür liegt darin – das ist eigentlich der
Sie haben Ansichten, die auf die Zerstörung des euro- größte Skandal, den man benennen kann –, dass die
päischen Integrationsprozesses hinauslaufen. Reallöhne in Deutschland in den letzten zehn Jahren um
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13761
Michael Schlecht
(A) 4,5 Prozent gesunken sind. Das ist der zentrale Skandal, Europa braucht ein starkes Deutschland. Das wird in (C)
der hier zu einer massiven Ungerechtigkeit geführt hat. der aktuellen Situation bei der Rettung finanziell ange-
schlagener Mitgliedstaaten der Europäischen Union
(Beifall bei der LINKEN – Oliver Luksic deutlicher denn je. Gott sei Dank hat Europa ein starkes
[FDP]: Das ist doch die Angleichung, die Sie Deutschland. Durch die erfolgreiche Arbeit der christ-
wollen!) lich-liberalen Koalition ist Deutschland vom Bremsklotz
Dieser Skandal führte eben auch dazu, dass sich die zur Lokomotive in Europa geworden. Ich wiederhole:
anderen Länder aufgrund dieser – ich sage es einmal so – vom Bremsklotz zur Lokomotive.
ungeordneten Wettbewerbsvorteile und vor allem der (Beifall bei der CDU/CSU – Michael Roth
Schwächung der Binnennachfrage hier am Ende massiv [Heringen] [SPD]: Wer glaubt Ihnen denn das? –
verschuldet haben. Das Lohndumping in Deutschland ist Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
nicht nur dadurch bedingt, weil es keinen Mindestlohn In welcher Welt leben Sie eigentlich?)
gibt, sondern vor allen Dingen durch die Agenda 2010,
durch den Lohndumpingmechanismus in Form von Befris- Diese Stärke ist aber keineswegs eine Selbstverständ-
tung, Leiharbeit, Minijobs und dem Arbeitslosengeld II, lichkeit. Deutschland ist deswegen wirtschaftlich so leis-
also Hartz IV. Das ist sozusagen die Ursache für diesen tungsfähig, weil es verantwortungsbewusst und erfolg-
Prozess. Dafür trägt Rot-Grün große Verantwortung. Das reich regiert wurde und weiter regiert wird, weil
sind die entscheidenden Ursachen für die jetzige Situa- Deutschland innovative und erfolgreiche Unternehmen
tion. hat und weil wir tüchtige und fleißige Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer in unserem Land haben. Nur des-
Eines muss man ganz klar sagen: Wenn Europa geret-
halb sind wir heute eine echte Stütze im gesamten euro-
tet werden soll, dann brauchen wir in Deutschland eine
päischen Währungsraum.
Umkehr dieser Entwicklung. Wir müssen wieder hin zu
einer ganz anderen Lohnentwicklung kommen. Dies er- Wer sich wie Grüne und Linke in dieser Situation hin-
reichen wir nur, wenn die Agenda 2010 stückchenweise stellt und uns erklären will, dass wir auf europäischer
auf eine vernünftige Ordnung am Arbeitsmarkt zurück- Ebene wirtschaftlich erfolgreich agierende Staaten be-
geführt wird. strafen sollen, der schwächt Deutschland und unter-
Es gibt ferner die Möglichkeit, dass es durch Stärkung schreibt damit das Todesurteil für den Euro und die
der Binnennachfrage mehr Importe gibt. Dann gibt es Europäische Union.
auch die Möglichkeit, dass sich ein Teil der Exportwirt- (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
schaft eher auf binnenländische Verwendungen konzen- NEN]: Sie schwächen doch den Stabilitäts-
(B) triert. Damit lässt sich der Exportüberschuss abbauen. pakt!) (D)
Dadurch ist es möglich, dass die anderen Länder nicht
mehr wie noch heute in die Verschuldung getrieben wer- Vielleicht will das der eine oder andere von Ihnen sogar.
den. Am Ende fragt man sich dann, wie das alles passie- Letztlich waren es doch die Grünen und die SPD, die
ren konnte. 2004 den Stabilitäts- und Wachstumspakt aufgeweicht
haben.
Ich danke Ihnen vielmals.
(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
(Beifall bei der LINKEN) Sie weichen ihn doch gerade auf!)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Die christlich-liberale Koalition hingegen hat das
Nun hat Karl Holmeier für die CDU/CSU das Wort. Ziel, den Euro als dauerhafte und zuverlässige Währung
weltweit zu etablieren.
(Beifall bei der CDU/CSU)
(Christian Lange [Backnang] [SPD]:
Weltweit! Oho!)
Karl Holmeier (CDU/CSU):
Sehr verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen Wir wollen mit verantwortungsbewusster Politik die
und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! wirtschaftliche Säule der Währungsunion stärken, um
Mit dem hier zur Debatte stehenden Antrag haben sich gegen künftige Krisen besser gerüstet zu sein.
die Grünen endgültig als politisch verantwortungsbe-
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Jetzt geht
wusster Partner disqualifiziert.
es los!)
(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Wie bitte? – Zurufe von der SPD: Oh!) Wir wollen die Wettbewerbsfähigkeit in der gesamten
Union verbessern. Hierin sind wir uns mit unseren euro-
Es würde schlecht um Europa stehen, Herr Schlecht, päischen Partnern im Übrigen einig. Das scheint an den
wenn die Linken in unserem Parlament das Sagen hät- Grünen jedoch vorbeigegangen zu sein. Vom Platzenlas-
ten. sen irgendwelcher Kompromisse kann daher keine Rede
sein.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP – Dr. Franz Josef Jung [CDU/ (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
CSU]: Nicht nur hier im Parlament!) NEN]: Sie haben keine Ahnung!)
13762 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011

Karl Holmeier
(A) Es ist geradezu eine Unverschämtheit, der Bundesre- freuen, wenn sich diese Erkenntnis auch bei den Opposi- (C)
gierung vorzuwerfen, sie wolle die Stärkung des Stabili- tionsfraktionen in unserem Parlament durchsetzen
täts- und Wachstumspaktes verhindern. würde. Zum Lernen ist es bekanntlich nie zu spät.
(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vielen Dank.
NEN]: Gerade das machen Sie doch!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Lesen Sie die Schlussfolgerungen des Europäischen Ra-
tes von letzter Woche. Darin steht eindeutig, dass alle Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Mitgliedstaaten fest entschlossen sind, alles Erforderli- Ich schließe die Aussprache.
che zu tun, um den Stabilitäts- und Wachstumspakt un-
eingeschränkt umzusetzen. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu den Legislativvor-
Dabei ist Deutschland übrigens zum Teil bereits über schlägen der Europäischen Kommission zur wirtschafts-
seinen Schatten gesprungen, um mit den anderen Mit- politischen Steuerung in der EU mit dem Titel „Bundes-
gliedstaaten zu einer einvernehmlichen Lösung zu kom- regierung muss unverzüglich europäisch gestalten“. Wer
men; denn auch wir würden eigentlich gern bereits im stimmt für den Antrag auf Drucksache 17/6316? – Wer
präventiven Bereich die sogenannte umgekehrte Abstim- stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit
mung einführen, um einen Automatismus für Warnun- den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen und der
gen und Sanktionen zu ermöglichen. Linken gegen die Stimmen der Grünen bei Stimmenthal-
(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tung der SPD abgelehnt.
NEN]: Das wollen andere Länder auch!) Abstimmung über die Beschlussempfehlung des
In einer Europäischen Union mit 27 Mitgliedstaaten Haushaltsausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die
kann man seine Vorstellungen aber nicht immer voll Linke zu mehreren EU-Vorlagen zur haushalts- und wirt-
durchsetzen. schaftspolitischen Überwachung der Mitgliedstaaten.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Das sagen auf Drucksache 17/6168, den Antrag der Fraktion Die
wir ja auch!) Linke auf Drucksache 17/5904 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Ich denke außerdem, wir sollten uns nicht zu stark auf
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
die umgekehrte Abstimmung im präventiven Arm ver-
Stimmen der vier übrigen Fraktionen bei Ablehnung der
steifen. Die Realität zeigt, dass solche Maßnahmen in
Linken angenommen.
der Praxis weit weniger Bedeutung haben als zunächst
(B) angenommen. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft (D)
und Technologie zu dem Antrag der Fraktion Die Linke
(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zu Verordnungsvorschlägen des Europäischen Parla-
NEN]: Herr Holmeier, Sie blockieren genau ments und des Rates betreffend die Korrektur bzw. die
das!) Vermeidung übermäßiger makroökonomischer Un-
So befinden sich heute bereits 24 der 27 Mitgliedstaaten gleichgewichte. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
in einem Defizitverfahren. Hier konnte die Hürde auch schlussempfehlung auf Drucksache 17/6175, den Antrag
ohne den Automatismus genommen werden. der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/5905 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Außerdem ist das Kompromissangebot zur Aufnahme Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-
einer Überprüfungsklausel, das die europäischen Finanz- empfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD,
minister dem Europäischen Parlament gegenüber in die- FDP und Grünen gegen die Stimmen der Linken ange-
ser Sache gemacht haben, ein faires Angebot, um auch nommen.
hier zu einer einvernehmlichen Lösung zu kommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 20 auf:
(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das findet Ihr Koalitionspartner übri- Aktuelle Stunde
gens lächerlich!) auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
Weit wichtiger als die Durchsetzung der umgekehrten Einschränkung des Versammlungsrechts durch
Mehrheit erscheint mir, im Rahmen der makroökonomi- Massenfunkzellenabfrage
schen Ungleichgewichte nicht Länder wie Deutschland Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen
ins Visier zu nehmen, die erfolgreich sind und sogar Michael Leutert, Fraktion Die Linke, das Wort.
Leistungsbilanzüberschüsse zu verzeichnen haben. Eine
Bestrafung dieser Länder wäre für die gesamte Euro- (Beifall bei der LINKEN)
päische Union absolut kontraproduktiv. Das habe ich
eingangs bereits klargemacht. Michael Leutert (DIE LINKE):
(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am
NEN]: Das will auch keiner!) 19. Februar dieses Jahres war ich in Dresden. Dort
wurde an diesem Tag von vielen Tausenden Bürgerinnen
Hierin sind sich die Staats- und Regierungschef sowie und Bürgern aus Initiativen, Vereinen, Verbänden, Par-
die EU-Finanzminister auch einig. Ich würde mich teien, kirchlichen Gruppierungen und Gewerkschaften
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13763
Michael Leutert
(A) der größte Naziaufmarsch Europas zum wiederholten gen rechts haben möchte, muss unterschreiben, dass sie (C)
Male verhindert. auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grund-
ordnung steht.
(Beifall bei der LINKEN)
(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Und damit
Das ist eine zivilgesellschaftliche Leistung, auf die wir haben Sie Probleme?)
alle stolz sein sollten.
– Nein. Das setzt aber die Vermutung voraus, dass Initia-
(Beifall bei der LINKEN) tiven gegen Nazis nicht auf dem Boden der freiheitlich-
Leider wurde an diesem Tag nicht nur der größte Na- demokratischen Grundordnung stehen könnten. Bis zur
ziaufmarsch Europas verhindert; die Polizei hat auch Kriminalisierung ist es dann nur noch ein kleiner Schritt.
eine der größten Datenabfragen gegenüber den Bürge- (Beifall bei der LINKEN)
rinnen und Bürgern Dresdens gestartet. Fast 1 Million
Handydaten von 330 000 Bürgerinnen und Bürgern Ihnen allen liegt der neue Verfassungsschutzbericht
– das sind ungefähr 10 Prozent der gesamten sächsi- vor. Wenn Sie ihn genau lesen, stellen Sie fest, dass ins-
schen Bevölkerung und zwei Drittel der Dresdnerinnen besondere in Ostdeutschland die Zahl der Straftaten und
und Dresdner – wurden erhoben. Dabei spielte es keine der Organisationsgrad der Nazis zunehmen. Wenn wir
Rolle, wer erfasst wurde. Es wurden Unbeteiligte erfasst. ernsthaft etwas dagegen tun wollen, müssen wir das anti-
Es wurden Demonstranten, Anwälte, Journalisten, Ärzte faschistische Engagement in unserer Gesellschaft als Be-
sowie Mitglieder der Landtage und des Bundestags er- standteil ebendieser Gesellschaft stärken. Daher darf es
fasst. erstens keine weiteren Mittelkürzungen in diesem Be-
reich geben. Zweitens muss klargestellt werden, dass
Diese Vorgehensweise bei der Erhebung der Daten- Instrumente zur Terrorismusbekämpfung nicht gegen zi-
sätze durch die Funkzellenabfrage ist ein klar rechtswid- vilgesellschaftliches Engagement eingesetzt werden dür-
riger Akt, und zwar aus zwei Gründen. Der erste Grund fen.
ist: Eine Funkzellenabfrage ist in gewissem Sinne eine
digitale Rasterfahndung. Die digitale Rasterfahndung ist (Beifall bei der LINKEN)
deshalb hochproblematisch, weil sie in bestimmte Was wäre denn der nächste Schritt, wenn solche Instru-
Grundrechte – ich nenne nur die Unschuldsvermutung mente gegen Antifa-Demonstranten eingesetzt würden?
als Beispiel – eingreift. Sie ist daher nur bei schwersten Drittens hoffe ich, dass sich nach den Vorfällen in Sach-
Verbrechen vorgesehen – dies hat der Gesetzgeber klar sen ab sofort die öffentliche Debatte über die Vorratsda-
definiert –: bei Mord, Totschlag, Kinderpornografie, tenspeicherung erledigt hat.
Hochverrat oder Terrorismus. Ich frage Sie, liebe Kolle-
(B) ginnen und Kollegen: Was haben friedliche Proteste ge- Vielen Dank. (D)
gen Nazis mit diesen Kriterien zu tun? Was hier passiert
(Beifall bei der LINKEN – Helmut Brandt [CDU/
ist, ist nichts anderes als eine beispiellose Kriminalisie-
CSU]: Das könnte Ihnen so passen!)
rung antifaschistischen Engagements.
(Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau:
Die zweite Rechtswidrigkeit, die hier begangen Das Wort hat der Kollege Clemens Binninger für die
wurde, ist: Wir wissen mittlerweile, dass die Funkzellen- Unionsfraktion.
abfrage schon am 18. Februar begonnen wurde, sozusa- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
gen präventiv eingesetzt wurde. Das ist wiederum ein Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Aber jetzt mit
klarer Rechtsbruch. Wir wissen mittlerweile auch, dass Verstand, Herr Binninger, wie immer!)
Gespräche abgehört und SMS mitgelesen wurden.
Wir befassen uns heute im Bundestag damit, weil es Clemens Binninger (CDU/CSU):
sich nicht um eine rein sächsische Angelegenheit han- Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
delt, sondern weil die Ursachen auch auf Bundesebene gen! An meinen Vorredner gerichtet: Angesichts der Er-
zu suchen sind. Ich möchte daran erinnern, dass auf Bun- eignisse, die wir neben der friedlichen Großdemonstra-
desebene seit Jahren ein gesellschaftliches Klima ge- tion, die in der Tat beachtens- und unterstützenswert war,
schaffen wurde, das mit dafür sorgt, dass antifaschisti- an diesem Tag in Dresden ebenfalls erleben mussten,
sches Engagement in unserer Gesellschaft kriminalisiert hätten Sie wenigstens einen Satz zu den vielen verletzten
wird. Polizisten verlieren und die Randale verurteilen müssen;
(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Das ist (Katja Kipping [DIE LINKE]: Sie meinen die
aberwitzig! – Günter Baumann [CDU/CSU]: Übergriffe der Polizei!)
Unverschämt!)
das wäre notwendig gewesen. Aber Fehlanzeige an die-
– Hören Sie mir bitte zu! Dann werden Sie es vielleicht ser Stelle, wie immer!
verstehen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Es gibt seit einiger Zeit die sogenannte Extremismus- Michael Leutert [DIE LINKE]: Damit wurde
klausel; diese haben Sie durchgesetzt. Das heißt, jede zur DDR-Zeit der Unterdrückungsapparat
Initiative, die vom Bund Fördergelder für Aktionen ge- auch gerechtfertigt!)
13764 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011

Clemens Binninger
(A) Heute hat der Bundesinnenminister den Verfassungs- Sie wurde übrigens genau so durchgeführt, wie es das (C)
schutzbericht 2010 vorgestellt. Eine der zentralen Aussa- Gesetz vorsieht:
gen dieses Berichtes lautet: Die Gewaltbereitschaft von
(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Rechtsextremisten und Linksextremisten nimmt in ei-
Nein, nein, nein! Das ist das Problem!)
nem besorgniserregenden Maße zu.
auf Antrag der Staatsanwaltschaft, angeordnet von ei-
(Katja Kipping [DIE LINKE]: Das ist eine
nem Richter. Jetzt wird versucht, diese Maßnahme zu
Verharmlosung der Nazigewalt!)
skandalisieren.
Es gibt kaum noch Hemmungen, Gewalt auszuüben. Wir
stehen am Beginn einer möglicherweise verhängnisvol- (Lachen und Widerspruch bei der LINKEN –
len Gewaltspirale. Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Herr Binninger, der Polizeipräsi-
Der 19. Februar 2011 in Dresden war, abgesehen von dent ist zurückgetreten!)
der friedlichen Großdemonstration, die zu Recht unsere
Unterstützung verdient, leider ein Tag, der diese These – An die Adresse der Linken: Wenn Sie mit unserer
belegt hat. Strafprozessordnung ein Problem haben, dann sagen Sie
es einfach. Aber versuchen Sie nicht, irgendetwas vorzu-
(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Zum täuschen.
Thema!)
(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei
Dieser Tag wurde von einigen Chaoten bedauerlicher- der LINKEN – Dr. Konstantin von Notz
weise zu einer Gewaltorgie umfunktioniert: Steinwürfe, [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist zu in-
brennende Barrikaden, mehr als 100 verletzte Polizeibe- different!)
amte, über 600 Straftaten, mehr als 23 Fälle schweren
Landfriedensbruchs. Jetzt stürzt man sich auf die unbestreitbar große Zahl
der dabei gewonnenen Handydaten, der Telefonnum-
(Michael Leutert [DIE LINKE]: Wo die Poli- mern; man erhält weder Inhalte noch Informationen über
zei noch nicht eine Anzeige gemacht hat! Ab-
die Anschlussinhaber. Einige Tausend Daten wurden so
surd ist das!)
generiert.
Da hat in Dresden eine kleine Minderheit mit ihrer Ge-
waltbereitschaft das gute Anliegen einer großen Mehr- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
heit diskreditiert und für eine Gewaltorgie gesorgt. Das GRÜNEN]: Millionen!)
müssten wir genauso verurteilen. Diesbezüglich war bei Darauf stürzt man sich jetzt.
Ihnen an dieser Stelle aber Fehlanzeige.
(B) Man muss sich fragen: Ist das in der Strafprozessord- (D)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – nung vorgesehen oder nicht?
Katja Kipping [DIE LINKE]: Trotzdem noch
Handygate!) (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Es ist nicht vorgesehen!)
Die mehr als 600 Straftaten, die größtenteils ver-
mummt begangen wurden, müssen jetzt von der Polizei Ich sage Ihnen deutlich: Dieses Vorgehen ist nicht ausge-
und der Staatsanwaltschaft aufgeklärt werden. Polizei schlossen. Die Menge dieser Daten ergibt sich allein aus
und Staatsanwaltschaft in Dresden haben sich dazu einer dem Tatort, aus der Tatzeit und aus der Anzahl der anwe-
Ermittlungsmethode bedient, die wir mit der großen senden Personen.
Mehrheit dieses Hauses in § 100 g Strafprozessordnung
(Michael Leutert [DIE LINKE]: Warum ent-
beschlossen haben. Es handelt sich also um geltendes
lassen Sie dann den Polizeipräsidenten in
Recht; das muss man an dieser Stelle dazusagen.
Dresden? – Zuruf des Abg. Jerzy Montag
(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: So ist das! – [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Michael Leutert [DIE LINKE]: Bei Mord, Tot-
schlag, Terrorismus!) – Herr Kollege Montag, wenn man eine solche Maß-
nahme in einer Großstadt zur Tageszeit am Rande einer
Mit der Funkzellenauswertung ist es möglich, festzu- Großveranstaltung durchführt, dann ist es fast zwangs-
stellen, wessen Handy zur Tatzeit am Tatort war. Diese läufig, dass mehr Daten generiert werden, als wenn man
Maßnahme wurde angewandt. die gleiche Maßnahme zur Nachtzeit in einem Industrie-
(Kirsten Lühmann [SPD]: Aber nur erlaubt bei gebiet durchführt.
schweren Straftaten!) (Katja Kipping [DIE LINKE]: Sie wollen
Sie ist bei erheblichen Straftaten zulässig. Ein besonders wohl die totale Überwachung!)
schwerer Fall des Landfriedensbruchs ist eine erhebliche Jetzt wird gesagt: Das Vorgehen war nicht verhältnis-
Straftat. mäßig. Das mag eine Rechtsfrage sein. Tatsache ist:
(Kirsten Lühmann [SPD]: Nein! Wer sagt Diese Maßnahme wurde so durchgeführt, wie es in der
das?) Strafprozessordnung vorgesehen ist. Es gibt keinen
Grund, sie zu skandalisieren. Wenn Sie diese Maßnahme
Das ist überhaupt keine Frage. Dies ist eine zulässige Er-
als solche ablehnen, da Sie sie aus rechtspolitischen
mittlungsmethode.
Gründen nicht wollen, etwa weil Sie gegen den § 100 g
(Beifall bei der CDU/CSU) der Strafprozessordnung sind, dann muss man entspre-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13765
Clemens Binninger
(A) chende Vorlagen einbringen. Aber die Durchführung „Wer“ meint die Telefonnummer. (C)
dieser Maßnahme nach Antrag der Staatsanwaltschaft
und nach Genehmigung durch einen Richter ist kein (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Nur die
Grund, sie zu skandalisieren. Telefonnummer!)

Karin Schlottmann schreibt heute in der Sächsischen – Das ist richtig, die Telefonnummer.
Zeitung sinngemäß, was die Bewertung der gesamten (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Nicht
Debatte angeht, sehr treffend: Ein Teil der Kritiker hat mehr!)
offensichtlich zu wenig Wissen über die Rechtslage und
die Möglichkeiten, die Polizei und Justiz haben, Ich gebe zu: Dieses Vorgehen erzeugt bei mir wirklich
eine ganz massive Gänsehaut.
(Lachen und Widerspruch bei der LINKEN)
(Helmut Brandt [CDU/CSU]: Lassen Sie Ihr
und der andere Teil der Kritiker versucht, diesen Anlass Handy zu Hause!)
zu skandalisieren, ihn zu benutzen. Beides ist nicht zu-
lässig. Sie, meine Damen und Herren von den Linken, – Sie sagen: Lassen Sie Ihr Handy zu Hause! Überprüfen
gehören zu beiden Teilen. Stellen Sie Ihre Versuche ein! Sie bitte Ihr Verhältnis zum Grundgesetz und zu Grund-
Es glaubt Ihnen sowieso niemand. rechten wie dem Demonstrationsrecht!
Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD und der LINKEN)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Es kann ja wohl nicht wahr sein, dass ich mein Demon-
neten der FDP – Katja Kipping [DIE LINKE]: strationsrecht wahrnehme und indirekt ins Visier der
Eine „Sternstunde“ für die Bürgerrechte!) Polizei gerate. Bei mir stellt sich das Gefühl ein: Ich
werde hier kriminalisiert. Im Zusammenhang mit der
Vizepräsidentin Petra Pau: Demonstration am 19. Februar in Dresden hatte ich das
Gefühl auch schon vorher.
Das Wort hat die Kollegin Daniela Kolbe für die
SPD-Fraktion. (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Reden wir
(Beifall bei der SPD) über Gefühle oder über Tatsachen?)
Da wurde öffentlich durchaus kritisch gegenüber denen
Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD): diskutiert, die friedlich gegen Nazis demonstrieren woll-
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen ten.
(B) und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich Ja, es ist nicht wegzudiskutieren: Von den Gegende- (D)
weiß nicht, wer von Ihnen sich noch daran erinnern monstrationen ist erhebliche Gewalt ausgegangen,
kann, wo er am 19. Februar 2011 war. Es war ein Sams-
tag, es war ziemlich kalt, und ich war wie einige andere (Helmut Brandt [CDU/CSU]: Eben! Darum
hier im Saal in Dresden und habe friedlich gegen Neo- geht es doch!)
nazis demonstriert. Ich gebe zu: Ich habe mich wie eine
gute Demokratin gefühlt. Ich habe mein Demonstra- auch schwerer Landfriedensbruch.
tionsrecht wahrgenommen. (Helmut Brandt [CDU/CSU]: Nur darum geht
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE es! – Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Was sind Ihre
GRÜNEN]: Genau!) Vorschläge, wie man damit umgeht?)

Ich habe mich Verfassungsfeinden in den Weg gestellt, Die Polizei muss da ermitteln. Allerdings hätte ich mir
Menschen, die anderen Menschen ihr Lebensrecht aber- gewünscht, dass die Polizei schon vor Ort hätte ermitteln
kennen und eine Ideologie vertreten, die ich nur als auf können. Ich habe leider nicht die Zeit, zur Polizeitaktik
die Straße bringend empfinden kann. Wenn Nazis auf die zu sprechen,
Straße gehen, dann gehe ich auch. Da waren noch (Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Haben Sie
10 000 und mehr Menschen, die das genauso gemacht Anzeigen erstattet? Auch nicht! Auch keine
haben, zumeist friedlich: MdBs, MdLs, Anwälte, Jour- Zeit dazu gehabt!)
nalisten, Touristen und auch Menschen, die in Dresden
leben. die ich nicht den Polizeibeamten vor Ort anlaste.
Wo genau in Dresden ich mich aufgehalten habe, er- Eine Möglichkeit – das stimmt – ist der § 100 a StPO.
frage ich gerade bei der Dresdner Polizei; Man kann bei schweren Straftaten eine Funkzellenab-
frage machen, um genau diese Daten zu erheben.
(Beifall bei der LINKEN)
(Helmut Brandt [CDU/CSU]: Ja! Versuchter
denn jetzt, vier Monate später, erfahren wir: Im Nach- Totschlag! Landfriedensbruch!)
gang zu dieser Demonstration sind in zwei Schritten
1 Million Daten erfasst worden, Handydaten: Wer war Ob schwerer Landfriedensbruch diesen Tatbestand er-
wann wo eingeloggt? füllt,
(Helmut Brandt [CDU/CSU]: Aber mehr (Kirsten Lühmann [SPD]: Das ist mindestens
nicht!) problematisch!)
13766 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011

Daniela Kolbe (Leipzig)


(A) das mögen andere entscheiden; ich bin keine Juristin. mit ich mein Demonstrationsrecht wieder wahrnehmen (C)
Aber selbst wenn er erfüllt ist, sehe ich zwei Probleme: und auch in den Baumarkt gehen kann, ohne mich über-
wacht fühlen zu müssen.
Das erste Problem: Die Ergebnisse der Funkzellenab-
frage sind auch in Akten von Menschen aufgetaucht, die Dieses Grundvertrauen würde auch hergestellt, wenn
wegen definitiv nicht schwerer Straftaten angezeigt wor- endlich die politische Verantwortung übernommen
den sind bzw. gegen die ermittelt worden ist, zum würde. Hier ist der sächsische Innenminister, Herr Ulbig,
Beispiel wegen des Verstoßes gegen das Versammlungs- am Zug. Ich bin gespannt, wann auch er das endlich ein-
gesetz. Es ist ein Skandal, dass das in Deutschland vor- sieht.
kommt.
(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) GRÜNEN)
Erst dadurch, dass das als rechtswidrig erkannt worden
ist, ist es an die Öffentlichkeit gekommen und zurückge- Vizepräsidentin Petra Pau:
nommen worden. Die Gänsehaut bei mir bleibt trotzdem Das Wort hat die Kollegin Piltz für die FDP-Fraktion.
angesichts dessen, wie der Staat mit Menschen und mit
Daten umgeht. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Das zweite Problem: die Verhältnismäßigkeit. Es gab
einen Bericht des sächsischen Justizministers und des
Gisela Piltz (FDP):
sächsischen Innenministers an Herrn Tillich. Darin steht
zu den ersten 200 000 Daten, was die Verhältnismäßig- Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
keit angeht: Dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gen! Es ist doch immer wieder erstaunlich, dass man
wurde in besonderem Maße durch die dezidierten zeitli- sich am späten – oder am frühen, je nachdem – Freitag-
chen und räumlichen Einschränkungen im richterlichen nachmittag hier Dinge anhören muss, von denen die
Beschluss Rechnung getragen. Kollegen offensichtlich glauben, dass sie sonst keiner
mitbekommt.
Im Endeffekt sind es jetzt 200 000 plus 800 000 Da-
ten wegen irgendeiner anderen Straftat; wir wissen nicht (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
genau, weshalb diese Daten erhoben worden sind. Es NEN]: Wir sind auf Phoenix!)
sind 1 Million Daten vom 18. und 19. Februar aus ver- Frau Kolbe, es war schon interessant, was Sie hier ge-
schiedensten Orten der Stadt. Einmal flapsig zusammen- liefert haben. Ich stelle fest: Sie bekommen eine Gänse- (D)
(B) gefasst: Zwei Tage ist die halbe Stadt Dresden – mit
haut, wenn Daten gesammelt werden. Dann frage ich
mehreren Tausend Menschen, die dazugekommen sind – mich, wie Sie eigentlich Mitglied Ihrer Fraktion sein
überwacht worden. Das wird als verhältnismäßig be- können,
zeichnet. Das kann nur sächsische Verhältnismäßigkeit
sein. (Zurufe von der SPD und der LINKEN)
(Beifall bei der SPD und der LINKEN – wenn die Innenminister, die der SPD angehören, und der
Helmut Brandt [CDU/CSU]: Wir wollen doch innenpolitische Sprecher der SPD ganz großartig erklä-
die Sachsen nicht beleidigen!) ren, man müsse die Vorratsdatenspeicherung unbedingt
wieder einführen, und zwar für sechs Monate, und mög-
Ich persönlich glaube, dass hier zwischen der Wahrung
lichst viele Daten sammeln.
der Persönlichkeitsrechte und der Strafverfolgung
schlecht, wirklich schlecht abgewogen worden ist. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Beides, dass Daten in Akten vorkamen, in die sie NEN]: Wir müssen Ihnen leider recht geben! –
nicht gehören, und diese massive Datensammlung, löst Zuruf von der FDP: Hört! Hört!)
bei mir einen schalen Nachgeschmack aus. Was jetzt nö- Ich kann mich nicht erinnern, dass ich Ihre Stimme ge-
tig ist, ist Aufklärung. Wir müssen dringend die zahlrei- hört hätte
chen offenen Fragen aufklären. Das muss im sächsi-
schen Parlament geschehen. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Insbesondere der
Landfriedensbruch! – Günter Baumann [CDU/ bzw. die Beschreibung des klinischen Zustandes Ihrer
CSU]: Das ist aber kein Bundesthema, sondern Gänsehaut. Das habe ich wirklich vermisst.
Landtagsthema! – Gegenruf des Abg. Jerzy
Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ist auch interessant, wenn Sie sich hier hinstellen
Doch!) und sagen: Ob schwerer Landfriedensbruch eine Voraus-
setzung für eine Funkzellenabfrage ist oder nicht, weiß
Ich sage Ihnen auch, warum diese Aufklärung nötig ich nicht. – Ein Blick ins Gesetz erleichtert die Rechts-
ist. Ich empfinde es so, dass hier das Grundvertrauen findung. Das lernt man im ersten Semester. Es wäre
zwischen dem Bürger, der sein Demonstrationsrecht schön, wenn man dies auch in der ersten Legislatur-
wahrnimmt, und dem Staat ein Stück weit bröcklig ge- periode im Parlament lernen würde. Es ist nämlich so.
worden ist. Die Fragen müssen beantwortet werden, da- Schönen Gruß vom Gesetz.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13767
Gisela Piltz
(A) (Kirsten Lühmann [SPD]: Das steht nicht im Es ist selbstverständlich, dass sich Vorfälle wie die in (C)
Gesetz!) Dresden nicht wiederholen dürfen, Vorfälle – das muss
man leider sagen –, bei denen auch rechtswidrig gehan-
Interessant finde ich auch, dass § 100 g StPO, gegen delt worden ist.
den Sie jetzt so viel Gänsehaut entwickeln, auch von der
SPD verabschiedet worden ist. (Daniela Kolbe [Leipzig] [SPD]: Das ist doch
mal ein wahrer Satz!)
(Zuruf der Abg. Daniela Kolbe [Leipzig]
[SPD]) Genauso selbstverständlich ist es aber, dass auch De-
monstrationen gegen Nazis keine Rechtfertigung dafür
Das ist sehr spannend und zeigt, wie Ihr Verhältnis zum bieten dürfen, Gewalt anzuwenden.
Rechtsstaat wirklich ist. Die Innenminister dürfen die
Vorratsdatenspeicherung fordern, und Sie bekommen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Gänsehaut. Viel Spaß dabei!
Wer diese Position verteidigt, darf hinterher nicht nach
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten dem Schutz der Versammlungsfreiheit schreien. Entwe-
der CDU/CSU) der, oder – beides passt nicht zusammen. Ich wundere
mich, dass Sie in diesem Zusammenhang das Wort
Ebenfalls erstaunlich ist, dass die Fraktion der Linken „Rechtsstaat“ überhaupt noch in den Mund nehmen.
sich hier immer so aufspielt, als sei gerade sie die Hüte-
rin des Rechtsstaates. Zur Sache selbst nur so viel: Der Vorfall – das ist be-
reits gesagt worden – muss vom Sächsischen Landtag
(Michael Leutert [DIE LINKE]: Was kommt und der sächsischen Landesregierung umfassend aufge-
denn jetzt? – Weitere Zurufe von der LIN- klärt werden. Das ist Sache der zuständigen Gremien im
KEN) Lande. Es ist anmaßend, wenn manche Kollegen mei-
nen, darüber könnten wir hier entscheiden. Im Übrigen
Wenn man Ihnen zuhört, bemerkt man ganz deutlich, hat der Bundestag nicht die Dienstaufsicht über die
dass es Ihnen um das Gegenteil geht. Herr Leutert – das Dresdner Polizei, und das ist auch gut so.
haben Sie sehr deutlich gemacht –: Es ging Ihnen nicht
um das Versammlungsrecht oder um friedliche Demon- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
strationen, sondern es ging Ihnen um „die beispiellose der CDU/CSU)
Diskriminierung antifaschistischen Engagements“.
Es ist gut, dass der Polizeipräsident die Konsequenzen
(Michael Leutert [DIE LINKE]: Korrekt! Was gezogen hat und zurückgetreten ist. Wir sagen auch, dass
(B) haben Sie denn dagegen?) sich ein solcher Vorfall aus unserer Sicht nicht wiederho- (D)
len sollte.
– Ich habe überhaupt nichts dagegen.
Natürlich hat es Auswirkungen auf die Versamm-
(Michael Leutert [DIE LINKE]: Was regen Sie lungsfreiheit, wenn man damit rechnen muss, dass alle
sich dann so auf?) Daten ausgewertet werden. Diese mittelbare Einschrän-
Ein Schelm, der nicht auf die Idee kommt, dass Sie kung der Versammlungsfreiheit ist schwerlich hinzuneh-
mit dieser Bugwelle, die Sie vor sich herschieben, etwas men; aber wir leben weder in einem Staat, der das er-
vertuschen wollen. Es wäre besser gewesen, Sie hätten laubt, noch in einem Staat, in dem das die Regel ist. Das
eine Aktuelle Stunde zum Linksextremismus beantragt. ist ein extremer und, soweit ich weiß, ein Einzelfall. Es
wäre besser, wenn das gar nicht passiert wäre.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Wir werden genau hinschauen, welche Konsequenzen
Zurufe von der LINKEN)
wir für die StPO ziehen müssen. Die sächsische Landes-
Man könnte auf die Idee kommen, Sie wollten Ihr nicht regierung hat eine Initiative im Bundesrat angekündigt.
geklärtes Verhältnis zum Antisemitismus vertuschen. Wir werden prüfen, was notwendig ist. Ich würde mich
Darum geht es Ihnen doch eigentlich. freuen, wenn wir hier eine sachliche Debatte darüber
führen könnten
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zu-
ruf von der FDP: Warum klatschen denn die (Michael Leutert [DIE LINKE]: Warum haben
Kollegen von der SPD nicht? – Zurufe von der Sie das nicht gemacht?)
LINKEN)
und wenn wir dafür einen anderen Anlass als heute hät-
Es ist selbstverständlich – ich glaube, da sollte sich ten.
das Hohe Haus einig sein –, dass die Versammlungsfrei-
Vielen Dank.
heit ein hohes Gut in diesem Rechtsstaat ist.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
(Zuruf der Abg. Katja Kipping [DIE LINKE]) Michael Leutert [DIE LINKE]: Warum haben
– Wissen Sie, nur weil Sie laut schreien, haben Sie nicht Sie denn jetzt keine sachlichen Argumente ge-
recht. bracht? – Gegenruf des Abg. Günter Baumann
[CDU/CSU]: Weil wir gar nicht zuständig
(Zurufe von der LINKEN) sind! Das ist Landessache! Ganz klar!)
13768 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C)
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der und bei der LINKEN)
Kollege Jerzy Montag das Wort.
Deswegen ist es wichtig, dass wir über diese Grund-
rechtsverletzungen hier, an dieser Stelle, diskutieren.
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist keine Landesangelegenheit.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bei dieser Debatte geht es in erster Linie – so hat es die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Linke gewollt, und darauf will ich eingehen – um das bei der SPD und der LINKEN)
Versammlungsrecht. Deswegen steht diese Frage für Die gesetzlichen Vorgaben sind nicht so klar, wie Sie
mich im Mittelpunkt und an erster Stelle. meinen. Die Funkzellenabfrage ist nur erlaubt bei ganz
Am 13. Februar dieses Jahres haben Neonazis zu bestimmten Telefonnummern. Es gibt dazu eine Ausnah-
Hunderten oder gar Tausenden in Dresden demonstriert. mevorschrift. Diese Ausnahmevorschrift ist aber an ganz
Sie haben dies eine Woche später, am 19. Februar, wie- enge Voraussetzungen geknüpft. Diese engen Vorausset-
derholt. Was wünschen wir Abgeordnete, was wünscht zungen sind im vorliegenden Fall offensichtlich miss-
sich der Deutsche Bundestag in so einer Situation von achtet worden. In die Begründung des Entwurfes eines
den Menschen in unserem Land? Dass sie Zivilcourage Gesetzes zur Neuregelung der Telekommunikations-
zeigen, dass sie aufstehen, dass sie sich den Neonazis in überwachung haben Sie, meine Damen und Herren von
der Union und der SPD, in der letzten Legislaturperiode
den Weg stellen, dass es Demonstrationen gibt. Diese
in Bezug auf § 100 g Strafprozessordnung geschrieben:
Demonstrationen hat es gegeben. In Dresden haben viele
Wenn bei dieser Ausnahmevorschrift der Funkzellenab-
Tausende demonstriert. Deswegen will ich mich von die- frage mit Drittbetroffenheit unzumutbar viele Dritte be-
ser Stelle aus ausdrücklich bedanken und meine Hoch- troffen sind, dann muss von dieser Maßnahme Abstand
achtung vor all denjenigen ausdrücken, die dort demon- genommen werden.
striert haben.
Genau das Gegenteil ist in Dresden geschehen. Es ist
(Beifall im ganzen Hause) nicht Abstand genommen worden, obwohl fast 1 Million
Ebenso ist völlig klar – auch das muss angesprochen Dritte betroffen waren. Man hat es sehenden Auges ge-
werden; das dürfen Sie nicht verschweigen oder ver- tan. Es ist doch klar, dass man, wenn man in einer gro-
schämt im Nebensatz sagen, Kollegen von der Linken –, ßen Stadt am Ort und zum Zeitpunkt einer großen De-
dass es an diesem 19. Februar schwere Straftaten gege- monstration solche Abfragen startet, hundertausendfach
ben hat, auch mit vielen verletzten Polizisten. Ich will unschuldige, nicht betroffene Dritte in diese Maßnahmen
sagen: Das ist für uns nicht hinnehmbar. Ich erkläre einbezieht. Deswegen hätte diese Maßnahme unterblei-
(B) meine Hochachtung auch vor den Polizeibeamten, die ben müssen. (D)
verletzt worden sind. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall im ganzen Hause) und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
der SPD)
Diese Straftaten müssen mit den Mitteln des Gesetzes
verfolgt werden. Weil das nicht geschehen ist, werden wir uns hier
nach der Sommerpause darüber unterhalten müssen – die
Was ist aber stattdessen passiert? Es sind an 14 Plät- Grünen werden dazu Vorschläge machen –, was an der
zen in Dresden innerhalb bestimmter Zeiträume von der Strafprozessordnung, einem Bundesgesetz, geändert
einen Polizeieinheit fast 140 000 Kommunikationsvor- werden kann und muss, damit sich solche Vorfälle nicht
gänge und von einer anderen Polizeieinheit, von der des wiederholen.
Landeskriminalamtes, mehrere Hunderttausend Kom-
munikationsvorgänge, zusammen fast 1 Million Kom- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
munikationsvorgänge, abgefischt worden. Das sind fast und bei der LINKEN)
1 Million Grundrechtsbeeinträchtigungen. Das ist in ei-
nem unglaublichen und monströsen Ausmaß ein Eingriff Vizepräsidentin Petra Pau:
in die Grundrechte von Bürgerinnen und Bürgern, und Das Wort hat der Kollege Professor Dr. Sensburg für
zwar nicht nur in das Grundrecht der informationellen die Unionsfraktion.
Selbstbestimmung, sondern auch in das Grundrecht der
Versammlungsfreiheit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU):
LINKEN) Herr Kollege Montag, ich möchte Ihnen für die ein-
führenden Worte zur Zivilcourage der Personen, die in
Es ist doch völlig klar: Wenn Bürgerinnen und Bür- Dresden demonstriert und gezeigt haben, dass sie so et-
ger, die nichts Unrechtes tun, die nur ihr Grundrecht auf was, wie es in Dresden geplant war, nicht akzeptieren,
Demonstrationsfreiheit geltend machen, in einem sol- ganz herzlich danken. Ich möchte mich auch für die
chen Ausmaß in polizeiliche Ermittlungen einbezogen Worte an die Polizei bedanken, die nämlich nicht nur
werden und wissen, dass das geschieht, dann beeinträch- dazu da ist, Straftaten zu verfolgen, sondern auch dazu,
tigt das das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit. Das solche Demonstrationen zu ermöglichen, es Menschen
liegt doch absolut auf der Hand. zu ermöglichen, von ihrem Demonstrationsrecht Ge-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13769
Dr. Patrick Sensburg
(A) brauch zu machen. Deswegen ist es, glaube ich, richtig, Sie haben gerade bezweifelt, dass es sich um Einzelfälle (C)
hier diese Worte auszusprechen. Dafür herzlichen Dank. handelte. Es kam zu 57 Fällen von Landfriedensbruch
und 112 Körperverletzungen an Polizeibeamten.
Die juristischen Schlussfolgerungen, die Sie gezogen
haben, kann ich allerdings nicht teilen. (Michael Leutert [DIE LINKE]: Am 19.! Aber
(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nicht schon am 18.! Sie haben sie schon am
NEN]: Schade! Richtig schade!) 18. geholt!)

Ich muss auch ganz ehrlich sagen: Diese von den Linken Sie werden es wahrscheinlich als nicht erheblich einstu-
beantragte Aktuelle Stunde zeigt, dass sie eine Täu- fen, wenn es um Polizeibeamte geht. Was sagen Sie zu
schungstaktik betreiben. Sie probieren, das Versamm- 112 Körperverletzungen an Polizeibeamten und zu
lungsrecht, das wir schützen und ermöglichen wollen, 78 Sachbeschädigungen? Auf einen Polizeibeamten ist
mit Straftaten, die es zu verfolgen gilt, zu vermischen. übrigens eine Eisenstange geworfen worden. Sie ist am
Wir müssen trennen: Versammlungsrecht auf der einen Helm abgeprallt. Dazu kann ich nur sagen: Das sind er-
Seite und die Straftaten, die die Polizei verfolgen muss hebliche Straftaten. Hier galt es, die Täter zu ermitteln.
und soll, auf der anderen Seite. Das war erforderlich. Ein Großteil der Personen ist näm-
lich vermummt gewesen.
(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Dann
trennen Sie das doch!) (Zuruf der Abg. Katrin Werner [DIE LINKE])
Das sollten Sie nicht zusammenwerfen, sonst wird die Da frage ich auch die Kollegin Kolbe: Haben Sie
Polizei nicht der Aufgabe gerecht, Demonstrationen zu denn Anzeige erstattet? Ist denn von Ihnen, die Sie mit-
ermöglichen. demonstriert haben, Anzeige gegen die Täter erstattet
(Michael Leutert [DIE LINKE]: Sie haben worden?
dies doch zusammengeworfen! – Dr. Kirsten
(Michael Leutert [DIE LINKE]: Die Polizei
Tackmann [DIE LINKE]: Lesen Sie den Satz
noch einmal nach!) hat noch nicht mal ermittelt!)

Wenn Sie sich Art. 8 des Grundgesetzes einmal an- Anscheinend nicht. Welche Ermittlungsmaßnahmen
schauen, dann werden Sie merken, dass das Versamm- bleiben denn dann übrig? Dann ist die Nutzung der
lungsrecht unter dem Vorbehalt steht, dass die Versamm- Funkzellendaten eine Maßnahme, um zu ermöglichen,
lung friedlich und ohne Waffen stattfindet. dass die Straftaten aufgeklärt werden können,
(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Karin Binder [DIE LINKE]: Mord und Tot-
(B) NEN]: Aber mit Handys, Herr Professor schlag! – Weitere Zurufe von der LINKEN) (D)
Sensburg! Ihr Kollege hat gerufen, man müsse
die Handys zu Hause lassen!) und darum geht es der Polizei.

Wenn eine Versammlung nicht friedlich stattfindet, dann Wie viele Taten sind unterm Strich tatsächlich ver-
muss das Versammlungsrecht geschützt werden und es folgt worden? Es wird bisher in 330 Verfahren gegen be-
muss möglich sein, dass die Polizei Ermittlungsmaßnah- kannte Straftäter und in 354 Verfahren gegen bisher noch
men gegen die Straftäter durchführt. nicht bekannte Straftäter ermittelt. Übrigens sind insge-
samt 223 Verfahren bereits bei der Staatsanwaltschaft
(Zurufe von der LINKEN) eingeleitet worden. Da wollen wir doch einmal abwar-
Es haben Ermittlungsmaßnahmen stattgefunden, und ten, was bei diesen Verfahren herauskommt.
diese waren rechtmäßig.
Ich finde, Sie sollten Ihre Täuschungstaktik unterlas-
Ich muss sagen: Ein Abfischen oder ein Phishing sen. Sie werfen das Versammlungsrecht, das wir gewähr-
– diesen Eindruck wollten Sie wahrscheinlich mit dem leisten wollen, und die Verfolgung von Straftaten durch-
Wort „Abfischen“ erwecken – hat mit Sicherheit nicht einander,
stattgefunden, wenn im Rahmen des § 100 g Strafpro-
zessordnung in Verbindung mit dem TKG Daten (Karin Binder [DIE LINKE]: Um welche Straf-
taten geht es denn, Herr Kollege?)
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: 1 Million Daten!) indem Sie so tun, als wollten wir mit der Verfolgung von
Straftaten Versammlungen unmöglich machen. Ganz im
zur Verfolgung erheblicher Straftaten im Einzelfall erho-
Gegenteil: Dadurch werden sie erst möglich gemacht.
ben worden sind,
Dass Sie jetzt hier so viel dazwischenrufen, zeigt doch
(Zuruf von der LINKEN: Im Einzelfall?) nur Ihr gestörtes Verhältnis zur Rechtsordnung und zum
Rechtsstaat.
und dies nur dann, wenn es erforderlich war.
(Michael Leutert [DIE LINKE]: Und dies (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
am 18.!) Lachen bei der LINKEN)
Erhebliche Straftaten lagen vor. Sonst würden Sie das doch nicht machen, sondern uns
unterstützen.
(Michael Leutert [DIE LINKE]: Am 18.?
Reden Sie doch einmal dazu!) (Widerspruch bei der LINKEN)
13770 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011

Dr. Patrick Sensburg


(A) Die Beantragung der Aktuellen Stunde ist durchschau- festgestellt hat, dass der Einsatz am 19. Februar Chefsa- (C)
bar. § 100 g der Strafprozessordnung ist verfassungsge- che war. „Chefsache“ heißt, er hatte den Hut auf, er hat
mäß und verhältnismäßig eingesetzt worden. Das müs- die Einsatzlinien festgelegt, und er war über alles infor-
sen auch Sie akzeptieren. miert: über 20 000 friedlich Demonstrierende, über ver-
letzte Polizeibeamte, über Rechtsextreme, die einen
Ich danke Ihnen ganz herzlich für die Aufmerksam- Treffpunkt von Jugendlichen überfallen haben, und über
keit. Linksextreme, die Pkws angezündet haben. Anschlie-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ßend – so beschreibt er es in seinem Bericht – hatte er
23 Fälle von schwerem Landfriedensbruch festgestellt
und, weil er meinte, diese Straftaten seien von erhebli-
Vizepräsidentin Petra Pau: cher Bedeutung, eine Funkzellenauswertung beantragt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestatten Sie mir
eine kurze geschäftsleitende Bemerkung. Da jetzt mehr- Kollege Sensburg, hier geht es nicht darum, was wir
mals der Wunsch nach weiteren Wortmeldungen an mich beide persönlich als schwere Straftat erachten. Wenn wir
herangetragen wurde, weise ich darauf hin, dass wir uns die Menschen fragen würden, deren Autos angezündet
in der Aktuellen Stunde befinden. Ich weiß, es tut allen wurden, würden sie diese Tat als schwerwiegend anse-
Beteiligten leid, dass es nicht möglich ist, Zwischenfra- hen. Hier stellt sich aber die Frage: Was sehen der Ge-
gen zu stellen, Zwischenbemerkungen zu machen oder setzgeber und das Bundesverfassungsgericht als schwer-
gar mit Kurzinterventionen auf persönliche Anwürfe wiegende Straftat an? Dies ist leider nicht so eindeutig.
einzugehen. Aber so sind nun einmal die Regeln. Wenn Das heißt, dass die Bedingungen im Hinblick auf die Ka-
Sie es anders wollten, müssten Sie eine Debatte zu die- talogstraftaten und die Verjährungsansprüche, die das
sem Thema beantragen. Insofern ist es allerdings auch Bundesverfassungsgericht festgelegt hat, nicht erfüllt
nicht hilfreich, wenn man sich gegenseitig als „Spinner“, sind. Es gibt, bei weitester Auslegung, die Möglichkeit,
„Lügner“ oder anderes hier bezeichnet, weil auch darauf hier eine besonders schwerwiegende Straftat festzustel-
nicht geantwortet werden kann. Außerdem können dieje- len, wie es das Gericht getan hat. Aber das ist nicht
nigen, die die Aktuelle Stunde am Fernseher verfolgen, selbstverständlich.
diese Zwischenrufe auch gar nicht hören und deshalb die
Reaktionen nicht verstehen. Ich komme aus Niedersachsen. Dort hat ein Gericht,
als es um eine Katalogstraftat ging, also um eine Straftat,
Wir fahren jetzt in der Aktuellen Stunde fort. Das bei der diese Anordnung normalerweise erfolgt, die
Wort hat die Kollegin Kirsten Lühmann für die SPD- Entscheidung getroffen, eine Funkzellenauswertung
Fraktion. abzulehnen, da der Bundesgesetzgeber, also wir, die Vor-
(B) ratsdatenspeicherung nicht geregelt hat und das Bundes- (D)
Kirsten Lühmann (SPD): verfassungsgericht Bedenken hat. Hier reden wir aller-
dings über ein Demonstrationsgeschehen, über ein
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!
Geschehen, das in erheblichem Maße grundrechtsrele-
Sehr verehrte Gäste! Ich habe in den letzten Tagen ein
vant ist.
Gespräch mit einem Kollegen aus meiner Gewerkschaft,
der Deutschen Polizeigewerkschaft, geführt, der in Dres- In diesem Zusammenhang hat sich auch das Oberver-
den Dienst tut. In diesem Gespräch hat er drei Dinge ge- waltungsgericht Bremen geäußert. Damals ging es um
sagt, die ich beachtenswert finde: die Frage: Darf die Polizei zur Verfolgung von Straftaten
Bildaufzeichnungen machen? Das Oberverwaltungsge-
Er hat erstens gesagt: Die politisch etablierten Par-
richt Bremen hat festgestellt: Besteht auch nur die Mög-
teien haben es nicht geschafft, durch ihre Politik ein An-
lichkeit, dass jemand, der an einer Demonstration teil-
wachsen der Zahl der extremen Kräfte am rechten und
nimmt, dokumentiert wird, verhindert dies, dass die
linken Rand unserer Gesellschaft zu verhindern. Jetzt
Menschen ihr Grundrecht nach Art. 8 des Grundgesetzes
sollen wir, die Polizei, so sagte er zweitens, die Kohlen
frei ausüben können.
aus dem Feuer holen. Dazu werden wir aber weder per-
sonell noch durch eine eindeutige Rechtslage hinrei- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-
chend ausgestattet. Wenn dann – drittens – etwas schief- NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne-
geht, zieht die Politik ihren Kopf aus der Schlinge und ten der SPD)
sucht sich ein Bauernopfer.
Noch einmal: Hier geht es nicht um persönliche Mei-
Wir schaffen es tatsächlich nicht, liebe Kollegen und nungen. Hier geht es um Recht. Das bestehende Gesetz
Kolleginnen, den Menschen immer zu erklären, warum fordert eine besondere Verhältnismäßigkeit. Der Innen-
und wie wir Entscheidungen in diesem Hause treffen. minister schreibt dazu in seinem Bericht – er ist mehr-
Als Beispiel möchte ich nur eines anführen: Ich finde es fach zitiert worden –:
erschreckend, dass nur etwa die Hälfte der Bevölkerung
versteht, warum wir in Europa verschiedenen Ländern Bei Beantragung der Maßnahme war das Ausmaß
helfen müssen. Augenscheinlich schaffen wir es nicht, des Datenaufkommens nicht einschätzbar.
klarzumachen, warum dies nötig ist.
Ich frage Sie, meine Herren und Damen: Wie können
Zu seinem zweiten Punkt. Zur Personalsituation ha- Sie die Verhältnismäßigkeit feststellen, wenn Sie gar
ben wir hier schon viel gesagt. Ich möchte in Bezug auf nicht feststellen, wie viele davon überhaupt betroffen
Dresden darauf hinweisen, dass Innenminister Ulbig sind?
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13771
Kirsten Lühmann
(A) (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem dachte eigentlich, dass Sie aufgrund Ihrer Vergangenheit (C)
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Jerzy Montag wissen, wovon Sie sprechen, wenn Sie eine Debatte zu
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! Das diesem Thema beantragen. Aber Sie, Herr Leutert, ha-
war der Fehler!) ben unter anderem von digitalen Rasterfahndungen gere-
det. Solche Schlagworte entlarven, dass Sie diese
Wenn man aber feststellt, dass im ersten Fall 140 000 Da-
Aktuelle Stunde aus rein politischen Motiven beantragt
ten vorliegen, dann ist spätestens der Moment gekom-
haben.
men, in dem jemand sagen muss: Jetzt stelle ich fest,
dass das Ganze nicht mehr verhältnismäßig ist. – Das ist (Zurufe von der LINKEN)
nicht passiert.
Sie stellen Rechtsradikalismus und Linksradikalismus
(Günter Baumann [CDU/CSU]: Dann können aus Ihrer Perspektive in einseitiger Art und Weise dar,
wir es ja nie machen!) anstatt über das Thema der Aktuellen Stunde, nämlich
die Einschränkung der Versammlungsfreiheit, zu spre-
Zum dritten Punkt, den der Kollege ansprach. Innen-
chen.
minister Ulbig hat den Einsatz zur Chefsache erklärt, es
wurden Fehler gemacht – sonst hätte Polizeipräsident (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Patrick
Hanitsch nicht seinen Sessel räumen müssen –, und ei- Sensburg [CDU/CSU])
gentlich sollte sich der Innenminister nicht hinter seinen
Beamten verstecken, sondern die Konsequenzen ziehen. Es ist sehr wichtig, sich kurz mit der Faktenlage zu
beschäftigen, statt nur irgendwelche Schlagworte in die
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Diskussion zu werfen. Es fand eine Kundgebung statt,
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) die Rechtsradikale vorangetrieben haben. Zu Recht ist
ein breites bürgerliches Engagement entstanden, um sich
Unser Fazit lautet: Mein Kollege von der Polizei hatte
dem entgegenzustellen. Es war vorhin interessant, zu be-
recht. Wir müssen endlich den Auftrag annehmen, klare
obachten, dass Sie, als dieses Stichwort fiel, geklatscht
und verfassungsgemäße Regeln zur Datensammlung und
haben. Als aber zur Sprache kam, dass bei der gleichen
zur Verwendung von Daten Dritter zu treffen. Frau Piltz,
Aktion sehr viele Polizisten, nämlich über 100, verletzt
ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie angekündigt haben,
wurden, haben sich die Hände Ihrer Fraktionsmitglieder
dies zu tun. Als Parlament sind wir für den Schutz aller
nur zur Hälfte bewegt.
Grundrechte der Bürger und Bürgerinnen verantwort-
lich. Lassen Sie uns handeln, um zu verhindern, dass (Widerspruch bei der LINKEN)
mein Kollege von der Polizei recht behält!
Das spricht Bände. Daran wird deutlich, wie Sie zu die-
Herzlichen Dank. sen Vorgängen stehen und zu welchem Zweck Sie diese (D)
(B)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Aktuelle Stunde nutzen wollen.
der LINKEN) Es ist Teil unserer demokratischen Kultur, dass Men-
schen ihre Meinung frei äußern dürfen, müssen und sol-
Vizepräsidentin Petra Pau: len. Es ist das Recht und die Pflicht eines jeden Bürgers,
Das Wort hat der Kollege Manuel Höferlin für die Demonstrationen anzustoßen und daran teilzunehmen.
FDP-Fraktion. Es ist aber auch das Recht eines jeden Bürgers, gewisse
Rechtsgüter zu schützen. Dass mein Auto und die Un-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten versehrtheit meines Körpers geschützt werden – das gilt
der CDU/CSU) übrigens auch für Polizisten –, ist ein Recht, das wir mit-
hilfe unserer Rechtsordnung schützen müssen. Diese
Manuel Höferlin (FDP): beiden Dinge muss man erwähnen. Das haben Sie so
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! nicht getan.
Liebe Kollegen! Diese Diskussion verläuft gemischt: Ei-
(Michael Leutert [DIE LINKE]: Deshalb
nerseits findet eine sachliche Diskussion statt – Herr
fischt man 330 000 Bürger ab, um Ihr Auto zu
Kollege Montag, Ihr Beitrag war ausgesprochen sach-
schützen?)
lich; vielen Dank –, andererseits eine – ich sage es ein-
mal so – politisch getriebene Diskussion; an dieser Stelle Die Frage, wie man das in eine Verhältnismäßigkeit
schaue ich in Ihre Richtung, liebe Kollegen von der Lin- bringt, ist doch der Kernpunkt, über den Sie hier nicht
ken. gesprochen haben. Man muss sich das Ganze einmal ge-
nau anschauen. Es wurde eine Anordnung getroffen, die
(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Das müssen Sie
einen maßgeblichen Eingriff zur Folge hatte. Gerichtlich
gerade sagen!)
betrachtet könnte er zunächst einmal als durchaus ange-
– Lassen Sie mich doch ausreden. Man hört Sie sowieso messen angesehen werden. Ich glaube, dass er auch an-
nicht, Frau Kollegin. gemessen war. Allerdings wurden Daten – das hat sich
danach gezeigt – in wesentlich größerem Umfang ge-
(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der
nutzt, als zunächst beabsichtigt war. Das ist ein Punkt,
FDP)
mit dem man sich intensiv beschäftigen muss. Wenn es
Der Titel der Aktuellen Stunde, die Sie beantragt ha- dabei um die Landespolizei geht, dann ist der Ort, an
ben, lautet „Einschränkung des Versammlungsrechts dem man sich damit beschäftigen muss, das Land Sach-
durch Massenfunkzellenabfrage“. Ich muss sagen: Ich sen. Deswegen wird das – Frau Kollegin Piltz hat das
13772 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011

Manuel Höferlin
(A) schon gesagt – dort sicherlich auch eingehend geprüft fahren einer massenhaften Funkzellenabfrage in Sach- (C)
werden. sen, das bereits als rechtswidrig erkannt worden ist, als
eine ganz normale Ermittlungsmethode darzustellen, ist
Wenn wir einen Bezug zur Bundesebene herstellen
der eigentliche Skandal in der heutigen Diskussion.
wollen, müssen wir uns zu Recht § 100 g StPO ansehen.
Das ist eine Anregung, die wir durchaus aufnehmen kön- (Beifall bei der LINKEN)
nen. Ich finde schon, dass es angemessen ist, diesen Vor-
Was die FDP-Kollegen angeht: Auch wir werden den
fall dafür zum Anlass zu nehmen. Wenn Sie das dann
Vorschlag aufgreifen, uns die Strafprozessordnung in
aber ausposaunen und es auf den Rechts- und den Links-
diesem Zusammenhang anzuschauen und hier erneut da-
extremismus beziehen, wie Sie es getan haben, ist das,
rüber zu diskutieren. Sie wollen sich immer den Anstrich
glaube ich, der Sache nicht angemessen.
einer sogenannten Bürgerrechtspartei geben. Das, was
(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Das ha- Sie heute hier geboten haben, hat aber mit Sachlichkeit
ben Sie jetzt aber verwechselt!) absolut nichts zu tun. Es ist einfach nur noch peinlich.
– Doch, das war so. (Beifall bei der LINKEN)
Die Funkzellenabfrage wurde später massiv weiter Heute ist mehrfach zu Recht gesagt worden, dass das
genutzt. Die Daten wurden, wie inzwischen herauskam, polizeiliche Vorgehen in Dresden mit der Verhältnismä-
später auch für andere Verfahren genutzt. Das ist eine ßigkeit der Mittel nichts, aber auch gar nichts mehr zu
Maßnahme, die längst außerhalb dessen steht, was ge- tun hatte.
rechtfertigt ist. Daraus wurden auch Konsequenzen ge-
zogen. Im Rahmen der Vorstellung des Bundesverfassungs-
schutzberichtes ist erneut dargelegt worden, dass die An-
(Beifall des Abg. Dr. Dieter Wiefelspütz zahl der Nazigewalttaten vor allem in Ostdeutschland
[SPD]) angestiegen ist. Es ist gerade deswegen überhaupt nicht
hinzunehmen, dass eine Demonstration gegen Nazis mit
Wir können aus dem Fall auch lernen, dass Daten, die
über 20 000 Menschen, wie sie in Dresden stattgefunden
einmal in großem Maßstab erhoben wurden, häufig auch
hat, insgesamt kriminalisiert wird. Dies ist bereits im
für ganz andere Zwecke verwendet werden, als ur-
Vorfeld geschehen. Denn auch schon vorher wurde das
sprünglich vorgesehen war. Das ist etwas, was unsere
Bündnis „Nazifrei! – Dresden stellt sich quer“ beobach-
Fraktion bzw. die Liberalen schon immer befürchtet ha-
tet.
ben. Das ist übrigens auch unsere Position, wenn es da-
rum geht, wie man mit Daten umgeht, die für längere (Manuel Höferlin [FDP]: Und Sie ja gar
Zeit gespeichert werden. Unser Vorschlag war und ist nicht!)
(B) (D)
auch weiterhin, dass man sehr vorsichtig damit umgehen
muss, überhaupt Daten zu erheben. Die betroffenen Bürgerinitiativen, die diese Demonstra-
tion organisiert haben, wussten nicht, dass sie schon im
(Zurufe von der LINKEN: Oh!) Vorfeld – Stichwort § 129 – ausgespäht wurden. Das ist
– Daten nicht so zu verwenden war schon immer unsere in der Tat – hierbei handelt es sich übrigens um Bundes-
Position, liebe Kollegen. Ich wüsste gar nicht, dass Sie gesetze – eine Kriminalisierung von Antifaschisten. Das
ist einfach nicht hinzunehmen.
jetzt irgendetwas Neues gehört haben könnten. Denn
wenn Telekommunikationsunternehmen Daten vorrätig (Beifall bei der LINKEN)
halten, gibt es immer andere, die darauf zugreifen möch-
ten. Deswegen ist es gut und klug, sich an dieser Stelle Die sächsische Regierung schwindelt sich in diesen
sehr vorsichtig zu verhalten. Den Rest – da bin ich mir Tagen im Übrigen von einer Lüge zur nächsten. Heute
ganz sicher – wird man sich im Land Sachsen an- wissen wir, dass ganze Stadtteile total überwacht wur-
schauen. den.

Ich sage noch einmal: Wir sollten uns § 100 g StPO (Manuel Höferlin [FDP]: Was ist denn total
noch einmal in Ruhe anschauen und dann vielleicht eine überwacht? – Helmut Brandt [CDU/CSU]:
sachgerechte Debatte zu diesem Thema führen. Wer von Lügen anderer spricht, sollte selbst
die Wahrheit sagen! – Dr. Patrick Sensburg
Vielen herzlichen Dank. [CDU/CSU]: In wie vielen Fällen denn?)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Die Daten Zehntausender Handynutzer wurden erfasst.
1 Million Handydatensätze sind gespeichert worden; das
Vizepräsidentin Petra Pau: ist schon mehrfach gesagt worden. Sogenannte IMSI-
Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke für die Fraktion Catcher wurden eingesetzt, um direkt mitzuhören, was in
Die Linke. den Handygesprächen vor Ort gesagt wurde. Wir be-
kommen hiermit einen Vorgeschmack auf die Pläne von
(Beifall bei der LINKEN) CDU und SPD – das ist der einzige Punkt, in dem ich der
Kollegin Piltz zustimmen kann –, die uneingeschränkte
Ulla Jelpke (DIE LINKE): anlasslose Vorratsdatenspeicherung wieder einzuführen
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich und das Kommunikationsverhalten der gesamten Bevöl-
wende mich erst einmal an meine Kollegen von der kerung zu erfassen. Das lehnen wir ganz klar ab. Aber
Union: Dass Sie heute versuchen, das polizeiliche Ver- genau das hat dort stattgefunden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13773
Ulla Jelpke
(A) (Beifall bei der LINKEN – Dr. Patrick Debatte führen werden, und zwar nicht nur in Bezug auf (C)
Sensburg [CDU/CSU]: Es geht um die Aufklä- den § 100. Wir fordern, dass die Daten nach der Aufklä-
rung von Straftaten!) rung dieses Sachverhalts unter Beteiligung von Daten-
schutzbeauftragten gelöscht werden. Das ist das Min-
– Hier geht es darum, dass Zehntausende unbescholtener
deste, was passieren sollte. Aber erst einmal muss der
Bürger, über die wir heute kaum geredet haben,
Fall aufgeklärt werden. Die Bundespolizei hat dort übri-
(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gens mit Verbindungsbeamten im Einsatzstab gearbeitet,
NEN]: Ich habe darüber geredet!) das heißt, auch bei ihr liegt die Verantwortung, mitzu-
wirken, dass die Aufklärung vorangeht. Der Einsatz dort
ebenfalls abgehört wurden; das müssen Sie sich klarma- hat fast eine halbe Million DM – Entschuldigung: Euro –
chen. gekostet.
(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Die brau-
(Gisela Piltz [FDP]: Dass Sie nicht auf der Höhe
chen keine Angst zu haben! – Gisela Piltz
der Zeit sind, wussten wir schon immer!)
[FDP]: Da ist doch gar keiner abgehört wor-
den!)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Es gibt keinen Grund, zu glauben, es sei der Polizei nur Kollegin Jelpke, Sie müssen bitte zum Schluss kom-
darum gegangen, einzelne Gewalttäter unter Zehntau- men.
senden Nazigegnern zu identifizieren. Wenn Neonazis in
der Vergangenheit irgendwo in Sachsen einen Migranten
oder einen Obdachlosen zusammengeschlagen haben, Ulla Jelpke (DIE LINKE):
hat die Polizei noch nie – ich betone: noch nie – flächen- Ich komme zum letzten Satz. – Wir werden unsere be-
deckende Abhörmaßnahmen durchgeführt; Sie müssen gonnene Auswertung dieses Einsatzes fortführen. Ich
mir erst das Gegenteil beweisen. Das heißt natürlich hoffe, dass wir von den antifaschistischen Bündnissen
nicht, dass wir das fordern. Entscheidend ist aber, wel- viel Unterstützung bekommen.
che verhältnismäßigen Mittel zu welchem Zeitpunkt ein- Danke.
gesetzt werden. Es wird deutlich, dass es Ihnen vor allem
um eines geht: Der Feind steht auf der Seite der Antifa- (Beifall bei der LINKEN)
schisten und eben nicht auf der Seite der Neonazis.
Vizepräsidentin Petra Pau:
(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Die, die
Straftaten begehen, sind die, die die Daten ha- Das Wort hat der Kollege Helmut Brandt für die
ben wollen!) Unionsfraktion.
(B) (D)
Das ist hier das große Problem. Helmut Brandt (CDU/CSU):
(Gisela Piltz [FDP]: Das hängt immer davon Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
ab, wie man damit umgeht! – Michael Leutert Herren Kollegen! Wir haben nun fast eine Stunde über
[DIE LINKE]: Ja, Rechte haben schon viele das Thema Einschränkung der Versammlungsfreiheit
erschlagen! Es gibt aber keine Toten durch durch Massenfunkzellenabfrage vor dem Hintergrund ei-
Linke!) ner Neonazidemonstration in Dresden im Februar dieses
Jahres diskutiert. Man muss es deutlich sagen: Das
– Ich glaube, ich habe hier das Wort. rechtfertigt dem Grunde nach keine Befassung des Bun-
In den Augen der sächsischen Regierung ist jeder kri- destags in einer Aktuellen Stunde.
minell, der dazu beigetragen hat, den Naziaufmarsch am (Johanna Voß [DIE LINKE]: Schlimm genug!)
19. Februar 2011 zu verhindern. Nicht anders ist zu er-
klären, dass dort im Vorfeld allen Ernstes Abhörmetho- Denn es fanden nicht unerhebliche Ausschreitungen un-
den gegen das Bündnis „Dresden – Nazifrei“ eingesetzt ter Ausnutzung des Demonstrationsrechts statt. Im An-
worden sind. Ich hoffe, dass es Klagen von Journalisten schluss daran hat die sächsische Polizei zur Ermittlung
und Anwälten geben wird; denn auch der Überwa- der Straftaten und der Straftäter die Daten von zahlrei-
chungsschutz wurde verletzt. chen Handynutzern überprüft und ausgewertet.
(Manuel Höferlin [FDP]: Ich wusste gar nicht, (Michael Leutert [DIE LINKE]: Nein, das ist
dass die Überwachung geschützt wird!) falsch! Wo waren Sie denn die letzte Stunde?
Hören Sie doch zu! – Gegenruf des Abg.
Anwälte, Journalisten und auch Parlamentarier haben Manuel Höferlin [FDP]: Das ist richtig! Nur
Berufsgeheimnisse. Sie dürfen deshalb nicht überwacht weil Sie etwas behaupten, muss das nicht rich-
werden. Der Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse tig sein! – Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]:
hat diesen Skandal als „Demokratie auf Sächsisch“ be- Sie reden ja auch von Lauschangriffen und
zeichnet. Dem kann ich eigentlich nur in einer Hinsicht solchen Sachen!)
widersprechen: Es handelt sich in diesem Fall nicht nur
um Sachsen. So etwas gibt es auch in anderen Teilen der Das ist ein klassisches Thema für den Sächsischen Land-
Republik. tag.
Die Bundesregierung darf sich hier nicht aus der Ver- Meine Damen und Herren von der Fraktion Die
antwortung stehlen. Ich hoffe, dass wir eine auswertende Linke, ich danke Ihnen dennoch für diese Aktuelle
13774 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011

Helmut Brandt
(A) Stunde. Sie haben völlig recht: Das in Art. 8 unseres erforderlich ist. Ich frage Sie allen Ernstes: Was wollen (C)
Grundgesetzes verankerte Recht der Versammlungsfrei- Sie sonst in einer solchen Situation machen?
heit ist ein zentrales Grundrecht, das es zu schützen gilt.
Es lag ein richterlicher Beschluss des Amtsgerichts
In Art. 8 Abs. 1 Grundgesetz heißt es – ich zitiere –:
vor. Die Maßnahme lag auch in einem engen zeitlichen
Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmel- und räumlichen Zusammenhang zu den Ausschreitun-
dung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu gen. Herr Wiefelspütz, dass auch Unbeteiligte in das
versammeln. Fahndungsraster gerieten, das liegt leider – ich betone:
leider – in der Natur der Sache, weil die Provider nicht
(Beifall des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE zwischen Unbeteiligten und Beschuldigten unterschei-
LINKE] – Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Mit den, wenn sie alle Verbindungsdaten einer Funkzelle be-
oder ohne Handys?) kannt geben.
Ich betone: „friedlich und ohne Waffen“. Allerdings er- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
leben wir seit Jahren, dass Demonstrationen keineswegs NEN]: Wo kommt jetzt der Verhältnismäßig-
friedlich ablaufen. Im Gegenteil: Es kommt immer wie- keitsgrundsatz? – Christian Lange [Backnang]
der zu teils heftigen Ausschreitungen und Gewalt gegen [SPD]: Ihre Zeit ist abgelaufen!)
Personen und Sachen, und zwar sowohl seitens der rech-
ten wie seitens der linken Szene. Durch die Gewaltbe- Dazu komme ich gleich, Herr Montag.
reitschaft wird das Versammlungsrecht immer wieder (Christian Lange [Backnang] [SPD]: So viel
missbraucht, und dieser Missbrauch führt zur Gefähr- Zeit haben Sie aber nicht! – Jerzy Montag
dung des Grundrechts als solchem. Deshalb gebietet der [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Darauf warte
Schutz des Versammlungsrechtes, diejenigen zu ermit- ich jetzt!)
teln, die dieses Recht missbrauchen und infrage stellen.
Zwei Dinge möchte ich ausdrücklich betonen, weil
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) hier rein aus politischen Gründen versucht wird, das in
Wie aber ermittelt man die teils vermummten Täter anderer Weise darzustellen:
mit Erfolg? Erstens. Die ermittelten Daten bestehen nicht aus Ge-
(Manuel Höferlin [FDP]: Das ist der Unter- sprächsinhalten.
schied zwischen Rechtsstaat und Unrechts- (Michael Leutert [DIE LINKE]: Doch!)
staat! Darüber wissen die Linken ja Bescheid!)
Bei den ermittelten Daten handelt es sich um sogenannte
Wie zieht man Demonstranten, die sich Mützen über den Verbindungsdaten. Als Ergebnis der Abfrage wird der
(B) Kopf ziehen, um nicht erkannt zu werden und um in die- (D)
Polizei eine Vielzahl von Verkehrsdaten übermittelt. Die
ser Anonymität Gewalt auszuüben, zur Verantwortung? Polizei erkennt anhand dieser Daten aber lediglich, wel-
Der Berliner Innensenator Körting warnte am Dienstag- che Mobilfunkanschlüsse wann, wo und wie verwendet
morgen in einem Gespräch mit dem Tagesspiegel vor wurden. Sie ersieht aus den Daten nicht einmal, wer der
einer Eskalation der Gewalt zwischen Rechts- und Anschlussinhaber ist.
Linksextremisten: Er befürchte vor allem, dass bei Ex-
tremisten auf jede Aktion eine Gegenaktion folge – das (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
ist sicherlich berechtigt –, NEN]: Genau!)

(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Das sind zwei Sie sieht damit erst recht nicht, welche Personen mitei-
Seiten einer Medaille!) nander kommuniziert haben oder welchen Inhalt diese
Gespräche oder die versandte SMS hatten.
und dem gelte es, Einhalt zu gebieten. Der Innensenator
hat vollkommen recht: Die Spirale der Gewalt und die Zweitens. Durch die Zahl mag man jetzt zunächst ein-
Bereitschaft, das in Art. 8 Grundgesetz verankerte Recht mal misstrauisch werden, weil man mit dieser Fahn-
auf Versammlungsfreiheit für die eigenen Zwecke zu dungsmaßnahme natürlich eine große Zahl von Personen
missbrauchen, müssen wir mit allen nötigen, aber natür- ermittelt hat, aber ich sage noch einmal: Wenn eine Mas-
lich auch rechtmäßigen Mitteln unterbinden. sendemonstration, die wir grundsätzlich für richtig hal-
ten, missbraucht wird, besteht natürlich auch das Risiko,
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dass mit dieser Methode zu viele Menschen erfasst wer-
neten der FDP) den.
Wenn dies, wie hier, mit legitimen Mitteln auf der (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Grundlage unserer Gesetze geschieht, dann ist das in NEN]: Sie haben sie ja nicht missbraucht! –
Ordnung und nicht in Zweifel zu ziehen. Gegenruf des Abg. Oliver Luksic [FDP]: Die
Linksextremen schon!)
Die Erhebung der Funkzellendaten durch die Polizei
– das ist mehrfach ausgeführt worden – findet ihre – Natürlich haben die Extremisten sie missbraucht.
Grundlage in § 100 g StPO. Danach dürfen bei Verdacht
(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
auf eine Straftat von erheblicher Bedeutung auch ohne
NEN]: Die unbeteiligten Dritten haben doch
Wissen des Betroffenen Verkehrsdaten erhoben werden,
nichts missbraucht!)
soweit dies für die Erforschung des Sachverhalts oder
die Ermittlung des Aufenthaltsortes des Beschuldigten – Die nicht, von denen rede ich nicht.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13775
Helmut Brandt
(A) (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- aber mir scheint doch, dass ein paar Dinge klargestellt (C)
NEN]: Aber die haben Sie erfasst!) werden müssen.
– Die sind leider miterfasst worden, aber das war nicht (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
das Ziel der Aktion. GRÜNEN]: Dafür sind wir hier! – Jerzy
Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und
Ich muss Ihnen ganz offen und ehrlich sagen – das ist zwar von Ihnen!)
hier zum Glück bei einigen Kollegen schon mehrfach
angeklungen –: Ich vermisse hier eine eindeutige Stel- Art. 8 Abs. 1 des Grundgesetzes lautet – das werden
lungnahme zur Unterstützung der Polizei, die sich in die- Sie nicht bestreiten, lieber Herr Montag –:
sen Situationen mit Gewalttätern auseinandersetzen Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmel-
muss. Dazu hat hier bis zum jetzigen Zeitpunkt jedes dung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu
Wort der Antragsteller gefehlt. versammeln.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
ruf von der LINKEN: Das war nicht das NEN]: Sogar Sie!)
Thema!)
Sie wissen, dass ich ein berühmter Verfassungsrechtler
bin.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Kollege Brandt, achten Sie bitte auf das Signal. (Oliver Luksic [FDP]: Das weiß ich nicht!)
Man kann Art. 8 Abs. 1 Grundgesetz auch folgenderma-
Helmut Brandt (CDU/CSU): ßen lesen, Herr Ströbele – und ich glaube, Sie werden
Frau Präsidentin, ich sehe, dass meine Redezeit leider mir nicht widersprechen –: Alle Deutschen haben das
schon zu Ende ist. Ich komme zum Schluss. Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und
ohne Waffen zu versammeln – mit oder ohne Handy. –
In der Süddeutschen Zeitung vom 24. Juni 2011 heißt Das ist nicht absurd oder lächerlich.
es:
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
Bisher wurde über den Einsatz der Methode vor al- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
lem nach schweren Straftaten wie dem Holzklotz-
wurf von einer Autobahnbrücke in Niedersachsen Bei dieser großen Versammlung am 19. Februar 2011
berichtet. Aber bei einer Demonstration? in Dresden haben sich über 10 000 Menschen friedlich
und ohne Waffen versammelt. Ich gehe davon aus, dass
(B) Das war die Frage. Ich sage zum Schluss: Ja, notfalls die meisten dieser Menschen – oder zumindest Tau- (D)
und im Einzelfall auch bei einer Demonstration. Wenn sende, Herr Sensburg – auch ein Handy in der Tasche
hier wegen vorsätzlicher Delikte wie versuchtem Tot- hatten.
schlag, 37 Körperverletzungen zum Nachteil von Poli-
zeibeamten (Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: So wie wir
beide!)
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Jetzt aber
Die meisten dieser Menschen – 99 Prozent – haben
bitte!)
friedlich von ihrem Grundrecht Gebrauch gemacht. Ei-
und Landfriedensbruch ermittelt wird, dann sind diese nige wenige haben schwere Straftaten zum Nachteil von
Methoden gerechtfertigt. Polizisten begangen. Dafür gibt es überhaupt keine Ent-
schuldigung, und diese Straftaten müssen geahndet wer-
Danke schön. den. Das ist überhaupt keine Frage. Ich denke, darin sind
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – wir uns alle hier von links bis rechts einig.
Michael Leutert [DIE LINKE]: Das haben Sie (Oliver Luksic [FDP]: Nein, von halblinks bis
schon vorher gewusst? Sie sollten auch einmal rechts!)
das Oktoberfest überwachen!)
Das kann gar nicht streitig sein.
– Ja, da gehören Sie hin.
Es kann aber doch nicht wahr sein, dass ein friedli-
cher Versammlungsteilnehmer, der ein Handy in der
Vizepräsidentin Petra Pau: Tasche hat, damit rechnen muss, durch die Funkzellen-
Das Wort hat der Kollege Dr. Dieter Wiefelspütz für abfrage an diesem 19. Februar 2011 mit seinen Verkehrs-
die SPD-Fraktion. daten in dieser oder jener Akte aufzutauchen. Ich muss
(Beifall bei der SPD) als friedlicher Versammlungsteilnehmer, der keine Straf-
taten begeht und gegen den es keinen konkreten Ver-
dacht gibt, das Vertrauen haben, dass ich nicht Gegen-
Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD): stand polizeilicher Beobachtung werde und dass keine
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Daten von mir erfasst werden. Das kann doch an dieser
Ich habe mich spät entschlossen, hier doch das Wort zu Stelle überhaupt nicht streitig sein.
ergreifen. Ich will Ihnen nicht Ihre Zeit stehlen,
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
(Gisela Piltz [FDP]: Tun Sie aber!) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
13776 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011

Dr. Dieter Wiefelspütz


(A) Man muss erst einmal auf die Idee kommen, dass das et- Günter Baumann (CDU/CSU): (C)
was mit der durchaus legitimen Diskussion über Vorrats- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
datenspeicherung zu tun haben könnte. Nichts hat das Herren! Natürlich kann jede Fraktion eine Aktuelle
damit zu tun. Stunde beantragen – das ist auch gut so –, auch wenn es
(Manuel Höferlin [FDP]: Ha!) Freitagnachmittag ist. Das ist alles kein Problem. Aber
es muss ein Thema mit Bundesbezug sein.
Hier hat Strafverfolgung stattgefunden, weil es in der Tat
einen konkreten Verdacht auf schwerste Straftaten gab. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Aber dann die Daten von Zehntausenden von Menschen NEN]: Das Versammlungsrecht ist doch Bun-
über Funkzellenabfrage zu erfassen, wenn die von der desrecht! – Dr. Konstantin von Notz [BÜND-
Demonstration mit ihrer Freundin telefonieren oder mit NIS 90/DIE GRÜNEN]: Art. 10 und Art. 8!)
jemand anderem kommunizieren, so wie wir das alle tun
– das kann doch nicht wahr sein. Für mich ist das eindeutig ein Thema, das im Land Sach-
sen geklärt werden muss. Der Landtag hat sich diese
Lieber Kollege Brandt, lieber Kollege Sensburg, man Woche damit beschäftigt und gesagt: Dieses Thema ge-
kann über vieles streiten. Aber dass hier das Prinzip der hört in unser Land, nicht nach Berlin.
Verhältnismäßigkeit massiv verletzt worden ist, ist mit
Händen zu greifen. Ich möchte gerne dazu beitragen, (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
dass wir nicht eine parteipolitische Debatte gegen oder GRÜNEN]: Trotzdem reden Sie jetzt dazu!)
für den sächsischen Innenminister oder wen auch immer
führen. Wir müssen sehen, dass der aus meiner Sicht Ich möchte ganz kurz etwas zur Vorgeschichte sagen,
durchaus legitime Einsatz nach § 100 g StPO – über Ein- weil hier vieles untergegangen ist. Jedes Jahr am 13. Fe-
zelheiten kann man reden – an vielen Stellen sinnvoll ist, bruar – das ist gut so – gedenken friedliche Menschen in
um schwerste Straftaten aufzuklären. Es darf aber nicht Dresden der Bombardierung ihrer Stadt, gehen auf die
sein, dass die Möglichkeiten dieses Paragrafen so ausge- Straße und verleihen ihrer Trauer Ausdruck. Das muss
legt werden – das ist auch von einem Richter abgesegnet möglich sein. Wir sind verpflichtet, eine solche Veran-
worden –, dass es zu Kollateralschäden oder einer Ver- staltung abzusichern. Einige Redner haben es schon ge-
letzung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit kommt und sagt – ihnen gebe ich 100 Prozent recht –: Wir müssen
damit letztlich § 100 g StPO infrage gestellt wird. Wir im Vorfeld mehr dafür tun, dass weder rechte noch linke
blamieren uns doch alle miteinander, wenn wir das Chaoten diese Veranstaltung stören können. Wir alle
Recht in dieser völlig unverhältnismäßigen Form anwen- müssen etwas mehr dafür tun, dass dies möglich ist.
den. In den letzten Jahren haben wir festgestellt, dass diese (D)
(B)
Es kann nicht sein, dass Zehntausende von friedlichen Versammlungen am 13. und 14. Februar in Dresden
Versammlungsteilnehmern Opfer einer Strafverfolgung missbraucht werden, weil von Rechten Demonstrationen
werden und dass ihre Daten ausgelesen werden. Das ist beantragt werden, die genehmigt werden müssen. Wir
nicht in Ordnung. Das müssen wir abstellen. Wenn das alle kennen die Gesetze bestens. Dieses Recht wird
anders nicht möglich ist, dann müssen wir das entspre- missbraucht, um dort aufzumarschieren, was uns allen
chende Gesetz präzisieren. wehtut; das ist gar keine Frage. Infolgedessen kommen
meistens zusätzlich linke Chaoten. Dadurch entstehen
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Hans- die berühmten Straßenschlachten.
Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]) In diesem Jahr war das in Dresden besonders extrem,
weil die Rechten die Versammlung instrumentalisiert ha-
Es müsste doch in diesem Haus einen großen Kon- ben und den Krieg, so wie er war, geleugnet haben; das
sens dahin gehend geben, dass das nicht sein darf, gerade kann man nicht dulden. Das ist ein Missbrauch auf dem
wenn wir verhindern wollen, dass schwere Straftaten Rücken der Dresdner Einwohner. Ich denke, in diesem
begangen werden oder wenn wir Täter von schweren Punkt sind wir uns einig. Wir sind alle wütend, wenn wir
Verbrechen ermitteln wollen. Die Möglichkeiten nach sehen, dass linke Chaoten dazukommen und sich den
§ 100 g StPO sind an vielen Stellen sinnvoll angewandt Rechten entgegenstellen. Das führte dann zu Straßen-
worden. Am 19. Februar dieses Jahres ist man in Dres- schlachten. Ich denke, das kam zu wenig heraus: In
den weit über das verfassungsrechtlich zulässige Ziel hi- Dresden gab es Straßenschlachten. Arnold Vaatz hat das
nausgeschossen. Das ist eine schwere Grundrechtsver- von vielen Bürgerinnen und Bürgern in seinem Wahl-
letzung. Ich möchte sehr dafür werben, dass wir uns an kreis gehört. Die Stadt hat gebrannt. Es haben Müllton-
dieser Stelle einig sind. nen gebrannt. Es wurden Steine in Fensterscheiben
Schönen Dank fürs Zuhören. friedlicher Bürger geworfen. Es ging dort also chaotisch
zu.
(Beifall bei der SPD)
Die Frage ist, was man in einer solchen Situation ma-
Vizepräsidentin Petra Pau: chen kann. Soll man zuschauen, Wasserwerfer einsetzen
Das Wort hat der Kollege Günter Baumann für die oder was auch immer? Frau Lühmann, Sie haben das
Unionsfraktion. Thema angesprochen. Wenn man zwischen zwei chaoti-
schen Gruppen steht, muss man vielleicht einiges tun,
(Beifall bei der CDU/CSU) was man normalerweise nicht macht.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13777
Günter Baumann
(A) In Dresden wurden 112 Polizisten zum Teil schwer sagt niemand, dass in Dresden alles zu 100 Prozent sau- (C)
verletzt. Das kann man nicht hinnehmen. Es wurden ins- ber gelaufen ist.
gesamt 687 Straftaten registriert. Die Spitze – im wahrs-
(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Okay!)
ten Sinne des Wortes – war, dass eine Eisenspitze hinter-
rücks auf Polizisten geworfen wurde. Das ist eindeutig Es gab den Beschluss eines Richters. Danach wurde
versuchter Totschlag, und das kann man nicht hinneh- gehandelt. In einigen Fällen wurden Daten verwendet, in
men. denen dies nicht zulässig war. Das ist korrigiert worden.
Insofern ist das in Ordnung. Es wird auch weiter aufge-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- arbeitet.
neten der FDP)
Der Landtag hat sich diese Woche damit beschäftigt.
Ich möchte an dieser Stelle die Gelegenheit nutzen, Marko Schiemann, mein Kollege im Landtag, hat ge-
den Polizistinnen und Polizisten ganz herzlich zu dan- sagt, dass dieses Thema eindeutig nicht nach Berlin ge-
ken, die jeden Tag in unserem Land an irgendeiner Stelle hört; es sei keine Angelegenheit der Bundesregierung,
stehen und die auch in Dresden standen und einen Super- sondern ein Dresdner bzw. ein sächsisches Thema, das in
job für unsere Sicherheit leisten. Herzlichen Dank allen Sachsen aufgearbeitet werden solle. Dem kann man
Polizisten, die ihre Gesundheit aufs Spiel gesetzt und da- nichts entgegensetzen.
für gesorgt haben, dass halbwegs Ordnung herrschte!
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- GRÜNEN]: Daran müssen wir uns jetzt aber
neten der SPD und der FDP) nicht halten! – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Das Bundesrecht gehört im-
Ich bin der Überzeugung, dass die Mehrheit der Bür- mer noch hierher!)
gerinnen und Bürger will, dass die Straftaten aufgeklärt
Ich komme zum Schluss. Ich denke, wenn eine Stadt
und die Täter zur Verantwortung gezogen werden. Die
brennt und es in den Straßen zu Chaos kommt, sollten
sächsische Polizei hat eine Sonderkommission gegrün-
wir alle Mittel nutzen, dagegen vorzugehen. Das müssen
det – das ist, glaube ich, in solchen Fällen üblich – und
wir bekämpfen. Dazu gehört auch die Funkzellenabfrage
hat als Ermittlungsansatz bei der Staatsanwaltschaft ei-
nach Genehmigung eines Richters.
nen Antrag auf Funkzellenabfrage gestellt. Auch das ist
ein ganz normales Vorgehen. Die Staatsanwaltschaft hat Wir sind auch verpflichtet, alles zu tun, um unsere
den Antrag geprüft, und ein Richter hat ihn genehmigt. Polizistinnen und Polizisten und unsere Bürgerinnen und
Ich frage mich, ob Sie die Unabhängigkeit der Richter Bürger vor den Chaoten zu schützen. Dabei ist jedes
abschaffen wollen, weil das Vorgehen Ihrer Meinung Mittel recht, welches das Gesetz zulässt.
(B) nach nicht in Ordnung war. Dann muss man das deutlich (D)
Herzlichen Dank. Ich wünsche Ihnen ein schönes Wo-
sagen.
chenende.
Wir sagen: Wenn ein Richter das nach der Prüfung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
durch den Staatsanwalt genehmigt, dann ist das in Ord-
nung. Dann darf es gemacht werden. Das ist auch in die-
Vizepräsidentin Petra Pau:
ser Form erfolgt.
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Was ist, wenn Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
der Richter falsch entschieden hat?) ordnung.
– Dazu komme ich noch. – 45 Strafverfahren wurden Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
eingeleitet und bearbeitet. Der sächsische Innenminister destages auf Mittwoch, den 6. Juli 2011, 13 Uhr ein.
hat deutlich gesagt, dass es hierbei zu einer Datenerfas-
Die Sitzung ist geschlossen.
sung kam, die nicht zulässig war. Diese Daten wurden
aus den Akten herausgenommen. Das wurde geklärt. Es (Schluss: 16.53 Uhr)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011 13779

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis


Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Aigner, Ilse CDU/CSU 01.07.2011 Dr. Scheuer, Andreas CDU/CSU 01.07.2011

Barchmann, Heinz- SPD 01.07.2011 Schieder (Weiden), SPD 01.07.2011


Joachim Werner

Bleser, Peter CDU/CSU 01.07.2011 Tack, Kerstin SPD 01.07.2011

Brand, Michael CDU/CSU 01.07.2011 Wagner, Daniela BÜNDNIS 90/ 01.07.2011


DIE GRÜNEN
Dağdelen, Sevim DIE LINKE 01.07.2011

Dr. Danckert, Peter SPD 01.07.2011

Frankenhauser, Herbert CDU/CSU 01.07.2011 Anlage 2


Amtliche Mitteilungen
Gerig, Alois CDU/CSU 01.07.2011
Der Bundesrat hat in seiner 884. Sitzung am 17. Juni
Göring-Eckardt, Katrin BÜNDNIS 90/ 01.07.2011 2011 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zuzu-
DIE GRÜNEN stimmen bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Absatz 2
des Grundgesetzes nicht zu stellen:
Goldmann, Hans- FDP 01.07.2011
Michael – Gesetz zur Änderung des Arbeitnehmerüberlas-
(B) sungsgesetzes und des Schwarzarbeitsbekämp- (D)
Gutting, Olav CDU/CSU 01.07.2011 fungsgesetzes
– Zweites Gesetz zur Änderung des Lebensmittel-
Haßelmann, Britta BÜNDNIS 90/ 01.07.2011 und Futtermittelgesetzbuches sowie anderer Vor-
DIE GRÜNEN schriften
Haustein, Heinz-Peter FDP 01.07.2011 – Drittes Gesetz zur Änderung des Umwandlungsge-
setzes
Höger, Inge DIE LINKE 01.07.2011
– Gesetz zur Anpassung der Vorschriften über den
Hoff, Elke FDP 01.07.2011 Wertersatz bei Widerruf von Fernabsatzverträgen
und über verbundene Verträge
Homburger, Birgit FDP 01.07.2011
– Zehntes Gesetz zur Änderung des Bundes-Immis-
Lay, Caren DIE LINKE 01.07.2011 sionsschutzgesetzes – Privilegierung des von Kin-
dertageseinrichtungen und Kinderspielplätzen
Leutheusser- FDP 01.07.2011 ausgehenden Kinderlärms
Schnarrenberger, – Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2009/43/EG
Sabine des Europäischen Parlaments und des Rates vom
6. Mai 2009 zur Vereinfachung der Bedingungen
Meinhardt, Patrick FDP 01.07.2011 für die innergemeinschaftliche Verbringung von
Verteidigungsgütern
Merkel (Berlin), Petra SPD 01.07.2011
– Gesetz zur Änderung gewerberechtlicher Vor-
Nietan, Dietmar SPD 01.07.2011 schriften
Nink, Manfred SPD 01.07.2011 – Gesetz zu dem Vorschlag der Europäischen Kom-
mission vom 14. Dezember 2010 für einen Be-
Nord, Thomas DIE LINKE 01.07.2011 schluss des Rates zur Festlegung eines Stand-
punkts der Union im Stabilitäts- und
Dr. Schavan, Annette CDU/CSU 01.07.2011 Assoziationsrat EU-ehemalige jugoslawische Re-
publik Mazedonien im Hinblick auf die Beteili-
13780 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 2011

(A) gung der ehemaligen jugoslawischen Republik Stellungnahme der Bundesregierung (C)
Mazedonien im Rahmen von Artikel 4 und 5 der – Drucksachen 17/3400 –
Verordnung (EG) Nr. 168/2007 des Rates als
Beobachter an den Arbeiten der Agentur der
Europäischen Union für Grundrechte und die ent- Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben
sprechenden Modalitäten einschließlich Bestim- mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden
mungen über die Mitwirkung an den von der Unionsdokumente zur Kenntnis genommen oder von ei-
Agentur eingeleiteten Initiativen, über finanzielle ner Beratung abgesehen hat.
Beiträge und Personal
– Gesetz zu dem Abkommen vom 1. Dezember 2009 Auswärtiger Ausschuss
zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Drucksache 17/4927 Nr. A.8
der Islamischen Republik Pakistan über die För- Ratsdokument 16817/10
derung und den gegenseitigen Schutz von Kapital- Drucksache 17/5822 Nr. A.2
anlagen EuB-BReg 149/2011
Drucksache 17/5822 Nr. A.4
EuB-BReg 152/2011
Drucksache 17/5822 Nr. A.9
Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben EP P7_TA-PROV(2011)0121
mitgeteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Absatz 3 Drucksache 17/5822 Nr. A.11
Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung EP P7 TA-PROV(2011)0153
zu den nachstehenden Vorlagen absieht: Drucksache 17/5822 Nr. A.12
EP P7_TA-PROV(2011)0154

Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
– Unterrichtung durch die deutsche Delegation in der Inter- Drucksache 17/5822 Nr. A.21
parlamentarischen Union Ratsdokument 8977/11
120. Versammlung der Interparlamentarischen Union
vom 5. bis 10. April 2009 in Addis Abeba, Äthiopien
Haushaltsausschuss
– Drucksachen 17/298, 17/5820 Nr. 1 –
Drucksache 17/3608 Nr. A.12
– Unterrichtung durch die deutsche Delegation in der Parla- Ratsdokument 14496/10
mentarischen Versammlung der OSZE Drucksache 17/3608 Nr. A.13
Ratsdokument. 14497/10
(B) Herbsttagung der Parlamentarischen Versammlung der Drucksache 17/3608 Nr. A.14 (D)
OSZE vom 9. bis 12. Oktober 2009 in Athen, Griechen- Ratsdokument 14498/10
land Drucksache 17/3608 Nr. A.15
– Drucksachen 17/363, 17/5820 Nr. 2 – Ratsdokument 14520/10

Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Arbeit und Soziales


Drucksache 17/5123 Nr. A.16
– Unterrichtung durch den Deutschen Ethikrat EuB-EP2140
Stellungnahme des Deutschen Ethikrates
Präimplantationsdiagnostik
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
– Drucksachen 17/5210, 17/5567 Nr. 1 –
Drucksache 17/5434 Nr. A.14
EP P7 TA-PROV(2011)0098
Drucksache 17/5434 Nr. A.15
Ausschuss für Bildung, Forschung und EP P7_TA-PROV(2011)0099
Technikfolgenabschätzung

– Unterrichtung durch die Bundesregierung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Nationaler Bildungsbericht 2010 – Bildung in Deutsch- Union
land
Drucksache 17/859 Nr. A.14
und Ratsdokument 5776/10

Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
ISSN 0722-7980

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